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German Pages 290 Year 2017
Strafrechtliche Abhandlungen Neue Folge · Band 278
Gnade und Gesetz Zum Verhältnis des Begnadigungsrechts zu seinen gesetzlichen Alternativregelungen
Von
Simon Funk
Duncker & Humblot · Berlin
SIMON FUNK
Gnade und Gesetz
Strafrechtliche Abhandlungen · Neue Folge Begründet von Dr. Eberhard Schmidhäuser (†) em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Hamburg
Herausgegeben von Dr. Dres. h. c. Friedrich-Christian Schroeder em. ord. Prof. der Rechte an der Universität Regensburg
und Dr. Andreas Hoyer ord. Prof. der Rechte an der Universität Kiel
in Zusammenarbeit mit den Strafrechtslehrern der deutschen Universitäten
Band 278
Gnade und Gesetz Zum Verhältnis des Begnadigungsrechts zu seinen gesetzlichen Alternativregelungen
Von
Simon Funk
Duncker & Humblot · Berlin
Zur Aufnahme in die Reihe empfohlen von Professor Dr. Jan Zopfs, Mainz Die Juristische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität Mainz hat diese Arbeit im Jahre 2016 als Dissertation angenommen.
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© 2017 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: L101 Mediengestaltung, Fürstenwalde Druck: buchbücher.de gmbh, Birkach Printed in Germany ISSN 0720-7271 ISBN 978-3-428-15201-8 (Print) ISBN 978-3-428-55201-6 (E-Book) ISBN 978-3-428-85201-7 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
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Vorwort Die vorliegende Abhandlung wurde im Jahr 2016 vom Fachbereich der Rechts- und Wirtschaftswissenschaften der Johannes Gutenberg-Universität Mainz als Dissertation angenommen. Veröffentlichungen nach Abschluss der Arbeit im März 2016 fanden nur selektiv Berücksichtigung. Mein besonderer Dank gilt meinem Doktorvater Herrn Prof. Dr. Jan Zopfs für die persönlich und fachlich engagierte Betreuung der Dissertation. Im Rahmen meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl gewährte er mir große Freiheit, was das Entstehen dieser Arbeit erst ermöglichte. Herrn Prof. Dr. Michael Hettinger danke ich für die zügige Erstellung des Zweitgutachtens. Ferner sei der Peregrinus-Stiftung Mainz für die Verleihung des Dissertationspreises 2017 gedankt. Mainz, im Frühjahr 2017
Simon Funk
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 § 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders von Gnade und gesetzlichen Strafvergünstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 A. Rechtsentwicklung ab der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 I. Gewandeltes Verständnis von Wesen und Funktion des Begnadigungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1. Misstrauen gegenüber dem Souverän . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2. Die Idee des „perfekten“ Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 II. Ansatzpunkte zur „Verfeinerung“ des „starren“ Gesetzes . . . . . . . . 27 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 2. Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten . . . . 29 a) Die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten als gesetz liche Alternativregelung zum Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . 30 b) Die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten im akkusatorischen Strafverfahren vor Gründung des Deutschen Kaiserreichs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 B. Deutsches Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 I. Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 2. Praxis der bedingten Begnadigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 1. Regelungen im RStGB von 1871 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 a) Im Erkenntnisverfahren anwendbare Vorschriften . . . . . . . . . . 38 b) Vorläufige Entlassung (§§ 23–26 RStGB) . . . . . . . . . . . . . . . . 39 2. Regelungen in der RStPO von 1877 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 a) Strafaufschub (§§ 487, 488 RStPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42 b) Sonstige Regelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 3. Zwischenfazit zum Rechtszustand im Kaiserreich . . . . . . . . . . . . 45 C. Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 I. Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 1. Allgemeines . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 2. Bedingte Begnadigung durch den Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49
8 Inhaltsverzeichnis 1. Geldstrafengesetze von 1921 und 1923 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 2. Bedingte Verurteilung Jugendlicher (§§ 10 –15 JGG 1923) . . . . . 51 D. NS-Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 I. Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 1. Gnadenkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 2. Gnadenordnung von 1935 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 1. Regelungen bezüglich Maßregeln der Sicherung und Besserung . 56 2. Strafaussetzung und Entlassung Jugendlicher auf Probe (RJGG 1943) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . 59 I. Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 1. Das 3. StrÄndG von 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 a) Strafaussetzung zur Bewährung im Urteil (§§ 23–25 StGB 1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 b) Bedingte Entlassung (§ 26 StGB 1953) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 c) Verhältnis zwischen §§ 23–26 StGB 1953 und dem Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62 2. Jugendgerichtsgesetz von 1953 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 3. Das 1. und 2. StrRG von 1969 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 a) Ausweitung der Regelungen zur Straf(rest)aussetzung . . . . . . 66 b) Absehen von Strafe (§ 60 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 4. Strafvollzugsgesetz von 1976 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 5. Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 a) Hintergrund der Neuregelung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 b) Die damaligen Ansichten zum Verhältnis des § 57a StGB zum Begnadigungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 aa) Hintergrund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 bb) Befürworter einer freien Anwendbarkeit des Begnadigungsrechts neben § 57a StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 cc) Befürworter einer Sperrwirkung des § 57a StGB für die Dauer der Mindestverbüßungszeit . . . . . . . . . . . . . . . 77 6. Ausweitung der Halbstrafenaussetzung (23. StrÄndG von 1986) 78 7. Verkürzung der Mindestsperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis (§ 69a Abs. 7 StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 a) Rechtslage nach den Gesetzen zur Sicherung des Straßenverkehrs von 1952 und 1964 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79 b) Die Reform im Jahr 1998 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 8. Sonstige gesetzliche Alternativregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
Inhaltsverzeichnis9 F. Resümee . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 I. Gewandeltes Verständnis von Gnade – Individualisierung durch Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 II. Gnade als Mittel der Kriminalpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87 § 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 A. Gegenstand und Wirkungen des Gnadenakts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 B. Gnadenkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 I. Verbandskompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Organkompetenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 C. Gnadenverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 I. Vorbemerkung: Wesen und Bedeutung der Gnadenordnungen . . . . . 96 II. Ablauf des Gnadenverfahrens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 III. Gnadengründe der Gnadenpraxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 2. Begnadigungsrichtlinien in den Gnadenordnungen . . . . . . . . . . . 104 3. Sonstige Begnadigungsrichtlinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106 § 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 A. „Gnade im Recht“: Zur Verankerung der Gnade innerhalb des Rechts . 107 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 II. Entwicklung der Rechtsprechung zum Verhältnis von Gnade und Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 III. Die Auffassungen in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 IV. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 1. Gnade als Bestandteil des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Zur Rechtsbindung im Einzelnen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 a) Vorbemerkung: Irrelevanz subjektiv-öffentlicher Rechte für das Verhältnis von Gnade und Gesetz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 b) Rechtsbindung der Gnade durch Rechtsbindung des Gnadenträgers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 c) Vergleich mit Amnestie und gesetzlichen Strafvergünsti gungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122 aa) Vergleich der Gnade mit der Amnestie . . . . . . . . . . . . . . 122 bb) Vergleich der Gnade mit den gesetzlichen Strafver günstigungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 II. Das Verhältnis von originärer Gnade und Gesetz nach den Gnadenordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 III. Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133
10 Inhaltsverzeichnis IV. Dogmatische Grundlage des Vorrangs des gesetzlichen Wegs gegenüber der originären Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 1. Gnadenordnungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 2. Selbstbindung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 3. Funktion des Begnadigungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 a) Überkommenes „Wesen“ der Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 b) Erfordernis eines rational nachvollziehbaren Gnadengrundes . 139 c) Beschränkung der Gnade auf die Eigenschaft als Korrektiv zur Vermeidung von Gesetzeshärten? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 d) Folgen für das Verhältnis der Gnade zu ihren gesetzlichen Alternativregelungen: „Subsidiarität“ der Gnade bzw. „Vorrang“ des Gesetzes? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 4. Rechtsmethodische Konkurrenzregeln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 5. Allgemeiner Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) . . . . . . . 151 a) Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 b) Anwendbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 c) Anwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 6. Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der gesetzlichen Alternativregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 7. Gewohnheitsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 8. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 V. Durchbrechung des Vorrangs des gesetzlichen Verfahrens durch Antrag auf alleinige Entscheidung im Gnadenweg? . . . . . . . . . . . . . 161 1. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 2. Anspruch des Einzelnen auf Sachentscheidung über das Gnadengesuch ohne vorherigen Verweis auf den gesetzlichen Weg? . 163 a) Verfassungsrechtliche Vorschriften zum Begnadigungsrecht . 163 b) Petitionsrecht (Art. 17 GG) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 c) Rechtsstaatsprinzip (Beschleunigungsgebot) . . . . . . . . . . . . . . 164 d) Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 3. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs . . . . . . . . . . . . . . 167 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167 1. Gegebenenfalls: Auslegung des Gnadengesuchs . . . . . . . . . . . . . 167 2. Inhaltliche Ausgestaltung durch die Gnadenordnungen? . . . . . . . 168 II. Systematische Betrachtung der gesetzlichen Vorschriften: Unterscheidung zwischen „formellen“ und „materiellen“ Merkmalen . . . 169 III. Zur Prüfung der formellen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 1. Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 a) Sonderstellung der §§ 455 ff., 459a StPO . . . . . . . . . . . . . . . . 172 b) Zur Prüfung der formellen Merkmale im Übrigen . . . . . . . . . 173
Inhaltsverzeichnis11 IV. Zur Prüfung der materiellen Merkmale . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 1. Meinungsstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 2. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 a) Argumente gegen die Prüfung materieller Merkmale . . . . . . 178 b) Argumente für die Prüfung materieller Merkmale . . . . . . . . . 181 c) Harmonisierung der widerstreitenden Argumente: Evidenzkontrolle bezüglich der materiellen Merkmale . . . . . . . . . . . . 183 V. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 VI. Sonderproblem: Fehlender Antrag bzw. fehlende Einwilligung des Verurteilten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 D. Resümee und Konsequenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 I. Vorrang des Gesetzes als geltendes Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 II. Schicksal des Gnadenakts bei Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 III. Strafbarkeit des Gnadenträgers wegen Vollstreckungsvereitelung im Amt (§§ 258a Abs. 1, 258 Abs. 2 StGB)? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 IV. Keine einfach-gesetzliche Abschaffung der Gnade . . . . . . . . . . . . . . 194 § 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 A. Zum prinzipiellen Anwendungsbereich der Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 I. Gnade als Einzelfallentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 II. Gnade als Korrektiv zu „Gesetzeshärten“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 1. Zum Begriff der „unbilligen Härte“ im Kontext der Gnade und seiner Maßgeblichkeit für die Gnadenausübung . . . . . . . . . . . . . 200 a) Gnade als Mittel der Zweckmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 aa) Verhältnismäßigkeitsprinzip im Strafrecht . . . . . . . . . . . . 203 bb) Gnade als Korrektiv zwecks Wahrung der Verhältnis mäßigkeit von Strafurteil und Strafvollstreckung . . . . . . 205 b) Zur „Unbilligkeit“ und „Individualgerechtigkeit“ im Kontext der Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 2. Gnade als Korrektiv zu sonstigen Gesetzeshärten? . . . . . . . . . . . 212 3. Indes: kein „Anspruch auf Gnade“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 III. Abschließender Charakter der gesetzlichen Alternativregelungen? . 219 IV. Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 222 B. Besondere Einschränkungen für Gnade nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 I. Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223 II. Meinungsstand in der Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 III. Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 1. Vorbemerkung: Erneuter Vorrang des gesetzlichen Verfahrens? . 225 2. Zur Frage der Bindungswirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 C. Gnade im Anwendungsbereich ausgewählter gesetzlicher Alternativregelungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
12 Inhaltsverzeichnis I. Reststrafaussetzung zur Bewährung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 1. Reststrafaussetzung bei zeitiger Freiheitsstrafe (§ 57 StGB) . . . . 233 a) Raum für originäre Gnadenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 233 b) Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. § 57 StGB . . . . 236 2. Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236 a) Raum für originäre Gnadenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . 237 b) Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. § 57a StGB . . . 239 II. Strafausstand nach §§ 455, 456 StPO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240 1. Raum für originäre Gnadenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2. Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. §§ 455, 456 StPO 244 III. Strafvollzugslockerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 IV. Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 1. Raum für originäre Gnadenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 a) Entziehung der Fahrerlaubnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 245 b) Fahrverbot . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 2. Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. § 69a Abs. 7 StGB . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 V. Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten (§§ 359 ff. StPO) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 1. Raum für originäre Gnadenentscheidungen . . . . . . . . . . . . . . . . . 250 a) Raum unter Zugrundelegung des Vorrangs des Gesetzes . . . . 250 aa) Fallgruppe 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 bb) Fallgruppe 2 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 cc) Fallgruppe 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 255 b) Einschränkungen wegen abschließenden Charakters der §§ 359 ff. StPO? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 2. Gnade nach ablehnender Entscheidung im Wiederaufnahme verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 261 Ergebnis und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 272 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
Abkürzungsverzeichnis a. A.
anderer Ansicht
a. a. O.
am angegebenen Ort
ABl. SL
Amtsblatt des Saarlandes
a. E.
am Ende
a. F.
alte Fassung
AG Amtsgericht Alt. Alternative Anm. Anmerkung AöR
Archiv des öffentlichen Rechts (zitiert nach Band, Jahr und Seite)
ARSP
Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie (zitiert nach Jahr und Seite)
Art. Artikel AT
Allgemeiner Teil
AufenthG Aufenthaltsgesetz Aufl. Auflage AV. d. PrJM.
Allgemeine Verfügung des preußischen Justizministers vom 19.10.1920 über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung
BA
Blutalkohol – Wissenschaftliche Zeitschrift für die medizinische und juristische Praxis (zitiert nach Jahr und Seite)
BAK Blutalkoholkonzentration BauGB Baugesetzbuch BayObLG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
BayVerfGH
Bayerischer Verfassungsgerichtshof
BayVerfGHE
Entscheidungen des Bayerischen Verfassungsgerichtshofs
BeckOK
Beck’scher Online Kommentar
BeckRS Beck-Rechtsprechung BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl. Bundesgesetzblatt BGH Bundesgerichtshof BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen
BRD
Bundesrepublik Deutschland
BR-Drucks. Bundesratsdrucksache
14 Abkürzungsverzeichnis BT
Besonderer Teil
BT-Drucks. Bundestagsdrucksache BtMG
Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz)
BVerfG Bundesverfassungsgericht BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts
BVerfGG Bundesverfassungsgerichtsgesetz BVerwG Bundesverwaltungsgericht BVerwGE
Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts
CDU
Christlich Demokratische Union Deutschlands
CSU
Christlich-Soziale Union in Bayern
DAR
Deutsches Autorecht (zitiert nach Jahr und Seite)
DJ
Deutsche Justiz (zitiert nach Jahr und Seite)
DJZ
Deutsche Juristen-Zeitung (zitiert nach Jahr und Seite)
DÖD
Der Öffentliche Dienst (zitiert nach Jahr und Seite)
DÖV
Die Öffentliche Verwaltung (zitiert nach Jahr und Seite)
DRiZ
Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt (zitiert nach Jahr und Seite)
DVollzO
Dienst- und Vollzugsordnung
EGStGB
Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch
E 1962
Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches (StGB) mit Begründung (BT-Drucks. 4 / 650)
et al.
und andere
EUV
Vertrag über die Europäische Union in der Fassung des Vertrags von Lissabon
EVKOMM
Evangelische Kommentare: Monatsschrift zum Zeitgeschehen in Kirche und Gesellschaft (zitiert nach Ausgabe und Seite)
FAZ
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Fn. Fußnote FS Festschrift GA
Goltdammer’s Archiv für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)
Geldstrafengesetz 1921
Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen vom 21.12.1921
Geldstrafengesetz 1923
Geldstrafengesetz vom 27.4.1923
GG Grundgesetz GnadenAO
Anordnung über die Ausübung des Begnadigungsrechts des Bundes vom 5.10.1965
Abkürzungsverzeichnis15 GnG-SL
Gesetz Nr. 1330 zur Neuordnung des Saarländischen Gnadenrechts vom 16.3.1994 GnO 1935 Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen vom 6.2.1935 GnO-BB Allgemeine Verfügung der Ministerien der Justiz vom 11.9.2007 (Gnadenordnung Brandenburg) GnO-BE Allgemeine Verfügung über das Verfahren in Gnadensachen vom 29.5.2009 (Gnadenordnung Berlin) GnO-BW Anordnung des Justizministeriums Baden-Württemberg über das Verfahren in Gnadensachen vom 20.9.2001 (Gnadenordnung Baden-Württemberg) GnO-BY Bayerische Gnadenordnung vom 29.5.2006 GnO-HB Allgemeine Verfügung des Senators für Rechtspflege und Strafvollzug über das Verfahren in Gnadensachen vom 6.11.1984 (Gnadenordnung Bremen) GnO-HE Runderlass des Ministeriums der Justiz vom 25.10.2010 (Gnadenordnung Hessen) GnO-MV Anordnung über das Verfahren in Gnadensachen vom 23.11.1998 (Gnadenordnung Mecklenburg-Vorpommern) GnO-NI Gnadenordnung Niedersachsen vom 13.1.1977 GnO-NW Gnadenordnung für das Land Nordrhein-Westfalen vom 26.11.1975 GnO-RP Anordnung über das Verfahren in Gnadensachen vom 16.10.1995 (Gnadenordnung Rheinland-Pfalz) GnO-SH Anordnung über das Verfahren in Gnadensachen vom 3.5.1984 (Gnadenordnung Schleswig-Holstein) GnO-SN Verwaltungsvorschrift des Sächsischen Staatsministeriums der Justiz über das Verfahren der Justizbehörden des Freistaates Sachsen in Gnadensachen vom 10.12.1999 (Gnadenordnung Sachsen) GnO-ST Gnadenordnung für das Land Sachsen-Anhalt vom 14.6.2004 GnO-TH Thüringer Gnadenordnung vom 20.7.1995 GS Gedächtnisschrift GVBl. Baden Badisches Gesetzes- und Verordnungs-Blatt GVBl. NW Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Nordrhein-Westfalen GVBl. RP Gesetz- und Verordnungsblatt für das Land Rheinland-Pfalz Hess. StGH Staatsgerichtshof des Landes Hessen HK Heidelberger Kommentar zur Strafprozessordnung h. L. herrschende Auffassung in der Literatur h. M. herrschende Meinung HStA Handbuch für den Staatsanwalt
16 Abkürzungsverzeichnis HStR
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland
IRG
Gesetz über internationale Rechtshilfe in Strafsachen
JGG Jugendgerichtsgesetz JGG 1923
Jugendgerichtsgesetz vom 16.2.1923
JGG 1953
Jugendgerichtsgesetz in der Fassung vom 4.8.1953
JMBl. HE
Justizministerialblatt für Hessen
JMBl. Preußen
Justiz-Ministerialblatt für die preußische Gesetzgebung und Rechtspflege
JR
Juristische Rundschau (zitiert nach Jahr und Seite)
Jura
Juristische Ausbildung (zitiert nach Jahr und Seite)
Juris
Juristisches Informationssystem Deutschland
JuS
Juristische Schulung (zitiert nach Jahr und Seite)
JW
Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)
JZ
Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)
KK
Karlsruher Kommentar
K / M / R
Kleinknecht / Müller / Reitberger
für
die
Bundesrepublik
krit. kritisch LG Landgericht LK
Leipziger Kommentar zum Strafgesetzbuch
LR
Löwe / Rosenberg
LTO
Legal Tribune Online
LV-HE
Verfassung des Landes Hessen
MAH
Münchener Anwaltshandbuch Strafverteidigung
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht (zitiert nach Jahr und Seite)
MK
Münchener Kommentar zum Strafgesetzbuch
MschrKrim
Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform (zitiert nach Jahr und Seite)
MVollzG-NI
Niedersächsisches Maßregelvollzugsgesetz
MVollzG-RP
Landesgesetz über den Vollzug freiheitsentziehender Maßregeln (Rheinland-Pfalz)
m. w. N.
mit weiteren Nachweisen
NJW
Neue Juristische Wochenschrift (zitiert nach Jahr und Seite)
NK
Nomos-Kommentar zum Strafgesetzbuch
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)
NVwZ
Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)
NZV
Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)
o. g.
oben genannte
Abkürzungsverzeichnis17 OLG Oberlandesgericht prStGB
Preußisches Strafgesetzbuch
RAF
Rote Armee Fraktion
RGBl. Reichsgesetzblatt RGSt
Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen
RGVG Reichsgerichtsverfassungsgesetz RJGG 1943
Reichsjugendgerichtsgesetz vom 6.11.1943
Rn. Randnummer RPflG Rechtspflegergesetz Rspr. Rechtsprechung RStGB Reichsstrafgesetzbuch RStPO Reichsstrafprozessordnung SK
Systematischer Kommentar
SPD
Sozialdemokratische Partei Deutschlands
sten. stenographisch StGB Strafgesetzbuch StGB 1952
Strafgesetzbuch nach Inkrafttreten des Ersten Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19.12.1952
StGB 1953
Strafgesetzbuch nach Inkrafttreten des 3. StrÄndG
StGB 1964
Strafgesetzbuch nach Inkrafttreten des Zweiten Gesetzes zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11.1964
StGB 1969
Strafgesetzbuch nach Inkrafttreten des 1. StrRG
StPO Strafprozessordnung StPO 1953
Strafprozessordnung nach Inkrafttreten des 3. StrÄndG
StrÄndG Strafrechtsänderungsgesetz StraFo
Strafverteidiger-Forum (zitiert nach Jahr und Seite)
StrRG Strafrechtsreformgesetz StV
Strafverteidiger (zitiert nach Jahr und Seite)
StVG Straßenverkehrsgesetz StVO Straßenverkehrsordnung StVollstrO Strafvollstreckungsordnung StVollzG Strafvollzugsgesetz SZ
Süddeutsche Zeitung
UBWV
Unterrichtsblätter für die Bundeswehrverwaltung (zitiert nach Jahr und Seite)
Vor Vorbemerkung(en) VwGO Verwaltungsgerichtsordnung VwVfG Verwaltungsverfahrensgesetz
18 Abkürzungsverzeichnis VwV Nachschulung Verwaltungsvorschrift des baden-württembergischen Justizministeriums über die Sperrfristverkürzung nach Teilnahme an einer Nachschulung für erstmals alkoholauffällige Kraftfahrer vom 12.11.2008 wistra Zeitschrift für Wirtschafts- und Steuerstrafrecht (zitiert nach Jahr und Seite) WRV Weimarer Reichsverfassung ZaöRV Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht (zitiert nach Jahr und Seite) ZPO Zivilprozessordnung ZRP Zeitschrift für Rechtspolitik (zitiert nach Jahr und Seite) ZStW Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft (zitiert nach Band, Jahr und Seite) z. T. zum Teil zust. zustimmend Im Übrigen wird verwiesen auf die Abkürzungen bei Kirchner, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 8. Auflage, Berlin 2015.
Einleitung „Gnade vor Recht ergehen lassen“ – so lautet bekanntlich ein verbreitetes, bis ins 14. Jahrhundert zurückgehendes Rechtssprichwort.1 Auch in der gnadenrechtlichen Literatur werden die Kategorien „Gnade“ und „Recht“ vielfach gegenübergestellt.2 Damit wird suggeriert, dass Gnade und Recht in einem dualistischen Verhältnis zueinander stehen, Gnade also nicht Teil des Rechts ist („Gnade im Recht“), sondern außerhalb des Rechts ergeht.3 Da dies – wie noch zu sehen sein wird – indes nicht der Fall ist, befasst sich die vorliegende Arbeit in erster Linie nicht mit dem Nebeneinander von Gnade und Recht, sondern dem von Gnade und Gesetz. Die Befugnis, Gnade walten zu lassen, wird als Begnadigungsrecht bezeichnet. Dieses wird heute4 in einem engen Sinn verstanden, nämlich als Befugnis, im Einzelfall eine rechtskräftig erkannte Strafe ganz oder teilweise zu erlassen, sie umzuwandeln oder ihre Vollstreckung auszusetzen.5
1 Vgl. v. Mayenburg, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 33 (70), wonach Ottokar aus der Gaal die Formel in seiner großen Steirischen Reimchronik verwendete; weitere Nachweise bei Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 9 mit Fn. 4. 2 Vgl. Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 2: „Gnade vor Recht oder Recht vor Gnade? Mit dieser Frage befassen sich Praktiker, Wissenschaftler und Literaten seit Jahrhunderten, freilich ohne jemals eine allgemeingültige Antwort darauf zu geben.“ Radbruch, Rechtsphilosophie, S. 274 f.: Die Gnade bedeutet „den leuchtenden Strahl, der in den Bereich des Rechts aus einer völlig rechtsfremden Welt einbricht und die kühle Düsternis der Rechtswelt erst recht sichtbar macht. Wie das Wunder die Gesetze der physischen Welt durchbricht, so ist sie das gesetzlose Wunder innerhalb der juristischen Gesetzeswelt. In der Gnade ragen rechtsfremde Wertgebiete mitten in die Rechtswelt hinein, religiöse Barmherzigkeitswerte, ethische Duldsamkeitswerte … Sie ist ein Symbol, daß es in der Welt Werte gibt, die aus tieferen Quellen gespeist werden und zu höheren Gipfeln aufgipfeln, als das Recht.“ 3 Vgl. Blaich, Gnadenrecht, S. 40 f.; Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107. 4 In einem weitergehenden Sinn wurden früher auch die Gewährung von Straffreiheit nach abstrakt-generellen Merkmalen (Amnestie) sowie die Niederschlagung eines noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Strafverfahrens (Abolition) als „Gnade“, die diesbezügliche Befugnis als „Begnadigungsrecht“ bezeichnet (vgl. Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 f.; Gerland, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, S. 572 f.; v. Jagemann, Der Gerichtssaal 3 / 1 [1851], 71 [72]). 5 BVerfGE 25, 352 (358 – tragende Meinung).
20 Einleitung
Gnade kann daneben auch bei strafrechtsähnlichen Entscheidungen Bedeutung erlangen,6 was indes nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit ist. Das Begnadigungsrecht wird vom Grundgesetz und von sämtlichen Landesverfassungen vorausgesetzt, indem diese allesamt Regelungen dazu treffen, wer für den Bund bzw. das jeweilige Land das Begnadigungsrecht ausübt.7 Seine prinzipielle Existenz ist damit de lege lata besiegelt, die Kritik am Institut „Begnadigungsrecht“ in unserer Rechtsordnung8 erscheint daher zunächst allein rechtspolitischer Natur.9 Mit der verfassungsrechtlichen Festschreibung des Instituts „Begnadigungsrecht“ ist für seine inhaltliche Ausgestaltung allerdings noch nicht viel gewonnen. Da sich der Gesetzgeber darauf beschränkt hat, kompetenzrechtliche Vorschriften zum Begnadigungsrecht zu schaffen, es daher an formalgesetzlichen Regelungen zu Verfahren und Inhalt weitgehend10 fehlt,11 ist es Rechtsprechung und Lehre überlassen, die Frage nach dem „Wesen“ der Gnade und ihrer Einordnung in das geltende Rechtssystem zu beantworten. Dies hat zur Folge, dass es wohl kaum ein Institut gibt, das in der juristischen Moderne umstrittener ist als die Gnade.12 Die insoweit bereits vielfach geführten Diskussionen etwa über die Frage der Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen und den hierfür etwaig einschlägigen Rechtsweg sollen mit der vorliegenden Arbeit nicht ein weiteres Mal aufgerollt werden.13 6 Nämlich im Ordnungswidrigkeitenrecht, im Bereich der Ehrengerichtsbarkeit, bezüglich Ordnungsmittel und in beamtenrechtlichen Disziplinarsachen (Zipf / Laue, in: Maurach / Gössel / Zipf, AT II, § 76 Rn. 7; eingehend Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 50 ff.). Letztere haben insbesondere für das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten Bedeutung (siehe S. 93 mit Fn. 31). 7 So für den Bund Art. 60 Abs. 2 GG, der die Ausübung des Begnadigungsrechts des Bundes dem Bundespräsidenten zuweist. 8 Vgl. z. B. Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (145): Gnade und Rechtsstaat des Grundgesetzes seien einander „notwendigerweise fremd“, weil es sich um „inkommensurable Kategorien“ handele; ähnlich Münch / Kunigv. Arnauld Art. 60 Rn. 8. 9 Vgl. Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 62. 10 Sieht man einmal vom Saarland ab, wo ein förmliches Gnadengesetz gilt (Gesetz Nr. 1330 zur Neuordnung des Saarländischen Gnadenrechts vom 16.3.1994 [ABl. SL S. 742] – nachfolgend „GnG-SL“). 11 Bei einem dualistischen Verständnis von Gnade und Recht vielleicht sogar fehlen muss? Nach BVerfGE 25, 352 (361 – tragende Meinung) dürfe jedenfalls der einfache Gesetzgeber keinerlei normative Voraussetzungen für den Erlass eines Gnadenakts statuieren. 12 So jedenfalls der Befund von Müller-Dietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (150). Dies illustriert auch die Diskussion a. a. O., S. 183 ff. 13 Aus neuerer Zeit hierzu Blaich, Gnadenrecht, S. 66 ff, 96 ff.
Einleitung21
Vielmehr wendet sich die vorliegende Arbeit der Frage zu, ob die Ausübung des Begnadigungsrechts de lege lata bei jeder rechtskräftigen Verurteilung ohne Weiteres möglich ist oder aber rechtliche Schranken gelten. Hierbei gewinnt das Verhältnis der Gnade zum Gesetz Bedeutung und steht daher im Fokus: Nicht zuletzt wegen der mit dem Begnadigungsrecht verbundenen rechtsstaatlichen Probleme14 ist der Gesetzgeber dazu übergegangen, Bereiche, die einst allein der Gnade vorbehalten waren, im Laufe der Zeit in zunehmendem Maß gesetzlich zu regeln. Dies hat zur Folge, dass es zu einem Nebeneinander von gesetzesfreier Gnade auf der einen und „verrechtlichter“15 Gnade auf der anderen Seite gekommen ist.16 „Prominentes“ Beispiel hierfür ist die Reststrafaussetzung nach § 57a StGB: Konnte ein „Lebenslänglicher“ früher allein im Gnadenweg die Freiheit (rechtmäßigerweise) zurückerlangen, erfolgen Entlassungen heute in allererster Linie auf Grundlage des § 57a StGB. Deutlich wurde dieses Nebeneinander in den im Frühjahr 2007 in den Fokus der öffentlichen Wahrnehmung rückenden Fällen der beiden ehemaligen RAF-Terroristen Brigitte Mohnhaupt und Christian Klar. Beide verbüßten zum damaligen Zeitpunkt wegen ihrer Beteiligung an den im „Deutschen Herbst“ im Jahr 1977 begangenen Mordtaten jeweils eine lebenslange Freiheitsstrafe.17 Während Mohnhaupt auf gesetzlichem Weg durch Beschluss des OLG Stuttgart auf der Grundlage des § 57a StGB wieder auf freien Fuß kam,18 schien dieser Weg für Klar verschlossen – hatte das OLG 14 Insbesondere: Eingriff in die Befugnisse von Judikative und Legislative, fehlende Rechtssicherheit mangels „Anspruchs auf Gnade“ und mangelhafte Ausgestaltung des Gnadenverfahrens (fehlende Transparenz, keine Begründungspflicht bzgl. Gnadenentscheidungen, kein Rechtsschutz mangels Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen). 15 Zum Begriff der „Verrechtlichung“ in diesem Kontext z. B. Schütte UBWV 2007, 161 (166); Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (146 mit Fn. 68). Treffender erscheint es hingegen, insoweit von einer „Vergesetzlichung“ zu sprechen; siehe dazu näher unter § 3 A. IV. 3. (S. 128 mit Fn. 132). Z. T. ist mit der „Verrechtlichung“ der Gnade auch die Schaffung von Verwaltungsvorschriften (sog. „Gnadenordnungen“) gemeint, die das Gnadenverfahren näher regeln, siehe z. B. Müller-Dietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (159): „ ‚Verrechtlichung‘ des Gnadenwesens auf dem Verwaltungswege“. 16 Waldhoff stellte diesbezüglich zuletzt fest, dass dieser Aspekt in der Diskussion über Gnade viel zu wenig berücksichtigt werde (Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 [146]). 17 Näher dazu Kett-Straub, GA 2007, 332 (333 f.). 18 OLG Stuttgart, Beschluss vom 12.2.2007, 5-1 StE 1 / 83, verfügbar unter https: / / openjur.de / u / 687115.html (besucht am 2.4.2017). Die Pressestelle des OLG Stuttgart sah sich zu dem Hinweis veranlasst, dass es sich dabei „nicht um eine Entscheidung im Gnadenweg [handelte], sondern um eine an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gebundene richterliche Entscheidung“, siehe „Restfreiheitsstrafe
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Stuttgart doch im Jahr 1998 (ebenfalls in einem Verfahren nach § 57a StGB) entschieden, dass die besondere Schwere der Schuld Klars die weitere Vollstreckung bis zum Jahr 2009 gebiete.19 Im Frühjahr 2007 lehnte Bundespräsident Horst Köhler ein Gnadengesuch Klars ab.20 Zuvor wurde in der Öffentlichkeit – zum Teil plakativ unter den Schlagworten „Gnade vor Recht“, „Gnade nach Recht“ und „Recht statt Gnade“ –21 kontrovers über Sinn und Unsinn des Begnadigungsrechts im Allgemeinen und einer Begnadigung Klars im Besonderen diskutiert.22 Der Umstand, dass ein Gnadenerweis eine unzulässige Umgehung der gesetzlichen Regelung nach § 57a StGB darstellen könnte, soll „dem Vernehmen nach“ im Rahmen der Entscheidungsfindung Horst Köhlers von Bedeutung gewesen sein.23 Die Fälle Mohnhaupt und Klar illustrieren, dass die fortschreitende Schaffung gesetzlicher Regelungen im Laufe der Zeit der Gnade jedenfalls in faktischer Hinsicht zweifellos viel von ihrem früheren Anwendungsbereich genommen hat.24 Dies hängt insbesondere damit zusammen, dass die Rechtspraxis im Einklang mit der gnadenrechtlichen Literatur das Nebeneinander von Gnade und Gesetz ganz mehrheitlich zugunsten von Letzterem löst: Nur wenn die Gewährung einer Vergünstigung nach dem Gesetz nicht in Betracht kommt, dürfe ein Gnadenerweis ergehen, die Gnade sei gegenüber den gesetzlichen Vergünstigungen subsidiär.25 Dies wirft indes zahlreiche Fragen auf: Warum ist das so? Handelt es sich bei diesem (behaupteten) Vorrang der gesetzlichen Vergünstigung gegenüber der Gnade um einen verbindlichen, d. h. de lege lata bestehenden und damit die Ausübung des Begnadigungsrechts beschränkenden Rechtssatz oder um einen unverbindlivon Brigitte Mohnhaupt zur Bewährung ausgesetzt“, Pressemitteilung des OLG Stuttgart vom 12.2.2007, verfügbar unter www.olg-stuttgart.de / pb / ,Lde / 1178716 (besucht am 2.4.2017). 19 OLG Stuttgart, Beschluss vom 13.2.1998, mitgeteilt in OLG Stuttgart BeckRS 2009, 10928. 20 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 60. Zum Ablauf der gebotenen Verbüßungsdauer von 26 Jahren Anfang 2009 setzte das OLG Stuttgart schließlich auch die Reststrafe Klars nach § 57a StGB zur Bewährung aus (vgl. OLG Stuttgart BeckRS 2009, 10928). 21 Pflieger, ZRP 2008, 84 mit Nachweisen. 22 Vgl. z. B. „Recht vor Gnade“, FAZ vom 31.1.2007 (Nr. 26), S. 1; „Die doppelte Verdrängung“, Die Zeit vom 22.3.2007 (Nr. 13), S. 5. Dabei zeigten sich z. T. erhebliche Fehleinschätzungen hinsichtlich Aufgabe, Art und Umfang des Begnadigungsrechts in einem modernen Rechtsstaat (Schütte, UBWV 2007, 161). 23 Schall, Herzberg-FS, S. 899 (906); „Keine Gnade für Christian Klar“, SZ vom 8.5.2007, S. 1. 24 Vgl. nur Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 141. 25 Vgl. z. B. Blaich, Gnadenrecht, S. 109 ff; Freuding, StraFo 2009, 491 (493); LR-Graalmann-Scheerer, § 452 Rn. 8; Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 48.
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chen Appell an den Gnadenträger, von seinem Begnadigungsrecht nur sparsam Gebrauch zu machen? Denn schließlich setzt Ersteres voraus, dass die Gnade überhaupt rechtlichen Schranken unterliegen kann – mit dem Verständnis einer dem Recht vorgeschalteten Gnade kann dies nicht vereinbar sein. Ferner stellt sich die Frage nach der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung dieses etwaigen Vorrangs des Gesetzes gegenüber der Gnade. Mit anderen Worten: Unter welchen Voraussetzungen kommt eine gesetzliche Alternativregelung „in Betracht“, die einer Gnadenentscheidung entgegensteht? Wann „fehlt“ es demgegenüber an einer solchen gesetzlichen Regelung, sodass ein Gnadenakt prinzipiell ergehen könnte? Ergeben sich aus einer zuvor ablehnenden Entscheidung auf gesetzlichem Weg in der Folge Bindungen für den Gnadenträger? Welcher Raum verbleibt der Gnade? Diesen Fragen, deren Beantwortung es ermöglichen soll, den Platz der Gnade in unserer Rechtsordnung näher zu konturieren, wird im 3. und 4. Kapitel der vorliegenden Arbeit nachgegangen. Zuvor wird der Blick auf die historische Entwicklung des Nebeneinanders von Gnade und gesetzlichen Alternativregelungen (1. Kapitel) und einige für das Verständnis der weiteren Arbeit relevante Aspekte des geltenden Gnadenrechts gerichtet (2. Kapitel). Vorab sind einige Begrifflichkeiten zu klären: Vom Begnadigungsrecht zu unterscheiden ist das „Gnadenrecht“. Auch wenn beide Begriffe zum Teil synonym verwendet werden,26 ist es präziser, mit dem „Gnadenrecht“ allein die Gesamtheit der gnadenrechtlichen Vorschriften zu bezeichnen.27 Inhaber des Begnadigungsrechts ist der Gnadenträger. Fällt seine Gnadenentscheidung positiv aus, werden synonym die Begriffe „Begnadigung“, „Gnadenerweis“ oder „Gnadenakt“ verwandt; andernfalls ist von „negativen“ oder „ablehnenden“ Gnadenentscheidungen die Rede. Für solche gesetzlichen Regelungen, die Vergünstigungen in Bezug auf Strafverhängung oder ‑vollstreckung bieten (z. B. §§ 56, 57, 57a, 60 StGB), wird im Folgenden der Oberbegriff der „gesetzlichen Strafvergünstigungen“ verwendet. Vorschriften, welche – wie die Gnade – Vergünstigungen nach Rechtskraft der Verurteilung ermöglichen (z. B. §§ 57, 57a StGB), werden als „gesetzliche Alternativregelungen“ bezeichnet. Für das auf Erlass einer Vergünstigung nach dem Gesetz gerichtete Verfahren wird im Folgenden die Bezeichnung „gesetzliches Verfahren“ bzw. „gesetzlicher Weg“ verwendet.
26 So z. B. KK-StPO-Appl § 454 Rn. 41; Junker, ZStW 63 (1951), 428 (434); Schütte, UBWV 2007, 161 ff.; BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf zum 3. StrÄndG), S. 30. 27 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 69. So auch im Folgenden.
§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders von Gnade und gesetzlichen Strafvergünstigungen A. Rechtsentwicklung ab der Aufklärung I. Gewandeltes Verständnis von Wesen und Funktion des Begnadigungsrechts Die Grundlagen für den Prozess der Verdrängung der Gnade durch das Gesetz wurden in der Aufklärung gelegt. Maßgeblich hierfür war zum einen der Gedanke, die Gnadengewalt des Souveräns zu beschränken. Hinzu kam die Idee eines „perfekten“, „vollkommenen“ Gesetzes, welches das Begnadigungsrecht weitgehend überflüssig machen sollte. 1. Misstrauen gegenüber dem Souverän Das Gnadenverständnis des späten Mittelalters,1 wonach der absolutistische Herrscher „von Gottes Gnaden“ die ihm in oberster Instanz zustehende Gerichtsbarkeit ausübt und dabei neben dem Richten nach Recht ein „Richten nach Gnade“2 erfolgen kann, erscheint in den Augen vieler Philosophen der Aufklärung als willkürliche Durchbrechung des hochgeachteten Gesetzes, unvereinbar mit der Idee eines konstitutionellen Staats mit streng voneinander getrennten Gewalten.3
1 Eingehend zur Rechts- und Geistesgeschichte des Begnadigungsrechts Grewe, Gnade und Recht, S. 41 ff., wobei Böllhoff zutreffend darauf hinweist, dass man dieses im Jahr 1936 erschienene Werk ob der mancherorts offensichtlich feststellbaren Zustimmung zum Führerstaat „mit der gebotenen Vorsicht“ interpretieren muss (Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 73 mit Fn. 217). 2 Hierbei handelte es sich um ein Richten nach Ermessen, das in Willkür ausarten und gar eine Verschärfung des ursprünglichen Erkenntnisses („Richten nach Ungnade“) bedeuten konnte (vgl. Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 [114]; Grewe, Gnade und Recht, S. 93; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [98 f.]; Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 [32]). Eine Beschränkung der Gnade auf bereits rechtskräftige Verurteilungen fand somit nicht statt. 3 Vgl. Campagna, ARSP 2003, 171 (177); Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (114 f.).
A. Rechtsentwicklung ab der Aufklärung25
In Frankreich wurde daher das Begnadigungsrecht im Jahr 1791 durch die Nationalversammlung abgeschafft.4 Der Gedanke der Unvereinbarkeit des Begnadigungsrechts mit dem gewandelten Staatsverständnis kommt in dem von den Girondisten unterstützten − allerdings nie angenommenen − französischen Verfassungsentwurf von 1793 deutlich zum Ausdruck: „Das Begnadigungsrecht wäre nur das Recht, das Gesetz zu verletzen; es kann nicht unter einer freien Herrschaftsform existieren, wo das Gesetz für alle gleich sein muss.“5 Wie viele Reformen im Zuge der französischen Revolution dauerte jedoch auch die Abschaffung des Begnadigungsrechts nicht lange: Im Jahr 1801 wurde es wieder eingeführt.6 Auch Kant, der in dem Begnadigungsrecht „wohl unter allen Rechten des Souveräns das schlüpfrigste“ sah, plädierte dafür, das Begnadigungsrecht „in Ansehung der Verbrechen der Untertanen gegeneinander“ abzuschaffen, denn hier sei die Straflosigkeit „das größte Unrecht gegen die letzteren“7. Der Souverän dürfe vom Begnadigungsrecht daher allenfalls bei solchen Verbrechen Gebrauch machen, die ihm selbst widerfahren, und auch nur dann, wenn nicht „durch Ungestraftheit dem Volk selbst in Ansehung seiner Sicherheit Gefahr erwachsen könnte“.8 2. Die Idee des „perfekten“ Gesetzes Neben dem Misstrauen gegenüber dem Souverän gründete sich die Kritik am Begnadigungsrecht insbesondere auf die Überzeugung, dass das Begnadigungsrecht im Fall des „perfekten“ Gesetzes weitgehend überflüssig sei.9 Nach Beccaria werden „Milde und Verzeihen“, wie sie dem Verurteilten durch die Gnade zuteilwerden können, durch eine „vollkommene“ Gesetzgebung obsolet: „Die Milde nämlich, jene Tugend, die bisweilen für einen Herrscher die Abrundung aller Pflichten des Thrones gewesen ist, müßte bei einer vollkommenen Gesetzgebung, wo die Strafen milde sind und das Gerichtsverfahren auf geregelte und zügige Weise vor sich geht, ausgeschlossen sein.“10 4 Eingehend zu den Gründen Monteil, La grâce en droit franҫais moderne, Rn. 17 ff. 5 Eigene Übersetzung. Die Norm findet sich im Verfassungsentwurf im Titel X, Abschnitt III, Art. 2, abgedruckt in: Dupont (Hrsg.), Archives Parlementaires 58, S. 621. 6 Monteil, La grâce en droit franҫais moderne, Rn. 19. 7 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 161. 8 Kant, Metaphysik der Sitten, S. 161 f. 9 Vgl. Grewe, Gnade und Recht, S. 17 f.; siehe auch Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 43. 10 Beccaria, Über Verbrechen und Strafen, S. 156.
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
Allgemeiner formuliert es Filangieri: „Ist die Gnade gerecht, so ist das Gesetz schlecht, ist das Gesetz gut, so ist die Gnade eine Verletzung desselben: Im ersteren Fall muss man das Gesetz abschaffen, in letzterem Fall die Gnade ablehnen.“11 Nach Feuerbach sei die Ausübung des Begnadigungsrechts als „trübseliges Surrogat der schlafenden Gesetzgebung“ allenfalls dort zu entschuldigen, „wo die gesetzgebende Gewalt zu schläfrig ist, um blutige Gesetze vergangener Jahrhunderte abzuschaffen“12. Stehen die Strafen hingegen „in gerechtem Ebenmaße mit dem Verbrechen“, dann könne die Begnadigung „keinen anderen Zweck haben, als die Strafgesetzgebung zu schwächen und zu entnerven, da erscheint sie blos als ein Akt der oberherrlichen Willkür“13. Mit Feuerbach kündigt sich ein gewandeltes Verständnis vom Wesen der Gnade an, welche dazu berufen sei, das allzu starre Gesetz dort zu korrigieren, wo seine Anwendung im Einzelfall zu unbilligen Härten führt.14 Gnade und Recht werden damit nicht mehr als Gegensätze begriffen, sondern die Gnade in Verbindung mit der Gerechtigkeit gesehen.15 Deutlich wird dies bei v. Ihering, der die Begnadigung definiert als „die Korrektur des als unvollkommen erkannten Gesetzes im einzelnen Falle, kurz ausgedrückt als die Selbstkorrektur der Gerechtigkeit“16. Da mit dem Begnadigungsrecht die Gefahr von Willkür einherginge, schlägt v. Ihering die Einsetzung eines „höchsten Gerichtshofes über dem Gesetz, der durch die Art seiner Besetzung jede Besorgnis, daß er jemals ein Werkzeug in den Händen der Willkür der Staatsgewalt werden könne, von vornherein ausschlösse“, vor.17 Dieser Gerichtshof solle die Aufgabe erhalten, „die Unvollkommenheit des Gesetzes nach Art des Gesetzgebers [zu beseitigen], in dem er den einzelnen Fall ganz so beurteilt, wie der Gesetzgeber es bei Erlassung des Gesetzes getan haben würde“18. 11 Eigene Übersetzung von Filangieri, zit. von Monteil, La grâce en droit franҫais moderne, Rn. 16. 12 Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs, S. 247. 13 Feuerbach, Kritik des Kleinschrodischen Entwurfs, S. 247 f. Vgl. auch v. Humboldt (Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, S. 158), der sich für „gute und durchdachte Gesetze“, „angemessene Strafen“ und die „Hinwegräumung aller Möglichkeiten auch nur der Milderung der richterlich bestimmten Strafe“ – einschließlich des Begnadigungsrechts – ausspricht. 14 Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (115). 15 Vgl. Hüser, Begnadigung und Amnestie, S. 4. 16 v. Ihering, Der Zweck im Recht I, S. 333. 17 v. Ihering, Der Zweck im Recht I, S. 334 ff. Krit. dazu Grewe, Gnade und Recht, S. 30 f. 18 v. Ihering, Der Zweck im Recht I, S. 336.
A. Rechtsentwicklung ab der Aufklärung27
Das Verständnis des Begnadigungsrechts als der Gerechtigkeit dienendes Korrektiv zum starren Gesetz setzte sich auch in der Rechtswirklichkeit durch. Zwar war das Begnadigungsrecht in allen deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts weiterhin als Prärogative des Monarchen anerkannt.19 Zugleich fand aber eine weitgehende Entmystifizierung der Gnade statt: Nicht mehr Güte, Milde und monarchische Zuwendung sollten im Grundsatz entscheidend für den Gnadenerweis sein; die Gnade stand vielmehr im öffentlichen Interesse einer geordneten Strafrechtspflege und erging um einer höheren Gerechtigkeit willen.20 Niederschlag hat dieses gewandelte Verständnis etwa in der Verfassungsurkunde für das Königreich Württemberg vom 25.9.181921 gefunden, deren Art. 97 Abs. 3 lautete: „Der König wird jedoch bei Ausübung [des Begnadigungsrechts] darauf Rücksicht nehmen, daß dem Ansehen und der Wirksamkeit der Straf-Gesetze dadurch nicht zu nahe getreten werde.“
II. Ansatzpunkte zur „Verfeinerung“ des „starren“ Gesetzes 1. Vorbemerkung Der von Beccaria, Filangieri, Feuerbach und v. Ihering geforderte Vorgang der „Verfeinerung“ des Gesetzes, der die Ausübung des Begnadigungsrechts überflüssig machen soll, kann sich auf verschiedene Art und Weise vollziehen: Im weitesten Sinne kann der Gesetzgeber bereits bei der Frage der materiellen Strafbarkeit ansetzen, indem er etwa bei der tatbestandlichen Konstruktion Verhaltensweisen mit unterschiedlichem Unrechtsgehalt von vornherein tatbestandlich voneinander abgrenzt und unterschiedliche Rechtsfolgen wählt.22 Da sich die Gnade indes auf die Abmilderung der Rechtsfolgen 19 Vgl. die Ausführungen in BVerfGE 25, 352 (359 – tragende Meinung); Flor EVKOMM 4 / 89, 31. Vgl. auch v. Jagemann, Der Gerichtssaal 3 / 1 (1851), 71: „So viel auch schon von den Souveränitätsattributen durch die vielfältigen Verfassungsversuche da und dort weggenommen wurde, so hat doch noch keine Hand gewagt, an dem Begnadigungsrecht sich zu vergreifen; es bleibt immer und überall ein noli me tangere, welches auch der Niedrigste im Volke zu achten weiß.“ 20 Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 208; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (100); vgl. auch Loening, DJZ 1896, 429 (431). Gleichwohl fanden auch im Deutschen Kaiserreich noch Begnadigungen allein aus Anlass nationaler Feierlichkeiten statt, siehe unter § 1 B. I. 1. (S. 35). 21 Abgedruckt bei Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit I, S. 101 ff. 22 Schmid, Individualisierung im RStGB, S. 2 (z. B. Unterscheidung zwischen Kindsmord, Mord und Totschlag). Vgl. auch Bundesjustizminister Maas zur Reform der §§ 211 ff. StGB: „Zumindest will ich dafür sorgen, dass die Gerichte nicht mehr
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
der strafgerichtlichen Verurteilung bezieht, sind für die Verdrängung der Gnade durch das Gesetz insbesondere solche Regelungen von Bedeutung, die auf Ebene der Rechtsfolgen eine Anpassung an die Umstände des Einzelfalls ermöglichen. Dies kann zum einen bei der Herstellung des Strafensystems erfolgen, etwa durch Schaffung relativer Strafandrohungen, die dem Richter eine gewisse Flexibilität für die Besonderheiten des Einzelfalls einräumen.23 Zum anderen können die Besonderheiten des Einzelfalls auch im Rahmen der Strafvollstreckung Berücksichtigung finden, indem etwa von der Vollstreckung eines rechtskräftigen Urteils (vorübergehend) abgesehen oder die Vollstreckung des Rests einer bereits teilweise vollstreckten Strafe ausgesetzt wird. All diese gesetzgeberischen Ansatzpunkte24 haben gemein, dass hierdurch bereits auf gesetzlichem Weg besondere Umstände des Einzelfalls Berücksichtigung finden können, die Regelungen also als „Sicherheitsventile des Rechts“25 fungieren, die das Entstehen unbilliger Härten auf gesetzlichem Weg zu verhindern suchen. Da solche Regelungen es ermöglichen, den einzelnen Fall individuell zu behandeln, wird in diesem Zusammenhang der Begriff der „Individua lisierung“26 verwandt. Nach Engisch beschreibt der Begriff der „Individualisierung“ eine juristische Konkretisierung, „die den Eigentümlichkeiten, den besonderen Umständen des Einzelfalles gerecht zu werden bemüht ist“27. Dies bedeute, „daß alle die besonderen Umstände des Falles in der Rechtsfolge – wenn auch vielleicht nur quantitativ – ausschlagen“28. Der Begriff der „Rechtsfolge“ ist dabei weit zu verstehen: Die Individualisierung beschränkt sich nicht auf den Vorgang der Verhängung der Sanktion gezwungen werden, Konstruktionen an der Grenze der erlaubten richterlichen Rechtsfortbildung erfinden zu müssen, um Urteile sprechen zu können, die nicht nur dem Gesetz, sondern auch dem Gerechtigkeitsbedürfnis entsprechen.“ (SZ vom 8. / 9.2.2014 [Nr. 32], S. 6). 23 Kern, ZStW 43 (1922), 588; Schmid, Individualisierung im RStGB, Einleitung S. 2. Dieser „Flexibilität“ sind freilich durch den Bestimmtheitsgrundsatz verfassungsmäßige Grenzen (Art. 103 Abs. 2 GG) gesetzt; vor diesem Hintergrund krit. zur heutigen Gesetzeslage mit ihren weiten Strafrahmen Hettinger, Schünemann-FS, S. 891 ff., 904. 24 A. Maurer (Begnadigungsrecht, S. 97 f.) verweist ferner auf die Möglichkeiten der Aufweichung eines ursprünglich uneingeschränkten Legalitätsprinzips (§§ 153 ff. StPO). 25 Viel beachtete Bezeichnung nach v. Ihering, Der Zweck im Recht I, S. 331. 26 Vgl. Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 204 ff.; Kern, ZStW 43 (1922), 588; Maiwald, ZStW 83 (1971), 663 (673 ff.); Schmid, Individualisierung im RStGB, S. 1 f. Siehe aber auch Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 860: „Die Regel ist die Feindin der Individualität.“ 27 Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 224. 28 Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 220.
A. Rechtsentwicklung ab der Aufklärung29
im Erkenntnisverfahren, sondern ist vielmehr auch durch eine nachträgliche Anpassung der verhängten Sanktion möglich, wenn etwa während der Strafvollstreckung geänderte individuelle Umstände berücksichtigt werden. Die individualisierende Norm tritt dabei in Konkurrenz zur Gnade: Denn der Sinn der Begnadigung besteht ebenfalls in der Ermöglichung „individualisierender Gerechtigkeit“29. Dabei kann es zu einem eigentlichen Konkurrenzverhältnis zur Gnade nur dann kommen, wenn die individualisierende Norm (zumindest auch) erst nach Rechtskraft des Urteils Anwendung findet – d. h. erst im Vollstreckungsverfahren. Denn schließlich beschränkt sich die Ausübung des Begnadigungsrechts nach heutigem Verständnis gegenständlich auf rechtskräftige Verurteilungen.30 Die übrigen individualisierenden Normen – d. h. solche, die bereits im Erkenntnisverfahren Anwendung finden – sind für den Vorgang der Verdrängung der Gnade durch das Gesetz (nur) insofern bedeutsam, als sie unbillige Härten vorab auszusieben bestimmt sind, letztere also erst gar nicht entstehen sollen, mit der Folge, dass für eine spätere Begnadigung dann an sich kein Raum mehr ist.31 Die nachfolgende Betrachtung des Entstehens und der Entwicklung gesetzlicher Strafvergünstigungen fokussiert sich daher vornehmlich auf solche Vorschriften, die wie das heutige Begnadigungsrecht erst nach Rechtskraft der Verurteilung anwendbar sind. Eine eingehende Darstellung der Entstehung und Entwicklung auch solcher Normen, die bereits im Erkenntnisverfahren individualisierend wirken, würde den vorliegenden Rahmen sprengen. Besonders bedeutsame Vorschriften des Erkenntnisverfahrens, welche sich mittelbar auf den der Gnade verbleibenden Anwendungsraum ausgewirkt haben, sollen gleichwohl Erwähnung finden. 2. Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten Das einzige gesetzliche Institut, welches bereits vor Inkrafttreten des RStGB zu einer nachträglichen Abmilderung der Folgen einer rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung führen konnte – und damit die einzige echte gesetzliche Alternativregelung zur Gnade –, war die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten. 29 Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 207. Vgl. auch Schmid, Individualisierung im RStGB, S. 23, wonach die Begnadigung das „höchste Individualisieren“ sei. 30 Allgemeine Meinung, vgl. nur BVerfGE 25, 352 (358 – tragende Meinung). 31 Näher zum Begriff der „unbilligen Härte“ und seiner Bedeutung für den heutigen Anwendungsbereich der Gnade unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.).
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
a) Die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten als gesetzliche Alternativregelung zum Begnadigungsrecht Das Institut der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten in Verbindung zum Begnadigungsrecht zu setzen, mag dem Rechtsgefühl zunächst widerstreben: „Gnade“ soll an sich einem Schuldigen zuteilwerden, die Wiederaufnahme hingegen dem Unschuldigen zu seinem Recht verhelfen.32 Gleichwohl entspricht es einer langen Rechtspraxis, auch Fehlurteile im Gnadenweg zu korrigieren.33 Nach v. Liszt kann die Begnadigung auch dazu dienen, „einen (wirklichen oder vermeintlichen) Irrtum des Richters zu verbessern“34. Auch die heute ganz h. M. hält das Begnadigungsrecht zur Korrektur von Fehlurteilen für anwendbar.35 So erfülle das Begnadigungsrecht nach Auffassung des BVerfG unter anderem die Funktion, „etwaige Irrtümer bei der Urteilsfindung auszugleichen“36. Vielfach wird aber gefordert, dass eine Begnadigung insoweit nur in ganz besonderen Ausnahmefällen erfolgen dürfe, da es andernfalls zu einem mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz nicht zu vereinbarenden Eingriff in die richterliche Gewalt komme.37 32 Vgl. A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 102 f. Siehe auch Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 875: „Die völlige Begnadigung ist das Gegenteil eines freisprechenden Urteils. Dieses verneint die Existenz des staatlichen Strafrechts, jene beseitigt ein rechtskräftig festgestelltes Strafrecht. Der Freigesprochene ist nicht, der Begnadigte ist allerdings überwiesener Verbrecher.“ Loeb, Begnadigungsrecht, S. 2 f.: „Wer im Einklange mit der Rechtsordnung lebt, der hat keine Gnade nöthig.“ Bei einem Akt, den der Gnadenträger aufgrund seiner Überzeugung von der Unschuld des Verurteilten erteilt, handele es sich daher nach Loeb nicht um einen Gnadenakt, sondern um einen „Act einer oberstrichterlichen Gewalt, die dem Inhaber der Gnadengewalt ebenfalls zusteht, und der Gnadengewalt ähnlich ist.“ 33 Bereits das römische Recht gestattete dem unschuldig Verurteilten eine „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“, welche als Vorläufer der Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten bezeichnet werden kann; allerdings konnte diese nur aufgrund kaiserlichen Gnadenakts gewährt werden (Arnold, Der Gerichtssaal 3 / 1 [1851], 46 [51]; Stückle, Wiederaufnahme, S. 20). 34 v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 19. Aufl. 1912, S. 292. Vgl. aus der Literatur des frühen 20. Jahrhunderts ferner Fricke, DJZ 1928, 660; v. Hippel, Deutsches Strafrecht II, S. 582; Kulemann DJZ 1916, 499 (502). 35 Vgl. Hüser, Begnadigung und Amnestie, S. 33; Klein, Gnade, S. 19; A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 177 f.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 87 f.; Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 23. Eingehend Mickisch, Gnade im Rechtsstaat, S. 100 ff. Hingegen generell gegen eine Anwendung des Begnadigungsrechts bei Fehlurteilen Rüping, Schaffstein-FS, S. 32 (38 f. – maßgeblich mit Rechtssicherheit argumentierend). 36 BVerfGE 25, 352 (360 – tragende Meinung).
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b) Die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten im akkusatorischen Strafverfahren vor Gründung des Deutschen Kaiserreichs Das Wiederaufnahmeverfahren weist in seinen Grundgedanken auf den alten inquisitorischen Prozess zurück.38 Hiernach war die Wiederaufnahme bereits dann möglich, wenn der Verurteilte nur irgendwie relevante Nova beibrachte.39 Zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden sich in den deutschen Partikulargesetzen noch entsprechende Regelungen: So sollte nach § 588 der Preußischen Criminalordnung von 180540 der Verurteilte „jederzeit gehoert werden, wenn er seine Unschuld darthun will, und deshalb direkte Beweismittel angiebt“. Art. 396 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 (2. Theil) ließ die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten zu, „so fern neue, in den Akten noch nicht vorgekommene Beweismittel angegeben werden, womit die Grundlosigkeit des Anschuldigungsbeweises oder die gänzliche Unschuld dargethan werden kann“. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen betrafen im Wesentlichen die materiell unrichtige Schuldfestsetzung; die Frage einer Wiederaufnahme bei Verfahrensfehlern wurde von der Rechtslehre gar nicht und von der Gesetzgebung nur ganz nebenbei berücksichtigt.41 Mit Einführung des akkusatorischen Prozesses nach französischem Vorbild42 im Jahr 1848 in den meisten deutschen Staaten43 und der damit einhergehenden Etablierung des Rechtskraftprinzips44 wurde das Wiederaufnahmeverfahren grundlegend reformiert. Dabei lassen sich die einzelnen 37 Vgl. z. B. Bettermann, AöR 96 (1971), 528 (540). Siehe zu dieser Frage näher unter § 4 C. V. 1. b) (S. 256 ff.). 38 Mayer, Der Gerichtssaal 99 (1930), 299. Das römische Recht kannte hingegen keine eigentliche Wiederaufnahme, jedoch konnte dem Verurteilten die „Wiedereinsetzung in den vorigen Stand“ aufgrund kaiserlichen Gnadenakts gewährt werden (siehe S. 30 mit Fn. 33). 39 Mayer, Der Gerichtssaal 99 (1930), 299 (304). 40 Abgedruckt bei v. Goldbeck, Allgemeines Criminalrecht für die Preußischen Staaten, S. 219. 41 Vgl. Mayer, Der Gerichtssaal 99 (1930), 299 (307), der als seltenes Beispiel Art. 387 des Bayerischen Strafgesetzbuchs von 1813 (2. Theil) nennt (Wiederaufnahme zuungunsten des Verurteilten bei verfälschten Urkunden, meineidigen oder sich wesentlich irrenden „Vertheidigungszeugen“). 42 Das französische Wiederaufnahme-System wurde im Zuge der französischen Revolution und der Einführung des akkusatorischen Prozesses neu geschaffen; zuvor galt wie im deutschen gemeinen Recht die Wiederaufnahme in weitestem Umfang (Mayer, Der Gerichtssaal 99 [1930], 299 [309]). 43 v. Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, S. 41. 44 Dazu Stückle, Wiederaufnahme, S. 20.
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
deutschen Strafprozessrechtsordnungen trotz aller Verschiedenheiten in zwei Gruppen einteilen: Solche, die streng nach dem Vorbild des französischen Rechts (teils in nahezu wörtlicher Wiederholung des Code d’instruction criminelle) die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten nur unter eng begrenzten und abschließenden formalen Wiederaufnahmegründen aufstellten, und solche, die neben diesen Gründen die Wiederaufnahme bei Bekanntwerden neuer Tatsachen zuließen, ohne dass insoweit bestimmte formelle Voraussetzungen beachtet werden mussten.45 Der französische Code d’instruction criminelle sah in Art. 443–445 die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten nur in drei Fällen vor: 1. Wenn zwei Angeklagte in zwei verschiedenen Urteilen wegen desselben Verbrechens verurteilt sind und die Feststellungen beider Urteile sich aufheben; 2. Wenn nach Verurteilung wegen Tötung Beweismittel hervorgebracht werden, wodurch sich die Wahrscheinlichkeit ergibt, dass die angeblich getötete Person noch lebt; 3. Wenn gegen einen Zeugen, welcher gegen den Verurteilten aussagt, eine Verurteilung wegen falschen Zeugnisses erging.46 Diesem französischen Vorbild folgten im Wesentlichen Bayern, Württemberg, Hessen-Darmstadt und Nassau.47 Preußen übernahm lediglich den dritten Grund des französischen Rechts (Falschaussage) und ergänzte ihn um den Grund, dass das Urteil auf einer falschen Urkunde beruht.48 Mit der Rezeption des französischen Systems wandelte sich der Sinn der Wiederaufnahme: War zuvor eine Wiederaufnahme bei früher unbekannten Nova möglich, die eben nur durch ihre Neuheit gekennzeichnet waren, musste nunmehr der Nachweis erbracht werden, dass das Verfahren mit einem Falsum behaftet ist.49 Demgegenüber sahen einige Länder neben solchen formalen Wiederaufnahmegründen die Wiederaufnahme bei Bekanntwerden neuer relevanter Tatsachen vor. So war z. B. in Baden die Wiederaufnahme auch dann zulässig, wenn der Verurteilte neue Beweismittel beibrachte, welche für sich oder 45 Vgl. Mayer, Der Gerichtssaal 99 (1930), 299 (308); Remeis, Wiederaufnahme, S. 46. 46 Mayer, Der Gerichtssaal 99 (1930), 299 (309); Remeis, Wiederaufnahme, S. 46. Eingehend Arnold, Der Gerichtssaal 3 / 1 (1851), 46 (54 ff.). 47 Remeis, Wiederaufnahme, S. 60; Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses II, S. 677. 48 Vgl. § 151 der Verordnung über die Einführung des mündlichen und öffentlichen Verfahrens mit Geschworenen in Untersuchungssachen vom 3.1.1849 (GesetzSammlung für die königlichen preußischen Staaten 1848, S. 14): „Gegen jedes rechtskräftige Urtheil kann der Verurtheilte zu jeder Zeit das Rechtsmittel der Restitution einwenden, wenn er darzuthun vermag, daß das Urtheil auf eine falsche Urkunde oder auf die Aussage eines meineidigen Zeugen gegruendet ist.“ 49 Mayer, Der Gerichtssaal 99 (1930), 299 (310).
B. Deutsches Kaiserreich33
in Verbindung mit früheren geeignet waren, seine Freisprechung zu bewirken, oder wenn er neue Umstände nachwies, welche die Tat als nicht strafbar oder als ein Verbrechen erscheinen ließen, welches mit einer geringeren Strafart bedroht war.50 Ähnliche Regelungen gab es in Braunschweig, Thüringen, Österreich, Sachsen und Kurhessen.51 Obwohl es sich bei der Wiederaufnahme des Verfahrens – wie bei der Gnade – um ein Institut „zur Wahrung des Prinzips der Gerechtigkeit“52 handelt, wurde in der damaligen Literatur die Frage einer etwaigen Beschränkung des Begnadigungsrechts durch die Vorschriften über die Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten kaum behandelt. Beachtlich sind insoweit jedoch die Ausführungen Arnolds, der sich mit Blick auf die Unabhängigkeit der Gerichte ausdrücklich gegen eine Korrektur von Fehlurteilen im Gnadenweg aussprach, sofern eine Wiederaufnahme des Verfahrens ebenfalls möglich ist.53
B. Deutsches Kaiserreich I. Begnadigungsrecht 1. Allgemeines Im Deutschen Kaiserreich war die Zuständigkeit für die Ausübung des Begnadigungsrechts zwischen dem Reich und den Einzelstaaten aufgeteilt. Dabei standen die Begnadigungsgewalt des Reichs und die der Einzelstaa50 Remeis,
Wiederaufnahme, S. 63. Remeis, Wiederaufnahme, S. 63 ff. 52 Zachariae, Handbuch des deutschen Strafprocesses II, S. 674. 53 Vgl. Arnold, Der Gerichtssaal 3 / 1 (1851), 46 (47): „Es ist ferner unrichtig, wenn man, wie ältere Gesetzgebungen gethan, den rechtskräftig verurtheilten Unschuldigen nur an die Gnade des Regenten verweist. Die Aufgabe der Gerichte ist, das Recht zu handhaben, und wenn das Recht von den Gerichten selbst verletzt wurde, so ist diese Aufgabe um so dringender: der Begnadiger tritt erst ein, wo das strenge Recht in einzelnen Fällen aus besonderen Gründe als zu streng erscheint: Derjenige aber, welcher vor Gericht gestellt wird, hat ein Recht darauf, gerecht behandelt zu werden und er muß nicht um Gnade flehen, wo er das Recht fordern kann: eine Begnadigung von Seiten des Regenten, welche den Zweck hat, ein Unrecht der Gerichte gut zu machen, ist nicht nur ein Eingriff in die Rechtspflege, sondern auch ein das Ansehen der Gerichte herabwürdigender Akt; haben die Gerichte Unrecht zugefügt, so müssen sie auch die Macht haben, dieses Unrecht wieder gut zu machen und es darf keine andere Gewalt geben, welche die richterlichen Erkenntnisse prüft und aus dem Grunde, weil sie ungerecht, in Form einer Begnadigung abändert: wo solches gestattet ist, da ist die Unabhängigkeit der Gerichte auf das Empfindlichste verletzt.“ 51 Eingehend
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ten gleichberechtigt nebeneinander, d. h. das Reich ließ die Begnadigungsgewalt der Einzelstaaten unangetastet.54 Die Abgrenzung zwischen der Zuständigkeit des Reichs auf der einen und der Einzelstaaten auf der anderen Seite bestimmte sich gem. § 484 RStPO danach, ob das Reichsgericht in erster Instanz verurteilte.55 Die erstinstanzliche Zuständigkeit des Reichsgerichts richtete sich nach § 136 Nr. 1 RGVG und umfasste die Fälle des Hoch- und Landesverrats gegen den Kaiser oder das Reich. Das Begnadigungsrecht stand dem Kaiser darüber hinaus bei Verurteilungen der Marinekriegsgerichte, der Konsulargerichtsbarkeit sowie der elsaß-lothringischen Gerichte zu.56 In allen übrigen Fällen war derjenige Einzelstaat für die Ausübung des Begnadigungsrechts zuständig, dessen Gericht in erster Instanz verurteilte.57 Gnadenträger in den Einzelstaaten waren in aller Regel die Bundesfürsten.58 Bereits zum damaligen Zeitpunkt wurde die Ausübung des Begnadigungsrechts indes auf nachgeordnete Behörden delegiert.59 Die Daseinsberechtigung des Begnadigungsrechts60 wurde von der damaligen Strafrechtswissenschaft kaum in Zweifel gezogen61 und das Begnadigungsrecht in der Rechtspraxis nicht ausschließlich als Korrektiv unbilliger 54 Vgl. Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 865; Loeb, Begnadigungsrecht, S. 42. 55 § 484 RStPO: „In Sachen, in denen das Reichsgericht in erster Instanz erkannt hat, steht das Begnadigungsrecht dem Kaiser zu.“ Anders als in der Weimarer Reichsverfassung und im Grundgesetz – und im Übrigen auch in der Paulskirchenverfassung (dort § 81 S. 1) – fehlte es in der Verfassung des Deutschen Reiches von 1871 an einer Regelung zum Begnadigungsrecht. Dieses fand nur auf Ebene des einfachen Gesetzes (§ 484 RStPO) Erwähnung. 56 v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 19. Aufl. 1912, S. 293. 57 Laband, Staatsrecht des Deutschen Reiches, S. 514 f.; Loeb, Begnadigungsrecht, S. 33. 58 Kohler, Leitfaden des deutschen Strafrechts, S. 90. In Bremen, Hamburg und Lübeck übte der Senat das Begnadigungsrecht aus (v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 19. Aufl. 1912, S. 293). 59 Vgl. Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 863 f.; näher Arndt, DJZ 1901, 230 f. Bereits in Titel 13 § 9 des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 war die Delegationsmöglichkeit vorgesehen. 60 Die heutige Verengung des Begriffs der „Begnadigung“ auf Vergünstigungen nach Verurteilung (siehe Einleitung [S. 19]) hatte sich in der gnadenrechtlichen Literatur des Kaiserreichs noch nicht durchgesetzt. Vielmehr wurden zu den Begriffen „Gnade“ bzw. „Begnadigungsrecht“ überwiegend auch die Abolition (siehe zum Begriff S. 19 mit Fn. 4) gezählt und in Abgrenzung hierzu das Begnadigungsrecht nach Urteilsspruch als „Begnadigungsrecht im engeren Sinne“ bezeichnet (vgl. z. B. Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 861; v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 19. Aufl. 1912, S. 292 f.; zuvor schon Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts, § 62); anders aber Loeb, Begnadigungsrecht, S. 1 (Begnadigungsrecht als „Befugniss, eine rechtskräftig erkannte Strafe ganz oder theilweise zu erlassen“). Anders als heute wurde das Begnadigungsrecht im engeren Sinne in der Rechtspra-
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Härten verstanden. Seiner Anwendung hafteten mitunter vielmehr auch willkürliche Züge an: So begnadigte Wilhelm I. in seiner Eigenschaft als König von Preußen im Jahr 1896 anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Reichsgründung alle zu Haftstrafen von nicht mehr als sechs Wochen oder zu Geldstrafe von nicht mehr als 150 Mark Verurteilten.62 Im Jahr 1913 wurden in Preußen zum 25-jährigen Regierungsjubiläum von Wilhelm II. insgesamt 24.000 Personen begnadigt.63 Im Übrigen war das Begnadigungsrecht bei Todesstrafen bedeutsam: Gem. § 485 Abs. 1 S. 2 RStPO war die Vollstreckung eines Todesurteils „erst zulässig, wenn die Entschließung des Staatsoberhauptes, und in Sachen, in denen das Reichsgericht in erster Instanz erkannt hat, die Entschließung des Kaisers ergangen ist, von dem Begnadigungsrechte keinen Gebrauch machen zu wollen.“ 2. Praxis der bedingten Begnadigung Besondere Bedeutung erlangte das Begnadigungsrecht im Kaiserreich durch die Praxis der sog. „bedingten Begnadigung“. Hintergrund war, dass es damals keine gesetzliche Regelung für die Strafaussetzung zur Bewährung bei Urteilsfällung gab.64 Der praktische Wert der Strafaussetzung, wie sie sich im Ausland durchzusetzen pflegte,65 wurde indessen allmählich von den Regierungen der deutschen Einzelstaaten erkannt, welche die Strafaussetzung daher erproben wollten.66 Hierzu sah man den Gnadenweg als geeignet an: Denn zum einen besaßen die Einzelstaaten nicht die Gesetzgebungskompetenz für eine entsprechende gesetzliche Regelung.67 Zum andexis zudem nicht allein auf rechtskräftige, sondern auch auf noch anfechtbare Urteile angewendet (siehe unter § 1 C. I. 2. [S. 48 mit Fn. 152]). Die beschriebene Kompetenzverteilung zwischen dem Reich und den Ländern umfasste jedenfalls nicht die Abolition (v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 19. Aufl. 1912, S. 293; Löwe, RStPO, 4. Aufl. 1884, GVG, 2. Titel, Ziff. 10 b). Wenn im Folgenden vom „Begnadigungsrecht“ die Rede ist, handelt es sich daher um das, was nach der damals h. M. noch als „Begnadigungsrecht im engeren Sinne“ bezeichnet wurde – Vergünstigungen nach (nicht zwingend rechtskräftiger) Verurteilung. 61 Vgl. v. Liszt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, 19. Aufl. 1912, S. 292. 62 Seibertz, DJZ 1896, 70. 63 v. Hippel, Deutsches Strafrecht II, S. 574. 64 Diese wurde im allgemeinen Strafrecht erst durch das 3. StrÄndG im Jahr 1953 geschaffen, siehe unter § 1 E. II. 1. a) (S. 60). 65 Insbesondere nach dem französischen „sursis‑“ sowie dem englischen „probation-System“; eingehend hierzu v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 10 ff., 22 ff. 66 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 190; Wach, DJZ 1902, 157.
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ren wäre nach damaligem Verständnis ein Gesetz, das dem Richter das Recht verleiht, die Vollstreckung eines Strafurteils auszusetzen, „ein Einbruch in das geheiligte Gnadenrecht gewesen, zu dem man sich zunächst nicht entschließen konnte“68. Als erster Einzelstaat stellte daher Sachsen im Jahr 1895 durch eine nicht publizierte Verfügung des Justizministeriums abstrakt-generelle Voraussetzungen auf, unter denen die Vollstreckung einer zuvor verhängten Freiheitsstrafe vor Strafantritt gnadenweise aufgeschoben werden konnte (sog. „bedingte Begnadigung“).69 Bald folgten dem fast sämtliche Einzelstaaten.70 Zuständig für die bedingten Begnadigungen waren die jeweiligen Justizminister, denen ihre Landesherren die Ausübung des Begnadigungsrechts insoweit jeweils durch eine entsprechende Verordnung übertragen hatten.71 Bei guter Führung während einer im Zeitpunkt des gnadenweisen Strafaufschubs bestimmten Bewährungszeit wurde die Strafe dann später – ebenfalls im Gnadenweg – erlassen.72 Die diesbezügliche (endgültige) Entscheidung traf zunächst noch der Landesherr auf der Grundlage von Vorschlagslisten des Justizministeriums, wodurch der Anschein einer Gnadenentscheidung „von oberster Stelle“ gewahrt wurde.73 Die bedingte Begnadigung nahm einen stetig wachsenden Umfang ein.74 Über die bereits damals bestehende75 rechtstheoretische Konzeption der Gnade als Korrektiv für den Einzelfall76 setzte man sich dabei schlicht hinweg.77 67 Gem. Art. 4 Nr. 13 der Verfassung des Deutschen Reiches vom 16.4.1871 stand dem Reich die Gesetzgebung für das Strafrecht zu. Insoweit handelte es sich um eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz (Schubart, Verfassung des Deutschen Reiches, S. 24). 68 Hartung, JW 1931, 2764 (2766). 69 Binding, Grundriss des Deutschen Strafrechts, AT, S. 318 f. 70 v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 45. 71 v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 45. 72 Binding, Grundriss des Deutschen Strafrechts, AT, S. 318. 73 Hartung JW 1931, 2764 (2766). In der Weimarer Republik wurde die Zuständigkeit zum gnadenweisen Erlass der Strafe nach Ablauf der Bewährungsfrist den erkennenden Gerichten übertragen, siehe unter § 1 C. I. 2. (S. 48). 74 Vgl. v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 48. Hiernach betrug die Gesamtzahl der im Reich im Wege der bedingten Begnadigung bewilligten Strafaufschübe bis Ende 1898 durchschnittlich 6.041, im Jahr 1900 insgesamt 7.177 und im Jahr 1906 insgesamt 19.026. Dieser große Umfang machte es erforderlich, dass die Bearbeitung der Gnadensachen von den Landesherren auf die Justizminister übertragen wurde (Kern, ZStW 43 [1922], 588). 75 Vgl. v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 61.
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Bezüglich der Voraussetzungen für den Erlass einer bedingten Begnadigung bestanden zunächst nicht unerhebliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Einzelstaaten.78 Einigkeit bestand insofern, als es sich bei den ausgesetzten Strafen durchweg um Freiheitsstrafen handelte, die überwiegend von kurzer Dauer waren.79 Weitgehend einig war man sich ferner darüber, dass die bedingte Begnadigung vornehmlich gegenüber Jugendlichen gewährt werden sollte.80 So betrug in den Jahren 1899–1904 der Anteil Jugendlicher an der Gesamtsumme der bedingten Begnadigungen im Reich durchschnittlich rund 80 %.81 Zum Jahr 1903 vereinbarten die einzelnen Bundesstaaten zwecks Rechtsvereinheitlichung einheitliche Grundsätze, welche die vorzugsweise Anwendung gegenüber Jugendlichen vorsahen.82
76 Dazu
näher unter § 4 A. I. (S. 196 ff.). daher Oetker, Strafe und Lohn, S. 23. V. Liszt / Schmidt schrieben hierzu im Jahr 1927: „[Es] ist in Deutschland von dem Rechtsinstitut der Begnadigung insofern in eigenartiger Weise Gebrauch gemacht worden, als man es dazu benutzt hat, einen kriminalpolitisch bedeutungsvollen Gedanken zu verwirklichen, der in anderen Staaten unter der Bezeichnung ‚bedingte Verurteilung‘, ‚bedingte Strafaussetzung‘, ‚bedingter Straferlaß‘ in der Strafrechtspflege Fuß gefasst hat…“ Aufgrund der zu diesem Zweck „massenhaften Verwendung des Gnadenakts“ werde „das der Gnade eigentümliche Wesen verleugnet“ (v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 429, 436). 78 Eingehend hierzu v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 45 ff. 79 Wach, DJZ 1902, 157 (158). 80 Kern, ZStW 43 (1922), 588. Vgl. den Erlass Preußens vom 23.10.1895 (abgedruckt bei v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 45): „Von dieser Ermächtigung soll jedoch vornehmlich nur zu Gunsten solcher erstmalig verurteilter Personen Gebrauch gemacht werden, welche zur Zeit der That das achtzehnte Lebensjahr nicht vollendet hatten und gegen welche nicht auf eine längere, als sechsmonatige Strafe erkannt ist.“ In Baden waren Erwachsene von der bedingten Begnadigung gar ganz ausgeschlossen. Hamburg sah demgegenüber die bedingte Begnadigung in erster Linie für Erwachsene vor (v. Liszt, a. a. O., S. 46). 81 Klee, ZStW 26 (1906), 458 (464). 82 Näher v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 47. 77 Krit.
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II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht 1. Regelungen im RStGB von 1871 a) Im Erkenntnisverfahren anwendbare Vorschriften Das RStGB von 1871 – hervorgegangen aus dem StGB für den Norddeutschen Bund von 1870 –83 nahm sich das prStGB von 1851 zum Vorbild84 und orientierte sich dabei noch an der strengen Vergeltungstheorie Kants und Hegels.85 Gleichwohl war es erklärtes Ziel des Gesetzgebers, „Härten“ des prStGB zu vermeiden.86 Während etwa zur Zeit Carpzovs die Sanktion im Strafrecht auf die vollendete vorsätzliche Tat, begangen durch einen voll verantwortlichen Täter, zugeschnitten war, und das Fehlen dieser Voraussetzungen nur zu einer Strafmilderung im Gnadenweg führen konnte, enthielt das RStGB nunmehr vertypte Abweichungen von diesem Regelbild:87 Eine der insoweit wesentlichen Neuerungen war die in § 44 Abs. 1 RStGB vorgesehene obligatorische Strafmilderung für den Versuch.88 Von Bedeutung war ferner die Vorschrift zur Unzurechnungsfähigkeit gem. § 51 RStGB, welche im Vergleich zur starren Vorgängernorm des § 40 prStGB eine „ungezwungene Anwendung des Gesetzes“ ermöglichte.89 Ferner konnte nunmehr das Gericht gem. § 60 RStGB eine erlittene Untersuchungshaft bei Urteilsfällung auf die erkannte Strafe anrechnen. Damit wurde „eine der am schwersten 83 Durch das „Gesetz, betreffend die Redaktion des Strafgesetzbuches für den Norddeutschen Bund als Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“ vom 18.5.1871 (RGBl. S. 127) wurde das StGB für den Norddeutschen Bund in „Strafgesetzbuch für das Deutsche Reich“ umbenannt. 84 v. Hippel, Lehrbuch des Strafrechts, S. 42. 85 Vgl. Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 43; Pflieger ZRP 2008, 84. 86 Vgl. Schubert (Hrsg.), Entwurf des StGB für den Norddeutschen Bund (Reichstagsvorlage), Motive, S. 84. 87 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 43; Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (32 f.). 88 Das prStGB sah eine Strafmilderung im Falle des Versuchs nur bei Verbrechen vor, die mit Todesstrafe oder lebenslanger Zuchthausstrafe bedroht waren (§ 32 prStGB). 89 Meyer, StGB für den Norddeutschen Bund, S. XXIII f. Die Vorschrift des § 40 prStGB setzte voraus, dass der Täter bei Tatbegehung „wahnsinnig oder blödsinnig [war], oder die freie Willensbestimmung desselben durch Gewalt oder Drohungen ausgeschlossen war.“ Bei Schaffung des StGB für den Norddeutschen Bund setzte sich indessen die Erkenntnis durch, dass die zuvor gebräuchlichen Ausdrücke „Blödsinn und Wahnsinn“ nach damaligem Stand der Wissenschaft nicht mehr ausreichend waren, um alle Formen der Geistesstörungen zu erfassen (Schubert [Hrsg.], Entwurf des StGB für den Norddeutschen Bund [Reichstagsvorlage], Motive, S. 56).
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empfundenen Härten des französischen und preussischen Strafgesetzbuches“90 beseitigt. Schließlich wurden im Besonderen Teil bei den „Verbrechen und Vergehen wider die Sittlichkeit“ die Tatbestandsvoraussetzungen präzisiert und die Strafen erheblich gemindert, um der Forderung verschiedener preußischer Schwurgerichts-Präsidenten Rechnung zu tragen, „die in keinem richtigen Verhältnisse stehende übergrosse Härte der Strafe“ zu mildern.91 Die vorgenannten Regelungen sorgten dafür, dass bereits bei Urteilsfällung eine dem Einzelfall besser gerecht werdende Entscheidung getroffen werden konnte. Eine Auswirkung auf das Begnadigungsrecht bestand damit insofern, als das die Entstehung unbilliger Härten vermeidende Urteil als Gegenstand einer späteren Gnadenentscheidung theoretisch92 regelmäßig ausschied. Ein eigentliches Konkurrenzverhältnis zum Begnadigungsrecht konnte indes nur zu solchen Bestimmungen bestehen, die Vergünstigungen nach Rechtskraft des Urteils vorsahen – wie die vorläufige Entlassung nach §§ 23–26 RStGB. b) Vorläufige Entlassung (§§ 23–26 RStGB) Ab dem Jahr 1862 erfolgte in Sachsen eine regelmäßige Praxis, wonach die zu Freiheitsstrafe Verurteilten unter bestimmten Voraussetzungen vorläufig im Gnadenweg entlassen wurden.93 Die Grundlage hierfür bildete eine „auf dem landesherrlichen Recht der Gnade beruhende Administrativmaassregel“94. Da sich diese Gnadenpraxis bewährte,95 wurde in Anlehnung an die gnadenrechtliche Regelung in Sachsen96 in §§ 23–26 RStGB unter der Bezeich90 Meyer,
StGB für den Norddeutschen Bund, S. 65. (Hrsg.), Entwurf des StGB für den Norddeutschen Bund (Reichstagsvorlage), Motive, S. 66. 92 Sofern man jedenfalls die Gnade als ein im Einzelfall erforderliches Korrektiv übermäßiger Normenstrenge verstand. Dies wurde in der Praxis freilich nicht immer so gehandhabt, siehe unter § 1 B. I. 1. (S. 35). 93 Binding, Grundriss des Deutschen Strafrechts, AT, S. 246. Eine Mindestverbüßungsdauer war dabei nicht vorgesehen, es wurde vielmehr „von Fall zu Fall“ entschieden (Görlich, Die vorläufige Entlassung, S. 6 f.). 94 Meyer, StGB für den Norddeutschen Bund, S. XXI. 95 Es konnte statistisch belegt werden, dass die vorzeitig im Gnadenweg Entlassenen in der Folge äußerst selten wieder strafrechtlich in Erscheinung traten (Schwarze, RStGB, S. 95). Eine Statistik zur Rückfallquote während der Bewährungszeit für die Jahre 1862 bis 1868 findet sich bei Schubert (Hrsg.), Entwurf des StGB für den Norddeutschen Bund (Reichstagsvorlage), Motive, Anhang II. 96 In den Gesetzesmaterialien wurden Verordnungen des Sächsischen Innen- und Justizministeriums, die im Zusammenhang mit der gnadenweisen Entlassung ergangen waren, zitiert und zwecks Rechtseinheitlichkeit auf diese verwiesen (vgl. Schubert [Hrsg.], Entwurf des StGB für den Norddeutschen Bund [Reichstagsvorlage], 91 Schubert
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nung „vorläufige Entlassung“ erstmals ein gesetzliches Institut zur vorzeitigen Haftentlassung geschaffen.97 Es handelte sich dabei um die einzige im RStGB geregelte Form, die Verbüßung einer Freiheitsstrafe vorzeitig zu beenden.98 § 23 RStGB bestimmte: „Die zu einer längeren Zuchthaus- oder Gefängnißstrafe Verurtheilten können, wenn sie drei Viertheile, mindestens aber Ein Jahr der ihnen auferlegten Strafe verbüßt, sich auch während dieser Zeit gut geführt haben, mit ihrer Zustimmung vorläufig entlassen werden.“ Zuständig für die Entscheidung war das Justizministerium desjenigen Einzelstaats, dessen Gericht das Urteil gesprochen hatte.99 Der vorläufig Entlassene unterlag einer Probezeit, die der Dauer des Strafrests entsprach.100 Sofern während dieser Probezeit kein Widerruf erfolgte,101 galt die Freiheitsstrafe als verbüßt (§ 26 RStGB). Trotz der formal-gesetzlichen Regelung im RStGB wurde die vorläufige Entlassung, ihrer Rechtsnatur nach, verbreitet als besondere Form der Begnadigung angesehen: Schwarze hielt die vorzeitige Entlassung durch das Justizministerium für eine „durch das Gesetz ihm übertragene Ausübung des landesherrlichen Gnadenrechts in den bestimmten Fällen und unter den bestimmten Voraussetzungen“102. Die Auffassung, die in der vorläufigen Entlassung einen Gnadenakt sah, verlor zwar nach und nach an Anhängern.103 Görlich beklagte jedoch noch im Jahr 1906: „Sowohl die Verhandlungen des ReichsMotive, S. 47). Der Verweis war nötig, da die in §§ 23–26 RStGB getroffenen Regelungen äußerst knapp waren; wichtige Einzelheiten – etwa über das Verfahren, die Art der „Bewährungsauflagen“ und die Ausgestaltung einer „Bewährungsaufsicht“ − blieben den Ländern überlassen (Görlich, Die vorläufige Entlassung, S. 7; Schumacher, Die vorläufige Entlassung, S. 52 ff.). 97 A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 99 f. 98 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 189. Anwendung fand das Institut nur auf zeitige Freiheitsstrafen; bei lebenslänglichem Zuchthaus blieb nur der Gnadenweg (Rüdorff, RStGB, § 23 Ziff. 2). 99 v. Olshausen, RStGB, 10. Aufl. 1916, § 25 Ziff. 1; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 189. Die Entscheidungszuständigkeit der Exekutive wurde vereinzelt als unzulässiger Eingriff in das rechtskräftige richterliche Urteil angesehen (vgl. die Nachweise bei Görlich, Die vorläufige Entlassung, S. 27 f.). 100 Schumacher, Die vorläufige Entlassung, S. 50. Das RStGB kannte somit keine vom Strafrest unabhängige Bewährungszeit, wie sie das StGB heute in § 57 Abs. 3 S. 1 i. V. m. § 56a StGB vorsieht. 101 Widerrufsgründe waren „schlecht[e] Führung des Entlassenen“ oder dass der Entlassene „den ihm bei der Entlassung auferlegten Verpflichtungen zuwiderhandelt“ (§ 24 S. 1 RStGB). 102 Schwarze, RStGB, S. 97. Ebenso Rubo, RStGB, S. 331 („an den Justiz-Minister delegirtes Begnadigungsrecht“). 103 Schumacher, Die vorläufige Entlassung, S. 19.
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tages des norddeutschen Bundes und des preussischen Abgeordnetenhauses, als auch manche Äusserungen von Fachmännern über die vorläufige Entlassung rechtfertigen den Verdacht, dass auch heute noch nicht die erwünschte Klarheit darüber herrscht, dass wir in der vorläufigen Entlassung nicht eine Gnadensache, sondern eine gesetzliche Institution zu erblicken haben.“104 In der Praxis erlangte die vorläufige Entlassung nur untergeordnete Bedeutung.105 Ab Beginn des 20. Jahrhunderts wurde sie immer seltener und schließlich nahezu überhaupt nicht mehr gewährt.106 Die Gründe hierfür waren vielschichtig: Zum einen bestand in Preußen – dem mit Abstand bevölkerungsreichsten Land – eine große Abneigung gegenüber der vorläufigen Entlassung.107 Ferner wurde aus der in der Praxis herrschenden Sicht, wonach die vorläufige Entlassung ihrer Rechtsnatur nach eine besondere Art der Begnadigung sei, auf ihren Ausnahmecharakter geschlossen.108 Vor allem aber wurde die gesetzliche Ausgestaltung in §§ 23–26 RStGB als verfehlt angesehen: Denn bei den damals noch verbreiteten kurzen Freiheitsstrafen war eine vorläufige Entlassung nicht möglich,109 bei längeren aufgrund der nur kurzen Probezeit nicht wirksam.110 Dass die Vorschriften der §§ 23–26 RStGB gegenüber dem Begnadigungsrecht vorrangig anwendbar sein könnten und die Ausübung des Begnadi104 Görlich, Die vorläufige Entlassung, S. 12. Schönke ging gar im Jahr 1947 noch davon aus, dass die vorläufige Entlassung ihrer Rechtsnatur nach „eine besondere Art der Begnadigung“ sei (Schönke, StGB, 3. Aufl. 1947, § 23 II 3). 105 Nach v. Holtzendorff wurden in den Jahren 1884–1885 in ganz Preußen lediglich 372 Anträge auf vorläufige Entlassung gestellt, von denen 216 bewilligt wurden (v. Holtzendorff, in: Handbuch des Gefängnisswesens I, S. 444). Eine einheitliche Statistik für das gesamte Reich existiert nicht. 106 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 189. Von den für eine vorläufige Entlassung in Betracht kommenden Strafgefangenen wurden im Jahr 1926 in Baden 0 % und in Bayern 0,06 % nach §§ 23 ff. RStGB entlassen (Schumacher, Die vorläufige Entlassung, S. 74). Lorenz bezeichnete die vorläufige Entlassung im Jahr 1949 als „praktisch gegenstandslos“ (Lorenz JR 1949, 393 [399]). 107 Vgl. Görlich, Die vorläufige Entlassung, S. 103, der auf eine Statistik verweist, wonach in Preußen zwischen 1872 und 1880 von 4198 Anträgen auf vorläufige Entlassung nur gut ein Drittel (1437) bewilligt wurde. 108 Vgl. Frank, RStGB, § 26 Ziff. IV. 109 Durch das Erfordernis einer Verbüßung von drei Vierteln, mindestens aber einem Jahr der auferlegten Strafe, ergab sich rechnerisch eine Mindeststrafe von 16 Monaten. Strittig war, ob insoweit erlittene Untersuchungshaft nach § 60 RStGB mit einzurechnen war (vgl. v. Olshausen, RStGB, 10. Aufl. 1916, § 23 Ziff. 2b) m. w. N.). 110 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 189. Da die Probezeit lediglich der Dauer des Strafrests und damit höchstens einem Viertel der erkannten Strafe entsprach, erschien es sehr zweifelhaft, ob in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit die von der Entlassung erwartete Besserung erreicht werden konnte (Schumacher, Die vorläufige Entlassung, S. 50 f. m. w. N.).
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gungsrechts somit beschränkten, wurde in der damaligen Literatur nicht vertreten. Vielmehr wurde es als selbstverständlich angesehen, dass das (allgemeine) Begnadigungsrecht weiterhin ohne Weiteres Anwendung finden konnte.111 2. Regelungen in der RStPO von 1877 a) Strafaufschub (§§ 487, 488 RStPO) Als bedeutsame gesetzliche Alternativregelungen in der RStPO von 1877 sind insbesondere die Vorschriften zum Strafaufschub112 (§§ 487, 488 RStPO) zu nennen, die bis auf sprachliche Nuancierungen bis heute unverändert geblieben sind.113 Die Vorschrift des § 487 RStPO entspricht dem heutigen § 455 Abs. 1 bis 3 StPO,114 die Vorschrift des § 488 RStPO dem heutigen § 456 StPO.115 Gem. § 487 RStPO war die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe (zwingend) aufzuschieben, wenn der Verurteilte in Geisteskrankheit verfiel (Abs. 1) oder infolge der Vollstreckung die Besorgnis einer nahen Lebensgefahr für den Verurteilten bestand (Abs. 2). Daneben sah die Vorschrift die (fakultative) Möglichkeit eines Strafaufschubs vor, sofern sich der Verurteilte in einem körperlichen Zustand befand, bei welchem eine sofortige Vollstreckung mit der Einrichtung der Strafanstalt unverträglich war. Zuständig für die von Amts wegen116 zu treffende Entscheidung war die Vollstreckungsbehörde, d. h. die Staatsanwaltschaft bzw. der Amtsrichter.117 111 Vgl. z. B. Schwarze, StGB für den Norddeutschen Bund, S. 30: „Die [§§ 23– 26 RStGB] beschränken in keiner Weise das landesherrliche Begnadigungsrecht. Das letzte kann insbesondere in jedem Falle unter anderen Bedingungen, insbesondere bei kürzerer Dauer der erfolgten Verbüßung Beurlaubung, sowie im Falle der Beurlaubung vor dem Ablaufe der Beurlaubungszeit Begnadigung bewilligen.“ Vgl. ferner Blum, StGB für den Norddeutschen Bund, S. 41; Frank, RStGB, § 26 Ziff. V. Mittelbach schrieb noch im Jahr 1952, dass es „selbstverständlich“ sei, dass neben der (gesetzlichen) vorläufigen Entlassung „alle Gnadenmöglichkeiten bestehen bleiben“ (Mittelbach, JR 1952, 194 [195]). 112 Unter einem „Strafaufschub“ ist die vorübergehende Aussetzung der Strafvollstreckung vor Beginn des Vollzugs zu verstehen. Die Bezeichnung „Strafausstand“ ist der Oberbegriff und umfasst auch die erst nach Beginn des Vollzugs erfolgende „Strafunterbrechung“ (KK‑StPO-Appl § 455 Rn. 2). Letztere war nach der RStPO indes allein gem. § 490 Abs. 3 (der dem heutigen § 458 Abs. 3 StPO entspricht) möglich. 113 SK-StPO-Paeffgen § 456 Rn. 1 (zu § 488 RStPO). 114 Die Regelung zur Strafunterbrechung, wie sie heute § 455 Abs. 4 StPO vorsieht, wurde erst durch das 23. StrÄndG im Jahr 1986 eingefügt, siehe unter § 1 E. II. 6. (S. 78 mit Fn. 348). 115 SK-StPO-Paeffgen § 456 Rn. 1. 116 Vgl. Löwe, RStPO, 4. Aufl. 1884, § 487 Ziff. 3.
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Nach § 488 RStPO konnte auf Antrag des Verurteilten die Strafvollstreckung für einen Zeitraum von bis zu vier Monaten aufgeschoben werden, sofern durch die sofortige Vollstreckung dem Verurteilten oder seiner Familie erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile erwuchsen. Die Entscheidung hierüber stand im Ermessen der Vollstreckungsbehörde.118 Während die Schaffung einer dem § 487 RStPO entsprechenden Norm von vornherein intendiert war,119 wurde die Aufnahme einer gesetzlichen Regelung zum Strafaufschub in persönlichen Härtefällen (§ 488 RStPO) erst im Rahmen der vom Reichstag eingesetzten Justizkommission erörtert.120 Dabei kam insbesondere die Frage nach der Daseinsberechtigung einer solchen Norm neben dem Begnadigungsrecht auf. Einige Kommissionsmitglieder vertraten die Auffassung, dass die Entscheidung über einen Strafaufschub in persönlichen Härtefällen ihrer Rechtsnatur nach Ausübung des Begnadigungsrechts sei.121 Das Kommissionsmitglied v. Amsberg folgerte, dass die Frage eines Strafaufschubs in persönlichen Härtefällen somit staatsrechtlicher Natur sei und nicht in der RStPO zu regeln sei.122 Im Übrigen gäbe es keinen Grund, in das „hochgeschätzte“ Begnadigungsrecht des einzelnen Landesherrn einzugreifen.123 Auch der Abgeordnete Thilo bemerkte, dass jeder Strafaufschub eine „temporäre Begnadigung“ sei; man müsse daher „die Regelung der Angelegenheit bei derjenigen Instanz belassen …, welcher das Begnadigungsrecht zustehe“.124 Dass durch die gesetz117 Löwe, RStPO, 4. Aufl. 1884, § 487 Ziff. 4. Gem. § 483 Abs. 1 RStPO war grundsätzlich die Staatsanwaltschaft Vollstreckungsbehörde. Daneben sah § 483 Abs. 3 RStPO vor, dass für die zur Zuständigkeit der Schöffengerichte gehörigen Sachen durch Anordnung der Landesjustizverwaltung die Strafvollstreckung den Amtsrichtern übertragen werden konnte. Hiervon hatten fast alle Landesjustizverwaltungen Gebrauch gemacht (Löwe-Hellweg, RStPO, 10. Aufl. 1900, § 483 Ziff. 4). 118 Löwe, RStPO, 4. Aufl. 1884, § 488 Ziff. 2. 119 Bereits der „Entwurf einer Strafprozeß-Ordnung für den Norddeutschen Bund“ vom November 1870 sah in § 431 vor, dass in Fällen der Vollzugsuntauglichkeit Strafausstand zu gewähren ist. Der Entwurf ist abgedruckt bei Schubert / Regge, Quellen der RStPO, S. 48 ff. 120 Vgl. hierzu das Protokoll der 80. Sitzung vom 24.9.1875, abgedruckt bei Hahn (Hrsg.), Materialien III / 1, S. 1136 ff. 121 In dieser Richtung die Kommissionsmitglieder v. Amsberg, Hanauer, Oehlschläger, Struckmann und Thilo; vorsichtiger die Abgeordneten Klotz („eine Art Begnadigung“) und Gaupp („auf der Grenzlinie des Begnadigungsrechts“), vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien III / 1, S. 1136 ff. 122 Vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien III / 1, S. 1136 f. 123 Vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien III / 1, S. 1138. 124 Vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien III / 1, S. 1137. Teils finden sich indes auch aus heutiger Sicht fortschrittliche Auffassungen. So merkte der Abgeordnete Gaupp (a. a. O.) an, dass durch Schaffung der Norm ein Eingriff in das Begnadigungsrecht
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liche Regelung des Strafaufschubs in das (allgemeine) Begnadigungsrecht „eingegriffen“ werde, dürfte so zu verstehen sein, dass dadurch Fälle, über die zuvor allein im Gnadenweg zu entscheiden war, nun auch auf gesetzlichem Weg entschieden werden konnten. Die Frage, ob die Gnade nur dann anwendbar ist, wenn ein Strafausstand nach §§ 487, 488 RStPO nicht in Betracht kommt, wurde hingegen weder im Rahmen der Justizkommission noch in der einschlägigen Literatur125 behandelt. In faktischer Hinsicht dürfte die Schaffung des § 488 RStPO den Anwendungsraum der Gnade in diesem Bereich jedoch merklich verringert haben.126 b) Sonstige Regelungen Eine weitere Alternativregelung war § 485 Abs. 2 RStPO, wonach an Schwangeren oder geisteskranken Personen ein Todesurteil nicht vollstreckt werden durfte. Ein in der Justizkommission des Reichstags gestellter Antrag, die Vorschrift auf tödlich kranke Personen auszudehnen, wurde abgelehnt; das Kommissionsmitglied v. Amsberg erklärte, für solche Fälle genüge das Begnadigungsrecht.127 Schließlich wurde in §§ 399 ff. RStPO die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten geregelt. Dabei handelte es sich um eine Kompromisslösung zu den vorherigen Regelungen in den einzelnen Partiku larrechtsordnungen, da zwar einerseits einzelne eng gefasste und abschließende Wiederaufnahmegründe enumeriert wurden, andererseits aber in § 399 Nr. 5 RStPO die Wiederaufnahme aus einem allgemeinen Gesichtspunkt („Beibringung neuer erheblicher Thatsachen oder Beweismittel“) annicht erfolge, weil dieses erst in Frage komme, soweit nicht ein Strafaufschub auf gesetzlichem Weg gewährt worden sei. 125 Vgl. etwa Löwe, RStPO, 4. Aufl. 1884, § 488 Ziff. 4, wonach im Gnadenweg ein Vollstreckungsaufschub auch beim Fehlen der in § 488 RStPO genannten Voraussetzungen gewährt werden könne; ebenso Hartung, JW 1931, 2764 (2765). 126 Hierauf deuten der „Allerhöchst[e] Erlaß vom 18. November 1911 – betreffend die Bewilligung von Strafausstand“ und eine sich hierauf beziehende Verfügung des Justizministers (jeweils JMBl. Preußen S. 448) hin. Danach delegierte der Kaiser das Recht zur Bewilligung von gnadenweisem Strafausstand an den Justizminister. Dieser übertrug diese Begnadigungskompetenz zwar weitgehend auf die Staatsanwaltschaften; das Recht zur Bewilligung gnadenweisen Strafaufschubs delegierte er allerdings nur „in sonstigen Fällen“ als § 488 RStPO. Die gesetzliche und gnadenweise Möglichkeit der Staatsanwaltschaften zur Gewährung von Vollstreckungsaufschub stand damit in einem Exklusivitätsverhältnis (in den Fällen des § 488 RStPO auf gesetzlicher Grundlage; im Übrigen durch Gnade). Rechtlich hätte es dem Justizminister nach damaliger Auffassung jedoch freilich frei gestanden, gnadenweisen Strafaufschub auch innerhalb des Bereichs des § 488 RStPO zu gewähren. 127 Vgl. Hahn (Hrsg.), Materialien III / 1, S. 1136.
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erkannt wurde.128 Die Grundstruktur des § 399 Nr. 1 bis 5 RStPO entspricht dem heutigen § 359 Nr. 1 bis 5 StPO. 3. Zwischenfazit zum Rechtszustand im Kaiserreich Sowohl die Konzeption des RStGB als auch dessen Handhabung in der Praxis illustrieren deutliche Vorbehalte gegenüber einer Vergesetzlichung ursprünglicher Anwendungsfehler der Gnade. Deutlich wird dies durch den Misserfolg der vorläufigen Entlassung: Wurde von dieser vor Inkrafttreten des RStGB auf der Grundlage des Begnadigungsrechts noch umfassend und erfolgreich Gebrauch gemacht, konnten sich die Vorschriften der §§ 23–26 RStGB in der Praxis nicht durchsetzen. Grund war zum einen das Misstrauen gegenüber einer formal-gesetzlichen Regelung in einem Bereich, welcher zuvor allein dem landesherrlichen Begnadigungsrecht vorbehalten war. Zum anderen zeugt die restriktive Ausgestaltung der §§ 23–26 RStGB ihrerseits von einem Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber einer Verlagerung ursprünglich ausschließlicher Gnadenkompetenzen auf andere Stellen. Dass es ferner im Gegensatz zu ausländischen Rechtsordnungen nicht zu einer formal-gesetzlichen Regelung der Strafaussetzung bei Urteilsfällung kam, sondern hier allein das Begnadigungsrecht als Mittel der Kriminalpolitik eingesetzt wurde („bedingte Begnadigung“), unterstreicht die ablehnende Haltung gegenüber einer Vergesetzlichung von Gnadenkompetenzen – und zeugt vom Verständnis des Begnadigungsrechts als generell einsatzbarem Mittel zur Verwirklichung kriminalpolitischer Zielsetzungen.129 Trotz der zu verzeichnenden Fortschritte – zu denken ist an einige bereits im Erkenntnisverfahren anwendbare Vorschriften sowie den Umstand, dass es mit der vorläufigen Entlassung überhaupt zur Schaffung einer echten Alternativregelung kam – konnte insgesamt durch das RStGB in der Praxis kein nennenswerter Einschnitt in das Begnadigungsrecht verzeichnet werden.130 Demgegenüber wurde in der RStPO insbesondere mit § 488 eine wichtige gesetzliche Alternativregelung geschaffen, die den Anwendungsraum der Gnade zwecks Gewährung von Vollstreckungsaufschub in faktischer Hinsicht verringerte. Die Frage einer rechtlichen Beschränkung des Begnadigungsrechts infolge der einzelnen gesetzlichen Alternativregelungen – etwa 128 Stückle,
Wiederaufnahme, S. 22. heutigen Unzulässigkeit der „Gnade als Mittel der Kriminalpolitik“ näher unter § 4 A. I. (S. 196 ff.). 130 So auch A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 100. 129 Zur
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die Annahme eines (verbindlichen) Vorrangs des Gesetzes gegenüber der Gnade – wurde hingegen nicht thematisiert. Schließlich ist zu beachten, dass es im Bereich der Geldstrafen nicht zu einem Nebeneinander von Gesetz und Gnade kam: Da es insoweit an einer gesetzlichen Alternativregelung fehlte, durch welche im Einzelfall unbillige Folgen einer Geldstrafe (durch die Gewährung von Zahlungserleichterungen) abgemildert werden konnten,131 half hier allein das Begnadigungsrecht weiter.132
C. Weimarer Republik I. Begnadigungsrecht 1. Allgemeines Die Weimarer Reichsverfassung bestimmte in Art. 49 Abs. 1: „Der Reichspräsident übt für das Reich das Begnadigungsrecht aus.“ Wann dem Reich die Verbandskompetenz für das Begnadigungsrecht zukam, regelte weiterhin § 484 RStPO.133 Damit knüpfte die Weimarer Reichsverfassung hinsichtlich der Aufteilung der Gnadenkompetenz zwischen Reich und Ländern stillschweigend an den Rechtszustand im Kaiserreich an.134 Wer innerhalb der Länder Träger des Begnadigungsrechts war, bestimmte sich nach der jeweiligen Landesverfassung.135
131 Insbesondere fand der Vollstreckungsaufschub nach § 488 RStPO allein bei Freiheitsstrafen Anwendung (Löwe, RStPO, 4. Aufl. 1884, § 488 Ziff. 1 i. V. m. § 487 Ziff. 1; v. Olshausen, RStGB, 11. Aufl. 1927, § 28 Ziff. 1). Nach heutigem Verständnis ist die Vorschrift (nunmehr § 456 StPO) zwar auch auf Geldstrafen anwendbar, was wegen § 459a StPO jedoch keine praktische Bedeutung hat (BeckOKStPO-Coen § 456 Rn. 1). 132 Gem. der Erlasse von Kaiser und Justizminister (siehe S. 44 mit Fn. 126) wurde die Befugnis zu gnadenweisen Zahlungserleichterungen (Stundung, Ratenzahlung) den Staatsanwaltschaften übertragen. 133 Durch Bekanntmachung der RStPO im Jahr 1924 fand sich die Regelung fortan in § 452. Dabei wurde das Wort „Kaiser“ durch „Reiche“ ersetzt (LR-Graalmann-Scheerer § 452 Entstehungsgeschichte). 134 v. Hippel, Deutsches Strafrecht II, S. 575 ff. 135 Gerland, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, S. 574. In Preußen war der Ministerpräsident originärer Träger des Begnadigungsrechts, delegierte dieses indes weitgehend an den Justizminister. Dieser entschied auf der Grundlage von Gnadenvorschlägen, die ihm vom „Dirigenten der Gnadenabteilung“ wöchentlich unterbreitet wurden (Hartung, JW 1931, 2764 [2770]).
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Um eine gleichmäßige Handhabung in Gnadensachen zu gewährleisten, erließen die meisten Länder Verordnungen, in denen die Gnadenausübung zum Teil auf nachgeordnete Behörden – teils auch Gerichte (dazu sogleich) – delegiert und dabei inhaltliche Voraussetzungen für die Gewährung von Gnadenakten aufgestellt wurden.136 Auch in der Weimarer Republik wurden Berechtigung und Notwendigkeit des Begnadigungsrechts als solchem von keiner Seite ernsthaft in Frage gestellt.137 Besonders schillernd sind insoweit die Ausführungen Radbruchs,138 in dessen Zeit als Reichsjustizminister das als gesetzliche Alternativregelung bedeutsame JGG von 1923139 ausgearbeitet wurde. Entgegen der Vorstellung des auch von Radbruch betonten Charakters der Gnade als Einzelfallkorrektiv140 wurde in der Weimarer Republik an die Gnadenpraxis des Kaiserreichs angeknüpft und vom Begnadigungsrecht weiterhin auch in genereller Weise Gebrauch gemacht.141 Strukturelle Mängel des Gesetzes – wie etwa das Fehlen einer gesetzlichen Regelung zur Strafaussetzung bei Urteilsfällung – wurden weiterhin auf dem Gnadenweg behoben.142 Da die Abschaffung der Todesstrafe auf gesetzlichem Weg nicht durchsetzbar war, bürgerte sich in den meisten Ländern zudem die Praxis ein, Todesurteile in der Regel nicht mehr zu vollstrecken, sondern durch Gnadenakt abzumildern.143 Im Jahr 1927 erteilte der hessische Landtag dem hessischen Justizminister gar die generelle Anweisung, jedes in Hessen ausgesprochene Todesurteil gnadenweise in eine Freiheitsstrafe umzuwandeln.144 136 Kern, ZStW 43 (1922), 588 (589 f.). Vgl. z. B. für Baden die Verordnung des Staatsministeriums vom 17.12.1919 (GVBl. Baden, S. 559). 137 Gerland, in: Handwörterbuch der Rechtswissenschaft, S. 572. 138 s. insbesondere das Zitat auf S. 19 in Fn. 2. 139 Hierzu sogleich unter § 1 C. II. 2. (S. 51 ff.). 140 Radbruch, Rechtsphilosophie I, S. 144: „[U]m die Gerechtigkeit des Einzelfalls gegenüber dem auf den Durchschnitt berechneten Gesetze zur Geltung zu bringen, dafür ist die Gnade unentbehrlich.“ 141 Unmittelbar nach der Revolution von 1918 / 19 erließen sowohl das Reich als auch die Länder zahlreiche Amnestien, welche zunächst noch als Ausfluss des Begnadigungsrechts angesehen wurden. Um dies einzuschränken, wurde dann in Art. 49 Abs. 2 WRV (und in den meisten Verfassungen der Länder) bestimmt, dass Amnestien eines Gesetzes bedürfen (Kern, ZStW 43 [1922], 588 [589]). 142 Bis zum Jahr 1921 galt dies auch für die Gewährung von Zahlungserleichterungen bei Verurteilungen zu Geldstrafe, da es bis dahin ebenfalls an einer gesetzlichen Alternativregelung fehlte (dazu näher sogleich). 143 Apelt, Geschichte der Weimarer Verfassung, S. 289 f. 144 Krit. hierzu Angersbach, DJZ 1928, 378 ff.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 125 f.
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2. Bedingte Begnadigung durch den Richter Hinsichtlich der Praxis der bedingten Begnadigung fand in etlichen Ländern eine Weiterentwicklung statt, indem die Zuständigkeit hierfür den erkennenden Gerichten zugewiesen wurde.145 Diese fungierten insoweit zwar lediglich als Bestandteil der Justizverwaltung – d. h. gerade nicht als Rechtsprechungsorgane – und waren damit gegenüber dem originären Gnadenträger146 weisungsgebunden.147 Gleichwohl handelte es sich um eine wichtige Entwicklung, welche die spätere Vergesetzlichung der Strafaussetzung durch das Gericht anbahnte.148 So wurden beispielsweise in Preußen149 durch den „Erlaß der Preußischen Staatsregierung vom 2. August 1920“, der durch die „Allgemeine Verfügung des Justizministers vom 19. Oktober 1920 über die bedingte Aussetzung der Strafvollstreckung“150 ausgeführt wurde, die erkennenden Gerichte dazu ermächtigt, die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als sechs Monaten gnadenweise auszusetzen.151 Ein entsprechender Beschluss war „tunlichst mit dem Urteil zu verkünden“, jedoch vom Urteil zu trennen und unanfechtbar.152 Möglich war es aber auch, die Strafvollstreckung zu einem späteren Zeitpunkt auszusetzen, sofern nachträglich für eine Aussetzungsentscheidung relevante Umstände bekannt wurden.153 Bei guter Führung innerhalb einer vom Gericht festgesetzten Bewährungszeit (in der Regel drei Jahre) konnte das Gericht die Strafe schließlich gnadenweise erlassen.154 145 Im Jahr 1913 hatte sich Binding noch vehement gegen eine solche Entwicklung ausgesprochen. Eine Praxis, wonach das erkennende Gericht „in demselben Atemzuge verurteilt und begnadigt“, trage „einen eklatanten Widerspruch in sich“. Denn an der Gnade solle das Gericht „schlechterdings keinen Anteil haben“ (Binding, Grundriss des Deutschen Strafrechts, AT, S. 319). 146 Als „originärer Gnadenträger“ wird im Folgenden diejenige Stelle bezeichnet, welcher die Ausübung des Begnadigungsrechts laut Verfassung zusteht. 147 Vgl. LK-Koffka, 9. Aufl. 1974, Vor § 23 Rn. 4; Lorenz, JR 1949, 393 (394); A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 108 mit Fn. 43. 148 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 44. 149 Ähnliche Bestimmungen wurden in Oldenburg, Danzig und Thüringen (Junker, ZStW 63 [1951], 428 [445]), Baden (Verordnung vom 17.12.1919 [GVBl. Baden, S. 559]), Bayern und Hamburg (Hellwig Vor §§ 10–15 Ziff. 1) getroffen. 150 JMBl. Preußen, S. 564, im Folgenden „AV. d. PrJM.“. 151 § 1 Abs. 1 i. V. m. § 7 AV. d. PrJM. 152 Vgl. § 6 S. 1 und 2 AV. d. PrJM. Da es zu diesem Zeitpunkt noch an einer rechtskräftigen Verurteilung fehlte, handelte es sich in diesen Fällen also nicht um eine Begnadigung nach heutigem Verständnis. 153 Vgl. § 6 S. 4 AV. d. PrJM. 154 Vgl. § 13 AV. d. PrJM. Den insoweit erforderlichen Maßstab bestimmte § 12 Abs. 2 AV. d. PrJM.: „Zum Nachweis einer guten Führung ist nicht genügend,
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Was das Verhältnis dieses gnadenrechtlichen Instituts zu gesetzlichen Alternativregelungen angeht – soweit die bedingte Begnadigung nicht bereits bei Urteilsfällung, sondern erst nachträglich gewährt wurde, konkurrierte sie unter Umständen mit der vorläufigen Entlassung nach §§ 23– 26 RStGB – konnte von einem Vorrang des Gesetzes in der Rechtspraxis keine Rede sein: Nach § 26 AV. d. PrJM. waren Anträge auf vorläufige Entlassung nach §§ 23 ff. RStGB vielmehr umgekehrt stets darauf zu überprüfen, ob nicht eine Reststrafaussetzung im Gnadenweg vorzuziehen ist. Dem Gnadenweg sollte insbesondere dann der Vorzug gewährt werden, wenn die Reststrafe, auf deren Dauer die Probezeit in § 26 RStGB beschränkt war, zu kurz erschien (§ 26 Abs. 1 S. 2 AV. d. PrJM.).155
II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht 1. Geldstrafengesetze von 1921 und 1923 In der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg stieg die Diebstahlskriminalität stark an, zugleich häuften sich entsprechende Gnadenanträge.156 Dies mag damit zusammenhängen, dass gerade beim Diebstahl die kurze Freiheitsstrafe eine bedeutende Rolle spielte,157 was im Einzelfall in Anbetracht der Notlage als unbillige Härte empfunden werden konnte, die es auf dem Gnadenweg zu korrigieren galt. Auch um die Gnadenstellen zu entlasten,158 daß über den Verurteilten nichts Nachteiliges bekanntgeworden ist, sondern es bedarf der tatsächlichen Feststellung eines zufriedenstellenden Gesamtverhaltens. Insbesondere ist zu prüfen, ob der Verurteilte den bei Erwirkung der Strafaussetzung in ihn gesetzten besonderen Erwartungen (Unterstellung einer Schutzaufsicht, Eintritt in die Lehre, Leistung von Schadensersatz, Enthaltung von geistigen Getränken usw.) entsprochen hat.“ 155 Kern (ZStW 43 [1922], 588 [591]) hielt aus diesem Grund die vorrangige Handhabung der bedingten Begnadigung gegenüber der vorläufigen Entlassung nach §§ 23–26 RStGB für „besonders glücklich“. 156 Hartung, JW 1931, 2764 (2768). 157 Kiesow Vor §§ 10 ff. Ziff. 2. Der einfache Diebstahl war damals grundsätzlich mit Gefängnisstrafe zu ahnden (§ 242 RStGB). Eine Ausnahme galt nur für den Diebstahl geringwertiger Sachen. Hier sah der im Jahr 1912 in das RStGB eingefügte § 248a die Verhängung einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Monaten oder einer Geldstrafe vor. 158 Hartung, JW 1931, 2764 (2768). Weiteres Ziel war es, den Strafzweck der positiven Spezialprävention besser zu verwirklichen (v. Olshausen, RStGB, 11. Aufl. 1927, § 27b Ziff. 8); vgl. dazu auch Radbruch (damals Reichsjustizminister), der das Gesetz als einen „Wendepunkt unseres Strafrechts“ bezeichnete; „Forderungen, die vor 40 Jahren von Franz v. Liszt aufgestellt wurden, die dann das Eigentum einer kleinen Schule waren und jetzt der Besitz der gesamten Strafrechtswissenschaft sind,
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wurde daher durch das Geldstrafengesetz 1921159 der Anwendungsbereich der Geldstrafe anstelle kurzer Freiheitsstrafen deutlich ausgeweitet.160 Ob dies allein die Zahl der Gnadenanträge entscheidend verringert hätte, ist allerdings fraglich. Denn die Gewährung von Zahlungserleichterungen bei Geldstrafen war damals weiterhin allein im Gnadenweg möglich.161 Durch das Geldstrafengesetz 1921 wurde dies ebenfalls geändert und eine gesetzliche Möglichkeit zur Gewährung von Zahlungserleichterungen durch die Gerichte geschaffen.162 Diese konnten bei fehlender wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit des Straftäters Stundungen oder Teilzahlungen gewähren (§ 5 Geldstrafengesetz 1921). Ferner konnte das Gericht anordnen, dass die Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe unterbleibt, wenn der Verurteilte ohne sein Verschulden außerstande war, die Geldstrafe zu zahlen (§ 8 Geldstrafengesetz 1921). Nach Hartung war dies „so etwas wie ein richtiger Gnadenerlaß durch das Gericht selbst“163. Durch das Geldstrafengesetz 1923164 wurde die Kann-Vorschrift des § 5 Geldstrafengesetz 1921 in eine Muss-Vorschrift abgeändert und als § 28 in das RStGB eingefügt.165 Die Norm entspricht sachlich dem heutigen § 42 S. 1 StGB.166 Die Anzahl der bedingten Begnadigungen fiel infolge der beiden Geldstrafengesetze stark ab.167 Dass neben diesen gesetzlichen Instrumenten das sind im Begriffe, in die Wirklichkeit übergeführt zu werden“ (Reichstagsprotokolle 1920 / 24, S. 5314). 159 Gesetz zur Erweiterung des Anwendungsgebiets der Geldstrafe und zur Einschränkung der kurzen Freiheitsstrafen vom 21.12.1921 (RGBl. S. 1604). 160 Vgl. § 3 Abs. 1 Geldstrafengesetz 1921: „Ist für ein Vergehen, für das nach den bestehenden Vorschriften Geldstrafe überhaupt nicht oder nur neben Freiheitsstrafe zulässig ist, Freiheitsstrafe von weniger als drei Monaten verwirkt, so ist an Stelle der Freiheitsstrafe auf Geldstrafe bis zu einhundertfünfzigtausend Mark zu erkennen, wenn der Strafzweck durch eine Geldstrafe erreicht werden kann.“ 161 Insbesondere war § 488 RStPO bei Geldstrafen nicht anwendbar, siehe unter § 1 B. II. 3. (S. 46 mit Fn. 131). 162 Zuständig war das erkennende Gericht (bei Urteilsfällung) oder (für nachträgliche Zahlungserleichterungen) das erstinstanzliche Gericht (§ 5 Geldstrafengesetz 1921 i. V. m. § 494 RStPO). 163 Hartung, JW 1931, 2764 (2765). 164 Geldstrafengesetz vom 27.4.1923 (RGBl. I, S. 254). 165 Vgl. Art. 1 Nr. 2 Geldstrafengesetz 1923. Im Übrigen wurden aus § 3 Abs. 1 Geldstrafengesetz 1921 § 27b RStGB, aus § 5 wurde § 28 RStGB und aus § 8 die Vorschrift des § 29 Abs. 6 RStGB. 166 LK-Häger Entstehungsgeschichte zu § 42; MK-Radtke § 42 Rn. 1. 167 Sie sank von rund 125.000 Fällen im Jahr 1921 auf rund 72.000 im Jahr 1922. Von der Möglichkeit der Verhängung einer Geldstrafe nach § 3 Abs. 1 Geldstrafen-
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Begnadigungsrecht weiterhin anwendbar war, führte laut Hartung in der Praxis zu mancherlei Unklarheiten und Unsicherheiten.168 2. Bedingte Verurteilung Jugendlicher (§§ 10–15 JGG 1923) Das erste deutsche Jugendgerichtsgesetz aus dem Jahr 1923169 markierte den ersten entscheidenden Schritt zur Schaffung eines eigenständigen Jugendstrafrechts in Deutschland.170 Dabei wurden mit den §§ 10–15 JGG 1923 in Anlehnung an den sursis kontinental-europäischer Prägung171 erstmals im deutschen Strafrechtssystem gesetzliche Regelungen zur Strafaussetzung zur Bewährung bei Urteilsfällung geschaffen.172 Der Gesetzgeber orientierte sich dabei an der Grundstruktur des Verfahrens der bedingten Begnadigung.173 Gegenstand der Strafaussetzung nach §§ 10–15 JGG 1923 waren Freiheitsstrafen (gleich welcher Dauer)174 gegenüber zur Tatzeit Jugendlichen.175 Besondere materielle Anforderungen statuierte das JGG 1923 nicht, sondern stellte die Entscheidung über die Aussetzung vielmehr ins freie Ermessen des erkennenden Gerichts.176 Dieses hatte der Sache nach zu prüfen, ob die begründete Erwartung bestand, dass die Hoffnung auf einen späteren Straferlass den Verurteilten von weiteren Straftaten abhalten werde.177 Neben der Möglichkeit, die Strafaussetzung zu bewilligen (§ 10 Abs. 1 JGG 1923), konnte sich das Gericht die Aussetzungsentscheidung auch vorbehalten, gesetz 1921 wurde allein in Preußen im Jahr 1922 in rund 86.000 Fällen, im Jahr 1923 in rund 160.000 Fällen Gebrauch gemacht (Hartung, JW 1931, 2764 [2768]). 168 Hartung, JW 1931, 2764 (2765). 169 Jugendgerichtsgesetz vom 16.2.1923 (RGBl. I, S. 135), nachfolgend „JGG 1923“. 170 Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 5; A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 120. Zuvor fanden sich in §§ 55–57 RStGB a. F. spezielle Regelungen für Jugendliche, die jedoch in der Praxis wenig Bedeutung erlangten (Eisenberg Einl. Rn. 1). 171 Im Gegensatz zum angelsächsischen probation-System, wonach die Straffestsetzung selbst aufgeschoben wird, ermöglichte der sursis die Aussetzung der Vollstreckung einer erkannten Strafe. Der sursis hatte sich zum damaligen Zeitpunkt in den kontinental-europäischen Rechtsordnungen bereits überwiegend durchgesetzt (zum Vorstehenden Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 8). 172 Schumacher, Die vorläufige Entlassung, S. 12. Das Gesetz sprach nicht von „Bewährung“, sondern von „Probezeit“. 173 Fritsch, Die jugendstrafrechtliche Reformbewegung (1871–1923), S. 164. 174 Kiesow, § 10 Ziff. 2. 175 v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 433. 176 Frank, RStGB, §§ 10–15 JGG Ziff. II 1 (S. 177); Kiesow, § 10 Ziff. 2. 177 v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 434.
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wenn es weitere Ermittlungen für erforderlich hielt (§ 10 Abs. 2 JGG 1923).178 Lehnte das erkennende Gericht die Strafaussetzung ab, konnte der Jugendrichter bei Bekanntwerden neuer Umstände die Strafaussetzung auch noch nachträglich bewilligen (§ 11 S. 1 JGG 1923).179 Ein erheblicher Mangel der §§ 10–15 JGG 1923 zeigte sich in der Folge darin, dass man den in der Gnadenpraxis allgemein herrschenden Gedanken aufnahm, wonach die Strafaussetzung eine „bloße Wohltat“ für den jugendlichen Täter sei.180 Zwar war bei der Strafaussetzung eine zwei- bis fünfjährige Probezeit zu bestimmen (§ 12 Abs. 1 JGG 1923),181 für deren Dauer der Verurteilte unter „Schutzaufsicht“ gestellt und ihm „besondere Pflichten“182 auferlegt werden konnten (§ 12 Abs. 2 JGG 1923). In der Praxis wurde dabei allerdings häufig die Resozialisierung des Straftäters vernachlässigt.183 Die nach Ablauf der Probezeit erfolgende Prüfung des Jugendrichters, ob sich der Verurteilte bewährt hatte184 und die Strafe erlassen werden konnte (§ 15 Abs. 1 JGG 1923), erfolgte allzu schematisch.185 Im Zuge der Schaffung der §§ 10–15 JGG 1923 wurde in der Literatur nunmehr auch die Frage nach dem Verhältnis zwischen diesem neu geschaffenen gesetzlichen Institut und dem Begnadigungsrecht aufgeworfen: Zum Teil sah man sich zu dem Hinweis veranlasst, dass die Strafaussetzung nach §§ 10 ff. JGG 1923 den Gerichten als „richterliche Amtshandlung“ − also gerade nicht als „Befugnis zur Ausübung eines Gnadenrechts“ im Wege der bedingten Begnadigung – zukam.186 Ferner wurde eigens betont, dass der Gnadenträger eine vom Gericht nach §§ 10–15 JGG 1923 bewilligte Straf178 Das erkennende Gericht instruierte hiernach den Jugendrichter, die für die Aussetzungsentscheidung erforderlichen Ermittlungen vorzunehmen, um sodann über die Frage einer Aussetzung nach § 11 S. 1 JGG 1923 entscheiden zu können (Kiesow, Vor §§ 10 ff. Ziff. 4). 179 Kiesow, § 11 Ziff. 4. Aufgrund von § 11 JGG 1923 handelte es sich bei der bedingten Verurteilung nach §§ 10–15 JGG 1923 also nicht allein um ein Institut der Strafaussetzung bei Urteilsfällung. 180 Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 8. 181 Insoweit bestand ein wesentlicher Unterschied zu den Regeln über die vorläufige Entlassung nach §§ 23–26 RStGB, wo allein für die Dauer des Strafrests eine Probezeit galt. 182 Bei der diesbezüglichen Auswahl waren dem Gericht allein durch die Reichsverfassung Schranken auferlegt (z. B. Art. 136 Abs. 4 WRV: kein Zwang zur Teilnahme an religiösen Veranstaltungen), vgl. v. Liszt / Schmidt, Lehrbuch des Deutschen Strafrechts, S. 435. 183 BT-Drucks. 1 / 3264 (Regierungsentwurf zum JGG 1953), S. 38; Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 8. 184 Etwa durch Erfüllung der ihm auferlegten besonderen Pflichten oder sonst durch gute Führung (Staudinger-Schmitt, RStGB, S. 63). 185 Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 8.
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aussetzung nicht zurücknehmen durfte.187 Nach Kiesow sprach nichts dagegen, nach zuvor ablehnender Entscheidung durch das Gericht (Versagung der Strafaussetzung bei Urteilsfällung oder des Straferlasses nach Ablauf der Probezeit) entsprechende Vergünstigungen weiterhin gnadenweise zu gewähren.188 Von einer „grundsätzlichen Nachprüfung der gerichtlichen Entscheidung“ auf dem Gnadenweg sei jedoch abzusehen, denn dies würde dem „Grundgedanken“ des JGG 1923 „freilich wenig entsprechen“.189 Hellwig hielt ebenfalls Begnadigungen innerhalb des Anwendungsbereichs der §§ 10–15 JGG 1923 weiterhin für möglich: Auch nachdem die Aussetzung nach §§ 10–15 JGG 1923 abgelehnt wurde, könne der Gnadenträger sein Begnadigungsrecht ausüben, obgleich dies selten sein dürfte.190 Hellwig bezweifelte indes, dass das Nebeneinander von Gnade und den §§ 10– 15 JGG 1923 in denjenigen Ländern „zweckmäßig“ war, wo den Gerichten zugleich das Begnadigungsrecht zwecks bedingter Begnadigung übertragen war und damit insoweit Gnadenträger und die nach §§ 10–15 JGG 1923 zuständige Stelle identisch waren.191 Die Frage nach einer Nachrangigkeit der Gnade in Fällen, in denen eine Aussetzungsentscheidung nach §§ 10–15 JGG 1923 in Betracht kam, wurde indes nicht aufgeworfen.
D. NS-Zeit I. Begnadigungsrecht 1. Gnadenkompetenz Der NS-Staat brach mit der Aufteilung des Begnadigungsrechts zwischen Reich und Ländern und wies es dem Führer und Reichskanzler zu: Zunächst bestimmte das „Reichstatthaltergesetz“,192 dass das Begnadigungsrecht der Länder den Reichsstatthaltern übertragen wird (§ 1 Abs. 1 S. 3 Nr. 5) und der Führer und Reichskanzler in Preußen die Befugnisse des Reichsstatthalters ausübt (§ 5 Abs. 1). Damit stand ihm das Begnadigungs186 So Staudinger-Schmitt, RStGB, S. 63. Ähnlich Hellwig, Vor §§ 10–15 Ziff. 2, S. 133; Peters, 1. Aufl. 1942, § 10 Ziff. 1. 187 Kiesow, Vor §§ 10 ff. Ziff. 5; Hellwig, Vor §§ 10–15 Ziff. 2. 188 Kiesow, Vor §§ 10 ff. Ziff. 5. 189 Kiesow, Vor §§ 10 ff. Ziff. 5. 190 Hellwig, Vor §§ 10–15 Ziff. 2. 191 Hellwig, Vor §§ 10–15 Ziff. 2. 192 Zweites Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 7.4.1933 (RGBl. I, S. 173).
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recht im größten und bevölkerungsreichsten Land zu. Mit Erlass vom 25.4.1933193 übertrug der Reichskanzler das Begnadigungsrecht wenig später dem Preußischen Ministerpräsidenten. Im Zuge der Gleichschaltung der Länder mit dem Reich durch Art. 2 des Gesetzes über den Neuaufbau des Reichs vom 30.1.1934194 gingen die Hoheitsrechte der Länder – und damit auch das Begnadigungsrecht – vollständig auf das Reich über.195 Das Begnadigungsrecht stand zunächst formal dem Reichspräsidenten zu.196 Mit dem Tod v. Hindenburgs am 2.8.1934 wurde das Amt des Reichspräsidenten mit dem des Reichskanzlers vereinigt und die bisherigen Befugnisse des Reichspräsidenten auf den Führer und Reichskanzler übertragen.197 Das Begnadigungsrecht war nunmehr „Ausfluß der umfassenden Hoheitsrechte des Führers“198. Durch Erlass vom 1.2.1935199 behielt sich der Führer und Reichskanzler die Ausübung des Begnadigungsrechts insbesondere bei Todesstrafen und Verurteilungen wegen Hoch- und Landesverrats vor und übertrug es im Übrigen dem Reichsminister der Justiz, der es wiederum zum Teil auf nachgeordnete Behörden weiterdelegierte.200 2. Gnadenordnung von 1935 Der Reichsminister der Justiz regelte für seinen Geschäftsbereich das Gnadenverfahren mittels Verwaltungsvorschriften (sog. „GnO 1935“201), wodurch Rechtseinheitlichkeit geschaffen wurde, nachdem die Rechtspflege 193 „Erlaß über Ausfertigung und Verkündung der Landesgesetze, Beamtenernennungen und die Ausübung des Gnadenrechts in Preußen“, Preußische Gesetzessammlung 1933, S. 113. 194 RGBl. I, S. 75. 195 Schäfer, JW 1935, 900 (901). 196 Dieser delegierte es allerdings mit „Erlaß über die Ausübung des auf den Reichspräsidenten übergegangenen Begnadigungsrechts“ vom 3.2.1934 (RGBl. I, S. 82) weitgehend zurück auf die Reichstatthalter. 197 Vgl. § 1 des Gesetzes über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reichs vom 1.8.1934 (RGBl. I, S. 747). 198 Grau / Schäfer, Gnadenrecht, S. 13. Dem Reichstatthaltergesetz vom 30.1.1935 (RGBl. I, S. 65), das in § 8 das Begnadigungsrecht ausdrücklich dem Führer und Reichskanzler übertrug, kam mithin nur noch rein deklaratorische Bedeutung zu (Grau / Schäfer, a. a. O.). 199 „Erlaß des Führers und Reichskanzlers über die Ausübung des Gnadenrechts“ vom 1.2.1935, RGBl. I, S. 74. 200 Eingehend zur Zuständigkeitsverteilung Schäfer, JW 1935, 900 (902 ff.). 201 „Verordnung des Reichsministers der Justiz über das Verfahren in Gnadensachen“ vom 6.2.1935 (DJ 1935, S. 203). Für Verurteilungen durch Wehrmachtsgerichte wurde das Gnadenverfahren durch eine Gnadenordnung vom 1.7.1938 (abgedruckt bei Krug / Schäfer / Stolzenburg, Verwaltungsvorschriften, S. 575) eigens geregelt.
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auf das Reich übergegangen war.202 Die GnO 1935 ist auch heute noch bedeutsam, da sie zum Teil für das Gnadenverfahren des Bundes weiterhin sinngemäß gilt203 und sie zudem einigen Ländern bei Schaffung ihrer eigenen Gnadenordnungen als Vorbild diente.204 Für das Verhältnis von Gnade und Recht zueinander ist die GnO 1935 insofern von nicht unerheblicher Bedeutung, als sich in ihr drei Regelungen finden, die den Vorrang der gesetzlichen Alternativregelungen gegenüber der Gnade nahelegen. In § 5 Abs. 3 S. 2 GnO 1935 heißt es: „Bei mündlicher Anbringung ist der Gesuchsteller darüber zu belehren, daß der Weg der Gnade nicht dazu bestimmt ist, ein Rechtsmittel oder die Wiederaufnahme des Verfahrens zu ersetzen…“
Dies ist eindeutig so zu verstehen, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens gegenüber dem Gnadenweg vorrangig sein soll.205 Eine ähnliche Regelung trifft § 15 S. 1 GnO 1935 in Bezug auf Verurteilungen zu Geldstrafe: „Gnadengesuche, die sich allein auf Geldstrafen beziehen, sind von der Gnadenbehörde auch darauf zu prüfen, ob sie dem zuständigen Gericht zur Entscheidung über Maßnahmen nach §§ 28, 29 Abs. 6 des Strafgesetzbuchs206 vorzulegen sind.“
Schließlich bestimmte § 3 Abs. 2 S. 5 GnO 1935 in Bezug auf die Maßregeln der Besserung und Sicherung: „Auch in solchen Fällen kommt der Weg der Gnade in der Regel nur in Betracht, wenn nicht das Gesetz bereits Milderungen (z. B. durch nachträgliche Anordnungen des Vollstreckungsgerichts gem. §§ 42f, 42h StGB207) zuläßt.“
Damit weist die GnO 1935 erstmals208 ausdrücklich deutliche Hinweise für eine teils nachrangige Handhabung der Gnade gegenüber dem Gesetz 202 Junker, ZStW 63 (1951), 428 (446). Dies in Bezug auf die bedingte Begnadigung positiv hervorhebend BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf zum 3. StrÄndG), S. 27. 203 Einige auf das Recht und den Staatsaufbau der NS-Zeit zugeschnittene Passagen sind heute freilich gegenstandslos (Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, S. 207). Bei Gnadenentscheidungen des Bundespräsidenten gilt sie indes nicht unmittelbar (siehe S. 97 f. mit Fn. 66). 204 Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (104). 205 Bzgl. Rechtsmitteln stellt sich die Frage eines Vorrangs heute nicht mehr, können doch nur rechtskräftige Verurteilungen Gegenstand von Gnadenentscheidungen sein (siehe bereits unter § 1 A. II. 1. [S. 29]). 206 s. dazu S. 50 mit Fn. 165. 207 Dazu sogleich unter § 1 D. II. 1. (S. 56). 208 Die Vorschriften des Preußischen Strafvollstreckungs- und Gnadenrechts vom 1.8.1933 (Preußische Gesetzsammlung, S. 292), an welche sich die GnO 1935 anlehnte (Schäfer, JW 1935, 900 [906]), enthielten noch keine entsprechenden Vorschriften.
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auf. Von einem generellen Vorrang des Gesetzes konnte jedoch keine Rede sein. Kurz nach Inkrafttreten der GnO 1935 bestimmte das Reichsjustiz ministerium:209 „Die vorläufige Entlassung gemäß §§ 23–26 RStGB hat im Laufe der Zeit ihre praktische Bedeutung nahezu vollständig verloren, weil die mit ihr verbundene Probezeit zu kurz ist, als daß eine nachhaltige Einwirkung auf den Verurteilten möglich wäre. Ein solcher Erfolg läßt sich vielmehr in der Regel nur mit der bedingten Strafaussetzung [im Gnadenweg] erreichen. Demgemäß bestimme ich, daß Gesuche um vorläufige Entlassung grundsätzlich in erster Linie als Gesuche um bedingte Strafaussetzung [im Gnadenweg] zu behandeln sind.“
Damit wurde der Anwendungsraum der Gnade gegenüber der vorläufigen Entlassung nach §§ 23–26 RStGB weiter210 ausgedehnt.
II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht 1. Regelungen bezüglich Maßregeln der Sicherung und Besserung In weitgehender Übereinstimmung mit den aus Zeiten der Weimarer Republik stammenden Reformvorhaben und Entwürfen wurden durch das „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ vom 24.11.1933211 die Maßregeln als komplette „zweite Spur“ auf der Rechtsfolgenseite in das RStGB eingefügt.212 Das Gesetz sah mit der Unterbringung in einer Heil- oder Pflegeanstalt, einer Trinkerheilanstalt, einer Entziehungsanstalt oder in einem Arbeitshaus sowie mit der Sicherheitsverwahrung verschiedene mit Freiheitsentziehung verbundene Maßregeln vor.213 Diese wurden grundsätzlich zeitlich unbefris-
209 „Rundverfügung des Reichsjustizministeriums vom 30.4.1935 betr. Behandlung von Gesuchen um vorläufige Entlassung gemäß §§ 23–26 des Reichsstrafgesetzbuchs“ (abgedruckt bei Krug / Schäfer / Stolzenburg, Verwaltungsvorschriften, S. 561). 210 Vgl. zuvor bereits § 26 AV. d. PrJM (hierzu unter § 1 C. I. 2. [S. 49]). 211 RGBl. I, S. 995. 212 MK-van Gemmeren, § 61 Rn. 10. Das RStGB von 1871 enthielt lediglich vereinzelte Rechtsfolgen, die als Maßregeln eingeordnet werden können, wie etwa die Polizeiaufsicht und die Überweisung schuldunfähiger Jugendlicher in eine Erziehungs- oder Besserungsanstalt (MK-van Gemmeren, § 61 Rn. 9). 213 Vgl. § 42a Nr. 1 bis 3 RStGB. Weitere Maßregeln waren die „Entmannung gefährlicher Sittlichkeitsverbrecher“, die Untersagung der Berufsausübung und die Reichsverweisung (§ 42a Nr. 4–7 RStGB).
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tet angeordnet und dauerten so lange, wie ihr Zweck es erforderte.214 Das Vollstreckungsgericht215 konnte die Unterbringung jedoch jederzeit bedingt aussetzen und die Entlassung des Untergebrachten anordnen, wenn der Zweck der Unterbringung erreicht war (§ 42f Abs. 4 i. V. m. § 42h Abs. 1 RStGB). Zugleich wurden bezüglich der Untersagung der Berufsausübung zwei gesetzliche Vergünstigungen geschaffen, die – da das Begnadigungsrecht schon damals auch auf die Maßregeln (wenn auch nur eingeschränkt) Anwendung fand –216 gesetzliche Alternativregelungen zur Gnade waren: Nach dem neu geschaffenen § 456d Abs. 1 RStPO217 konnte das erkennende Gericht bei Urteilsfällung die Untersagung der Berufsausübung für eine Dauer von bis zu sechs Monaten aufschieben, „wenn das sofortige Inkrafttreten des Verbots für den Verurteilten oder seine Angehörigen eine erhebliche, außerhalb seines Zwecks liegende, durch späteres Inkrafttreten vermeidbare Härte bedeuten würde“. Möglich war auch eine nachträgliche Aussetzung der Untersagung der Berufsausübung durch die Vollstreckungsbehörde (§ 456d Abs. 2 RStPO). Im Jahr 1935 wurde zudem § 42l Abs. 4 RStGB eingefügt,218 wonach das Gericht die Untersagung der Berufsausübung nachträglich aufheben konnte, sofern die Maßregel ein Jahr gedauert hatte und der Zweck der Maßregel ihre Fortdauer nicht mehr erforderlich erscheinen ließ.219
214 v. Olshausen, RStGB, 12. Aufl. 1942, § 42f Ziff. 1. Eine Ausnahme bestand gem. § 42f Abs. 2 RStGB für die Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder einer Erziehungsanstalt sowie die erstmalige Unterbringung in einem Arbeitshaus oder einem Asyl. Hier galt eine Höchstgrenze von zwei Jahren. 215 Ab dem Jahr 1941 die „höhere Vollzugsbehörde“ (v. Olshausen, RStGB, 12. Aufl. 1942, § 42f Ziff. 3). 216 Vgl. § 3 Abs. 2 S. 3 f. GnO 1935: „Maßregeln der Sicherung und Besserung und andere Sicherungsmaßnahmen, auf die durch Strafurteil erkannt ist, oder die sich aus ihm kraft gesetzlicher Vorschrift ergeben, sind nicht grundsätzlich dem Begnadigungsrecht entzogen. Bei diesen Maßnahmen überwiegt jedoch der Zweck, die Allgemeinheit vor Gefahren zu schützen, die Rücksicht auf die Person des Betroffenen so sehr, daß ein Anlaß zu einer Milderung des Urteilsspruchs nur in seltenen Ausnahmefällen (Fehlurteil, nachträglicher Wegfall des Sicherungsbedürfnisses) eintreten kann.“ 217 Die damalige Vorschrift des § 456d RStPO entspricht dem heutigen § 456c StPO, der lediglich redaktionell geändert wurde (vgl. LR-Graalmann-Scheerer, Entstehungsgeschichte zu § 456c). 218 Durch Art. 12 des Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs vom 28.6.1935 (RGBl. I, S. 839). 219 s. zum diesbezüglichen Vorrang gegenüber der Gnade nach § 3 Abs. 2 S. 5 GnO 1935 soeben unter § 1 D. I. 2. (S. 55).
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2. Strafaussetzung und Entlassung Jugendlicher auf Probe (RJGG 1943) Das Reichsjugendgerichtsgesetz wurde im Jahr 1943 geändert und neu verkündet („RJGG 1943“).220 Dabei wurde das System der Strafaussetzung zur Bewährung im Jugendstrafrecht erheblich modifiziert: Das Institut der bedingten Verurteilung (§§ 10–15 JGG 1923) wurde gestrichen, da es sich in der Praxis nicht bewährt hatte.221 Diese Streichung wurde von den Jugendgerichten als ein empfindlicher Rückschritt angesehen, sodass diese sich fortan vielfach damit halfen, die entstandene Lücke durch Anwendung des Begnadigungsrechts zu schließen.222 Die Möglichkeit der Reststrafaussetzung wurde hingegen beibehalten223 und nunmehr in §§ 58, 59 RJGG 1943 neu geregelt: Gem. § 58 Abs. 1 RJGG 1943 konnte der Vollstreckungsleiter224 den Rest einer Jugendgefängnisstrafe225 auf Probe aussetzen, wenn der Verurteilte einen wesentlichen Teil, mindestens ein Drittel der Strafe verbüßt hatte und die weitere Strafverbüßung nicht erforderlich war. Bei guter Führung während einer Probezeit von zwei bis fünf Jahren durfte der Strafrest nicht vollstreckt werden (§ 58 Abs. 2 und 3 RJGG 1943). Eine entsprechende Regelung wurde in § 59 RJGG 1943 für zu Jugendgefängnisstrafe von unbestimmter Dauer226 Verurteilte getroffen. Peters sah sich hier zu dem Hinweis veranlasst, dass eine Strafaussetzung nach § 58 RJGG 1943 keinen Gnadenakt darstellte.227 220 Durch die „Verordnung über die Vereinfachung und Vereinheitlichung des Jugendstrafrechts (Jugendstrafrechtsverordnung)“ vom 6.11.1943 (RGBl. I, S. 635). 221 Eingehend zu den Gründen Dallinger / Lackner Einführung Rn. 8; siehe bereits unter § 1 C. II. 2. (S. 52). 222 Vgl. BT-Drucks. 1 / 3264 (Regierungsentwurf zur JGG-Novelle 1953), S. 38. 223 Bereits im JGG 1923 war eine nachträgliche Strafaussetzung gem. § 11 JGG 1923 möglich, siehe unter § 1 C. II. 2. (S. 52). 224 Gem. § 56 Abs. 1 S. 1 RJGG 1943 war dies der Jugendrichter. 225 Die Jugendgefängnisstrafe wurde in § 4 RJGG 1943 neu geschaffen und brachte eine Loslösung von den Strafrahmen des allgemeinen Strafrechts (näher Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 19). 226 Die Jugendgefängnisstrafe (später: „Jugendstrafe“) von unbestimmter Dauer wurde durch Verordnung vom 10.9.1941 (RGBl. I, S. 567) eingeführt und vom RJGG 1943 in § 6 übernommen. Sie war dadurch gekennzeichnet, dass die Strafdauer bei Urteilsfällung innerhalb bestimmter Grenzen offen gelassen und erst während des Vollzugs je nach Entwicklung des Gefangenen endgültig bestimmt wurde (Dallinger / Lackner Einführung Rn. 25). Erst im Jahr 1990 wurde sie u. a. aus verfassungsrechtlichen Gründen wieder aufgehoben (Eisenberg, § 7 Rn. 36). 227 Vgl. Peters, 2. Aufl. 1944, § 58 Ziff. 2.
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes59
Schließlich sah § 62 RJGG 1943 die Möglichkeit vor, die Vollstreckung des zuvor neu geschaffenen228 Sanktionsmittels des Jugendarrests durch den Vollstreckungsleiter vorzeitig zu beenden. Trotz des nationalsozialistischen Gedankenguts brachte das RJGG 1943 insgesamt keineswegs folgenschwere Rückschläge, sondern eine kontinuierliche Fortentwicklung.229 Insbesondere wurde nunmehr der Jugendrichter (als Vollstreckungsleiter) besser in die Strafvollstreckung eingeschaltet.230
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes I. Begnadigungsrecht Das Begnadigungsrecht als solches wurde bei den Ausschusssitzungen des Parlamentarischen Rates zu keiner Zeit infrage gestellt und ohne nähere Diskussion ins Grundgesetz übernommen.231 Seither bestimmt Art. 60 Abs. 2 GG für den Bundespräsidenten: „Er übt für den Bund das Begnadigungsrecht aus.“ Die Vorschrift des Art. 60 Abs. 2 GG ist Art. 49 Abs. 1 WRV nachgebildet.232 Wie bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik findet auch unter Geltung des Grundgesetzes eine Aufteilung der Begnadigungskompetenz zwischen dem Bund und den Ländern statt.233 Mit Aufnahme des Begnadigungsrechts in das Grundgesetz setzte sich auch die Entmystifizierung der Gnade fort. Hielt Radbruch die Gnade noch
228 Gem. § 1 der Verordnung zur Ergänzung des Jugendstrafrechts vom 4.10.1940 (RGBl. I, S. 1336). 229 Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 16; A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 121. 230 Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 28. 231 Vgl. die Ausführungen in BVerfGE 25, 352 (358 – tragende Meinung). Die Diskussionen im Organisations- und Hauptausschuss drehten sich im Wesentlichen um die Frage, ob eine Art. 49 Abs. 2 WRV entsprechende Bestimmung aufgenommen werden sollte, wonach Amnestien eines formellen Gesetzes bedürfen (vgl. 9. Sitzung des Organisationsausschusses vom 1.10.1948; 8. Sitzung des Hauptausschusses vom 24.11.1948; 33. Sitzung des Hauptausschusses vom 8.1.1949). Auch wenn eine solche Regelung anders als in einzelnen Landesverfassungen letztlich nicht in das Grundgesetz aufgenommen wurde, ist allgemein anerkannt, dass Amnestien Rechtsnormcharakter haben und eines Gesetzes bedürfen, siehe näher unter § 3 A. IV. 2. c) aa) (S. 123). 232 Vgl. BVerfGE 25, 352 (358 – tragende Meinung). Ob hierdurch auch das Begnadigungsrecht „in seinem historisch überkommenen Sinn“ – d. h. nach dem Rechtszustand in Kaiserreich und Weimarer Republik − in das Grundgesetz übernommen wurde (so das BVerfG a. a. O.), ist jedoch fraglich (vgl. Schenke, JA 1981, 588 [589 f.]). Siehe dazu unter § 3 A. IV. 2. b) (S. 121). 233 Näher zur diesbezüglichen Kompetenzverteilung unter § 2 B. I. (S. 92).
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
für „dem Wunder innigst verwandt“234, so ist die Gnade nunmehr jedenfalls kein blindes Wunder mehr.235 Getreu dem Hinweis Feuerbachs, wonach das Begnadigungsrecht zwar von der Philosophie in Zweifel gezogen werden mag, nicht aber vom positiven Recht,236 wird nach Wesen und Aufgabe des de lege lata bestehenden Begnadigungsrechts unter Geltung des Grundgesetzes gesucht. Dies gilt umso mehr, als sich die Entstehung gesetzlicher Alternativregelungen und damit das Nebeneinander von Gnade und Gesetz in erheblichem Maße fortsetzte.
II. Die gesetzlichen Strafvergünstigungen und ihr Verhältnis zum Begnadigungsrecht 1. Das 3. StrÄndG von 1953 a) Strafaussetzung zur Bewährung im Urteil (§§ 23–25 StGB 1953) Mit Implementierung der bedingten Begnadigung in das Strafrechtssystem gegen Ende des 19. Jahrhunderts war für die weitere Rechtsentwicklung in Deutschland eine Entscheidung gefallen, die erst nach langen „Mühen und Kämpfen“ überwunden werden konnte.237 Im Jahr 1953 wurde schließlich – als Kernstück des 3. StrÄndG vom 4.8.1953238 – in Anlehnung an §§ 10 ff. JGG 1923239 das Institut der Strafaussetzung zur Bewährung erstmals im allgemeinen Strafrecht gesetzlich verankert. Dem Gesetzgeber ging es dabei darum, „die in verschiedenen Gnadenordnungen zersplittert geregelte Materie zu bereinigen und zugleich in Übereinstimmung mit Forderungen aus Kreisen der Wissenschaft und Praxis den Anschluß an eine Weltentwicklung zu gewinnen, deren gedankliche Grundlagen in Deutschland längst geschaffen worden sind“240. Der Gesetzgeber hatte erkannt, dass 234 Radbruch,
Rechtsphilosophie III, S. 264. Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 208. 236 Feuerbach, Lehrbuch des peinlichen Rechts, § 63. 237 Lackner, JZ 1953, 428 (429). Bereits der Vorentwurf zu einem deutschen Strafgesetzbuch von 1909 sah die Einführung einer „bedingten Strafaussetzung“ bei Urteilsfällung vor (eingehend Aschrott, in: Reform des RStGB I, S. 66 [128 ff.]). Auch die Entwürfe eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs aus den Jahren 1925 (Reichstagsvorlage), 1927 (Reichsratsvorlage) und 1930 (Entwurf Kahl) enthielten Vorschriften zu einem „bedingten Straferlaß“ bei Urteilsfällung. 238 BGBl. I, S. 735. 239 Vgl. BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 27 f. 240 BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 18. Ob eine bedingte Begnadigung erfolgte, hing zuvor häufig von dem Zufall ab, in welchem Bundesland der Straftäter verurteilt worden war (BT-Drucks. 1 / 3713 [Regierungsentwurf], S. 27). 235 So
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes61
eine generelle Gewährung von Gnade nach abstrakt aufgestellten Voraussetzungen dem Sinn der Gnade widerspricht.241 Die Strafaussetzung nach §§ 23–25 StGB 1953 beschränkte sich auf die Vollstreckung von Freiheitsstrafen von nicht mehr als neun Monaten (§ 23 Abs. 1 StGB 1953). Materielles Kriterium war die Erwartung, dass der Verurteilte „unter der Einwirkung der Aussetzung in Zukunft ein gesetzmäßiges und geordnetes Leben führen wird“ (§ 23 Abs. 2 StGB 1953). Die Aussetzung war ausgeschlossen, wenn „das öffentliche Interesse die Vollstreckung erfordert[e]“ (§ 23 Abs. 3 Nr. 1 StGB 1953).242 Daneben bestanden formale Ausschlussgründe bei bestimmten Vorstrafen (§ 23 Abs. 3 Nr. 2 und 3 StGB 1953). Für die Dauer einer Bewährungszeit von zwei bis fünf Jahren konnte das Gericht Bewährungsauflagen erteilen (§ 24 StGB 1953).243 Sofern sich der Verurteilte bewährte, wurde die Strafe nach Ablauf der Bewährungszeit erlassen (§ 25 Abs. 1 S. 1 StGB 1953). b) Bedingte Entlassung (§ 26 StGB 1953) Zudem wurde mit dem 3. StrÄndG das Institut der vorläufigen Entlassung reformiert. Die vorherigen Regelungen nach §§ 23–26 RStGB waren „infolge der weiterreichenden Möglichkeiten des Gnadenrechts zu einer toten Rechtseinrichtung geworden“, welcher der Gesetzgeber „wieder neues Leben“ geben wollte.244 Nach der Neuregelung fand sich die vorläufige Entlassung im StGB 1953 nun in § 26 unter der Bezeichnung „bedingte Entlassung“ wieder. Hiernach war eine vorzeitige Haftentlassung nunmehr bereits nach Verbüßung von zwei Dritteln, mindestens aber drei Monaten der Strafe, zulässig (§ 26 Abs. 1 StGB 1953). Zudem konnte erstmals eine von der Reststrafendauer verschiedene Bewährungszeit bestimmt werden (§ 26 Abs. 2 und 3 i. V. m. § 24 Abs. 4 StGB 1953). Ferner änderte sich die Zuständigkeit: Über die bedingte Entlassung hatte nicht mehr das jeweilige Landesjustizministerium, sondern das erkennende 241 Vgl.
BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 26. selbst bei günstiger Sozialprognose hiernach die Aussetzung ausgeschlossen war, zeugt vom Misstrauen des Gesetzgebers gegenüber dem neu geschaffenen Institut (LK-Koffka, 9. Aufl. 1974, Vor § 23 Rn. 6). 243 Hierin lag ein bedeutender Unterschied zur bedingten Begnadigung: Während man bei der bedingten Begnadigung davon ausging, dass es Sache des Verurteilten sei, sich durch gute Führung letztlich Straferlass zu verdienen, wurde nunmehr erkannt, dass mit der Strafaussetzung „meistens erst die eigentliche Arbeit beginnt“ (Lackner, JZ 1953, 428, [430 f.]). 244 BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 18, 30. 242 Dass
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
Gericht zu entscheiden (§ 454 Abs. 3 i. V. m. § 453 Abs. 2 StPO 1953). Dass fortan nicht mehr allein im Wege bedingter Begnadigung, sondern (auch) durch die Gerichte auf gesetzlicher Grundlage über die Strafaussetzung entschieden werden sollte, wurde während des Gesetzgebungsverfahrens durch den Rechtsausschuss des Bundesrats kritisiert: Den Landesjustizverwaltungen werde hierdurch „praktisch die Möglichkeit genommen, durch die Handhabung des Gnadenrechts bestimmte kriminalpolitische Ziele zu verwirklichen und sicherzustellen, daß bestimmte Delikte gleichmäßig behandelt werden“245. Da dem Richter naturgemäß der Überblick fehlen müsse und er nicht die gleiche Einsicht wie die Landesjustizverwaltungen aufgrund der Fülle der bei ihnen eingehenden Gnadensachen haben könne, bestehe die „Gefahr ungleicher Behandlung gleichartiger Straffälle“246. Bei der Neuregelung des § 26 StGB 1953 handele es sich daher um eine „erhebliche und wesentliche Aushöhlung des Gnadenrechts“247. Der Bundesrat rief daher (vergeblich) den Vermittlungsausschuss an mit dem Ziel, das Institut der vorläufigen Entlassung nach § 26 StGB 1953 ersatzlos zu streichen.248 Obgleich keine flächendeckende amtliche Gnadenstatistik existiert, zeigt die deutlich zurückgegangene Zahl an Gnadenverfahren in einzelnen Bundesländern nach dem Jahr 1952, dass die Änderungen durch das 3. StrÄndG den Anwendungsbereich der Gnade in der Rechtspraxis weiter erheblich einengten.249 c) Verhältnis zwischen §§ 23–26 StGB 1953 und dem Begnadigungsrecht Die Neuregelung der Strafaussetzung zur Bewährung in §§ 23– 25 StGB 1953 und die Reform der vorläufigen Entlassung in § 26 StGB 1953 245 So der hessische Berichterstatter Kant (Sitzungsbericht der 111. Sitzung des Bundesrates am 26.6.1953, S. 322). 246 Kant (a. a. O.). 247 Kant (a. a. O.). Krit. hierzu Lackner, JZ 1953, 428 (432). Bereits im Hinblick auf §§ 23–25 StGB 1953 vertrat der Rechtsausschuss des Bundesrats die Auffassung, dass hierdurch „in einem erheblichen Umfang“ in das Gnadenrecht der Länder eingegriffen werde, hielt die Regelungen aber noch für „tragbar“ (Kant [a. a. O.]). 248 Vgl. den Sitzungsbericht der 111. Sitzung des Bundesrates am 26.6.1953, S. 325; BT-Drucks. 1 / 4614. Nach Schaffung des § 26 StGB 1953 sahen sich Rspr. und Lehre z. T. zu dem Hinweis veranlasst, dass es sich bei der Entscheidung über die bedingte Entlassung nach § 26 StGB 1953 nicht um einen Gnadenerweis handele (vgl. z. B. BayObLG 1959, 1838; König, Grundrechtsbindung, S. 16). 249 Vgl. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, 1. Aufl. 1976, S. 109 (unter Heranziehung von Zahlen der Landesjustizverwaltungen aus Bayern, Hessen, Nordrhein-Westfalen und dem Saarland).
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warfen die Frage auf, ob (und wenn ja, inwieweit) hierdurch die Ausübung des Begnadigungsrechts fortan (rechtlich) eingeschränkt wurde.250 Nach Meister war die (Rest-)Strafaussetzung nach §§ 23–26 StGB 1953 ihrer Rechtsnatur nach ein durch das Gericht gewährter Gnadenakt.251 Diese rechtsdogmatische Einordnung hatte nach Meister wiederum Bedeutung für das Verhältnis der §§ 23–26 StGB 1953 StGB zum (allgemeinen) Begnadigungsrecht: Lehnte etwa das Gericht die Strafaussetzung nach §§ 23– 25 StGB 1953 wegen ungünstiger Sozialprognose ab (§ 23 Abs. 2 StGB 1953), entfaltete dies nach dem „Sinn des Gesetzes“ eine Sperrwirkung für das (allgemeine) Begnadigungsrecht, welches nicht mehr ausgeübt werden durfte.252 Eine solche Sperrwirkung bestand nach Meister auch durch § 26 StGB 1953: Sobald der in § 26 StGB 1953 bestimmte Strafteil verbüßt war, sollte allein das Gericht über die Reststrafaussetzung nach § 26 StGB 1953 zu entscheiden haben – ein (allgemeiner) Gnadenakt durfte nicht mehr ergehen.253 Ganz überwiegend wurde indes in der Strafaussetzung zur Bewährung kein richterlicher Gnadenakt gesehen,254 mit der Folge, dass die neu geschaffenen Regelungen zu einem Nebeneinander von Gnade und hiervon zu unterscheidender gesetzlicher Regelung führten und sich somit die Frage nach dem diesbezüglichen Verhältnis stellte: Im Gegensatz zu Entwurfsbegründungen bei vorherigen gesetzlichen Strafvergünstigungen ging die Regierungsbegründung zum 3. StrÄndG ausdrücklich auf die Frage des der Gnade neben §§ 23–26 StGB 1953 verbleibenden Anwendungsbereichs ein. In der sowohl auf die Strafaussetzung nach §§ 23–25 StGB 1953 als auch auf § 26 StGB 1953 bezogenen Passage heißt es: „Durch die gesetzliche Regelung kann und soll … die Ausübung des Gnadenrechts nicht ausgeschlossen werden. Es wird immer Fälle geben, in denen sich ein Gnadenerweis außerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten als notwendig erweist. Es muß jedoch erreicht werden, daß für die bedingte Strafaussetzung als ständige Verwaltungseinrichtung nur noch geringes Be250 In der Praxis kam etwa die Frage auf, ob der Gnadenträger überhaupt noch die Befugnis zur gnadenweisen Strafaussetzung hatte, oder diese Befugnis nicht vielmehr durch die Regelungen der §§ 23–26 StGB 1953 vollständig ersetzt wurde (Egner, NJW 1953, 1859 f.). 251 Meister, DRiZ 1953, 218. 252 Meister, DRiZ 1953, 218 (219). 253 Meister, DRiZ 1953, 218 (219). 254 Vgl. BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 28 sowie die Ausführungen des Staatssekretärs Strauß im Bundesrat, der dies „mit Nachdruck“ betonte (Sitzungsbericht der 111. Sitzung des Bundesrates am 26.6.1953, S. 323); ferner BGH NJW 1954, 39 (40); Dallinger / Lackner, § 20 Rn. 4; Grethlein, § 21 Ziff. 1b).
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
dürfnis besteht.“255 Speziell zu §§ 23–25 StGB 1953 heißt es ferner, dass „die bedingte Strafaussetzung als ständige Einrichtung des Gnadenrechts beseitigt werden soll“.256 Hieraus lässt sich durchaus auf den gesetzgeberischen Willen schließen, die Gewährung eines Gnadenerweises unter die Voraussetzung zu stellen, dass eine Aussetzung nach §§ 23–26 StGB 1953 nicht in Betracht kommt. Deutlich wird dies zum einen anhand der Formulierung „außerhalb der gesetzlichen Möglichkeiten“, die nahelegt, dass „innerhalb der gesetzlichen Voraussetzungen“ – d. h. sofern eine Strafaussetzung bzw. bedingte Entlassung möglich erscheint – die §§ 23–26 StGB 1953 vorrangig anzuwenden sind. Zum anderen entspräche ein solcher Vorrang der gesetzgeberischen Intention, „die bedingte Strafaussetzung als ständige Verwaltungseinrichtung“257 zu beseitigen. Eine Sperrwirkung dergestalt, dass sich auch außerhalb der Voraussetzungen der §§ 23 ff. StGB 1953 Gnadenerweise generell verbieten, sollte nach der Regierungsbegründung hingegen nicht bestehen. Im Zusammenhang mit der Beschränkung der Strafaussetzung auf Freiheitsstrafen von nicht mehr als neun Monaten heißt es: „Bei höheren Strafen würde sie sich als unverständliche Milde auswirken, die nur in seltenen Fällen angezeigt sein kann. Hier zu helfen, wird weiterhin Aufgabe des Gnadenrechts sein.“258 2. Jugendgerichtsgesetz von 1953 Das Jugendgerichtsgesetz vom 4.8.1953259 brachte bedeutsame Fortschritte im Bereich des Jugendstrafrechts, die auch für den Anwendungsbereich der Gnade relevant waren: In §§ 20–26 JGG 1953 wurde das Institut der Aussetzung der Jugendstrafe zur Bewährung wiedereingeführt. Der Gesetzgeber orientierte sich hierbei zwar eng an §§ 10–15 JGG 1923,260 versuchte aber durch eine eingehende Regelung der während der Bewährungszeit zu treffenden Maßnahmen die Mängel der §§ 10–15 JGG 1923 zu vermeiden:261 Mit der Strafaussetzung waren Bewährungsauflagen zu erteilen, „die eine umfassende erzieherische Einwirkung gewährleisten“ (§ 23 JGG 1953)262, und ein Bewährungshelfer zu bestellen (§ 24 JGG 1953). Sofern sich der Jugendli255 BT-Drucks.
1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 28. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 30. 257 Gemeint ist hiermit „im Wege der Gnade“. 258 BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 29. 259 BGBl. I, S. 751, nachfolgend „JGG 1953“. 260 Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 49. 261 Vgl. BT-Drucks. 1 / 3264 (Regierungsentwurf), S. 38. 256 BT-Drucks.
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che bewährte, war nach Ablauf der Bewährungszeit die Jugendstrafe zu erlassen (§ 26 Abs. 1 JGG 1953). Im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht konnte die Strafaussetzung nach §§ 20–26 JGG 1953 nicht nur im Urteil, sondern auch noch nachträglich in der Zeitspanne zwischen Rechtskraft und Beginn des Strafvollzugs erfolgen,263 sodass es sich in diesem Fall bei der Aussetzungsentscheidung um eine gesetzliche Alternativregelung zur Gnade handelte. Die Frage, welcher Anwendungsbereich der Gnade neben §§ 20– 26 JGG 1953 verbleibt, wurde zwar nicht in den Gesetzgebungsmaterialien, jedoch in der Literatur diskutiert. Nach Dallinger / Lackner war es auch weiterhin möglich, „einem Verurteilten, dem das Gericht Strafaussetzung nicht gewähren konnte oder dem es diese versagt hat, als Gnadenerweis bedingte Strafaussetzung oder bedingten Straferlaß zu gewähren“264. Ähnlich Potrykus, wonach die §§ 20–26 JGG 1953 den Gnadenträger nicht banden; dieser sei vielmehr auch weiterhin befugt gewesen, „selbst im Falle der Ablehnung der Strafaussetzung durch den Richter“ einen Gnadenerweis zu erteilen.265 Neben der Aussetzung nach §§ 20–26 JGG 1953 wurde mit der „Aussetzung der Verhängung der Jugendstrafe“ in §§ 27–30 JGG 1953 ein für das deutsche Jugendstrafrecht völlig neues Institut geschaffen, das es dem Richter ermöglichte, trotz Schuldspruchs die Verhängung der Jugendstrafe aufzuschieben, um Klarheit über das Persönlichkeitsbild des Jugendlichen zu gewinnen.266 Sofern sich während der Bewährungszeit herausstellte, dass die Tat auf – Jugendstrafe erforderlich machenden – „schädlichen Neigungen“ beruhte, war nachträglich eine Jugendstrafe festzusetzen (§ 30 Abs. 1 JGG 1953). Andernfalls wurde der Schuldspruch mit Ablauf der Bewährungszeit getilgt (§ 30 Abs. 2 JGG 1953). Ferner wurde die Reststrafaussetzung der Jugendstrafe in §§ 88, 89 JGG 1953267 neu geregelt und dabei die Rechtsstellung des Verurteilten verbessert.268 Dallinger / Lackner sprachen sich insoweit für eine nachrangige Handhabung des Begnadigungsrechts aus.269 262 Die als Soll-Vorschrift ausgestaltete Norm war als zwingend zu verstehen (Dallinger / Lackner, § 23 Rn. 2). 263 Dallinger / Lackner, § 57 Rn. 15, 18. 264 Dallinger / Lackner, § 57 Rn. 33 und § 20 Rn. 6. 265 Potrykus, § 20 Ziff. 6. 266 Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 55. 267 Vormals: §§ 58, 59 RJGG 1943. 268 Zu den Änderungen im Einzelnen Dallinger / Lackner, § 88 Rn. 1. 269 Wobei sie offenbar nicht von einer rechtsverbindlichen Nachrangigkeit der Gnade ausgingen, vgl. Dallinger / Lackner, § 88 Rn. 42: „Aus praktischen Gründen muß … unter allen Umständen vermieden werden, die Autorität der Gerichte durch
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
Schließlich war unter den Voraussetzungen des § 105 Abs. 1 JGG 1953 – dem der heutige § 105 JGG nahezu wörtlich entspricht – das Jugendstrafrecht nunmehr auch auf Heranwachsende anwendbar,270 sodass die vorstehend genannten Regelungen auch insoweit galten. Bei Strafgefangenen, die vor Inkrafttreten des JGG 1953 zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt wurden und zur Tatzeit Heranwachsende waren, wurde die lebenslange Freiheitsstrafe im Gnadenweg in eine zeitige umgewandelt, sofern unterstellt werden konnte, das Gericht hätte Jugendstrafrecht angewandt.271 3. Das 1. und 2. StrRG von 1969 Mit dem 1. und 2. StrRG aus dem Jahr 1969272 wurde insbesondere der Allgemeine Teil des StGB grundlegend reformiert.273 Das 1. StrRG hat dabei die wichtigsten Neuerungen vorweggenommen und bereits mit Wirkung zum 1.9.1969 bzw. 1.4.1970 in Kraft gesetzt.274 a) Ausweitung der Regelungen zur Straf(rest)aussetzung Mit dem 1. StrRG wurden die Anwendungsbereiche der Strafaussetzung bei Urteilsfällung nach §§ 23 ff. StGB 1953 und der Reststrafaussetzung nach § 26 StGB 1953 deutlich ausgeweitet: Das erkennende Gericht konnte nunmehr bei Urteilsfällung die Vollstreckung von Freiheitsstrafen von im Grundsatz bis zu einem Jahr, unter beGnadenerweise zu untergraben, die der richterlichen Entscheidung vorgreifen oder ihr widersprechen.“; zust. Grethlein, § 88 Ziff. 5. Ähnlich zur heutigen (inhaltlich im Wesentlichen gleich gebliebenen) Fassung von § 88 JGG Eisenberg, § 88 Rn. 22: „Die Aussetzung des Strafrestes [zur Bewährung] ist auch im Gnadenwege möglich. Allerdings darf dieses Verfahren nicht dazu dienen, der jugendrichterlichen Entscheidung vorzugreifen oder ihr zu widersprechen … Die Möglichkeit der gnadenweisen Aussetzung wird ggfs etwa dann in Betracht kommen, wenn die zeitlichen Schranken des Abs. 2 ein gerichtliches Verfahren unmöglich machen.“ 270 Hierbei handelte es sich um die wohl die bedeutsamste Neuerung des JGG 1953 (Dallinger / Lackner, Einführung Rn. 60). 271 So BT-Drucks. 7 / 1171, S. 4 mit Verweis auf Mitteilungen der einzelnen Bundesländer. Krit. dazu aufgrund des Einzelfallcharakters der Gnade Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (38). 272 Erstes Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 25.6.1969 (BGBl. I, S. 645) und Zweites Gesetz zur Reform des Strafrechts vom 4.7.1969 (BGBl. I, S. 717). 273 Dieser wurde nunmehr erstmals auch als solcher bezeichnet (Schönke / Schröder-Eser / Hecker, Einführung Rn. 6). 274 Vgl. Roxin, AT I, § 4 Rn. 24 f. Das 2. StrRG trat demgegenüber erst zum 1.1.1975 in Kraft.
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sonderen Umständen von bis zu zwei Jahren zur Bewährung aussetzen.275 Zudem enthielt die Neufassung keine formalen Ausschlussgründe mehr und ersetzte den sachlichen Ausschlussgrund „öffentliches Interesse“ durch den enger276 aufzufassenden Begriff „Verteidigung der Rechtsordnung“ (§ 23 Abs. 3 StGB 1969). Schließlich war die Strafvollstreckung nunmehr bei Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen zwingend auszusetzen und lag nicht mehr lediglich im Ermessen des Gerichts. Die so neu geschaffene Gesetzesfassung entspricht bis auf wenige Änderungen der heutigen Form. Die vormals „bedingte Entlassung“ wurde unter der Bezeichnung „Aussetzung des Strafrestes“ geregelt.277 Für den Fall der Verbüßung von zwei Dritteln der Strafe wurde die bisherige „Kann-Vorschrift“ ebenfalls in eine „Muss-Vorschrift“ abgeändert und die Mindestverbüßungsdauer von drei auf zwei Monate gesenkt. Daneben wurde erstmals die Möglichkeit einer Strafrestaussetzung nach hälftiger Verbüßung (sog. „Halbstrafenaussetzung“) als Ausnahmetatbestand geschaffen (§ 26 Abs. 2 StGB 1969). Voraussetzung war, dass der Verurteilte bereits mindestens ein Jahr verbüßte und besondere Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten vorlagen. Ferner mussten die übrigen Voraussetzungen der Regelstrafrestaussetzung (günstige Sozialprognose und Einwilligung des Verurteilten) erfüllt sein. Im Maßregelrecht wurden mit dem 1. StrRG die Regelungen bezüglich der Überprüfung freiheitsentziehender Maßregeln reformiert. Die entsprechenden Prüfungsfristen wurden in § 42f Abs. 3 bis 5 StGB 1969278 verkürzt, bzw. – bezüglich der Unterbringung in einer Trinkerheilanstalt oder Erziehungsanstalt – überhaupt erstmals Prüfungsfristen geschaffen. b) Absehen von Strafe (§ 60 StGB) Schließlich brachten die beiden StrRG mit dem Institut des Absehens von Strafe (§ 60 StGB)279 eine wichtige Neuerung,280 deren Wortlaut bis heute 275 Die Strafaussetzung bei Urteilsfällung wurde durch das 1. StrRG weiterhin in den §§ 23 ff. geregelt. Ihre heutige Paragraphenbezeichnung (§§ 56 ff.) erhielt sie durch das 2. StrRG. 276 Vgl. LK-Hubrach, Vor § 56 Rn. 5. 277 Nach dem 1. StrRG noch in § 26, seit dem 2. StrRG in § 57. 278 Ab dem 2. StrRG: § 67e. 279 Eingefügt in das StGB als § 16 durch das 1. StrRG. Mit dem 2. StrRG erhielt die Norm ihre heutige Paragraphenbezeichnung (§ 60), welche auch im Folgenden zugrunde gelegt wird. 280 Das Absehen von Strafe war zwar dem StGB nicht neu. Schon zuvor enthielt es hierzu zahlreiche Spezialregelungen, die über den Besonderen Teil verteilt waren
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nicht geändert wurde. Hiernach hat das erkennende Gericht von Strafe abzusehen, wenn die Folgen der Tat, die den Täter getroffen haben, so schwer sind, dass die Verhängung einer Strafe offensichtlich verfehlt wäre und der Täter für die Tat eine Freiheitsstrafe von nicht mehr als einem Jahr verwirkt hat. Flankiert wird die Vorschrift durch § 153b StPO,281 wonach bereits im Ermittlungsverfahren die Staatsanwaltschaft mit Zustimmung des Gerichts (Abs. 1) oder nach Anklageerhebung bis zum Beginn der Hauptverhandlung das Gericht mit Zustimmung der Staatsanwaltschaft und des Angeschuldigten (Abs. 2) das Verfahren einstellen kann, wenn die Voraussetzungen eines späteren Absehens von Strafe (durch das Gericht) vorliegen. Da somit allein im Erkenntnisverfahren von Strafe abgesehen (bzw. das Verfahren eingestellt) werden kann, handelt es sich hierbei zwar um keine echte gesetzliche Alternativregelung zur Gnade, welche schließlich erst auf rechtskräftige Verurteilungen anwendbar ist.282 Gleichwohl bestehen wesentliche inhaltliche Gemeinsamkeiten zwischen dem Absehen von Strafe und der Gnade. So heißt es bereits in der Begründung zum Amtlichen Entwurf eines Allgemeinen Deutschen StGB von 1925, der das Absehen von Strafe in § 75283 vorsah: „Diese Fälle grundsätzlich dem Gnadenrechte zu überlassen, empfiehlt sich nicht; das Gericht wird dadurch in eine mißliche und unwürdige Lage gebracht, eine Strafe zu verhängen, die es selbst für zu streng hält und die dem Betroffenen und der Allgemeinheit als eine Unbill und als ein Beweis für das Versagen der Rechtspflege erscheint.“284 (§§ 83a, 84 Abs. 4 und 5, 85 Abs. 3, 86 Abs. 4, 86a Abs. 3, 87 Abs. 3, 89 Abs. 3, 98 Abs. 2, 99 Abs. 3, 129 Abs. 5 und 6, 139 Abs. 1, 157, 158 Abs. 1, 173 Abs. 5, 175 Abs. 2, 311b Abs. 1, 315 Abs. 6, 315b Abs. 6, 316a Abs. 2). Mit § 60 StGB wurde jedoch erstmals eine Regelung in den Allgemeinen Teil eingefügt, die eine der Gnade verwandte Zielrichtung hat. 281 Eingefügt als damals noch § 153a StPO durch Art. 4 Nr. 1 des 1. StrÄndG vom 30.8.1951 (BGBl. I, S. 739). Ihre heutige Paragraphenbezeichnung erhielt die Norm durch Art. 21 Nr. 45 des EGStGB vom 2.3.1974 (BGBl. I, S. 469). 282 Anders u. a. noch im späten Mittelalter mit dem Rechtsbrauch des „Richtens nach Gnade“ (siehe unter § 1 A. I. 1. [S. 24]). Engisch sieht daher einen engen Zusammenhang zwischen dem Absehen von Strafe und dem Richten nach Gnade (Engisch, Die Idee der Konkretisierung, S. 210). 283 § 75 des Entwurfs eines Allgemeinen Deutschen StGB von 1925 lautete: „Abs. 1: In besonders leichten Fällen mildert das Gericht die Strafe nach freiem Ermessen. Wo es zugelassen ist, kann das Gericht von Strafe absehen. Abs. 2: Ein besonders leichter Fall liegt vor, wenn trotz Zubilligung mildernder Umstände die mildeste zulässige Strafe noch unbillig hart sein würde.“ Zur Entstehungsgeschichte von § 60 StGB eingehend Müller-Dietz, Lange-FS, S. 303 ff. 284 Amtlicher Entwurf eines Allgemeinen Deutschen Strafgesetzbuchs, Begründung, in: Bundesminister der Justiz (Hrsg.), Materialien zur Strafrechtsreform III, S. 53.
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Diese hier zum Ausdruck kommende Intention, das Entstehen unbilliger Härten bereits im Erkenntnisverfahren zu vermeiden (und Härten nicht erst im Gnadenweg zu korrigieren), verfolgt auch § 60 StGB: Als „Ausdruck humaner Strafrechtspflege“285 soll das Institut der Justiz ermöglichen, „menschlich“ zu bleiben.286 Insoweit besteht eine Kongruenz zur Gnade, deren Geltungsgrund schließlich gerade darin liegen soll, im Einzelfall auftretende Mängel des abstrakt-generellen Gesetzes zu beheben und somit die Spannung zwischen Normgerechtigkeit und Individualgerechtigkeit zu lösen,287 wenngleich das Absehen von Strafe seinerseits die Form einer abstrakt-generellen Regelung hat.288 Das Absehen von Strafe nach § 60 StGB soll damit wie die Gnade „in besonderen Ausnahmefällen“289 eine Individualisierung des Strafrechts über die Grenzen der vertypten Tatbestände hinaus erlauben.290 Die Öffnung des starren abstrakt-generellen Gesetzes für die Besonderheiten des nicht typisierbaren Einzelfalls ist – soll sie denn ihrerseits durch eine abstrakt-generelle Regelung und gerade nicht durch die Gnade erfolgen – rechtstechnisch nur durch Schaffung generalklauselartiger Formulierungen wie der „offensichtlich verfehlten Strafverhängung“ in § 60 StGB möglich. Da es insoweit an einer brauchbaren Definition fehlt291 − die Annahme einer „offensichtlich verfehlten Strafverhängung“ bedarf vielmehr einer eigenen Wertung durch das Gericht –,292 ist das Absehen von Strafe durch fehlende Voraussehbarkeit und Nachprüfbarkeit gekennzeichnet, wie es auch für die Gnade charakteristisch ist.293 Um die Voraussetzungen für ein Absehen von Strafe nach § 60 StGB zu objektivieren, wird gefordert, dass sich die Bestimmung, wann die Verhängung einer Strafe i. S. v. § 60 StGB „offensichtlich verfehlt“ wäre, daran zu orientieren hat, ob bereits der Schuldspruch und die Folgen der Tat die Strafzwecke erfüllen.294 Auch insoweit besteht eine Parallele zur Gnaden285 So BGHSt 27, 298 (300) und BGH NJW 1996, 3350. Vgl. auch Maiwald, ZStW 83 (1971), 663 (680: „Humanisierung des Strafrechts“). 286 MK-Groß, § 60 Rn. 4. 287 Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 76; vgl. auch Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 181 f.; Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 18. Näher dazu unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.). 288 Maiwald, ZStW 83 (1971), 663 (681). 289 BT-Drucks. 5 / 4094 (Bericht des Sonderausschusses), S. 7. 290 LK-Hubrach, § 60 Rn. 3. 291 MK-Groß, § 60 Rn. 16. 292 OLG Köln NJW 1971, 2036 (2037); OLG Karlsruhe NJW 1974, 1006. 293 Vgl. Hassemer, Sarstedt-FS, S. 65 (77). 294 BGHSt 27, 298 (300); Eser, Maurach-FS, S. 257 (260); MK-Groß, § 60 Rn. 18 ff.; LK-Hubrach, § 60 Rn. 23.
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
entscheidung, welche ebenfalls in aller Regel die Strafzwecke im Blick haben muss.295 Eine Auswirkung des Absehens von Strafe auf den der Gnade verbleibenden Anwendungsbereich besteht damit insoweit, als § 60 StGB die Entstehung unbilliger Härten im Einzelfall bereits während des Erkenntnisverfahrens zu verhindern sucht. „Tragische“ Fälle, die nach herkömmlichem Verständnis Gnadenfälle sind, können somit vorab durch das Institut des Absehens von Strafe gehandhabt werden, ohne dass es eines anschließenden Eingreifens des Gnadenträgers bedarf.296 4. Strafvollzugsgesetz von 1976 Mit dem StVollzG aus dem Jahr 1976297 wurde erstmals im deutschen Rechtssystem der Strafvollzug umfassend gesetzlich geregelt.298 Das Gesetz beinhaltete insbesondere mit den Vollzugslockerungen nach § 11 StVollzG sowie dem Urlaub aus der Haft (§ 13 StVollzG) wichtige gesetzliche Alternativregelungen zur Gnade. Die §§ 11, 13 StVollzG wurden bis heute nicht geändert. Seit der Föderalismusreform im Jahr 2006 gelten sie allerdings nur noch in denjenigen Ländern, in denen der Strafvollzug nicht landesrechtlich geregelt ist.299 Nach § 11 StVollzG können dem Gefangenen verschiedene Vollzugslockerungen gewährt werden, insbesondere außerhalb der Anstalt eine Beschäftigung aufzunehmen (sog. „Außenbeschäftigung“ oder „Freigang“, Abs. 1 Nr. 1) oder eine sonstige Tätigkeit im Einzelfall auszuüben (sog. „Ausführung“ oder „Ausgang“, Abs. 1 Nr. 2). Nach § 13 StVollzG kann ein Gefangener bis zu 21 Tage im Jahr aus der Haft beurlaubt werden. Die Vollzugslockerungen setzen materiell allesamt voraus, dass „nicht zu befürchten ist, daß der Gefangene sich dem Vollzug der Freiheitsstrafe entziehen oder die Lockerungen des Vollzuges zu Straftaten mißbrauchen werde“, 295 Näher
unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.). § 60 Rn. 4; Hassemer, Sarstedt-FS, S. 65 (78). Vgl. auch Bassakou, Absehen von Strafe, S. 129 ff. („Gnadencharakter des § 60 StGB“). Entsprechend der während der Kaiserzeit nicht konsequent durchgeführten Beschränkung der Gnade auf rechtskräftige Verurteilungen (siehe S. 34 f. mit Fn. 60) handele es sich nach Feisenberger, ZStW 31 (1911), 948 (949) beim Absehen von Strafe um ein „Begnadigungsrecht“ des Richters. 297 Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung vom 16.3.1976 (BGBl. I, S. 581), in Kraft getreten zum 1.1.1977. 298 Vgl. Laubenthal et al.-Neubacher, Einl. Rn. 5 ff. 299 Vgl. Art. 125a Abs. 1 GG. 296 MK-Groß,
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§ 11 Abs. 2 StVollzG (i. V. m. § 13 Abs. 1 StVollzG). Ihre Gewährung steht im Ermessen der Vollzugsbehörde.300 Vor Inkrafttreten des StVollzG konnten Vollzugslockerungen allein im Gnadenweg gewährt werden.301 So wurden zuvor etwa in Hessen die Anstaltsleiter dazu ermächtigt, im Gnadenweg Freigang unter bestimmten Voraussetzungen zu bewilligen.302 Zur Frage, in welchem Verhältnis die Gnade zu den Neuregelungen nach §§ 11, 13 StVollzG steht, findet sich in den Gesetzesmaterialien lediglich ein Hinweis, bezogen auf § 13 StVollzG: „Die Entwurfsvorschrift schafft für die zahlreichen, bisher gewöhnlich im Gnadenwege erlassenen Urlaubsregelungen der Länder eine einheitliche gesetzliche Grundlage und bindet den Urlaub zugleich an rechtliche Voraussetzungen.“303
Hiernach sollte also die vorherige Gnadenpraxis verrechtlicht werden. Dass Vollzugslockerungen im Gnadenweg fortan nicht mehr möglich sein sollten, lässt sich hieraus hingegen nicht zwingend ableiten. Raum für Gnade wurde daher weiterhin darin gesehen, über die Vorschriften des StVollzG hinausgehende Unterbrechungen des Vollzugs zu gewähren.304 Eine weitere Verrechtlichung der Gnade brachte das StVollzG in Bezug auf den Entlassungszeitpunkt: Nach § 16 Abs. 2 StVollzG kann der Gefangene vorzeitig entlassen werden, wenn das Strafende in die Zeit vom 22. Dezember bis zum 2. Januar fällt. Die Vorschrift entspricht wörtlich Nr. 197 Abs. 2 DVollzO,305 welche auf die damalige Gnadenpraxis zurückgeht.306 Mit der Übernahme dieser Regelung in das StVollzG sollte diese Praxis eine rechtliche Grundlage bekommen und die alljährlichen Gnadenverfügungen der Länder entbehrlich werden.307 Die Regelung findet sich heute in ähnlicher Form in den meisten Strafvollzugsgesetzen der Länder.308 300 Laubenthal
et al.-Laubenthal, E Rn. 123, 172. NJW 1975, 1249 (1251); Volckart, NStZ 1982, 496 (501). Dass es sich bei der Gewährung von Urlaub der Rechtsnatur nach um einen Gnadenakt handelte, war indes nicht unbestritten (dafür: OLG Nürnberg MDR 1975, 949; Nachweise zur Gegenansicht, die hierin eine „gerichtlich nachprüfbare Vollzugsmaßnahme“ erblickte bei Müller-Dietz, NJW 1974, 1476 [1477]). 302 Vgl. den Runderlass des Hessischen Justizministeriums vom 21.2.1972 (JMBl. HE, S. 133). 303 BT-Drucks. 7 / 918 (Regierungsentwurf), S. 53. 304 LR-Schäfer, 23. Aufl. 1978, § 455 Rn. 7. 305 Dienst- und Vollzugsordnung vom 1.12.1961 in der Fassung vom 1.12.1971, abgedruckt bei Grunau, DVollzO. 306 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 46. 307 Vgl. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 45 f. 308 Übersicht bei Schwind et al.-Ullenbruch, § 16 Rn. 10 ff. 301 Schätzler,
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
Gleichwohl wird die Ausübung des Begnadigungsrechts von zahlreichen Landesjustizministerien309 insoweit für weiterhin zulässig erachtet und alljährlich Gnadenerweise gegenüber Gefangenen erteilt, deren Strafende deutlich vor dem 22. Dezember liegt.310 Rechtstechnisch erfolgt dies durch Rundverfügung des jeweiligen Landesjustizministeriums, in welcher die Staatsanwaltschaften ermächtigt werden, unter bestimmten Voraussetzungen diejenigen Verurteilten, deren Strafende in einen in den Rundverfügungen näher bezeichneten Zeitraum fällt, vorzeitig zu begnadigen.311 Diese verbreitet fälschlich als „Weihnachtsamnestie“312 bezeichnete Praxis wird von der Literatur nahezu einhellig313 kritisiert: Betont wird, dass eine solche Praxis mit dem Gnadenerweis als individualbezogenem Akt nicht im Ein-
309 Eine Ausnahme bildeten im Zeitraum von 2007 bis 2011 nur Bayern und Sachsen (Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 456, 459). Vgl. auch die Pressemit teilung des bayerischen Justizministeriums vom 10.12.2013, verfügbar unter www. justiz.bayern.de / presse-und-medien / pressemitteilungen / archiv / 2013 / 288.php (besucht am 2.4.2017). 310 Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 674. Siehe auch „Ein Fest der Freiheit“, FAZ vom 24.12.2013 (Nr. 299), S. 7, wonach im Jahr 2013 in Nordrhein-Westfalen bereits ab dem 7.11. Entlassungen von insgesamt 748 Häftlingen, in Hessen am 15.11. von 106 Häftlingen erfolgten. Es liegt nahe, dass hierauf ein ganz wesentlicher Teil der in Deutschland jährlich erlassenen Gnadenakte bei freiheitsentziehenden Maßnahmen entfällt: So erfolgten bundesweit folgende Abgänge aus den Justizvollzugsanstalten infolge von Gnadenerweisen (gnadenweise Aussetzung des Strafrests bzw. der Unterbringung oder Erlass des Strafrests [relevant für die Weihnachtsamnestie]): August 2016: 3; März 2016: 3; November 2015 (d. h. einem Monat, in dem Gnadenakte wegen „Weihnachtsamnestien“ i. d. R. ergehen): 1254, vgl. Statistisches Bundesamt, Bestand der Gefangenen und Verwahrten, Stichtag 31.8.2016, S. 9, 14, 19. Nach Schmitz (StV 2007, 607 [608]) wurden zwischen 1999 und 2005 jährlich jeweils rund 1000 Gefangene aufgrund der „Weihnachtsamnestie“ vorzeitig entlassen. 311 Klein, Gnade, S. 21; Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 674. Vgl. etwa das Rundschreiben des baden-württembergischen Justizministeriums vom 14.9.2015, abrufbar unter www.jum.baden-wuerttemberg.de / pb / ,Lde / Startseite / Justizvollzug / Vollstre ckungsplan (besucht am 2.4.2017). Beim Weihnachtsfest 2010 lag der früheste Beginn des Entlassungszeitraums am 21.9.10 und der späteste Endzeitpunkt am 12.1.11 (Birkoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 468). 312 So etwa in der Pressemitteilung des rheinland-pfälzischen Justizministeriums vom 23.12.2009, verfügbar unter www.rlp.de / de / aktuelles / einzelansicht / news / de tail / News / bamberger-weihnachtsamnestie-bewaehrte-tradition-wird-auch-in-diesemjahr-fortgesetzt-1 / (besucht am 2.4.2017). Krit. zum Begriff auch Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 457; Bung, MschrKrim 2002, 282 (286). Nach Klein handele es sich zwar um eine Amnestie, die allerdings mangels gesetzlicher Form rechtswidrig sei (Klein, Gnade, S. 58). 313 Anders aber Leitmeier, LTO vom 23.12.2013, verfügbar unter www.lto. de / recht / hintergruende / h / weihnachtsamnestie-haft-begnadigung / (besucht am 2.4. 2017); siehe auch Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 481 ff.
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klang stehe.314 Ferner führe sie zu einer Ungleichbehandlung solcher Gefangenen, deren Haftende nicht in die Weihnachtszeit fällt,315 bzw. solcher, die von Gerichten unterschiedlicher Länder verurteilt worden sind. Denn weil sich die Gnadenzuständigkeit nach der Gerichtshoheit richtet,316 kann es dazu kommen, dass in derselben JVA Inhaftierte, die von Gerichten unterschiedlicher Bundesländer verurteilt wurden, insoweit unterschiedlich behandelt werden.317 Gegen die Rechtmäßigkeit der „Weihnachtsamnestie“ wird aber auch mit der Existenz des § 16 Abs. 2 StVollzG argumentiert: Nach Schall werde durch diese Gnadenpraxis „unzulässig in den zeitlichen und sachlichen Rahmen des § 16 StVollzG eingegriffen“318. Merten sieht in dieser Gnadenpraxis einen „Verstoß gegen die insoweit abschließenden Bestimmungen des Strafvollzugsgesetzes“.319 5. Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB) a) Hintergrund der Neuregelung Das StVollzG bezog auch den Vollzug der lebenslangen Freiheitsstrafe mit ein.320 Die Regelungen über das Vollzugsziel der Wiedereingliederung in das Leben in Freiheit321 ergaben jedoch nur dann Sinn, wenn man sie auf das Ziel einer möglichen vorzeitigen Entlassung bezog.322 Sowohl das Institut der bedingten Entlassung (§§ 23–26 RStGB) als auch die Nachfolgeregelung der Reststrafaussetzung (§ 26 StGB 1953 / 1969) beschränkten sich hingegen auf die Entlassung von zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilten. Der Gesetzgeber 314 So Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 674, Rn. 855. Vgl. auch Klein, Gnade, S. 58; Müller-Dietz, DRiZ 1987, 474 (480 f.). 315 So der bayerische Justizminister Bausback in der Pressemitteilung vom 10.12.2013 (S. 72 mit Fn. 309). 316 Für den Gnadenerweis ist das Bundesland zuständig, dessen Gericht den Gefangenen verurteilt hat, siehe unter § 2 B. I. (S. 93). 317 Krit. aus diesem Grund daher Blaich, Gnadenrecht, S. 236; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 146; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 47. 318 Schall, Herzberg-FS, S. 899 (908). 319 Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 79. Krit. auch Holste, Jura 2003, 738 (741). Siehe zur eigenen Kritik unter § 4 A. I. (S. 198 f.). 320 So konnte etwa auch zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten Urlaub aus der Haft gewährt werden. Zusätzliche Voraussetzung war, dass diese sich bereits zehn Jahre im Vollzug befunden hatten oder dem offenen Vollzug überwiesen worden waren (§ 13 Abs. 3 StVollzG). 321 Neben den §§ 11, 13 sind insbesondere § 2 (Aufgaben des Vollzugs), § 3 Abs. 3 (Integrationsgrundsatz) und § 10 (offener Vollzug) zu nennen. 322 Kunert, NStZ 1982, 89 (90).
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
hatte sich im Zuge der Strafrechtsreformgesetze Ende der Sechziger Jahre nicht dazu durchringen können, die Reststrafaussetzung auch auf die Vollstreckung der lebenslangen Freiheitsstrafe auszudehnen,323 obgleich in der Literatur vielfach der Ruf nach einer gesetzlichen Regelung laut wurde.324 Eine vorzeitige Entlassung von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten war mithin allein im Gnadenweg möglich. Hiervon wurde in der Praxis in bedeutendem Umfang Gebrauch gemacht,325 wobei zwischen den einzelnen Bundesländern erhebliche Unterschiede hinsichtlich der durchschnittlichen Vollzugsdauer bestanden.326 Die volle Verbüßung war flächendeckend eine seltene Ausnahme, mit der Folge, dass das Regel-Ausnahme-Verhältnis von Recht und Gnade sich umgekehrt hatte.327 Auch hier wurde die Gnade also nicht mehr als Einzelfallkorrektiv328 eingesetzt, sondern als Intrumentarium, um das als zu starr erachtete Gesetz (lebenslange Freiheitsstrafe ohne Aussetzungsmöglichkeit) in generalisierender Weise zu korrigieren.329 Mit dieser Gnadenpraxis konfrontiert, stellte das BVerfG in seiner Grundsatzentscheidung zur lebenslangen Freiheitsstrafe im Jahr 1977330 fest, dass 323 Vgl. dazu die Begründung des E 1962, S. 204: „Als selbständige Einrichtung des sachlichen Strafrechts empfängt die Möglichkeit vorzeitiger Entlassung ihre Rechtfertigung aus dem Besserungszweck der Strafe. Lebenslängliche Freiheitsstrafen dienen aber ihrer Natur nach nicht diesem Zweck, sondern ausschließlich oder mindestens ganz überwiegend dem Ausgleich der Schuld, die der Täter auf sich geladen hat. Ihr Vollzug hat nicht den Sinn der Vorbereitung auf ein späteres Leben in der Freiheit. Die Frage, ob eine solche Strafe im Einzelfall abzukürzen ist, bestimmt sich deshalb nicht nach kriminalpolitischen, der gerichtlichen Prüfung zugänglichen Gesichtspunkten, sondern allein nach Überlegungen, die auch sonst der gnadenrechtlichen Beurteilung vorbehalten sind.“ Dieser Erwägung schloss sich auch der mit der Ausarbeitung des 1. StrRG eingesetzte Sonderausschuss an (BTDrucks. 5 / 4094 [Bericht des Sonderausschusses], S. 10). Eingehend zur Entstehungsgeschichte des § 57a StGB Kunert, NStZ 1982, 89 (90 f.). 324 So sah der von 14 Strafrechtslehrern im Jahr 1966 veröffentlichte AlternativEntwurf die Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe in § 48 Abs. 2 Nr. 2 vor (Baumann et al., Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, AT, S. 16). 325 Für den Zeitraum vom 8.5.1945 bis 30.6.1973 betrug die Gesamtzahl der Begnadigungen von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten in der BRD: 36 vor Ablauf von zehn Jahren, 15 vor Ablauf von zwölf Jahren, 66 vor Ablauf von 15 Jahren, 161 vor Ablauf von 20 Jahren, 196 vor Ablauf von 25 Jahren und drei vor Ablauf von 30 Jahren Haftverbüßung (BT-Drucks. 7 / 1171, S. 3). 326 Diese lag in dem genannten Zeitraum in Hamburg bei ungefähr 16 Jahren, in Rheinland-Pfalz hingegen bei über 22 Jahren (!) – vgl. die Darstellung in BVerfGE 45, 187 (243). 327 BVerfGE 45, 187 (241); Kunert, NStZ 1982, 89 (90). 328 s. dazu näher unter § 4 A. I. (S. 196). 329 Vgl. auch Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe, S. 118 (Gnade als „Instrumentarium routinemäßiger Beendigung der lebenslangen Freiheitsstrafe“). 330 BVerfGE 45, 187 ff.
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes75
der Verurteilte aufgrund von Art. 1 Abs. 1 GG und des Rechtsstaatsprinzips „eine konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance“ haben müsse, „zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedergewinnen zu können“. Diesen Anforderungen genüge das Begnadigungsrecht allein nicht: Denn die Gnadenentscheidung ergehe in einem „internen Verfahren, das keine justizförmigen Garantien kennt“. Bei einer solch „schwerwiegende[n] Frage von existentieller Bedeutung“ wie der etwaigen Haftentlassung bei lebenslanger Freiheitsstrafe gebiete hingegen das Rechtsstaatsprinzip – in Gestalt des Prinzips der Rechtssicherheit sowie der Forderung nach materieller Gerechtigkeit – eine gesetzliche Regelung zu den Voraussetzungen, unter denen die lebenslange Freiheitsstrafe ausgesetzt werden kann.331 Diesem Auftrag kam der Gesetzgeber im Jahr 1981 mit dem 20. StrÄndG332 nach, mit welchem er den bis heute nur geringfügig geänderten333 § 57a ins StGB einfügte. Seither ist die Vollstreckung des Rests einer lebenslangen Freiheitsstrafe zur Bewährung auszusetzen, wenn 15 Jahre der Strafe verbüßt sind, nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet, dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann und der Verurteilte einwilligt. b) Die damaligen Ansichten zum Verhältnis des § 57a StGB zum Begnadigungsrecht aa) Hintergrund Die Frage nach dem der Gnade verbleibenden Anwendungsbereich stellte sich mit Schaffung des § 57a StGB in besonderem Maße: In diesem nun verrechtlichten Bereich wurde zuvor vom Begnadigungsrecht rege Gebrauch gemacht. Hinzu kommt, dass es sich gerade um den Bereich des Begnadigungsrechts handelte, welchen sich die Ministerpräsidenten regelmäßig vorbehalten hatten,334 da das Begnadigungsrecht insoweit bedeutsam war.335 331 Vgl.
zum Vorstehenden BVerfGE 45, 187 (245 f.). 8.12.1981 (BGBl. I, S. 1329). 333 Die Norm wurde in der Folge lediglich den jeweiligen Änderungen des § 57 StGB angepasst (LK-Hubrach, Entstehungsgeschichte zu § 57a). 334 Zur Organkompetenz innerhalb der einzelnen Bundesländer näher unter § 2 B. II. (S. 94 f.). 335 Dies klingt auch in der Erklärung des damaligen rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Vogel im Bundesrat durch, in welcher er sich gegen eine vollständige Ersetzung des Begnadigungsrechts durch das Gesetz aussprach: „Gerade bei den höchsten Strafen würde das in den Landesverfassungen verankerte Begnadigungsrecht tatsächlich kaum mehr ausgeübt werden können.“ (Sten. Bericht der 502. Sitzung des Bundesrates vom 10.7.1981, S. 270). 332 Vom
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§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
Ferner war gerade das vom BVerfG als unzureichend erachtete Gnadenrecht Stein des Anstoßes für die Schaffung des § 57a StGB. Müller-Dietz bezeichnet § 57a StGB daher zu Recht als das „bedeutsamste Beispiel für die ‚Verrechtlichung‘ einer vollstreckungsrechtlichen Materie, die ursprünglich eine Domäne der Gnadenpraxis gewesen ist“.336 Während des Gesetzgebungsverfahrens wurde die Frage nach dem Schicksal des Begnadigungsrechts mehrfach aufgeworfen. Dabei gingen die Auffassungen darüber, wie die Vorgaben des BVerfG zu verstehen sind, auseinander. Die Diskussion drehte sich insbesondere um die Frage, ob die neu zu schaffende gesetzliche Regelung das Begnadigungsrecht im Bereich der lebenslangen Freiheitsstrafe vollständig ersetzen sollte, oder ob sich die Vorgaben darauf beschränkten, per Gesetz ein zusätzliches Institut zu schaffen – neben dem die Gnade weiterhin frei anwendbar war. Anlass für die Diskussion war insbesondere die im Gesetzgebungsverfahren bis zuletzt kontrovers diskutierte Frage nach der Länge der gesetzlichen Mindestverbüßungszeit: Die verbreitet geforderte Dauer von 20 Jahren337 hätte deutlich über der damaligen gnadenrechtlichen Entlassungspraxis gelegen, wonach die durchschnittliche Vollzugsdauer 17,8 Jahre betrug.338 Nähme man nun an, dass die gesetzliche Regelung das Gnadenverfahren ersetzte, bedeutete eine gesetzliche Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren eine Erhöhung der zuvor – jedenfalls in manchen Bundesländern – durchschnittlichen Vollzugsdauer. Die Lage des Verurteilten wäre insoweit entgegen der Absicht des BVerfG faktisch verschlechtert worden. bb) Befürworter einer freien Anwendbarkeit des Begnadigungsrechts neben § 57a StGB Wohl auch um diese – sinnwidrige – Konsequenz zu vermeiden, sprachen sich insbesondere die Befürworter einer Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren dafür aus, dass die Gnade neben § 57a StGB frei anwendbar bleiben sollte. Der damalige rheinland-pfälzische Ministerpräsident Vogel (CDU) erklärte im Bundesrat: „Die Koalitionsparteien haben … den verfassungsrechtlichen Auftrag dahin mißverstanden, das bisherige Gnadenverfahren müsse vollständig durch eine gesetz liche Aussetzungsregelung ersetzt werden … Das Bundesverfassungsgericht hat 336 Müller-Dietz,
in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (158). die Mehrheit des von der CDU / CSU beherrschten Bundesrats. Demgegenüber sprachen sich die Regierungsfraktionen im Bundestag (SPD und FDP) für eine Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren aus. 338 Vgl. BT-Drucks. 8 / 3857 (Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses), S. 9. 337 So
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes77 aber keineswegs die faktische Abschaffung der Begnadigung für die lebenslange Freiheitsstrafe gefordert. Es geht vielmehr von einem Nebeneinander von flexiblem Gnadenverfahren und gerichtlicher Entlassung aus …“339
Der Auftrag des BVerfG sei lediglich dahingehend zu verstehen, neben der Gnade auch eine rechtlich abgesicherte Entlassungschance für zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilte zu schaffen.340 Nach einer von der Mehrheit des Bundesrats verabschiedeten Erklärung sollte das Begnadigungsrecht vor Ablauf der gesetzlichen Mindestverbüßungsdauer anwendbar sein.341 cc) Befürworter einer Sperrwirkung des § 57a StGB für die Dauer der Mindestverbüßungszeit Demgegenüber wurde insbesondere von den Befürwortern einer Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren vertreten, dass für diese Dauer die Anwendung des Begnadigungsrechts ausgeschlossen oder zumindest erheblich eingeschränkt sei.342 Der Bundestagsabgeordnete und spätere Bundesjustizminister Engelhard (FDP) erklärte hierzu: „Kann es der Sinn einer neu zu schaffenden Aussetzungsregelung sein, daß auch künftig Gnade vor Recht ergehen wird? Ich meine … Gnade vor Recht, zeitlich gesprochen. Stellen Sie sich vor, daß die Gnadeninstanz auch künftig genötigt wäre, das zu ihrer Korrektur geschaffene förmliche Rechtsverfahren nun ihrerseits zu korrigieren… Ich meine, das wäre ein fatales Ergebnis. Das kann nicht der Sinn sein, und das entspricht ganz sicherlich nicht dem, was das Bundesverfassungsgericht uns in seiner Entscheidung zu tun aufgegeben hat.“343
Ähnlich äußerte sich der Bundestagsabgeordnete Lambinus (SPD): 339 Sten. Bericht der 502. Sitzung des Bundesrates vom 10.7.1981, S. 270. An gleicher Stelle zitierte Vogel den damaligen Präsidenten des BVerfG Benda, wonach das BVerfG-Urteil den bisherigen Satz „Gnade vor Recht“ nicht umgekehrt habe in den Satz „Recht vor Gnade“, sondern es müsse künftig „Recht neben Gnade“ heißen. 340 Sten. Bericht der 502. Sitzung des Bundesrates vom 10.7.1981, S. 271. So auch der bayerische Staatssekretär Vorndran (a. a. O., S. 268). 341 Vgl. die Stellungnahme des Bundesrates vom 16.2.1979 (abgedruckt in BTDrucks. 8 / 3218 [Regierungsentwurf], S. 11): „Lassen besondere Umstände eine frühere Entlassung des Verurteilten vertretbar erscheinen, so steht, wie bisher, der Gnadenweg zur Verfügung.“ 342 Dem dürften zuvorderst rechtspolitische Erwägungen zugrunde gelegen haben: Denn die Ansicht, Gnade dürfe vor Ablauf einer gesetzlich zu bestimmenden Mindestverbüßungsdauer nicht gewährt werden, diente als Argument dafür, die Dauer nicht allzu hoch anzusetzen. 343 Bundestagssitzung vom 13.5.1980, Plenarprotokoll 8 / 216, S. 17375. Vgl. auch Dens. in der Bundestagssitzung vom 25.6.1981, Plenarprotokoll 9 / 46, S. 2673: „[E]s ist doch ein ganz merkwürdiges Verfahren, wenn die Gerichte, die wir jetzt in den Stand setzen, in die Prüfung einzutreten, an die Dinge herangehen und immer zu spät kommen, weil ja die Gnadeninstanz längst gehandelt hat …“
78
§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
„Gnade vor Recht ergehen zu lassen, ist eine zwar schöne, aber oft sehr irrationale Sache. Recht statt Gnade zu gewähren, ist daher die Zielsetzung des [§ 57a StGB].“344
Die nordrhein-westfälische Justizministerin Donnepp (SPD) erkannte zwar an, dass im Fall einer Mindestverbüßungsdauer von 20 Jahren auch weiterhin das Begnadigungsrecht vor Ablauf dieser Zeit Anwendung finden müsse,345 das Gesetz also die Gnade de lege lata nicht sperre. Gleichwohl widerspreche eine solche Gnadenausübung ganz offensichtlich dem Ziel des Gesetzes, die Gnade zu verrechtlichen.346 Insgesamt lässt sich aus den Gesetzesmaterialien zu § 57a StGB nicht eindeutig darauf schließen, in welchem Verhältnis § 57a StGB zum Begnadigungsrecht stehen soll. Vielmehr zeugen die Gesetzesmaterialien von deutlichen Unsicherheiten bezüglich des Verhältnisses von Gnade und Gesetz. 6. Ausweitung der Halbstrafenaussetzung (23. StrÄndG von 1986) Mit dem 23. StrÄndG vom 13.4.1986347 wurde insbesondere348 der Anwendungsbereich der Halbstrafenaussetzung bei zeitiger Freiheitsstrafe deutlich ausgedehnt. Die Neuregelung entspricht bis auf redaktionelle Änderungen der heutigen Fassung des § 57 Abs. 2 StGB. Danach beträgt die insoweit erforderliche Mindestverbüßungsdauer seither nicht mehr ein Jahr, sondern sechs Monate. Die Halbstrafenaussetzung war nunmehr in zwei Fällen möglich: Zum einen wurde die Möglichkeit einer Halbstrafenaussetzung für den Fall geschaffen, dass der Verurteilte erstmals eine Freiheitsstrafe verbüßt und diese zwei Jahre nicht übersteigt (Abs. 2 Nr. 1 – sog. „Erstverbüßerprivileg“). Der Gesetzgeber trug damit dem Umstand Rechnung, dass „der erste Freiheitsentzug in aller Regel am spürbarsten empfunden wird“ und es daher „unter spezialpräventiven Gesichtspunkten oft ausreichend [ist], die Hälfte der Strafe zu vollstrecken“.349 344 Bundestagssitzung
vom 25.6.1981 (Plenarprotokoll 9 / 46, S. 2667). Bericht der 502. Sitzung des Bundesrates vom 10.7.1981, S. 267. 346 Sten. Bericht der 502. Sitzung des Bundesrates vom 10.7.1981, S. 267. Ebenso dies., Sten. Bericht der 504. Sitzung des Bundesrates vom 9.10.1981, S. 323. 347 BGBl. I, S. 393. 348 Überblick über die Änderungen im Einzelnen bei Greger JR 1986, 353 ff. Für den hier interessierenden Bereich der Alternativregelungen zur Gnade ist noch der neu eingefügte § 455 Abs. 4 StPO zu nennen, womit die Möglichkeit der Strafunterbrechung bei Erkrankung des Verurteilten geschaffen wurde. 349 BT-Drucks. 10 / 2720 (Regierungsentwurf), S. 11. 345 Sten.
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes79
Zum anderen wurde die Klausel, wonach eine Halbstrafenaussetzung bei Vorliegen „besondere[r] Umstände in der Tat und in der Persönlichkeit des Verurteilten“ möglich ist, weniger eng gefasst:350 Erforderlich war nunmehr eine „Gesamtwürdigung“, nach welcher auch das Verhalten im Vollzug zu berücksichtigen war.351 Das Erfordernis, wonach die übrigen Voraussetzungen von § 57 Abs. 1 StGB erfüllt sein müssen (günstige Sozialprognose352 und Einwilligung des Verurteilten), blieb erhalten. 7. Verkürzung der Mindestsperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis (§ 69a Abs. 7 StGB) a) Rechtslage nach den Gesetzen zur Sicherung des Straßenverkehrs von 1952 und 1964 Mit dem Ersten Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 19.12.1952353 wurde die Entziehung der Fahrerlaubnis als weitere Maßregel ins StGB eingefügt (§ 42m StGB 1952).354 Hiernach entzog das Gericht dem Straftäter die Fahrerlaubnis, wenn dieser eine rechtswidrige Tat „bei oder in Zusammenhang mit der Führung eines Kraftfahrzeugs oder unter Verletzung der dem Führer eines Kraftfahrzeugs obliegenden Pflichten“ 350 Vgl. NK-Dünkel, § 57 Rn. 46 („vorsichtige weitere Öffnung der Halbstrafenaussetzung“). 351 Zuvor bedurfte es „besonderer Umstände in der Tat und Persönlichkeit“. Der Gesetzgeber passte das Gesetz an die Rspr. des BGH an, wonach sich die Unterscheidung zwischen tat- und täterbezogenen Umständen nicht trennscharf durchführen ließ (vgl. etwa [zu § 56 Abs. 2 StGB a. F.] BGHSt 29, 370 [380]); siehe NKDünkel, § 57 Rn. 46; Greger, JR 1986, 353 ff.; BT-Drucks. 10 / 2720 (Regierungsentwurf), S. 9. 352 Die damalige Formulierung sah die Reststrafaussetzung vor, wenn „verantwortet werden kann zu erproben, ob der Verurteilte außerhalb des Strafvollzugs keine Straftaten mehr begehen wird“. Mit dem „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“ vom 26.1.1998 (BGBl. I, S. 160) bekam die Sozialprognoseklausel in § 57 StGB ihre heutige Fassung („dies unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“). Der Gesetzgeber wollte damit in Einklang mit der damals h. M. klarstellen, dass bei der Entscheidung nach § 57 StGB eine Abwägung zwischen dem Resozialisierungsinteresse des Verurteilten und dem Sicherheitsinteresse der Allgemeinheit vorzunehmen ist (BT-Drucks. 13 / 8586, S. 8). Eine entsprechende Änderung erfolgte zugleich auch bezüglich der Jugendstrafrestaussetzung nach § 88 JGG. 353 BGBl. I, S. 832. 354 Zuvor konnte die Fahrerlaubnis nur durch die Verwaltungsbehörde nach rechtskräftigem Abschluss des Strafverfahrens entzogen werden (LK-Geppert, Entstehungsgeschichte zu §§ 69, 69a).
80
§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
begangen und sich dadurch als „ungeeignet zum Führen von Kraftfahrzeugen“ erwiesen hatte. Zugleich hatte das Gericht eine Frist von mindestens sechs Monaten festzusetzen, vor deren Ablauf keine neue Fahrerlaubnis erteilt werden durfte (sog. „Sperrfrist“, § 42m Abs. 3 StGB 1952). Nach § 42m Abs. 4 StGB 1952 konnte das Gericht jedoch vorzeitig – d. h. trotz der an sich noch laufenden Sperrfrist − die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis gestatten. Voraussetzung war, dass die Entziehung „nicht mehr erforderlich“ erschien, „um die Allgemeinheit vor Gefährdung zu schützen“. Eine feste Zeitspanne, innerhalb derer die Sperrfrist nicht aufgehoben werden durfte (sog. „Mindestsperrfrist“), bestand nicht. Durch das Zweite Gesetz zur Sicherung des Straßenverkehrs vom 26.11.1964355 wurde das Institut der Entziehung der Fahrerlaubnis umfassend reformiert. Mit den §§ 42m, 42n, 42o StGB 1964 wurden Regelungen geschaffen, die der heutigen Gesetzesstruktur (§§ 69, 69a, 69b StGB) entsprechen.356 Auch die als Alternativregelung zur Gnade relevante Vorschrift zur vorzeitigen Sperrfristaufhebung (nunmehr § 42n Abs. 7 StGB 1964357) wurde neu gefasst. Danach setzte eine vorzeitige Aufhebung der Sperre für die Fahrerlaubnis voraus, dass sich „Grund zur Annahme“ ergab, dass der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen „nicht mehr ungeeignet“ war. Ferner wurde eine Mindestsperrfrist von sechs Monaten (im Wiederholungsfall: einem Jahr) geschaffen. Insbesondere aufgrund dieser Mindestsperrfrist wurde die gesetzliche Möglichkeit zur vorzeitigen Sperrfristaufhebung vielfach als unzureichend angesehen. Denn in den Fällen, in denen die im Urteil festgesetzte Sperrfrist nicht nennenswert über sechs Monaten lag, bestand für den Straftäter kein Anreiz, durch Schaffung neuer Tatsachen – wie etwa der erfolgreichen Teilnahme an einer Nachschulung −358 das materielle Kriterium des § 69a Abs. 7 S. 1 StGB zu erfüllen.359 Die Vorschrift erlangte daher zunächst in der Praxis keine große Bedeutung.360 Um die Unzulänglichkeit der als zu lang empfundenen Mindestsperrfrist zu beheben, wurde – und wird – hingegen systematisch der Gnadenweg beschritten: In Baden-Württemberg werden seit dem Jahr 1980 Nachschulungen für 355 BGBl.
I, S. 921. zur Gesetzesentwicklung LK-Geppert, Entstehungsgeschichte zu
356 Eingehend
§§ 69, 69a. 357 Ab dem 2. StrRG geregelt in § 69a Abs. 7. 358 Die erfolgreiche Teilnahme an einer Nachschulung („Aufbauseminar“) kann als Nachweis für den nach § 69a Abs. 7 S. 1 StGB erforderlichen nachträglichen Wegfall der Ungeeignetheit dienen (LK-Geppert, § 69a Rn. 88). 359 Vgl. LK-Geppert, § 69a Rn. 78a. 360 LK-Geppert, § 69a Rn. 78a.
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes81
erstmals alkoholauffällige Kraftfahrer angeboten, wobei ein Anreiz zur Kursteilnahme in der Aussicht besteht, eine Verkürzung der Sperrfrist zu erreichen.361 Hierzu hat das baden-württembergische Landesjustizministerium Verwaltungsvorschriften erlassen, die das Prozedere regeln: Bei Teilnahme an einer anerkannten Nachschulungsstelle stellt die Staatsanwaltschaft vorrangig einen Antrag auf gerichtliche Verkürzung der Mindestsperrfrist nach § 69a Abs. 7 StGB. Ist ein solcher Antrag jedoch erfolglos, ist die zuständige Gnadenstelle ermächtigt, die verhängte Sperrfrist im Gnadenweg um drei Monate abzukürzen (Nr. 3.1 VwV Nachschulung).362 Die Geltungsdauer der VwV Nachschulung wurde erst kürzlich bis zum 31.12.2022 verlängert.363 b) Die Reform im Jahr 1998 Im Jahr 1998 wurde die in § 69a Abs. 7 S. 2 StGB vorgesehene Mindestsperrfrist von sechs auf drei Monate verkürzt.364 Die gesetzgeberische Intention lag hierbei darin, einen stärkeren Anreiz zur Teilnahme an einem Aufbauseminar zu schaffen und „das Gnadenverfahren von solchen Fällen zu entlasten“.365 § 69a Abs. 7 StGB hat infolge der kürzeren Mindestsperrfrist eine deutlich größere Bedeutung erlangt.366 361 Bode / Winkler, Fahrerlaubnis, § 12 Rn. 122; vgl. auch die einleitenden Ausführungen in der Verwaltungsvorschrift des baden-württembergischen Justizministeriums über die Sperrfristverkürzung nach Teilnahme an einer Nachschulung für erstmals alkoholauffällige Kraftfahrer vom 12.11.2008 („VwV Nachschulung“), veröffentlicht im Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg (Die Justiz) 2008, 359. 362 Nr. 3.1 VwV Nachschulung: „Bleibt die sofortige Beschwerde [gegen eine ablehnende Entscheidung nach § 69a Abs. 7 StGB] erfolglos, ist aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Gnadenentscheidung zu treffen. Die Leiter der Staatsanwaltschaften und die Jugendrichter als Gnadenbehörden werden insoweit ermächtigt, die verhängte Sperrfrist um drei Monate abzukürzen, sofern die erfolgreiche Teilnahme an einem derjenigen Nachschulungskurse für erstmals alkoholauffällige Kraftfahrer nachgewiesen wird…“ Im ersten Jahr nach Beginn dieses Modellversuchs 1980 fand in mehr als 80 % der Fälle, in denen nach erfolgreicher Nachschulung ein Antrag auf gerichtliche Abkürzung der Sperrfrist nach § 69a Abs. 7 StGB abgelehnt wurde, eine Abkürzung im Gnadenweg statt (vgl. BR-Drucks. 540 / 81, S. 3). 363 Vgl. die Verwaltungsvorschrift des Justizministeriums zur Änderung der VwV Nachschulung vom 10.12.2015, veröffentlicht im Amtsblatt des Justizministeriums Baden-Württemberg (Die Justiz) 2016, 46. Siehe auch Kunkel, BA 1979, 1 ff.; „Neuer Esel“, Der Spiegel Nr. 2 / 1982, S. 49 ff. Zur Kritik an einem solchen Einsatz des Einzelfallkorrektivs „Gnade“ unter § 4 A. I. (S. 199 f.). 364 Durch Art. 3 Nr. 3 des Gesetzes zur Änderung des Straßenverkehrsgesetzes und anderer Gesetze vom 24.4.1998 (BGBl. I, S. 747). 365 BT-Drucks. 13 / 6914 (Regierungsentwurf), S. 93. 366 LK-Geppert, § 69a Rn. 78.
82
§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
Der gesetzgeberische Wille zur Entlastung der Gnadenverfahren bringt deutlich zum Ausdruck, dass Begnadigungen in diesem Bereich nur nachrangig erfolgen sollen. Die Bedeutung der Gnade ist insoweit indes nicht entfallen, erfolgen doch auch heute noch in Baden-Württemberg Verkürzungen auf Grundlage der VwV Nachschulung außerhalb der durch § 69a Abs. 7 StGB gezogenen Grenzen im Gnadenweg. 8. Sonstige gesetzliche Alternativregelungen Neben den vorgenannten Regelungen wurden im Laufe der Zeit eine Reihe weiterer gesetzlicher Strafvergünstigungen geschaffen, die hier nur überblicksartig dargestellt werden können. Im Vollstreckungsrecht sind die für die Vollstreckung von Geld- und Ersatzfreiheitsstrafen relevanten Vorschriften der §§ 459a, 459d, 459e, 459f StPO zu nennen, die durch Art. 21 Nr. 130 EGStGB im Jahr 1974 neu in die StPO eingefügt wurden und seither ein zuvor umfangreiches Feld der Gnade ausfüllen.367 Beachtenswert ist insbesondere § 459d StPO, wonach das Gericht anordnen kann, von der Vollstreckung einer neben einer Freiheitsstrafe verhängten Geldstrafe abzusehen, wenn die Vollstreckung die Wiedereingliederung des Verurteilten erschweren kann. Nach B.-D. Meier handelt es sich hierbei der Sache nach um eine „verrechtlichte Gnadenentscheidung“368. Nach § 459f StPO ordnet das Gericht an, dass die Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe unterbleibt, wenn sie für den Verurteilten eine „unbillige Härte“ wäre. Die Vorschrift ist dem § 8 Geldstrafengesetz 1921 nachgebildet.369 Im Gegensatz zu dessen Wortlaut verwendet die Norm allerdings mit der „unbilligen Härte“ eine Begrifflichkeit, die auch zur Legitimitätsbegründung der Gnade immer wieder verwandt wird.370 Die Verrechtlichung ehemaliger Gnadendomänen wird hier besonders deutlich. Nach Art. 293 Abs. 1 EGStGB371 können die Landesregierungen die Vollstreckungsbehörden dazu ermächtigen, dem Verurteilten zu gestatten, die 367 Volckart,
NStZ 1982, 496 (498). Strafrechtliche Sanktionen, S. 464. 369 Vgl. BT-Drucks. 7 / 550 (Regierungsentwurf) S. 311, mit Verweis auf den damaligen § 29 Abs. 4 StGB, der wiederum auf § 8 Geldstrafengesetz 1921 zurückgeht. Siehe zum Geldstrafengesetz 1921 näher unter § 1 C. II. 1. (S. 49 f.). 370 Vgl. Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (39) m. w. N. Vgl. auch BVerfGE 25, 352 (360 – tragende Meinung), wonach das Begnadigungsrecht heute u. a. die Funktion erfüllt, „Härten des Gesetzes“ auszugleichen. 371 Die Vorschrift wurde durch das EGStGB im Jahr 1974 geschaffen, damals noch ohne die heutigen Abs. 2 und 3. 368 B.-D. Meier,
E. Rechtsentwicklung unter Geltung des Grundgesetzes83
Vollstreckung einer Ersatzfreiheitsstrafe (§ 43 StGB) durch Arbeitsleistung abzuwenden. Von dieser Ermächtigung haben sämtliche Bundesländer mit Ausnahme von Bayern und Sachsen Gebrauch gemacht.372 Damit wurde auch diese ursprüngliche Gnadendomäne373 weitgehend verrechtlicht. In Bayern und Sachsen wurden stattdessen die Leitenden Oberstaatsanwälte dazu ermächtigt, die Anrechnung der Arbeitsleistung auf uneinbringliche Geldstrafen im Gnadenweg vorzunehmen.374 Daneben sind verschiedene Bundesländer angesichts der Überbelegung von Justizvollzugsanstalten dazu übergegangen, die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen auf der Grundlage von § 455a StPO375 nach hälftiger Verbüßung zu unterbrechen und – mangels entsprechender gesetzlicher Regelung – bei Bewährung des Verurteilten den Strafrest im Gnadenweg zu erlassen.376 Im Nebenstrafrecht ist insbesondere377 die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 BtMG378 zu nennen.379 Hiernach kann die Vollstreckungsbehörde mit Zustimmung des erkennenden Gerichts die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe von nicht mehr als zwei Jahren zurückstellen, wenn der Verurteilte eine Straftat aufgrund einer Betäubungsmittelabhängigkeit begangen hat und er sich wegen seiner Abhängigkeit in einer seiner Rehabilitation dienenden Behandlung befindet oder zusagt, sich einer solchen zu unterziehen. Unter den Voraussetzungen des § 36 Abs. 1 S. 1 BtMG ist die Dauer der Therapiezeit auf die Strafe anzurechnen. Ein verbleibender Strafrest kann nach § 36 Abs. 1 und 2 BtMG zur Bewährung ausgesetzt werden, ohne dass die Verbüßung einer Mindestdauer erforderlich ist.380 Raum für Gnade wird weiterhin dann gesehen, wenn die Voraussetzungen des § 35 Abs. 1 BtMG nicht vorliegen – etwa, weil der Täter im Zeitpunkt der Antragstellung seine Abhängigkeit überwunden hat und deshalb keiner Therapie mehr bedarf.381 372 Vgl. 373 Vgl.
(158).
die Übersicht bei LK-Häger, § 43 Rn. 12. Müller-Dietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149
374 LK-Häger
§ 43 Rn. 12. Siehe dazu §§ 31 ff. GnO-BY. Müller-Dietz handele es sich bei § 455a StPO [eingefügt durch § 181 StVollzG im Jahr 1976] um eine „gnadenähnliche Vergünstigung“ (DRiZ 1987, 474 [478]). 376 Vgl. BT-Drucks. 15 / 2725 (Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Reform des Sanktionenrechts), S. 21. 377 Vgl. als weitere Alternativregelung des Nebenstrafrechts § 14 Abs. 2 WStG. 378 Eingefügt durch das Gesetz zur Neuordnung des Betäubungsmittelrechts vom 28.7.1981 (BGBl. I, S. 681). 379 Müller-Dietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (158). 380 Körner / Patzak / Volkmer-Patzak, § 36 Rn. 67. 381 So Weber, BtMG, § 35 Rn. 31 m. w. N. 375 Nach
84
§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
§ 45b StGB ermöglicht die Wiederverleihung der als Nebenfolge nach § 45 Abs. 1 und 2 StGB verlorenen Fähigkeiten und Rechte (Amtsfähigkeit, Wählbarkeit und Stimmrecht). Vor Schaffung dieser Regelung im Jahr 1969382 war die Wiederverleihung allein durch Ausübung des Begnadigungsrechts – das in Bezug auf Nebenfolgen unstrittig Anwendung findet –383 möglich.384 Heutzutage muss nach Schätzler hingegen erst die Möglichkeit der Wiederverleihung nach § 45b StGB ausgeschöpft sein, bevor der Gnadenweg in Betracht kommt.385 Auch im Bereich der Maßregeln der Besserung und Sicherung gab es weitere Ausdehnungen gesetzlicher Milderungsmöglichkeiten. So hat etwa die Aussetzung des Berufsverbots durch das 2. StrRG in § 70a StGB eine deutlich differenziertere Regelung erfahren, als dies mit dem vorherigen § 42l Abs. 4 RStGB 1933 der Fall war.386 Für die Überprüfung, ob eine Unterbringung zur Bewährung ausgesetzt werden kann, führte das 1. StrRG in § 42f Abs. 3 bis 5 eine dem heutigen § 67e StGB entsprechende Vorschrift ein, welche eine Verkürzung der Prüfungsfristen bedeutete.387 Im Maßregelvollzugsrecht wurden Vollzugslockerungen und Urlaub lange mangels gesetzlicher Regelung388 als Feld der Gnade angesehen.389 Mit der fortschreitenden Schaffung landesrechtlicher Ausführungsvorschriften zu § 138 StVollzG390 traten auch hier gesetzliche Alternativregelungen in Kraft.391 Im Jugendstrafrecht wurde durch das Gesetz zur Erweiterung der jugendgerichtlichen Handlungsmöglichkeiten vom 4.9.2012392 die Vorschrift des § 21 Abs. 1 S. 3 JGG neu geschaffen. Danach ist die Aussetzung der Vollstreckung von Jugendstrafe durch das erkennende Gericht auch dann möglich, wenn die Erwartung der erforderlichen günstigen Legalprognose erst 382 Die Vorschrift wurde mit dem 1. StrRG vom 30.6.1969 (BGBl. I, S. 645) als § 33 ins StGB eingefügt. 383 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 33 f.; vgl. auch Nr. 3.2 GnO-RP. 384 Vgl. Schönke / Schröder, 13. Aufl. 1967, § 31 Rn. 8 (zur Amtsfähigkeit). 385 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 38 f. 386 LK-Hanack, Entstehungsgeschichte zu § 70a. 387 LK-Rissing-van Saan / Peglau, Entstehungsgeschichte zu 67e. 388 Die Vollzugslockerungen des StVollzG finden hier keine Anwendung, da das StVollzG in § 138 insoweit auf das Landesrecht verweist. 389 Vgl. etwa für Niedersachsen die Bekanntmachung des Justizministeriums vom 20.9.1968 (Niedersächsische Rechtspflege 1968, S. 222). Krit. hierzu Volckart, NStZ 1982, 496 (500), wonach es sich hier auch bei fehlender gesetzlicher Regelung nicht um Gnadenakte, sondern um „integrierte Bestandteile des Vollzuges“ handele. 390 Vgl. hierzu die Übersicht bei LK-Schöch, § 63 Rn. 188. 391 Vgl. z. B. § 9 MVollzG-RP. 392 BGBl. I, S. 1854.
F. Resümee85
dadurch begründet wird, dass neben der Jugendstrafe ein Jugendarrest gem. dem ebenfalls neu geschaffenen § 16a JGG verhängt wird (sog. „Warnschussarrest“393). Hierbei dürfte es sich allerdings lediglich formal um eine Ausweitung der gesetzlichen Alternativregelung nach § 21 Abs. 1 JGG handeln, da schwerlich Fälle denkbar sind, in denen eine günstige Legalprognose erst aufgrund der (zusätzlichen) Anordnung des Jugendarrests bestehen soll.394 Schließlich fanden auch bezüglich der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten einige Änderungen statt.395 Die insoweit letzte relevante Änderung erfolgte durch das Gesetz zur Reform des strafrechtlichen Wiederaufnahmerechts vom 9.7.1998396, wonach eine Wiederaufnahme auch dann zulässig ist, wenn die Verurteilung auf einer vom EGMR festgestellten Verletzung der EMRK samt Zusatzprotokollen beruht (§ 359 Abs. 1 Nr. 6 StPO).
F. Resümee I. Gewandeltes Verständnis von Gnade – Individualisierung durch Gesetz Die Entstehung und Fortentwicklung gesetzlicher Strafvergünstigungen zeugt von einem gewandelten Verständnis von Gnade und Gesetz. Ausgangspunkt hierfür war das Gnadenverständnis der Aufklärung: Die Gnade büßt hiernach ihr Wesen als Ausfluss unbeschränkbarer Souveränität ein. Sie ergeht nicht mehr ihrer selbst, sondern der Gerechtigkeit willen. Ihr wird nunmehr vielfach die Funktion zugewiesen, die Mängel des auf den Durchschnittsfall konzipierten abstrakt-generellen Gesetzes im Einzelfall zwecks Herstellung von Individualgerechtigkeit zu korrigieren. Vor diesem Hintergrund erlangt das individualisierte Strafgesetz Bedeutung: Denn kann die Individualgerechtigkeit bereits durch die Normanwendung hinreichend verwirklicht werden, bedarf es des Korrektivs „Gnade“ an sich nicht. Die rechtsphilosophische Forderung nach dem „verfeinerten“ Strafgesetz hat in der Rechtswirklichkeit ihren deutlichen Niederschlag gefunden. So wurden nach Gründung des Deutschen Kaiserreichs im RStGB und in der 393 MK-Radtke,
§ 21 JGG Rn. 23. § 21 Rn. 14; MK-Radtke, § 21 JGG Rn. 23. Durch die Möglichkeit des Jugendarrests neben der ausgesetzten Jugendstrafe dürfte sich die Lage des Verurteilten daher insgesamt eher verschlechtert haben. 395 Überblick bei LR-Gössel, Entstehungsgeschichte Vor § 359. 396 BGBl. I, S. 1802. 394 Eisenberg,
86
§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
RStPO Regelungen geschaffen, mit denen bereits bei der Gesetzesanwendung unbillige Härten vermieden werden sollten. Die entsprechenden Vorschriften beschränkten sich dabei nicht auf das die Anwendung des Begnadigungsrechts nach heutigem Verständnis nur mittelbar tangierende Erkenntnisverfahren, sondern sahen auch Vergünstigungen nach Rechtskraft des Urteils vor (vorläufige Entlassung nach §§ 23–26 RStGB; Vollstreckungsaufschub nach §§ 487, 488 RStGB). Die Strafrechtswissenschaft sah in den auf diesen gesetzlichen Grundlagen gewährten Vergünstigungen zunächst verbreitet Gnadenakte, die neben das weiterhin frei anwendbare allgemeine Begnadigungsrecht traten. Erst im Laufe der Zeit setzte sich die Erkenntnis durch, hierin ein von der Gnade zu trennendes gesetzliches Institut zu sehen. Die Frage, ob die Ausübung des Begnadigungsrechts aufgrund neu geschaffener gesetzlicher Regelungen eingeschränkt sein könnte, wurde – wenn sie denn überhaupt aufgeworfen wurde – zunächst durchweg verneint. Im Zuge der auch in der Weimarer Republik fortschreitenden Verrechtlichung ursprünglicher Gnadendomänen – zu denken ist hier an die Geldstrafengesetze von 1921 und 1923 und die Strafaussetzung im Jugendstrafrecht – wird die Frage nach dem Verhältnis von Gnade und Gesetz aufgeworfen. Dabei lassen sich verhaltene Stimmen registrieren, die sich in Anbetracht der gesetzlichen Strafvergünstigungen für eine eingeschränkte Handhabung der Gnade aussprechen. Ausdrücklich erwähnt wird das Verständnis einer nur nachrangig anwendbaren Gnade punktuell in der auch heute noch angewandten GnO 1935. Von einem generell für das Gnadenverfahren geltenden Vorrang der gesetzlichen Alternativregelungen gegenüber der Gnade konnte in der Rechtspraxis indes keine Rede sein. In der BRD setzt sich mit Implementierung der Strafaussetzung im allgemeinen Strafrecht im Jahr 1953, den Neuerungen durch die beiden StrRG im Jahr 1969 (Ausdehnung der [Rest‑]Strafaussetzung, „Absehen von Strafe“ nach § 60 StGB) und dem StVollzG die Verrechtlichung ehemaliger Gnadenbereiche fort. Ein weiterer Meilenstein war die gesetzliche Regelung der Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB). In diesem Zusammenhang wird auch im Gesetzgebungsverfahren kontrovers über das Schicksal der Gnade debattiert, ohne dass sich eine klare Auffassung feststellen lässt. Triebfeder für die Verrechtlichung ist dabei vielfach die steigende Bedeutung der Spezialprävention: Was zuvor als außerrechtlich erschien, weil es die persönlichen Belange des Verurteilten berücksichtigte, statt lediglich überpersönlichen Prinzipien zu dienen, wird zunehmend als mit dem Allgemeininteresse übereinstimmend angesehen.397 Hier zeigt sich, dass positive 397 Volckart,
NStZ 1982, 496.
F. Resümee87
Spezialprävention und Verrechtlichung der Gnade häufig miteinander einhergehen: Die Spezialprävention steht und fällt mit der Individualisierung,398 da sie sich der „Bekämpfung des Verbrechens durch individualisierende Einwirkung auf den Verbrecher“ verschreibt.399 Die Individualisierung durch das Gesetz wiederum führt regelmäßig zur Verrechtlichung der Gnade. Dies erklärt, warum die Verrechtlichung der Gnade wiederholt zunächst im Jugendstrafrecht einsetzte, wo dem Aspekt der positiven Spezialprävention bereits viel früher als im allgemeinen Strafrecht eine tragende Rolle zukam. Zweifelsfrei lässt sich feststellen, dass der Gnade infolge der weitreichenden Verrechtlichung in faktischer Hinsicht viel von ihrem früheren Anwendungsbereich genommen wurde,400 ohne dass es dabei zur Klärung der Frage kam, inwieweit diese Verrechtlichung den der Gnade verbleibenden Anwendungsbereich auch de lege lata verbindlich beschränkt.401
II. Gnade als Mittel der Kriminalpolitik Die Entwicklung des Begnadigungsrechts und der gesetzlichen Strafvergünstigungen zeigt, dass die Gnade immer wieder – in genereller Weise gewährt – als Mittel der Kriminalpolitik eingesetzt wurde und wird. Vielfach folgten einer solchen Gnadenpraxis gesetzliche Regelungen. So ging die vorläufige Entlassung nach §§ 23–26 RStGB – die Vorgängerregelung der heutigen Reststrafaussetzung (§ 57 StGB) – auf eine erfolgreiche Gnadenpraxis in Sachsen zurück. Gleiches gilt für die Strafaussetzung (§ 56 StGB): Hier wurde über Jahrzehnte hinweg flächendeckend die Gnade eingesetzt, um das Fehlen der gesetzlichen Strafaussetzung – wie sie sich in abgewandelter Form im Ausland bereits lange durchgesetzt hatte – zu kompensieren. Ein weiteres Beispiel bilden Vergünstigungen im Bereich des Strafvollzugs, welche bis zur Schaffung des StVollzG im Gnadenweg ge398 Engisch,
Die Idee der Konkretisierung, S. 217. ZStW 83 (1971), 663 (670) mit Verweis auf v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts, 21. u. 22. Aufl. Berlin 1919, S. 13. 400 Auf einem anderen Blatt steht die Frage, ob das Strafrecht neben der feststellbaren zunehmenden Individualisierung insgesamt milder geworden ist. Während BVerfGE 45, 187 (229) hiervon ausgeht, hat Hettinger bezüglich der Strafrahmen der Vergehen festgestellt, dass diese im RStGB vielmehr i. d. R. milder waren als heute (Hettinger, Schünemann-FS, S. 891 [899 f.]); für den Zeitraum von 1977 bis Ende 2013 konnte Hettinger „querbeet“ eine Verschärfung der Strafdrohungen feststellen (Hettinger, a. a. O., S. 902 f.). Siehe auch Müller-Dietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (153). 401 s. zur Frage, inwieweit sich aus der Entstehungsgeschichte und ratio legis einzelner gesetzlicher Alternativregelungen auf einen Vorrang gegenüber der Gnade schließen lässt, unter § 3 B. IV. 6. (S. 156 ff.). 399 Maiwald,
88
§ 1 Entstehung und Entwicklung des Nebeneinanders
währt wurden. Ferner war auch im Bereich der lebenslangen Freiheitsstrafe die (gesetzmäßige) Vollstreckung bis ans Lebensende die Ausnahme, Gnadenakte vielmehr die Regel. In all diesen Fällen kam der Gnade somit die Funktion einer Vorreiterrolle für eine spätere Verrechtlichung zu.402 Dass dem Begnadigungsrecht damit zugleich eine positive Wirkung für die Fortentwicklung des Strafrechts zuzuschreiben ist,403 darf jedoch bezweifelt werden: Eine Beschränkung der Gnade auf ihre eigentliche Aufgabe als Einzelfallinstrumentarium404 hätte den Gesetzgeber in der Vergangenheit womöglich bereits früher dazu bewogen, entsprechende gesetzliche Regelungen auf den Weg zu bringen. Denn während z. B. im ausgehenden 19. Jahrhundert im Ausland gesetzliche Regelungen zur Strafaussetzung „in der weitaus überwiegenden Mehrzahl der Staaten“ bestanden,405 begnügte man sich im deutschen Rechtsraum noch bis ins Jahr 1953 mit der massenweisen Gnadengewährung in Form der „bedingten Begnadigung“. Die in genereller Weise gewährte Gnade ist dabei kein Phänomen vergangener Zeiten, sondern auch vereinzelt noch heute zu beobachten. Beispiele bilden die weiterhin in den meisten Bundesländern alljährlich gewährten „Weihnachtsamnestien“ sowie die Praxis der gnadenweisen Verkürzung der Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach Belegung eines „Aufbauseminars“. Ob die Gnade in diesen Fällen ebenfalls eine Vorreiterrolle innehat, bleibt abzuwarten. Die generelle Gewährung der an sich als Einzelfallkorrektiv konzipierten Gnade illustriert, dass Wesen und Funktion der Gnade auch heute noch nicht abschließend geklärt zu sein scheinen. Vielmehr bestehen auch heute noch Unsicherheiten, wie das in das grundgesetzliche Rechtssystem integrierte – und damit de lege lata anwendbare – Begnadigungsrecht zu handhaben ist.
402 Vgl. auch Kodalle, Ebert-FS, S. 401 (415), wonach „das Gnadenrecht gegenüber dem positiven Recht avantgardistisch“ war, und schließlich „durch die Kodifizierungen des Gesetzgebers eingeholt“ wurde. 403 So z. B. Holste, Jura 2003, 738 (742: Gnade als „Schrittmacher für die Weiterentwicklung eines humanen Strafrechts“). 404 Hierzu näher unter § 4 A. I. (S. 196 ff.). 405 v. Liszt, in: Vergleichende Darstellung des deutschen und ausländischen Strafrechts III, S. 8.
§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht Im Folgenden werden die für die weitere Arbeit wesentlichen Punkte des geltenden Gnadenrechts dargestellt.1
A. Gegenstand und Wirkungen des Gnadenakts Eine formal-gesetzliche Regelung dazu, was Gegenstand des Begnadigungsrechts ist und welche Wirkungen von einem Gnadenakt ausgehen – als Oberbegriff kann vom „Inhalt“ der Gnadenentscheidung gesprochen werden –2 fehlt weitestgehend.3 Die insoweit bestehenden Grenzen ergeben sich aus dem Gewohnheitsrecht.4 Das BVerfG bestimmt den Inhalt der Gnadenentscheidung wie folgt: „Das Begnadigungsrecht, wie es das Grundgesetz in Art. 60 Abs. 2 kennt, besteht in der Befugnis, im Einzelfall eine rechtskräftig erkannte Strafe ganz oder teilweise zu erlassen, sie umzuwandeln oder ihre Vollstreckung auszusetzen.“5
Dies bedarf der Präzisierung. Zunächst beschränkt sich das Begnadigungsrecht nicht auf die Milderung von „Strafen“, sondern findet auch außerhalb des Strafrechts Anwendung.6 Im Bereich des Strafrechts können nur 1 Eine umfassende Darstellung des geltenden Gnadenrechts findet sich bei Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, sowie dem Nachfolgewerk Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht. 2 So die Terminologie bei Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 14 f., 33 ff., 67 ff. Anstelle des „Gegenstands“ wird auch vom „Anwendungsbereich“ des Begnadigungsrechts gesprochen (so z. B. Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 37 ff.). 3 Die einzige Ausnahme bilden §§ 1, 2 GnG-SL. 4 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 14 f., 33. Unzutreffend ist hingegen die Annahme, der Inhalt der Gnadenentscheidung ergebe sich aus den Gnadenordnungen (so aber Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 264). Die Gnadenordnungen geben zwar Hinweise auf die Verwaltungspraxis und damit auch auf eine gewohnheitsrechtliche Übung, aufgrund ihrer Natur als Verwaltungsvorschriften können sie indes keine verbindlichen Rechtssätze zum Inhalt des Begnadigungsrechts aufstellen (treffend Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 14 f.); näher zu den Gnadenordnungen unter § 2 C. I. (S. 96). 5 BVerfGE 25, 352 (358 – tragende Meinung). Siehe bereits in der Einleitung (S. 19). 6 s. bereits in der Einleitung (S. 20 mit Fn. 6).
90
§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht
die Rechtsfolgen der Verurteilung Gegenstand der Gnade sein; die gerichtliche Entscheidung selbst wird hingegen durch den Gnadenakt nicht aufgehoben.7 Nach h. M. sind auch Maßregeln der Besserung und Sicherung gnadenfähig,8 wobei insbesondere bei freiheitsentziehenden Maßregeln aufgrund des Sicherungszwecks (Schutz der Öffentlichkeit) der Ausnahmecharakter der Gnade besonders betont wird.9 Ferner kann Gnade auch in Bezug auf die Nebenfolgen nach § 45 StGB,10 den Verfall, die Einziehung und die Unbrauchbarmachung (§§ 73 ff. StGB)11 sowie bei Fahrverboten12 gewährt werden. Der Gnadenakt stellt als Verzicht auf die Vollstreckung des rechtskräftig festgestellten staatlichen Strafanspruchs13 ein Vollstreckungshindernis 7 Ganz h. M., vgl. z. B. Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 48 f. m. w. N.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 67. Anders aber Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 262, wonach auch die gerichtliche Entscheidung selbst aufgehoben werden könne, wenn es sich „um einen Fall einer aus Gründen der materiellen Gerechtigkeit absolut erforderlichen Korrektur handelt“; ähnlich Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (102); aus Gewaltenteilungsgründen zurecht krit. zu einer solchen Sicht hingegen Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 26. 8 Blaich, Gnadenrecht, S. 117; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 7. Siehe bereits unter § 1 D. II. 1. (S. 57 mit Fn. 216). Krit. Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (110), wonach die Gnade ihrem Wesen nach nur dazu dienen könne, zu „verzeihen“, nicht aber dazu, „gefährliche Elemente unkontrolliert walten zu lassen“. Für eine Differenzierung nach Art der Maßregel Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 28. 9 Vgl. Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 271; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 69 f. Dies kommt auch in einigen Gnadenordnungen zum Ausdruck (vgl. z. B. § 3 Abs. 2 S. 4 GnO 1935). 10 s. bereits unter § 1 E. II. 8. (S. 84). 11 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 70; siehe z. B. auch Nr. 2.1 S. 1 GnO-RP. 12 Sowohl bei nach § 44 StGB als auch bei nach § 25 StVG verhängten (siehe Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 269, 283). 13 So die heute herrschende „Verzichtstheorie“ (Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 9 f.; Schütte, UBWV 2007, 161 [166 f.]; Hess. StGH NJW 1974, 791 [792]; offengelassen von BVerfGE 25, 352 [361 – tragende Meinung]). Um die Wirkungen der Begnadigung zu beschreiben, werden weitere Theorien vertreten: Nach der „Befehlstheorie“ handele es sich beim Gnadenakt um einen Befehl, der die Befolgung des Gesetzesbefehls ganz oder teilweise verbietet oder an die Stelle der im Urteil ausgesprochenen Strafe eine andere, mildere Strafe setzt (Laband, Das Staatsrecht des deutschen Reiches III, S. 507 ff.). Nach der „Restitutionstheorie“ soll der Verurteilte durch den Gnadenakt so gestellt werden, als seien die Rechtsfolgen der Verurteilung nicht eingetreten (vgl. hierzu Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 78). Mickisch wiederum betont, dass die Begnadigung eine „Dispensation“ sei (Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 29 ff.). Da diesem Theorienstreit keine praktische Bedeutung zukommt (Blaich, Gnadenrecht, S. 26; Klein, Gnade, S. 59; Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 30) und die Theorien ohnehin nicht zwingend im
A. Gegenstand und Wirkungen des Gnadenakts91
dar.14 Da der Schuldspruch als solcher durch die Gnade nicht tangiert wird, bleiben auch das gefällte sozialethische Unwerturteil15 sowie Eintragungen im Bundeszentralregister16 bestehen. Seine volle Rehabilitation kann der Verurteilte nach erfolgter Begnadigung gem. § 361 Abs. 1 StPO analog im Wege der Wiederaufnahme des Verfahrens erreichen.17 Als Rechtsfolgen des Gnadenakts sind sämtliche Milderungsformen denkbar, auch solche, die das deutsche Strafrecht nicht kennt, wie den sofortigen Erlass, die Milderung oder die Umwandlung der Strafe (z. B. einer Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe18 oder lebenslanger Freiheitsstrafe in eine zeitige19). Ferner besteht auch ein nicht unerheblicher Anwendungsbereich in der gnadenweisen Gewährung von Strafausstand.20 Bei zu Freiheitsstrafe Verurteilten ist der sofortige vollständige oder teilweise Erlass der Strafe im Gnadenweg die Ausnahme. In aller Regel wird die (Rest‑)Strafe zunächst gnadenweise zur Bewährung ausgesetzt.21 Dementsprechend sehen die meisten Gnadenordnungen hierfür besondere Bestimmungen vor (z. B. die Erteilung von Auflagen und Weisungen sowie die Festsetzung einer Bewährungszeit).22 Die gnadenweise Strafaussetzung zur Bewährung kann widerrufen werden, wobei nach Ansicht des BVerfG insoweit die Widerrufsgründe des § 56f StGB entsprechend gelten.23 Anders als Widerspruch zueinander stehen (Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 35), wird auf eine nähere Darstellung verzichtet. 14 Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 9 f.; HK-Pollähne, § 452 Rn. 3. Bei nicht vollstreckungsfähigen Sanktionen werden die Folgen durch den Gnadenakt selbst beseitigt (Zipf / Laue, in: Maurach / Gössel / Zipf, AT II, § 76 Rn. 8). 15 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 38; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 48 f. 16 Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 19; Zipf / Laue, in: Maurach / Gössel / Zipf, AT II, § 76 Rn. 7. 17 LR-Gössel, Vor § 359 Rn. 113 m. w. N.; KK-StPO-Schmidt, § 361 Rn. 1. 18 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 67 f. 19 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 99; Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, S. 57. Vor Schaffung des § 57a StGB sah die Gnadenpraxis vielfach vor, nicht den Strafrest auszusetzen, sondern die Strafe in eine zeitige umzuwandeln (Kunert, NStZ 1982, 89 [92]). Insoweit weicht also § 57a StGB von der vormaligen Gnadenpraxis – welche die Norm ja verrechtlichen sollte (BVerfGE 45, 187 [243]) – ab. 20 Vgl. Heimann, StV 2001, 54 (58); Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 186; Volckart, NStZ 1982, 496 (497). 21 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 266, 362; Klein, Gnade, S. 10. Dass eine Strafrestaussetzung zur Bewährung im Gnadenweg möglich ist, wird von § 79a Nr. 2b) StGB und § 32 Abs. 2 Nr. 3 BZRG vorausgesetzt. 22 Vgl. z. B. §§ 27 ff. GnO-BW; §§ 25 ff. GnO-NW; Nr. 27 ff. GnO-RP. 23 BVerfG NJW 2013, 2414 (2415); ähnlich Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 288.
92
§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht
der Gnadenerweis selbst ist der Widerruf eines Gnadenerweises nach Ansicht des BVerfG ein „rechtlich gebundener Akt“, gegen den der Rechtsweg eröffnet ist.24 Durch den Widerruf wird die Rechtslage, die das Strafurteil geschaffen hat, wiederhergestellt.25 Erfolgt kein Widerruf, erlässt der Gnadenträger nach Ablauf der Bewährungszeit die Strafe bzw. den Strafrest;26 dabei handelt es sich um einen weiteren Gnadenakt.27
B. Gnadenkompetenz Das deutsche Gnadenrecht ist ganz überwiegend durch Gewohnheitsrecht geprägt. Einzig die Zuständigkeit für die Ausübung des Begnadigungsrechts ist flächendeckend formal-gesetzlich durch Bestimmungen über die Verbands- und Organkompetenz geregelt.
I. Verbandskompetenz Wie bereits im Kaiserreich und in der Weimarer Republik ist auch das Begnadigungsrecht in der BRD zwischen Bund und Ländern im Wege eines Exklusivitätsverhältnisses aufgeteilt. Eine diesbezügliche verfassungsrechtliche Bestimmung fehlt, denn Grundgesetz und Landesverfassungen bestimmen allein, wer innerhalb des Bundes oder jeweiligen Landes für Gnadenentscheidungen zuständig ist. Die Verbandskompetenz wird hingegen allein in § 452 StPO geregelt.28 Hiernach steht dem Bund das Begnadigungsrecht ausschließlich in solchen Sachen zu, in denen „im ersten Rechtszug in Ausübung von Gerichtsbarkeit des Bundes entschieden worden ist“ (§ 452 S. 1 StPO). Hierunter fallen allein solche Strafsachen, in denen die Oberlandesgerichte erstinstanzlich im Wege der Organleihe gem. Art. 96 Abs. 5 GG i. V. m. § 120 Abs. 6 GVG materiell als Bundesgerichte entscheiden.29 Dies betrifft 24 BVerfGE 30, 108 (111); BVerfG NJW 2013, 2414 (2416); zust. Muckel, JA 2013, 873 (874 f.). 25 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 74. 26 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 330. 27 Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe, S. 122. 28 Bachof, JZ 1983, 469 (473); Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 500; a. A. Holste Jura 2003, 738 (739: „Verfassungsgewohnheitsrecht“). 29 Entscheidend ist also allein die erstinstanzliche Zuständigkeit. Eine Sachentscheidung des BGH als Revisionsgericht gem. § 354 Abs. 1 StPO nach vorheriger Entscheidung durch Gerichtsbarkeit eines Landes führt damit nicht zur Begnadigungskompetenz des Bundes (Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 24 f.).
B. Gnadenkompetenz93
insbesondere bedeutsame Staatsschutzsachen.30 Entgegen der landläufigen Meinung ist die Begnadigungskompetenz des Bundes in Strafsachen31 somit erheblich beschränkt.32 Ihm bleiben nur wenige, jedoch regelmäßig die bedeutsamsten Fälle.33 In allen anderen Strafsachen steht den Ländern das Begnadigungsrecht zu (§ 452 S. 2 StPO). Innerhalb der Länder ist das Land zuständig, welches die Strafe (oder sonstige Sanktion) verhängt hat.34
II. Organkompetenz Innerhalb der ihnen zugewiesenen Verbandskompetenz sind Bund und Länder frei darin zu bestimmen, wer für die Gnadenentscheidung zuständig ist. Für den Bund regelt Art. 60 Abs. 2 GG, dass der Bundespräsident das Begnadigungsrecht ausübt. Er kann diese Befugnis auf andere Behörden übertragen (Art. 60 Abs. 3 GG), wovon mit der GnadenAO35 Gebrauch gemacht wurde. Danach behält sich der Bundespräsident in Strafsachen den Erlass und die Milderung von Strafen sowie Fälle von „außerordentlicher 30 s. hierzu den Katalog des § 120 Abs. 1 und 2 GVG. Dass es sich nur um die bedeutsamen Staatsschutzsachen handelt, folgt daraus, dass der Generalbundesanwalt Sachen von geringerer Bedeutung an die Landesstaatsanwaltschaft abgibt (§ 142a Abs. 2 und 4 GVG), wodurch die Bundeszuständigkeit entfällt (KK-StPOHannich, § 120 GVG Rn. 3). 31 Anders ist dies im Bereich beamtenrechtlicher Disziplinarsachen. So wurden von den letzten Bundespräsidenten deutlich mehr Disziplinar- als Strafgnadenentscheidungen getroffen (Carstens: 174:18; v. Weizsäcker: 256:40; Herzog: 90:21; Rau: 54:2; Köhler: 25:3; Wulff: 14:0), vgl. Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (130). Zur Anzahl von Gnadenentscheidungen der laufenden Amtsperiode erteilt das Bundespräsidialamt keine Auskunft (Pieper, Herzog-FS, S. 355). 32 Kett-Straub, GA 2007, 332 (344). Dies könnte sich allerdings in Zukunft mit Blick auf die neu eingeführten Tatbestände im Staatsschutzstrafrecht (§§ 89a, 89b, 91 StGB) ändern (Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 36; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [91]). 33 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 60; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 22. 34 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 24. Krit. dazu vor dem Hintergrund des Gleichheitssatzes Bachof, JZ 1983, 469 (473 ff.: „verfassungsrechtlich bedenklich“), der für eine Übertragung der Begnadigungskompetenz bei längeren Freiheitsstrafen auf den Bund de lege ferenda plädiert. 35 Anordnung über die Ausübung des Begnadigungsrechts des Bundes vom 5.10.1965 (BGBl. I, S. 1573), geändert durch Anordnung vom 3.11.1970 (BGBl. I, S. 1513).
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§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht
Bedeutung“ vor.36 Alle übrigen Fälle werden gem. Art. 2 Abs. 2 Nr. 1 GnadenAO auf den Bundesjustizminister übertragen. Da in der Praxis die Strafgnadenfälle des Bundes selten sind, ist regelmäßig ein Fall von „außerordentlicher Bedeutung“ anzunehmen, sodass es in der Regel bei der Zuständigkeit des Bundespräsidenten verbleibt.37 Hiervon unterscheidet sich die Rechtslage in den Ländern erheblich: Zwar steht das Begnadigungsrecht gem. der jeweiligen Landesverfassung regelmäßig dem Ministerpräsidenten und damit ebenfalls dem jeweiligen Staatsoberhaupt38 zu.39 Anders als im Bund wurde in den Ländern jedoch die Gnadenbefugnis in bedeutsamer Weise delegiert: So behalten sich die Ministerpräsidenten (bzw. die Senate, im Saarland die Landesregierung) das Begnadigungsrecht in der Regel40 nur bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten sowie mitunter in weiteren bedeutsamen Sachen vor. Für alle übrigen Fälle wurde die Gnadenbefugnis hingegen in sämtlichen Bundesländern an den jeweiligen Landesjustizminister (bzw. Justizsenator41) übertragen.42 Diese haben wiederum zum ganz überwiegenden Teil43 die Zuständigkeit für die Gnadenentscheidung für Fälle der leichteren und mittleren Krimina36 Vgl.
Art. 1 Nr. 1, Art. 2 Abs. 3 GnadenAO. Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 90. 38 Zur Eigenschaft der Ministerpräsidenten als „Staatsoberhaupte der Länder“ Delbrück, DÖV 1958, 353 ff. 39 Eine Ausnahme bilden die drei Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen, wo nach der Landesverfassung der Senat Träger des Begnadigungsrechts ist. Im Saarland bestimmt die Landesverfassung lediglich, dass die Ausübung des Begnadigungsrechts „durch Gesetz geregelt“ wird (Art. 93 S. 1). Eine solche Regelung wurde mit dem GnG-SL getroffen, wonach das Begnadigungsrecht in den bedeutsamsten Fällen durch die Landesregierung ausgeübt wird. 40 Ausnahme Bremen (dort nur „in Sachen von erheblicher politischer Bedeutung“). 41 Soweit im Folgenden der Begriff des „Justizministers“ verwendet wird, sind hiervon auch die Justizsenatoren umfasst. 42 Krit. Burger, in: Strafvollzug in Deutschland, S. 189 (196): „Der Ministerpräsident hat dies [sic] Recht längst an den Justizminister abgegeben, weil er meint, dies falle in den Bereich der Justiz und sei außerdem mit Arbeit verbunden, für die ein Ministerpräsident infolge Überlastung mit vermeintlich besserer Tätigkeit eben keine Zeit zu haben glaubt.“ Dass es in den Verfassungen von Bayern und Hamburg an einer dem Art. 60 Abs. 3 GG entsprechenden ausdrücklichen Delegationsermächtigung fehlt, wird als unschädlich erachtet (BayVerfGH BeckRS 2008, 37319 geht von einer „stillschweigenden Delegationsermächtigung“ aus; krit. Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 80 ff.). 43 Nicht in Berlin, Hamburg, im Saarland und in Schleswig-Holstein. In Nordrhein-Westfalen wurde die Gnadenbefugnis z. T. an eine am Landgericht eigens eingerichtete Gnadenstelle delegiert. Die Ansiedlung der Gnadenstelle am Gericht 37 Vgl.
B. Gnadenkompetenz95
lität den (General‑)Staatsanwaltschaften übertragen, welche regelmäßig befugt sind, nicht unerhebliche (Rest‑)Freiheitsstrafen im Gnadenweg zur Bewährung auszusetzen,44 (Rest‑)Geldstrafen zu erlassen und Maßregeln der Besserung und Sicherung abzumildern.45 Ferner haben sie vielfach die Befugnis, negative Gnadenentscheidungen auch bei schwerwiegenderen (Rest-)Strafen zu treffen.46 Dies hat zur Folge, dass Gnadenentscheidungen auf unterer Ebene – insbesondere durch die Staatsanwaltschaften – die Regel sind,47 wo sie als durch Gnadenordnungen geregeltes Alltagsgeschäft erlebt werden.48 Mit der Idee von Gnade als einem Akt, der von einem mit besonderem „Charisma“49 Berufenen gewährt wird, hat dies nicht mehr viel gemein.50 Die Gnadenentscheidung wird hierdurch vielmehr zur „kleinen Münze“.51
führt jedoch nicht dazu, dass es sich hierbei um einen Teil der Judikative handelt. Vielmehr ist die Gnadenstelle Teil der Justizverwaltung und damit der Exekutive (Freuding, StraFo 2009, 491 [492]). 44 So etwa in Hessen, Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bei (Rest‑) Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren (§ 17 GnO-HE; § 4 GnO-NI; § 7 GnO-ST; § 19 GnO-TH), in Bayern, Brandenburg, Bremen und Rheinland-Pfalz bei (Rest‑) Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr (§ 16 GnO-BY; § 5 GnO-BB; § 5 GnO-HB; Nr. 18 GnO-RP), in Baden-Württemberg bei (Rest-)Freiheitsstrafe von bis zu sechs Monaten (§ 6 GnO-BW). 45 Etwa die Sperrfrist für die Erteilung der Fahrerlaubnis (§ 69a StGB) abzukürzen (vgl. exemplarisch § 16 GnO-BY). 46 So etwa in Baden-Württemberg, Bayern, Bremen, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Sachsen und Sachsen-Anhalt (§ 6 GnO-BW; § 16 GnO-BY; § 5 GnO-HB; § 3b GnO-MV; § 4 GnO-NI, § 6 GnO-SN; § 7 GnO-ST). Dazu König, Grundrechtsbindung, S. 84: „Es ist dies eine dem Verwaltungsrecht sonst fremde Entscheidung, dass eine Behörde, die zu einer positiven Entscheidung nicht zuständig ist, eine negative erlassen kann.“ 47 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 200. 48 LR-Böttcher, Vor § 12 GVG Rn. 13; vgl. auch Klein, Gnade, S. 34 ff. 49 So Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (118). Der Begriff „Charisma“ stammt etymologisch aus dem Griechischen und bedeutet „Gnadengabe“ bzw. „aus Wohlwollen gespendete Gnade“ (Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 54 f.). 50 König, Grundrechtsbindung, S. 85; Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (36, 43 f.). Vgl. auch Burger, in: Strafvollzug in Deutschland, S. 189 (196): „Echte Gnade kann nur gewährt werden durch eine überragende Persönlichkeit. War dies früher der König, der Fürst, das Staatsoberhaupt, so muß dies auch heute der Ministerpräsident persönlich sein.“ 51 Viel beachtete Bezeichnung nach Dürig, JZ 1961, 166; zust. Schenke, JA 1981, 588 (592).
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§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht
C. Gnadenverfahren I. Vorbemerkung: Wesen und Bedeutung der Gnadenordnungen Formal-gesetzliche Regelungen zum Gnadenverfahren gibt es – außer im Saarland – nicht.52 In Zeiten, in denen das Begnadigungsrecht als „Vorrecht der Exekutive“ angesehen wurde, entsprach es ohnehin dem Selbstverständnis des Gnadenträgers, hierzu – wenn überhaupt – eigene Anordnungen zu erlassen. So wurde z. B. Ende des 19. Jahrhunderts das Prozedere der bedingten Begnadigung im Verordnungsweg geregelt.53 Während der Weimarer Republik knüpfte man daran an, es ergingen verschiedene das Begnadigungsrecht betreffende Erlasse.54 In der Folge wurde das Verfahren in Gnadensachen durch die sog. Gnadenordnungen geregelt. Im Geltungsbereich des Begnadigungsrechts des Bundes wird auch heute noch die vom Reichsminister der Justiz erlassene GnO 1935 sinngemäß angewendet.55 Die Länder haben eigene Gnadenordnungen durch ihre jeweiligen Justizminister erlassen.56 Die verschiedenen Gnadenordnungen beinhalten vorwiegend formelle Regelungen,57 zum Teil aber auch materielle Voraussetzungen für einen Gnadenerweis.58 Bei den Gnadenordnungen handelt es sich um Verwaltungsvorschriften.59 Sie wirken daher lediglich verwaltungsintern,60 sodass der Bürger aus ihnen 52 Die Anwendbarkeit des VwVfG auf Gnadenverfahren entfällt – hält man die Gnadenverfahren überhaupt für eine „Verwaltungstätigkeit“ i. S. d. VwVfG – in Strafsachen nach § 2 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG (Knack / Henneke-Henneke, § 35 Rn. 36; vgl. auch Kopp / Ramsauer, § 2 Rn. 21). 53 s. unter § 1 B. I. 2. (S. 36). 54 Vgl. z. B. die AV. d. PrJM, siehe dazu unter § 1 C. I. 2. (S. 48). 55 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 100; Kett-Straub, GA 2007, 332 (344). Siehe zur GnO 1935 bereits unter § 1 D. I. 2. (S. 54). 56 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 13. 57 Insbesondere über die Zuständigkeit für Gnadenentscheidungen, den Verfahrensablauf und die Form eines Gnadenerweises. 58 Vgl. z. B. Nr. 4 GnO-RP: „Gnadenerweise haben Ausnahmecharakter. Sie dienen insbesondere dazu, Unbilligkeiten bei nachträglich bekanntgewordenen oder eingetretenen allgemeinen oder persönlichen Umständen auszugleichen. Auch rechtliche Gründe können eine Änderung oder Milderung der Rechtsfolgen gebieten. Ein Gnadenerweis kommt nicht in Betracht, wenn die Rechtsordnung unerträglich verletzt würde.“ Näher dazu unter § 2 C. III. 2. (S. 104). 59 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 13. Zumindest missverständlich Holste (Jura 2003, 738 [739]), wonach die in Berlin als „Allgemeine Verfügung“ überschriebene Gnadenordnung eine „Allgemeinverfügung“ darstelle. Gnadenordnungen fehlt es indes an einer unmittelbaren Außenwirkung (Merten, Rechtsstaat-
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unmittelbar keine Rechte ableiten kann.61 Der einzelne am Gnadenverfahren beteiligte Verwaltungsbedienstete hat jedoch kraft seiner dienstrechtlichen Gehorsamspflicht die Verwaltungsvorschriften zu beachten und anzuwenden.62 Die Gnadenordnungen sorgen somit trotz fehlender formal-gesetzlicher Regelungen für eine gewisse Regelhaftigkeit im Gnadenverfahren.63 Aufgrund des Umstands, dass es sich bei den Gnadenordnungen um vom jeweiligen Justizressort erlassene Verwaltungsvorschriften handelt, können die Gnadenordnungen von vornherein nur insoweit gelten, als dem Justizminister Tätigkeiten im Bereich des Gnadenrechts übertragen sind. Dies betrifft somit den Bereich, in welchem entweder der Justizminister selbst oder ihm nachgeordnete Behörden für die Gnadenentscheidung zuständig ist sowie die vorbereitende Tätigkeit bei Gnadenentscheidungen des Ministerpräsidenten (sofern eine solche im jeweiligen Bundesland vorgesehen ist64). Die Ministerpräsidenten selbst werden durch die Gnadenordnungen hingegen nicht gebunden,65 mögen die Gnadenordnungen in der Praxis auch von den Ministerpräsidenten berücksichtigt werden.66 Streng genommen gelten sie nicht lichkeit und Gnade, S. 76), welche für Allgemeinverfügungen gem. § 35 Abs. 1 S. 2 VwVfG erforderlich ist. Ferner stellt die GnO-BE selbst in § 16 Abs. 1 klar, dass es sich um Verwaltungsvorschriften handelt. 60 BVerfGE 25, 352 (361 – tragende Meinung); Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (104). 61 Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 76. Denkbar ist allein eine mittelbare Wirkung durch die auf Grundlage der Gnadenordnungen erfolgende Verwaltungspraxis nach den Regeln der Selbstbindung der Verwaltung (vgl. auch unter § 3 B. IV. 2. [S. 136 mit Fn. 174]). 62 H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 16. 63 Damit sind freilich die verfahrensrechtlichen Probleme nicht behoben, vgl. BVerfGE 45, 187 (245 f. [bezüglich der Begnadigung von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter]): „Die Begnadigung ergeht in einem internen Verfahren, das keine justizförmigen Garantien kennt. Die Gnadenpraxis der Länder läßt zwar die große Sorgfalt erkennen, mit der die Gnadenentscheidungen vorbereitet werden. Dennoch bestehen im Verfahren und in der Bestimmung des Entlassungszeitpunktes erhebliche Unterschiede, ohne daß die Gründe dafür einer Nachprüfung zugänglich sind.“ Siehe auch v. Mayenburg, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 33 (71): „[Der Begnadigung] mangelt es vollständig an Verfahrensgerechtigkeit.“ Für die Geltung von Verfahrensgarantien im Gnadenverfahren de lege lata aber Hömig, DVBl. 2007, 1320 (1332). 64 Vgl. z. B. für Nordrhein-Westfalen Art. 6 des Erlasses des Ministerpräsidenten über die Ausübung des Rechts der Begnadigung vom 12.11.1951 (GVBl. NW, S. 141). 65 Vgl. auch Klein, Gnade, S. 40. 66 So bezüglich der GnO-BW Pflieger, ZRP 2008, 84 (86 mit Fn. 25). Anders (Gnadenordnungen auch für Ministerpräsidenten bindend) Blaich, Gnadenrecht, S. 51. Ihre Begründung, wonach die Gnadenordnungen andernfalls „hinfällig“ seien (a. a. O.), leuchtet indes nicht ein, betrifft das den Ministerpräsidenten vorbehaltene
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§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht
einmal für den Justizminister selbst, binden Verwaltungsvorschriften doch nur nachgeordnete, weisungsgebundene Behörden und Beamte.67 Obwohl das Gnadenrecht insgesamt von Intransparenz gekennzeichnet ist,68 sind sämtliche Gnadenordnungen veröffentlicht69 und bilden damit eine wichtige Erkenntnisquelle hinsichtlich der praktischen Handhabung der Gnadensachen.70 Die Vorstellung von Gnade als einem überrechtlichen „Wunder“71 wird durch die von den Gnadenordnungen selbst geschaffene Regelhaftigkeit widerlegt.72
II. Ablauf des Gnadenverfahrens Da die Gnadenordnungen über die Ländergrenzen hinweg gleichartig oder ähnlich sind,73 lässt sich der wesentliche Ablauf eines Gnadenverfahrens in Deutschland einheitlich wie folgt beschreiben: Das Gnadenverfahren wird in der Regel auf Antrag des Verurteilten eingeleitet.74 Gnadengesuche sind an keine Frist gebunden und bedürfen keiner Form, können also auch mündlich erfolgen.75 Sie hemmen die Strafvollstreckung grundsätzlich nicht.76 Begnadigungsrecht zahlenmäßig ohnehin nur einen winzigen Ausschnitt. Pieper weist darauf hin, dass für Gnadenverfahren des Bundespräsidenten keine Gnadenordnung [auch nicht die GnO 1935] gilt (siehe auch § 2 Abs. 1 S. 1 GnO 1935); jedoch habe die Staatspraxis hier ein Verfahren geprägt, das dem in den Ländern ähnele (Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [107 f.]). 67 Vgl. Klein, Gnade, S. 83; H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 16. 68 So gibt es z. B. kaum statistisches Material; Anfragen an die Gnadenbehörden werden vielfach wenig aussagekräftig beantwortet (Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 137 f.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 185 f.). 69 Vgl. etwa den Anhang bei Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht (S. 207 ff.). 70 A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 149. 71 Vgl. das Zitat von Radbruch auf S. 19 in Fn. 2. 72 Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (43 f.); vgl. auch Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 79. 73 Bung, MschrKrim 2002, 282; Burger, in: Strafvollzug in Deutschland, S. 189 (194 f.). Dies erklärt sich daraus, dass sie sich an der GnO 1935 orientieren (Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [104]). 74 LR-Graalmann-Scheerer, § 452 Rn. 9. Denkbar ist auch ein Antrag eines Dritten oder eine Einleitung von Amts wegen (Klein, Gnade, S. 22; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 58 ff.). 75 Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 28; Wiontzek, Handhabungen und Wirkungen des Gnadenrechts, S. 58.
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Fast sämtliche Gnadenordnungen sehen vor, dass die mit dem Gnadengesuch befasste Stelle zunächst zu prüfen hat, ob die begehrte Vergünstigung auch auf gesetzlichem Weg „in Betracht kommt“.77 Ist dies der Fall, gibt sie das Gesuch – ohne dass es zu einer inhaltlichen Entscheidung über die Gnadenfrage kommt – an das für die gesetzliche Entscheidung zuständige Gericht oder die zuständige Behörde ab, wodurch das Gnadenverfahren in der Regel beendet wird.78 An dieser Hürde scheitern in der Praxis nicht wenige Gnadengesuche.79 In einigen Gnadenordnungen ist jedoch vorgese76 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 167 f. Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 80. Das bis ins Jahr 2014 in Berlin geltende gegenteilige Regel-Ausnahme-Verhältnis (grundsätzliche Hemmung) wurde durch die am 10.6.2014 neu in Kraft getretene GnO-BE umgekehrt: Nunmehr grundsätzlich keine Hemmung (Ausnahme etwa bei der Vollstreckung einer erstmalig verhängten Geldstrafe – vgl. § 5 GnO-BE). 77 s. zu den einzelnen Bestimmungen aus den Gnadenordnungen unter § 3 B. II. (S. 132 f.). 78 Insoweit geht die Terminologie auseinander: Nach LR-Graalmann-Scheerer § 452 Rn. 8 sei bereits vor Einleitung eines Gnadenverfahrens zu prüfen, ob die im Gnadenweg angestrebte Vergünstigung auch auf gesetzlichem Weg gewährt werden kann. Hiernach käme es also erst gar nicht zur Einleitung eines Gnadenverfahrens. Ebenso § 5 Abs. 3 GnG-SL. Demgegenüber sei nach Birkhoff (in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 25) ein Gnadenverfahren in diesen Fällen „unzulässig“. Wieder anders Freuding, StraFo 2009, 491 (493), wonach das Gnadenverfahren bei in Betracht kommender gesetzlicher Alternativregelung „abgelehnt“ werde. Sofern keine ausdrückliche gesetzliche Regelung – wie § 5 Abs. 3 GnG-SL – besteht, liegt es nahe, die Frage, ob es sich begrifflich bereits um ein Gnadenverfahren handelt, aufgrund der Nähe des Gnadenverfahrens zu sonstiger Verwaltungstätigkeit nach den im Verwaltungsrecht geltenden allgemeinen Grundsätzen zu bestimmen. Hiernach richtet sich der Beginn des Verwaltungsverfahrens nach dem Zeitpunkt, in dem die auf die Prüfung der Voraussetzungen gerichtete und nach außen wirkende Tätigkeit der Behörde beginnt (Stelkens / Bonk / Sachs-Schmitz, § 9 Rn. 105 m. w. N.). Da die Nichteinschlägigkeit einer gesetzlichen Alternativregelung eine Voraussetzung für eine Gnadenentscheidung ist (dazu näher unter § 3 B. IV. [S. 134 ff.]) und der Gnadesuchende über die Abgabe an die gesetzliche Stelle beschieden wird (Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 150) – die behördliche Tätigkeit also Außenwirkung entfaltet –, handelt es sich richtigerweise also auch bei Verweis auf den gesetzlichen Weg zuvor um ein „Gnadenverfahren“, welches durch die Abgabe an das Gericht bzw. die zuständige Behörde beendet wird (so im Ergebnis auch Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 141, 150; wohl auch Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 56). Dies entspricht auch der im allgemeinen Verwaltungsrecht grundsätzlich geltenden Regelung, wonach ein Verfahren beendet werden muss, wenn sich im Laufe des Verfahrens herausstellt, dass ein besonderes Verfahren von einer anderen Behörde durchzuführen ist (dazu Stelkens / Bonk / Sachs-Schmitz § 9 Rn. 148, 199). 79 Freuding, StraFo 2009, 491 (493). In Nordrhein-Westfalen endete das Gnadenverfahren durch Herbeiführung einer gerichtlichen Entscheidung, die dem Ziel des Gnadenverfahrens entsprach, im Jahr 2007 in 143 von 3.744 Verfahren, 2008 in 110 / 3.312, 2009 in 112 / 3.066, 2010 in 75 / 2.994 und 2011 in 87 / 2.783 Verfahren (vgl. Harden, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 75 [87]).
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hen, dass ein Verweis auf den „gesetzlichen Weg“ dann nicht stattfindet, wenn ausdrücklich eine Entscheidung im Gnadenweg begehrt wird.80 Wurde das Gnadenverfahren aufgrund der vorrangigen gesetzlichen Regelung beendet und bleibt das gesetzliche Verfahren (zumindest teilweise) erfolglos, kann der Verurteilte ein erneutes Gnadenverfahren anstrengen, in welchem sich dann die Frage des Vorgehens gesetzlicher Alternativregelungen in aller Regel nicht mehr stellt.81 Kommt hingegen von vornherein keine gesetzliche Alternativregelung in Betracht, hat die Gnadenbehörde82 grundsätzlich83 Ermittlungen insbesondere zum strafrechtlichen Vorleben sowie den persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen des Verurteilten aufzunehmen.84 Ferner werden regelmäßig Stellungnahmen anderer Stellen – etwa des erkennenden Gerichts oder des Leiters der Vollzugsbehörde – eingeholt.85 Ist der Ministerpräsident bzw. der Senat oder der Justizminister zuständiger Gnadenträger, gibt die Gnadenbehörde eine Stellungnahme ab und bereitet die Gnadenentscheidung vor.86 Bei Gnadenakten des Bundespräsidenten besteht die Besonderheit, dass diese nach h. M. gem. Art. 58 S. 1 GG vom Bundesjustizminister gegenzu80 Vgl. § 14 Abs. 1 S. 3 GnO-BW; § 5 Abs. 5 GnO-BY; § 12 Abs. 2 GnO-BB; § 4 Abs. 3 GnO-MV; § 10 Abs. 2 S. 1 GnO-NW; Nr. 9 Abs. 1 S. 4 GnO-RP; § 4 Abs. 3 GnO-SH. 81 s. dazu näher unter § 4 B. III. 1. (S. 225 ff.). 82 Der Begriff „Gnadenbehörde“ bezeichnet diejenige Stelle, die in Gnadensachen die Ermittlungen vornimmt. Dies ist i. d. R. die Vollstreckungsbehörde (Bachof JZ 1983, 469 [470 mit Fn. 5]; vgl. auch § 4 Abs. 1 i. V. m. § 7 Abs. 1 GnO 1935), also die Staatsanwaltschaft (§ 451 StPO) oder – in Jugendsachen – der Jugendrichter (§ 82 JGG). Der Begriff kann irreführend sein, da es zum einen keine eigenen Behörden für Gnadensachen gibt (Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 167), und er zum anderen nichts darüber aussagt, wer für eine Gnadenentscheidung zuständig ist (Bachof, a. a. O.). Da jedoch die meisten Gnadenordnungen und auch vielfach die gnadenrechtliche Literatur den Begriff der „Gnadenbehörde“ gebrauchen, wird er auch in der vorliegenden Arbeit verwendet. 83 Eine Ausnahme von der Ermittlungspflicht besteht bei von vornherein offenkundig aussichtslos erscheinenden Gesuchen (Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 63, 70; vgl. auch § 11 Abs. 1 S. 2 GnO-BY). 84 LR-Graalmann-Scheerer, § 452 Rn. 12; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 70. 85 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 175 ff.; LR-Graalmann-Scheerer, § 452 Rn. 12. Entgegen der damaligen Praxis forderte Kulemann bereits im Jahr 1916, vor jeder Gnadenentscheidung stets eine Stellungnahme des erkennenden Gerichts einzuholen, da ein Gnadenerweis grundsätzlich nur ergehen dürfe, wenn anzunehmen ist, „daß der Richter, der das Urteil erlassen hat, dies nicht getan haben würde, wenn er unabhängig von dem Gesetze gewesen wäre oder die nachträglich hervorgetretenen Umstände gekannt hätte“ (Kulemann, DJZ 1916, 499 [503]). 86 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 202.
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zeichnen sind.87 In den Ländern besteht dieses Erfordernis nicht, denn dort tragen Ministerpräsidenten und Justizminister selbst die politisch-parlamentarische Verantwortung für Gnadenerweise.88 Die Gnadenentscheidung wird nicht begründet.89 Die Gnadenvorgänge unterliegen grundsätzlich nicht dem Akteneinsichtsrecht.90 Nach ganz h. M. setzt ein Gnadenerweis nicht die Zustimmung des Verurteilten voraus.91 Ein förmlicher Rechtsbehelf gegen ablehnende Gnadenentscheidungen besteht nicht.92 Die meisten Gnadenordnungen sehen jedoch die Möglichkeit vor, formlos „Einwendungen“ bzw. eine „Beschwerde“ gegen ablehnende Gnadenentscheidungen der Staatsanwaltschaft zu erheben; hierüber hat in der Regel der Justizminister zu entscheiden.93 87 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 166; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (94 ff.), der jedoch einen Anspruch des Bundespräsidenten auf Gegenzeichnung annimmt; ähnlich v. Mangoldt / Klein / Starck-Fink, Art. 60 Rn. 33 („auf Fälle politischer Untragbarkeit“ reduziertes Ermessen); Münch / Kunig-v. Arnauld, Art. 60 Rn. 15 („Ermessen zur Gegenzeichnung … stark reduziert“); krit. zur Gegenzeichnungspflicht in Gnadensachen Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 87 ff.; Flor, EVKOMM 4 / 89, 31 (32). 88 Holste, Jura 2003, 738 (739). 89 Wiontzek, Handhabungen und Wirkungen des Gnadenrechts, S. 63. Krit. (Verstoß gegen Art. 19 Abs. 4 GG) Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 188 f. Auf die tatsächliche Unmöglichkeit einer Begründung verweisend Huba, Der Staat 1990, 117 (121 f.) sowie Hess. StGH BeckRS 1982, 06103: „Jede Gnadenentscheidung, mag sie positiv oder negativ ergehen, hängt von vielschichtigen Erwägungen ab, die in all ihren Verästelungen nie vollständig dargestellt werden können. Das hat zur Folge, daß jede Benennung von Gründen zwangsläufig unvollständig sein muß, ja, daß sogar die Gewichte der einzelnen Teilgründe unzulässig verschoben werden könnten, wenn nur ein Teil dieser Gründe dargelegt, ein anderer Teil aber nicht genannt würde.“ 90 Eine Ausnahme gilt in Berlin und im Saarland für bevollmächtigte Rechtsanwälte (§ 14 Abs. 1 GnO-BE bzw. § 11 Abs. 2 GnG-SL), wobei hiervon wiederum die der Gnadenentscheidung zugrunde liegenden Erwägungen ausgeschlossen sind. Eine weitere Ausnahme besteht für ärztliche Gutachten, soweit sie Grundlage der Gnadenentscheidung sind (vgl. Wiontzek, Handhabungen und Wirkungen des Gnadenrechts, S. 60: „gewohnheitsrechtlich anerkannt“). Krit. zum fehlenden Akteneinsichtsrecht Blaich, Gnadenrecht, S. 261 f. 91 BVerfG NStZ 2001, 669; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 41 („allgemeine Meinung“); anders aber Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (108). Im gemeinrechtlichen Strafrecht war dies – außer bei Leibes- und Lebensstrafen – noch anders (v. Mayenburg, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 33 [64]). 92 s. zur fehlenden Justiziabilität von Gnadenentscheidungen unter § 3 A. II. (S. 110). 93 Vgl. z. B. § 21 GnO-NW („Einwendungen“); Nr. 41 GnO-RP („Beschwerde“); Überblick zu den einzelnen Regelungen bei Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 438 ff.
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III. Gnadengründe der Gnadenpraxis 1. Vorbemerkung Grundgesetz und Landesverfassungen bestimmen zwar den Gnadenträger, schweigen aber dazu, unter welchen materiellen Voraussetzungen (auch: „Gnadenmotivationen“, „Gnadengründen“) ein Gnadenerweis ergehen kann.94 Auch einfach-gesetzliche Vorschriften zu den materiellen Voraussetzungen für den Erlass eines Gnadenakts sucht man vergebens.95 Nach Ansicht des BVerfG darf eine diesbezügliche formal-gesetzliche Festlegung auch gar nicht erfolgen: Das Grundgesetz stehe einer Aufstellung gesetzlicher Voraussetzungen für einen Gnadenerweis entgegen, „da dies eine Bindung und Beschränkung bedeuten würde, die nach der unbedingten Übertragung des Begnadigungsrechts auf den Bundespräsidenten – in den Ländern auf die Landesregierung oder den Ministerpräsidenten – nicht zulässig wäre“.96 Ungeachtet der Frage nach der Richtigkeit dieser These97 kann gleichwohl der Versuch unternommen werden, die denkbaren Gnadenmotivationen zu kategorisieren. Die in der Literatur hierzu herangezogenen Kategorien sind unterschiedlich: Teils wird eine Unterscheidung zwischen „echter“ und „korrigierender 94 Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (97 f. [zum GG]); Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (35). 95 Irrig geht Müller-Dietz (in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 [159]) davon aus, dass in Rheinland-Pfalz materielle Voraussetzungen für Gnadenakte gesetzlich geregelt seien. Formal-gesetzlich geregelt ist allein die Zuständigkeit (vgl. das Landesgesetz über die Ausübung des Gnadenrechts vom 2.3.1998 [GVBl. RP, S. 29]); materielle Voraussetzungen finden sich hingegen nur in der Gnadenordnung (Nr. 4 GnO-RP). 96 BVerfGE 25, 352 (361 – tragende Meinung); krit. Bettermann, AöR 96 (1971), 528 (538). Ähnlich hingegen BVerwG JZ 1983, 495 (497); BayVerfGH BeckRS 2008, 37319: „Auf die Ausgestaltung des Gnadenwesens sowohl in inhaltlicher als auch in organisatorischer Hinsicht hat der Gesetzgeber keinen Zugriff.“; Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 319 ff. 97 Es stellte sich in der Tat die Frage, ob infolge einer Aufstellung von Gnadengründen per Gesetz noch von „Gnade“ gesprochen werden könnte, stellt die Gnade doch gerade ein Korrektiv zum Gesetz dar. Vgl. auch Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 65: „[W]ürde Gnade in Gesetzesform gegossen werden, wäre es keine Gnade mehr. Mit Regeln schafft man Recht.“; Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht, S. 131 (145 f.). Noch weitergehend Burger, in: Strafvollzug in Deutschland, S. 189 (191): „Die Gnade ist zu einer Rechtsinstitution geworden und verdient daher das Postulat Gnade eben nicht mehr… Die Gnade im eigentlichen Sinne gibt es nicht mehr. Es gibt nur ein recht schwieriges, kompliziertes und in vielen verschiedenen Gesetzen festgelegtes Gnadenrecht, indem [sic] sich selbst der erfahrene Praktiker kaum noch zurechtfindet.“
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Gnade“ vorgeschlagen,98 teils wird zwischen „rationaler“ und „irrationaler Gnade“ differenziert.99 Weyde unterscheidet zwischen Gnadenmotivationen aus Rechtsgründen (insbesondere Fehlurteil, Gesetzesänderung), aus in der Person des Verurteilten liegenden Gründen oder aus öffentlichem Interesse.100 Da im vorliegenden Kapitel das geltende Gnadenrecht dargestellt wird, werden im Folgenden aus rechtstatsächlicher Perspektive die von der Gnadenpraxis für einen Gnadenerweis als erforderlich erachteten Gründe betrachtet. Zwar fehlt es insoweit an Statistiken. Hier liefern jedoch insbesondere die Gnadenordnungen Anschauungsmaterial. Auch wenn die Gnadenordnungen in erster Linie den Ablauf des Gnadenverfahrens regeln – materielle Kriterien bezüglich Gnadenentscheidungen die Ausnahme sind –,101 stellen einige Gnadenordnungen – im Widerspruch zur vielfach behaupteten These von der „Unnormierbarkeit“ der Gnade102 – auch inhaltliche Richtlinien für die Erteilung von Gnadenerweisen auf,103 was einen Rückschluss auf die rechtstatsächliche Handhabung ermöglicht.104
98 So Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 22 ff.; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (102 ff.), wobei diese Begriffsbestimmungen unterschiedlich verstanden werden: Geerds fasst unter den Begriff der echten Gnade das ursprüngliche, historisch gewachsene Gnadenverständnis (etwa in Form „fürstlichen Großmuts“), wohingegen der Gnadenträger durch korrigierende Gnade „eine vollkommenere Gerechtigkeit zu verwirklichen trachtet“ (Geerds, a. a. O., S. 23). Nach Pieper führten hingegen echte Gnadenentscheidungen zur Milderung oder Aufhebung einer an sich „rechtmäßigen Bestrafung“ (etwa bei nachträglichen Änderungen der persönlichen Verhältnisse des Verurteilten), während korrigierende Gnadenerweise ein „falsches“ Urteil aufhebten bzw. die Folgen einer „ungerechten“ Strafe milderten. Wieder anders Bachof, JZ 1983, 469 (470), der die Bezeichnung „echte Gnade“ verwendet, um von den gesetzlichen Alternativregelungen abzugrenzen. Krit. zur Unterscheidung zwischen echter und korrigierender Gnade Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 85. 99 In dieser Richtung z. B. Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 67 ff. 100 Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 22 ff. Weitere Ansätze in der Literatur bei Blaich, Gnadenrecht, S. 183 ff.; Klein, Gnade, S. 12 ff.; Mickisch, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 80 ff.; Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (36 ff.); Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 80 ff.; Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 48 ff. 101 Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (104). 102 Vgl. BT-Drucks. 7 / 1171, S. 6, wonach sich Gnade nicht „in Richtlinien pressen“ lasse; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 75 f.; BVerwG JZ 1983, 495 (497). 103 So die Gnadenordnungen von Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt. 104 Vgl. auch Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 84 („brauchbare Arbeitshilfen für die Gnadenbehörden“); krit. aber Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 214 („allenfalls Anhaltspunkte“).
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§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht
Nun lassen sich aber ersichtlich die Gnadengründe rechtlich nicht durch Berufung auf die Praxis ableiten.105 Die Frage, ob nicht – losgelöst von den Gnadenordnungen und der damit verbundenen Praxis – einheitlich bestimmt werden kann, unter welchen inhaltlichen Voraussetzungen ein Gnadenerweis erfolgen kann, ob diese Gnadengründe überhaupt de lege lata bestehen oder es sich nicht vielmehr um rechtlich unverbindliche Kategorisierungen handelt, hängt unter anderem von der noch zu untersuchenden Frage ab, ob die Gnade überhaupt rechtlichen Schranken unterworfen werden kann. Sie wird daher erst im späteren Verlauf der Arbeit behandelt werden.106 2. Begnadigungsrichtlinien in den Gnadenordnungen Die in den verschiedenen Gnadenordnungen genannten Gnadengründe sind fragmentarisch, die Formulierungen der einzelnen Gnadenordnungen unterschiedlich. Eine eigentliche Systematisierung findet in den Gnadenordnungen nicht statt.107 Neben allgemeinen Voraussetzungen („Richtlinien“), unter denen ein Gnadenerweis erteilt werden darf, bestehen zum Teil besondere Richtlinien für spezielle Vergünstigungen.108 Trotz dieser Unterschiede lässt sich bei Betrachtung der verschiedenen Gnadenordnungen zwischen Gnadenerweisen aus tatsächlichen und aus rechtlichen Gründen unterscheiden: Was die tatsächlichen Gründe angeht, dienen Begnadigungen hiernach dem Ausgleich von „Unbilligkeiten bei nachträglich bekannt gewordenen oder eingetretenen allgemeinen oder persönlichen Umständen“109. In den Gnadenordnungen von Niedersachsen und Sachsen-Anhalt werden diese auch Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 392. hierzu unter § 4 A. (S. 196 ff.). 107 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 80. Ob aufgrund der unterschiedlichen Formulierungen auch tatsächlich eine unterschiedliche Gnadenpraxis besteht, ist indes offen. 108 So z. B. speziell für die Strafaussetzung zur Bewährung im Gnadenweg die GnO 1935 (§ 21) sowie die Gnadenordnungen von Baden-Württemberg (§ 26), Hessen (§ 18), Niedersachsen (§ 23) und Rheinland-Pfalz (Nr. 27); speziell zum Strafausstand z. B. die Gnadenordnungen von Bayern (§ 28) und Hessen (§ 28). Eingehend zu den Gnadenrichtlinien für besondere Gnadenerweise Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 52 ff. 109 So wörtlich § 2 Abs. 2 GnO-MV und Nr. 4 GnO-RP; ähnlich § 2 Abs. 2 S. 2 GnO-BB. In der Praxis erfolgen die meisten Begnadigungen aus persönlichen Umständen (z. B. Auswirkungen auf die Familie, wirtschaftliche Probleme, gesundheitliche Schwierigkeiten etc. – vgl. Klein, Gnade, S. 20; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 31). Denkbar ist z. B. auch eine abgeschlossene Suchtmitteltherapie oder die Verantwortlichkeit für die Wirtschaftsführung eines Betriebs (vgl. B.-D. Meier, Schwind-FS, S. 1059 [1066]). 105 Vgl. 106 s.
C. Gnadenverfahren105
Umstände näher ausgeführt.110 Was das „nachträgliche Bekanntwerden“ betrifft, präzisiert die baden-württembergische Gnadenordnung, dass die Umstände dem Gericht „bei Festsetzung der Rechtsfolgen … nicht bekannt waren oder erst danach eingetreten sind“ (§ 3 Abs. 1 S. 2 GnO-BW). Daneben sehen die Gnadenordnungen von Baden-Württemberg, Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt vor, dass auch rechtliche Gründe zu einem Gnadenerweis führen können.111 Eine nähere Präzisierung, welche Konstellationen hierunter fallen, fehlt jedoch. Schätzler nennt als Beispiele für eine Begnadigung aus Rechtsgründen die fehlerhafte Anwendung des geltenden Rechts, die zugunsten des Verurteilten erfolgte Änderung des angewendeten Rechts nach Rechtskraft des Urteils (bzw. bevorstehende Änderungen des bereits allgemein als mangelhaft erkannten Rechts)112 sowie die Begnadigung anderer an derselben Straftat Beteiligter.113 Nach BGHSt 24, 239 (242 f.) seien ferner „[b]esonders schwere Verstöße der Strafverfolgungsorgane gegen die Pflicht zur schleunigen Durchführung von Verfahren … immer legitime Grundlage eines ausgleichenden Gnadenerweises“. Einige Gnadenordnungen betonen zudem ausdrücklich, dass Gnadenerweise nur ausnahmsweise zu gewähren sind.114 Ferner ist als Ausschlussgrund vorgesehen, dass die Strafzwecke der Begnadigung nicht entgegenstehen dürfen.115 110 Vgl. § 3 Abs. 2 S. 2 GnO-ST: „Solche Gnadengründe können sich insbesondere ergeben aus in der Person des Verurteilten liegenden besonderen Umständen, aus seinem Vorleben, den Umständen der Tat, seinem Verhalten vor und nach der Tat sowie im Strafvollzug und während anderer unmittelbar vorausgegangener Freiheitsentziehungen, seinen Lebensverhältnissen, aus Umständen, die zum Zeitpunkt der Entscheidung nicht bekannt waren oder erst danach eingetreten sind, oder aus den von dem Gnadenerweis zu erwartenden Wirkungen auf den Verurteilten.“; ähnlich § 14b) GnO-NI. 111 Vgl. § 3 Abs. 1 S. 3 GnO-BW; § 2 Abs. 2 S. 3 GnO-BB; § 2 Abs. 2 S. 3 GnOMV; Nr. 4 S. 3 GnO-RP; § 3 Abs. 3 GnO-ST; § 14 a) GnO-NI. 112 Krit. zu einer Begnadigung in diesen Fällen hingegen Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 27 ff. 113 Vgl. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 88 ff. Weitere Beispiele bei Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 141 ff. Siehe zur Frage, inwieweit die Vorschriften des Wiederaufnahmerechts bei Rechtsfehlern abschließend sind und damit einer Begnadigung entgegenstehen, unter § 4 C. V. 1. b) (S. 256 ff.). 114 Vgl. § 3 Abs. 1 S. 1 GnO-BW; § 2 Abs. 2 S. 1 GnO-MV. 115 Vgl. § 3 Abs. 2 S. 1 GnO-ST; § 14b-GnO-NI; ähnlich § 3 GnO-BW und § 3 Abs. 2 GnO-SN („wenn die Verteidigung der Rechtsordnung die Vollstreckung gebietet“) sowie Nr. 4 S. 4 GnO-RP („wenn die Rechtsordnung unerträglich verletzt würde“). Vgl. auch BVerfGE 45, 187 (242), wonach offenbar der Aspekt der negativen Spezialprävention der Erteilung eines Gnadenerweises entgegenstehen kann: „Die Menschenwürde wird auch dann nicht verletzt, wenn der Vollzug der Strafe
106
§ 2 Überblick über das geltende Gnadenrecht
3. Sonstige Begnadigungsrichtlinien Schließlich finden sich auch jenseits der Gnadenordnungen Richtlinien für die Erteilung von Gnadenerweisen: Beispiele sind die bereits oben genannten „Weihnachtsamnestien“ der meisten Bundesländer oder die in Baden-Württemberg geltende VwV Nachschulung.116 Neben diesen in Verwaltungsvorschriften zum Ausdruck kommenden Gnadengründen haben sich in der Gnadenpraxis weitere Gnadenmotivationen entwickelt. Schätzler bezeichnet diese als Gnadenerweise aus „übergeordneten Gesamtinteressen“ und nennt als Beispiele Begnadigungen im Bereich zwischenstaatlicher Beziehungen („Austauschbegnadigungen“) sowie solche mit Rücksicht auf innerstaatliche Verhältnisse (z. B. zur „Wiederherstellung des Rechtsfriedens“).117
wegen fortdauernder Gefährlichkeit des Gefangenen notwendig ist und sich aus diesem Grunde eine Begnadigung verbietet.“ 116 s. hierzu unter § 1 E. II. 4. (S. 72) und § 1 E. II. 7. b) (S. 81). 117 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 95 ff.; vgl. dazu auch Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 37 f. Siehe zur Frage, inwieweit „übergeordnete Gesamtinteressen“ legitime Gnadengründe darstellen können, näher unter § 4 A. II. 2. (S. 212 ff.).
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz A. „Gnade im Recht“: Zur Verankerung der Gnade innerhalb des Rechts I. Vorbemerkung Stünden Gnade und Recht in einem dualistischen Verhältnis zueinander – wie es das Rechtssprichwort „Gnade vor Recht ergehen lassen“ suggeriert –, schiede eine rechtliche Beschränkbarkeit der Gnade von vornherein aus.1 Erginge die Gnade hingegen im Recht, wäre sie eben nicht völlig rechtsfrei, sondern unterläge als Teil des Rechts bestimmten – noch näher zu untersuchenden – rechtlichen Schranken. Die grundlegende Frage, ob Gnade vor Recht oder im Recht ergeht, hat auch für das Verhältnis der Gnade zu ihren gesetzlichen Alternativregelungen eine maßgebliche Bedeutung: Will man den Satz, dass ein Gnadenerweis überhaupt nur dann ergehen darf, wenn nicht bereits eine gesetzliche Vergünstigung in Betracht kommt, als einen Rechtssatz begreifen, so setzt dies voraus, dass Gnadenakte überhaupt rechtlichen Bindungen unterliegen können. Denn unterläge die Gnade keinen rechtlichen Schranken, dann dürfte eben auch nicht der Umstand, dass eine gesetzliche Vergünstigung in Betracht kommt, zu einer rechtlichen Beschränkung der Gnade führen.2 Die Frage, ob und inwieweit die Gnade Teil des Rechts ist und damit im Recht ergeht, ist strikt von der Frage der Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen zu unterscheiden: Denn ob eine ablehnende Gnadenentscheidung vom Einzelnen angefochten werden kann, bestimmt sich nach Art. 19 Abs. 4 GG. Die Norm gewährt Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt, sofern der Einzelne in seinen Rechten verletzt wird. Auf die Gnadenentscheidung bezogen setzt die Justiziabilität also voraus, dass dem Einzelnen subjektive Rechte in Bezug auf die Gnadenentscheidung zustehen können, wie etwa ein Recht auf ermessensfehlerfreie Entscheidung.3 Die hier 1 Vgl. Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 81: „[D]ie Außernormativität kann nicht mit Mitteln der Normativität gemessen werden.“ 2 Vgl. auch A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 136 mit Fn. 135. 3 Falsch ist hingegen das gelegentlich gegen die Justiziabilität von Gnadenentscheidungen angeführte Argument, mangels Anspruchs auf Gnade scheide eine Ver-
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
interessierende Frage, ob die Gnade Teil des Rechts ist, muss indes nicht erst dann bejaht werden, wenn dem Einzelnen subjektive Rechte im Gnadenverfahren zustehen, sondern bereits dann, wenn der Gnadenträger an das objektive Recht gebunden ist – z. B. das Gnadengesuch nicht aus einem „von der Werteordnung des Grundgesetzes missbilligten Grunde“4 ablehnen darf. Aus einer etwaigen Ermessensbegrenztheit staatlichen Handelns – und damit einer Rechtsbindung − folgt damit nicht zwingend dessen Anfechtbarkeit.5 Die Unterschiede zwischen der Rechtsbindung der Gnade und der Justiziabilität von Gnadenentscheidungen werden ferner dadurch deutlich, dass speziell gegen die Anfechtbarkeit ablehnender Gnadenentscheidungen des Bundespräsidenten bzw. der Ministerpräsidenten mit deren verfassungsrechtlicher Stellung argumentiert wird.6 In eine ähnliche Richtung geht das verfassungssystematische Argument, wonach Art. 60 Abs. 2 GG die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG ausschließe.7 Schließlich spielen bei der Frage der Justiziabilität auch pragmatische Gründe eine Rolle, wie etwa die Erwägung, durch Verneinung der Anfechtbarkeit die Entstehung einer möglichen „Superrevisionsinstanz“ zu vermeiden, sofern man davon ausgeht, dass eine Überprüfung der ablehnenden Gnadenentscheidung notwendigerweise die Prüfung der Frage beinhaltete, ob die Verurteilung selbst „gerecht“ war.8 Ein Zusammenhang zwischen Rechtsbindung und Justiziabilität besteht daher nur insofern, als die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG akzessorisch ist und eine gerichtliche Kontrolle überhaupt nur dann ermöglicht, wenn Normen existieren, deren Beachtung und Befolgung nachgeprüft werden kann.9 Die Rechtsbindung wird damit zur Voraussetzung der Jusletzung von Art. 19 Abs. 4 GG aus (so aber BVerfGE 25, 352 [363 – tragende Meinung]; BVerfG NStZ 2001, 669). Denn auch ohne einen solchen Anspruch können dem Verurteilten subjektive Rechtspositionen zukommen, die durch eine ablehnende Gnadenentscheidung verletzt werden können (Hömig, DVBl. 2007, 1328 [1330]; Schenke, JA 1981, 588 [591 f.]). 4 So BVerfGE 25, 352 (365 – Dissenter). 5 Vgl. Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 81; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (119). Anders offenbar Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (43); wohl auch A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 95 f., der aus dem Ausschluss der Irrationalität zwingend auf die Rechtsqualität des Gnadenakts und damit wiederum zwingend auf die Justiziabilität schließen will. 6 Vgl. z. B. Pieper, in: Gnade vor Recht – Recht durch Gnade?, S. 89 (118); BVerwG NJW 1962, 1410. 7 So BVerfG NStZ 2001, 669. 8 So jedenfalls Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 69; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 131. 9 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 66; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 75; Schätzler, NJW 1975, 1249 (1252).
A. „Gnade im Recht“: Zur Verankerung der Gnade innerhalb des Rechts 109
tiziabilität. Aufgrund dieses Zusammenhangs finden sich in einigen Gerichtsentscheidungen bezüglich der Anfechtbarkeit von Gnadenentscheidungen auch Ausführungen zur Frage der Rechtsbindung der Gnade. Im Folgenden werden die wichtigsten dieser Entscheidungen betrachtet.
II. Entwicklung der Rechtsprechung zum Verhältnis von Gnade und Recht Nachdem das BVerfG die Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen im Jahr 1969 verneinte (dazu sogleich), ergingen in der Folgezeit naturgemäß nur wenige Entscheidungen im Bereich des Gnadenrechts. Aussagen der Rechtsprechung, die sich auf das Verhältnis von Gnade und Recht beziehen, stammen daher vorwiegend aus den 50er und 60er Jahren. Dabei ist eine dualistische Auffassung von Gnade und Recht festzustellen, wonach das „Wesen“ der Gnade darin liege, vom Recht abzusehen.10 Instruktiv ist die Entscheidung des OLG Düsseldorf aus dem Jahr 1958: „[E]ine dem Antragsteller günstige Gnadenentscheidung sieht gerade von Recht und Gesetz ab und läßt ‚Gnade vor Recht‘ ergehen. Die Gnadenentscheidung wird nicht nach rechtlichen Gesichtspunkten getroffen… Inhaltlich ist die Gnade ein Akt der Barmherzigkeit und des Wohlwollens, der anstelle eines Rechtsakts tritt; ‚Gnade ersetzt das Recht‘… Die Gnadenentscheidung ist frei von allen rechtlichen Bindungen und Schranken und unterliegt auch nicht den sonst gültigen Grundsätzen des Ermessens, so daß im Gnadenverfahren nicht einmal Raum für Beanstandungen wegen Ermessensmißbrauchs ist…“11 Eine nähere Begründung, warum Gnade außerhalb des Rechts stehen soll, ist weder der Entscheidung des OLG Düsseldorf noch den übrigen obergerichtlichen Entscheidungen der 50er und 60er Jahre zu entnehmen, die sich auf formelhafte Ausführungen beschränken.12 10 Vgl. Dürig, JZ 1961, 166. Krit. zum „Wesen“ der Gnade als Argumentationsansatz Blaich, Gnadenrecht, S. 41. 11 OLG Düsseldorf JZ 1959, 58 (59). 12 Vgl. OVG Münster DVBl. 1953, 701 (702: „Gnade ersetzt das Recht“); OVG Hamburg JZ 1961, 165: „[D]er Träger hoheitlicher Gewalt [übt] beim Gnadenakt keine dem Rechtswert unterstellte Tätigkeit aus. Die Gnade ist ein Akt der Barmherzigkeit und des Wohlwollens, und ihr Wesen liegt gerade darin, daß sie vom Recht absieht. Das verkennt der Kl., … wenn er ‚Gnade durch Recht‘ fordert.“; OLG Oldenburg MDR 1965, 221 („mit den Maßstäben des Rechts nicht fassbar“); OLG Hamburg JZ 1969, 739: „Nach Ansicht des Senats ist daran festzuhalten, daß es im Wesen der Gnade liegt, vom Recht und seiner Durchsetzung abzusehen, daß ‚Gnade vor Recht‘ ergeht und ihre Ausübung ‚keine dem Rechtswert unterstellte Tätigkeit‘ ist.“
110
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Eine (vorsichtige) Lösung von diesem völligen Dualismus von Gnade und Recht erfolgte im Jahr 1965 durch den BayVerfGH, indem dieser ausdrücklich erkannte, dass der Gnadenträger bei Ausübung des Begnadigungsrechts „wie jedes Staatsorgan und wie jede öffentliche Stelle an die [bayerische] Verfassung und vor allem an die unübersteigbaren Schranken gebunden [ist], die durch die elementaren Grundrechte als dem positiven Recht vorausliegende Rechte der öffentlichen Gewalt entzogen sind“13. Wenn damit auch keine unmittelbare Implementierung der Gnade in das Recht im Sinne eines Rechtsinstituts ausgesprochen war, so erkannte der BayVerfGH damit zumindest einen mittelbaren Einfluss des Rechts auf die Gnade – durch Bindung des Gnadenträgers an das Recht – an. Die Auflösung des Dualismus von Gnade und Recht setzte sich in der im Jahr 1969 ergangenen grundlegenden Entscheidung des BVerfG zur Frage der Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen14 fort. Das BVerfG hatte dabei aufgrund des Verhältnisses von 4:4 Stimmen im Ergebnis nicht feststellen können, dass die fehlende Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen grundgesetzwidrig ist (vgl. § 15 Abs. 4 S. 3 BVerfGG). Die vier Richter, die sich gegen die Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen aussprachen, begründeten dies damit, dass sich aus dem „System und dem Gesamtgefüge des Grundgesetzes“ ergebe, dass die für die Eröffnung des Rechtswegs maßgebliche Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG für ablehnende Gnadenentscheidungen nicht gelte.15 Aus diesem verfassungssystematischen, sich speziell auf die Frage der Justiziabilität beziehenden Argument folgt jedoch nicht, dass die Gnade außerhalb des Rechts steht.16 Der tragenden Meinung lässt sich damit keine verbindliche Stellungnahme zum Verhältnis der Gnade zum Recht entnehmen. Demgegenüber befanden die vier dissentierenden Richter in ihrem Sondervotum zur Stellung der Gnade in Bezug auf das Recht: „Eine an der Gerechtigkeit orientierte Gnade steht nicht außerhalb des Rechts.“17 Der Inhaber des Begnadigungsrechts dürfe dieses „nur im Rahmen der verfassungsmäßigen Ordnung und der durch diese, insbesondere durch Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG, gezogenen Grenzen ausüben“.18 Werde das Begnadigungsrecht durch willkürliche Handhabung missbraucht, werde 13 BayVerfGHE 18, 140 (147). Der BayVerfGH hat diese Rspr. in der Folge bestätigt, vgl. BayVerfGHE 23, 6 ff.; 24, 53 f. 14 BVerfGE 25, 352 ff. 15 BVerfGE 25, 352 (362 – tragende Meinung). Krit. zu dieser Begründung Bernhardt ZRP 1970, 52 (bloße „Floskel“, die zudem „unhaltbar“ sei). Zust. hingegen BVerwG JZ 1983, 495 (496); BVerfG NStZ 2001, 669. 16 So ließen die vier Richter (a. a. O.) ausdrücklich offen, ob durch die Ausübung des Begnadigungsrechts subjektive Rechte des Einzelnen verletzt werden können. 17 BVerfGE 25, 352 (364 f. – Dissenter). 18 BVerfGE 25, 352 (364 – Dissenter).
A. „Gnade im Recht“: Zur Verankerung der Gnade innerhalb des Rechts 111
der Verurteilte „in seinem durch Art. 1 und Art. 3 GG begründeten Recht auf eine rechtsstaatskonforme, d. h. nichtdiskriminierende, gerechte und sachbezogene Gnadenentscheidung verletzt… Gnade ist nicht völlig verrechtlicht, die Gewährung oder Versagung eines Gnadenerweises aber rechtlich begrenzt.“19 Damit lässt sich bereits in dieser Entscheidung eine Richtermehrheit – vier Befürworter bei vier insoweit offenlassenden Stimmen − für eine rechtliche Beschränkung des Begnadigungsrechts feststellen.20 Im Jahr 1973 sprach sich auch der Hess. StGH explizit gegen eine dualistische Vorstellung von Gnade und Recht aus. Dabei nahm er nicht nur eine mittelbare Bindung der Gnade – über die Bindung des Gnadenträgers – an das Recht an,21 sondern verortete die Gnade unmittelbar im Recht. Art. 109 Abs. 1 LV-HE22 sei „kein Anhaltspunkt dafür zu entnehmen, daß das Gnadenrecht im rechtsfreien, verfassungsfreien oder gerichtsfreien Raum angesiedelt sei“ bzw. „daß Gnadenakte eine Sonderstellung unter den hoheitlichen Maßnahmen haben sollten. Sonderbefugnisse, abgeleitet aus einem den drei Gewalten übergeordneten oder sie zusammenfassenden Zentralpunkt staatlicher Macht, haben im konstitutionellen Staat mit seinem Gewaltenteilungssystem keinen Platz.“23 In der neueren Rechtsprechung sind Entscheidungen zum Verhältnis von Gnade und Recht rar.24 Für eine zumindest mittelbar-rechtliche Beschränkung der Gnade sprach sich im Jahr 2008 der BayVerfGH aus, wonach sich die Beurteilung von Gnadengesuchen nicht im „rechtsfreien“ Raum bewege.25 Im Ergebnis lässt sich also eine Entwicklung in der Rechtsprechung weg von einem streng dualistischen Verständnis von Gnade und Recht („Gnade vor Recht“) hin zu einer Verankerung der Gnade im Recht feststellen. 19 BVerfGE
25, 352 (365 – Dissenter). BVerfG hat wenig später den Widerruf eines Gnadenerweises (nach zuvor gnadenweiser Strafaussetzung zur Bewährung) für justiziabel erklärt. Denn hiernach würden dem Verurteilten „Freiheitsrechte eingeräumt, auf deren Wahrung er sich verlassen und auf deren Fortbestand er vertrauen kann“ (BVerfGE 30, 108 [110 f.]). 21 Dazu Hess. StGH NJW 1974, 791: „[D]ie Verfassung eines demokratischen Rechtsstaates würde sich selbst aufheben oder mindestens in Frage stellen, wenn sie ein Staatsorgan mit der Befugnis zu willkürlichem oder gar menschenrechtswidrigem Handeln ausstattete.“ 22 Art. 109 Abs. 1 LV-HE: „Der Ministerpräsident übt namens des Volkes das Recht der Begnadigung aus. Er kann die Befugnis auf andere Stellen übertragen. Die Bestätigung eines Todesurteils bleibt der Landesregierung vorbehalten.“ 23 Hess. StGH NJW 1974, 791 f. 24 Das BVerfG hat im Jahr 2001 in einer Kammerentscheidung die fehlende Justiziabilität ablehnender Gnadenentscheidungen ohne nähere Begründung – mit Verweis auf BVerfGE 25, 352 ff. – bestätigt (BVerfG NStZ 2001, 669). 25 BayVerfGH BeckRS 2008, 37319. 20 Das
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
III. Die Auffassungen in der Literatur Nach ursprünglichem Verständnis in der Literatur ist die Gnade frei von jeglichen rechtlichen Bindungen. In Zeiten des Deutschen Kaiserreichs war die Auffassung herrschend, dass die Ausübung des Begnadigungsrechts „nach unkontrollierbaren Gefühlen erfolgen soll, über die eine Rechenschaftslegung unmöglich ist“26. Der Gnadenakt stehe „außerhalb der durch das Gesetz gegebenen Ordnung des Strafverfahrens“.27 Der Gnadenträger trage bei Ausübung des Begnadigungsrechts „die hohe Verantwortung vor Gott und Menschen“,28 sei hingegen nicht durch das Recht beschränkt. Das Begnadigungsrecht sei vielmehr „ein erhabenes und ausschließliches Recht der Krone, die ihre Entscheidung frei von allen äusseren Beschränkungen treffen kann“29. Auf dieser Linie ist die metaphysische Sicht des Begnadigungsrechts nach Radbruch, wonach die Gnade „ihrem Wesen nach irrational“ und „dem Wunder innigst verwandt“ sei,30 sowie die Rechtsprechung der 50er und 60er Jahre, welche auch in der damaligen Literatur vielfach Zustimmung fand.31 Auch in der Folge wurde vielfach von einem Dualismus von Gnade und Recht ausgegangen.32 So steht auch Schätzler einer Rechtsbindung der Gnade kritisch gegenüber. Er stimmt Radbruch zu, wonach die Existenz der Gnade nur „metaphysisch“ zu begründen sei.33 Gnade sei der Rechtsordnung „vorgegeben“.34 Seiner Auffassung nach führt es zu einem „unauflösbaren Widerspruch“, wollte man die Gnade an Gesetz und Recht binden: Kulemann, DJZ 1916, 499 (501) mit Kritik an dieser Auffassung. Das Staatsrecht des Deutschen Reiches III, S. 508. 28 Binding, Handbuch des Strafrechts, S. 864. 29 Görlich, Strafrechtliche Abhandlungen 74 (1906), S. 14. 30 Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 264. Siehe auch das Zitat Radbruchs auf S. 19 in Fn. 2. Vgl. ferner Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (118), wonach der Gnade „ein metaphysischer Einschlag eigen“ sei; Grewe, Gnade und Recht, S. 19: „Die Gnade aber ist etwas vom Recht Wesensverschiedenes, aus einer anderen, höheren Sphäre Herkommendes.“ 31 s. Kaiser, NJW 1961, 200 (202); Mattern, JZ 1953, 400 (404) und JZ 1954, 432 (435: „Akt der außerrechtlichen Sphäre“); Tietgen, NJW 1956, 1129 (1132). 32 Vgl. Flor, EVKOMM 4 / 89, 31 ff.; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 62 ff. v. Weizsäcker befand im Jahr 1986 als amtierender Bundespräsident, dass das Recht „ein wichtiger, aber gewiß nicht der einzige Maßstab“ der Gnade sei (v. Weizsäcker, Verhandlungen des 56. Deutschen Juristentages II [Sitzungsberichte], S. I 25 [I 34]). 33 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 7. 34 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 7. 26 So
27 Laband,
A. „Gnade im Recht“: Zur Verankerung der Gnade innerhalb des Rechts 113
„Denn der Gnade eignet die einzigartige Macht, von dem lösen zu können, was das Gesetz verlangt und was für Recht erkannt worden ist.“35 Gegen eine rechtliche Beschränkung bei der Gnadenausübung hat sich zuletzt Böllhoff ausgesprochen. Zwar sei die Begnadigung „dem Recht nicht in einer übergeordneten Sphäre vorgeschaltet“, sondern „als Institut Bestandteil im Rechtssystem“.36 Zudem sei es „völlig selbstverständlich, dass der über die Begnadigung Entscheidende an die Grundrechte gebunden ist“37. Gleichwohl fehle es inhaltlich an jeglicher „rechtlicher Determinierung“, es werde vielmehr „auf eine persönliche Ausübung durch einen Amtsträger Wert gelegt, dessen Amt eine besondere Entscheidungsfreiheit und eine distanzierte Beurteilung des Einzelfalls möglich macht“38. Beim Begnadigungsrecht gehe es „um das personengebundene Motiv der Gnade, welches von der jeweiligen Amtsausübung abhängt“39. Demgegenüber wird in der Literatur heute überwiegend von einer Integration der Gnade in das Recht und einer rechtlichen Beschränkung bei der Gnadenausübung ausgegangen, wobei Unterschiede hinsichtlich der dogmatischen Begründung und des Umfangs der Rechtsbindung bestehen: Vielfach wird auf Art. 1 Abs. 3 und Art. 20 Abs. 3 GG verwiesen, wonach der Gnadenträger als Bestandteil der vollziehenden Gewalt unmittelbar an die Grundrechte gebunden sei.40 Als insoweit relevante Grundrechte werden Art. 1 Abs. 1 GG,41 Art. 6 Abs. 1 GG42 und Art. 12 Abs. 1 GG43 genannt.
35 Schätzler NJW 1975, 1249 (1254). Siehe auch Held, Odersky-FS, S. 413 (415: Begnadigungsrecht als „Institut, das außerhalb der Rechtsordnung steht“); Laubenthal / Nestler, Strafvollstreckung, Rn. 35. 36 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 58 f. 37 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 65 mit Fn. 176. 38 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 71. 39 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 72. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass Böllhoff – konsequenterweise – der weitgehenden Delegation des Begnadigungsrechts kritisch gegenübersteht und etwa Staatsanwälte aufgrund ihrer Weisungsgebundenheit als „nicht in der Lage“ ansieht, „das Begnadigungsrecht in seinem eigentlichen Sinn zu verwirklichen“ (Böllhoff, a. a. O., S. 144). 40 Blaich, Gnadenrecht, S. 46, 50; Holste, Jura 2003, 738 (740 f.); Klein, Gnade, S. 86; v. Preuschen, Der Rechtsschutz in Gnadensachen des § 452 StPO, S. 68 f.; Schenke JA 1981, 588 (591); eingehend Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 69 ff. 41 Blaich, Gnadenrecht, S. 46 f.; Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1330 f.); Münch / Kunig-v. Arnauld, Art. 60 Rn. 9; vgl. auch BVerfGE 25, 352 (365 – Dissenter). 42 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 87 f.; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (115). 43 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 70, 88 f., der als Beispiel ein Fahrverbot gegenüber einem Kraftfahrer anführt.
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Insbesondere auf Art. 3 Abs. 1 GG wird in diesem Zusammenhang hingewiesen, was in zweierlei Hinsicht Relevanz haben kann: Zum Teil wird eine Gleichbehandlung der einzelnen Gnadenpetenten gefordert.44 Dies wird teils dahingehend konkretisiert, dass der Gnadenträger an seine auf den inhalt lichen, ermessenslenkenden Bestimmungen der Gnadenordnungen beruhende Verwaltungspraxis45 durch Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. der Selbstbindung der Verwaltung rechtlich gebunden sei.46 Daneben wird eine Beschränkung der Gnade durch das aus Art. 3 Abs. 1 GG folgende47 Willkürverbot angenommen.48 Hömig leitet aus der Bindung des Gnadenträgers an Art. 1 Abs. 1 GG sowie aus dem Rechtsstaatsprinzip ein subjektives Recht des Einzelnen auf ein faires, rechtsstaatliches Gnadenverfahren ab.49 Gnadengesuche müssten daher von der zuständigen Stelle entgegengenommen, geprüft und beschieden werden.50 Zudem folge hieraus eine Pflicht zu bestmöglicher Sachaufklärung und zur Entscheidung binnen angemessener Frist.51 Seltener wird diskutiert, ob und inwieweit die Gnadenentscheidung jenseits subjektiver Rechte des Einzelnen dem objektiven Recht unterworfen ist.52 Zum Teil wird darauf hingewiesen, dass der Gnadenträger an die 44 Blaich,
Gnadenrecht, S. 47; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 71. die Verwaltungsvorschriften (hier die Gnadenordnungen) führen zur Selbstbindung, sondern die hierauf beruhende Verwaltungspraxis (Stelkens / Bonk / Sachs-Sachs § 40 Rn. 105). Dies wird nicht immer deutlich (vgl. z. B. Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 73). 46 Vgl. Blaich, Gnadenrecht, S. 51 f.; Gotthold, NJW 1968, 1223 (1224). Die Anwendung von Art. 3 Abs. 1 GG wird von den Vertretern der Rechtsfreiheit der Gnade einerseits bereits in rechtstheoretischer Hinsicht bestritten (vgl. z. B. Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 81). Z. T. wird auch in praktischer Hinsicht argumentiert, dass sich schwerlich zwei gleichgelagerte Gnadenfälle bilden lassen, die zur Annahme einer Ungleichbehandlung führen könnten (so Bachof, JZ 1983, 469 [471]; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [116]). 47 Daneben wird das Willkürverbot auch aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitet (vgl. BeckOK-GG-Kischel, Art. 3 Rn. 83 m. w. N.). 48 Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907); Schenke, JA 1981, 588 (591). Teils wird dabei offenbar allein auf das Willkürverbot abgestellt, teils das Willkürverbot neben den Grundrechten eigens besonders betont (vgl. Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 69 f.). Krit. zur Beachtung des Willkürverbots im Rahmen der Gnadenentscheidung Schätzler, NJW 1975, 1249 (1253). 49 Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1333); zust. Blaich, Gnadenrecht, S. 50. 50 Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1333). So auch BayVerfGH BeckRS 2008, 37319; Schätzler, NJW 1975, 1249 (1252). 51 Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1333 ff.). 52 Dies mag damit zusammenhängen, dass für die vieldiskutierte Frage der Justiziabilität von Gnadenentscheidungen allein die Verletzung subjektiver Rechte von Relevanz ist, siehe unter § 3 A. I. (S. 107). 45 Nicht
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Gnadenordnungen als administrativem Innenrecht gebunden sei.53 Daneben wird über die Bindung an die Gnadenordnungen hinaus eine umfassende objektiv-rechtliche Bindung an Recht und Gesetz gem. Art. 20 Abs. 3 GG angenommen.54 Begründet wird dies mit dem historischen Wandel, wonach der Gnadenträger seine Gnadenkompetenz heute nicht mehr „von Gottes Gnaden“, sondern vom Volk (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG) ableite, wodurch die Gnadenkompetenz auch der „Herrschaft des menschlichen Rechts“ unterstehe.55 Dass es sich bei dem Begnadigungsrecht nicht mehr um ein höchstpersönliches Recht des Gnadenträgers, sondern um (rechtlich gebundene) Ausübung von „Staatsgewalt“ i. S. v. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG handelt, komme auch im Wortlaut des Art. 60 Abs. 2 GG zum Ausdruck, wonach der Bundespräsident „für den Bund“ das Begnadigungsrecht ausübt.56 Mickisch weist zu Recht darauf hin, dass der im Schrifttum zur Frage der Bindung der Gnade an (materielles) objektives Recht feststellbare Befund „seltsam widersprüchlich“ sei: „Einerseits behauptet man die Rechtsfreiheit der Gnade, andererseits aber eine prinzipielle Begrenzung“, wie etwa die Beschränkung der Gnade auf den atypischen Einzelfall sowie den Vorrang der gesetzlichen Alternativregelungen.57 Mickisch misst diesen Schranken aufgrund der umfassenden Bindung des Gnadenträgers an Art. 20 Abs. 3 GG Rechtscharakter bei.58 Trotz mancher Unterschiede hinsichtlich Umfang und Begründung ist damit im Ergebnis heute in der Literatur die Auffassung herrschend, die Gnade als Bestandteil des Rechts und den Gnadenakt als Rechtsakt anzusehen – Gnade ergeht hiernach nicht vor, sondern im Recht.
53 Lorenz, Der Rechtsschutz des Bürgers und die Rechtsweggarantie, S. 49 f.; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 72; Pflieger, ZRP 2008, 84 (87). 54 Gotthold NJW 1968, 1223; H. Maurer, JZ 1963, 27; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 73 f.; vgl. auch Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 25, wonach die Gnadenausübung durch den Gewaltenteilungsgrundsatz begrenzt sei. 55 So Monz, NJW 1966, 137 (139). Inhaltlich ebenso Blaich, Gnadenrecht, S. 43 m. w. N.; Erichsen, Staatsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit I, S. 99; A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 93 f. 56 Erichsen, Staatsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit I, S. 99; Monz, NJW 1966, 137 (139); Schenke, JA 1981, 588 (591). 57 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 73. 58 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 74 (wenn auch ohne nähere Begründung); dies ist durchaus beachtlich, da eine dogmatische Herleitung des Vorrangs der gesetzlichen Vergünstigungen gegenüber der Gnade in aller Regel unterbleibt, siehe unter § 3 B. IV. (S. 134).
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IV. Stellungnahme 1. Gnade als Bestandteil des Rechts Dass die Frage der Rechtsbindung der Gnade mit Schlagworten wie „Gnade vor Recht“ nicht zu beantworten ist,59 ist eine Selbstverständlichkeit. Aus diesem auf das 14. Jahrhundert zurückgehenden Rechtssprichwort wird man schwerlich Rückschlüsse auf die Ausgestaltung von Gnade und Recht unter Geltung des Grundgesetzes ziehen können, zumal diese Formel ohnehin fehlgeht: Einen echten Dualismus von Gnade und Recht – verstanden als einer außerhalb der Rechtsordnung stehenden Gnade – kann es ersichtlich schon deshalb nicht geben, weil die Gnade zumindest Zuständigkeitsregeln unterworfen ist. Aufgrund von Art. 60 Abs. 2 GG bzw. der entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Vorschriften lässt sich jedenfalls insoweit eine „Verrechtlichung“ der Gnade nicht abstreiten – mit der Folge, dass die Gnade selbst Teil des Rechtssystems wird.60 Gleiches gilt für die Vorschrift des § 452 StPO.61 Für Gnadenerweise des Bundespräsidenten kommt hinzu, dass eine Gegenzeichnungspflicht durch den Bundesjustizminister gem. Art. 58 S. 1 GG besteht.62 Ferner beschränkt das Recht die Gnade auf die Ausübung im Einzelfall.63 Daneben wird allseits angenommen, dass die Gnade bestimmten gewohnheitsrechtlichen Bindungen unterliegt: Wenn auch die Bedeutung von Gewohnheitsrecht durch die fortschreitende gesetzliche Durchbildung der Rechtsordnung im Laufe der Zeit abgenommen hat,64 erlangt es auch heute noch insbesondere in solchen Bereichen Bedeutung, in denen es – wie im Gnadenrecht – an geschriebenen Regeln fehlt, gleichwohl aber verbindliche Regelungen nötig sind. So ist etwa allgemein anerkannt, dass sich Gegenstand und mögliche Wirkungen von Gnadenentscheidungen in Ermangelung gesetzlicher Vorschriften aus dem Gewohnheitsrecht ergeben.65 Außerdem 59 Blaich, Gnadenrecht, S. 41; Erichsen, Staatsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit I, S. 97; vgl. auch Bachof, JZ 1983, 469 (470). Anders aber die obergerichtliche Rspr. insbesondere der 50er und 60er Jahre, siehe unter § 3 A. II. (S. 109). 60 Vgl. Erichsen, Staatsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit I, S. 97; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 72 mit Fn. 176; Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907); Schenke, JA 1981, 588 (591). 61 Vgl. auch HK-Pollähne § 452 Rn. 3, wonach die Vorschrift des § 452 StPO „[i]n Anbetracht der Devise ‚Gnade vor Recht‘ [irritiere]“. 62 So jedenfalls die h. M., siehe unter § 2 C. II. (S. 100). 63 Für das Gnadenrecht des Bundes folgt dies ausdrücklich aus Art. 60 Abs. 2 GG, vgl. im Übrigen näher unter § 4 A. I. (S. 196 ff.). 64 Robbers, Einführung in das deutsche Recht, Rn. 24.
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soll kraft Gewohnheitsrechts ein Akteneinsichtsrecht bezüglich ärztlicher Gutachten bestehen, soweit letztere Grundlage der Gnadenentscheidung sind.66 Ferner wird zum Teil eine Delegationsermächtigung für die Ausübung des Begnadigungsrechts kraft Gewohnheitsrechts angenommen.67 Besteht damit trotz mancher Unklarheiten über die Reichweite des Gewohnheitsrechts68 ein weitgehender Konsens, dass das Gewohnheitsrecht – vorbehaltlich des Vorliegens seiner Voraussetzungen –69 das Gnadenrecht prägen kann, so zeigt sich auch insoweit eine Integration der Gnade in das Recht. Denn Gewohnheitsrecht kann nur dort bestehen, wo die an der entsprechenden Übung Beteiligten in der Überzeugung handeln, „dass etwas positives Recht ist“70. Ein dualistisches Verständnis von Gnade und Recht beim Wort genommen stünde der Entstehung von Gewohnheitsrecht im Bereich des Gnadenrechts von vornherein entgegen mit der Folge, dass es etwa an jeglicher verbindlicher Regelung zu Gegenstand und möglichem Inhalt von Gnadenentscheidung fehlte. Gnade wird damit zum Bestandteil des Rechts. Bezeichnenderweise spricht Art. 60 Abs. 2 GG vom „Begnadigungsrecht“,71 „die Gesamtheit der gnadenrechtlichen Vorschriften“ wird als „Gnadenrecht“ bezeichnet.72 „Gnade vor Recht“ kann somit nicht bedeuten, dass Gnade generell außerhalb des Rechts steht, sondern wenn überhaupt nur als Befreiung der Gnadenausübung von rechtlichen Schranken inhaltlicher Art. Diese Feststellung 65 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 15; vgl. auch Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 262. 66 Wiontzek, Handhabungen und Wirkungen des Gnadenrechts, S. 60. 67 Vgl. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 162; weitere Nachweise bei Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 77 mit Fn. 18. Relevant wird dies in Bayern und Hamburg, da es dort an einer Art. 60 Abs. 3 GG vergleichbaren geschriebenen Delegationsermächtigung fehlt. 68 So kritisiert etwa Böllhoff (Begnadigung und Delegation, S. 78 f.) die Annahme einer gewohnheitsrechtlichen Delegationsermächtigung. 69 D. h. einer längerdauernden, gleichmäßigen und allgemeinen Übung (longa consuetudo), die von den Beteiligten als rechtsverbindlich anerkannt wird (opinio iuris), vgl. Schmidt-Bleibtreu / Hofmann / Henneke-Hopfauf, Einl. Rn. 228; BVerfGE 34, 293 (303 f.). 70 Krebs / Becker, JuS 2013, 97 (100). 71 Vgl. auch Schenke, JA 1981, 588 (591), wenn sich aus diesem Umstand allein auch noch keine zwingenden Rückschlüsse auf die Verortung der Gnade im Rechtssystem treffen lassen mögen (Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 83). 72 Vgl. Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 69 (Hervorhebungen durch den Verfasser). Auch die Gnadenordnungen sind als Verwaltungsvorschriften rechtliche Regelungen; der Rechtscharakter von Verwaltungsvorschriften folgt aus dem Umstand, dass sie für den Verwaltungsbediensteten verbindlich sind und diese Verbindlichkeit durch das Recht begründet wird (H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 24 Rn. 3).
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mag banal wirken, soll jedoch hier wegen des zum Teil feststellbaren streng dualistischen Verständnisses von Gnade und Recht eigens betont werden.73 2. Zur Rechtsbindung im Einzelnen a) Vorbemerkung: Irrelevanz subjektiv-öffentlicher Rechte für das Verhältnis von Gnade und Gesetz Mit der Feststellung, dass Gnade prinzipiell Bestandteil des Rechts ist, ist für die Frage, ob der etwaige Vorrang der gesetzlichen Alternativregelungen gegenüber der Gnade Rechtsqualität haben kann, noch nicht allzu viel gewonnen. Vielmehr stellt sich die Frage, inwieweit die Gnade rechtlichen Schranken unterliegt. Dabei ist zunächst festzustellen, dass sich der mögliche Vorrang der gesetzlichen Alternativregelungen gegenüber der Gnade – ungeachtet der Frage seiner dogmatischen Grundlage –74 jedenfalls nicht aus subjektiv-öffentlichen Rechten des Einzelnen ergeben kann. Denn die Nachrangigkeit der Gnade gegenüber dem Gesetz schränkt die Freiheit des Gnadenträgers, Gnade zu gewähren ein; aus subjektiv-öffentlichen Rechten des Einzelnen kann sich hingegen eine Beschränkung des Gnadenträgers, Gnade zu gewähren, grundsätzlich nicht ergeben. Dass die Grundrechte des Verurteilten selbst nicht zu einer solchen Beschränkung führen können, bedarf keiner weiteren Erläuterung. Mit Blick auf subjektiv-öffentliche Rechte Dritter wäre allenfalls an theoretische Extremfälle zu denken, in denen sich eine Schutzpflicht des Staats gegenüber der Bevölkerung aus Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG bzw. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergeben könnte,75 die der Begnadigung 73 In Einzelfällen können Gnadenakte zur Herstellung der Individualgerechtigkeit sogar gerade der Verwirklichung des Rechts dienen: Denn aus dem Umstand, dass Art. 20 Abs. 3 GG zwischen „Gesetz“ und „Recht“ differenziert, folgt, dass Gesetz und Recht insoweit auseinanderfallen können, als das positive Recht prinzipielle Gerechtigkeitsansprüche verfehlt (Maunz / Dürig-Grzeszick Art. 20 VI Rn. 63; dort auch [Rn. 64 ff.] mit Überblick zu der freilich umstrittenen Grenzziehung zwischen dem Rekurs auf Naturrecht und der Aushebelung des demokratisch legitimierten positiven Gesetzes). Sofern der Gnadenakt jedenfalls solche prinzipiellen Gerechtigkeitsansprüche zu verwirklichen sucht, ergeht er nicht vor Recht, sondern verwirklicht dieses erst. 74 Dazu sogleich unter § 3 B. IV. (S. 134 ff.). 75 Dazu näher Maunz / Dürig-Di Fabio, Art. 2 II 1 Rn. 41 ff. Daneben hat das BVerfG jüngst in einem Kammerbeschluss einen Anspruch des Straftatopfers auf eine effektive Strafverfolgung aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 und 2 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG hergeleitet; bei Kapitaldelikten könne ein solcher Anspruch gem. Art. 6 Abs. 1 und 2 GG auch nahen Familienangehörigen zustehen (BVerfG JZ 2015, 890 [891]). Indes hatte der vom BVerfG zuerkannte Anspruch allein ein wirksames Tätigwerden
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eines besonders gefährlichen Täters in engen Grenzen möglicherweise entgegenstünde; doch wäre diese Frage einerseits wohl eher theoretischer Natur (kein Gnadenträger würde einen für die Allgemeinheit derart gefährlichen Verurteilten begnadigen)76 und gibt zudem für den etwaigen Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade nichts her. Der Vorrang der gesetzlichen Alternativregelungen gegenüber der Gnade kann daher überhaupt nur dann rechtsverbindlich sein, wenn die Gnade jenseits subjektiver Rechte des Einzelnen Bindungen des objektiven Rechts unterworfen sein kann.77 b) Rechtsbindung der Gnade durch Rechtsbindung des Gnadenträgers Solche Beschränkungen der Gnade könnten daraus folgen, dass der Gnadenträger selbst bei Ausübung des Begnadigungsrechts an Recht und Gesetz gebunden sein könnte.78 Unter dem Grundgesetz ist das Volk gem. Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG Träger der Staatsgewalt, welche von der in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG bezeichneten Funktionentrias ausgeübt wird.79 Der jeweilige Gnadenträger – gleich ob auf oberster Ebene (Bundespräsident bzw. Ministerpräsidenten oder Justizminister) oder auf „unterer“ Ebene (insbesondere die Staatsanwaltschaften) – leitet seine Gnadengewalt daher nicht mehr „von Gottes Gnaden“80 ab, sondern allein vom Volk. Der Gnadenträger unterläge als Teil der Exekutive81 hiernach an sich den in Art. 20 Abs. 3 GG bezeichneten rechtlichen im Ermittlungsverfahren zum Inhalt (vgl. BVerfG, a. a. O., S. 892). An eine Verletzung subjektiv-öffentlicher Opferrechte durch Gnadenakt wäre hingegen überhaupt nur bei einem Anspruch auf „effektive Strafvollstreckung“ zu denken. 76 Eine für einen Gnadenakt regelmäßig erforderliche „unbillige Härte“ läge zudem nicht vor, stünde hier insbesondere die negative Spezialprävention einer Begnadigung offensichtlich entgegen; näher zur Maßgeblichkeit der Strafzwecke zur Bestimmung einer „unbilligen Härte“ unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.). 77 Vgl. auch Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 73 f. 78 s. zu dem Gedanken einer solchen „mittelbaren“ Bindung der Gnade an das Recht A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 31 ff. sowie die Nachweise aus der Rspr. unter § 3 A. II. (S. 110 f.). 79 Erichsen, Staatsrecht und Verwaltungsgerichtsbarkeit I, S. 99. 80 Zum Zusammenhang zwischen dem Begnadigungsrecht und dem mittelalterlichen Gottesgnadentum Grewe, Gnade und Recht, S. 41: „Die personale Herrschervergöttlichung bildet mit ihrer Identifizierung von Gott und Herrscher den eigentlichen Anknüpfungspunkt für ein transzendent begründetes Gnadenrecht.“ Vgl. auch Huba Der Staat 1990, 117 (118 ff.). 81 Zur Einordnung des Gnadenakts als „Akt der Exekutive“ Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 26 ff.; Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 30 ff.; anders Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 120 ff. („Gewalt sui generis“); dazu wiederum krit. Klein, Gnade, S. 65; Schenke JA 1981, 588 (590). Für die Einordnung der Gnadengewalt als Teil der Exekutive spricht neben der formalen Zuweisung an Exekutivor-
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Schranken.82 Das Begnadigungsrecht – als Ausübung der Staatsgewalt – wäre demnach mittelbar dem Recht unterworfen. Etwas anderes wäre nur dann der Fall, wenn sich aus Art. 60 Abs. 2 GG – sowie den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Regelungen – ableiten ließe, dass ein partiell rechtsfreier Raum geschaffen wurde, in dem der Gnadenträger nach Gutdünken in das rechtskräftige Urteil eingreifen kann. Entgegen der obergerichtlichen Rechtsprechung insbesondere der 50er und 60er Jahre und Teilen der Literatur ist dies allerdings nicht der Fall. In die Vorschrift des Art. 60 Abs. 2 GG (bzw. die entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen) darf nicht die Übernahme eines partiell rechtsfreien Raumes hineingelesen werden, der den Wandel der Staats- und Herrschaftsform hin zu einem modernen Rechtsstaat unberücksichtigt lässt.83 Denn die Übernahme eines „historisch überkommenen Gnadenverständnisses“ – im Sinne einer dem Recht vorgeschalteten Gnade – in das Grundgesetz lässt sich hieraus nicht ableiten:84 Zwar wird man dies nicht schon zwingend dem Wortlaut von Art. 60 Abs. 2 GG entnehmen können. Soweit darauf verwiesen wird, aus der Formulierung „für den Bund“ folge, dass es sich beim Begnadigungsrecht nicht um ein höchstpersönliches Recht des Bundespräsidenten handelt, sondern um Ausübung von Staatsgewalt,85 so ist dies zwar richtig. Der fehlende höchstpersönliche Charakter ist aber zum einen aufgrund der Delegationsermächtigung in Art. 60 Abs. 3 GG ohnehin eine Selbstverständlichkeit (muss also nicht erst durch Wortlautauslegung gewonnen werden), zum anderen sagt er nicht zwingend etwas über den Umfang der rechtlichen Bindung aus.86 gane in den Verfassungstexten, dass es sich bei dem Gnadenakt materiell um den Verzicht auf den rechtskräftig festgestellten staatlichen Strafanspruch handelt, das Begnadigungsrecht also mit der Strafvollstreckung einen Aufgabenbereich betrifft, welcher der Exekutive zugeordnet ist. 82 Da der Begriff der „vollziehenden Gewalt“ i. S. v. Art. 20 Abs. 3 GG Auffangcharakter hat und sämtliches staatliches Handeln umfasst, das nicht Gesetzgebung oder Rspr. ist (Maunz / Dürig-Grzeszick, Art. 20 VI Rn. 71), lässt sich die Tätigkeit des Gnadenträgers unschwer hierunter fassen. 83 Vgl. Münch / Kunig-v. Arnauld, Art. 60 Rn. 9. 84 So aber ohne nähere Begründung BVerfGE 25, 352 (361 – tragende Meinung); krit. Schoch / Schneider / Bier-Ehlers / Schneider, § 40 Rn. 120. 85 Vgl. die Nachweise auf S. 115 mit Fn. 56. 86 So ist der Wortlaut von Art. 49 Abs. 1 WRV („Der Reichspräsident übt für das Reich das Begnadigungsrecht aus.“) mit dem des heutigen Art. 60 Abs. 2 GG vergleichbar, was dafür spricht, dass auch nach der Rechtslage in der Weimarer Republik das Begnadigungsrecht kein höchstpersönliches Recht des Gnadenträgers (Reichspräsident) war; gleichwohl war noch bis in die 60er Jahre hinein ein dualistisches Verständnis von Gnade und Recht (welches einer Rechtsbindung gerade entgegensteht) herrschend, siehe unter § 3 A. II. (S. 109).
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Demgegenüber streitet die Systematik des Grundgesetzes für eine Integration der Gnade in das Recht, denn die eine umfassende Rechtsbindung statuierende Vorschrift des Art. 20 Abs. 3 GG ist den nachfolgenden Vorschriften (und damit auch Art. 60 Abs. 2 GG) vorangestellt und überdies im Gegensatz zu Art. 60 Abs. 2 GG von Art. 79 Abs. 3 GG („Ewigkeitsklausel“) eigens abgesichert, wodurch sie in ihrer Bedeutung besonders hervorgehoben wird. Ferner gibt die Entstehungsgeschichte des Art. 60 Abs. 2 GG für die Integration einer rechtsfreien Gnade nichts her: Während in der Verfassung des Deutschen Kaiserreichs von 1871 noch eine Bestimmung zum Begnadigungsrecht fehlte, das Begnadigungsrecht vielmehr lediglich einfach-gesetzlich in § 484 RStPO Erwähnung fand,87 wurde erst in Art. 49 Abs. 1 WRV eine knappe Bestimmung aufgenommen.88 Die Norm sagte nur, wer für das Reich zuständig ist, nichts hingegen über den Inhalt des Begnadigungsrechts.89 Bei den Beratungen des Parlamentarischen Rates nahm man sich zwar diese Vorschrift dann für Art. 60 Abs. 2 GG zum Vorbild. Es kam allerdings nicht zu einer näheren Diskussion über das Begnadigungsrecht im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates,90 sodass sich keineswegs zwingend auf eine Anknüpfung an den Rechtszustand in Kaiserreich und Weimarer Republik schließen lässt.91 Überdies lässt sich ohnehin kein einheitlicher „historisch überkommener Sinn“ des Begnadigungsrechts feststellen, der in das Grundgesetz hätte übernommen werden können.92 Richtigerweise handelt es sich daher bei Art. 60 Abs. 2 GG und den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen in erster Linie um Zuständigkeitsregeln,93 die – da sie die Existenz des Begnadigungsrechts voraussetzen – zudem das Institut „Begnadigungsrecht“ verfassungsrechtlich garantieren, ohne dass damit eine inhaltliche Aussage über das Begnadigungsrecht getroffen wird. Die Stellung des Begnadigungsrechts im Grundgesetz erklärt sich daraus, dass das Grundgesetz in Art. 54 ff. einen eigenen Abschnitt zu den Rechten und Pflichten des Bundespräsidenten enthält. Eine Aussage inhaltlicher Art zum Begnadigungsrecht – etwa zu 87 s.
unter § 1 B. I. 1. (S. 35). zum diesbezüglichen Wortlaut S. 120 mit Fn. 86. 89 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 49 Anm. 1. 90 s. bereits unter § 1 E. I. (S. 59). 91 Treffend Schenke, JA 1981, 588 (589 f.). 92 So erkannte bereits das Reichsgericht im Jahr 1924 (RGSt 58, 263 [265]): „Im früheren monarchischen Staate war das Staatsoberhaupt für die Ausübung des Begnadigungsrechts allerdings nicht verantwortlich. Das beruhte aber nicht auf der Natur des Gnadenrechts, sondern auf der staatsrechtlichen Stellung seines Trägers.“ 93 So auch Bernhardt, ZRP 1970, 52; Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 12; Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1329) m. w. N. 88 s.
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seinen materiellen Voraussetzungen, Art. 60 Abs. 2 GG hingegen nicht.94
seinem
Umfang –
folgt
aus
Die verfassungsrechtlichen Vorschriften zum Begnadigungsrecht implementieren mithin kein außerhalb der Rechtsordnung stehendes Institut. Die Ausübung des Begnadigungsrechts ist vielmehr wie jede andere Staatsgewalt in das Gewaltenteilungssystem des Grundgesetzes einzuordnen.95 Hieraus folgt die Integration der Gnade in das Recht, verbunden mit einer umfassenden Bindung an objektives Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). c) Vergleich mit Amnestie und gesetzlichen Strafvergünstigungen In der Diskussion über die Rechtsbindung der Gnade wird viel zu wenig berücksichtigt, dass eine (partielle) Rechtsfreiheit der Gnade eine grundlegend unterschiedliche Einordnung von Begnadigung einerseits und Amnestie bzw. den gesetzlichen Strafvergünstigungen andererseits zur Folge hätte. Hierfür gibt es jedoch keinen vernünftigen Grund: aa) Vergleich der Gnade mit der Amnestie Zuständig für Amnestien96 ist heute der Gesetzgeber, Amnestiegesetze müssen unstreitig den Anforderungen des Grundgesetzes – in formeller wie materieller Hinsicht – entsprechen.97 Letzteres folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG, wonach der Gesetzgeber an die „verfassungsmäßige Ordnung“ und damit an die im Grundgesetz enthaltenen Bestimmungen – nicht nur an die subjektiven Rechte des Einzelnen, sondern auch an objektives Verfassungsrecht – gebunden ist. Eine Ausklammerung der Tätigkeit des Amnestiegesetzgebers aus diesem, verfassungsrechtlichen Bindungen unterliegenden, 94 In dieser Richtung auch Münch / Kunig-v. Arnauld, Art. 60 Rn. 9; Bernhardt, ZRP 1970, 52; Bettermann, AöR 96 (1971), 528 (538); Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1329 f.); A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 92 f.; Schenke, JA 1981, 588 (589 f.). Weitergehend aber Böllhoff (Begnadigung und Delegation, S. 67), der aus Art. 60 Abs. 2 GG die „institutionelle Festschreibung“ eines „Verfassungswert[s]“ herauslesen will, „der die Begrenztheit des Rechts aufzeigt“. In Anbetracht der Entstehungsgeschichte der Norm dürfte die Annahme eines Verfassungswerts „Begnadigung“ zweifelhaft sein; der These der „Begrenztheit des Rechts“ kann überdies nicht beigetreten werden, siehe unter „Ergebnis und Ausblick“ (S. 263). 95 A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 94; Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907). 96 Synonym wird heute auch von „Straffreiheit“ gesprochen (LR-Böttcher, Vor § 12 GVG Rn. 9). 97 Vgl. z. B. BVerfGE 10, 234 (246 ff.); Brugger, JuS 1984, 793 (797 ff.); Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 29; Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (149).
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Bereich in eine rechtsfreie Sphäre – wie von den Anhängern der Rechtsfreiheit der Gnade für die Ausklammerung des Begnadigungsrechts aus dem an sich dem Recht unterworfenen Bereich exekutiven Handelns (Art. 20 Abs. 3 GG) gefordert – wird nicht vertreten. Vor diesem Hintergrund mutete es verblüffend an, wollte man zwar das vom Gesetzgeber geschaffene Amnestiegesetz objektiv-rechtlichen Bindungen unterwerfen, nicht hingegen die Gnade, weisen doch beide materiell wesentliche Gemeinsamkeiten auf: Begnadigung und Amnestie haben gemeinsame historische Wurzeln.98 Erst mit der Entwicklung hin zum parlamentarischen Rechtsstaat wurde dem Souverän das Recht zur Amnestie genommen und beim Gesetzgeber angesiedelt99 und damit der Begriff der „Gnade“ auf das heutige Verständnis im Sinne einer Einzelbegnadigung beschränkt. Hintergrund der alleinigen Kompetenzzuweisung für Amnestien an den Gesetzgeber war der sich durchsetzende Gedanke der Gewaltenteilung als Ausprägung formeller Rechtsstaatlichkeit: Vom Gesetz sollte nur derjenige entbinden können, der es erschaffen hat, also der Gesetzgeber selbst.100 Dementsprechend bestimmte Art. 49 Abs. 2 WRV: „Reichsamnestien bedürfen eines Reichsgesetzes.“101 Bei Schaffung des Grundgesetzes hielt man im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates den Umstand, dass Amnestien eines Gesetzes bedürfen, bereits für eine „Selbstverständlichkeit“102 – eine ausdrückliche Regelung unterblieb. Mit der Ausgestaltung der Amnestie als vom Gesetzgeber zu beschließendes förmliches Gesetz konnte von einem Dualismus zwischen diesem ehemaeingehend Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 13 ff., 30 ff. Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 13 ff. Während im Jahr 1848 in Preußen eine Amnestie noch als königliches Dekret Friedrich Wilhelms IV. erging, wurde zwei Jahre später in der preußischen Verfassung die Amnestie als Prärogative des Parlaments anerkannt (Merten, a. a. O., S. 13 f.). 100 Kern, ZStW 43 (1922), 588 (589). 101 Nach heutigem Verständnis können Amnestien – im Gegensatz zu Begnadigungen – nicht nur den Erlass der Vollstreckung bereits rechtskräftig verhängter Strafen, sondern auch das Verbot der Durchführung von Strafverfahren zum Gegenstand haben (sog. „generelle Abolition / Niederschlagung“ – vgl. Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 40; Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 15). Da sich zu Zeiten der Weimarer Reichsverfassung der Begriff der „Amnestie“ gegenständlich indes auf bereits rechtskräftige Strafen beschränkte, wurde Art. 49 Abs. 2 WRV auch nur in diesem Sinne verstanden; soweit das jeweilige Gesetz (auch) Generalabolitionen vorsah, wurde die Gesetzgebungskompetenz daher nicht auf Art. 49 Abs. 2 WRV, sondern Art. 7 Nr. 2 WRV gestützt (Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 49 Ziff. 2 f.). 102 So ausdrücklich der schleswig-holsteinische Justizminister Katz in der 8. Sitzung des Hauptausschusses am 24.11.1948. 98 Dazu
99 Merten,
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ligen Teilbereich der Gnade und dem Recht keine Rede mehr sein. Schließlich unterliegt im konstitutionellen Rechtsstaat das Amnestiegesetz verfassungsrechtlichen Schranken. Die bereits in der Weimarer Reichsverfassung bestehende materiell-verfassungsrechtliche Bindung des Gesetzes103 wurde durch das Grundgesetz noch deutlich ausgeweitet.104 Es leuchtet jedoch nicht ein, zwar das vom Gesetzgeber beschlossene Amnestiegesetz rechtlichen Schranken zu unterwerfen, nicht hingegen den demokratisch deutlich schlechter legitimierten Gnadenakt. Das BVerfG versuchte hingegen die unterschiedliche Einordnung von (rechtlichen Bindungen unterliegendem) Amnestiegesetz und (angeblich dem Recht vorgeschalteter) Gnade früh – im Rahmen seiner Entscheidung über das Straffreiheitsgesetz vom 31.12.1949105 – damit zu erklären, dass Amnestie und Begnadigung „wesensmäßig verschieden“ seien: „Die Anschauungen über das Wesen der ‚Amnestie‘ haben sich … mit der staatsrechtlichen Entwicklung vom alten Obrigkeitsstaate zum modernen demokratischen Rechtsstaat gewandelt. Im Volksbewußtsein wird die Gewährung von Amnestie nicht mehr als Ausfluß einer dem Recht vorgehenden Gnade, sondern als Korrektur des Rechts selbst empfunden.“106 Dieser These des BVerfG vom Wesensunterschied zwischen Begnadigung und Amnestie ist jedoch entgegenzutreten:107 Ein „Volksbewusstsein“ zu dieser Frage wird man schwerlich feststellen können,108 zumal die rechtliche Relevanz eines solchen im Dunkeln bleibt. Der Rückgriff auf das „Volksbewusstsein“ als Begründungsansatz deutet darauf hin, dass es an wahren Argumenten für eine fundamentale Wesensverschiedenheit beider Institute – einerseits vollumfängliche Bindung an Verfassungsrecht, ande103 So hatte in der Weimarer Republik der Staatsgerichtshof für das Deutsche Reich Parlamentsgesetze auf deren formelle wie materielle Verfassungsmäßigkeit zu prüfen (vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs, Art. 70 Ziff. 3; dort [Ziff. 4 f.] auch zu der damals umstrittenen [und von der Rspr. bejahten] Frage, ob auch den übrigen Gerichten ein entsprechendes Prüfungsrecht zustand). 104 So wird Art. 20 Abs. 3 GG flankiert durch Art. 1 Abs. 3 GG (Bindung des Gesetzgebers an die Grundrechte) und das Normverwerfungsmonopol des BVerfG (vgl. insbesondere Art. 100 GG); näher Maunz / Dürig-Grzeszick Art. 20 VI Rn. 28 f. 105 BGBl. S. 37; dazu näher Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 244 f. 106 BVerfGE 2, 213 (219). 107 s. auch Brugger, JuS 1984, 793 (795) m. w. N. 108 Gerade im Bereich des Gnadenrechts hat die „landläufige Meinung“ häufig wenig mit der Realität zu tun. So bitten z. B. viele Menschen den Bundespräsidenten, ablehnende Gnadenentscheidungen der Länder zu überprüfen (Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 20). Auch im Rahmen der öffentlichen Diskussion um die Begnadigung Christian Klars zeigten sich z. T. erhebliche Fehleinschätzungen (siehe bereits S. 22 mit Fn. 22), von der Bezeichnung der aus Anlass des Weihnachtsfests gewährten Begnadigungen als „Weihnachtsamnestie“ (siehe unter § 1 E. II. 4. [S. 72 mit Fn. 312]) ganz zu schweigen.
A. „Gnade im Recht“: Zur Verankerung der Gnade innerhalb des Rechts 125
rerseits dem Recht vorgegebenes, wesensmäßig nicht beschränkbares Institut – fehlt. Die Verfassungsmaterialien lieferten dem BVerfG jedenfalls keinen Argumentationsstoff: Die Diskussion im Hauptausschuss des Parlamentarischen Rates zur Thematik Begnadigungsrecht / Amnestie drehte sich allein um formale Fragen, wie insbesondere die zu treffende Zuständigkeitsverteilung zwischen Bund und Ländern für Begnadigung und Amnestie;109 für die Annahme einer „wesensmäßigen“ Verschiedenartigkeit beider Institute geben die Materialien hingegen nichts her. Die heute zwischen Gnade und Amnestie bestehenden Unterschiede sind deshalb formeller Art,110 prinzipielle materielle Unterschiede bestehen indes nicht:111 Materiell geht es bei beiden Instituten um die Aufhebung oder Milderung von Strafen, ohne dass eine Aussage über das Unrecht der Tat oder die Schuld des Täters getroffen wird.112 Der abstrakt-generelle Charakter der Amnestie hat zwar zur Folge, dass hier im Gegensatz zur Begnadigung nicht der Täter, sondern die Tat im Vordergrund steht.113 Beweggrund des Gesetzgebers bei Erlass eines Amnestiegesetzes sind indes regelmäßig typische Einzelfälle,114 sodass Anlässe und Motive von Einzelbegnadigungen und Amnestien im Wesentlichen übereinstimmen.115 In dieser Hinsicht folgerichtig wird die Amnestie – bedingt durch ihre historische Verwurzelung als Teilbereich der Gnade – auch als „Generalbegnadigung“116 bzw. „Massenbegnadigung“117 bezeichnet. Festzuhalten bleibt damit, dass der Vergleich mit der Amnestie eindeutig für eine objektiv-rechtliche Bindung der Gnade streitet, da für eine funda109 Vgl. die 9. Sitzung des Organisationsausschusses vom 1.10.1948; 8. Sitzung des Hauptausschusses vom 24.11.1948; 33. Sitzung des Hauptausschusses vom 8.1.1949. 110 Beschränkung der Gnade auf den Einzelfall, während Amnestien eine unbestimmte Vielzahl von Fällen regeln (BVerfGE 10, 234 [242]); Beschränkung der Gnade auf rechtskräftige Verurteilungen, während Amnestien auch anhängige Verfahren betreffen können (sog. „Generalabolitionen“ – vgl. Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 50). 111 Grewe, Gnade und Recht, S. 12 f. 112 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 46. 113 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 40; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 13; Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (137). 114 BVerfGE 2, 213 (222); 10, 234 (243). 115 Brugger, JuS 1984, 793 (795); anders offenbar Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 134 f. 116 Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 30; Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (137); vgl. auch Grewe, Gnade und Recht, S. 12 („gnadenweise[r] Straferlaß für eine ‚generell bezeichnete Vielheit von Fällen‘ “); LR-Schäfer, 24. Aufl. 1996, Vor § 12 GVG Rn. 9 („generelle Begnadigung“). 117 Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (108).
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
mental unterschiedliche Behandlung beider Institute kein vernünftiger Grund ersichtlich ist. Muss ein Amnestiegesetz gem. Art. 20 Abs. 3 GG mit der gesamten Verfassung vereinbar sein, so hat dies auch für den Gnadenakt zu gelten.118 bb) Vergleich der Gnade mit den gesetzlichen Strafvergünstigungen Dieser Befund wird durch den Blick auf die gesetzlichen Strafvergünstigungen bestärkt, gilt für diese doch selbstredend eine umfassende Bindung an höherrangiges Recht. Denn mit Schaffung solcher Vergünstigungen – die aufgrund ihres Ursprungs in der Gnadenpraxis zum Teil auch als „kodifizierte“ bzw. „verrechtlichte Gnade“ bezeichnet werden −119 wird die Gnade einfach-gesetzlich in die Rechtsordnung integriert.120 Durch diese Vergesetzlichung der Gnade handelt es sich selbstredend formal nicht mehr um Gnade, sondern eben um Gesetzesrecht,121 was eine umfassende Bindung an das höherrangige Grundgesetz zur Folge hat. Während sich Gnade und die gesetzlichen Alternativregelungen damit in ihrer Form unterscheiden, besteht materiell eine wesentliche Gemeinsamkeit, nämlich die Funktion, besondere Umstände des Einzelfalls im Wege der Individualisierung122 zu berücksichtigen. Die historische Entwicklung zeigt, dass viele der heutigen gesetzlichen Alternativregelungen ihren Ursprung in einer generellen Gnadenpraxis hatten. Zum Teil ging es dem Gesetzgeber dabei gerade darum, der faktisch nach festen Regeln ausgeübten Gnadenpraxis ein gesetzliches Fundament zu geben: So war es gesetzgeberische Intention bei Schaffung der Strafaussetzung im Jahr 1953, „die in verschiedenen Gnadenordnungen zersplittert geregelte Materie zu bereinigen“123. Der Gesetzgeber wollte gerade mit Blick auf die dem Wesen der Gnade widerstreitende Regelhaftigkeit eine 118 Zum Umstand, dass sich sowohl das einfache Gesetz als auch das Exekutivhandeln – trotz divergierender Formulierung in Art. 20 Abs. 3 GG („verfassungsmäßige Ordnung“ bzw. „Gesetz und Recht“) – an der gesamten Verfassung messen lassen müssen: Maunz / Dürig-Grszeszick, Art. 20 VI Rn. 17 ff. 119 Kodalle, Ebert-FS, S. 401 (402, 417) spricht von „Gnade im Recht“ bzw. einer „ ‚eingebauten‘ Gnade im Rechtsstaat“, von „institutionalisierten Formen eines Geistes der Gnade“. Vgl. auch Pflieger, ZRP 2008, 84, der mit Verweis auf Geiger die Reststrafaussetzung als „kleine Gnade“ bezeichnet; B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 464: § 459d StPO als „verrechtlichte Gnadenentscheidung“. 120 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 61. 121 Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (147). 122 s. dazu unter § 1 A. II. 1. (S. 27 ff.). 123 BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 18; siehe bereits unter § 1 E. II. 1. a) (S. 60).
A. „Gnade im Recht“: Zur Verankerung der Gnade innerhalb des Rechts 127
gesetzliche Grundlage schaffen.124 Ähnlich verhielt es sich im Jahr 1998 bei Verkürzung der in § 69a Abs. 7 S. 2 StGB vorgesehenen Mindestsperrfrist von sechs auf drei Monate: Auch hier lag die gesetzgeberische Intention unter anderem darin, „das Gnadenverfahren von solchen Fällen zu entlasten“.125 Auch mit Schaffung des § 57a StGB trug der Gesetzgeber dem Umstand Rechnung, dass sich zuvor das Regel-Ausnahme-Verhältnis im Bereich der lebenslangen Freiheitsstrafe umgekehrt hatte: Nicht mehr die Vollstreckung bis ans Lebensende war die Regel, sondern die Begnadigung.126 Gerade diese Entwicklung der Gnadenpraxis in Richtung einer generellen Handhabung rief nach Kodifizierung des bereits erreichten Zustands der Regelhaftigkeit.127 Fand die Kodifizierung der vormaligen Gnadenpraxis damit vielfach statt, weil die entsprechende Gnadenpraxis schon weitgehend in ein Stadium der Regelmäßigkeit übergegangen war und dadurch ihren Ausnahmecharakter eingebüßt hatte,128 so ist nicht einzusehen, warum eine Praxis, nur weil sie (weiterhin) Ausnahmecharakter hat und daher nicht kodifiziert wird – sondern regelungstechnisch eben formell der Gnade verbleibt –, keinerlei rechtlichen Schranken unterworfen sein soll. Denn es ist nicht ersichtlich, warum der Umstand der Regelhaftigkeit – der vielfach zur Kodifizierung führte und damit für die Form Gesetz / Gnade entscheidend war – über eine solch grundsätzliche Frage wie die Rechtsfreiheit oder eben rechtlichen Integration entscheiden soll.129 Auch dieser Aspekt spricht daher für die Integration der Gnade in das Recht. 124 Vgl. BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 26: „Während die bedingte Strafaussetzung [im Gnadenweg] anfangs noch vorsichtig und nicht allgemein unter bestimmten rechtlichen Voraussetzungen gewährt wurde, entwickelte sie sich langsam zu einem echten Rechtsinstitut, das im Grunde mit dem Wesen der Gnade nichts mehr gemein hatte.“ 125 BT-Drucks. 13 / 6914 (Regierungsentwurf), S. 93; siehe bereits unter § 1 E. II. 7. b) (S. 81). 126 BVerfGE 45, 187 (241); Kunert, NStZ 1982, 89 (90); siehe bereits unter § 1 E. II. 5. a) (S. 74). 127 Kunert, NStZ 1982, 89 (90); vgl. auch BVerfGE 45, 187 (245): Die Gnadenentscheidung habe sich „in weitem Umfang zu einer Prognoseentscheidung hinsichtlich der Gefährlichkeit des Täters entwickelt … Sie erfüllt damit eine Aufgabe, die schlechterdings nicht Sache des Gnadenträgers sein kann.“ 128 Vgl. auch Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 149; mit Blick auf das Strafvollzugsrecht A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 181. 129 Vgl. auch H. Maurer, JZ 1969, 739 (740): „Was heute ein außerrechtlicher Gnadenakt ist, kann also morgen ein Rechtsakt sein und umgekehrt! Angesichts dieser Ambivalenz kann man schwerlich noch von einem wesensmäßigen und fundamentalen Unterschied zwischen Recht und Gnade sprechen.“
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
3. Zwischenergebnis Nach alledem lässt sich eine vollständige Integration der Gnade in das Recht nicht abstreiten. Die Gnade unterliegt objektiv-rechtlichen Bindungen, die sich insbesondere aus der Verfassung ergeben. Durch die Bindung der Gnade an objektives Recht bekommt etwa auch der weitgehend anerkannte, aber rechtlich zumeist nicht näher begründete Umstand, dass durch Ausübung des Begnadigungsrechts nicht das Urteil selbst aufgehoben, sondern eben nur die Rechtsfolgen korrigiert werden können,130 eine rechtliche Dimension, lässt sich dies nämlich als ein aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz folgendes Gebot begreifen.131 Im Übrigen ist die Gnade auch grundsätzlich für gewohnheitsrechtliche Bindungen offen. Die Gnadenentscheidung wird damit zum Rechtsakt.132 Demnach ergeht Gnade nicht vor, sondern im Recht, mit der Folge, dass dem im Folgenden näher zu untersuchenden etwaigen Vorrang der gesetzlichen Alternativregelung („Gnade nach Gesetz“) Rechtsqualität zugesprochen werden könnte.
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade I. Vorbemerkung Nur solche gesetzliche Regelungen können in Konkurrenz zur Gnade treten, die Vergünstigungen nach Abschluss des Erkenntnisverfahrens vorsehen. Denn im Bereich des Strafrechts133 setzt eine Begnadigung stets eine vorherige rechtskräftige Entscheidung (Verurteilung oder Strafbefehl) voraus; ohne eine solche gibt es nach heutigem Verständnis begrifflich schon keine Begnadigung, sondern allenfalls eine Abolition.134 130 s.
unter § 2 A. (S. 90 mit Fn. 7). Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 26: „Alles andere verbietet sich aus dem verfassungsrechtlichen Verhältnis zwischen der dritten und der zweiten Gewalt…“ 132 Vor diesem Hintergrund erscheint es treffender, die Schaffung gesetzlicher Alternativregelungen der Gnade nicht als „Verrechtlichung“ der Gnade zu bezeichnen – suggeriert dieser Begriff doch, dass es sich bei der Gnade selbst nicht um „Recht“ handele – sondern von einer „Vergesetzlichung“ zu sprechen (so auch Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 75). 133 Etwas anderes gilt im Verwaltungsrecht: Disziplinarrechtliche Begnadigungen sowie Begnadigungen bezüglich Bußgelder oder Ordnungsmittel beziehen sich i. d. R. auf einen Verwaltungsakt. 134 Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 31. Siehe bereits in der Einleitung (S. 19). 131 Vgl.
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 129
Damit stellt sich von vornherein nicht die Frage des Verhältnisses der Gnade zu solchen Regelungen, die bereits vor der gerichtlichen Entscheidung Anwendung finden (wie insbesondere §§ 153 ff. StPO), oder die das Gericht bei der Entscheidung anwendet. Zu letzteren zählen etwa die Vorschriften über das Absehen von Strafe durch das erkennende Gericht.135 Dies sei hier klarstellend erwähnt, wird im Zusammenhang mit dem Absehen von Strafe doch auch heute noch von einer „Verrechtlichung“ von Gnade gesprochen,136 was sich nur aus den materiellen Gemeinsamkeiten zwischen dem Absehen von Strafe und der Gnade erklärt.137 Ebenso kann grundsätzlich138 kein Konkurrenzverhältnis zwischen der Gnade und der Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB bestehen, obwohl diese der Strafvollstreckung139 und damit einem Bereich zuzuordnen ist, in welchem auch das Begnadigungsrecht Anwendung findet. Denn wie das Absehen von Strafe erfolgt auch die Strafaussetzung bei und nicht nach der (rechtskräftigen) Verurteilung.140 Wie beim Absehen von Strafe besteht also auch bei der Strafaussetzung zur Bewährung heute141 nur ein mittelbarer Bezug zur Gnade dergestalt, dass Fälle, in denen eine Strafaussetzung zur Bewährung nach § 56 StGB erfolgt, grundsätzlich142 als spätere Gnadenfälle ausscheiden.
135 Vgl. § 60 StGB bzw. die über das gesamte StGB verstreuten Spezialregelungen (z. B. §§ 23 Abs. 3, 46a, 46b Abs. 1 S. 3, 113 Abs. 4, 129 Abs. 6, 142 Abs. 4, 157, 158 Abs. 1, 218a Abs. 4 S. 2, 306e Abs. 1 StGB). Zu diesem Aspekt bereits unter § 1 A. II. 1. (S. 29). 136 So Schütte, UBWV 2007, 161 (166); siehe auch Blaich, Gnadenrecht, S. 112 („materielle Gnade“). 137 s. hierzu näher unter § 1 E. II. 3. b) (S. 68). 138 Etwas anderes gilt ausnahmsweise dann, wenn die zunächst nicht ausgesetzte rechtskräftige Strafe in eine nachträgliche Gesamtstrafe einbezogen und deren Vollstreckung nunmehr (etwa aufgrund gewandelter Lebensverhältnisse) ausgesetzt wird (vgl. LK-Hubrach, § 56 Rn. 65; BGHSt 7, 180 [182]). Denn hier wird § 56 StGB auf eine rechtskräftige Strafe angewendet. 139 Vgl. MK-Groß, § 56 Rn. 1 m. w. N.: § 56 StGB als „Strafvollstreckungsregel“. 140 Zudem wird in der Praxis regelmäßig vom Erlass eines Gnadenakts in unmittelbarer zeitlicher Nähe zur Rechtskraft des Urteils abgesehen, damit das Urteil zunächst Wirkung entfalten kann (Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [107]). 141 Anders noch die Praxis der „bedingten Begnadigung“, welche nach damaligem Verständnis keine rechtskräftige Verurteilung voraussetzte, in der Weimarer Republik vielmehr regelmäßig mit der Urteilsverkündung erfolgte (siehe unter § 1 C. I. 2. [S. 48 mit Fn. 152]). 142 Ausnahmen bestehen im Fall des Bewährungswiderrufs und mit Blick auf die (theoretisch) nachträgliche Verkürzung der Bewährungszeit oder Milderung von Bewährungsauflagen bzw. ‑weisungen im Gnadenweg.
130
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Die gesetzlichen Regelungen, die Vergünstigungen nach rechtskräftiger Verurteilung vorsehen und damit einen Bereich regeln, für welchen auch der Gnadenweg vorgesehen ist, sind zahlreich und über das gesamte Straf(verfahrens)recht, einschließlich des Jugend- und Nebenstrafrechts verteilt. Sie betreffen neben der Hauptstrafe auch Nebenfolgen und Maßregeln der Besserung und Sicherung. Als Regelungen des Kernstrafrechts, die für das Strafverfahren gegenüber Erwachsenen gelten und Vergünstigungen im Hinblick auf Vollstreckung und Vollzug der Hauptstrafe vorsehen, sind insbesondere zu nennen:143 − Die Reststrafaussetzung nach §§ 57, 57a StGB; − die Regelungen zum Strafausstand nach §§ 455 ff., 459f StPO; − die Regelungen zu Zahlungserleichterungen nach Rechtskraft des Urteils (§ 459a StPO i. V. m. § 42 StGB); − die Unterbleibensanordnung nach § 459d StPO; − die nachträgliche Gesamtstrafenbildung im Beschlussverfahren nach § 460 StPO, soweit sie sich – wie im Regelfall – im Vergleich zur bloßen Addition mehrerer rechtskräftiger Strafen zugunsten des Verurteilten auswirkt;144 − die vollzugsrechtlichen Vergünstigungen nach §§ 10, 11, 13, 16, 35 StVollzG (bzw. den inzwischen ergangenen landesrechtlichen Strafvollzugsgesetzen); − die nachträglichen bewährungsrechtlichen Maßnahmen nach § 56a Abs. 2 S. 2 und § 56e StGB, soweit sie zugunsten des Verurteilten erfolgen; − die Wiederaufnahme des Verfahrens (§§ 359 ff. StPO), soweit sie zugunsten des Verurteilten erfolgt.145 143 Zum Jugendstrafrecht: §§ 11 Abs. 2 und Abs. 3 S. 3; 57 Abs. 1 S. 1 Alt. 2, Abs. 2; 87 Abs. 3; 88 JGG; aus dem Nebenstrafrecht z. B. § 35 Abs. 1 S. 1 BtMG sowie § 14a Abs. 2 WStG; bezüglich der Nebenfolgen: § 45b StGB; zu Verfall und Einziehung speziell § 459g Abs. 3 i. V. m. § 459a StPO; zu den Maßregeln der Besserung und Sicherung: §§ 67a; 67c; 67e; 68d; 68e; 69a Abs. 7; 70a StGB; § 456c Abs. 2 StPO. 144 Zwingend ist dies nicht: So hat sie z. B. nachteilige Folgen, wenn eine für eine Freiheitsstrafe gewährte Strafaussetzung zur Bewährung nunmehr nachträglich wegfällt (MK-v. Heintschel-Heinegg, § 55 Rn. 50). 145 Die Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten nimmt unter den genannten Regelungen freilich eine Sonderstellung ein. Dies folgt zum einen daraus, dass „Gnade“ an sich einem Schuldigen zuteilwerden soll, die Wiederaufnahme hingegen dem Unschuldigen zu seinem Recht verhilft (siehe bereits oben unter § 1 A. II. 2. a) [S. 30]). Zum anderen weichen Struktur und Verfahrensablauf wesentlich von den übrigen gesetzlichen Alternativregelungen ab; gleichwohl
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 131
Was das Verhältnis dieser gesetzlichen Vergünstigungen zur Gnade betrifft, kommen im Wesentlichen zwei Möglichkeiten in Betracht: Einerseits erscheint – theoretisch – eine völlige Parallelität von Gnade und gesetzlichen Alternativregelungen dergestalt denkbar, dass von Rechts wegen nichts dagegen stünde, dass Begnadigungen auch dann erfolgen, wenn der Erlass einer Vergünstigung nach dem Gesetz möglich ist.146 Andererseits ist es möglich, dass die Gnade gegenüber dem Gesetz nachrangig ist: Ist der Anwendungsbereich einer gesetzlichen Alternativregelung eröffnet, müsste hiernach ein Gnadenerweis unterbleiben („Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade“, „Nachrangigkeit der Gnade“). Der Erlass eines Gnadenerweises stünde damit unter der rechtlichen Voraussetzung, dass keine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt. Im Folgenden werden zunächst kurz die zur Frage des Verhältnisses von Gnade und Gesetz relevanten Vorschriften aus den Gnadenordnungen sowie Auffassungen aus der Literatur dargestellt, um im Anschluss der Frage nach der dogmatischen Herleitung des behaupteten Vorrangs nachzugehen.147 Dabei ist zu differenzieren zwischen dem Verhältnis von Gnade und Gesetz in solchen Fällen, in denen noch keine ablehnende Entscheidung auf gesetzlichem Weg erfolgte (Fälle sog. „originärer Gnade“),148 und solchen Fällen, in denen dem Verurteilten auf gesetzlichem Weg die begehrte Vergünstigung bereits versagt wurde („Gnade nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung“). Im Folgenden beschränkt sich der Blick zunächst auf das Verhältnis von originärer Gnade und Gesetz; erst auf die hierzu gewonnenen Erkenntnisse aufbauend können die Fälle betrachtet werden, in denen es bereits zuvor zu einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung kam.149
lässt sich aufgrund der mit dem erfolgreichen Abschluss des Probationsverfahrens einhergehenden Besserstellung des Verurteilten (Aufhebung der Rechtskraft der Verurteilung) ebenfalls von einer „Vergünstigung“ sprechen; vgl. hierzu näher unter § 4 C. V. 1. a) (S. 250). 146 Eine solche Sicht müsste man zwingend annehmen, sähe man die Gnade als Institut neben dem Recht an, das frei von jeglichen rechtlichen Bindungen ist. Denn unterliegt die Gnade keinerlei normativen Schranken, kann auch ihre Ausübung folgerichtig nicht dahingehend rechtlich beschränkt werden, dass sie nur bei fehlender Einschlägigkeit gesetzlicher Bestimmungen zulässig ist. 147 Eine ausdrückliche Aussage der Rechtsprechung zu einem etwaigen Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade sucht man indes vergebens. 148 Gnadenentscheidungen, die ergehen, ohne dass eine gesetzliche Vergünstigung in Betracht kommt, werden im weiteren Verlauf der Arbeit als „originäre Gnadenentscheidungen“ bezeichnet (in Abgrenzung zu Gnadenentscheidungen nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung). 149 s. hierzu unter § 4 B. (S. 223 ff.).
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
II. Das Verhältnis von originärer Gnade und Gesetz nach den Gnadenordnungen Nahezu sämtliche Gnadenordnungen geben dem gesetzlichen Verfahren150 gegenüber der Gnade Vorrang.151 Vielfach sehen die Gnadenordnungen dabei vor, dass der Vorrang des gesetzlichen Wegs lediglich grundsätzlich besteht,152 was die Frage aufwirft, ob von diesem Vorrang ausnahmsweise abgewichen werden kann. Einige Gnadenordnungen enthalten zudem den Zusatz, dass die gesetzlichen Verfahren dann nicht vorrangig sind, wenn der Antragsteller ausdrücklich eine Entscheidung im Gnadenweg begehrt.153 Lediglich in der GnO-HB fehlt eine ausdrückliche allgemeine Regelung zum Verhältnis von Gnade und Gesetz. § 6 Abs. 2 S. 1 GnO-HB ordnet zwar an, dass „Eingaben, die auch als Rechtsmittel aufgefaßt werden können, … unverzüglich dem Gericht zuzuleiten [sind], sofern sie nicht aus Formgründen offenbar unzulässig sind und auch als Gesuch um Wiedereinsetzung in den vorigen Stand offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg haben“. Hierbei handelt es sich allerdings gerade nicht um eine Regelung des Verhältnisses zwischen Gnade und ihren gesetzlichen Alternativregelungen. Denn die Gnade setzt schließlich das Vorliegen einer rechtskräftigen Verur150 Einzelne Gnadenordnungen haben engere Formulierungen, wie etwa § 5 GnOBY, wonach lediglich ein „Vorrang der gerichtlichen Entscheidung“ besteht. Aus einer solchen Formulierung dürfte sich indes nicht ableiten lassen, dass die Gnade nicht auch gegenüber Entscheidungen der Vollstreckungs- oder Vollzugsbehörde nachrangig sein soll. 151 Vgl. etwa § 4 GnO-BE; § 6 Abs. 1 und 2 GnO-HE; § 11 GnO-NI; § 5 Abs. 3 GnG-SL; § 13 a) GnO-SN; § 12 Abs. 1 GnO-ST; § 6 Abs. 1 GnO-TH; siehe zur GnO 1935 § 1 D. I. 2. (S. 54). Die genauen Formulierungen zum Vorrang des Gesetzes sind dabei durchaus unterschiedlich, vgl. z. B. § 13a) GnO-SN: „Entscheidungen des Gerichts, der Vollstreckungs- und der Vollzugsbehörde, durch die dem Ziel des Gnadengesuchs oder einer Gnadenanregung entsprochen werden könnte, haben grundsätzlich Vorrang vor dem Gnadenverfahren.“ § 4 S. 1 und 2 GnO-BE: „Das Gnadengesuch ist darauf zu prüfen, ob dem Ziel der Eingabe durch eine Entscheidung des Gerichts oder der Vollstreckungsbehörde auf Grund gesetzlicher Bestimmungen entsprochen werden kann. Eine solche Entscheidung ist gegenüber Gnadenentscheidungen grundsätzlich vorrangig.“ Nr. 9.1 S. 1 GnO-RP: „Gnadengesuche sind darauf zu prüfen, ob sie Anlaß zu gesetzlichen oder sonstigen nicht gnadenrechtlichen Entscheidungen geben können.“ Der Sache nach dürften sich allerdings trotz dieser voneinander abweichenden Formulierungen keine inhaltlichen Unterschiede ergeben. 152 Vgl. § 4 S. 2 GnO-BE; § 14 Abs. 1 S. 1 GnO-BW; § 6 Abs. 1 S. 1 GnO-HE; § 10 Abs. 1 S. 1 GnO-NW; § 12 a) GnO-SN; § 12 Abs. 1 S. 1 GnO-ST; vgl. auch § 3 Abs. 3 GnO 1935 („in der Regel“). 153 Vgl. § 12 Abs. 2 GnO-BB; § 14 Abs. 1 S. 3 GnO-BW; § 5 Abs. 5 GnO-BY; § 4 Abs. 3 GnO-MV; § 10 Abs. 2 S. 1 GnO-NW; Nr. 9 Abs. 1 S. 4 GnO-RP; § 4 Abs. 3 GnO-SH.
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 133
teilung voraus, die Möglichkeit der Einlegung eines „Rechtsmittels“ hingegen grundsätzlich154, dass gerade noch keine formelle Rechtskraft eingetreten ist. Im Übrigen enthalten einige Gnadenordnungen neben der Regelung zum Vorrang der gesetzlichen Verfahren auch eine dem § 6 Abs. 2 GnO-HB entsprechende Klausel;155 diese wäre bei anderer Lesart überflüssig.156 Allein der Vorrang der Wiederaufnahme des Verfahrens gegenüber der Gnade wird in der GnO-HB ausdrücklich angeordnet (§ 6 Abs. 2 S. 2). Eine im Vergleich zu den übrigen Gnadenordnungen singuläre Bestimmung ist Nr. 9.4 GnO-RP. Hiernach gilt der Vorrang des gesetzlichen Verfahrens nicht bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten. Vor dem Hintergrund, dass in Rheinland-Pfalz für Gnadenverfahren betreffend zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter der Ministerpräsident zuständig ist,157 für welchen die Gnadenordnung als vom Justizminister erlassene Verwaltungsvorschrift formal ohnehin nicht gilt,158 hat diese Klausel jedoch keinen eigenständigen Gehalt. Mit Ausnahme von Bremen, dessen Gnadenordnung die Nachrangigkeit der Gnade gegenüber den gesetzlichen Alternativregelungen nicht eigens anordnet, bestimmen die Gnadenordnungen damit einhellig, dass das Gesetz (grundsätzlich) vorrangig gegenüber der Gnade sein soll.
III. Meinungsstand in der Literatur Auch in der heutigen gnadenrechtlichen Literatur besteht im Ausgangspunkt weitgehend Einigkeit darüber, dass der gesetzliche Weg gegenüber dem Gnadenverfahren Vorrang hat.159 So schreibt Schätzler in seinem 154 Anders
bei Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. z. B. § 13 Abs. 3 GnO-BW; § 8 Abs. 2 GnO-NW; § 11 Abs. 3 GnO-ST; § 5 Abs. 2 GnO-TH. 156 Dass die GnO-HB also keine Regelung zum Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade enthält, wird verkannt, wenn davon die Rede ist, dass die Gnadenordnungen „einhellig“ die Gnade als nachrangig ansehen (so etwa Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 21; Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 107; A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 151). 157 Vgl. § 1 Abs. 1 Nr. 1 Landesgesetz über die Ausübung des Gnadenrechts (dazu S. 102 mit Fn. 95). 158 s. unter § 2 C. I. (S. 97). 159 Vgl. etwa Münch / Kunig-v. Arnauld, Art. 60 Rn. 10; Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 41, 149; Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 58; Freuding, StraFo 2009, 491 (493); Holste, Jura 2003, 738 (739); Kunert, NStZ 1982, 89 (96); A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 139 f.; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 73 f.; Müller-Dietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (160); Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907). 155 Vgl.
134
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Gnadenrechts-Handbuch, dass der „Grundsatz des Vorrangs rechtlicher Vergünstigungen“ das gesamte Gnadenrecht „beherrsche“.160 So klar damit das Meinungsbild hinsichtlich des Vorrangs des Gesetzes gegenüber der Gnade zu sein scheint, so wenig sind insoweit die Einzelheiten geklärt. Handelt es sich bei diesem Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade um eine rechtlich verbindliche Regel? Besteht dieser Vorrang lediglich im „Grundsatz“161 oder gilt er ausnahmslos162? Hat eine Begnadigung trotz möglicher Vergünstigung auf gesetzlichem Weg dann zu erfolgen, wenn der Antragsteller ausdrücklich eine Entscheidung im Gnadenweg begehrt?163 Und vor allem: Wann genau kommt eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht, greift also der Vorrang des Gesetzes? Diesen Fragen soll im Folgenden nachgegangen werden. Hierzu wird zunächst untersucht, ob es überhaupt eine dogmatische Grundlage für die etwaige Nachrangigkeit der originären Gnade gegenüber den gesetzlichen Alternativregelungen gibt.
IV. Dogmatische Grundlage des Vorrangs des gesetzlichen Wegs gegenüber der originären Gnade Besteht in der Literatur über die grundsätzliche Nachrangigkeit der Gnade gegenüber den gesetzlichen Alternativregelungen weitgehend Einigkeit, so Vereinzelte Stimmen könnten zwar auch anders verstanden werden. So weist Groß etwa darauf hin, dass die Vorschriften der §§ 57, 57a StGB das Begnadigungsrecht „unberührt“ ließen (MK-Groß, § 57 Rn. 3, § 57a Rn. 2); sachlich ebenso (zu § 57 StGB) LK-Hubrach, § 57 Rn. 1 und (zu § 57a StGB) Schneider, MDR 1991, 101 (104). Dies dürfte jedoch so zu verstehen sein, dass diese Vorschriften das Begnadigungsrecht im von ihnen betroffenen Bereich nicht vollständig ersetzen (Begnadigungen also auch im Bereich der Reststrafaussetzung prinzipiell weiterhin möglich sind). Ausdrücklich gegen einen rechtlich verbindlichen Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade allein Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 295 ff. 160 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 36; ebenso Harden, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 75 (80). 161 Sodass trotz in Betracht kommender gesetzlicher Alternativregelung gleichwohl eine Begnadigung (ausnahmsweise) möglich ist. 162 Mit der Folge, dass sich immer dann, wenn eine Entscheidung auf gesetzlichem Weg möglich erscheint, eine Begnadigung rechtlich verbietet. 163 Diese in einigen Gnadenordnungen (siehe S. 132 mit Fn. 153) zum Ausdruck kommende Ausnahme vom Vorrang der gesetzlichen Entscheidung wird in der Literatur wenig behandelt; vgl. insoweit aber einerseits Kunert, NStZ 1982, 89 (96), andererseits Mysegades, Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, S. 183; näher dazu unter § 3 V. (S. 161 ff.).
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 135
ist doch zu konstatieren, dass es zumeist an einer (näheren) Begründung fehlt. Zum Teil werden zwar – durchaus unterschiedliche – dogmatische Begründungsansätze genannt, diese dann aber nicht weiter erläutert. So wird knapp auf die „Tradition“,164 die Gnadenordnungen,165 Art. 20 Abs. 3 GG,166 den Grundsatz lex specialis derogat legi generali,167 den „Ausnahmecharakter von Gnadenerweisen“,168 das „Wesen des Gnadenrechts“169 oder die ratio legis der gesetzlichen Alternativregelungen170 verwiesen. Dabei könnte eine nähere dogmatische Begründung zum Vorrang der gesetzlichen Verfahren Aufschluss über die soeben genannten – offenen – Fragen geben. Im Folgenden soll daher dem (behaupteten) Vorrang des gesetzlichen Wegs ein dogmatisches Fundament gegeben werden, um hierauf aufbauend Folgerungen für die inhaltliche Ausgestaltung dieses Vorrangs treffen zu können. 1. Gnadenordnungen Am einfachsten erscheint es, darauf abzustellen, dass sich der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade bereits aus den Gnadenordnungen ergibt, sehen diese doch (mit Ausnahme der GnO-HB) der Sache nach einen solchen Vorrang vor. Doch handelt es sich bei den Gnadenordnungen lediglich um Verwaltungsvorschriften, die zwar von den einzelnen, am Gnadenverfahren beteiligten Verwaltungsbediensteten zu beachten und anzuwenden sind,171 aber darüber hinaus keine Geltung beanspruchen.172 So sind insbesondere die Ministerpräsidenten oder der Bundespräsident hieran nicht gebunden.173 Im Übrigen besteht dort, wo die Bestimmungen der Gnadenordnungen verbindlich sind – d. h. unterhalb des Justizministers – jedenfalls inhaltlich 164 Schätzler,
NJW 1975, 1249 (1250). NJW 1975, 1249 (1250). 166 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 74. 167 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 149 f. 168 LR-Graalmann-Scheerer, § 452 Rn. 8. 169 Freuding, StraFo 2009, 491 (493). 170 Kunert, NStZ 1982, 89 (96 [zum Verhältnis der Gnade zu § 57a StGB]). 171 s. unter § 2 C. I. (S. 97). Insoweit ist der Hinweis von Groß, die Regeln der Gnadenordnungen, die den Vorrang des gesetzlichen Wegs anordnen, seien „unterhalb des rechtlich Verbindlichen“ (StV 1987, 36 [39]), nicht zutreffend. 172 Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 297; v. Preuschen, Der Rechtsschutz in Gnadensachen des § 452 StPO, S. 70. 173 s. unter § 2 C. I. (S. 97). Etwas anderes gilt im Saarland, wo es keine Gnadenordnung, sondern ein Gnadengesetz gibt; hier ist der Vorrang der gesetzlichen Entscheidungen einfach-gesetzlich normiert (§ 5 Abs. 3 GnG-SL – siehe S. 132 mit Fn. 151). 165 Schätzler,
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ein durchaus heterogenes Bild zwischen den einzelnen Bundesländern. So unterscheiden sich die einzelnen Klauseln der Gnadenordnungen zum Vorrang des gesetzlichen Wegs insofern, als die gesetzlichen Verfahren hiernach zum Teil lediglich „grundsätzlich“ vorrangig seien oder eine Gnadenentscheidung stets dann zugelassen wird, wenn der Antragsteller ausdrücklich eine Entscheidung im Gnadenweg begehrt. Es stellt sich dann die Frage, ob sich der Vorrang des gesetzlichen Wegs nicht auf anderer dogmatischer Grundlage – einheitlich für sämtliche Gnadenverfahren in Deutschland – begründen lässt. 2. Selbstbindung der Verwaltung Eine Herleitung des Vorrangs des Gesetzes anhand der Rechtsfigur der Selbstbindung der Verwaltung – wonach sich die mit der Gnadensache betraute Behörde durch gleichmäßige Verwaltungspraxis insofern bindet, als sie ihr Begnadigungsrecht nicht ausübt, soweit eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt – scheidet ersichtlich aus. Zwar ist eine Selbstbindung der Verwaltung grundsätzlich auch im Gnadenrecht denkbar.174 Zu beachten ist jedoch, dass Grundlage der Rechtsfigur der „Selbstbindung der Verwaltung“ Art. 3 Abs. 1 GG ist.175 Subjektiv-öffentliche Rechte wie Art. 3 Abs. 1 GG geben indes für den Vorrang der gesetzlichen Verfahren nichts her, beschränkt dieser doch gerade das Recht, Gnade zu gewähren.176 3. Funktion des Begnadigungsrechts Mitunter wird der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade mit dem „Wesen“ der Gnade177 bzw. ihrem „Ausnahmecharakter“178 begründet, ohne dass es zu einer näheren Auseinandersetzung mit der Frage kommt, worin das Wesen der Gnade liegt bzw. warum die Gnade Ausnahmecharakter hat. Zuletzt hat Böllhoff darauf hingewiesen, dass sich der Vorrang des gesetzlichen Wegs „aus der Anwendung der Begnadigung als rein atypisches Korrektiv“ ergebe. Das Atypische führe dazu, „dass zunächst die typischen, normorientierten Möglichkeiten ausgeschöpft werden müssen und erst dann, sollten besondere Gründe im Einzelfall vorliegen, das Handlungsfeld der 174 Vgl. H. Maurer, JZ 1969, 739 (740 f.); SK-StPO-Paeffgen, § 452 Rn. 2; v. Preuschen, Der Rechtsschutz in Gnadensachen des § 452 StPO, S. 71. 175 Vgl. Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 73. 176 s. bereits unter § 3 A. IV. 2. a) (S. 118). 177 Vgl. Freuding, StraFo 2009, 491 (493). 178 LR-Graalmann-Scheerer, § 452 Rn. 8.
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 137
Begnadigung eröffnet ist“179. In eine ähnliche Richtung gehen Stimmen, welche die Nachrangigkeit der Gnade gegenüber dem Gesetz in der „ultima ratio“-Funktion der Gnade sehen.180 Nachfolgend soll daher näher untersucht werden, worin das „Wesen“ der Gnade liegt und ob sich daraus Rückschlüsse für das Verhältnis der Gnade zum Gesetz gewinnen lassen. a) Überkommenes „Wesen“ der Gnade Nach ursprünglichem Verständnis beruht die Gnadenausübung „nicht auf rationalen Gründen, sondern soll nur als Symbol dafür dienen, daß die Welt des Rechts nicht das Letzte ist“.181 Die Begnadigung stelle hiernach einen „Akt der Großmut“ dar, der auf die Liebe und Güte eines charismatischen „Gnadenspenders“ zurückzuführen sei.182 Radbruch ist im 20. Jahrhundert bedeutendster Vertreter eines transzendenten Gnadenverständnisses, er hält die Gnade für „ihrem Wesen nach irrational“183. In die Rechtswirklichkeit Eingang gefunden hat ein solches irrationales184 Gnadenverständnis insbesondere im religiös bestimmten Mittelalter: So blieb dem zum Tod Verurteilten auf dem Weg zum Richtplatz noch die letzte Hoffnung, „der Strick werde reissen, das Schwert fehlschlagen,185 eine alte Jungfer sich zur Heirat erbieten, oder man werde bei Massenhinrichtungen das Glück haben, der Zehnte zu sein, den nach altem Recht der Scharfrichter verschonen dürfte“186. Den noch im Kaiserreich praktizierten Begnadigungen aus Anlass nationaler Feierlichkeiten187 haftet ebenfalls etwas Irrationales an.188 179 Böllhoff,
Begnadigung und Delegation, S. 58. z. B. SK-StPO-Paeffgen, § 452 Rn. 2; K / M / R-Paulus / Stöckel, § 452 Rn. 3. 181 Hüser, Begnadigung und Amnestie, S. 4. 182 Vgl. die Nachweise bei Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 19 f.; Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (36). 183 Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 264; siehe bereits unter § 3 A. III. (S. 112). Müller-Dietz (DRiZ 1987, 474 [475]) bezeichnete Radbruch als „Kronzeugen“ einer transzendenten Betrachtungsweise der Gnade. 184 Als „irrational“ kann eine Gnadenausübung bezeichnet werden, die „subjektiv gefühlsmäßig, verstandesmäßig nicht nachvollziehbar oder begründbar“ ist (A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 94 mit Fn. 474; ähnlich Klein, Gnade, S. 116). 185 Näher zur Begnadigung bei fehlgehender Todesstrafenvollstreckung, welche vorchristliche Ursprünge hat, Hattenhauer, ZStW 78 (1966), 184 (193 ff.). 186 Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 263; siehe auch Kaufmann, NJW 1984, 1062. 187 Wie etwa die Begnadigungen durch Wilhelm I. anlässlich des 25-jährigen Jubiläums der Reichsgründung oder die Begnadigungen zum 25-jährigen Regierungsjubiläum von Wilhelm II. im Jahr 1913, siehe unter § 1 B. I. 1. (S. 35). 180 So
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Ein solches Verständnis setzt die Gnade in den Kontext ihres begrifflichen Ursprungs als „Liebe Gottes“.189 Nach der christlichen Lehre gewährt Gott als alleiniger Gnadenträger völlig unverdiente Gnade aus Erbarmen und Barmherzigkeit.190 Gnade im theologischen Sinne ist damit immer ein „Akt göttlicher Barmherzigkeit“, ein „bedingungsloses göttliches Geschenk“.191 Für Radbruch sind Gnade und Liebe „gleichen Wesens: Gnade bezeichnet die Vollkommenheit der göttlichen Liebe in ihrem Verhältnis zu der gebrechlichen Menschenliebe. Beide aber stehen in einem scharfen Gegensatz zur Gerechtigkeit und können nur aus diesem Gegensatz heraus begrifflich bestimmt werden: während Gerechtigkeit die Schätzung der Menschen nach Verdienst und Würdigkeit bedeutet, bedeuten Liebe und Gnade Bejahung ohne Rücksicht auf ihren Wert und Unwert.“192 Heutzutage scheitert jedoch jeglicher sakraler Begründungsversuch und damit ein Rückgriff auf das Verständnis von Gnade im theologischen Sinn an der „nichtmetaphysischen Legitimation von Herrschaft in der Gegenwart“.193 Böllhoff weist zutreffend darauf hin, dass – auch wenn der Begriff der Gnade einem theologischen Kontext entspringt – der „weltliche, konsequent säkulare Rechtsbegriff“ die Loslösung von einem theologischen Rechtsbegriff fordert und auf der strikten Trennung von der Theologie aufbaut.194
188 Eine solche Gnadenpraxis ist freilich schon deshalb unzulässig, weil insoweit allenfalls eine Amnestie das taugliche Instrumentarium wäre (Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 141). Hingegen auch in solchen Gnadenakten noch eine ratio erblickend Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 73 f.; dagegen Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 263: Es gibt „Begnadigungen, die weder rechtliche noch politische Zwecke verfolgen, die überhaupt keine zweckrationale Handhabung der Gnade mehr bedeuten: die Begnadigungen und Amnestien an nationalen Feiertagen – und gerade sie sind das Überbleibsel dessen, was ursprünglich Gnade hiess.“ 189 Vgl. dazu Huba, Der Staat 1990, 117 (118 ff.). 190 Klein, Gnade, S. 5. 191 Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, S. 147. Vgl. auch Berges, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 11 (31): „In dieser absolut freien Entscheidung zur Gnade liegt die Größe Gottes – durch nichts und niemanden konditioniert, nicht einmal durch seine Barmherzigkeit.“ 192 Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 259. 193 Treffend Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (145 f.); inhaltlich ebenso Grewe, Gnade und Recht, S. 17; Huba, Der Staat 1990, 117 (119). 194 Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 20; inhaltlich ebenso Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 138.
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 139
b) Erfordernis eines rational nachvollziehbaren Gnadengrundes Ist damit der Rückgriff auf christliche Ursprünge der Gnade – und allgemein: transzendent verstandene Gnade – versperrt, so bedeutet dies allein noch nicht, dass die Funktion der Gnade nicht auch darin liegen kann, Ausdruck von „Liebe, Güte, Barmherzigkeit oder Wohlwollen“ im modernen säkularen Staat zu sein.195 Denn diese Werte sind schließlich nicht exklusiv dem Christentum zugewiesen, sondern können selbstredend auch Ausdruck staatlichen Handelns im säkularen Staat sein.196 Gleichwohl erscheint ein Rückgriff hierauf allein im modernen Rechtsstaat problematisch: Liebe, Güte, Barmherzigkeit oder Wohlwollen sind in erster Linie Begriffe der Emotion, nicht der Rationalität, ihnen haftet etwas Irrationales an. Aus der Konzeption des demokratischen Rechtsstaats nach dem Grundgesetz könnte sich jedoch ergeben, dass es für den Erlass eines Gnadenerweises stets (zumindest auch) eines rational nachvollziehbaren Grundes bedarf. Nach Auffassung des BVerfG musste dadurch, dass die Weimarer Reichsverfassung „das Gnadeninstitut übernommen und das Begnadigungsrecht ohne nähere Umschreibung und Normierung auf das demokratische Staatsoberhaupt übertragen hat, … das irrationale Element entfallen, das in einer modernen demokratischen Gesellschaft keinen Platz haben kann.“197 Ist dem auch im Ergebnis zuzustimmen,198 so kommt es insoweit jedoch nicht allein auf die „demokratische Gesellschaft“, sondern entscheidend auf die Konzeption des demokratischen Rechtsstaats nach dem Grundgesetz an, 195 Vgl. auch Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (118); Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 139. Die Formulierung, Gnade sei ein „Akt der Barmherzigkeit und des Wohlwollens“, wurde von der Rspr. wiederholt verwendet, vgl. z. B. BayVerfGHE 18, 140 (146); OLG Düsseldorf JZ 1959, 58 (59); OVG Hamburg JZ 1961, 165; BayVerfGH BeckRS 2008, 37319. 196 Dies verkennt offenbar Blaich, Gnadenrecht, S. 184: „Christliche Gnadenmotivationen wie Liebe, Güte, Barmherzigkeit oder Wohlwollen verbieten sich wegen der Verpflichtung zur weltanschaulichen Neutralität…“ Auch einem säkularen Staat wird man indes nicht mit Verweis auf das Gebot zur weltanschaulichen Neutralität absprechen können, aus „Güte, Barmherzigkeit oder Wohlwollen“ zu handeln. Wenn der Bundespräsident z. B. das Bundesverdienstkreuz verleiht oder im Schlosspark von Bellevue ein Sommerfest veranstaltet, oder die Bundesregierung Flüchtlinge aufnimmt, für welche nach dem sog. „Dubliner Übereinkommen“ andere EU-Staaten zuständig wären, so ist dies – bei aller Unbestimmtheit der Begriffe – sicher auch von „Güte“ und „Wohlwollen“ gekennzeichnet. Kein Mensch aber käme auf die Idee, dies mit Verweis auf die Verletzung der staatlichen Neutralitätspflicht für unzulässig zu halten. 197 BVerfGE 25, 352 (359 f. – tragende Meinung). 198 So auch Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (118); Holste, Jura 2003, 738 (740 f.); A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 92 ff.; Schall, Herzberg-FS, S. 899 (906 f.).
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wonach die Ausübung des Begnadigungsrechts als vom Volk abgeleitete Hoheitsgewalt gem. Art. 20 Abs. 3 GG an objektives Verfassungsrecht gebunden ist.199 Denn zum einen gilt mit der Bindung an objektives Verfassungsrecht das aus dem Rechtsstaatsprinzip abgeleitete200 Willkürverbot auch für die Gnadenbetätigung.201 Zum anderen lässt sich nur durch eine rationale Gnadenbetätigung das Spannungsverhältnis zwischen der Gnade und den übrigen Staatsgewalten lösen: Die nach Art. 20 Abs. 2 GG garantierten Befugnisse von Legislative (Schaffung der Strafgesetze) und Judikative (Gesetzesvollzug durch richterliche Entscheidung) können bei Ausübung des Begnadigungsrechts im Wege praktischer Konkordanz nur dadurch gewahrt werden, dass die Gnadenentscheidung nicht nach Gutdünken ergeht, sondern rational nachvollziehbar ist.202 Dies wird überdies dadurch deutlich, dass die Funktion der Gnade heute insbesondere darin besteht, der Gerechtigkeit im Einzelfall zum Durchbruch zu verhelfen.203 Eine irrationale204 Gnadenausübung verkehrt diese Funktion der Gnade als der Individualgerechtigkeit dienendes Korrektiv hingegen ins Gegenteil: Denn so schwierig es auch ist, dem Begriff der „Gerechtigkeit“ einen verbindlichen Inhalt zu geben,205 so ist doch zumindest festzustellen, dass die Forderung Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln, der „wohl unaufgebbare Kern jeder Forderung nach Gerechtigkeit“ ist.206 Das „Vorgehen eines Herrschers, der sich die Ausübung seiner Regierungsgewalt nach freiem, ungebundenen Willen vorbehält und sie nach Belieben, Für-gut-Halten oder Laune ausübt“ – und eben nicht nach dem Postulat handelt, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln –, ist demnach ein „Musterbeispiel“ für einen „Verstoß gegen die Anforderungen der 199 Allein auf die Rechtsstaatlichkeit abstellend Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 68; ähnlich BVerfGE 25, 352 (363 – Dissenter), die maßgeblich mit der „rechtsstaatlichen gewaltenteilenden Verfassung“ argumentieren; hingegen auf die fehlende „amtscharismatische Prägung“ in der „demokratischen Verfassung“ abstellend A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 93 ff.; vgl. auch Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (118), wonach „in einer modernen Demokratie“ stets ein „sinnvoller Grund“ für die Begnadigung gegeben sein müsse. 200 BeckOK-GG-Kischel, Art. 3 Rn. 83. Das Willkürverbot ist dann verletzt, wenn eine Entscheidung bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz beherrschenden Gedanken nicht mehr verständlich ist und sich daher der Schluss aufdrängt, dass sie auf sachfremden Erwägungen beruht, vgl. BeckOK-GG-Kischel (a. a. O.). 201 Blaich, Gnadenrecht, S. 49; Klein, Gnade, S. 91 f. 202 BeckOK-GG-Pieper, Art. 60 Rn. 9; Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907) m. w. N.; sachlich ebenso König, Grundrechtsbindung, S. 111. 203 s. dazu näher unter § 4 A. I. (S. 196 ff.). 204 s. zum Begriff bereits unter § 3 B. IV. 3. a) (S. 137 mit Fn. 184). 205 Dazu unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.). 206 Braun, Jura 2014, 865.
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 141
Gerechtigkeit“. Ein solches Behandeln sozialer Ordnungsangelegenheiten nach Willkür ist ungerecht; „gerechtes Ordnen“ bedeutet vielmehr „Ausschluss der Willkür“.207 Widerspricht demnach die Willkür, das Irrationale, der „Gerechtigkeit“, so kann auch die Gnade nicht willkürlich, irrational ergehen. Die Ausübung des Begnadigungsrechts soll schließlich gerade dazu dienen, der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen – und nicht ihrerseits Ungerechtigkeiten zu erzeugen.208 Unzulässig sind demnach heute Gnadenakte allein aufgrund nationaler Feierlichkeiten,209 Gnadenentscheidungen, die gegen die in Art. 3 Abs. 3 GG enthaltenen absoluten Differenzierungsverbote verstießen210 oder gar solche, die sich nach dem Wetter211 oder einem Losverfahren212 richteten. c) Beschränkung der Gnade auf die Eigenschaft als Korrektiv zur Vermeidung von Gesetzeshärten? Steht damit fest, dass Gnadenakte voraussetzen, dass ein rationaler Grund vorliegt, so ist damit noch nicht gesagt, worin ein solcher Grund liegen muss, d. h. – positiv ausgedrückt – wann Raum für einen Gnadenakt gegeben ist. Im Zuge der Aufklärung wurde von denjenigen Rechtsphilosophen, die nicht bereits für eine Abschaffung der Gnade plädierten, die Aufgabe der Gnade darauf beschränkt, die dem abstrakt-generellen Gesetz innewohnenden Spannungen zu beheben und damit als „Sicherheitsventil des Rechts“213 zu fungieren. Ignorierte die Gnadenpraxis dies zunächst noch,214 so setzte sich allmählich auch in der Rechtswirklichkeit die Erkenntnis durch, die Gnade auf die Funktion eines Korrektivs zum abstrakt-generellen Gesetz zu 207 Vgl. zum Vorstehenden Henkel, Rechtsphilosophie, S. 309. Inhaltlich ebenso Braun Jura 2014, 865. 208 Zu diesem Aspekt auch Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 34 f. 209 Im Zusammenhang mit der „Weihnachtsamnestie“ wird zumindest darauf hingewiesen, die im Gnadenweg Entlassenen sollten die Möglichkeit erhalten, noch vor dem Weihnachtsfest wichtige Behördengänge zu unternehmen (vgl. Leitmeier, LTO vom 23.12.2013, verfügbar unter www.lto.de / recht / hintergruende / h / weihnachtsam nestie-haft-begnadigung / [besucht am 2.4.2017]). 210 v. Preuschen, Der Rechtsschutz in Gnadensachen des § 452 StPO, S. 71. 211 Vgl. aber Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 86: „Wer wollte ein Gremium tadeln, das bei Stimmengleichheit, die Ablehnung bedeutet, das Wetter zu Hilfe nimmt; scheint die Sonne, wird begnadigt (das Beispiel ist nicht erfunden).“ Krit. dazu A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 95. 212 Wussow, DÖD 1989, 105 (111). 213 v. Ihering, Der Zweck im Recht I, S. 331. 214 Zu denken ist etwa an die Begnadigungen im Kaiserreich aus Anlass nationaler Feierlichkeiten, siehe unter § 1 B. I. 1. (S. 35).
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beschränken. Ein für Begnadigungen erforderlicher rationaler Grund soll hiernach dann gegeben sein, wenn besondere Umstände des Einzelfalls vorliegen, die ein Abweichen von dem notwendigerweise abstrakt-generell gehaltenen Gesetz erforderlich machen. Bestünde die Funktion der Gnade tatsächlich allein darin, ein Korrektiv zu bilden, wenn nicht bereits das Gesetz seinerseits eine Regelung bietet, mittels derer dem mit der Begnadigung verfolgten Zweck ebenfalls entsprochen werden könnte, so folgte aus dieser Funktion die Nachrangigkeit der Gnade gegenüber dem gesetzlichen Weg. Denn wenn das Gesetz durch die Alternativregelungen bereits Möglichkeiten bietet, mittels derer bestehende Gesetzeshärten nach Rechtskraft des Urteils korrigiert werden können, bedürfte es insoweit nicht des Einsatzes der Gnade. Ein gleichwohl ergehender Gnadenakt erfüllte nicht die Funktion als Korrektiv zum abstrakt-generellen Gesetz. Lässt sich nun aber diese Beschränkung der Gnade auf solche Fälle, in denen eine Härte des Gesetzes besteht, rechtlich begründen, mit der Folge, dass auch dem Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade rechtliche Verbindlichkeit zukommt? Oder sind Gnadenakte vielmehr auch dann rechtmäßig, wenn keine Härte des Gesetzes besteht, d. h. insbesondere auch eine Vergünstigung nach dem Gesetz in Betracht kommt? Ergeht ein Gnadenakt, obwohl es an einer Gesetzeshärte im konkreten Fall fehlt, könnte dies einen illegitimen Eingriff in die Befugnisse der beiden übrigen Gewalten – Legislative und Judikative –215 bedeuten und damit einen Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz zur Folge haben. So nimmt v. Arnauld „unter Gewaltentrennungsaspekten ein[en] Vorrang der ‚gerichtlichen Gnade‘ “ an.216 Fraglich ist aber, ob die Ausübung des Begnadigungsrechts überhaupt mit dem Gewaltenteilungsgrundsatz in Widerspruch geraten kann. Dies erscheint schon insofern zweifelhaft, als bereits bestritten wird, dass es sich bei dem Gewaltenteilungsgrundsatz überhaupt um ein Prinzip mit eigenständigem Aussagegehalt handelt. Zum Teil wird der Gewaltenteilungsgrundsatz vielmehr „summarisch“ verstanden, d. h. als Inbegriff sämtlicher die Gewaltengliederung betreffender Einzelbestimmungen des Grundgesetzes – mit der Folge, dass er in diesen Einzelvorschriften aufgeht.217 Die das Begnadigungsrecht des Bundes etablierende Vorschrift des Art. 60 Abs. 2 GG könnte als eine solche Einzelvorschrift angesehen werden und damit den Gewalten215 s. zur Einordnung der Gnadengewalt als Teil der Exekutive bereits S. 119 f. mit Fn. 81. 216 Münch / Kunig-v. Arnauld, Art. 60 Rn. 10; ebenso Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907 f.) – indes jeweils ohne nähere Begründung. 217 Vgl. die Nachweise bei Möllers, AöR 132 (2007), 493 (495 mit Fn. 8).
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 143
teilungsgrundsatz nach summarischem Verständnis modifizieren, sodass ein Verstoß hiergegen ausschiede.218 Die summarische Sicht wird jedoch nicht dem Umstand gerecht, dass der Gewaltenteilungsgrundsatz eine selbständige Stellung in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG hat.219 Daher ist mit der h. L.220 davon auszugehen, dass es sich bei dem Gewaltenteilungsgrundsatz um mehr als die Zusammenschau verschiedener Verfassungsbestimmungen handelt, der Gewaltenteilungsgrundsatz vielmehr einen eigenständigen Gehalt besitzt („integrales Verständnis“). Fraglich ist nun, ob sich aus diesem Gehalt verbindlich auf einen Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade schließen lässt. Vielfach wird nämlich betont, dass der Gewaltenteilungsgrundsatz selbst „nur geringe dogmatische Aussagekraft“ besitze,221 sodass Vorsicht vor einer vorschnellen Argumentation mit zwingenden Schlussfolgerungen anhand des Gewaltenteilungsgrundsatzes geboten ist. Festzustellen ist jedenfalls, dass die Ausübung des Begnadigungsrechts in einem Spannungsverhältnis zum Aufgabenbereich von Legislative und Judikative steht: Erstens bewirkt ein Gnadenakt stets eine Beeinträchtigung der durch die Judikative getroffenen Entscheidung.222 Zweitens hat ein Gnadenakt zur Folge, dass die Vollziehung der durch die Legislative geschaffenen Gesetze im konkreten Fall beschnitten wird.223 Stets gilt dies für die Vollziehung derjenigen Gesetze, aufgrund derer Verurteilung und Strafvollstreckung erfolgen. Sofern im konkreten Fall eine gesetzliche Alternativregelung besteht, aufgrund derer die erstrebte Vergünstigung ebenfalls gewährt werden könnte, kommt hinzu, dass auch deren Anwendung durch den Gnadenakt unterlaufen wird. Kommt der Erlass einer Vergünstigung nach dem Gesetz in Betracht, wird zudem – drittens – durch den Gnadenakt in den 218 So offenbar BVerfGE 25, 352 (361 – tragende Meinung): Der Gnadenakt bedeute „in jedem Fall einen Eingriff der Exekutive in die rechtsprechende Gewalt …, wie er sonst dem Grundsatz der Gewaltenteilung fremd ist. Das Grundgesetz hat jedoch dadurch, daß es das Begnadigungsrecht in dem geschichtlich überkommenen Sinn übernommen und auf ein Organ der Exekutive übertragen hat, die Gewaltenteilung modifiziert …“ Siehe zur Untauglichkeit der Argumentation anhand des „geschichtlich überkommenen Sinns“ bereits unter § 3 A. IV. 2. b) (S. 121). 219 Möllers, AöR 132 (2007), 493 (500). 220 So z. B. Di Fabio, in: HStR II, § 27 Rn. 4; Maunz / Dürig-Grzeszick, Art. 20 V Rn. 27; Möllers, AöR 132 (2007), 493 (495 f., 536 ff.). 221 So BeckOK-GG-Huster / Rux Art. 20 Rn. 159. In der Sache ebenso Maunz / Dürig-Grzeszick, Art. 20 V Rn. 74; Möllers, AöR 132 (2007), 493 (537); DreierSchulze-Fielitz, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 70. 222 Nämlich durch (teilweisen) Verzicht auf die Vollstreckung des zuvor festgestellten rechtskräftigen Strafanspruchs, siehe unter § 2 A. (S. 90). 223 Hindrichs, JZ 2008, 242 (243); Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (122).
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Kompetenzbereich derjenigen Gewalt eingegriffen, welche über die Frage der gesetzlichen Vergünstigung zu entscheiden hat. Bei gesetzlichen Alternativregelungen im Zuständigkeitsbereich der Exekutive – z. B. §§ 455, 456, 459a StPO (Zuständigkeit der Vollstreckungsbehörde) –, erscheint dies auf den ersten Blick unter Gewaltenteilungsgesichtspunkten unschädlich: Schließlich erfolgte hier der Eingriff der Gnadengewalt lediglich innerhalb der Exekutive. Zu beachten ist hier aber, dass sämtliche gesetzliche Alternativregelungen im Zuständigkeitsbereich der Exekutive die Möglichkeit von Rechtsbehelfen vorsehen, über welche wiederum die Judikative zu entscheiden hat (vgl. insbesondere §§ 458 Abs. 2, 459h StPO), sodass jedenfalls insoweit eine Beeinträchtigung einer von der Exekutive verschiedenen Gewalt denkbar ist.224 Steht demnach das Begnadigungsrecht in einem Spannungsverhältnis zu den beiden übrigen Gewalten, so ist andererseits ebenso festzuhalten, dass die Ausübung des Begnadigungsrechts nicht per se den Befugnissen der anderen beiden Gewalten in rechtswidriger Weise zuwiderläuft: Zum einen garantieren Grundgesetz und Landesverfassungen das Begnadigungsrecht institutionell – setzen also voraus, dass ein Anwendungsbereich für Gnadenakte bestehen muss.225 Mit Blick auf die Befugnisse der Legislative ist ferner zu beachten, dass der Verfassungsgesetzgeber mit der Verleihung des Rechts, Vergünstigungen im Einzelfall im Wege der Gnade zu gewähren, einen demokratischen Willen zum Ausdruck gebracht hat, der einen anerkennungswürdigen praktischen Grund hat,226 nämlich die Erkenntnis, dass durch das abstrakt-generelle Gesetz allein die Einzelfallgerechtigkeit nicht immer hinreichend gewährleistet werden kann. Aus diesen beiden Aspekten – einerseits Spannungsverhältnis mit den übrigen Gewalten, andererseits prinzipielle Anerkennung des Begnadigungsrechts – ist zu folgern, dass bei der Ausübung des Begnadigungsrechts die Befugnisse der anderen beiden Staatsgewalten im Wege praktischer Konkordanz zu wahren sind.227 Praktische Konkordanz bedeutet, dass verfassungsrechtlich geschützte Güter einander so zugeordnet werden, dass jedes von 224 Durch die gnadenweise Gewährung von Strafaufschub (trotz in Betracht kommenden Aufschubs nach § 456 StPO) wäre also nicht nur der Kompetenzbereich der für die Entscheidung nach § 456 StPO zuständigen Vollstreckungsbehörde tangiert, sondern auch der Zuständigkeitsbereich der für etwaige Einwendungen gegen die behördliche Entscheidung (§ 458 StPO) gem. §§ 462, 462a StPO zuständigen Strafvollstreckungskammer. 225 Vgl. auch Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (122). 226 Zur Parallele bei Verordnungsermächtigungen (Delegation der Rechtsetzungsgewalt auf Verordnungsgeber als Ausdruck eines demokratischen Willens, der „anerkennungswürdige politische oder praktische Gründe haben kann“) Möllers, AöR 132 (2007), 493 (523).
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ihnen zu optimaler Wirksamkeit gelangt; die damit verbundenen Grenzziehungen „dürfen nicht weiter gehen als notwendig ist, um die Konkordanz beider Rechtsgüter herzustellen.“228 Bezogen auf das Spannungsverhältnis zwischen dem Begnadigungsrecht und dem Aufgabenbereich von Legislative und Judikative folgt hieraus, dass das Begnadigungsrecht nur dann Anwendung findet, wenn der Gesetzgeber nicht bereits seinerseits tätig geworden ist und eine gesetzliche Alternativregelung statuiert hat. Denn schließlich ist nichts dafür ersichtlich, dass die Ausübung des Begnadigungsrechts auch dann „notwendig“ wäre, wenn der Erlass der angestrebten Vergünstigung gleichsam auf gesetzlichem Weg möglich erscheint. Ein Gnadenakt, der trotz einer in Betracht kommenden gesetzlichen Alternativregelung ergeht, beeinträchtigt die beiden anderen Staatsgewalten weiter, als es notwendig wäre und stellt demnach einen Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz dar.229 Dabei kann die Frage offen bleiben, ob der Gewaltenteilungsgrundsatz selbst den Vorrang der gesetzlichen Verfahren statuiert, oder er nicht vielmehr zu einer einschränkenden Interpretation anderer Normen (hier: Reichweite des in Art. 60 Abs. 2 GG garantierten Begnadigungsrechts) führt,230 da jedenfalls in beiden Fällen der Vorrang des gesetzlichen Wegs rechtliche Verbindlichkeit erlangt. Auf zwei Punkte sei klarstellend hingewiesen: Zum einen ist damit der Vorrang des gesetzlichen Wegs nur (aber immerhin) für den Fall besiegelt, dass eine Vergünstigung aufgrund einer gesetzlichen Alternativregelung „in Betracht kommt“. Bei der noch näher zu untersuchenden Frage, wann dies konkret der Fall ist („Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs“),231 ist wiederum das Gebot praktischer Konkordanz im Blick zu behalten. Damit verbietet sich eine inhaltliche Bestimmung des Gesetzesvorrangs, die das Anwendungsfeld originärer Gnade mehr als notwendig beschneidet.232 Zum anderen ist selbst dann, wenn eine gesetzliche Alternativregelung „in Betracht kommt“, die Ausübung des Begnadigungsrechts nicht gänzlich 227 BeckOK-GG-Pieper, Art. 60 Rn. 9; ders., in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (122 f.). Vgl. zum Umstand, dass sich aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz prinzipiell Schranken für die Gnade ergeben, auch Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 26. 228 Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Rn. 72; vgl. auch Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rn. 22. 229 Im Ergebnis ebenso Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907 f.). 230 Vgl. dazu Sachs-Sachs, Art. 20 Rn. 93; für Letzteres BeckOK-GG-Huster / Rux, Art. 20 Rn. 159. 231 s. hierzu unter § 3 C. (S. 167 ff.). 232 s. konkret unter § 3 C. III. 2. b) (S. 175).
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ausgeschlossen. Die Gnade kann in diesem Fall jedoch nur dann „notwendig“ – im Sinne der Konkordanz – und damit anwendbar sein, wenn sich nachträglich herausstellt, dass die Vergünstigung nach der gesetzlichen Regelung nicht gewährt wird, sprich die gesetzliche Stelle ablehnend entscheidet („Gnade nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung“).233 Originäre Gnadenentscheidungen haben dann hingegen zu unterbleiben. d) Folgen für das Verhältnis der Gnade zu ihren gesetzlichen Alternativregelungen: „Subsidiarität“ der Gnade bzw. „Vorrang“ des Gesetzes? Setzt eine originäre Sachentscheidung über die Gnade also voraus, dass das „Gesetz“ – einschließlich der gesetzlichen Alternativregelungen – im Einzelfall gerade nicht „passt“, so stellt sich die Frage, ob die weit verbreitete Terminologie, wonach die „Gnade“ bzw. „Gnadenerweise“ gegenüber dem Gesetz „subsidiär“ seien,234 zutreffend ist. Schließen sich Gnade und Gesetz demnach nicht vielmehr gegenseitig aus, sodass Gnade und Gesetz gerade nicht in einem Verhältnis von Subsidiarität, sondern von Exklusivität zueinander stehen? Hierzu bedarf es einer näheren Auseinandersetzung mit dem Begriff der „Subsidiarität“. Dieser ist ein „schillernder“,235 der in ganz unterschiedlichen rechtlichen Kontexten verwendet wird. Dabei ist zwischen der Subsidiarität im materiellen Recht einerseits und im Verfahrensrecht andererseits zu differenzieren: Im materiellen Recht wird der Begriff der „Subsidiarität“ in der Regel im Zusammenhang mit Gesetzeskonkurrenzen zur Bezeichnung eines „Auffangtatbestands“ verwendet, der nur hilfsweise anwendbar ist. Der Subsidiarität liegt hier begriffslogisch die Struktur der Interferenz (Überschneidung / Kreuzung) zugrunde, d. h. zwei Tatbestände haben eine gemeinsame Schnittmenge, ohne dass – im Gegensatz zur Spezialität – der eine Tatbestand sämtliche Fälle des anderen Tatbestands erfasst.236 Dieser Struktur entspricht das 233 Näher
hierzu unter § 4 B. (S. 223 ff.). (ohne nähere Begründung) z. B. Blaich, Gnadenrecht, S. 109 ff.; LR-Graalmann-Scheerer, § 452 Rn. 8; Laubenthal / Nestler, Strafvollstreckung, Rn. 35; MüllerDietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (160); Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 48. 235 Vgl. z. B. Isensee, Subsidiaritätsprinzip und Verfassungsrecht, S. 14; Motzer, Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 4. 236 So – mit Blick auf die Subsidiarität im materiellen Strafrecht – Klug, ZStW 68 (1956), 399 (404 ff.) und v. Heintschel-Heinegg-v. Heintschel-Heinegg, § 52 Rn. 11. Allgemein zur Subsidiarität im materiellen Recht Mann, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, Rn. 288; Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbe234 So
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Verhältnis von Gnade und Gesetz indes nicht: Denn ist eine gesetzliche Alternativregelung einschlägig, fehlt es an einer Gesetzeshärte – derer es aber nach dem soeben Gesagten für eine Sachentscheidung über die Gnade gerade bedarf.237 Originäre Gnade und gesetzliche Alternativregelung schließen sich hiernach materiell gegenseitig aus, sodass es an der gemeinsamen Schnittmenge fehlt. Bietet das Recht bereits eine Vergünstigung, darf der Gnadenakt also nicht hilfsweise („subsidiär“) ergehen, sondern er darf erst gar nicht erfolgen. Erst nachdem ein vorrangiges gesetzliches Verfahren erfolglos gewesen ist, ist an eine Gnadenentscheidung zu denken.238 Demgegenüber wird der Begriff der Subsidiarität im Verfahrensrecht239 überwiegend so verstanden, dass eine unterstützende Instanz erst dann eingreifen darf, wenn dies „notwendig“ ist,240 bzw. Maßnahmen der an sich vorgesehenen Instanz „nicht ausreichen“.241 So ist der Begriff der „Subsidiarität“ im Zusammenhang mit der Verfassungsbeschwerde – anders als im materiellen Recht – „nur im Sinne einer einstweiligen, nicht endgültigen Sperre zu verstehen…, da man früher oder später … auf jeden Fall zum Bundesverfassungsgericht gelangen kann“242. Auf das Verhältnis des Gnadenverfahrens zu gesetzlichen Verfahren trifft dies durchaus zu, bleibt doch auch hier – wie noch zu sehen sein wird –243 nach einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung Raum für das (zunächst nachrangige) Gnadenverfahren. So ähnelt die Vorschrift des § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG zur Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde244 auch den Vorschriften der Gnadenordnungen zum Vorrang des gesetzlichen Verfahrens. Festzuhalten ist damit, dass nicht pauschal von der Subsidiarität der „Gnade“ bzw. der „Gnadenentscheidung“ gegenüber dem Gesetz gesprochen schwerde, S. 34; siehe auch Wank, Die Auslegung von Gesetzen, S. 102 f. (mit zivilrechtlichem Beispiel). 237 Vgl. § 3 B. IV. 3. c) (S. 142 ff.). 238 s. hierzu unter § 4 B. (S. 223 ff.). 239 Beispiele sind die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber dem fachgerichtlichen Rechtsweg (insbesondere § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG), die Subsidiarität der EU-Zuständigkeit (Art. 5 Abs. 3 S. 1 EUV) oder die Subsidiarität der Feststellungsklage im Verwaltungsrecht (§ 43 Abs. 2 VwGO). 240 So – im Zusammenhang mit der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde – Motzer, Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 5; Schütz, Der Grundsatz der Subsidiarität im Grundgesetz, S. 16. 241 v. der Groeben / Schwarze / Hatje-Kadelbach, Art. 5 EUV Rn. 25 (mit Blick auf das Subsidiaritätsprinzip in Art. 5 EUV). 242 Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 35. 243 s. unter § 4 B. (S. 223 ff.). 244 § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG: „Ist gegen die Verletzung der Rechtsweg zulässig, so kann die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtswegs erhoben werden.“
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werden kann.245 Soweit der Begriff der Subsidiarität verwendet wird, ist vielmehr zwischen den materiellen Voraussetzungen für einen Gnadenakt einerseits und dem Gnadenverfahren andererseits zu differenzieren:246 Da originäre Gnadenakte positiv voraussetzen, dass das Gesetz gerade nicht passt, fehlt es insoweit an einer gemeinsamen Schnittmenge. Der Begriff der „Subsidiarität“, wie er sonst im materiellen Recht verwendet wird, ist insoweit unzutreffend. Vielmehr handelt es sich materiell um ein Exklusivitätsverhältnis zwischen originärer Gnade und gesetzlichen Alternativregelungen. Bevor es aber überhaupt zu einer Sachentscheidung über die Gnade kommt, hat die mit dem Gnadengesuch befasste Behörde bereits zu prüfen, ob eine gesetzliche Alternativregelung „in Betracht kommt“, und – bejahendenfalls – die Sache an die gesetzliche Stelle abzugeben. Dieser Vorrang des gesetzlichen Wegs betrifft das Verfahren. Erst wenn ein solches vorrangiges Verfahren erfolglos ist, kann eine Sachentscheidung über die Gnade getroffen werden („Gnade nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung“).247 Insofern ähnelt die Situation der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. Von „Subsidiarität“ kann daher nur im Zusammenhang mit dem Gnadenverfahren gesprochen werden. Daneben stellt sich die terminologische Frage, ob in Anbetracht des Exklusivitätsverhältnisses von originärer Gnade und gesetzlicher Alternativregelung überhaupt von einem „Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade“ gesprochen werden kann, suggeriert der Begriff des „Vorrangs“ doch ebenfalls das Vorliegen einer gemeinsamen Schnittmenge. Auch hier ist jedoch zu beachten, dass dann, wenn eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt, sich eine Sachentscheidung über die Gnade nur vorübergehend (nämlich als originäre Gnade), nicht aber endgültig verbietet, da – wie noch zu sehen sein wird – Raum für Gnade nach einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung verbleibt.248 Ähnlich wie der Begriff der Subsidiarität ist der Begriff des „Vorrangs“ daher in einem verfahrensrechtlichen (zeitlichen) Sinn zu verstehen. „Vorrangig“ ist damit nicht die einzelne materielle gesetzliche Regelung (z. B. §§ 57, 57a StGB),249 sondern das auf Erlass 245 So aber – mit unterschiedlichen Formulierungen – die auf S. 146 in Fn. 234 Genannten. 246 Treffend – und soweit ersichtlich als einziger – differenziert auch MüllerDietz (in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 [160]) insoweit zwischen dem Gnadenverfahren und der materiellen Gnadenentscheidung; sein Schluss, wonach eine „doppelte Subsidiarität“ der Gnade (materiell und verfahrensrechtlich) bestünde, geht jedoch fehl. 247 Dazu näher unter § 4 B. III. 1. (S. 225 ff.). 248 s. unter § 4 B. (S. 223 ff.). Insoweit verhält es sich wie bei der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde. 249 So aber Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 73 f.
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einer Vergünstigung gerichtete gesetzliche Verfahren (Vorrang des „gesetzlichen Wegs“ bzw. „gesetzlichen Verfahrens“). Soweit also vom „Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade“ die Rede ist, ist dies – auch in der vorliegenden Arbeit – als Vorrang des gesetzlichen Verfahrens gegenüber dem Gnadenverfahren zu verstehen. Auch wenn der Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber dem Gnadenverfahren bereits aus Gewaltenteilungsgründen folgt (Funktion der Gnade als ausschließlichem Korrektiv zu Gesetzeshärten),250 stellt sich die Frage, ob sich dieser Vorrang darüber hinaus auch anderweitig dogmatisch begründen lässt. Dazu werden im Folgenden die in der Literatur vertretenen weiteren Begründungsansätze – rechtsmethodische Konkurrenzregeln, allgemeiner Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie Sinn und Zweck der gesetzlichen Alternativregelungen –251 näher betrachtet. 4. Rechtsmethodische Konkurrenzregeln Nach Mickisch werde die Gnade dann, wenn eine „Spezialregelung“ besteht, nach der Regel lex specialis derogat legi generali verdrängt. Dies sei „der wahre Gehalt des vielzitierten sog. Vorrangs der Rechtsentscheidung vor der Gnade: Für Gnadenakte ist kein Raum, wo das Ziel auf spezialgesetzlichem Weg erreichbar ist. Die Gnade tritt dann hinter dem materiellen Recht als subsidiär zurück.“252 Ob die lex specialis-Regel – oder allgemein die nach h. M. gewohnheitsrechtlich anerkannten253 sog. „leges-Regeln“254 – aber tatsächlich eine dogmatische Grundlage für den Vorrang des gesetzlichen Wegs bilden können, ist zweifelhaft. Denn die leges-Regeln werden bei sog. „Normenkonkurrenzen“ herangezogen, d. h. in Situationen, in denen mehrere Rechtsnormen auf den gleichen Sachverhalt anwendbar sind.255 Dass die leges-Regeln vorliegend überhaupt zur Anwendung kommen, setzt also voraus, dass es sich zum einen beim Begnadigungsrecht um eine Rechtsnorm in diesem Sinne handelt, zum anderen, dass Gnade und gesetzliche Alternativregelungen auf denselben Sachverhalt anwendbar sind. 250 Vgl. 251 s.
§ 3 B. IV. 3. c) S. (142 ff.). zu den einzelnen Begründungsansätzen der Literatur bereits unter § 3 B. IV.
(S. 134). 252 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 150 f. 253 Vgl. Maunz / Dürig-Korioth, Art. 31 Rn. 1 m. w. N. Übersicht zu abweichenden Ansätzen zur dogmatischen Verortung bei Vranes ZaöRV 2005, 391 f. 254 Sprich neben der Regel lex specialis derogat legi generali die beiden Regeln lex superior derogat legi inferiori und lex posterior derogat legi priori. 255 Vgl. z. B. die Darstellung bei Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 30 ff.; vorausgesetzt von Mann, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, Rn. 87 ff.
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Dabei bereitet die Einordnung des Begnadigungsrechts als „Rechtsnorm“ noch keine Probleme: Der Begriff der „Norm“ im Sinne der Rechtswissenschaft bedeutet, „daß etwas sein oder geschehen soll“256. Dabei ist das durch jede Norm statuierte „Sollen“ weit zu verstehen und umfasst neben dem „Gebieten“ auch die Funktionen des Ermächtigens, Erlaubens und Derogierens.257 Dem Begnadigungsrecht kommt vor diesem Hintergrund die Funktion einer derogierenden Norm zu, da es bezüglich des Gebots „Man soll Strafurteile vollständig vollstrecken“ ein Nichtsollen statuiert (Verzicht auf die Vollstreckung des rechtskräftig festgestellten staatlichen Strafanspruchs). Handelt es sich beim Begnadigungsrecht also um eine Norm des Rechts, kann ihm auch prinzipiell die Fähigkeit zukommen, in Konkurrenz zu anderen Rechtsnormen zu treten.258 Eine andere Sicht ist nur unter der abzulehnenden Auffassung denkbar, wonach Gnade und Recht in einem dualistischen Verhältnis zueinander stehen.259 Fraglich ist jedoch, ob Gnade und gesetzliche Alternativregelungen – wie für die Anwendung der leges-Regeln vorausgesetzt – auch auf denselben Sachverhalt anwendbar sind. Zwar sind sowohl die Gnade als auch die gesetzlichen Alternativregelungen auf die Konstellation zugeschnitten, dass nach rechtskräftiger Strafverurteilung eine Anpassung an die individuellen Umstände des Einzelfalls erfolgen soll. Nach dem soeben Gesagten260 haben originäre Gnadenentscheidungen indes zur Voraussetzung, dass das „Gesetz“ – einschließlich der gesetzlichen Alternativregelungen – im Einzelfall gerade nicht „passt“. Die Gnade setzt vielmehr voraus, dass besondere Umstände vorliegen, die den konkreten Einzelfall gerade vom Normalfall abheben und daher nicht im Gesetz – auch nicht den gesetzlichen Alternativregelungen – berücksichtigt wurden. Es fehlt damit an einer gemeinsamen Schnittmenge von Fällen, auf die sowohl die originäre Gnade, als auch die gesetzlichen Alternativregelungen anwendbar wären.261 Die legesRegeln geben damit für das Verhältnis von Gnade und Gesetz nichts her.262 256 Kelsen,
Allgemeine Theorie der Normen, S. 2. Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 2 f., 76 ff. 258 Vgl. auch Kunert, NStZ 1982, 89 (95) und J. Meier, Zur gegenwärtigen Behandlung des „Lebenslänglich“ beim Mord, S. 112: „Konkurrenzverhältnis [von § 57a StGB] zum Gnadenrecht“. 259 So z. B. Groß, StV 1987, 36 (39): „Ein juristisches Konkurrenzverhältnis zwischen § 456a StPO und einer Begnadigungsmöglichkeit kann es schon deshalb nicht geben, weil das Gnadenrecht seiner Natur nach außerhalb des Gesetzesrechts steht.“ 260 s. unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 142 ff.). 261 s. unter § 3 B. IV. 3. d) (S. 146 ff.). 262 Für die lex superior- sowie die lex posterior-Regel folgt dies neben dem Fehlen einer gemeinsamen Schnittmenge auch daraus, dass es sich jeweils um Kollisionsregeln handelt, sie also sachlich eine Normenkollision voraussetzen (Barczak, JuS 2015, 969 [975]; Mann, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, Rn. 87 ff., 96; 257 Näher
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Entgegen Mickisch lässt sich damit anhand der leges-Regeln nicht auf den Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade schließen. Letztlich ist damit jedenfalls für das Verhältnis von Gnade und Gesetz Engisch beizupflichten, der auf den begrenzten Aussagewert der leges-Regeln bereits hingewiesen hat.263 Da sich aus den leges-Regeln keine Aussage für das Verhältnis von Gnade und Gesetz ableiten lässt, kommt es auf die Frage, in welchem Verhältnis die drei leges-Regeln zueinander stehen,264 gar nicht erst an. 5. Allgemeiner Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) a) Vorbemerkung Der Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade könnte sich aber anhand des allgemeinen Vorrangs des Gesetzes ergeben. Nach diesem aus dem Rechtsstaatsprinzip265 bzw. Art. 20 Abs. 3 GG266 folgenden Grundsatz, der sich als Ausprägung der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung267 an die „vollziehende Gewalt“ richtet, besteht ein Vorrang des parlamentarischen Gesetzes gegenüber allen anderen, nicht in der Form eines Parlamentsgesetzes erlassenen staatlichen Rechtsnormen.268 Höpfner, DÖV 2006, 820 [823 – für die lex posterior-Regel]). Eine Normenkollision liegt indes nur dann vor, wenn zwei auf denselben Sachverhalt anwendbare Normen zu unvereinbaren Rechtsfolgen führen (BeckOK-GG-Hellermann, Art. 31 Rn. 13 m. w. N.; Kelsen, Allgemeine Theorie der Normen, S. 99 [der synonym den Begriff des „Normenkonflikts“ gebraucht]). Bei dem Verhältnis von Gnade und Gesetz handelte es sich hingegen – ginge man von einer gemeinsamen Schnittmenge aus – nicht um die Situation der Normenkollision, sondern der Normenverdoppelung (es liegen zwei inhaltsgleiche Normen vor, die dasselbe in einander entsprechender Weise regeln – vgl. z. B. Maunz / Dürig-Korioth, Art. 31 Rn. 14). 263 Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, S. 47: „Es ist aber zu beachten, daß alle diese Regeln nur bedingte Geltung besitzen, ihrem Sinn nach nicht hinreichend aufgeklärt, in der Anwendung kompliziert sind, daß sie außerdem miteinander in Kollision geraten können und schließlich – was das wichtigste ist – doch nur eine lückenhafte Lösung des Problems bieten.“ 264 Vgl. Mann, Einführung in die juristische Arbeitstechnik, Rn. 88 („noch nicht abschließend geklärt“). 265 Dreier-Schulze-Fielitz, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 92; v. Mangoldt / Klein / StarckSommermann, Art. 20 Rn. 239, 270. 266 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 317. Da der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes in seiner Geltung unumstritten ist, kann seine genaue dogmatische Verortung hier offen bleiben. Denn die Gnade ist sowohl den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Schranken als auch Art. 20 Abs. 3 GG unterworfen, siehe bereits unter § 3 A. IV. (S. 118 ff.). 267 Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 316. 268 Maunz / Dürig-Grzeszick, Art. 20 VI Rn. 72; vgl. auch Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, S. 317; Dreier-Schulze-Fielitz, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 92.
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Mit der Frage, ob ein Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade aus dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes folgt, hat sich bislang allein A. Maurer näher befasst.269 Nach A. Maurer ließen sich die gesetzlichen Alternativregelungen zwar „weder mittel- oder unmittelbar dahingehend verstehen oder auslegen, daß als Adressat dieser Normen auch die Gnadenbehörde oder das Begnadigungsrecht überhaupt in Betracht kommen“. Vielmehr richteten sie sich „ausschließlich an die zuständigen Gerichte, Vollstreckungs- und Vollzugsbehörden“.270 Gleichwohl „dürfte“ nach A. Maurer aus dem Vorrang des Gesetzes ein Vorrang der gesetzlichen Milderungsform gegenüber dem Begnadigungsrecht dahingehend abzuleiten sein, „daß vor einem Tätigwerden im ‚gesetzesfreien‘ Gnadenraum jedenfalls die Anwendbarkeit der gesetzlichen Vorschriften zu prüfen und gegebenenfalls vorzunehmen ist“271. Bei „möglicher Anwendbarkeit gesetzlicher Milderungsformen“ komme diesen daher „jedenfalls der Vorrang vor einer Gnadenanwendung“ zu.272 Dem kann nur zum Teil gefolgt werden: b) Anwendbarkeit Zunächst ist festzustellen, dass der Grundsatz des allgemeinen Vorrangs des Gesetzes auf das Begnadigungsrecht anwendbar ist: Auch der Gnadenträger zählt zu der von diesem Grundsatz betroffenen „vollziehenden Gewalt“,273 vor allem aber handelt es sich beim Begnadigungsrecht um eine Rechtsnorm,274 die zudem nicht die Form eines Parlamentsgesetzes aufweist. Letzterem steht nicht entgegen, dass das Begnadigungsrecht in Art. 60 Abs. 2 GG und den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen 269 Vgl. A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 136 ff.; krit. hierzu Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 295 mit Fn. 301. Mickisch bejaht zwar einen solchen Vorrang aus Art. 20 Abs. 3 GG (vgl. Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 74), begründet dies aber nicht weiter. Unklar Blaich, Gnadenrecht, S. 50. 270 A. Maurer (Begnadigungsrecht, S. 139) folgert hieraus, dass sich ein „allgemeiner rechtlicher Vorrang der Strafgesetze gegenüber dem Begnadigungsrecht“ – offenbar verstanden als Sperrwirkung des Gesetzes gegenüber dem Begnadigungsrecht, mit der Folge, dass sich innerhalb des Anwendungsbereichs der jeweiligen gesetzlichen Alternativregelung eine Gnadenentscheidung generell (d. h. gleich ob als originäre Gnade oder Gnade nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung) verbietet – aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht begründen lässt. Siehe zu diesem Aspekt auch S. 153 mit Fn. 277. 271 Vgl. A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 139 f. 272 A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 210. 273 s. zum Begriff der „vollziehenden Gewalt“ und zum Umstand, dass der Gnadenträger hierzu zu zählen ist, S. 120 mit Fn. 82. 274 s. dazu bereits unter § 3 B. IV. 4. (S. 150).
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Vorschriften Erwähnung findet, setzen diese Normen doch die Existenz des Begnadigungsrechts lediglich voraus, ohne dass sich ihnen etwas zu seinem Inhalt entnehmen ließe. Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Norm „Begnadigungsrecht“ sind allein im Gewohnheitsrecht angesiedelt.275 Schließlich sei klarstellend darauf hingewiesen, dass das Bezugsobjekt, gegenüber dem das Gesetz nach dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes gegebenenfalls vorgeht, das Begnadigungsrecht ist, nicht hingegen die einzelne Gnadenentscheidung. Denn die Gnadenentscheidung ergeht erst auf der Grundlage des Begnadigungsrechts, so wie auf Grundlage der jeweiligen gesetzlichen Alternativregelung ebenfalls ein Einzelakt ergeht (etwa ein Beschluss nach § 454 Abs. 1 StPO). c) Anwendung Zu beachten ist zunächst, dass der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes ein Abweichungsverbot und ein Anwendungsgebot beinhaltet,276 wobei für die Frage eines Vorrangs des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade allein das Anwendungsgebot Relevanz haben kann.277 Hiernach besteht für die vollziehende Gewalt das zwingende Gebot, die Gesetze auszuführen.278 Sobald ein Sachverhalt den Tatbestand eines Gesetzes erfüllt, sind die hierdurch gebundenen Staatsorgane verpflichtet, die Norm ihrer Maßnahme zugrunde zu legen und die Rechtsfolgen dieses Gesetzes anzuwenden.279 Vor diesem Hin275 Vgl. bereits unter § 3 A. IV. 1. (S. 116 f.). Dies verkennt Dimoulis (Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 295 f. mit Fn. 301), wenn er aufgrund der Kompetenzvorschrift des Art. 60 Abs. 2 GG den allgemeinen Vorrang des Gesetzes schon nicht auf das Verhältnis Gnade / Gesetz anwenden will. 276 Gusy, JuS 1983, 189 (191); Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 26; Ossenbühl, in: HStR V, § 101 Rn. 4 ff.; Dreier-Schulze-Fielitz, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 92. 277 Denn das Abweichungsverbot verbietet der vollziehenden Gewalt, gegen das Gesetz zu verstoßen, sodass sie ihre Handlungen inhaltlich kongruent mit den Anforderungen des Gesetzes vorzunehmen hat (Gusy JuS 1983, 189 [191]; Ossenbühl, in: HStR V, § 101 Rn. 6). Überträgt man dies auf das Begnadigungsrecht, so könnte sich aus dem Abweichungsverbot ergeben, dass aufgrund der Existenz der jeweiligen gesetzlichen Alternativregelung die Ausübung des Begnadigungsrechts innerhalb der vom Gesetz geregelten Materie gesperrt ist. Beispiel: Wurde durch § 57a StGB die Frage der Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe abschließend geregelt, oder darf die Reststrafe weiterhin auch im Gnadenweg zur Bewährung ausgesetzt werden? Das Abweichungsverbot betrifft mithin die Frage, ob die Existenz einer gesetzlichen Alternativregelung jedwede Gnadenbetätigung innerhalb ihres Anwendungsbereichs verbietet (dazu näher unter § 4 A. III. [S. 219 ff.]), nicht aber die vorliegend interessierende Frage, ob der gesetzliche Weg vorrangig Anwendung findet. 278 Gusy, JuS 1983, 189 (191); Ossenbühl, in: HStR V, § 101 Rn. 5. 279 Gusy, JuS 1983, 189 (191).
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tergrund wäre daran zu denken, ob nicht der Gnadenträger, sofern ein Sachverhalt die Voraussetzungen einer gesetzlichen Alternativregelung zu erfüllen scheint, zunächst dieser formal-gesetzlichen Regelung zur Anwendung verhelfen muss, bevor er auf das Begnadigungsrecht zurückgreift.280 Dieser Schluss lässt sich allerdings nicht pauschal ziehen. Zu beachten ist nämlich, dass sich das Ausmaß der aus dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes folgenden Gesetzesbindung nach dem formellen und materiellen Geltungsumfang der jeweiligen Rechtsnorm richtet: Nur innerhalb der hierdurch gezogenen Grenzen darf das Handeln der vollziehenden Gewalt dem Geltungsbefehl der Rechtsnorm nicht widersprechen.281 Das Anwendungsgebot gilt daher für die jeweilige Behörde nur innerhalb ihrer allgemeinen Zuständigkeit.282 Der Gnadenträger selbst ist hingegen in aller Regel nicht zugleich zuständig für die Anwendung der gesetzlichen Alternativregelungen, sodass er sich von vornherein außerhalb der formellen Grenzen der gesetzlichen Alternativregelungen bewegt. Er wird von den gesetzlichen Alternativregelungen nicht erreicht. Für die originär von den Verfassungen vorgesehenen Gnadenträger gilt dies ausnahmslos: Es gibt keine gesetzliche Alternativregelung, für welche der Bundespräsident (als originärer Gnadenträger des Bundes) oder die Ministerpräsidenten / Senate (als originäre Gnadenträger der Länder) zuständig sind. Dementsprechend können sie insoweit auch nicht vom Anwendungsgebot erreicht werden. Etwas anderes gilt, soweit – wie üblich – den Vollstreckungsbehörden Aufgaben im Gnadenverfahren übertragen wurden283 und bezüglich der mit dem Gnadenverfahren angestrebten Vergünstigung eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt, für welche die Vollstreckungsbehörde selbst zuständig ist. Dies betrifft namentlich die Regelungen zum Strafausstand (§§ 455 ff. StPO) und die nachträgliche Gewährung von Zahlungserleichterungen (§ 459a StPO).284 Soweit sich diese Behörden aufgrund ihrer schließlich A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 139 f. Art. 20 VI Rn. 73; Dreier-Schulze-Fielitz, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 92 m. w. N. 282 Gusy, JuS 1983, 189 (192). So zwar offenbar auch A. Maurer (Begnadigungsrecht, S. 139), wenn er darauf verweist, dass sich die gesetzlichen Alternativregelungen weder mittel- noch unmittelbar dahingehend verstehen ließen, dass als Adressat die Gnadenbehörde in Betracht komme, sondern ausschließlich Gerichte, Vollstreckungs- und Vollzugsbehörden hiervon erreicht werden; sein Ergebnis, wonach das Begnadigungsrecht gleichwohl nur nachrangig anwendbar sei, erscheint vor diesem Hintergrund indes nicht konsequent. 283 Sei es, dass sie selbst Gnadenträger sind, sei es, dass sie die Gnadenentscheidungen vorgesetzter Behörden vorzubereiten haben. 284 Beispiel: In Rheinland-Pfalz sind die Generalstaatsanwaltschaften und Staatsanwaltschaften befugt, im Gnadenweg „Aufschub oder Unterbrechung des Vollzuges 280 So
281 Maunz / Dürig-Grzeszick,
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 155
Doppelzuständigkeit (Gnadenverfahren / gesetzliches Verfahren)285 innerhalb der durch das Gesetz gezogenen formellen Grenzen bewegen, sind sie aufgrund des Anwendungsgebots gehalten, die inhaltlichen Voraussetzungen der gesetzlichen Alternativregelung zu prüfen und – sofern die Voraussetzungen vorliegen – die begehrte Vergünstigung nach dieser Vorschrift zu gewähren.286 Als Ergebnis lässt sich demnach festhalten, dass entgegen A. Maurer aus dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes nicht generell ein Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade folgt, sondern dass dies nur – aber immerhin – dort der Fall ist, wo Gnadenträger und die für die Entscheidung über die gesetzliche Regelung befugte Stelle identisch sind. Abhängig von der jeweiligen landesrechtlichen Zuständigkeitsverteilung kann dies relevant werden für das Verhältnis der Gnade zu Vergünstigungen nach §§ 455, 456, 459a StPO.
von nicht mehr als einem Jahr bei Freiheitsstrafen, Jugendstrafen und Strafarresten zu bewilligen“ (§ 1 Abs. 3 Landesgesetz über die Ausübung des Gnadenrechts [dazu S. 102 mit Fn. 95] i. V. m. § 1 Abs. 1 Nr. 2 Landesverordnung zur Übertragung der Ausübung des Gnadenrechts im Geschäftsbereich des Ministeriums der Justiz vom 11.5.1998 [GVBl. RP, S. 162]). Zugleich ermächtigen die §§ 455, 456 StPO ebenfalls die Staatsanwaltschaft als Vollstreckungsbehörde, unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Grenzen den Vollzug zu unterbrechen oder aufzuschieben. Hier fordert das aus dem Vorrang des Gesetzes folgende Anwendungsgebot, dass innerhalb der von §§ 455, 456 StPO geschaffenen Grenzen eben diese Vorschriften anzuwenden sind (und nicht das Begnadigungsrecht). Nur wenn die Voraussetzungen der §§ 455, 456 StPO nicht vorliegen (d. h. sich der Sachverhalt außerhalb der hierdurch gezogenen Grenzen bewegt), steht das Anwendungsgebot einer Gnadenausübung nicht entgegen. Gleiches gilt für Zahlungserleichterungen, welche die Vollstreckungsbehörde sowohl nach § 459a StPO als auch im Gnadenweg gewähren kann (§ 1 Abs. 1 Nr. 4 der o. g. Landesverordnung). 285 Dies gilt in manchen Bundesländern auch in Jugendsachen. Denn in BadenWürttemberg (§ 5 Abs. 2 GnO-BW), Brandenburg (§ 4 Nr. 2 GnO-BB), Bremen (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 GnO-HB) und Sachsen (Nr. 5 b) GnO-SN) ist der Jungendrichter als Vollstreckungsleiter zugleich Gnadenbehörde für Jugendliche und (soweit Jugendstrafrecht angewandt wurde) Heranwachsende. 286 Soweit funktionelle Zuständigkeitsregeln in diesen Fällen ein Auseinanderfallen zwischen Gnadenträger und zur gesetzlichen Entscheidung berufener Stelle vorsehen (so z. B. § 31 Abs. 2 S. 1 RPflG, wonach die gesetzlichen Entscheidungen nach §§ 455, 456 StPO grundsätzlich dem Rechtspfleger obliegen), vermag dies hieran nichts ändern. Denn hierbei handelt es sich lediglich um die behördeninterne Geschäftsverteilung (H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 21 Rn. 50), die zudem z. T. nicht trennscharf ist (vgl. z. B. § 31 Abs. 2a bis 2c RPflG).
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6. Entstehungsgeschichte und Sinn und Zweck der gesetzlichen Alternativregelungen Ferner könnte die Auslegung der gesetzlichen Alternativregelungen (speziell: Entstehungsgeschichte und ratio legis) für einen Vorrang des gesetzlichen Verfahrens gegenüber der Gnade streiten.287 Auch wenn es nicht „die“ Entstehungsgeschichte und „die“ ratio legis der gesetzlichen Alternativregelungen gibt – entspringen diese doch ganz unterschiedlichen Kontexten und hängen etwaige Äußerungen in den Gesetzesmaterialien zum Verhältnis zur Gnade stark vom jeweils vorherrschenden Verständnis der Gnade ab –, so lassen sich doch einige Fundstellen in den Gesetzesmaterialien nennen, wonach der Gesetzgeber einen Vorrang des neu geschaffenen gesetzlichen Verfahrens intendierte bzw. von einem solchen Vorrang ausging: Dies ist etwa dort der Fall, wo der Gesetzgeber eine Regelung schuf, um die Gnadenstelle zu entlasten, wie dies beim Geldstrafengesetz 1921288 oder der Verkürzung der Mindestsperrfrist zur vorzeitigen Wiedererteilung der Fahrerlaubnis289 der Fall war.290 Denn will der Gesetzgeber den Gnadenträger durch Schaffung einer gesetzlichen Regelung entlasten, legt dies zumindest nahe, dass er die vorrangige Anwendung der gesetzlichen Regelung beabsichtigt. Gleiches ist dann anzunehmen, wenn es dem Gesetzgeber ausdrücklich darum ging, durch Gesetz Rechtseinheitlichkeit zu schaffen, an der es bei An287 Dass sich anhand der Auslegung einer Norm ihr Vorrang gegenüber einer anderen Norm ergeben kann, erscheint nicht unproblematisch, wird dadurch doch der Anwendungsbereich der nachrangigen Norm beschnitten. Voraussetzung ist daher, dass der Normgeber der etwaig vorrangigen Norm dazu befugt ist, die etwaige Nachrangigkeit der anderen Norm anzuordnen. Da die unbedingte und unbeschränkte Anwendung des Begnadigungsrechts nicht in Art. 60 Abs. 2 GG verankert ist – hierbei handelt es sich primär um eine Zuständigkeitsregel (siehe unter § 3 A. IV. 2. b) [S. 121]) – ist es dem (einfachen) Bundesgesetzgeber (als Gesetzgeber der gesetzlichen Alternativregelungen) unbenommen, die Ausübung des Begnadigungsrechts näher auszugestalten. So war es dem saarländischen Gesetzgeber auch möglich, den Vorrang der gesetzlichen Entscheidungen einfach-gesetzlich zu normieren (§ 5 Abs. 3 GnG-SL), wodurch die Ausübung des in der Landesverfassung ebenfalls verankerten Begnadigungsrechts (Art. 93 S. 1) inhaltlich ausgestaltet wird. 288 s. dazu unter § 1 C. II. 1. (S. 49). 289 Verkürzung von sechs auf drei Monate (§ 69a Abs. 7 S. 2 StGB) mit Wirkung zum 1.1.1999, siehe unter § 1 E. II. 7. b) (S. 81). 290 Zu nennen ist auch die Reform der bedingten Entlassung im Jahr 1953 (§ 26 StGB 1953), durch welche der Gesetzgeber beabsichtigte, dem Institut der bedingten Entlassung „wieder neues Leben“ zu geben, siehe BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 18 sowie unter § 1 E. II. 1. b) (S. 61).
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wendung des weitgehend den Ländern zustehenden Begnadigungsrechts fehlt. Beispiele hierfür sind die Schaffung der Strafaussetzung in §§ 23– 25 StGB 1953, bei welcher der Gesetzgeber beabsichtigte, „die in verschiedenen Gnadenordnungen zersplittert geregelte Materie zu bereinigen“,291 oder § 13 StVollzG (Urlaub aus der Haft), wonach „für die zahlreichen, bisher gewöhnlich im Gnadenwege erlassenen Urlaubsregelungen der Länder eine einheitliche gesetzliche Grundlage“ geschaffen werden sollte.292 Denn die angestrebte Rechtseinheitlichkeit lässt sich nur dann verwirklichen, wenn nicht die Gnade, sondern das (einheitliche) Gesetz angewendet wird. Demgegenüber lässt sich aus den Gesetzesmaterialien zu § 57a StGB nicht eindeutig auf den gesetzgeberischen Willen eines Vorrangs des Gesetzes gegenüber der Gnade schließen, wurde hier doch kontrovers über das Verhältnis zum Begnadigungsrecht diskutiert, ohne dass eine einheitliche Linie erkennbar war.293 Aus dem gesetzgeberischen Willen, ein gesetzliches Institut zu schaffen, welches die Rechtsstellung des Verurteilten im Vergleich zum Gnadenverfahren verbessert,294 lässt sich jedenfalls nicht zwingend auf einen intendierten Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade schließen.295 Auch die der Schaffung des § 57a StGB vorausgehende Entscheidung des BVerfG, deren Vorgaben der Gesetzgeber mit § 57a StGB umsetzen wollte, gibt hierfür nichts her: Das BVerfG leitete aus Art. 1 Abs. 1 GG und dem Rechtsstaatsprinzip lediglich eine Pflicht des Gesetzgebers ab, eine gesetzliche Regelung zu schaffen.296 Hieraus ergibt sich aber nicht der Wille, die Anwendung des Begnadigungsrechts einzuschränken (welche mit einem Vorrang des Gesetzes verbunden wäre); nicht die gewährte Gnade war in dieser Entscheidung Stein des Anstoßes, sondern der fehlende gesetzliche Anspruch.297 Um diesen gesetzlichen Anspruch in der Praxis umzusetzen, bedarf es aber gar nicht des Vorrangs des Gesetzes; 291 s. bereits unter § 1 E. II. 1. a) (S. 60); zudem war es auch hier erklärtes Ziel des Gesetzgebers, die Anzahl der Gnadenverfahren zu senken, vgl. BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf), S. 28: „Es muß … erreicht werden, daß für die bedingte Strafaussetzung [im Gnadenweg] nur noch geringes Bedürfnis besteht.“; siehe bereits unter § 1 E. II. 1. c) (S. 63). 292 BT-Drucks. 7 / 918 (Regierungsentwurf), S. 53. 293 s. unter § 1 E. II. 5. b) (S. 75 ff.). 294 Vgl. J. Meier, Zur gegenwärtigen Behandlung des „Lebenslänglich“ beim Mord, S. 113; Mysegades, Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, S. 182. 295 Vgl. auch Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (124 f.). Einen solchen Vorrang aber ohne nähere Begründung in der ratio legis des § 57a StGB erblickend Kunert, NStZ 1982, 89 (96); Mysegades, Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, S. 182; Schall, Herzberg-FS, S. 899 (909 f.). 296 BVerfGE 45, 187 (243 ff., 252). 297 Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (124 f.). Daher war auch nicht etwa die damalige Gnadenpraxis „rechtswidrig“ (so aber Kett-Straub, GA
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der Verurteilte hat es durch einen Antrag nach § 57a StGB schließlich selbst in der Hand, den gesetzlichen Anspruch geltend zu machen.298 Eindeutig ist daher allein, dass die mit der Gnade verbundenen Unwägbarkeiten durch Schaffung einer gesetzlichen Regelung behoben werden sollten – dies impliziert aber nicht notwendigerweise einen Vorrang des auf eine Reststrafaussetzung nach § 57a StGB gerichteten Verfahrens gegenüber der Gnade. Für einen solchen Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade könnte indes hier – wie auch bei den übrigen gesetzlichen Alternativregelungen – der Umstand sprechen, dass sich den jeweiligen Gesetzesmaterialien nirgendwo der Wille entnehmen lässt, dem Verurteilten durch die neu geschaffene gesetzliche Alternativregelung gewissermaßen eine „doppelte Chance“ zuteilwerden zu lassen, neben der neu geschaffenen Möglichkeit einer auf gesetzlicher Grundlage gewährten Vergünstigung weiterhin die Chance auf (frei anwendbare) Gnade zu haben. Sofern der Gesetzgeber durch die gesetzliche Regelung eine Besserstellung des Verurteilten beabsichtigte, dann nur insofern, als ihm die mit einem gesetzlichen Verfahren im Vergleich zum Begnadigungsrecht verbundenen Rechte (insbesondere einklagbarer Rechtsanspruch und Verfahrenstransparenz) zuteilwerden sollten – nicht aber durch Schaffung einer „doppelten Chance“. Doch lässt sich aus dem Umstand, dass es dem Gesetzgeber nicht auf Schaffung einer solchen „doppelten Chance“ ankam, zwingend darauf schließen, dass er eine solche auch vermeiden wollte? Falls ja, spräche dies entscheidend für die Annahme eines Vorrangs des Gesetzes gegenüber der Gnade. Denn das Aufkommen einer solchen „doppelten Chance“ ließe sich nur dann vermeiden, wenn – soweit eine gesetzliche Regelung in Betracht kommt – ein hierauf gerichtetes Verfahren vorrangig ist, und – infolge einer ablehnenden Entscheidung auf gesetzlichem Weg – eine gewisse (dann noch näher zu bestimmende299) Bindungswirkung für die nachfolgende Gnadenentscheidung besteht. Einen solchen zwingenden Schluss wird man jedoch nicht ziehen können: Die mit Schaffung der jeweiligen gesetzlichen Alternativregelung (und damit zusätzlichen Möglichkeit auf Erlangung der angestrebten Vergünstigung) einhergehende „Benachteiligung“ desjenigen, der eine allein im Gnadenweg mögliche Vergünstigung begehrt, ist nun einmal Konsequenz 2007, 332 [336]), sondern der Umstand, dass es an einer gesetzlichen Regelung, die Freiheit wiederzuerlangen, fehlte. 298 Es lässt sich daher allenfalls auf einen Willen des BVerfG und des dessen Auftrag nachkommenden Gesetzgebers schließen, dass das Gnadenverfahren nicht vorrangig gegenüber einem Verfahren nach § 57a StGB ist (etwa dergestalt, dass vor Einleitung eines Verfahrens nach § 57a StGB der Gnadenweg erfolglos beschritten worden sein müsste); dies ist aber eine Selbstverständlichkeit. 299 s. zur Frage einer solchen Bindungswirkung unter § 4 B. III. 2. (S. 228 ff.).
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der gesetzgeberischen Entscheidung, die Voraussetzungen bestimmter Vergünstigungen, die ihm kriminalpolitisch sinnvoll erscheinen, gesetzlich zu normieren, während andere Vergünstigungen allein im Gnadenweg möglich sein sollen. Weil es z. B. aus Sicht des Gesetzgebers nicht sinnvoll erscheint, eine Restfreiheitsstrafe in eine Geldstrafe umzuwandeln, ist dies nur im Gnadenweg möglich; die Aussetzung dieser Restfreiheitsstrafe zur Bewährung (gegebenenfalls verbunden mit der Erteilung von Auflagen und Weisungen) hält der Gesetzgeber hingegen unter bestimmten Voraussetzungen zwecks Resozialisierung des Verurteilten für sinnvoll, mit der Folge, dass neben dem Gnadenweg auch die Möglichkeiten nach §§ 57, 57a StGB bestehen. Das Entstehen der „doppelten Chance“ ist daher kriminalpolitisch bedingt und hat damit einen sachlichen Grund. Es besteht mithin keine Notwendigkeit, die Ausübung des Begnadigungsrechts derart einzuschränken, dass derjenige, der um eine Vergünstigung nachsucht, die gesetzlich vertypt ist, im Ergebnis ebenfalls nur eine Chance hat (weil das gesetzliche Verfahren vorrangig ist und – sollte dieses erfolglos sein – eine gewisse Bindungswirkung bei einer nachfolgenden Gnadenentscheidung besteht). Im Ergebnis lässt sich daher festhalten, dass zwar Entstehungsgeschichte und ratio legis einzelner gesetzlicher Alternativregelungen für einen Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade sprechen, sich jedoch nicht verallgemeinernd auf einen solchen Vorrang schließen lässt. 7. Gewohnheitsrecht Da weitgehender Konsens besteht, dass gewohnheitsrechtliche Rechtssätze das Gnadenrecht prägen können,300 stellt sich die Frage, ob auch der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade ein solcher gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz ist.301 Fraglich ist indes, ob vor dem Hintergrund, dass sich der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade bereits aus der Funktion des Begnadigungsrechts ergibt, überhaupt ein solcher gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz entstehen kann. Denn dem Gewohnheitsrecht ist es fremd, dass es nur ein vernünftiges Ergebnis gibt.302 Die Entstehung von Gewohnheitsrecht ist vielmehr davon abhängig, dass eine längerdauernde gleichmäßige und allgemeine Übung besteht (longa consuetudo), die von den Beteiligten als rechtsverbindlich anerkannt wird (opinio iuris).303 Fehlt es an diesen Voraussetzungen, entsteht 300 s.
unter § 3 A. IV. 1. (S. 116). diese Richtung geht offenbar Schätzler (NJW 1975, 1249 [1250]), nach dem es sich beim Vorrang des gesetzlichen Wegs um eine „Tradition“ handelt. 302 Tomuschat, Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 46. 303 s. bereits S. 117 mit Fn. 69. 301 In
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kein gewohnheitsrechtlicher Rechtssatz. Das Gewohnheitsrecht ist daher in einem Bereich angesiedelt, wo auch alternative rechtliche Lösungen denkbar sind, ihm fehlt die Vorbestimmtheit.304 Demgegenüber ergibt sich der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade zwingend aus der Funktion des Begnadigungsrechts als Korrektiv zum abstrakten Gesetz. Ungeachtet der Frage, ob der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade in der Praxis eine längerdauernde gleichmäßige Übung darstellt und ob er von den Beteiligten als rechtsverbindlich anerkannt wird, scheidet eine gewohnheitsrechtliche Verankerung daher aus. 8. Zwischenergebnis Bestehen mancherlei fehlerhafte Vorstellungen über die dogmatische Grundlage des Vorrangs des Gesetzes gegenüber der Gnade, lässt sich gleichwohl feststellen, dass dieser Vorrang de lege lata besteht. Er folgt dabei aus der Funktion der Gnade als Einzelfallkorrektiv des starren Gesetzes: Bietet das Gesetz seinerseits eine Möglichkeit, die mit der Gnade erstrebte Vergünstigung zu erhalten, fehlte es einem gleichwohl ergehenden originären Gnadenakt an der erforderlichen Legitimität. Ist ein und dieselbe Behörde sowohl für den Erlass eines Gnadenakts als auch die Entscheidung über die gesetzliche Alternativregelung zuständig (wie bei §§ 455, 456, 459a StPO), folgt die Nachrangigkeit der Gnade zudem aus dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes. Rechtsdogmatisch ist der Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber dem Gnadenverfahren damit als Ausprägung des Gewaltenteilungsgrundsatzes zu verstehen: Denn ein auch ohne Gesetzeshärte ergehender Gnadenakt unterläuft die von der Legislative geschaffene gesetzliche Alternativregelung, welche der Gnade insoweit ihren Anwendungsbereich genommen hat. Dass ein Gnadenerweis zu unterbleiben hat, wenn eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt, ist damit geltendes Recht, und nicht lediglich programmatischer Grundsatz. Da es keine Ausnahme für die Funktion der Gnade als Einzelfallkorrektiv des starren Gesetzes gibt,305 gibt es auch keine Ausnahme des Vorrangs des Gesetzes gegenüber der Gnade. Daher ist festzuhalten, dass die in manchen Gnadenordnungen enthaltenen Vorschriften, welche den Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade lediglich „grundsätzlich“ vorsehen,306 das geltende 304 Tomuschat,
Verfassungsgewohnheitsrecht?, S. 46. unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 142 ff.). 306 s. S. 132 mit Fn. 152. 305 s.
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Recht unzureichend abbilden, was allerdings unschädlich ist.307 Ein Gnadenakt, der ergeht, obwohl eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt, wird der Funktion, die der Gnade unter Geltung des Grundgesetzes zukommt, nicht gerecht. Ist damit also festgestellt, dass das Gesetz gegenüber der Gnade de lege lata vorrangig ist und dass dieser Vorrang zudem ausnahmslos gilt, so wirft dies zwei Folgefragen auf: Zunächst fragt sich, ob der Verurteilte trotz an sich vorrangigem gesetzlichen Weg gleichwohl kraft ausdrücklichen Antrags eine alleinige Entscheidung im Gnadenweg begehren kann, mit der Folge, dass eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch zu erfolgen hat. Zudem gilt es zu fragen, wann – d. h. unter welchen Voraussetzungen – eine vorrangige gesetzliche Regelung in Betracht kommt. Dem wird im Folgenden nachgegangen.
V. Durchbrechung des Vorrangs des gesetzlichen Verfahrens durch Antrag auf alleinige Entscheidung im Gnadenweg? 1. Vorbemerkung Wie bereits angesprochen, sehen manche Gnadenordnungen vor, dass eine Gnadenentscheidung trotz an sich vorrangigem gesetzlichen Verfahren jedenfalls dann zu ergehen hat, wenn der Antragssteller ausdrücklich oder konkludent eine alleinige Entscheidung im Gnadenweg begehrt.308 Auch die Literatur geht zum Teil davon aus, dass der Verurteilte stets eine Sachentscheidung über sein Gnadengesuch verlangen kann. Nach Kunert und J. Meier könne sich der Gnadenträger nach dem Sinn des Instituts der 307 Einen Verstoß dieser Verwaltungsvorschriften gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz wird man jedenfalls nicht annehmen können. Aufgrund der Formulierung, dass der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade nur „grundsätzlich“ besteht, käme zwar eine Auslegung der Vorschriften dahingehend in Betracht, dass ausnahmsweise eine Gnadenentscheidung auch dann ergehen darf, wenn eine Vergünstigung auf gesetzlichem Weg in Betracht kommt. Da eine solche Auslegung indes gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz verstieße – schließlich gilt der Vorrang des Gesetzes ausnahmslos –, sind die Vorschriften verfassungskonform dahin auszulegen, dass der Vorrang des Gesetzes generell gilt. 308 So in Baden-Württemberg, Bayern, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein (siehe S. 100 mit Fn. 80). Siehe exemplarisch Nr. 9.1 GnO-RP: „Gnadengesuche sind darauf zu prüfen, ob sie Anlaß zu gesetzlichen oder sonstigen nicht gnadenrechtlichen Entscheidungen geben können… [Dies] findet keine Anwendung, wenn ausdrücklich erklärt wird, daß ausschließlich eine Entscheidung im Gnadenwege angestrebt wird.“
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Gnade einer solchen Entscheidung nicht verschließen.309 Solchen Gesuchen liege in der Praxis der Gedanke zugrunde, die negativ präjudizierende Wirkung einer zu erwartenden ablehnenden gesetzlichen Entscheidung zu vermeiden.310 Dass der Verurteilte trotz an sich vorrangigem gesetzlichen Weg eine Sachentscheidung über sein Gnadengesuch verlangen kann, erscheint jedoch nicht unproblematisch: Denn kommt eine gesetzliche Vergünstigung in Betracht, ist ein Gnadenakt nach dem bislang Gesagten nicht legitim. Originäre Sachentscheidungen über das Gnadengesuch setzen hiernach vielmehr voraus, dass eine Gesetzeshärte besteht, d. h. dass das Gesetz – einschließlich der gesetzlichen Alternativregelungen – gerade nicht „passt“.311 Dass gleichwohl – trotz in Betracht kommender gesetzlicher Alternativregelung – eine Sachentscheidung (positiv wie negativ) über das Gnadengesuch ergehen darf, könnte sich daher allein daraus ergeben, dass dem Verurteilten ein Anspruch auf eine solche Sachentscheidung zusteht, ohne zuvor auf den gesetzlichen Weg verwiesen zu werden.312
309 Vgl. Kunert, NStZ 1982, 89 (96); J. Meier, Zur gegenwärtigen Behandlung des „Lebenslänglich“ beim Mord, S. 114. Nach Kunert (a. a. O.) stelle sich in solchen Fällen dann lediglich die Frage, ob der Gnadenträger die Kompetenz zur Entscheidung der Frage, ob das Gesuch als ausschließliche Bitte um Gnade anzusehen ist, selbst wahrnehmen oder sie der etwaig mit der Gnadenvorprüfung beauftragten Stelle überlassen will. Vgl. auch AG Crailsheim (mitgeteilt in LG Ellwangen BeckRS 2001, 31149963), welches einen von der Staatsanwaltschaft gestellten Antrag nach § 69a Abs. 7 StGB mit der Begründung ablehnte, dass der Verurteilte zuvor ausdrücklich eine Verkürzung der Sperrfrist im Gnadenweg begehrt hatte. 310 Kunert, NStZ 1982, 89 (96); J. Meier, Zur gegenwärtigen Behandlung des „Lebenslänglich“ beim Mord, S. 114; anders Mysegades, Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, S. 183 (dem Verurteilten erwüchsen „aus der vorrangigen Behandlung seines Antrags durch die Vollstreckungsgerichte keine Nachteile für die anschließende Beurteilung des Gnadengesuchs“); Mysegades spricht sich daher gegen die Anwendbarkeit des Begnadigungsrechts – trotz Antrags auf alleinige Entscheidung im Gnadenweg – bei in Betracht kommender Strafrestaussetzung nach § 57a StGB aus. 311 s. unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 142 ff.). 312 Ein Recht auf Sachentscheidung allein könnte den Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade nicht aushebeln, da eine solche Sachentscheidung auch noch nach einer vorherigen Verweisung auf den gesetzlichen Weg (verbunden mit einer negativen Entscheidung) getroffen werden könnte. Nicht zu verwechseln mit dem Recht auf eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch ist das Recht des Verurteilten, ein Gnadengesuch einzureichen; dass dem Verurteilten stets dieses Recht zusteht, ist eine Selbstverständlichkeit. Ferner ist hiervon das Recht zu unterscheiden, einen Gnadenerweis zu verlangen; siehe zur Frage, ob dem Verurteilten im Einzelfall ein solcher Anspruch auf Gnade zustehen kann, unter § 4 A. II. 3. (S. 215 ff.).
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2. Anspruch des Einzelnen auf Sachentscheidung über das Gnadengesuch ohne vorherigen Verweis auf den gesetzlichen Weg? a) Verfassungsrechtliche Vorschriften zum Begnadigungsrecht Zunächst ist festzustellen, dass die verfassungsrechtlichen Vorschriften zum Begnadigungsrecht – für den Bund Art. 60 Abs. 2 GG – für einen solchen Anspruch nichts hergeben. Denn wie bereits oben festgestellt, handelt es sich hierbei in erster Linie um reine Kompetenzvorschriften.313 Neben dem jeweiligen Wortlaut,314 der allein den Gnadenträger, nicht hingegen den einzelnen Verurteilten nennt, und damit auch allein dem Gnadenträger ein Recht verleiht (nämlich zu begnadigen), nicht aber dem Einzelnen, spricht hierfür auch die systematische Stellung der Normen in den Abschnitten der Staatsorganisation (z. B. Art. 60 Abs. 2 GG im Abschnitt „V. Bundespräsident“, wo Rechte und Pflichten des Bundespräsidenten, nicht aber subjektive Rechte des Einzelnen normiert sind). b) Petitionsrecht (Art. 17 GG) Auch aus dem Petitionsrecht (Art. 17 GG) folgt ein solcher Anspruch nicht. Zwar ist das Gnadengesuch materiell als Petition i. S. v. Art. 17 GG anzusehen, ist eine solche doch „jeder, gleich wie genannte, formlose Antrag an ein (unmittelbar oder mittelbar) staatliches Organ, etwas Bestimmtes zu tun oder zu unterlassen“315 – Voraussetzungen, die das Gnadengesuch unschwer erfüllt.316 Dies hat zur Folge, dass Gnadenanträge entgegengenommen, sachlich geprüft und beschieden werden müssen.317 Die hiernach gebotene sachliche Prüfung erfordert zwar das „sorgfältige Studium der 313 s. unter § 3 A. IV. 2. b) (S. 121). Daneben garantieren sie den Bestand des Instituts „Gnade“ verfassungsrechtlich. 314 Die Wortlaute der jeweiligen landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen entsprechen im Wesentlichen dem des Art. 60 Abs. 2 GG, jedenfalls ergeben sich für die vorliegende Frage eines Rechts des Einzelnen auf Sachentscheidung über das Gnadengesuch keine Unterschiede. 315 Maunz / Dürig-Klein, Art. 17 Rn. 43. 316 Für die Einordnung des Gnadengesuchs als Petition auch Dürig, JZ 1961, 166; Schätzler, NJW 1975, 1249 (1252); anders aber Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 182, 186 f., der lediglich „strukturelle Parallelen“ zwischen Gnade und Petition sieht. Zu beachten ist, dass in den Schutzbereich von Art. 17 GG nur schriftliche Petitionen fallen (v. Mangoldt / Klein / Starck-Brenner, Art. 17 Rn. 25; Maunz / DürigKlein Art. 17 Rn. 61). Mündliche Gnadengesuche fallen daher nicht unter Art. 17 GG. 317 Dürig, JZ 1961, 166; v. Mangoldt / Klein / Starck-Brenner, Art. 17 Rn. 40 f., 43 (bezüglich Petitionen allgemein).
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Petitionsschrift“318. Dem steht indes nicht entgegen, dass der Verurteilte (zunächst) auf den gesetzlichen Weg verwiesen wird. Denn zum einen muss sich der Gnadenträger, um überhaupt die Frage nach dem Vorrang des gesetzlichen Wegs beantworten zu können, bereits inhaltlich mit dem Gnadengesuch befassen. Zum anderen kann er, nachdem im gesetzlichen Verfahren ablehnend entschieden wurde, den Gnadenantrag immer noch sachlich prüfen und eine inhaltliche Gnadenentscheidung fällen. c) Rechtsstaatsprinzip (Beschleunigungsgebot) Allerdings wirft letzterer Punkt einen anderen Aspekt auf: Sofern der Verurteilte einen Anspruch auf eine zeitnahe Sachentscheidung über seinen Gnadenantrag hat, könnte ein Verweis auf den gesetzlichen Weg zu einer unangemessenen Verzögerung des Gnadenverfahrens führen. Ein solches Recht auf zeitnahe Sachentscheidung über das Gnadengesuch könnte damit womöglich einem vorherigen Verweis auf den gesetzlichen Weg entgegenstehen. Doch lässt sich ein solches Recht begründen, das dem Verweis auf den gesetzlichen Weg per se entgegensteht? Auch wenn im Gnadenverfahren das Beschleunigungsgebot Anwendung findet, mit der Folge, dass eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch binnen angemessener Frist zu ergehen hat,319 so folgt hieraus nicht ohne Weiteres ein Recht des Einzelnen auf sofortige Entscheidung über sein Gnadengesuch. Denn ob eine unangemessene Verzögerung vorliegt, bemisst sich nach den Umständen des Einzelfalls, wobei auch der Umstand zu berücksichtigen ist, ob eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt.320 Ob das Beschreiten des gesetzlichen Wegs im konkreten Fall unangemessen ist – der Verurteilte also einen Anspruch darauf hat, ohne vorherige gesetzliche Entscheidung eine Sachentscheidung über sein Gnadengesuch zu erlangen – betrifft die Frage nach der konkreten inhaltlichen Ausgestaltung des Vorrangs des Gesetzes: Eine allzu weite Bestimmung des „In-BetrachtKommens“, wonach auch bei von vornherein aussichtslosen gesetzlichen Verfahren der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade greift, könnte in der Tat zu einer rechtsstaatlich nicht unproblematischen Verfahrensverzögerung führen.321 Das Recht des Verurteilten auf Entscheidung über den Gna318 Maunz / Dürig-Klein,
Art. 17 Rn. 88. unter § 3 C. IV. 2. b) (S. 182). 320 s. unter § 3 C. IV. 2. c) (S. 184). 321 Beispiel: Ein zum wiederholten Mal eine Freiheitsstrafe verbüßender Verurteilter stellt nach hälftiger Verbüßung im Gnadenweg einen Antrag auf Reststrafaussetzung, wobei offensichtlich ist, dass keine besonderen Umstände für eine vorzei319 s.
B. „Gnade nach Gesetz“: Zum Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade 165
denantrag binnen angemessener Frist ist daher bei der Bestimmung der Frage, wann eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt, zu berücksichtigen.322 Ein aus dem Beschleunigungsgebot folgender genereller Anspruch des Verurteilten, trotz vorrangigem gesetzlichen Verfahren eine Sachentscheidung über sein Gnadengesuch zu erlangen, besteht hingegen nicht. d) Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung Schließlich folgt ein Anspruch des Einzelnen auf Sachentscheidung über sein Gnadengesuch ohne vorherigen Verweis auf den gesetzlichen Weg auch nicht aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung.323 Dabei kann offen bleiben, ob eine gleichmäßige Verwaltungspraxis besteht, bei ausdrücklichem Antrag auf alleinige Entscheidung im Gnadenweg über das Gnadengesuch in der Sache zu entscheiden.324 Denn ein Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung kann nur aus einer rechtmäßigen Verwaltungspraxis folgen.325 Wie oben festgestellt, fehlt indes einem Gnadenerweis, der trotz in Betracht kommender gesetzlicher Alternativregelung ergeht, die Legitimität. Eine Praxis, die bei einem entsprechenden Antrag des Verurteilten gleichwohl über das Gnadengesuch in der Sache entscheidet, wäre daher an sich illegitim. Eine Ausnahme könnte sich eben nur dann ergeben, wenn der Verurteilte einen Anspruch auf Sachentscheidung hat. Einen solchen Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. den Grundsätzen der Selbstbindung der Verwaltung herzuleiten, wäre allerdings zirkulär: Erst der Anspruch des Verurteilten auf sofortige Gnadenentscheidung führt zur tige Reststrafaussetzung vorliegen. Ein Verweis auf den gesetzlichen Weg (§ 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB) könnte hier in der Tat zu einer unangemessenen Verzögerung des Gnadenverfahrens führen. Doch käme aufgrund der Aussichtslosigkeit eines Verfahrens nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB hier ohnehin eine Reststrafaussetzung nicht in Betracht (siehe unter § 3 C. IV. 2. c) [S. 183] und § 4 C. I. 1. a) [S. 234]), sodass hier ohne vorherigen Verweis auf den gesetzlichen Weg in der Sache entschieden werden kann. 322 s. unter § 3 C. IV. 2. c) (S. 184). Der Anspruch des Verurteilten auf Entscheidung über das Gnadengesuch binnen angemessener Frist steht einem vorherigen Verweis auf den gesetzlichen Weg also nicht per se entgegen. 323 s. zur grundsätzlichen Anwendbarkeit dieser Rechtsfigur im Gnadenrecht bereits unter § 3 B. IV. 2. (S. 136). 324 Auf eine solche Praxis – jedenfalls in manchen Bundesländern – deuten die entsprechenden Regelungen in den Gnadenordnungen hin (siehe die Nachweise auf S. 100 in Fn. 80). 325 Stelkens / Bonk / Sachs-Sachs, § 40 Rn. 117 m. w. N.
166
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Rechtmäßigkeit einer entsprechenden Verwaltungspraxis; der Anspruch aus Art. 3 Abs. 1 GG i. V. m. der Selbstbindung der Verwaltung setzt jedoch die Rechtmäßigkeit voraus, kann sie hingegen nicht begründen. 3. Zwischenergebnis Am Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade ändert sich mithin auch dann nichts, wenn der Verurteilte ausdrücklich oder konkludent eine inhaltliche Sachentscheidung über das Gnadengesuch begehrt. Warum sich – wie von Kunert und J. Meier behauptet – der Gnadenträger nach dem Sinn der Gnade einer solchen Entscheidung nicht verschließen können soll,326 ist nicht ersichtlich. Da der Sinn der Gnade heute allein darin besteht, nicht behobene Härten des Gesetzes im Einzelfall zu korrigieren,327 spricht vielmehr nichts dagegen dort, wo eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt – und mithin eine solche „Gesetzeshärte“ nicht besteht –, dem Verurteilten eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch zunächst zu verwehren und ihn auf den gesetzlichen Weg zu verweisen. Erst nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung darf eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch ergehen. Die dem widersprechenden Bestimmungen in einigen Gnadenordnungen sind damit unerheblich. Um den Verurteilten indes nicht auf den gesetzlichen Weg in Fällen zu verweisen, in denen die Erlangung der Vergünstigung nach dem Gesetz aussichtslos erscheint, ist freilich näher zu bestimmen, wann eine solche Vergünstigung „in Betracht kommt“. Eine diesbezüglich allzu weite Bestimmung führte schließlich zu einer unnötigen Verfahrensverzögerung, die wegen Missachtung des auch im Gnadenverfahren geltenden Beschleunigungsgebots (dazu sogleich) rechtsstaatswidrig sein könnte. Im Folgenden ist daher zu konkretisieren, unter welchen Voraussetzungen eine gesetzliche Alternativregelung „in Betracht kommt“ und damit der gesetzliche Weg gegenüber dem Gnadenverfahren vorrangig ist.
326 s.
unter § 3 B. V. 1. (S. 161). näher unter § 4 A. II. (S. 200 ff.).
327 Dazu
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs167
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs I. Vorbemerkung 1. Gegebenenfalls: Auslegung des Gnadengesuchs Stellt man zurecht fest, dass die Gnade gegenüber den gesetzlichen Strafvergünstigungen nachrangig ist, hat die Gnadenbehörde bei Eingang eines Gnadengesuchs zu prüfen, ob es eine gesetzliche Regelung gibt, welche die im Gnadenweg begehrte Vergünstigung ebenso vorsieht. Aufgrund der weitreichenden Vergesetzlichung ehemaliger Gnadendomänen wird dies zwar nicht selten der Fall sein.328 Da im Gnadenweg indes auch die Gewährung von Vergünstigungen möglich ist, die das Gesetz nicht kennt (z. B. Umwandlung einer Freiheitsstrafe in eine Geldstrafe),329 ist dies jedoch keineswegs zwingend. Unter Umständen muss daher zunächst im Wege der Auslegung ermittelt werden, welche Vergünstigung mit dem Gnadengesuch begehrt wird.330 Bittet z. B. ein Häftling um „Erlass“ seiner Reststrafe im Gnadenweg, wird man vor dem Hintergrund, dass bei zu Freiheitsstrafe Verurteilten gnadenweise in aller Regel der Strafrest zur Bewährung ausgesetzt wird, das Gnadengesuch regelmäßig als Antrag auf Reststrafaussetzung im Gnadenweg auslegen können.331 Zu prüfen wäre dann, ob nicht das gesetzliche Verfahren zur Reststrafaussetzung (§§ 57, 57a StGB) Vorrang vor dem Gnadenverfahren hat. Auch bei Bitte des Häftlings an den Gnadenträger, ihn im Wege der Gnade unter nachfolgender elektronischer Aufenthaltsüberwachung („Fußfessel“) zu entlassen, stellte sich die Frage des Vorrangs des auf Gewährung einer Reststrafaussetzung nach §§ 57, 57a StGB gerichteten Verfahrens vor der Gnade. Denn die erstrebte Vergünstigung (Wiedererlangung der Freiheit unter der Weisung, eine Fußfessel zu tragen) wäre gem. § 57 Abs. 3 S. 1 bzw. § 57a Abs. 3 S. 2, jeweils i. V. m. § 56c StGB, als Weisung im Rahmen der Strafrestaussetzung auch auf gesetzlichem Weg möglich („elektronische Aufenthaltsüberwachung“).332 328 s.
dazu bereits unter § 2 C. II. (S. 99 mit Fn. 79). unter § 2 A. (S. 91). 330 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 127 f. 331 Insoweit kommt es freilich auf die Umstände des Einzelfalls an: Bei einem durch Rechtsanwalt eingereichten Gnadengesuch wird sich der Gnadenträger eher an den Wortlaut der beantragten Vergünstigung halten können als bei einem juristischen Laien; im Zweifel ist das Ziel des Gesuchs durch Rückfrage zu klären (Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 127 f.). 329 s.
168
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Ergibt die Auslegung umgekehrt, dass eine allein im Gnadenweg mögliche Vergünstigung begehrt wird, so fehlt es zwar an einem In-BetrachtKommen einer gesetzlichen Vergünstigung, sodass das Gesetz also gerade nicht vorrangig ist und eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch ergehen kann. Bestehen in diesem Fall jedoch gesetzliche Milderungsmöglichkeiten – die nur eben eine andere Rechtsfolge vorsehen –, wird es in aller Regel an der für den Erlass eines Gnadenakts erforderlichen unbilligen Härte333 fehlen und das Gnadenverfahren damit in der Sache keinen Erfolg haben.334 2. Inhaltliche Ausgestaltung durch die Gnadenordnungen? Für die Frage, unter welchen Voraussetzungen ein gesetzliches Verfahren, durch welches das (gegebenenfalls durch Auslegung ermittelte) Ziel des Gnadengesuchs ebenso erreicht werden kann, vorrangig ist, bieten die Gnadenordnungen kaum konkrete Maßstäbe: Manche Gnadenordnungen gehen von der Nachrangigkeit der Gnade aus, wenn eine gesetzliche Vergünstigung „in Betracht kommt“335. Nach anderen Gnadenordnungen ist die Gnade bereits dann nachrangig, wenn Gesuche auch als Antrag auf Erteilung einer Vergünstigung auf gesetzlichem Weg „aufgefasst werden können“336. Nach wieder anderen ist zu prüfen, ob dem mit dem Gnadengesuch verfolgten Ziel aufgrund gesetzlicher Bestimmung „entsprochen werden kann“337, bzw. ob Gnadengesuche zu gesetzlichen Entscheidungen „Anlass geben können“338. Nach § 5 Abs. 3 GnG-SL besteht ein Vorrang solcher Verfahren, 332 Vgl. MK-Groß, § 56c Rn. 36 f.; LK-Hubrach, § 56c Rn. 6a. Für die Führungsaufsicht wurde diese Weisungsmöglichkeit durch das Gesetz zur Neuordnung des Rechts der Sicherungsverwahrung und zu begleitenden Regelungen vom 22.12.2010 (BGBl. I, S. 2300) in § 68b Abs. 1 S. 1 Nr. 12 StGB ausdrücklich normiert. 333 Zu diesem Erfordernis näher unter § 4 A. II. (S. 200 ff.). 334 Beispiel: Hat der Verurteilte bereits die Hälfte der Strafe verbüßt und begehrt er nunmehr unmissverständlich den sofortigen und unbedingten Erlass der Reststrafe, so stellt sich die Frage, worin eine besondere Härte liegen soll, den gesetzlichen Weg (Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 2 StGB) zu beschreiten. Ein Gnadenakt wird dann in aller Regel mangels unbilliger Härte ausscheiden. Vor Erreichen des Halbstrafenzeitpunkts ist an einen Gnadenerweis ohnehin nur in besonderen Ausnahmefällen zu denken (Beispiel unter § 4 C. I. 1. a) [S. 235]). Im Ergebnis (sofortiger unbedingter Erlass nur in außergewöhnlichen Fällen möglich) ebenso Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 362. 335 § 14 Abs. 1 GnO-BW; § 4 Abs. 2 S. 1 GnO-MV; § 11 Abs. 1 S. 1 GnO-NI; § 4 Abs. 2 S. 1 GnO-SH. 336 § 5 Abs. 2 S. 1 GnO-BY; § 10 Abs. 1 S. 1 GnO-NW. 337 § 12 Abs. 1 S. 1 GnO-BB; § 4 S. 1 GnO-BE; § 13 lit. a) GnO-SN; § 12 Abs. 1 S. 1 GnO-ST; § 6 Abs. 1 S. 1 GnO-TH. 338 § 6 Abs. 2 GnO-HE; Nr. 9.1 S. 1 GnO-RP.
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs169
„die einem Gnadenerweis vergleichbare Vergünstigungen bewirken können“339. Einen konkreteren inhaltlichen Maßstab, wann der Vorrang des Gesetzes greift, findet sich allein in den Gnadenordnungen von Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Hiernach ist ein gesetzliches Verfahren dann nicht vorrangig, wenn es „offensichtlich keine Aussicht auf Erfolg bietet“340. Bei strenger wörtlicher Lesart dieser Bestimmungen besteht also auch insoweit341 durchaus eine Divergenz zwischen den einzelnen Gnadenordnungen. Trotz dieses heterogenen Bildes, das sich beim Blick in die Gnadenordnungen ergibt, wird die folgende, systematische Betrachtung der verschiedenen gesetzlichen Alternativregelungen zeigen, dass eine weitgehend allgemeingültige – d. h. für das Verhältnis der Gnade zu sämtlichen gesetzlichen Alternativregelungen geltende – inhaltliche Ausgestaltung des Vorrangs des Gesetzes zu fordern ist.
II. Systematische Betrachtung der gesetzlichen Vorschriften: Unterscheidung zwischen „formellen“ und „materiellen“ Merkmalen Die gesetzlichen Alternativregelungen weisen auf Tatbestands- wie auf Rechtsfolgenseite formelle und materielle Merkmale auf.342 Dabei betreffen die formellen Merkmale insbesondere zeitliche Regelungen sowie Antragsbzw. Zustimmungserfordernisse. Demgegenüber erfordern die materiellen Merkmale vielfach eine nähere sachliche Prüfung, handelt es sich bei ihnen 339 Dies könnte man so verstehen, dass die Gnadenbehörde in jedem Fall – und zwar unabhängig von den Erfolgsaussichten eines Verfahrens auf gesetzlichem Weg – den Gnadesuchenden auf den gesetzlichen Weg zu verweisen hätte. Man könnte die Bestimmung allerdings auch so verstehen, dass gesetzliche Möglichkeiten einem Gnadenerweis vergleichbare Vergünstigungen nur dann „bewirken können“, wenn insoweit eine gewisse Erfolgschance besteht. 340 § 4 Abs. 3 GnO-MV; § 4 Abs. 3 GnO-SH. 341 Ebenso zur Frage, ob der Vorrang des gesetzlichen Verfahrens generell oder nur grundsätzlich besteht und ob er entfällt, wenn der Verurteilte ausdrücklich eine alleinige Entscheidung im Gnadenweg begehrt, siehe unter § 3 B. II. (S. 132). 342 Zur Unterscheidung zwischen „formellen“ und „materiellen Tatbestandsvoraussetzungen“ bei den gesetzlichen Strafvergünstigungen bereits A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 171 ff. Da sich formelle Kriterien auch auf Rechtsfolgenseite finden – so etwa in den Strafvollzugsgesetzen hinsichtlich der Dauer des zu gewährenden Urlaubs aus der Haft oder in § 16 Abs. 2 StVollzG bezüglich des Zeitpunkts, zu dem eine vorzeitige Haftentlassung möglich ist – wird im Folgenden die allgemeinere Bezeichnung „Merkmal“ verwendet. Ähnlich MK-Groß, § 57 Rn. 22 ff., der von „formalen“ und „materiellen Kriterien“ spricht. Vgl. auch (bezüglich § 69a Abs. 7 StGB) LK-Geppert, § 69a Rn. 79 ff. („formelle und sachliche Voraussetzungen“).
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
doch meist um unbestimmte Rechtsbegriffe, die einer Wertung durch den Rechtsanwender bedürfen. So lässt sich etwa die Vorschrift des § 57 Abs. 1 S. 1 StGB danach untergliedern, ob (i) es sich bei der verhängten Strafe um eine zeitige Freiheitsstrafe handelt,343 (ii) von der zwei Drittel (mindestens zwei Monate) verbüßt sind, (iii) der Verurteilte in die Reststrafaussetzung einwilligt (formelle Merkmale) und ob eine Reststrafaussetzung „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“ (materielles Merkmal). Die Vorschrift des § 57a Abs. 1 StGB lässt sich danach unterteilen, ob (i) es sich bei der verhängten Strafe um eine lebenslange Freiheitsstrafe handelt, (ii) 15 Jahre der Strafe verbüßt sind, (iii) der Verurteilte in die Reststrafaussetzung einwilligt (formelle Merkmale) und ob (i) „nicht die besondere Schwere der Schuld des Verurteilten die weitere Vollstreckung gebietet“344 sowie (ii) eine Reststrafaussetzung „unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit verantwortet werden kann“ (materielle Merkmale). Die Abkürzung der Sperrfrist für die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach § 69a Abs. 7 StGB ist nur möglich, wenn die Sperre drei Monate gedauert hat (formelles Merkmal) und Grund zu der Annahme besteht, dass „der Täter zum Führen von Kraftfahrzeugen nicht mehr ungeeignet ist“ (materielles Merkmal).345 Durch diese Untergliederung – einerseits formelle Merkmale, andererseits materielle Merkmale, die einer näheren sachlichen Prüfung durch den Rechtsanwender bedürfen – lässt sich den gesetzlichen Alternativregelungen eine Struktur geben, welche die nachfolgende differenzierende Betrachtung ermöglicht. 343 Die Beurteilung, ob dieses Merkmal erfüllt ist, mag banal erscheinen; hieran fehlt es aber z. B., wenn eine lebenslange Freiheitsstrafe im Gnadenweg in eine zeitige umgewandelt wurde; dann verbleibt es bei der Anwendbarkeit von § 57a StGB (MK-Groß, § 57 Rn. 9). 344 Obgleich bereits das (erkennende) Schwurgericht darüber zu entscheiden hat, ob eine besondere Schuldschwere vorliegt (vgl. BVerfGE 86, 288 [315 ff.]), handelt es sich hierbei um ein materielles Merkmal. Denn bei bejahter Schuldschwere hat die Strafvollstreckungskammer im Wege „vollstreckungsrechtlicher Gesamtwürdigung“ festzustellen, ob (und falls ja: wie lange) aufgrund der besonderen Schuldschwere die weitere Vollstreckung geboten ist (BVerfGE 86, 288 [322 f.]; LK-Hubrach, § 57a Rn. 17 ff.). Damit verbietet sich hier eine rein formalistische Betrachtung, sondern es bedarf vielmehr einer sachlichen Prüfung. 345 s. zur Einteilung der Voraussetzungen der Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten in die Kategorien „formelle / materielle Merkmale“ unter § 4 C. V. 1. a) (S. 250 f.).
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs171
III. Zur Prüfung der formellen Merkmale Fraglich ist zunächst, ob der Gnadenträger346 zu prüfen hat, ob die formellen Merkmale einer gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sind – mit der Folge, dass eine Sachentscheidung über die Gnade erfolgen dürfte, wenn es an einem solchen Merkmal fehlt. In der Literatur finden sich hierzu nur wenige, knappe Ansätze. 1. Meinungsstand in der Literatur Nach Birkhoff / Lemke hat die Stelle, bei der das Gnadengesuch eingeht, zunächst zu prüfen, ob dem Ziel des Gesuchs durch Entscheidung auf gesetzlichem Weg „entsprochen werden kann“. Hierbei komme es nicht auf die Erfolgsaussichten eines entsprechenden gesetzlichen Verfahrens an. Maßgeblich sei allein, „ob es … rechtlich[e] Möglichkeiten gibt und ob sie bereits vergeblich in Anspruch genommen worden sind“347. Nimmt man dies beim Wort, dürfte der Gnadenträger selbst bei Nichterfüllung der formellen Merkmale aufgrund des Vorrangs des Gesetzes keine Sachentscheidung über das Gnadengesuch treffen. Birkhoff / Lemke begründen dies damit, dass der Gnadenträger zu einer weitergehenden Beurteilung ohne eingehende Prüfung der konkreten Fallsituation nicht in der Lage sei. Ferner ergäbe sich andernfalls eine „rechtstaatlich [sic] nicht unbedenkliche Verschiebung richterlicher oder von der Strafprozessordnung der Vollstreckungsbehörde vorbehaltener Tätigkeiten“ auf den Gnadenträger.348 Nach Weyde sei selbst dann das gesetzliche Verfahren vorrangig, wenn der Gnadenträger erkennt, dass ein formelles Merkmal einer gesetzlichen Alternativregelung nicht erfüllt ist. Er nennt als Beispiel, dass der Gnadesuchende um Abkürzung der Sperrfrist bezüglich der Wiedererteilung der Fahrerlaubnis bittet, und zwar vor Ablauf der in § 69a Abs. 7 StGB festgelegten Mindestzeit. Obwohl ein solches Gesuch offensichtlich unbegründet ist,349 sei die gerichtliche Entscheidung hierüber herbeizuführen.350 Denn durch den Rich346 Bzw. eine dessen Entscheidung vorbereitende, ggf. nachgeordnete Gnadenbehörde; wenn im Folgenden der Begriff „Gnadenträger“ verwendet wird, so schließt dies nicht aus, dass eine nachgeordnete Gnadenbehörde die entsprechende Prüfung vornimmt. 347 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 150. Anders aber in Rn. 313 mit Blick auf §§ 57, 57a StGB (der Gnadenträger müsse prüfen, „wie relativ nahe der Zeitpunkt einer noch möglichen gerichtlichen Entscheidung herangerückt ist“, und den Gesuchsteller dann ggf. auf den gesetzlichen Weg verweisen). 348 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 150. 349 Das Gesetz kennt keine Ausnahme zu der in § 69a Abs. 7 S. 2 StGB genannten Mindestzeit.
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
terspruch werde dem Verurteilten vor Augen geführt, „dass sein Anliegen nicht mit der Rechtslage in Einklang zu bringen ist“, sodass er dann mit Wahrscheinlichkeit den Gnadenweg nicht weiter verfolgen werde.351 Demgegenüber gehen Dimoulis, Kunert und Schätzler davon aus, dass der Vorrang des gesetzlichen Verfahrens dann nicht besteht, wenn ein Gnadengesuch vor Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen der gesetzlichen Alternativregelung gestellt wird.352 Dimoulis begründet dies damit, dass es „verfassungswidrig“ sei, wollte man es dem Gnadenträger generell verbieten, vor Ablauf der „jeweiligen gesetzlich vorgesehenen Mindestverbüßungszeiten“ Gnadenakte zu erlassen. Daher könne der Vorrang des gesetzlichen Verfahrens überhaupt nur dann bestehen, „wenn hinsichtlich der zeitlichen Voraussetzungen die Möglichkeit einer Entscheidung des Gerichts bereits gegeben ist.“353 2. Stellungnahme a) Sonderstellung der §§ 455 ff., 459a StPO Zunächst ist zu beachten, dass unter den gesetzlichen Alternativregelungen solche Vorschriften eine Sonderstellung einnehmen, welche in den Zuständigkeitsbereich der Vollstreckungsbehörde fallen. Dies gilt namentlich für §§ 455 ff., 459a StPO. Soweit die Vollstreckungsbehörden Aufgaben im Gnadenverfahren wahrnehmen, sind sie aufgrund des aus dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) folgenden Anwendungsgebots stets gehalten, die Voraussetzungen dieser Vorschriften zu prüfen und die begehrte Vergünstigung gegebenenfalls nach diesen Vorschriften zu gewähren.354 Insoweit besteht eine Prüfungspflicht, die sich nicht nur auf die formellen, sondern auch auf die materiellen Merkmale der in Rede stehenden Vergünstigung bezieht. Von einer „rechtsstaatlich nicht unbedenkliche[n] Verschiebung“ von „der Vollstreckungsbehörde vorbehaltene[n] Tätigkeiten“ auf den Gnadenträger355 kann also jedenfalls insoweit keine Rede sein. 350 Weyde,
in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 53, 55. in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 55. 352 Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 299; jeweils ohne nähere Begründung und speziell mit Blick auf das Verhältnis der Gnade zu §§ 57, 57a StGB: Kunert, NStZ 1982, 89 (96) und Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 195. 353 Zum Vorstehenden Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 299. 354 s. unter § 3 B. IV. 5. c) (S. 154). 355 Vgl. Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 150. 351 Weyde,
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs173
b) Zur Prüfung der formellen Merkmale im Übrigen Auch mit Blick auf die übrigen gesetzlichen Alternativregelungen wird man im Ergebnis richtigerweise den Gnadenträger zu einer Prüfung der formellen Merkmale anhalten müssen. Fehlt es an einem solchen formellen Merkmal, kommt die entsprechende gesetzliche Vergünstigung nicht „in Betracht“ (d. h. der Vorrang des gesetzlichen Wegs greift nicht), sodass eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch ergehen kann. Die Annahme eines Vorrangs des Gesetzes auch für den Fall, dass die formellen Voraussetzungen nicht erfüllt sind, kann hingegen nicht überzeugen: Das von Weyde angeführte Argument, auch beim Fehlen der formellen Kriterien (des § 69a Abs. 7 StGB) sei ein Richterspruch herbeizuführen, da dem Verurteilten dadurch vor Augen geführt werde, dass sein Anliegen nicht mit der Rechtslage in Einklang zu bringen sei, sodass er dann mit Wahrscheinlichkeit den Gnadenweg nicht weiter verfolgen werde,356 geht ersichtlich schon im Ansatz fehl. Es liegt in der Natur der Sache, dass ein Gnadengesuch regelmäßig nicht mit der Rechtslage in Einklang zu bringen ist. Es ist schließlich der Geltungsgrund der Gnade, auf gesetzlichem Weg nicht zu beseitigende – und damit nicht mit der Rechtslage in Einklang zu bringende – Härten auszugleichen.357 Davon, dass der Gnadenträger zu einer über die bloße Frage der Existenz und der bereits vergeblichen Inanspruchnahme gesetzlicher Milderungsmöglichkeiten hinausgehenden Prüfung generell ohne eingehende Prüfung nicht in der Lage sei,358 kann mit Blick auf die Prüfung der formellen Merkmale ebenfalls keine Rede sein. Gnadengesuche werden schließlich in aller Regel von der Vollstreckungsbehörde bearbeitet – sei es, weil sie selbst Gnadenträger kraft Delegation ist, sei es, weil sie als Gnadenbehörde die Gnadenentscheidung einer höheren Behörde vorbereitet. Der Vollstreckungsbehörde wird man aber nicht die Fähigkeit absprechen können zu prüfen, ob die formellen, d. h. insbesondere zeitlichen Voraussetzungen gesetzlicher Strafvergünstigungen erfüllt sind.359 Schließlich führt die Prüfung der formellen Merkmale durch den Gnadenträger auch nicht zu einer „rechtsstaatlich nicht unbedenkliche[n] Verschie356 Weyde,
in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 55. näher unter § 4 A. II. (S. 200 ff.). 358 So Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 150. 359 Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn man – wie z. T. de lege ferenda gefordert – die Gnadenausübung nicht mehr bei den Vollstreckungsbehörden, sondern bei einer „amtscharismatischen“, „unabhängigen“ Stelle ansiedelt (hierfür Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 201 f.). Denn der mit der Gnadenentscheidung betrauten Stelle ist es natürlich unbenommen, zwecks Feststellung des genauen Vollstreckungsstands Rücksprache mit der Vollstreckungsbehörde zu halten (vgl. Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 157). 357 s.
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
bung richterlicher … Tätigkeiten auf den Gnadenträger“360. Denn nicht die Prüfung der Voraussetzungen einer gesetzlichen Alternativregelung ist den Gerichten vorbehalten, sondern nur – zum Teil –361 die Gewährung einer Vergünstigung aufgrund dieser Regelung. „Rechtsstaatlich nicht unbedenklich“ kann diese Prüfung daher überhaupt nur dann sein, wenn sie zur Folge hat, dass der Gnadenträger fälschlicherweise ein formelles Merkmal verneint und – da aus seiner Sicht keine gesetzliche Vergünstigung einschlägig ist – einen Gnadenakt erlässt. Sind in diesem Fall auch die materiellen Merkmale der gesetzlichen Regelung erfüllt, erfolgte der Gnadenakt trotz des Vorliegens der Voraussetzungen der gesetzlichen Vergünstigung. Nach dem oben Gesagten362 wäre der ergangene Gnadenakt illegitim, also in der Tat „rechtsstaatlich nicht unbedenklich“. Allerdings wäre dies eben dadurch bedingt, dass ein formelles Merkmal fälschlicherweise verneint wurde; die Prüfung der formellen Merkmale durch den Gnadenträger begegnet also keinesfalls per se rechtsstaatlichen Bedenken, sondern die hier fehlende Legitimität des Gnadenakts wäre allein Folge einer fehlerhaften rechtlichen Prüfung. Insofern verhält es sich aber nicht anders als bei anderen rechtlichen Entscheidungen. Zugespitzt formuliert: Ein Fehlurteil ist freilich ebenfalls „rechtsstaatlich nicht unbedenklich“, deshalb wird man aber nicht dem Gericht absprechen, die Voraussetzungen einer Verurteilung zu prüfen. Dies gilt umso mehr, als die Prüfung der formellen Merkmale (d. h. insbesondere zeitlichen Voraussetzungen) in aller Regel keine wesentlichen Schwierigkeiten aufweist, d. h. die (allein problematische) Situation, dass fälschlicherweise ein formelles Merkmal verneint wird, ohnehin nicht allzu oft eintreten dürfte. Vielmehr ist zu bedenken, dass aus dem Rechtsstaatsprinzip die Pflicht zur Sachentscheidung über das Gnadengesuch binnen angemessener Frist folgt.363 Bejahte man den Vorrang des gesetzlichen Wegs, obgleich es an einem formellen Merkmal der entsprechenden Regelung fehlt, sodass das gesetzliche Verfahren daraufhin erfolglos ist, so käme es im Ergebnis364 zu einer Verzögerung des Gnadenverfahrens, welche – mangels besonderer aber Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 150. insbesondere die Reststrafaussetzung gem. §§ 57, 57a StGB, die (zugunsten des Verurteilten erfolgenden) nachträglichen Maßnahmen gem. § 56a Abs. 2 S. 2 und § 56e StGB, die Unterbleibensanordnung gem. § 459d StPO und der Strafausstand gem. § 459f StPO. 362 s. unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 142 ff.). 363 Dazu näher sogleich unter § 3 C. IV. 2. b) (S. 182). 364 Zwar wird das Gnadenverfahren durch den Verweis auf den gesetzlichen Weg rein formal betrachtet i. d. R. beendet (siehe unter § 2 C. II. [S. 99 mit Fn. 78]), sodass streng genommen der Verweis auf den gesetzlichen Weg sogar zu einer Verkürzung des Gnadenverfahrens führt. Strengt der Verurteilte jedoch im Anschluss an eine ablehnende gesetzliche Entscheidung ein erneutes Gnadenverfahren an, kommt es insgesamt zu einer Verzögerung. 360 So 361 So
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs175
Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstands365 – unangemessen sein könnte. Der Verweis auf den gesetzlichen Weg trotz fehlender formeller Voraussetzungen könnte also eine im Ergebnis rechtsstaatswidrige Verfahrensverzögerung zur Folge haben. Somit ist nicht die Prüfung der formellen Voraussetzungen „rechtsstaatlich nicht unbedenklich“, sondern vielmehr – umgekehrt – die fehlende Prüfung. Im Übrigen ist bei der vorliegenden Frage der inhaltlichen Ausgestaltung des Vorrangs des gesetzlichen Verfahrens im Blick zu behalten, dass durch diesen Vorrang der Bereich, in welchem originäre Gnadenakte rechtmäßigerweise ergehen dürfen, beschnitten wird. Im Zusammenhang mit der dogmatischen Herleitung des Vorrangs des gesetzlichen Verfahrens wurde bereits darauf hingewiesen, dass zwischen dem Begnadigungsrecht auf der einen und dem Aufgabenbereich von Legislative und Judikative auf der anderen Seite ein Spannungsverhältnis besteht, und die hierbei erfolgenden Grenzziehungen nicht weiter gehen dürfen, als dies zur optimalen Wirksamkeit beider Seiten notwendig ist (praktische Konkordanz).366 Bejahte man nun den Vorrang des gesetzlichen Wegs ohne Rücksicht auf die Frage, ob überhaupt die formellen Merkmale der betreffenden gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sind, so dürften originäre Gnadenentscheidungen rechtmäßigerweise überhaupt nur noch in solchen (wenigen) Bereichen ergehen, wo es an einer gesetzlichen Alternativregelung gänzlich fehlt.367 Dies wäre eine Grenzziehung, die schwerlich zur Achtung der Aufgabenbereiche von Legislative und Judikative im Sinne praktischer Konkordanz „notwendig“ wäre. Nach alledem kann der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade daher nur dann greifen, wenn die formellen Voraussetzungen der gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sind. Dabei haben zwei Präzisierungen zu erfolgen: Zum einen ist zu beachten, dass der Erlass von Vergünstigungen auf gesetzlichem Weg nicht zwingend voraussetzt, dass ihre zeitlichen Voraussetzungen bereits im Zeitpunkt der gesetzlichen Entscheidung erfüllt sind. Dies gilt insbesondere im Verfahren nach § 57a StGB, wo als Entscheidungszeitpunkt bereits eine Verbüßung von ca. 13 Jahren für sachgerecht gehalten wird, um in der Folge die erforderlichen Entlassungsvorbereitungen treffen zu können.368 Auch die Prüfung der Reststrafaussetzung nach § 57 StGB ist 365 Zu diesem Aspekt als Kriterium zur Bestimmung einer unangemessenen Verfahrensverzögerung sogleich unter § 3 C. IV. 2. c) (S. 184). 366 s. unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 144). 367 Etwa bei Fahrverboten (§ 44 StGB), siehe hierzu unter § 4 C. IV. 1. b) (S. 246). 368 Vgl. MK-Groß, § 57a Rn. 30 sowie LK-Hubrach, § 57a Rn. 27 f., jeweils mit Verweis auf die gesetzgeberische Wertung in § 454 Abs. 1 S. 4 Nr. 2b) StPO und weiteren Nachweisen.
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
nach h. M. zwecks Entlassungsvorbereitungen frühzeitig einzuleiten.369 Daher ist der Gnadenträger bei Prüfung der zeitlichen Voraussetzungen angehalten zu beurteilen, ob bei gewöhnlichem Lauf der Dinge nach einem Verweis auf den gesetzlichen Weg die (noch) fehlende Erfüllung der zeitlichen Voraussetzungen der Gewährung der Vergünstigung durch die hierzu berufene Stelle entgegenstehen wird.370 Dies wäre etwa mit Blick auf § 57a StGB nach einer Verbüßung von 13 Jahren nicht mehr der Fall.371 Zum anderen hat – wie noch zu sehen sein wird –372 bei der Beurteilung, ob die formellen Voraussetzungen vorliegen, außer Acht zu bleiben, ob der Verurteilte einen nach dem Gesetz etwaig erforderlichen Antrag gestellt bzw. eine gegebenenfalls erforderliche Zustimmung erteilt hat. Denn andernfalls könnte der Verurteilte den Vorrang des Gesetzes durch seine fehlende Mitwirkung unterlaufen.
IV. Zur Prüfung der materiellen Merkmale Fraglich ist, ob (jenseits der §§ 455 ff., 459a StPO)373 der gesetzliche Weg bereits bei Vorliegen der formellen Merkmale der jeweiligen Alternativregelung vorrangig ist, oder der Gnadenträger nicht vielmehr auch die materiellen Merkmale zu prüfen hat. 1. Meinungsstand Auch zu dieser Frage existieren nur wenige Ansätze in der Literatur. Nach Birkhoff / Lemke und Schätzler kommt der Gnadenweg erst dann in Betracht, wenn es an gesetzlichen Strafvergünstigungen fehlt, wenn sie 369 MK-Groß, § 57 Rn. 52 mit Verweis auf § 454a Abs. 1 StPO und weiteren Nachweisen. 370 So auch Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 313 mit Blick auf § 57 StGB („wenn die in § 57 Abs. 1 und Abs. 2 StGB festgelegten Zeiträume etwa in drei Monaten ab Prüfung des Gnadengesuchs erreicht sein werden“) und in Rn. 322 bezüglich § 57a StGB. 371 Ein Verfahren nach § 69a Abs. 7 StGB kann ebenfalls bereits vor Ablauf der Mindestsperrfrist angestrengt werden, um eine unnötige Fristüberschreitung infolge Arbeitsüberlastung des Gerichts oder etwaig erforderlicher weiterer Ermittlungen zu vermeiden (wenngleich die Entscheidung des Gerichts – anders als bei §§ 57, 57a StGB – allenfalls erst kurz vor Ablauf der im Gesetz genannten Mindestdauer [Sperrfrist] erfolgen darf), siehe LK-Geppert, § 69a Rn. 80. 372 s. dazu unter § 3 C. VI. (S. 186 ff.). 373 Insoweit hat die am Gnadenverfahren beteiligte Vollstreckungsbehörde stets sämtliche formellen und materiellen Merkmale zu prüfen, siehe unter § 3 C. III. 2. a) (S. 172).
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs177
versagen oder wenn sie erschöpft sind.374 Für die Frage nach der Konkretisierung des Vorrangs des Gesetzes dürfte dabei allein der Fall relevant sein, dass die entsprechende gesetzliche Alternativregelung „versagt“.375 Doch damit ist noch nichts gewonnen: Denn ob die gesetzliche Alternativregelung „versagt“, steht an sich erst nach der Entscheidung der hierfür zuständigen Stelle – d. h. ex post – fest. Ob der Gnadenträger bei der von ihm ex ante vorzunehmenden Beurteilung die gesetzliche Regelung auch auf die materiellen Kriterien zu überprüfen hat, bleibt dabei unklar. Speziell mit Blick auf das Verhältnis der Gnade zur Reststrafaussetzung nach § 57 StGB könne es nach Birkhoff / Lemke „willkürlich erscheinen, den Gesuchsteller nur wegen der formalen Voraussetzung einer relativen Nähe zu der gerichtlichen Entscheidung nach § 57 Abs. 2 StGB auf den grundsätzlichen Vorrang dieser Entscheidung zu verweisen und sein Gnadengesuch allein deshalb abzulehnen, obwohl dem Gnadenträger … klar ist, dass ein Antrag des Verurteilten auf Strafrestaussetzung zum Halbstrafenzeitpunkt mit großer Wahrscheinlichkeit erfolglos sein wird.“ Es entspreche daher den „Voraussetzungen eines fairen Gnadenverfahrens“, dass der Gnadenträger in diesem Fall eine Sachentscheidung über die Gnadenfrage trifft.376 Hiernach bestünde also eine Prüfungspflicht bezüglich der materiellen Merkmale, der Vorrang des auf eine Reststrafaussetzung nach § 57 StGB gerichteten Verfahrens griffe nicht, wenn dessen Voraussetzungen „mit großer Wahrscheinlichkeit“ nicht vorliegen. Demgegenüber ist nach Weyde bereits dann, wenn die zeitlichen Voraussetzungen für eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 bzw. 2 StGB vorliegen, zunächst das gerichtliche Verfahren durchzuführen.377 Nimmt man dies beim Wort, hätte also der Gnadenträger (zumindest bei begehrter Reststrafaussetzung einer zeitigen Freiheitsstrafe) überhaupt nicht zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen der gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sind; der Vorrang des gesetzlichen Wegs griffe bereits, wenn die formellen Voraussetzungen der gesetzlichen Alternativregelung vorliegen.
374 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 149; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 36. 375 „Fehlt“ es nämlich an einer gesetzlichen Alternativregelung, so stellt sich die Frage nach einem Vorrang des Gesetzes erst gar nicht. Die Frage der Anwendbarkeit der Gnade, wenn die gesetzlichen Möglichkeiten „erschöpft“ sind, betrifft die Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen Gnade auch noch nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung ergehen kann; siehe hierzu unter § 4 B. (S. 223 ff.). 376 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 315. 377 Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 51.
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
2. Stellungnahme Bei der Frage, ob und inwieweit der Gnadenträger auch die materiellen Merkmale zu prüfen hat, sind verschiedene Argumente für und wider zu beachten. a) Argumente gegen die Prüfung materieller Merkmale Eine umfassende Prüfung der materiellen Voraussetzungen gesetzlicher Alternativregelungen durch den Gnadenträger hätte zwei Konsequenzen: Zum einen dürfte der Gnadenträger, wenn er nach einer solchen Prüfung die materiellen Merkmale der gesetzlichen Alternativregelung bejaht, keine Sachentscheidung über das Gnadengesuch fällen, sondern müsste den Verurteilten auf den gesetzlichen Weg verweisen. Dies begegnet keinen Bedenken: Hat der Gnadenträger die materiellen Merkmale zu Recht bejaht, so hat er erkannt, dass eine gesetzliche Alternativregelung einschlägig ist. Bejaht er hingegen zu Unrecht die materiellen Merkmale einer (in Wirklichkeit nicht einschlägigen) gesetzlichen Alternativregelung, so ist dies zwar misslich – das gesetzliche Verfahren wird vergeblich durchgeführt, obwohl eine sofortige Sachentscheidung über das Gnadengesuch legitim wäre. Insofern ändert aber die (fehlerhafte) Prüfung der materiellen Merkmale nichts im Vergleich zu einer auf die formellen Merkmale beschränkten Prüfung: Denn hätte der Gnadenträger die materiellen Merkmale nicht zu prüfen, griffe bereits bei Einschlägigkeit der formellen Merkmale der Vorrang des Gesetzes. Im Vergleich zu einer auf formelle Merkmale beschränkten Prüfung brächte das fehlerhafte Verneinen der materiellen Merkmale im Ergebnis also keinen Unterschied. Zum anderen müsste der Gnadenträger dann, wenn er ein materielles Merkmal einer gesetzlichen Alternativregelung verneint, über das Gnadengesuch in der Sache entscheiden, ohne dass es zu einer vorherigen gesetzlichen Entscheidung kommt. Verneint der Gnadenträger das materielle Merkmal zu Recht, birgt dies keine Probleme, im Gegenteil: Das gesetzliche Verfahren, welches wegen des Fehlens der Voraussetzungen der in Rede stehenden gesetzlichen Alternativregelung ohnehin keinen Erfolg gehabt hätte, wird vermieden. Problematisch erscheint damit allein die Konstellation, wonach der Gnadenträger ein materielles Merkmal einer gesetzlichen Alternativregelung zu Unrecht verneint, und – wegen aus seiner Sicht fehlender Einschlägigkeit einer gesetzlichen Regelung – in der Sache über das Gnadengesuch entscheidet: Noch keine sonderlichen Probleme bereitet es, wenn der Gnadenträger in diesem Fall eine negative Gnadenentscheidung trifft. Theoretisch könnte der
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs179
Verurteilte hierdurch zwar abgeschreckt werden, in der Folge auf gesetzlichem Weg die Vergünstigung zu erstreben (obwohl deren Voraussetzungen ja vorliegen – sie wurden schließlich zu Unrecht verneint). Denn schließlich könnte eine vom Gnadenträger getroffene Sachentscheidung über das Gnadengesuch – sei sie positiv oder negativ – aufgrund des Vorrangs des Gesetzes implizieren, dass (zumindest aus Sicht des Gnadenträgers) die Voraussetzungen der gesetzlichen Alternativregelung gerade nicht vorliegen. Da der Vorrang des Gesetzes indes ohnehin nicht konsequent und generell beachtet wird – vielmehr nur „grundsätzlich“, bzw. dann nicht, wenn ausdrücklich eine alleinige Gnadenentscheidung begehrt wird –,378 ist eine solche Schlussfolgerung allerdings keinesfalls zwingend. An ein solches Implizieren wäre vielmehr nur dann zu denken, wenn die generelle Geltung des Vorrangs des gesetzlichen Verfahrens in der Praxis eines Tages allgemein anerkannt wäre. Ob der Verurteilte in diesem Fall durch die negative Gnadenentscheidung tatsächlich davon abgeschreckt werden würde, den gesetzlichen Weg zu beschreiten, wäre indes fraglich. Bereits heute problematisch erscheint hingegen die Konstellation, dass der Gnadenträger zu Unrecht die materiellen Merkmale der gesetzlichen Alternativregelung verneint, und daraufhin einen Gnadenerweis erteilt. Denn in diesem Fall nimmt er seine Entscheidungsbefugnis über das Gnadengesuch zu Unrecht an – schließlich fehlte einem Gnadenerweis mangels Gesetzeshärte die erforderliche Legitimität. Ein Gnadengrund liegt nämlich nur dann vor, wenn im Einzelfall eine Korrektur des abstrakten Gesetzes erforderlich ist.379 Dies ist hier jedoch nicht der Fall, bietet das Gesetz (in Gestalt der gesetzlichen Alternativregelung) doch selbst ein Korrektiv. Ein dennoch ergehender Gnadenakt verstieße gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung und wäre damit rechtswidrig.380 Zudem ist eine Entscheidung auf dem Gnadenweg im Vergleich zu einer gesetzlichen Entscheidung (mögen die Rechtsfolgen im Einzelfall auch gleich sein)381 etwas Wesensverschiedenes: Mangels Anspruchs auf Gnade382 kann ein Gnadenakt – trotz des Erfordernisses eines rational nachvollziehbaren Grundes – zugleich auch Ausdruck von Güte, Barmherzigkeit oder Wohlwollen sein.383 Bei gesetzlichen Vergünstigungen ist dies hingegen anders, erhält der Verurteilte hier doch nur das, worauf er ohnehin einen Anspruch hat, was also sein „gutes Recht“ ist. 378 s.
unter § 3 B. II. (S. 132). näher unter § 4 A. II. (S. 200 ff.). 380 s. zu den hiermit verbundenen Folgen unter § 3 D. II. (S. 189 ff.). 381 Was nicht zwingend ist, siehe unter § 2 A. (S. 91). 382 Dazu unter § 4 A. II. 3. (S. 215 ff.). 383 s. unter § 3 B. IV. 3. b) (S. 139 mit Fn. 196). 379 Dazu
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Jenseits dieser rechtstheoretischen Erwägungen könnte die Prüfung der materiellen Merkmale durch den Gnadenträger auch insofern problematisch sein, als der Gnadenträger – je nachdem, um welche gesetzliche Alternativregelung es sich handelt – häufig nicht die gleiche Sachnähe wie die mit der gesetzlichen Entscheidung betraute Stelle hat. Während der Gnadenträger sämtliche Fallgestaltungen zu prüfen hat, besteht bezüglich der gesetzlichen Stellen eine weitgehende Spezialisierung. Über die Frage etwa, ob „fürsorgerische Gründe“ einer vorzeitigen Haftentlassung nach § 16 Abs. 2 StVollzG entgegenstehen oder der Gefangene „den besonderen Anforderungen des offenen Vollzuges genügt“ (§ 10 Abs. 1 StVollzG), wird die Vollzugsbehörde anhand ihres persönlichen Eindrucks besser entscheiden können als der in der Regel nach Aktenlage entscheidende Gnadenträger.384 Bezüglich der Aussetzungsentscheidungen nach §§ 57, 57a StGB war es die gesetzgeberische Intention, mit den Strafvollstreckungskammern gem. § 462a Abs. 1 StPO einen Spruchkörper zu schaffen, der eine „besondere Erfahrung und Entscheidungsnähe“ hat.385 Zwar wird in Anbetracht der Arbeitsbelastung der Gerichte bezweifelt, dass in der Praxis insoweit stets eine eingehende Prüfung des Einzelfalls erfolgt.386 Jedenfalls ist im Rahmen des gesetzlichen Verfahrens – im Gegensatz zum Gnadenverfahren – eine mündliche Anhörung des Verurteilten die Regel (vgl. § 454 Abs. 1 S. 3 und 4 StPO), wodurch sich das Gericht einen persönlichen Eindruck des Verurteilten verschafft. Zudem besteht aufgrund der speziellen Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern eine Sachnähe zu den mit der Aussetzungsentscheidung verbundenen Rechtsfragen. Deutlicher wird der Aspekt der Sachnähe noch im Jugendstrafrecht, wo die Entscheidungen, die nach der StPO der Strafvollstreckungskammer obliegen, vom Vollstreckungsleiter, d. h. dem Jugendrichter (§ 82 Abs. 1 JGG), getroffen werden, während in einigen Bundesländern für Gnadensachen Jugendlicher die Staatsanwaltschaft zuständig ist.387 Bietet das Recht zwei Institute, mithilfe derer das gleiche Ziel erreicht werden kann – hier: einerseits Gnade, andererseits gesetzliche Alternativregelung –, erscheint es vorzugswürdig, nach Möglichkeit eine sachnähere Entscheidung zu treffen.388 Dies wird am ehesten dadurch gewährleistet, 384 Die Gnadenordnungen versuchen dies dadurch zu kompensieren, dass vor der Gnadenentscheidung regelmäßig der Leiter der Vollzugsbehörde oder Maßregelvollzugseinrichtung anzuhören ist (Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 176). 385 BT-Drucks. 7 / 550, S. 312. 386 Vgl. KK-StPO-Appl, § 462a Rn. 2 (intensive Einzelfallprüfung nur in Ausnahmefällen möglich); Meyer-Goßner, ZRP 2000, 345 (346 f. [schematische Entscheidungen]). 387 In Niedersachsen, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt (vgl. die Nachweise bei Eisenberg, § 82 Rn. 9) und in Hessen (§§ 3 Abs. 1, 17 Abs. 1 S. 1 GnO-HE). Krit. dazu Böhm / Feuerhelm, Einführung in das Jugendstrafrecht, S. 86.
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dass die materiellen Merkmale der jeweiligen Regelung allein vom sachnäheren „gesetzlichen Entscheidungsträger“ geprüft und nach der gesetzlichen Alternativregelung entschieden wird, sich der Gnadenträger also einer entsprechenden Prüfung von vornherein enthält. b) Argumente für die Prüfung materieller Merkmale Demgegenüber könnten für eine Prüfungspflicht des Gnadenträgers hinsichtlich der materiellen Merkmale (sodass nur bei Bejahung dieser Merkmale der Vorrang des Gesetzes greift) folgende Erwägungen sprechen: Zunächst erscheint die Konstellation, dass der Gnadenträger zu Unrecht ein materielles Merkmal einer gesetzlichen Alternativregelung verneint und gleichwohl einen Gnadenerweis erteilt, verschmerzbar: Letztlich bekommt der Verurteilte damit eben auf dem Gnadenweg eine Vergünstigung, welche ihm an sich ohnehin (auf dem gesetzlichen Weg) zustünde. Zudem könnte das Gebot praktischer Konkordanz der Annahme eines Vorrangs des gesetzlichen Wegs bei bloßer Erfüllung der formellen Merkmale einer gesetzlichen Alternativregelung entgegenstehen. Denn jedenfalls dann, wenn die materiellen Merkmale der gesetzlichen Regelung offensichtlich nicht erfüllt sind, wäre fraglich, ob der Verweis auf den gesetzlichen Weg wirklich zur Wahrung der Belange von Legislative und Judikative „notwendig“ ist. Der Bereich, welcher den originären Gnadenentscheidungen verbleibt, könnte bei Annahme eines Vorrangs des Gesetzes ohne jegliche Prüfung der materiellen Merkmale allzu stark eingeengt sein.389 Für die Prüfung der materiellen Merkmale spricht ferner, dass in Fällen, in denen die Inanspruchnahme des gesetzlichen Wegs wegen offensichtli388 Bezüglich des Verfahrens zur Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe hat das BVerfG entschieden, dass es von Verfassungs wegen geboten sei, dass die für § 57a StGB relevante Frage des Vorliegens der besonderen Schwere der Schuld nicht die Strafvollstreckungskammer, sondern – aufgrund der größeren „Sachnähe“ – das Schwurgericht zu entscheiden habe (BVerfGE 86, 288 [315 ff., 322 f.]). Zwar begründete das BVerfG dies mit dem Prozessgrundrecht auf ein faires, rechtsstaatliches Verfahren gem. Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 20 Abs. 3 GG (BVerfG, a. a. O., S. 317 f.) – eine Begründung, die hier nicht herangezogen werden kann, geht es doch darum, dass ein Gnadenerweis (trotz an sich einschlägiger gesetzlicher Alternativregelung) gewährt wird. Ein Gnadenerweis kann den Verurteilten allerdings nicht in seinen Rechten verletzen. Der Aspekt der Sachnähe hat indes auch eine objektiv-rechtliche Dimension, vgl. z. B. BVerfGE 79, 1 (20), wonach sich der Grundsatz der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde gegenüber den fachgerichtlichen Entscheidungen u. a. daraus ergebe, dass die „sachnäheren Fachgerichte“ einen „besonderen Sachverstan[d]“ aufwiesen. 389 s. zu diesem Aspekt bereits unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 145).
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
chen Nichtvorliegens eines materiellen Kriteriums aussichtslos erscheint, ein Verweis auf den gesetzlichen Weg eine bloße Förmelei darstellte, sodass die Dauer, bis eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch ergehen kann, unnötig in die Länge gezogen werden würde. Der Verurteilte hat ersichtlich stets ein Interesse an einer möglichst schnellen Entscheidung über sein Gnadengesuch, wird durch die Strafvollstreckung doch erheblich in seine Grundrechtspositionen eingegriffen.390 Verweist man den Verurteilten auf den gesetzlichen Weg und wird ihm in der Folge die Vergünstigung im gesetzlichen Verfahren versagt, käme es im Ergebnis zu einer nicht unerheblichen Verzögerung bis zur Sachentscheidung über die Gnade.391 Das Interesse des Verurteilten, eine solche Verzögerung zu vermeiden, ist dann rechtlich relevant, wenn auch im Gnadenverfahren das (das Strafverfahrensrecht prägende) Beschleunigungsgebot gilt.392 Dabei ist zu beachten, dass sich die Geltung des Beschleunigungsgebots im Gnadenverfahren nicht aus der vielfach393 zur dogmatischen Herleitung des Beschleunigungsgebots herangezogenen Vorschrift des Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK394 ergeben kann. Denn die Norm gilt im Strafrecht nur im Ermittlungs- und Hauptverfahren, nicht hingegen im (für die Gnade relevanten) Vollstreckungsverfahren.395 Das Beschleunigungsgebot ist jedoch auch unmittelbar im Rechtsstaatsprinzip des Grundgesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) verankert.396 In Verbindung mit seinen im konkreten Fall tangierten Frei390 s.
dazu unter § 4 A. II. 1. a) aa) (S. 203 mit Fn. 40). zu diesem Aspekt bereits S. 174 mit Fn. 364. 392 Letzteres ohne nähere Begründung voraussetzend Blaich, Gnadenrecht, S. 154; Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 45. Zwar finden sich in einzelnen Gnadenordnungen Bestimmungen, welche die zügige Durchführung des Gnadenverfahrens vorschreiben (vgl. die Nachweise bei Hömig, DVBl. 2007, 1328 [1334 mit Fn. 90 ff.]). Mangels formal-gesetzlicher Natur lässt sich hieraus aber keine unmittelbare Rechtswirkung ableiten, siehe unter § 2 C. I. (S. 96). Krit. zur Handhabung dieser Bestimmungen in der Praxis Warnecke, Begnadigung „Lebenslänglicher“ und § 57a StGB, S. 31 m. w. N.: „In den meisten Gnadenordnungen wird das Verfahren als Eilsache bezeichnet, die Praxis sieht aber meist anders aus. Die zuständigen Behörden brauchen in der Regel ein bis zwei, in einigen Fällen sogar über drei Jahre, bis sie zu einer Entscheidung gelangen.“ 393 Vgl. etwa Kühne, Strafprozessrecht, Rn. 269, 276 ff.; Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 16 Rn. 3. 394 Art. 6 Abs. 1 S. 1 EMRK: „Jede Person hat ein Recht darauf, dass über Streitigkeiten … über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.“ 395 OLG Düsseldorf wistra 1992, 311 (312); Meyer-Ladewig, Art. 6 Rn. 5. 396 BVerfG NStZ 1984, 128; Beulke, Strafprozessrecht, Rn. 26; Volk / Engländer, Grundkurs StPO, § 18 Rn. 11; weitere Nachweise bei Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (162 mit Fn. 16). 391 s.
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs183
heitsgrundrechten397 erlangt der Verurteilte hiernach ein subjektives Recht auf angemessene Beschleunigung in sämtlichen Stadien des Strafverfahrens.398 Dieser Anspruch auf Entscheidung binnen angemessener Frist besteht nicht nur im gerichtlichen Verfahren, sondern auch in Verfahren im Geltungsbereich der Exekutive.399 Es ist daher kein Grund ersichtlich, das – rechtlichen Schranken wie den aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Geboten unterliegende –400 Gnadenverfahren hiervon auszunehmen. Der Verurteilte hat daher ein subjektives Recht darauf, binnen angemessener Frist eine Sachentscheidung über seinen Gnadenantrag zu erlangen.401 Die inhaltliche Konkretisierung des Vorrangs des Gesetzes hat daher die Anforderungen zu achten, die sich aus dem Beschleunigungsgebot ergeben. Das Beschleunigungsgebot und der (ebenfalls in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte) Vorrang des gesetzlichen Wegs sind miteinander in Einklang zu bringen. Dabei könnte das Beschleunigungsgebot einer vorschnellen, fruchtlosen Verweisung auf den gesetzlichen Weg entgegenstehen, sodass der Gnadenträger angehalten sein könnte, auch die materiellen Merkmale der jeweiligen gesetzlichen Alternativregelung zu prüfen, bevor er den Vorrang des Gesetzes annimmt. c) Harmonisierung der widerstreitenden Argumente: Evidenzkontrolle bezüglich der materiellen Merkmale Letzterer Aspekt erlangt jedoch nur dann Bedeutung, wenn der Verweis auf den gesetzlichen Weg tatsächlich zu einem Verstoß gegen das Beschleunigungsgebot führt. Denn ob das jeweilige Gnadenverfahren die aus dem Beschleunigungsgebot folgenden Zeitvorgaben wahrt oder aber seine Dauer als unangemessen anzusehen ist, lässt sich nicht pauschal sagen, sondern hängt vielmehr von den Umständen des Einzelfalls ab:402 397 Das BVerfG stellt insoweit teils auf Art. 2 Abs. 1 GG ab (BVerfG NStZ 1984, 128), teils – bei in Haft befindlichen Verurteilten – auf Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (BVerfG NStZ 2001, 502). 398 Zur Geltung des Beschleunigungsgebots in sämtlichen Verfahrensstadien LRSchäfer, 24. Aufl. 1988, Einl. Kap. 13 Rn. 71; speziell zum Vollstreckungsverfahren SK-StPO-Paeffgen, Vor § 449 Rn. 7; HK-Pollähne, § 449 Rn. 2; zur Geltung im gerichtlichen Verfahren nach § 454 StPO BVerfG NStZ 2001, 502. 399 Etwa bei einem Antrag auf Hafturlaub nach § 13 StVollzG (BVerfG NStZ 1985, 283 [284]) und im allgemeinen Verwaltungsverfahren (BeckOK-VwVfGGerstner-Heck, § 10 Rn. 17). 400 Dazu unter § 3 A. IV. (S. 118 ff.). 401 Im Ergebnis ebenso Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 60 mit Fn. 151, S. 131 ff.; siehe auch Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1334: „jedenfalls“ bei Gnadenverfahren betreffend zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilter „nicht ernstlich zweifelhaft“).
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Bezüglich des gerichtlichen Verfahrens der Reststrafaussetzung (§ 454 StPO) hat das BVerfG entschieden, dass eine Verletzung des Beschleunigungsgebots dann anzunehmen sei, wenn das Freiheitsrecht nach den Umständen des Einzelfalls durch eine sachwidrige Verzögerung der Entscheidung unangemessen weiter beschränkt wird.403 Ob eine Verfahrensdauer „unangemessen“ in diesem Sinne ist, beurteile sich nach den Umständen des Einzelfalls, wobei als solche Umstände zu berücksichtigen seien „der Zeitraum der Verfahrensverzögerung, die Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Strafrestaussetzung zur Bewährung, die Bedeutung dieses Verfahrens mit Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe oder Maßregel, der Umfang und die Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstands sowie das Ausmaß der mit dem Andauern des schwebenden Verfahrens verbundenen Belastung des Verurteilten“404. Da es sich bei dem Verfahren nach § 454 StPO um eine Materie handelt, über die früher allein im Gnadenweg entschieden wurde,405 erscheint es angebracht, die vom BVerfG entwickelten Kriterien auch in Gnadenverfahren betreffend zu Freiheitsstrafe Verurteilter heranzuziehen.406 Doch auch darüber hinaus sind diese Kriterien im Gnadenverfahren zur Bestimmung einer „unangemessenen Verfahrensdauer“ anwendbar. Denn es handelt sich hierbei um Kriterien, die – so oder in ähnlicher Form – nach ganz überwiegender Ansicht zur Bestimmung der Angemessenheit der Verfahrensdauer im Allgemeinen herangezogen werden407 und vorliegend vom BVerfG lediglich an die Besonderheiten des Strafvollstreckungsverfahrens angepasst wurden.408 Von den vom BVerfG genannten Kriterien erlangt für die vorliegend interessierende Frage, inwieweit der Gnadenträger die materiellen Merkmale einer gesetzlichen Vergünstigung zu prüfen hat, insbesondere das Kriterium der Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstands Bedeutung: Dieses Kriterium streitet jedenfalls in einfach gelagerten Fällen, in denen ein materielles Kriterium einer gesetzlichen Alternativregelung offensichtlich nicht erfüllt ist, ein402 Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1334). Für das gerichtliche Verfahren z. B. BVerfG NJW 1997, 2811 f. 403 BVerfG NStZ 2001, 502. 404 BVerfG NStZ 2001, 502 (Hervorhebungen durch den Verfasser). 405 s. unter § 1 B. II. 1. b) (S. 39) und § 1 E. II. 5. (S. 73 ff.). 406 So im Ergebnis auch Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1334). 407 So z. B. von Beulke (Strafprozessrecht, Rn. 26) zur Konkretisierung des Beschleunigungsgebots im Erkenntnisverfahren; siehe auch Pfeiffer, Einl. Rn. 10; weitere Nachweise bei Waßmer, ZStW 118 (2006), 159 (171 mit Fn. 76). 408 So namentlich die Kriterien der „Gesamtdauer der Strafvollstreckung und des Verfahrens über die Strafrestaussetzung zur Bewährung“ sowie „die Bedeutung dieses Verfahrens im Blick auf die abgeurteilte Tat und die verhängte Strafe oder Maßregel“.
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs185
deutig gegen den Verweis auf den gesetzlichen Weg, wäre dieser doch mit einer Verzögerung der Sachentscheidung über die Gnade verbunden und könnte damit eine unangemessene Verfahrensdauer zur Folge haben. Mit der Maßgabe, dass sich die Prüfung des Gnadenträgers auf das offensichtliche Nichtvorliegen der materiellen Merkmale zu beschränken hat, ließe sich auch das Problem der fehlenden Sachnähe des Gnadenträgers entschärfen: Denn die Frage, ob materielle Merkmale offensichtlich nicht erfüllt sind, dürfte sich in aller Regel auch ohne besondere Sachnähe beantworten lassen. Die Gefahr des Erlasses eines illegitimen Gnadenerweises würde damit weitgehend gebannt. Richtigerweise hat der Gnadenträger daher hinsichtlich der materiellen Merkmale lediglich – aber immerhin – eine Evidenzprüfung vorzunehmen. Der Raum für Gnadenakte, die originär ergehen, ist damit, wenn die formellen Voraussetzungen einer gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sind, denkbar eng: Denn es sind nur wenige Fälle denkbar, in denen der Gnadenträger zu dem Ergebnis kommt, dass die materiellen Voraussetzungen einer grundsätzlich anwendbaren gesetzlichen Alternativregelung im konkreten Fall offensichtlich nicht gegeben sind, dem Verurteilten gleichwohl ein Gnadenerweis zu gewähren ist. Praktisch ist damit im Bereich originärer Gnadenentscheidungen zumeist nur dann noch Raum für Gnadenakte, wenn eine formelle Voraussetzung der in Rede stehenden gesetzlichen Alternativregelung nicht gegeben ist, oder eine Vergünstigung begehrt wird, die gesetzlich nicht vorgesehen ist.409 Dies ist indes nicht von Nachteil, wird hierdurch doch die Entscheidungsprärogative der für die gesetzliche Vergünstigung zuständigen Stelle gewahrt.
V. Zwischenergebnis Nach alledem lässt sich festhalten, dass eine gesetzliche Alternativregelung dann in Betracht kommt, wenn sämtliche formelle Merkmale der betreffenden Regelung erfüllt sind und es zugleich an den materiellen Merkmalen nicht offensichtlich fehlt. Dabei vermag die Frage, ob die jeweilige gesetzliche Alternativregelung als Rechtsfolge eine Ermessensentscheidung410 oder eine gebundene Entscheidung411 vorsieht, das gefundene Ergebnis (Vorrang ja / nein) nicht ändern: Denn sind die formellen Merkmale erfüllt und fehlt es nicht offensichtlich an den materiellen Merkmalen (sodass der Vorrang des 409 Im Ergebnis ähnlich A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 172 f. Näher zum der Gnade unter Zugrundelegung des Gesetzesvorrangs konkret verbleibenden Raum unter § 4 C. (S. 232 ff.). 410 So z. B. § 57 Abs. 2 StGB, § 456 StPO, §§ 10, 11, 13, 16, 35 StVollzG. 411 So z. B. §§ 57 Abs. 1, 57a Abs. 1 StGB.
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Gesetzes greift), dann ist kein Fall denkbar, in dem offensichtlich das Ermessen zuungunsten des Verurteilten ausfällt. In der umgekehrten Konstellation – es fehlt bereits an einer formellen Voraussetzung oder jedenfalls ein materielles Merkmal ist offensichtlich nicht erfüllt (Vorrang des Gesetzes greift nicht) – stellt sich mangels Vorliegens der gesetzlichen Voraussetzungen erst gar nicht die Frage des Ermessens. Im Ergebnis ist die Situation damit vergleichbar mit der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde: Auch hier kann sich die Frage stellen, ob von der Maßgabe, dass die Fachgerichtsbarkeit an sich vorrangig anzurufen ist (§ 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG), dann abgewichen werden kann, wenn ein solches Verfahren (insbesondere wegen Unzulässigkeit) keine Aussicht auf Erfolg hat. Das BVerfG stellt hier ebenfalls auf die Offensichtlichkeit der Erfolglosigkeit ab: Der Vorrang der Fachgerichtsbarkeit greife nicht, wenn ein solches Verfahren „offensichtlich aussichtslos“ wäre.412
VI. Sonderproblem: Fehlender Antrag bzw. fehlende Einwilligung des Verurteilten Einige gesetzliche Alternativregelungen setzen voraus, dass der Verurteilte einen entsprechenden Antrag gestellt oder in den Erlass der Vergünstigung eingewilligt hat. Ein Antragserfordernis statuiert das Gesetz ausdrücklich in § 456 Abs. 1 StPO; ferner ist auch für die Zurückstellung der Strafvollstreckung nach § 35 Abs. 1 S. 1 BtMG anerkannt, dass es eines Antrags des Verurteilten bedarf.413 Ein Antrag oder eine Einwilligung des Verurteilten ist erforderlich für die Aussetzung des Berufsverbots nach § 456c Abs. 2 StPO. Auch die Reststrafaussetzung nach §§ 57, 57a StGB setzt eine Einwilligung des Verurteilten voraus,414 ebenso wie vollzugsrechtliche Vergünstigungen (z. B. Unterbringung im offenen Vollzug, Vollzugslockerungen) regelmäßig415 nur mit Zustimmung des Verurteilten ergehen können.416 412 BVerfGE 28, 314 (319); siehe auch BVerfGE 51, 150 (155: „offensichtlich unzulässig“); 107, 299 (308 f.). Ebenso Maunz et al.-Bethge, § 90 Rn. 388. 413 MK-Kornprobst, § 35 BtMG Rn. 110 m. w. N. 414 Gem. § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 (ggf. i. V. m. § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 3 StGB). Will das Gericht dem Verurteilten Weisungen i. S. v. § 56c Abs. 3 StGB erteilen, bedarf es zudem einer gesonderten, von der Aussetzungseinwilligung zu unterscheidenden Weisungseinwilligung (Groß, Rieß-FS, S. 691 [697]). Nach Kett-Straub sei die Verweigerungsquote im Bereich des § 57a StGB höher, „als man gemeinhin annehmen würde“, und liege bei ca. 30 % (Kett-Straub, GA 2007, 332 [339 – mit Verweis auf mittlerweile ältere Studien]). 415 So jedenfalls nach §§ 10 Abs. 1, 11 Abs. 2, 13 Abs. 1 S. 2 StVollzG. In Niedersachsen, Hamburg, Baden-Württemberg und Hessen besteht hingegen kein Zu-
C. Konkretisierung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs187
Trotz der dogmatischen Unterschiede zwischen einem Antrag auf Erlass einer Vergünstigung und einer entsprechenden Einwilligung417 handelt es sich bei beiden unproblematisch um „formelle Merkmale“ gemäß der oben getroffenen Differenzierung, schließlich bedarf es zu ihrer Feststellung keiner näheren (sachlichen) Prüfung. Nimmt man nun an, dass das Fehlen eines formellen Merkmals der gesetzlichen Alternativregelung dazu führt, dass das gesetzliche Verfahren gerade nicht gegenüber der Gnade vorrangig ist, müsste der Gnadenträger also immer dann, wenn der Verurteilte erkennbar keinen Antrag stellen bzw. keine Einwilligung erteilen möchte, in der Sache über das Gnadengesuch entscheiden. Zwar kann ein solcher Antrag oder eine solche Einwilligung grundsätzlich auch konkludent erfolgen,418 sodass ein Gnadengesuch im Einzelfall z. B. auch als Antrag auf Erlass einer Vergünstigung auf gesetzlichem Weg ausgelegt werden kann.419 An Raum für eine solche Auslegung fehlt es jedoch, wenn ausdrücklich eine alleinige Entscheidung im Gnadenweg begehrt wird. Obwohl dem Verurteilten an sich kein Recht auf sofortige Sachentscheidung – d. h. ohne Inanspruchnahme einer gegebenenfalls vorrangigen gesetzlichen Entscheidung – über sein Gnadengesuch zusteht,420 hätte er es in diesen Fällen dann gleichwohl selbst in der Hand, durch Verweigerung eines erforderlichen Antrags oder einer Einwilligung eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch zu erlangen. Fraglich ist indes, ob ein Gnadenerweis in diesen Fällen, in denen allein wegen fehlender Mitwirkung des Verurteilten der Vorrang des gesetzlichen stimmungserfordernis des Gefangenen für die Unterbringung im offenen Vollzug (Schwind et al.-Lindner, § 10 Rn. 8). 416 Keine Mitwirkung des Verurteilten ist hingegen erforderlich beim Strafausstand nach § 455 StPO (BeckOK-StPO-Coen, § 455 Rn. 11), dem Erlass von Zahlungserleichterungen nach § 459a StPO i. V. m. § 42 StGB (KK-StPO-Appl, § 459a Rn. 3), der Unterbleibensanordnung nach § 459d StPO (BeckOK-StPO-Coen, § 459d Rn. 5), der vorzeitigen Aufhebung der Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis nach § 69a Abs. 7 StGB (LK-Geppert § 69a Rn. 92), den nachträglichen bewährungsrechtlichen Maßnahmen nach § 56a Abs. 2 S. 1 und § 56e StGB (MK-Groß, § 56a Rn. 20, § 56e Rn. 17), beim Absehen von der Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe nach § 459f StPO (Pfeiffer, § 459f Rn. 3) und bei der Wiederaufnahme des Verfahrens (vgl. § 365 i. V. m. § 296 Abs. 2 StPO). 417 Zur dogmatischen Einordnung der Einwilligung i. S. v. §§ 56c, 57 StGB näher Groß, Rieß-FS, S. 691 (694 ff.: keine Prozesshandlung, sondern „Willenserklärung mit materiell-rechtlichem Bezug“); demgegenüber stellt ein Antrag – etwa i. S. v. § 456 StPO – eine Prozesshandlung dar (vgl. Meyer-Goßner / Schmitt-MeyerGoßner, Einl. Rn. 95). 418 Groß, Rieß-FS, S. 691 (697 – zur Einwilligung bei §§ 57, 57a StGB); Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 47. 419 s. hierzu Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 144; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 46 ff. 420 s. unter § 3 B. V. (S. 161 ff.).
188
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Wegs nicht griffe, legitim wäre. Denn schließlich schöpft die Gnade ihre Legitimität allein daraus, Härten des Gesetzes zu korrigieren.421 Eine solche „Härte des Gesetzes“ liegt dabei nur dann vor, wenn das Gesetz selbst keine Vergünstigung vorsieht, durch welche dem mit der Begnadigung verfolgten Zweck ebenfalls entsprochen werden könnte.422 Liegt es nun allein an der fehlenden Mitwirkung des Verurteilten, dass eine gesetzliche Alternativregelung nicht in Betracht kommt, wird man schwerlich von einer „Härte des Gesetzes“ sprechen können, die es mittels Gnadenerweises zu korrigieren gilt. Bei solchen gesetzlichen Alternativregelungen, die als Rechtsfolge keinerlei Belastungen für den Verurteilten vorsehen – etwa § 456 StPO –, liegt dies auf der Hand. Nur dort, wo dem Verurteilten auch Pflichten auferlegt werden können – namentlich bei der Reststrafaussetzung nach §§ 57, 57a StGB, welche durch die Erteilung von Auflagen und Weisungen mit Nachteilen für den Verurteilten verbunden sein kann – stellt sich die Frage, ob gerade die Erteilung solcher Auflagen oder Weisungen für den Verurteilten im Einzelfall eine unbillige Härte darstellen kann.423 Dies hätte zur Folge, dass es aus diesem Grund im Einzelfall eines Abweichens von der Gesetzeslage im Wege der Gnade bedürfen könnte, die Gnade mithin legitim wäre, und zwar auch dann, wenn der Verurteilte die Einwilligung in den Erlass der Vergünstigung auf gesetzlichem Weg verweigerte. Allerdings ist zu beachten, dass die Vorschriften der §§ 56b, 56c StGB – welche die Erteilung von Auflagen und Weisungen vorsehen – gerade so gestaltet sind, dass den Umständen des Einzelfalls hinreichend Rechnung getragen werden kann. So sollen durch die Unzumutbarkeitsklauseln in § 56b Abs. 1 S. 2 und § 56c Abs. 1 S. 2 StGB gerade die Umstände des Einzelfalls Berücksichtigung finden.424 Daher können hier unbillige Härten im Einzelfall bereits bei der Gesetzesanwendung vermieden werden. Liegen also die zeitlichen Voraussetzungen des § 57 bzw. § 57a StGB vor und fehlt es nicht offensichtlich an den materiellen Voraussetzungen, dann ist kein Grund ersichtlich, warum eine Härte des Gesetzes vorliegen soll. Sollte der Verurteilte seine Einwilligung zur Reststrafaussetzung verweigern, vermag dies hieran nichts zu ändern. 421 Dazu
näher unter § 4 A. II. (S. 200 ff.). unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 141 ff.). 423 Bei der Reststrafaussetzung zeitiger Freiheitsstrafen kann dies insbesondere dann der Fall sein, wenn die Strafe ohnehin bald verbüßt wäre. Hier könnten entsprechende Maßnahmen während der Bewährungszeit länger andauern als der Strafrest (Kett-Straub, GA 2007, 332 [339]). Die Strafrestaussetzung kann dann durchaus mit einer gewissen Belastung verbunden sein: Kommt der Verurteilte den Auflagen und Weisungen nicht nach, drohen Aussetzungswiderruf und Vollstreckung des Strafrests (MK-Groß, § 57 Rn. 2). 424 LK-Hubrach, § 56b Rn. 3, § 56c Rn. 2. 422 s.
D. Resümee und Konsequenzen189
Daher ist bei der Bestimmung, ob eine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt, außer Acht zu lassen, ob der Verurteilte bereit ist, im gesetzlichen Verfahren einen entsprechenden Antrag zu stellen oder seine Einwilligung zu erteilen. Sind die übrigen formellen Merkmale erfüllt und fehlt es nicht offensichtlich an den materiellen Voraussetzungen, hat der Gnadenträger den Gesuchsteller – ohne eine Sachentscheidung zu treffen – darauf hinzuweisen, dass im konkreten Fall die Gnade nachrangig ist, d. h. nicht ergehen darf, da ein vorrangiges gesetzliches Verfahren einschlägig ist. Es steht dann zur Disposition des Verurteilten, ob er ein solches gesetzliches Verfahren anstrengt.
D. Resümee und Konsequenzen I. Vorrang des Gesetzes als geltendes Recht Die Gnadenentscheidung ist ein Rechtsakt, die Gnade Teil des Rechts und damit objektiv-rechtlichen Bindungen unterworfen. Eine dieser rechtlichen Bindungen ist der „Vorrang des gesetzlichen Verfahrens gegenüber der Gnade“. Dieser folgt in erster Linie als Ausprägung des Gewaltenteilungsgrundsatzes aus der Funktion der Gnade als Einzelfallkorrektiv zum starren Gesetz. Bei Identität zwischen Gnadenträger und zur gesetzlichen Entscheidung berufener Stelle ergibt sich dieser Vorrang auch aus dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG). Ferner streiten auch ratio legis und Entstehungsgeschichte einiger gesetzlicher Alternativregelungen für einen Vorrang gegenüber der Gnade. Beim Vorrang des gesetzlichen Wegs handelt es sich nicht lediglich um einen Grundsatz, von dem ausnahmsweise abgewichen werden könnte; vielmehr gilt dieser Vorrang ausnahmslos. Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn der Verurteilte ausdrücklich eine alleinige Entscheidung im Gnadenweg begehrt. Ein gesetzliches Verfahren ist gegenüber der Gnade dann vorrangig, wenn zum einen die formellen Voraussetzungen der entsprechenden gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sind, wobei ein fehlender Antrag bzw. eine fehlende Einwilligung des Verurteilten insoweit außer Acht zu lassen sind. Das Fehlen der zeitlichen Voraussetzungen ist dann unschädlich, wenn dies nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge der Gewährung der Vergünstigung nicht entgegensteht. Zum anderen darf es an den materiellen Voraussetzungen nicht offensichtlich fehlen (Evidenzprüfung). Hieraus ergeben sich folgende Konsequenzen:
190
§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
II. Schicksal des Gnadenakts bei Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes Greift der Vorrang des gesetzlichen Wegs – kommt also der Erlass einer gesetzlichen Vergünstigung „in Betracht“ –425 und ergeht gleichwohl ein Gnadenakt, so ist dieser wegen Verstoßes gegen den diesem Vorrang zugrunde liegenden Gewaltenteilungsgrundsatz rechtswidrig. Für die Geltung des Gnadenakts hat dies jedoch in aller Regel keine Konsequenzen: Zwar wäre nach h. M. eine Rücknahme des Gnadenakts durch den Gnadenträger möglich.426 Da dem Verurteilten durch den Gnadenakt bereits eine Rechtsposition eingeräumt wurde, stünde eine solche Rücknahme indes nicht im freien Belieben des Gnadenträgers, sondern müsste – trotz Rechtswidrigkeit des Gnadenakts – die berechtigten Interessen des Verurteilten berücksichtigen.427 Dabei wird man schwerlich ein Überwiegen des Interesses an der Rücknahme annehmen können, da in der Regel nicht die dem Verurteilten gewährte Vergünstigung als solche zu beanstanden ist, sondern der Weg, auf dem sie ergangen ist (Gnadenweg statt gesetzlichem Verfahren). Die anstelle einer Rücknahme theoretisch denkbare Anfechtung des Gnadenakts scheitert ungeachtet der Frage nach der Justiziabilität von Gnadenakten428 daran, dass niemand durch einen solchen Gnadenakt beschwert ist.429 425 Dabei reicht es, wenn auch nur irgendeine gesetzliche Vergünstigung in Betracht kommt. Das Gnadengesuch eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten kann also z. B. auch nach einer Verbüßung von lediglich drei Jahren nachrangig sein, wenn es auf Unschuld gestützt wird, da dann ggf. das Wiederaufnahmeverfahren „in Betracht kommt“; siehe zu den einzelnen Anwendungsfällen originärer Gnade speziell bei Fehlurteilen unter § 4 C. V. 1. (S. 250 ff.). 426 Zur Möglichkeit, Gnadenakte zurückzunehmen, Blaich, Gnadenrecht, S. 161 f. m. w. N.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 74; dagegen aber Klein, Gnade, S. 84. 427 s. zur Parallele beim Widerruf des Gnadenakts S. 111 mit Fn. 20. Bei einer drohenden Freiheitsentziehung durch Rücknahme des Gnadenakts wären diese Inte ressen insbesondere gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützt. Bei der Rücknahme eines Gnadenakts, durch welchen dem Verurteilten Zahlungserleichterungen gewährt wurden, wären auch Belange des Vertrauensschutzes wie etwaig getroffene Vermögensdispositionen zu berücksichtigen (vgl. den Rechtsgedanken von § 48 Abs. 1 bis 3 VwVfG). 428 Die Frage der Justiziabilität wird in aller Regel im Zusammenhang mit negativen Gnadenentscheidungen diskutiert und von der Rspr. verneint, siehe unter § 3 A. II. (S. 110); konsequenterweise müsste das gleiche Ergebnis (keine Justiziabilität) auch für Gnadenakte gelten (vgl. auch Blaich, Gnadenrecht, S. 94). 429 Vgl. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 127. Insoweit kann die strittige Frage offen bleiben, ob Gnadenentscheidungen vor den Verwaltungsgerichten oder der ordentlichen Gerichtsbarkeit anzufechten wären (Übersicht zum Streitstand bei Blaich, Gnadenrecht, S. 98 ff.). Denn in ersterem Fall fehlte es an der nach
D. Resümee und Konsequenzen191
Schließlich ist ein gegen den Vorrang des Gesetzes verstoßender Gnadenakt auch nicht nichtig: Zwar können auch Gnadenakte nichtig sein.430 Voraussetzung hierfür ist jedoch, dass der Gnadenakt an einem besonders schwerwiegenden Rechtsverstoß leidet (krasse Ausnahmefälle), welcher zudem offenkundig ist.431 Ergeht ein Gnadenakt trotz vorrangigem gesetzlichen Weg, dürfte es zum einen an der für die Nichtigkeit erforderlichen Schwere des Rechtsverstoßes fehlen. Denn in Anlehnung an die Nichtigkeit von Urteilen bzw. Verwaltungsakten ist hierfür ein krasser Widerspruch zu wesentlichen Rechtsprinzipien erforderlich, sodass die Gültigkeit des Gnadenakts von der Rechtsgemeinschaft schlechterdings nicht hingenommen werden kann.432 Ergeht ein Gnadenakt, obwohl ein gesetzliches Verfahren vorrangig ist, so liegt zwar nach dem oben Gesagten ein Verstoß gegen den im Gewaltenteilungsgrundsatz wurzelnden Vorrang des Gesetzes vor. Sachlich wird man in einer solchen Konstellation einen Gnadenakt indes nicht für „von der Rechtsgemeinschaft schlechterdings nicht hinnehmbar“ halten können. Denn damit überhaupt der Vorrang des Gesetzes greift, müssen im Entscheidungszeitpunkt bereits die vom Gesetzgeber für die Gewährung der Vergünstigung als kriminalpolitisch sinnvoll erachteten zeitlichen Schranken der gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sein, und es darf zudem nicht offensichtlich an den materiellen Voraussetzungen mangeln.433 Die Fehlerhaftigkeit betrifft damit letztlich die Art und Weise, auf welche die Vergüns§ 42 Abs. 2 VwGO erforderlichen Klagebefugnis, in letzterem Fall am allgemeinen Rechtsschutzbedürfnis. Siehe zu dem Umstand, dass Rechte Dritter durch Gnadenakte in aller Regel nicht tangiert werden – es also an einer Beschwer Dritter ebenfalls fehlt – unter § 3 A. IV. 2. a) (S. 118). 430 Vgl. Klein, Gnade, S. 82 (für Gnadenentscheidungen unzuständiger Stellen); Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 14 f., 52 f. (für Generalbegnadigungen sowie für unter Anwendung von vis compulsiva erwirkte Gnadenakte). 431 Dass in der Regel erst bei Offenkundigkeit schwerwiegender Mängel von einer Nichtigkeit staatlicher Entscheidungen auszugehen ist, dürfte ein allgemeiner Rechtsgedanke sein, der dem Umstand geschuldet ist, dass die Nichtigkeit bei bereits leichteren Fehlern die Rechtssicherheit zu stark beeinträchtigte. So für die Nichtigkeit strafgerichtlicher Urteile auch OLG München NJW 2013, 2371 (2375) m. w. N. Gleiches gilt für die Nichtigkeit von Verwaltungsakten gem. § 44 Abs. 1 VwVfG. 432 Vgl. zu strafgerichtlichen Urteilen OLG München NJW 2013, 2371 (2375): Annahme eines solchen schwerwiegenden Fehlers nur in „Ausnahmefällen…, wenn die Anerkennung einer vorläufigen Gültigkeit wegen des Ausmaßes und des Gewichts der Fehlerhaftigkeit für die Rechtsgemeinschaft geradezu unerträglich wäre, weil die Entscheidung ihrerseits dem Geist der Strafprozessordnung und wesentlichen Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung krass widerspricht.“ Im Zusammenhang mit nichtigen Verwaltungsakten BVerwG NVwZ 2000, 1039 (1040): Der Fehler müsse den Verwaltungsakt „schlechterdings unerträglich, d. h. mit tragenden Verfassungsprinzipien oder der Rechtsordnung immanenten wesentlichen Wertvorstellungen unvereinbar erscheinen lassen.“ 433 s. unter § 3 C. V. (S. 185).
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
tigung gewährt wird (Gnadenverfahren anstelle des an sich vorrangigen gesetzlichen Verfahrens).434 Von einem „krassen Widerspruch zu wesentlichen Rechtsprinzipien“, der „von der Rechtsgemeinschaft schlechterdings nicht hingenommen werden kann“, wird man daher schwerlich sprechen können. Im Übrigen fehlte es jedenfalls aktuell an der erforderlichen Offenkundigkeit des Rechtsverstoßes. Bei der Frage der Nichtigkeit von Verwaltungsakten (§ 44 VwVfG) ist insoweit erforderlich, dass die Fehlerhaftigkeit dem Verwaltungsakt „auf die Stirn geschrieben“ ist.435 Überträgt man dies auf Gnadenentscheidungen,436 kann von einer Offenkundigkeit bei einem Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes aufgrund der insoweit verbreiteten Unsicherheiten (Rechtsverbindlichkeit? Lediglich Grundsatz? Wann konkret besteht der Vorrang?) derzeit keine Rede sein.
III. Strafbarkeit des Gnadenträgers wegen Vollstreckungsvereitelung im Amt (§§ 258a Abs. 1, 258 Abs. 2 StGB)? Erlässt der Gnadenträger einen gegen den Vorrang des Gesetzes verstoßenden Gnadenakt, stellt sich die Frage, ob dies für ihn eine Strafbarkeit gem. §§ 258a Abs. 1, 258 Abs. 2 StGB nach sich zieht. Dies wird man verneinen müssen: Zunächst ist festzustellen, dass der Gnadenträger durch Erlass rechtmäßiger Gnadenakte den Tatbestand der §§ 258a Abs. 1, 258 Abs. 2 StGB ersichtlich nicht verwirklicht. Zwar bezweckt § 258 Abs. 2 StGB, die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs zu gewährleisten –437 ein Zweck, dem der Erlass eines Gnadenakts (der gerade den Verzicht auf die Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs bedeutet)438 zuwiderläuft. Dadurch, dass der Gesetzgeber in Grundgesetz und Landesverfassungen sowie mit § 452 StPO Kompetenzvorschriften zum Begnadigungsrecht geschaffen hat, setzt er jedoch gerade voraus, dass dieser Verzicht möglich ist, er garantiert
434 Bei Verwaltungsakten führen Verfahrensfehler in der Regel nicht zur Nichtigkeit (Kopp / Ramsauer, § 44 Rn. 11), ebenso wenig bei Urteilen (vgl. OLG München NJW 2013, 2371 [2376]). 435 Kopp / Ramsauer, § 44 Rn. 12; BeckOK-VwVfG-Schemmer, § 44 Rn. 17. 436 Vgl. auch BVerwGE 75, 62 (65): § 44 VwVfG als „Ausdruck allgemeiner Rechtsgrundsätze“. 437 Matt / Renzikowski-Dietmeier, § 258 Rn. 1; Schönke / Schröder-Stree / Hecker, § 258 Rn. 1 m. w. N. 438 s. unter § 2 A. (S. 90 mit Fn. 13).
D. Resümee und Konsequenzen193
gar das Begnadigungsrecht institutionell.439 Dann wird er ersichtlich nicht diesen Verzicht an anderer Stelle mit Strafe bedrohen, solange sich dieser Verzicht innerhalb der durch das Recht gezogenen Grenzen bewegt – sprich rechtmäßig ist. Ein Gnadenakt, der unter Verstoß gegen den aus dem Gewaltenteilungsgrundsatz folgenden Vorrang des Gesetzes ergeht, ist hingegen rechtswidrig. Kann durch rechtswidrige Gnadenakte der Tatbestand der §§ 258a Abs. 1, 258 Abs. 2 StGB verwirklicht werden?440 Hierfür könnte die (vermeintliche) Parallele bei den gesetzlichen Alternativregelungen sprechen: Denn durch die rechtswidrige Gewährung von Vergünstigungen auf gesetzlicher Grundlage kann der objektive Tatbestand der Vollstreckungsvereitelung im Amt erfüllt werden (z. B. durch rechtswidrig gewährten Vollstreckungsausstand, §§ 455, 456 StPO).441 Bei einem unter Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes gewährten Gnadenakt folgt die Rechtswidrigkeit des Akts indes nicht daraus, dass die Vergünstigung als solche gewährt und damit sachwidrig die Vollstreckung des staatlichen Strafanspruchs tangiert wird (so im Beispiel des rechtswidrig gewährten Vollstreckungsausstands), sondern daraus, dass ein Verstoß gegen den Gewaltenteilungsgrundsatz vorliegt. Zur Verdeutlichung folgendes Gedankenspiel: Hätte der Gesetzgeber die im konkreten Fall vorrangige gesetzliche Alternativregelung nicht geschaffen, stellte sich die Frage nach dem Vorrang des Gesetzes nicht, ein Gnadenakt wäre rechtmäßig und der Tatbestand der §§ 258a Abs. 1, 258 Abs. 2 StGB zweifellos nicht erfüllt. Nachdem der Gesetzgeber die gesetzliche Alternativregelung geschaffen hat, werden durch einen Gnadenakt hingegen nunmehr die Belange von Judikative und Legislative tangiert –442 hieraus folgt schließlich gerade die Rechtswidrigkeit des Gnadenakts. § 258 Abs. 2 StGB bezweckt jedoch nicht den Schutz des Zuständigkeitsbereichs von Legislative und Judikative – will also nicht den Gewaltenteilungsgrundsatz absichern –, sondern die Durchsetzung des staatlichen Strafanspruchs. Daher kann allein ein Verstoß gegen den Vorrang des Gesetzes keine Strafbarkeit gem. § 258 Abs. 2 StGB nach sich ziehen, liegt dieser doch außerhalb des Schutzzwecks der Norm.
439 s.
unter § 3 A. IV. 2. b) (S. 121). offenbar voraussetzend J. Meier, Zur gegenwärtigen Behandlung des „Lebenslänglich“ beim Mord, S. 112 f. Eine Strafbarkeit des Dritten, der durch Vorspiegelung falscher Tatsachen einen Gnadenakt erschleicht, bejaht RGSt 35, 128 (129 f. – zu § 257 RStGB [„persönliche Begünstigung“]); zust. Matt / RenzikowskiDietmeier, § 258 Rn. 32. 441 Vgl. Schönke / Schröder-Stree / Hecker, § 258a Rn. 12 f. m. w. N.; LK-Walter, § 258 Rn. 40 ff. 442 Näher unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 143). 440 Dies
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§ 3 Zum Verhältnis von Gnade und Gesetz
Im Übrigen – sprich selbst wenn man den Erlass eines gegen den Vorrang des Gesetzes verstoßenden Gnadenakts als prinzipiell tatbestandsmäßig ansähe – dürfte auch regelmäßig der Nachweis eines durch den Gnadenakt herbeigeführten Vereitelungserfolgs misslingen: Dazu müsste nämlich nachgewiesen werden, dass dem Verurteilten die Vergünstigung auf gesetzlichem Weg mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit versagt worden wäre – eine nur möglicherweise unterbliebene Nichtgewährung genügt nicht.443 Bedenkt man, dass – damit der Vorrang des Gesetzes überhaupt greift – im Erlasszeitpunkt des Gnadenakts die zeitlichen Merkmale der gesetzlichen Alternativregelung erfüllt sein müssen und es an den materiellen Merkmalen nicht offensichtlich fehlen darf – also durchaus eine gewisse Erfolgschance auf Erlangung der Vergünstigung besteht –, dürfte ein solcher Nachweis regelmäßig scheitern. Schließlich lässt sich ein „Vereiteln“ auch nicht mit der Erwägung bejahen, dass durch den Erlass des Gnadenakts – und damit dem unterbliebenen Verweis auf den gesetzlichen Weg – die Strafvollstreckung jedenfalls für „geraume Zeit“ verkürzt wurde,444 da die Gewährung der Vergünstigung auf gesetzlichem Weg längere Zeit in Anspruch genommen hätte. Denn andernfalls würde gerade ein langsames Arbeiten der Justiz die Strafbarkeit wegen Strafvereitelung begründen, während etwa, wenn die zur gesetzlichen Entscheidung berufene Stelle rasch nach dem Verweis durch den Gnadenträger die Vergünstigung erteilt hätte, es an einem Vereitelungserfolg fehlte. § 258 Abs. 2 StGB will jedoch nur die Durchsetzung des Strafanspruchs absichern, nicht aber das Hinauszögern dieser Durchsetzung.
IV. Keine einfach-gesetzliche Abschaffung der Gnade Jenseits der strafrechtlichen Verantwortung des Gnadenträgers wirft der Umstand, dass der Gnadenträger aufgrund des Vorrangs des Gesetzes seine Gnadenentscheidung nicht in völliger Freiheit treffen kann, sondern Gnade eben nur dann gewähren darf, wenn keine gesetzliche Alternativregelung in Betracht kommt, die Frage auf, wie sich dies mit den verfassungsrechtlichen Vorschriften zum Begnadigungsrecht (für den Bund Art. 60 Abs. 2 GG) verträgt. Denn der Anwendungsbereich der verfassungsrechtlich garantierten Gnade wird durch Schaffung gesetzlicher Alternativregelungen zunehmend einfach-gesetzlich eingeengt.445 443 Vgl. Lenckner, Schröder-GS, S. 339 (347 f.); Schönke / Schröder-Stree / Hecker, § 258 Rn. 18 (zur Verfolgungsvereitelung). 444 Nach h. M. reicht es für die Bejahung eines „Vereitelungserfolgs“, dass der staatliche Strafanspruch zumindest für „geraume Zeit“ nicht verwirklicht worden ist, siehe die Nachweise bei Küper / Zopfs, Strafrecht Besonderer Teil, Rn. 588 f.
D. Resümee und Konsequenzen195
Da sich der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade jedoch selbst aus der Verfassung (Gewaltenteilung) ergibt, erscheint eine hiermit einhergehende rechtliche Beschränkung der Gnadenbefugnis unproblematisch, zumal die verfassungsrechtliche Verankerung in Art. 60 Abs. 2 GG (bzw. den Landesverfassungen) das Begnadigungsrecht zwar institutionell garantiert, nichts hingegen über die inhaltliche Ausgestaltung sagt.446 Dies zeigt auch der Umstand, dass die Zahl der dem Bundespräsidenten zukommenden Gnadenfälle durch § 452 StPO – und damit einfach-gesetzlich – ganz maßgeblich eingeschränkt wird; gleichwohl wird § 452 StPO nicht als verfassungswidrig angesehen. Auch dass sich durch den Vorrang des Gesetzes faktisch die Anzahl der Gnadenfälle und damit auch die Relevanz des institutionell garantierten Begnadigungsrechts verringert, ist unproblematisch. Zu Recht weist Herzog darauf hin, dass der aus der Vergesetzlichung vormaliger Gnadenkompetenzen folgende zahlenmäßige Rückgang an Begnadigungsfällen verfassungsrechtlich unbedenklich ist, da der Bundespräsident „selbstverständlich kein verfassungsmäßiges Recht auf ein reiches ‚Aufkommen‘ an Gnadenfällen“ hat.447 Gleiches gilt für das Begnadigungsrecht der Länder. Aus der verfassungsrechtlichen Garantie des Begnadigungsrechts in Art. 60 Abs. 2 GG folgt allein, dass die Gnade einfach-gesetzlich nicht gänzlich abgeschafft werden kann. Dies hat der Vorrang des Gesetzes indes nicht zur Folge: Die im vorliegenden Kapitel herausgearbeiteten rechtlichen Bindungen beziehen sich schließlich allein auf die originäre Gnade. Damit ist also nicht gesagt, dass Gnadenakte nicht nach einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung ergehen dürfen. Das Begnadigungsrecht wird durch eine Beschränkung der originären Gnade also nicht ohne Weiteres zu einer „Institution ohne Inhalt“.448
445 A. Maurer (Begnadigungsrecht, S. 199) bezeichnet dies plastisch als „Abschaffung des Begnadigungsrechts ‚auf kaltem Wege‘ “. Von einer „Abschaffung“ kann jedoch keine Rede sein (dazu sogleich). 446 s. unter § 3 A. IV. 2. b) (S. 121). Unzutreffend ist daher die gelegentliche Annahme, der Bundesgesetzgeber dürfe nicht in das Begnadigungsrecht der Länder „eingreifen“, da es sich hierbei um ein „Verfassungsrecht“ handele (so Egner, NJW 1953, 1859 [1860]; Schneider, MDR 1991, 101 [104]; wohl auch LR-GraalmannScheerer, § 454 Rn. 102). Dies ist im Übrigen auch deshalb falsch, weil ein formelles Bundesgesetz in der Normenhierarchie oberhalb des Landesverfassungsrechts steht (vgl. H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 4 Rn. 9, 11). 447 Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 36. 448 Näher zur Gnade nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung unter § 4 B. (S. 223 ff.).
§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade? Wurden im vorigen Kapitel Rechtsqualität und Umfang des Vorrangs des Gesetzes festgestellt, stellt sich nunmehr die Frage, was bei Anwendung dieses Vorrangs konkret noch an Raum für Gnadenentscheidungen übrigbleibt. Dies erfordert zunächst – losgelöst vom Vorrang des Gesetzes – eine Auseinandersetzung mit der Frage, wann überhaupt ein Grund für einen Gnadenerweis vorliegt. Dabei sollen zunächst der oben getroffenen Feststellung, dass die Gnade ein Einzelfallkorrektiv zum abstrakt-generellen Gesetz darstellt,1 Konturen gegeben werden (A.). Im Anschluss wird der Frage nachgegangen, ob besondere Schranken für Gnade nach zuvor ablehnender Entscheidung auf gesetzlichem Weg bestehen (B.). Unter Anwendung der hiernach gewonnenen Erkenntnisse soll schließlich geklärt werden, welche konkreten Anwendungsfälle der Gnade im Bereich wichtiger gesetzlicher Alternativregelungen heute noch verbleiben (C.).
A. Zum prinzipiellen Anwendungsbereich der Gnade I. Gnade als Einzelfallentscheidung Wesentlich für das Verständnis der Aufgabe der Gnade ist zunächst der Umstand, dass es sich bei der Gnade um ein Instrument des Einzelfalls handelt. Die Beschränkung auf den Einzelfall ergibt sich für das Begnadigungsrecht des Bundespräsidenten ausdrücklich aus Art. 60 Abs. 2 GG: „Er übt im Einzelfalle für den Bund das Begnadigungsrecht aus.“ Hieraus folgt, dass abstrakt-generelle Vergünstigungen – Amnestien – nicht durch den Bundespräsidenten erfolgen dürfen.2 Demgegenüber fehlt es in den meisten Landesverfassungen an einer dem Art. 60 Abs. 2 GG entsprechenden ausdrücklichen Beschränkung auf den Einzelfall.3 Diese Landesverfassungen 1 s.
unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 141 ff.). BVerfGE 2, 213 (219); Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 15 f.; Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 32. 3 So in den Landesverfassungen von Baden-Württemberg, Berlin, Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Sachsen, Sachsen-Anhalt, SchleswigHolstein und Thüringen. 2 Vgl.
A. Zum prinzipiellen Anwendungsbereich der Gnade197
sehen indes überwiegend vor, dass „allgemeine Straferlasse“ bzw. „Amnestien“ eines Gesetzes bedürfen,4 was den Rückschluss rechtfertigt, dass allgemeine Strafvergünstigungen aus dem Anwendungsbereich des Begnadigungsrechts ausgenommen werden. Damit wird dem Umstand Rechnung getragen, dass für abstrakt-generelle Strafvergünstigungen mit dem Gesetzgeber dasjenige Staatsorgan zuständig sein soll, welches das Gesetz geschaffen hat, und nunmehr hiervon durch einen actus contrarius derogiert.5 Die Beschränkung der Begnadigung auf den Einzelfall ist daher geboten, um nicht die Rechte des Gesetzgebers zu unterlaufen: Die Zuständigkeit für die Behebung allgemeiner Mängel in der Gesetzgebung liegt nicht beim Gnadenträger, sondern beim Gesetzgeber.6 Eine generelle Handhabung des Begnadigungsrechts bedeutete daher eine illegitime Korrektur des Gesetzes zulasten der Legislative.7 Hieraus folgt, dass Gnade nicht allein deshalb gewährt werden darf, weil das Gesetz als solches (etwa der verwirklichte Straftatbestand oder Regelungen des Vollstreckungsrechts) – losgelöst von den Besonderheiten des Einzelfalls – als verfehlt erscheint.8 Die allgemeine Verbindlichkeit der Norm muss also auch bei einer Begnadigung weiterhin anerkannt, lediglich 4 Lediglich in der Verfassung von Berlin fehlt sowohl eine Beschränkung des Begnadigungsrechts auf den Einzelfall als auch die Zuständigkeit der Legislative für Amnestien. 5 Münch / Kunig-v. Arnauld Art. 60 Rn. 10; Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 16; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 211; Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 (137). Siehe bereits unter § 3 A. IV. 2. c) aa) (S. 123). 6 Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 58. 7 Bettermann, AöR 96 (1971), 528 (540); Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 39; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 77; Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (37 f.); Schall, Herzberg-FS, S. 899 (907 f.) m. w. N.; vgl. auch Müller-Dietz DRiZ 1987, 474 (479): „Ist … eine Materie abschließend gesetzlich geregelt, bleibt es dem Gnadenträger zwar – wie stets – unbenommen, im Einzelfall aus besonderen Gründen ‚Gnade vor Recht‘ ergehen zu lassen. Jedoch ist es ihm dann aus Gründen der verfassungsrechtlichen Kompetenzverteilung verwehrt, die rechtlichen Grenzen … zu erweitern oder gar aufzuheben. In diesem Sinne stößt der Gnadenträger grundsätzlich an verfassungsrechtliche Schranken, wenn er durch generalisierende Handhabung den ganzen, unter das Gesetz fallenden Personenkreis privilegiert und damit die vorgegebene kriminalpolitische Intention unterläuft.“ 8 Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 37; Klein, Gnade, S. 18; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 77. Beispiel: Eine Begnadigung eines wegen Beischlafs unter Geschwistern (§ 173 Abs. 2 S. 2 StGB) Verurteilten darf nicht bereits mit Verweis auf die Fragwürdigkeit des Straftatbestands erfolgen. Auch Vorschriften des IRG, welche die Vollstreckung von nach deutschem Rechtsverständnis fragwürdigen Verurteilungen vorsehen (vgl. insbesondere § 49 Abs. 3 S. 1 sowie § 54a Abs. 1 Nr. 1 und 2 IRG), dürfen nicht regelmäßig, sondern nur im Einzelfall im Gnadenweg korrigiert werden; siehe dazu Heydenreich, StraFo 2015, 8 ff. (15).
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
ihre Anwendung auf den konkreten Fall unbillig sein.9 Gnade darf demnach nur dann gewährt werden, wenn sich der Grund hierfür aus besonderen Umständen ergibt, die den konkreten Einzelfall gerade vom Normalfall abheben.10 Unzulässig ist daher der generelle Einsatz der Gnade als „Mittel der Kriminalpolitik“.11 Zwar zeigt die historische Entwicklung, dass heute selbstverständliche gesetzliche Institute – wie etwa die (Rest‑)Strafaussetzung nach §§ 56 ff. StGB – ihren Ursprung in einer Begnadigungspraxis haben, wonach Gnade gerade nicht wegen dem Einzelfall eigentümlicher besonderer Umstände, sondern zur generellen Korrektur des als zu starr erachteten Gesetzes gewährt wurde. Der Gnade kann daher insoweit durchaus zu Recht eine „Vorreiterrolle“ zugeschrieben werden.12 Dies ändert allerdings nichts am illegitimen Eingriff in den Kompetenzbereich der Legislative13 und sagt zudem nichts darüber aus, ob dem Begnadigungsrecht auch eine positive Wirkung zugeschrieben werden kann, oder der generalisierende Einsatz der Gnade die Rechtsentwicklung nicht vielmehr hemmt.14 Der generelle Einsatz der Gnade als Mittel der Kriminalpolitik ist heute in Zeiten vielfacher gesetzlicher Alternativregelungen zwar weniger bedeutsam als früher, spielt jedoch weiterhin eine Rolle: So wird durch die sog. „Weihnachtsamnestien“ das als mangelhaft erachtete Gesetz – konkret das jeweilige Landesstrafvollzugsgesetz, welches eine vorzeitige Haftentlassung (wenn überhaupt) erst kurz vor Weihnachten vorsieht –15 durch Ausübung des Begnadigungsrechts faktisch in genereller Weise16 korrigiert.17 Die Gnadenentscheidung wird hier gerade nicht aufgrund besonderer Umstände 9 Rüping,
Schaffstein-FS, S. 31 (40). dem Beispiel der Verurteilung nach § 173 Abs. 2 S. 2 StGB wäre daher etwa erforderlich, dass gerade diese konkrete Verurteilung für den Betroffenen eine besondere Härte darstellte (z. B. wegen wirtschaftlicher Probleme, Auswirkungen auf Familie / Arbeit etc.). 11 Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 37 f.; Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 77 f. Anders – unter Verkennung des Einzelfallcharakters der Gnade – Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 302; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 126 f.; ferner Müller-Dietz, DRiZ 1987, 474 (479 f.), der seine Ansicht aber inzwischen aufgegeben hat (Ders., in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 [164 f. mit Fn. 50]). 12 s. unter § 1 F. II. (S. 87). 13 Diesen will Mickisch dadurch vermeiden, dass der Gnadenträger vor einem solchen Einsatz der Gnade zwecks „kriminalpolitischer Experimente“ die Zustimmung des Justizausschusses des Bundestags einholen müsste. Dies vermag die Rechte der Legislative im Vergleich zum Prozedere bei einem förmlichen Gesetzgebungsverfahren indes nicht hinreichend wahren. 14 s. bereits unter § 1 F. II. (S. 88). 15 s. unter § 1 E. II. 4. (S. 71). 10 In
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des Einzelfalls, sondern vielmehr dem Grunde nach bereits vom jeweiligen Landesjustizministerium (durch Rundverfügung) getroffen; die nachgeordneten Instanzen prüfen lediglich in negativer Hinsicht, ob im Einzelfall Gründe ersichtlich sind, die einer Begnadigung entgegenstehen.18 Damit wird das für Begnadigungen geltende Regel-Ausnahme-Verhältnis19 aber gerade umgekehrt. Die Praxis der „Weihnachtsamnestie“ ist daher unzulässig.20 Gleiches gilt für die Praxis, erstmals alkoholauffälligen Kraftfahrern, die erfolgreich an einer Nachschulung teilnehmen, die Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis im Gnadenweg um drei Monate zu verkürzen, wenn ein Antrag nach § 69a Abs. 7 StGB keinen Erfolg hat.21 Auch hier wird durch generellen Einsatz der Gnade ihrem Charakter als Institut des Einzelfalls nicht Rechnung getragen,22 das Verhältnis von abstrakt-generellem Gesetz und dem Einzelfallkorrektiv Gnade vielmehr umgekehrt: 16 Dem generellen Charakter steht nicht entgegen, dass es sich bei der „Weihnachtsamnestie“ rechtstechnisch nicht um eine „Massenbegnadigung“ handelt (im Sinne einer „Begnadigung“ mehrerer Verurteilter durch einen Akt), sondern um massenhafte Einzelbegnadigungen (schließlich wird bei jedem Gefangenen einzeln geprüft, ob die Voraussetzungen für den einzelnen Gnadenerweis nach Maßgabe der Rundverfügung erfüllt sind, vgl. Leitmeier, LTO vom 23.12.2013, verfügbar unter www.lto.de / recht / hintergruende / h / weihnachtsamnestie-haft-begnadigung / [besucht am 2.4.2017]). Denn praktisch werden keinerlei Ermittlungen zur Gnadenwürdigkeit angestellt, sondern die vorzeitige Haftentlassung vielmehr unmittelbar angeordnet, mit der Folge, dass es sich materiell nicht um eine Begnadigung, sondern um eine Amnestie handelt (vgl. Klein, Gnade, S. 58). Müller-Dietz (in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 [163]) verwendet hierfür den Begriff der „Sammelbegnadigung“ und bezeichnet die „Weihnachtsamnestie“ als „Prototyp“ einer solchen. 17 Inwieweit diese Gnadenerweise überhaupt kriminalpolitisch motiviert sind, oder nicht vielmehr – wie vielfach kritisiert – (zumindest auch) zwecks Entlastung der Justizvollzugsanstalten über das Weihnachtsfest ergehen (so z. B. Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 146; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 48), ist eine andere Frage. 18 B.-D. Meier, Schwind-FS, S. 1059 (1065 f.). Siehe exemplarisch Punkt II. des Rundschreibens des baden-württembergischen Justizministeriums vom 14.9.2015, abrufbar unter www.jum.baden-wuerttemberg.de / pb / ,Lde / Startseite / Justizvollzug / Vollstreckungsplan (besucht am 2.4.2017). 19 Hierzu BVerfGE 46, 214 (222 f.). 20 s. zur Kritik in der Literatur bereits unter § 1 E. II. 4. (S. 72). In denjenigen Bundesländern, wo eine dem § 16 Abs. 2 StVollzG entsprechende gesetzliche Regelung besteht, wurde zudem der Umstand, welcher der „Weihnachtsamnestie“ vorgeblich zugrunde liegt (Haftende fällt in die Weihnachtszeit), bereits im Gesetz berücksichtigt. Aufgrund des Einzelfallcharakters der Gnade bedürfte es für einen Gnadenerweis daher vielmehr weiterer besonderer Gründe, die gerade nicht vom Gesetz berücksichtigt wurden. Krit. zur „Weihnachtsamnestie“ unter diesem Aspekt auch Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 135; Schall, Herzberg-FS, S. 899 (908). 21 s. dazu unter § 1 E. II. 7. a) (S. 80).
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Während i. R.d. § 69a Abs. 7 StGB in jedem Einzelfall eine eingehende Prüfung erforderlich ist, ob von der Vorschrift Gebrauch zu machen ist,23 ist jedenfalls in Baden-Württemberg davon auszugehen, dass die Sperrfrist im Gnadenweg mehr oder weniger „pauschaliert“ verkürzt bzw. aufgehoben wird.24 Problematisch ist dies umso mehr, als die Verkürzung der gesetzlichen Mindestsperrfrist von sechs auf drei Monate zum 1.1.1999 unter anderem gerade erfolgte, „um einen Anreiz für die Teilnahme an einem Aufbauseminar zu setzen“,25 der Gesetzgeber bei Schaffung der abstrakt-generellen Norm also bereits diesen Umstand im Sinn hatte; dann wird die bloße Teilnahme an einem solchen Semniar aber schwerlich dazu ausreichen können, von diesem gesetzlichen Leitbild im Gnadenweg weiter abzuweichen.
II. Gnade als Korrektiv zu „Gesetzeshärten“ Wurde oben festgestellt, dass Gnade nur zur Korrektur von Gesetzeshärten eingesetzt werden darf,26 so stellt sich die Frage, ob sich das Vorliegen einer solchen „Gesetzeshärte“ näher präzisieren lässt. 1. Zum Begriff der „unbilligen Härte“ im Kontext der Gnade und seiner Maßgeblichkeit für die Gnadenausübung Speziell auf das Strafrecht bezogen wird in den Zusammenhang von „Härten“, „Spannungen“ bzw. „Mängeln“ des Gesetzes ganz überwiegend die Entstehung von „Ungerechtigkeiten“ bzw. „Unbilligkeiten“ gerückt, welche die Gnade auszugleichen habe: Die Gnade sei ein Korrektiv zur Vermeidung unbilliger Härten,27 bzw. – positiv ausgedrückt – ein Mittel der 22 Krit. auch Bode, NZV 2004, 7 (11). Dabei soll hier nicht zum kriminologischen Nutzen Stellung genommen werden, sondern nur zur rechtstechnischen Umsetzung (Gnadenweg). 23 LK-Geppert, § 69a Rn. 88a. 24 s. LG Ellwangen BeckRS 2001, 31149963. Den pauschalierten Charakter (so auch LG Ellwangen, a. a. O.) legte jedenfalls in der Vergangenheit die Quote von 80 % im Jahr 1980 nahe sowie die auch heute gültige Vorschrift Nr. 3.1 VwV Nachschulung, wonach nach erfolgreicher Kursteilnahme „aus Gründen des Vertrauensschutzes eine Gnadenentscheidung zu treffen“ sei (siehe S. 81 mit Fn. 362). Vgl. auch Müller-Dietz, DRiZ 1987, 474 (476 f.: „generalisierende Gnadenpraxis“). 25 BT-Drucks. 13 / 6914 (Regierungsentwurf), S. 93; vgl. auch Bode, NZV 2004, 7 (11). 26 s. unter § 3 B. IV. 3. c) (S. 142 ff.). 27 Vgl. z. B. Klein, Gnade, S. 18: „Die Gnade ist … als individualisierende Gerechtigkeit anzusehen, denn sie wendet durch Lücken und Unvollkommenheiten des Gesetzes entstehende unbillige Härten ab.“; ebenso Rüping, Schaffstein-FS,
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Billigkeit, zur „Ausräumung mißliebiger Ergebnisse, die bei Anwendung der starren Norm auf den besonders gelagerten Einzelfall entstehen können“28. Da die Billigkeit mit der Herstellung von Individualgerechtigkeit gleichgesetzt wird,29 wird der Gnade die Funktion zugeschrieben, die „Individual-“ bzw. „Einzelfallgerechtigkeit“ durchzusetzen, welche das Gesetz aufgrund seiner abstrakt-generellen Formulierung nicht immer gewährleisten könne.30 Dabei fragt sich indes, was mit dem Begriff der „Individual-“ bzw. „Einzelfallgerechtigkeit“ überhaupt gemeint ist. Denn der Begriff der „Gerechtigkeit“ ist ein schillernder, der schwerlich trennscharf konturiert werden kann. Gerechtigkeit erlangt in ganz unterschiedlichen Bereichen Bedeutung und entfaltet dort einen jeweils eigenen Bedeutungsgehalt.31 Doch auch wenn die „Gerechtigkeit“ allein auf das Strafrecht bezogen wird, fehlt es an sicheren Maßstäben zu bestimmen, ob eine Strafe von vornherein als „gerecht“ bzw. „ungerecht“ einzustufen ist.32 Vor diesem Hintergrund erscheint es schwer möglich, den der Gnade verbleibenden Raum dadurch näher zu konkretisieren, dass man sich auf die Suche nach dem „richtigen“ Begriff der „Individualgerechtigkeit“ macht, welche die Gnade nach verbreiteter Vorstellung verwirklichen soll. Ungeachtet der Frage, ob sich dieser überhaupt finden ließe, stellte sich die Folgefrage, warum die Herstellung der „Individualgerechtigkeit“ für die S. 31 (39) m. w. N.; Nr. 4 GnO-RP: „Gnadenerweise … dienen insbesondere dazu, Unbilligkeiten bei nachträglich bekanntgewordenen oder eingetretenen allgemeinen oder persönlichen Umständen auszugleichen…“ 28 Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 182. 29 Engisch, in: Schuld und Sühne, S. 107 (117); Henkel, Rechtsphilosophie, S. 327 (Billigkeit als „Ausdruck“ der Individualgerechtigkeit); Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 41: „Billigkeit [bedeutet] eine Gerechtigkeit, die sich der individuellsten Eigenart des Einzelfalles nach Möglichkeit annähert.“ 30 Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 76: „[D]ie Gnade bezieht ihre Legitimität allein aus den nicht behebbaren Mängeln des generell-abstrakten Gesetzes und aus der von vorneherein nicht zu lösenden Spannung von Normgerechtigkeit und Individualgerechtigkeit.“ BVerfGE 25, 352 (364 – Dissenter): „Die Gerichte müssen die vom Gesetzgeber erlassenen, notwendigerweise abstrakt formulierten Normen im Einzelfall anwenden. Um der Berechenbarkeit und Sicherheit des Rechtes willen muß die gesetzliche Regelung allgemein gehalten sein und typisierend verfahren. Die Gerechtigkeit ist hingegen ihrem Wesen und ihrer inneren Struktur nach immer auf den konkret-individuellen Einzelfall bezogen. In der rechtsstaatlichen Ordnung dient der Gnadenakt dazu, die Auswirkungen gesetzeskonformer Richtersprüche zu modifizieren, wenn diese mit den Postulaten individueller Gerechtigkeit in einen Konflikt geraten.“ 31 Henkel, Rechtsphilosophie, S. 301 f. So kann die Rede sein von der „Gerechtigkeit Gottes“, vom „gerechten Lohn“ und „gerechten Preis“ oder von der „sozialen Gerechtigkeit“ (Beispiele nach Henkel, a. a. O., S. 302 f.). 32 Vgl. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 145.
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Gnadenausübung überhaupt maßgeblich sein soll.33 „Le Président de la République décide de laisser la justice suivre son cours.“34 – so lautete die übliche Formel, wenn der französische Staatspräsident vor Vollstreckung einer Todesstrafe eine ablehnende Gnadenentscheidung traf.35 Hiernach dient der Einsatz der Gnade gerade nicht der Verwirklichung der Gerechtigkeit, sondern gebietet ihr vielmehr Einhalt.36 a) Gnade als Mittel der Zweckmäßigkeit Erfolgversprechender könnte es demgegenüber sein, wenn sich die Bestimmung der „Härte des Gesetzes“ an der ratio legis des in Rede stehenden Gesetzes orientiert. Denn liegt der Zweck des abstrakt-generellen Gesetzes auch darin, einen bestimmten Einzelfall nach den im Gesetz angeordneten Rechtsfolgen zu behandeln, so ließe sich für diesen Einzelfall schwerlich von einer „Härte“ des Gesetzes sprechen, die es im Wege der Gnade zu korrigieren gilt. Demgegenüber kann der Einzelfall so gestrickt sein, dass dem Zweck des Gesetzes ausnahmsweise auch durch mildere Mittel Genüge getan werden kann oder der Verurteilte rechtlich geschützte Interessen geltend machen kann, die sich vom Normalfall, für welchen das Gesetz konzipiert ist, erheblich abheben und ausnahmsweise gewichtiger als die vom Gesetzgeber verfolgten Zwecke erscheinen. Erfolgte in solchen Fällen gleichwohl eine strikte Verwirklichung der vom Gesetz vorgesehenen Rechtsfolgen, so hätte dies unter Umständen einen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zur Folge (dazu sogleich). Einen solchen wird der Gesetzgeber bei 33 Vgl. auch Müller-Dietz, in: Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, Diskussionsprotokoll, S. 187. 34 Eigene Übersetzung: „Der Staatspräsident entscheidet, der Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen.“ 35 Vgl. Held, Odersky-FS, S. 413 (421). In Frankreich, wo bis ins Jahr 1979 die Todesstrafe vollstreckt wurde, hatte der Staatspräsident vor jeder Exekution eine Gnadenentscheidung zu treffen. 36 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 145. Krit. zur Auffassung, wonach die Funktion der Gnade in der Herstellung von Individualgerechtigkeit liege, auch Flor EVKOMM 4 / 89, 31 (32); Huba Der Staat 1990, 117 (122); vgl. auch Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Recht durch Gnade?, S. 131 (144: „Ein zu wenig reflektierter Affekt gegen sog. Rechtsrigorismus … sieht in der Gnade ein notwendiges, nichtrechtliches, jedoch von der Rechtsordnung anerkanntes Korrektiv als ‚Gerechtigkeitspuffer‘ oder ‚Sicherheitsventil‘ “). Allerdings dürfte sich diese Kritik Waldhoffs eher gegen die Existenz des Begnadigungsrechts als solchem richten als gegen seine Handhabung als der Individualgerechtigkeit dienendes Korrektiv de lege lata, spricht er doch dem Begnadigungsrecht seine Existenz als „geltendes Recht“ nicht ab (a. a. O., S. 149).
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Schaffung des abstrakt-generellen Gesetzes aber kaum gewollt haben, bedeutet dieser doch einen rechtswidrigen Grundrechtseingriff. In einem solchen Einzelfall könnte die vom Gesetzgeber getroffene abstrakt-generelle Regelung ausnahmsweise als „unpassend“ empfunden und eine „Härte des Gesetzes“ angenommen werden. Die Gnade erschiene dann als ein Mittel der Zweckmäßigkeit,37 indem sie nämlich die Notwendigkeit der Verwirklichung der durch das abstrakt-generelle Gesetz verfolgten Zwecke im Einzelfall hinterfragt. Eine „Härte des Gesetzes“ – und damit ein Anwendungsfall für die Gnade – könnte daher dann bestehen, wenn Strafverhängung oder ‑vollstreckung im Einzelfall gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Doch wann liegt auf dem Gebiet des Strafrechts ein solcher Verstoß vor? aa) Verhältnismäßigkeitsprinzip im Strafrecht Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebietet, dass die in Rede stehende staatliche Maßnahme einen legitimen Zweck verfolgt und zur Verwirklichung dieses Zwecks geeignet (zweckförderlich), erforderlich („Gebot des mildesten Mittels“) und angemessen ist, d. h. der Nutzen der Maßnahme zu etwaigen Beeinträchtigungen nicht außer Verhältnis steht (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinn).38 Diese Maßgaben erlangen im Strafrecht zunächst mit Blick auf die materiell-rechtlichen Strafgesetze Bedeutung. Dass der Gesetzgeber bei Schaffung der Strafgesetze als „schärfstem Schwert“ der dem Staat zustehenden Sanktionen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahren muss,39 folgt daraus, dass er hierdurch in Grundrechtspositionen seiner Bürger eingreift.40 Freilich müssen sich nicht nur die Strafgesetze, sondern auch ihre Anwendung am Grundsatz der Verhältnismäßigkeit messen lassen. Daher gilt der auch die Bezeichnung bei Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 146. Art. 20 VII Rn. 110 ff. m. w. N.; aus der Rspr. z. B. BVerfGE 65, 1 (54); 67, 157 (173). 39 Vgl. BVerfGE 45, 187 (260); 90, 145 (172). 40 So wird mit der Geldstrafe die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützte wirtschaftliche Handlungsfreiheit beeinträchtigt (Kudlich, JZ 2003, 127 [129]). Der mit der Freiheitsstrafe verbundene Freiheitsentzug kann neben dem Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG auch zu einem Eingriff in Art. 6 Abs. 1 GG führen (BVerfGE 42, 95 [101]; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [115]), ein Fahrverbot einen Eingriff in Art. 12 GG zur Folge haben (Mickisch, Gnade und Rechtsstaat, S. 85 ff.). Dazu, dass bereits die Strafandrohung – nicht erst Ermittlungen, Verurteilung und Strafvollstreckung – einen Grundrechtseingriff bewirkt: BVerfGE 90, 145 (172 – Androhung von Freiheitsstrafe als Eingriff in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG); Appel, Verfassung und Strafe, S. 173 f. 37 So
38 Maunz / Dürig-Grzeszick,
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Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auch bei der auf Grundlage des Strafgesetzes erfolgenden Verurteilung,41 was allerdings nicht immer deutlich gemacht wird.42 Letzteres mag damit zusammenhängen, dass die Strafrechtsdogmatik mit dem Schuldprinzip sowie dem ultima ratio-Prinzip bzw. dem Erfordernis der Subsidiarität strafrechtlichen Rechtsgüterschutzes ähnliche Institute entwickelt hat, welche die Grundrechtspositionen des Einzelnen wahren sollen.43 So wurde in der Vergangenheit etwa durchaus bezweifelt, ob und inwieweit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz neben dem Schuldgrundsatz überhaupt eine eigenständige Bedeutung zukommt;44 auch das BVerfG ging wiederholt davon aus, dass sich mit Blick auf Strafandrohung und ‑verhängung Verhältnismäßigkeitsprinzip und Schuldgrundsatz decken.45 Dies ist indes nicht der Fall,46 sodass die eigenständige Bedeutung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes bei der Verhängung der Strafe in jüngerer Zeit wiederholt betont wurde.47 92, 277 (326); Schroeder, Amelung-FS, S. 125. auch das Urteil von Kudlich, JZ 2003, 127 und Schroeder, Amelung-FS, S. 125. Deutlich aber Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 85; Wolff, AöR 124 (1999), 55 (69). 43 Zu diesem Aspekt Schroeder, Amelung-FS, S. 125. 44 Vgl. die Nachweise bei Wolff, AöR 124 (1999), 55 (68 mit Fn. 73). 45 Vgl. BVerfGE 92, 277 (327): „Soweit es um die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit einer Strafandrohung oder der Höhe einer Strafe geht, deckt sich … der insoweit maßgebliche Schuldgrundsatz, der verlangt, daß die einen Täter treffenden Folgen einer strafbaren Handlung zur Schwere der Rechtsgutsverletzung in einem angemessenen Verhältnis stehen, in seinen die Strafe begrenzenden Auswirkungen mit dem Verfassungsgrundsatz des Übermaßverbotes.“ Weitere Nachweise bei Frisch NStZ 2013, 249 mit Fn. 2. 46 Besteht die Gemeinsamkeit beider Prinzipien darin, dass sie sich mit Fragen des Maßes befassen (Frisch, NStZ 2013, 249 [252]), so unterscheiden sie sich mit Blick auf die Gegenstände dieses Maßes: Während es beim Verhältnismäßigkeitsprinzip um das Verhältnis zwischen den mit einem staatlichen Eingriff verfolgten Zwecken einerseits und den hiermit beim Adressaten (hier: Straftäter) verbundenen Nachteilen andererseits geht, betrifft der Schuldgrundsatz das Verhältnis zwischen Schuld und Strafhöhe. Dies hat zur Folge, dass der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im Gegensatz zum Schuldprinzip nicht gebietet, dass der Betroffene schuldhaft handelte. Deutlich wird dies z. B. anhand der Maßregeln der Besserung und Sicherung, welche gerade kein schuldhaftes Verhalten voraussetzen, deren Verhängung jedoch verhältnismäßig sein muss (vgl. – deklaratorisch – § 62 StGB). Ferner begrenzt das Schuldprinzip die Strafhöhe auf das Maß der verwirkten Schuld; nur insoweit können präventive Strafzwecke beachtet werden. Demgegenüber können bei Prüfung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes die präventiven Strafzwecke überwiegen, mit der Folge, dass im Einzelfall eine Verurteilung auch dann verhältnismäßig sein kann, wenn sie die Schuld des Straftäters übersteigt (Wolff, AöR 124 [1999], 55 [69]). Schuldmaß und präventive Zielsetzung können also in unterschiedliche Richtungen weisen (sog. „Antinomie der Strafzwecke“, vgl. B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 166; siehe auch BGH BeckRS 1991, 31092085). 41 BVerfGE 42 So
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Schließlich – und für die Gnade besonders relevant – muss sich die Strafvollstreckung am Verhältnismäßigkeitsgrundsatz messen lassen,48 wird durch diese doch in Grundrechtspositionen des Einzelnen eingegriffen.49 bb) Gnade als Korrektiv zwecks Wahrung der Verhältnismäßigkeit von Strafurteil und Strafvollstreckung Um den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren, müssen sowohl der Gesetzgeber bei Schaffung der Strafgesetze als auch die Strafgerichte bei der Verurteilung sowie im Anschluss die mit der Strafvollstreckung betrauten Behörden einen „legitimen Zweck“ verfolgen. Während der legitime Zweck der Strafgesetze darin liegt, den Schutz eines bestimmten Rechtsguts zu verbessern,50 dient die vom Gericht ausgesprochene Strafe auch dazu, auf begangenes Unrecht zu reagieren. Nach der herrschenden und vom BVerfG anerkannten51 Vereinigungstheorie liegt der Zweck der Strafe hiernach in einer dem Schuldausgleich dienenden Zufügung eines Übels, welches zugleich im Sinne eines präventiven Rechtsgüterschutzes sowohl der General- als auch der Spezialprävention dienen soll.52 Das hiernach gegebenenfalls bestehende Spannungsverhältnis zwischen diesen einzelnen Strafzwecken ist im Rahmen der Strafzumessung nach der ganz herrschenden Spielraumtheorie danach zu lösen, dass das Gericht einen Schuldrahmen bildet („schon schuldangemessene“ bis „noch schuldangemessene“ Strafe), innerhalb dessen es die Präventionsgesichtspunkte berücksichtigt und das endgültige Strafmaß bestimmt.53 Hiernach wird das Strafgesetz selbst in aller Regel nicht gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen. Denn der Gesetzgeber schafft grundsätzlich flexible Strafrahmen,54 die eine mit Blick auf den von ihm 47 Vgl. z. B. Frisch, NStZ 2013, 249 ff.; Kaspar, Verhältnismäßigkeit und Grundrechtsschutz im Präventionsstrafrecht, S. 619 ff.; Kudlich, JZ 2003, 127 ff.; Schroeder, Amelung-FS, S. 125 ff. 48 Vorausgesetzt von Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 83 ff.; siehe auch SK-StPO-Paeffgen, Vor § 449 Rn. 3; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (114). 49 Das BVerfG hat der traditionellen Auffassung, wonach die Ausgestaltung des Strafvollzugs als besonderem Gewaltverhältnis es ermöglichte, „die Grundrechte des Strafgefangenen in einer unerträglichen Unbestimmtheit zu relativieren“, eine Absage erteilt (BVerfGE 33, 1 [10]). 50 Appel, Verfassung und Strafe, S. 175, 190; BVerfGE 90, 145 (174 – zum BtMG). 51 BVerfGE 45, 187 (253 f.). 52 Näher B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 35 ff. 53 B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 167.
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hiermit intendierten Rechtsgüterschutz verhältnismäßige Gesetzesanwendung ermöglichen. Für den Bereich der geringfügigen Kriminalität besteht zudem insbesondere die Möglichkeit einer Verfahrenseinstellung nach §§ 153 ff. StPO55 sowie der Strafaussetzung nach §§ 56 ff. StGB. Zudem wird dem Gesetzgeber eine Einschätzungsprärogative hinsichtlich der Beurteilung der Geeignetheit und Erforderlichkeit des gewählten Mittels zur Erreichung der erstrebten Zwecke zugestanden.56 Nennenswerte Beanstandungen hinsichtlich der Verhältnismäßigkeit von Strafnormen durch das BVerfG gab es daher in der Vergangenheit nicht.57 Soweit sich die Effektivitätsprognose des Gesetzgebers auch in der Strafbemessung durch das Strafgericht niederschlägt, wird man konsequenterweise den Beurteilungsspielraum hinsichtlich Geeignetheit und Erforderlichkeit auch auf dieser Ebene zugestehen müssen,58 mit der Folge, dass in der Regel auch Geeignetheit bzw. Erforderlichkeit der Strafbemessung zu bejahen sein werden.59 Auf der Ebene der Angemessenheit ist dem Strafgericht durch die Ausgestaltung des Sanktionenrechts ein Entscheidungsspielraum eröffnet, der es ihm ermöglicht, eine Sanktion zu verhängen, welche verhältnismäßig im engeren Sinn ist.60 Ein Verstoß gegen den 54 Bei dem eine absolute Strafandrohung vorsehenden § 211 StGB steht dem Richter zumindest unter Zugrundelegung der Rechtsfolgenlösung des BGH (BGHSt 30, 105 [120 ff. – Großer Senat]) die Möglichkeit der Strafmilderung nach § 49 Abs. 1 StGB zur Verfügung, um im Einzelfall – jedenfalls beim Heimtückemord (zum Geltungsbereich der Rechtsfolgenlösung MK-Schneider, § 211 Rn. 39 mit Fn. 105) – auf eine den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz wahrende Strafe erkennen zu können. Vgl. zu der in diesem Zusammenhang ebenfalls vertretenen Lehre der negativen Typenkorrektur Krey / Hellmann / Heinrich, BT 1, Rn. 53: „Das Anliegen der Vertreter der negativen Typenkorrektur bei § 211 Abs. 2 StGB ist es, im Interesse der Billigkeit (verstanden als individualisierende Gerechtigkeit) zu verhindern, dass die absolute Strafdrohung für Mord auch in solchen Fällen Geltung beansprucht, in denen sie wegen mildernder Umstände als unverhältnismäßig hart erscheint.“ 55 Zum diesbezüglichen Zusammenhang mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz Gropp, Strafrecht AT, § 1 Rn. 168: Ist die Verhängung einer Strafe im Einzelfall nicht sinnvoll, „ist es insbesondere die Aufgabe des Prozessrechts, eine nicht erforderliche Bestrafung z. B. durch Einstellung des Verfahrens gem. §§ 153 ff. StPO zu vermeiden.“ Siehe auch Roxin / Schünemann, Strafverfahrensrecht, § 14 Rn. 2. 56 B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 36 f.; aus der Rspr. z. B. BVerfGE 90, 145 (173). 57 Vgl. Kudlich, JZ 2003, 127; siehe auch Appel, Verfassung und Strafe, S. 174 f. 58 Kudlich, JZ 2003, 127 (131). 59 Dies ist auch schon durch rein praktische Gründe bedingt, fehlt es doch weitgehend an belastbarem empirischem Wissen dazu, welches konkrete Strafmaß im Einzelfall etwa im Hinblick auf spezial- oder generalpräventive Zwecke erforderlich ist (Frisch NStZ 2013, 249 [251]). Anders aber Schroeder, Amelung-FS, S. 125 (126 f.). 60 So kann z. B. ein drohender Arbeitsplatzverlust als „besonderer Umstand“ i. S. v. § 56 Abs. 2 StGB eine Strafaussetzung zur Bewährung rechtfertigen (BGH
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Grundsatz der Verhältnismäßigkeit durch das Strafurteil wird man daher in der Regel nur dann annehmen können, wenn der Richter die zur Verfügung stehenden Strafgesetze falsch anwendet, sei es, dass er z. B. die Strafbarkeit zu Unrecht bejaht61 oder die Strafzumessung offensichtlich fehlerhaft ist.62 Relevanter sind demgegenüber solche Konstellationen, in denen im Nachhinein Umstände eintreten, aufgrund derer die Art und Weise der Strafvollstreckung unverhältnismäßig erscheint. Dies wird man freilich nur in engen Ausnahmefällen annehmen können. Denkbar wäre dies z. B. dann, wenn die mit der Strafvollstreckung verfolgten Zwecke63 ebenso gut bei einem späteren Vollstreckungsbeginn verwirklicht werden könnten (keine „ErforderlichStV 1992, 13 [14]; MK-Groß, § 56 Rn. 46). Die Angemessenheit des mit einer Geldstrafenverhängung verbundenen Eingriffs in die von Art. 2 Abs. 1 GG geschützte wirtschaftliche Handlungsfreiheit (dazu S. 203 mit Fn. 40) wird in der Regel dadurch gewahrt, dass sich die Höhe der Geldstrafe an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit des Straftäters orientiert (§ 40 Abs. 1 und 2 StGB), das „Nettoeinkommen“ dabei gem. § 40 Abs. 2 S. 2 StGB lediglich „in der Regel“ die Grundlage für die Bemessung der Tagessatzhöhe bildet (letztere also im Einzelfall herabgesetzt werden kann) und das Gericht ggf. Zahlungserleichterungen gewährt (§ 42 StGB); vgl. in diesem Zusammenhang aber auch B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 70, wonach das „Nettoeinkommensprinzip den das gesamte öffentliche Recht durchziehenden Grundsatz der Verhältnismäßigkeit (Zumutbarkeit) unberücksichtigt“ lasse, da es von demjenigen, der über keine Rücklagen verfügt, gedanklich eine subjektiv unmögliche Leistung erwarte. 61 Die Unverhältnismäßigkeit der Strafe liegt hier auf der Hand, fehlt es dann doch bereits an begangenem Unrecht, auf welches es zu reagieren gilt, und können dann auch Gründe präventiven Rechtsgüterschutzes nicht überwiegen. 62 Vgl. Frisch NStZ 2013, 249 (256). 63 Dabei ist zunächst zu beachten, dass die „Erforderlichkeit“ nur dann entfällt, wenn das mildere Mittel hinsichtlich sämtlicher mit der Maßnahme (hier Strafvollstreckung) verfolgter Zwecke gleich geeignet ist (BVerfGE 30, 292 [319]). Da es bei der Strafvollstreckung um die Durchsetzung des Strafausspruchs geht, werden mit ihr allgemein auch die mit der Strafe intendierten Zwecke verfolgt, d. h. Schuldausgleich, General- und Spezialprävention (SK-StPO-Paeffgen, Vor § 449 Rn. 7). Dabei hat der Gesetzgeber den Aspekt der Spezialprävention an einigen Stellen besonders betont (vgl. KK-StPO-Appl, Vor § 449 Rn. 1 mit Blick auf §§ 453–454b StPO). So liegt der Zweck des Strafvollzugs allein in der (Re‑)Sozialisierung des Verurteilten und dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten, was aus der gesetzgeberischen Wertung in § 2 StVollzG sowie den entsprechenden landesgesetzlichen Vorschriften folgt (Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 137). Dies ist zwar für die Auslegung strafvollzugsrechtlicher Vorschriften relevant, bedeutet indes nicht, dass als legitime Zwecke der Strafvollstreckung der den Strafvollzug betreffenden Freiheitsstrafen etwa der Aspekt des Schuldausgleichs oder der Generalprävention ausschiede; Ersteres illustriert § 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB, Letzteres folgt aus der Erwägung, dass ein Straftatbestand seinen Zweck (Rechtsgüterschutz) nur erfüllen kann, wenn er auch durchgesetzt wird (BVerfGE 92, 277 [326]); Gleiches muss dann aber auch für die Strafe gelten, sprich die mit ihr verfolgten Zwecke erfordern grundsätzlich auch ihre Vollstreckung (vgl. auch SK-StPO-Paeffgen, Vor § 449 Rn. 7).
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keit“ der baldigen Strafvollstreckung), oder aber die rechtlich geschützten Interessen des Verurteilten gegenüber einer baldigen Strafvollstreckung ausnahmsweise überwiegen (keine „Angemessenheit“ der baldigen Strafvollstreckung). Beispiel: Der zu einer zweijährigen Freiheitsstrafe Verurteilte wird für den 1.9. zum Haftantritt geladen. Am 26.8. erkrankt seine Ehefrau, sodass diese sich einer kurzfristigen Operation unterziehen muss und für insgesamt zwei Monate außerstande ist, sich um die gemeinsamen drei Kinder zu kümmern. Es bestehen erhebliche Schwierigkeiten bei der Betreuung der Kinder. Zum Teil bestehen im Strafvollstreckungsrecht solche Regelungen, die zwecks Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit nachträgliche Vergünstigungen bieten. So bestünde in dem genannten Beispiel die Möglichkeit eines Strafaufschubs nach § 456 StPO.64 Es fehlt hier also an einer „Härte des Gesetzes“, ermöglicht dieses doch mit der Vorschrift des § 456 StPO bereits ein angemessenes Abstellen auf den Einzelfall, indem hiernach berücksichtigt werden kann, dass im Hinblick auf die Strafzwecke die sofortige Vollstreckung nicht erforderlich oder jedenfalls nicht angemessen ist. Wandelt man das obige Beispiel hingegen dahingehend ab, dass der Verurteilte seine Haftstrafe am 1.9. antritt und seine Ehefrau erst kurz darauf erkrankt, wäre ein Strafausstand auf gesetzlichem Weg nicht möglich, da § 456 StPO nur einen Strafaufschub ermöglicht.65 Es fragt sich dann, ob die weitere Strafvollstreckung nicht einen Verstoß gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit darstellte. Hier wird man – abhängig von den Umständen des Einzelfalls – unter Umständen mit Blick auf Art. 6 GG die Angemessenheit (Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne) verneinen und damit die Unverhältnismäßigkeit annehmen können.66 64 Die mit vorübergehender Erkrankung von Familienangehörigen verbundenen Schwierigkeiten bei der Betreuung der Kinder sind „erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile“ i. S. v. § 456 Abs. 1 StPO (vgl. OLG Zweibrücken NJW 1974, 70; HK-Pollähne, § 456 Rn. 3). 65 H. M., vgl. BGHSt 19, 148 (150 f.); HK-Pollähne, § 456 Rn. 1. Die Ansicht Volckarts, der die Vorschrift analog auf Strafunterbrechungen anwenden will (NStZ 1982, 496 [497 f.]), hat sich nicht durchsetzen können. Zu denken wäre daher allein an einen (Sonder‑)Urlaub aus der Haft nach dem StVollzG bzw. den Strafvollzugsgesetzen der Länder. Allerdings wird es an den Voraussetzungen für einen Regelurlaub ob des gerade erst begonnenen Strafantritts i. d. R. mangeln (vgl. § 13 Abs. 2 StVollzG), bzw. – insbesondere beim Sonderurlaub – die Dauer zu kurz sein (vgl. § 35 Abs. 1 S. 1, 1. HS StVollzG). 66 Vgl. auch Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 85 ff., der allerdings in dem hier einschlägigen Fall, in welchem infolge der Strafvollstreckung außerhalb der Strafzwecke liegende Nachteile eintreten, den Verstoß gegen den Verhältnismäßig-
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Ist die strikte Anwendung des abstrakt-generellen Gesetzes im konkretindividuellen Fall im Hinblick auf die Verwirklichung der mit dem Gesetz verfolgten Zwecke schon nicht erforderlich,67 oder steht sie jedenfalls außer Verhältnis zu den berechtigten Interessen des Verurteilten, könnte die Gnade als Einzelfallkorrektiv für Abhilfe sorgen und mittels gnadenweiser Vergünstigung68 die Verhältnismäßigkeit der Strafvollstreckung gewahrt werden.69 Eine „Härte des Gesetzes“ – und damit Raum für einen Gnadenakt – liegt daher dann vor, wenn die Verwirklichung der mit dem abstrakt-generellen Strafgesetz verfolgten Zwecke auf gesetzlichem Weg im konkret-individuellen Fall ausnahmsweise nicht erforderlich oder – relevanter – nicht angemessen ist. Die dies korrigierende Gnade dient somit der freiheitssichernden Funktion des Übermaßverbots.70 Die fehlende Erforderlichkeit oder Angemessenheit von Strafverhängung oder ‑vollstreckung wird sich dabei in aller Regel aus dem Eintritt nachträglicher Umstände ergeben.71 Ein anfänglicher Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz (und damit ein Anwendungsfall für einen Gnadenerweis) ist zwar nicht ausgeschlossen,72 praktisch jedoch nur bei einer fehlerkeitsgrundsatz fälschlicherweise schon wegen fehlender Geeignetheit oder „jedenfalls“ Erforderlichkeit der Freiheitsentziehung bejaht (a. a. O., S. 85). Jedoch ändern etwaige sonstige Nachteile in aller Regel nichts an der Eignung und Erforderlichkeit der Strafvollstreckung, sodass es vielmehr auf die Angemessenheit ankommt. Im Einzelfall durch die Strafvollstreckung ebenfalls einen Verstoß gegen Art. 6 Abs. 1 GG annehmend Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (115). 67 Weil durch die gnadenweise Vergünstigung die Strafzwecke ebenso gut oder – aus spezialpräventiven Gründen – ggf. gar besser verwirklicht werden (dazu Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 146). 68 Im Beispielsfall also eine gnadenweise Strafunterbrechung für den Zeitraum von zwei Monaten. 69 Vgl. auch Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 103: Gnade als „Realisierung des Übermaßverbotes im Normvollzug zur Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit“; Wussow, DÖD 1989, 105 (106): „[Durch die Gnade] wird dem Umstand Rechnung getragen, daß generalisierend konzipierte Bestimmungen zwangsläufig auch solche Sachverhalte erfassen, deren Erfassung zur Erreichung des konkreten Normzwecks nicht erforderlich ist, die also aus dem Anwendungsbereich der betreffenden Bestimmungen herausgenommen werden können, ohne der Verwirklichung des Normzwecks insgesamt Abbruch zu tun.“ 70 Erichsen, Staatsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit I, S. 104. 71 Unklar die Formulierung in BVerfGE 25, 352 (360 – tragende Meinung: Das Begnadigungsrecht erfülle „nur noch die Funktion, Härten des Gesetzes, etwaige Irrtümer bei der Urteilsfindung sowie Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen auszugleichen“), welche darauf hindeuten könnte, dass „Härten des Gesetzes“ von „Irrtümern bei der Urteilsfindung“ (Fehlurteilen) und nachträglichen „Unbilligkeiten“ zu unterscheiden seien.
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haften Verurteilung denkbar.73 Bei den nachträglichen Umständen wird es sich in aller Regel um solche handeln, welche die Person des Verurteilten oder sein Umfeld betreffen.74 Denkbar ist indes auch, dass es nach Rechtskraft des Urteils zu Rechtsprechungs- oder Gesetzesänderungen kommt und die weitere Strafvollstreckung aus diesem Grund unverhältnismäßig ist.75 Ein Anwendungsbereich für die Gnade kann also darin bestehen, im Einzelfall solche Rechtsfolgen einer rechtskräftigen Verurteilung zu korrigieren, die im Hinblick auf die vom Gesetzgeber als sinnvoll erachteten Strafzwecke als nicht erforderlich oder unangemessen erscheinen. Bei der Gnadenentscheidung ist daher immer mit Blick auf die Strafzwecke zu fragen, ob die gesetzmäßige Strafvollstreckung erforderlich ist, und ob ihr Gewicht auch gegenüber den geltend gemachten rechtlich geschützten Interessen des Verurteilten überwiegt.76 Ist dies ausnahmsweise nicht der Fall, liegt ein Grund für einen Gnadenakt vor. b) Zur „Unbilligkeit“ und „Individualgerechtigkeit“ im Kontext der Gnade Was hat dies nun mit der „Individualgerechtigkeit“ zu tun? In der Literatur wurde auf die Maßgeblichkeit der „Zweckmäßigkeit“ – verstanden als Verwirklichung der mit Strafgesetz und Strafverhängung intendierten Zwecke – für den Begriff der „Gerechtigkeit“ mehrfach hingewiesen: So ist etwa nach Engisch diejenige Strafe „gerecht“, welche „den Tätern und ihren Taten proportional angemessen ist“77, wobei sich dies nach „materialen kriminalpoliti72 Dies verkennt Frisch (in: Schumann [Hrsg.], Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, Diskussionsprotokoll, S. 186 f.), wenn er den Anwendungsbereich der Gnade auf „Korrekturen im Blick auf Nichtvorhersehbares“ beschränken will. 73 Zum Raum, welcher der Gnade in diesen Fällen neben der Wiederaufnahme des Verfahrens verbleibt, näher unter § 4 C. V. (S. 250 ff.). 74 Beispiele nach Klein, Gnade, S. 20: Krankheiten, familiäre Schwierigkeiten, Existenzverlust. 75 s. unter § 4 C. V. 1. a) bb) (S. 253). 76 Fragmentarisch sehen auch einzelne Gnadenordnungen die Beachtung der Strafzwecke vor, siehe unter § 2 C. III. 2. (S. 210). Zur Notwendigkeit der Beachtung der Strafzwecke bei der Gnadenausübung auch Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 394 ff. Irrig nimmt Klein (Gnade, S. 9) hingegen an, Gnade dürfe nur ergehen, wenn der „Strafzweck … durch einen Gnadenerweis besser erreicht werden kann, als durch das Urteil des Gerichtes“. Denn schließlich gibt es mehrere Strafzwecke; es ist nicht ersichtlich, wie infolge eines Gnadenerweises der Strafzweck der Generalprävention „besser“ erreicht werden soll, als durch die gesetzesmäßige Strafvollstreckung. Eine „bessere“ Verwirklichung des Schuldausgleichs wäre nur dann möglich, wenn es sich um eine „nicht mehr schuldangemessene Strafe“ handelte, welche es im Gnadenweg abzumildern gilt.
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schen Wertungen“ richte.78 Welche Strafarten und ‑grade vom Gesetz vorzusehen und im Einzelfall zu verhängen sind, sei daher weitgehend eine Frage der „Zweckmäßigkeit“.79 Maßgeblich für die Bestimmung der „Gerechtigkeit“ anhand der „Zweckmäßigkeit“ ist v. Liszt: „Die richtige, d. h. die gerechte Strafe ist die notwendige Strafe. Gerechtigkeit im Strafrecht ist die Einhaltung des durch den Zweckgedanken erforderten Strafmaßes.“80 „Gerechtigkeit“ der Strafe und „Zweckmäßigkeit“ – verstanden als Verwirklichung des Strafzwecks – gehen dann miteinander einher.81 Demgegenüber unterscheidet Kett-Straub im Kontext der Gnade zwischen „Gerechtigkeit“ und „Zweckmäßigkeit“: „Gnadenentscheidungen sind eben nicht in die übliche Waagschale der Gerechtigkeit zu werfen, da sie maßgeblich ‚durch Milde und Zweckmäßigkeit‘ und nicht durch Gerechtigkeitserwägungen bestimmt sind.“82 Die Frage, inwieweit nun – wie eingangs aufgeworfen – die Gnade als ein Mittel der „Individualgerechtigkeit“ angesehen werden kann, bzw. die unverhältnismäßigen Härten als „unbillig“ bezeichnet werden können, erscheint damit letztlich als terminologische. Soweit im weiteren Verlauf der Arbeit von „unbilligen (Gesetzes‑)Härten“ gesprochen wird, sind hiermit solche Konstellationen gemeint, in denen die Strafverhängung oder ‑vollstreckung unverhältnismäßig erscheint, und keine gesetzliche Vorschrift Abhilfe bietet.
77 Engisch,
Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 175. Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 179. 79 Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 179. 80 v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge I, S. 161. 81 Ob der französische Staatspräsident also durch eine ablehnende Gnadenentscheidung tatsächlich der Gerechtigkeit ihren Lauf ließ, bestimmte sich demnach danach, ob die zugrunde liegende Verurteilung überhaupt die Strafzwecke hinreichend verwirklichte und damit „gerecht“ war. Z. T. wird die im Einzelfall gerechte Strafe auch mit der „schuldangemessenen Strafe“ gleichgesetzt (vgl. z. B. Frisch, NStZ 2013, 249 [251 f.]; Lackner / Kühl-Heger, § 57a Rn. 10). Die „schuldangemessene Strafe“ ist freilich eine sich allein an der „Zweckmäßigkeit“ orientierende Strafe, werden mit ihr doch nach der Spielraumtheorie die verschiedenen Strafzwecke zu verwirklichen gesucht. Der Unterschied zum Begriff der „gerechten Strafe“ nach v. Liszt besteht dann allein darin, dass mit dem Begriff der „schuldangemessenen Strafe“, wie sie nach der Spielraumtheorie gebildet wird, eine Festlegung auf die Vereinigungstheorie erfolgt, während v. Liszt bekanntlich Verfechter eines primär die Spezialprävention bezweckenden Strafrechts war (vgl. dazu B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 25). 82 Kett-Straub, GA 2007, 332 (347). 78 Engisch,
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2. Gnade als Korrektiv zu sonstigen Gesetzeshärten? Fraglich ist, ob sich die Funktion der Gnade auf die Korrektur unbilliger Härten beschränkt, oder ob ihr daneben auch noch andere Funktionen zukommen können. Vielfach wird ein Anwendungsraum für Gnade auch dann gesehen, wenn „übergeordnete Gesamtinteressen“83 einen Gnadenakt erforderten oder Rücksicht auf die „Staatsraison“84 genommen werden soll. Denkbar sind dabei sowohl Gnadenakte aus außenpolitischen Gründen – wie z. B. der „Austausch von Gefangenen“85 – als auch innenpolitisch motivierte Gnadenentscheidungen – insbesondere „zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens“86. Daher kann in diesem Zusammenhang auch von „politischen Gnadenentscheidungen“ gesprochen werden,87 die mit der Herstellung von Individualgerechtigkeit nichts gemein haben.88 In der Rechtsprechung des BVerfG lassen sich zu der Frage, ob Begnadigungen unabhängig von der „Individualgerechtigkeit“ – allein aus politischen Gründen – erfolgen dürfen, keine klaren Antworten finden.89 Nach Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 95 ff. die Nachweise bei Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (37). Dem entspricht insbesondere das ursprüngliche Gnadenverständnis (vgl. Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 70: Gnade als „originäres Instrument der Staatsräson“). 85 Hier erfolgt die Begnadigung, um eine Gegenleistung zu erreichen oder zu erbringen (Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 95 f.), und damit gerade nicht zur Herstellung der Verhältnismäßigkeit von Verurteilung bzw. Vollstreckung. Historische Beispiele bei Hüser, Begnadigung und Amnestie, S. 40 f. 86 Gerade dieser Aspekt wurde auch im Zusammenhang mit der möglichen Begnadigung Christian Klars diskutiert, vgl. etwa Kett-Straub, GA 2007, 332 (345): „Gnade für einen ehemaligen Terroristen könnte … als ein Signal der Versöhnung verstanden werden. Immerhin erbittet der einstige Staatsfeind von dem obersten Repräsentanten des früher verhassten ‚Systems‘ einen Akt der Gnade. Ein Staat, der sich großmütig zeigt, könnte seine Glaubwürdigkeit stärken.“ Die durch die mögliche Begnadigung Klars ausgelöste Debatte zeigte indes, dass eine Begnadigung zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens nur schwer denkbar ist: Was für den einen Teil der Bevölkerung eine versöhnliche Geste sein mag, mag für andere kaum zu ertragen sein. Gegen die Annahme einer „Wiederherstellung des Rechtsfriedens“ durch Gnade im Fall Klar daher letztlich auch Kett-Straub (a. a. O.) sowie Schall, Herzberg-FS, S. 899 (910). Zu Zeiten der Todesstrafe waren Begnadigungen „zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens“ von Bedeutung, um keine Märtyrer zu schaffen (Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 69). 87 Vgl. Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 127 ff. So auch im Folgenden. 88 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 146. 89 Deutlich aber OLG Oldenburg MDR 1965, 221: „[Gnadenerweise] können der Billigkeit im Einzelfall dienen, indem sie die Folgen eines als ungerecht oder als zu hart empfundenen Urteils mildern, aber auch aus Gründen der Staatsklugheit 83 So
84 Vgl.
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der tragenden Meinung der für das Begnadigungsrecht grundlegenden Entscheidung in BVerfGE 25, 352 ff. erfüllt das Begnadigungsrecht allein die Funktion, „Härten des Gesetzes, etwaige Irrtümer bei der Urteilsfindung sowie Unbilligkeiten bei nachträglich veränderten allgemeinen oder persönlichen Verhältnissen auszugleichen“.90 Eine Begnadigung aus rein politischen Gründen ließe sich durchaus der Kategorie „Härten des Gesetzes“ zuordnen, bedeutet eine „Gesetzeshärte“ doch allein, dass das abstrakt-generelle Gesetz selbst keine entsprechende Milderungsmöglichkeit bietet. Eine Beschränkung auf bestimmte Härten des Gesetzes (etwa unbillige) kann hieraus nicht abgeleitet werden.91 Demgegenüber heißt es in BVerfGE 46, 214 (223) ohne nähere Begründung: „Die Begnadigung ist … nur als Ergebnis der Prüfung denkbar, ob besondere Umstände den Verurteilten des Gnadenerweises als würdig erscheinen lassen.“ Dies lässt sich so verstehen, dass der Grund für einen Gnadenerweis ausschließlich in der Person des Verurteilten liegen muss.92 Rein politisch motivierte Begnadigungen schieden hiernach aus. In der Literatur gibt es insoweit ebenfalls kein eindeutiges Bild. Mehrheitlich werden Begnadigungen auch bei nicht in der Person des Verurteilten liegenden Gründen für möglich gehalten.93 Merten verweist insoweit darauf, dass nach herkömmlichem Gnadenverständnis schon immer Begnadigungen auch bei außerhalb der Person des Verurteilten liegenden Gründen erfolgten: „Zu allen Zeiten hat man neben Würdigen auch Unwürdige begnadigt und letztere durchaus in Kenntnis ihrer Unwürdigkeit, falls das Staatswohl es angezeigt sein ließ.“94 Dies vermag die Begnadigungen in diesem Bereich zwar erklären, nicht aber zu begründen. (etwa mit Rücksicht auf wichtige innen- und außenpolitische Belange) oder als reiner Akt der staatlichen Souveränität bei festlichen Anlässen (z. B. an nationalen Feiertagen) vorgenommen werden.“ Siehe zur Unzulässigkeit von letzteren bereits unter § 3 B. IV. 3. b) (S. 141). 90 BVerfGE 25, 352 (360 – tragende Meinung). Diese Formulierung ist freilich ein Pleonasmus. 91 Anders wohl Klein, Gnade, S. 17 f., der hierunter offenbar nur die Herstellung individualisierender Gerechtigkeit verstanden wissen will; unklar Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 58 f. 92 Vgl. auch Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 68 (mit Kritik). 93 Vgl. z. B. Hüser, Begnadigung und Amnestie, S. 40 („nahezu allgemein anerkannt“); Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 67 ff.; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 127 ff.; v. Preuschen, Der Rechtsschutz in Gnadensachen des § 452 StPO, S. 74 f.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 95 ff. Gnadenwürdigkeit des Verurteilten hingegen stets voraussetzend Klein, Gnade, S. 21; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 21, 39 f. 94 Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 68 f. Ebenso Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 127 ff.
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Demgegenüber komme nach Rüping allein die individualisierende Gerechtigkeit als Begnadigungsgrund in Betracht.95 Ein Gnadenerweis allein96 aus politischen Gründen – wie z. B. die Begnadigung eines Spions – würde hingegen „das vorangegangene Verfahren als Scheinprozeß hinstellen und den Vorwurf begründen, die Rechtspflege bewußt ins Leere laufen zu lassen“.97 Jedoch lässt sich dieser Einwand Rüpings sicher nicht pauschal gegen Begnadigungen aus politischen Gründen erheben. Eine tragfähige Begründung dafür, dass Gnade allein zur Korrektur „unbilliger Härten“ gewährt werden darf und eine Begnadigung allein aus politischen Gründen damit per se ausscheidet, ist nicht ersichtlich.98 Maßgeblich ist vielmehr allein, dass der Gnadenerweis ergeht, um eine durch die Abstraktion bedingte Gesetzeshärte zu korrigieren. Eine solche „Härte des Gesetzes“ liegt vor, wenn das Gesetz selbst keine Vergünstigung vorsieht, mit der dem mit der Begnadigung verfolgten Zweck ebenfalls entsprochen werden könnte. Dies allein kann jedoch ersichtlich nicht eine Begnadigung erlauben, da andernfalls der Umstand, dass das Gesetz im konkreten Fall nicht „passt“, bereits eine Begnadigung rechtfertigte. Aus dem Einzelfallcharakter der Gnade ist vielmehr zu fordern, dass die Gesetzeshärte durch die Abstraktion des Gesetzes bedingt ist, d. h. es muss sich um einen Einzelfall handeln, der sich vom durchschnittlichen, vom Gesetzgeber berücksichtigten und geregelten Normalfall abhebt.99 Hierbei wird es zwar in aller Regel darum gehen, der „Individualgerechtigkeit“ (verstan95 Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (39 ff.); ähnlich Klein, Gnade, S. 15 ff., 68, wonach „politische Überlegungen“ einen Gnadenakt nicht erlaubten; offenbar ebenso (ohne nähere Begründung) Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 38. 96 Nach Schall sei eine Begnadigung zur Wiederherstellung des Rechtsfriedens dann möglich, „wenn der Rechtsfriede durch die Notwendigkeit der Verwirklichung von Einzelfallgerechtigkeit tangiert wird.“ (Schall, Herzberg-FS, S. 899 [910]). 97 Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (37); für eine ausschließliche Anwendung von §§ 153d, 456a StPO in diesen Fällen Klein, Gnade, S. 16; vgl. auch Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 64. 98 Vgl. auch A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 148 f. Auch die Ursprünge der Gnade als von der Gnade Gottes abgeleitetes Institut, welchem ein metaphysischer Einschlag eigen ist, geben für eine Beschränkung der Gnade auf die Funktion eines der Individualgerechtigkeit dienendes Korrektiv nichts her. Nach dem theologischen Gnadenbegriff wird Gnade gerade bedingungslos geschenkt, es bedarf also keinerlei ratio; siehe zum theologischen Gnadenbegriff bereits unter § 3 B. IV. 3. a) (S. 138). 99 s. dazu bereits unter § 4 A. I. (S. 198). Daher scheidet etwa eine Reststrafaussetzung im Gnadenweg eines zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten nach einer Verbüßung von zehn Jahren aus, wenn keine besonderen Umstände vorliegen, die ein Abweichen von dem in § 57a StGB normierten Leitbild angezeigt erscheinen lassen; Beispiele für solche besonderen Umstände unter § 4 C. I. 2. a) und b) (S. 237 ff.).
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den als Verhältnismäßigkeit) zum Durchbruch zu verhelfen. Unter Beachtung dieser Maßgaben erscheint es im Einzelfall aber auch denkbar, dass die Gnade als Einzelfallkorrektiv aus politischen Gründen fungiert. 3. Indes: kein „Anspruch auf Gnade“ Besteht also insbesondere dann ein Anwendungsbereich für einen Gnadenerweis, wenn im Einzelfall eine unbillige Gesetzeshärte vorliegt, so stellt sich die Frage, ob ein Gnadenerweis in diesen Fällen lediglich ergehen kann, oder nicht sogar ergehen muss. Dieser Aspekt hat wiederum Relevanz für die weitere Frage, ob der Anwendungsbereich der Gnade noch weiter eingeschränkt werden kann: Denn wenn der Gnadenträger einen Gnadenerweis bei Vorliegen einer im Einzelfall bestehenden unbilligen Härte erteilen müsste, dann ließen sich freilich keine weiteren einschränkenden Voraussetzungen für den Erlass eines Gnadenakts aufstellen. Eine Pflicht des Gnadenträgers zum Erlass eines Gnadenakts bei einer im Einzelfall bestehenden unbilligen Härte bestünde dann, wenn der Verurteilte in diesem Fall einen Anspruch auf Erlass des Gnadenakts hätte. Die ganz h. M. lehnt einen Anspruch auf Gnade jedoch generell ab.100 Eine Auseinandersetzung mit dem Umstand, dass Strafverhängung und insbesondere ‑vollstreckung im Einzelfall einen unverhältnismäßigen und damit rechtswidrigen Grundrechtseingriff zur Folge haben können, bleibt dabei indes aus. Für die Frage eines „Anspruchs auf Gnade“ könnte dieser Aspekt allerdings bedeutsam sein: Nach Mickisch folge aus dem Umstand, wonach die gesetzmäßige Strafvollstreckung unter Umständen zu einem unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff führt, dass das Ermessen des Gnadenträgers im Einzelfall auf Null reduziert sein könne. Dies habe zur Folge, dass dem Verurteilten dann ein Rechtsanspruch auf Erlass der gnadenweisen Vergünstigung zustehe.101 Mickisch verweist dabei auf die Regelungstechnik der Dispensation bei repressiven Verboten im Verwaltungsrecht: Hier trage der Dispens dem Umstand Rechnung, dass im Einzelfall der Gesetzeszweck auch 100 Vgl. Hömig, DVBl. 2007, 1328 (1330) mit Nachweisen aus der Rspr.; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 129 f. („unstreitig“); ders. NJW 1975, 1249 (1252); anders aber Campagna, Jahrbuch für Recht und Ethik 11 (2003), 373 (379 ff.), der unter Bezugnahme auf Constant einen Rechtsanspruch auf Gnade aus einem individuellen Recht des Einzelnen auf Gerechtigkeit ableiten will; Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 97; unklar Blaich, Gnadenrecht, S. 64 f. 101 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 97. Unklar Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (115 f.), wonach es zwar für einen Anspruch auf Gnade an einer „positiv-verfassungsrechtlichen Grundlage“ fehle, gleichwohl aber „in einzelnen Fällen eine grundrechtliche Verpflichtung zum Erlass eines positiven Gnadenerweises vorstellbar“ sei.
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
ohne die gesetzlich vorgesehene Rechtsfolge erreichbar ist, sodass die gesetzliche Regelung an sich gegen das Übermaßverbot verstößt.102 Dispensermächtigungen dienten dann als „Härteklauseln“ der Vermeidung grundrechtswidriger Entscheidungen.103 Für den Dispens entspreche es der h. M., dass im Einzelfall das Ermessen der Behörde zur Erteilung des Dispenses auf Null reduziert sein kann – d. h. nur noch eine Entscheidung (die Erteilung des Dispenses) rechtlich vertretbar ist – und damit unter Umständen ein Anspruch des Einzelnen besteht.104 Das Begnadigungsrecht erfülle auf der Ebene des Straf(vollstreckungs)rechts dieselbe Aufgabe wie der Dispens im Verwaltungsrecht, sodass insoweit nichts anderes gelten könne.105 Mickischs Vergleich des Begnadigungsrechts mit der verwaltungsrechtlichen Figur des repressiven Verbots mit Befreiungsvorbehalt verfängt indes nicht. Gegen die Parallele sprechen systematische Gründe. Der Befreiungsvorbehalt ergibt sich im Verwaltungsrecht aus dem jeweiligen Gesetz selbst.106 Das Begnadigungsrecht ist demgegenüber positiv-rechtlich fast ausschließlich im Verfassungsrecht angesiedelt, im Übrigen durch Gewohnheitsrecht geprägt. Von daher läge es näher – will man denn den Vergleich zum verwaltungsrechtlichen repressiven Verbot mit Befreiungsvorbehalt ziehen –, nicht das Begnadigungsrecht, sondern die in den verschiedenen strafrechtlichen Gesetzen geregelten gesetzlichen Alternativregelungen als „Dispensation“ in diesem Sinne anzusehen. Denn diese sind wie die Dispensation Ausdruck des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.107 Ferner wird insoweit in der Tat zum Teil angenommen, dass im Einzelfall das Ermessen bezüglich der Gewährung einer entsprechenden Vergünstigung auf Null reduziert sein kann.108 Dass also die Begnadigung die gleiche Funktion erfüllt wie der Dispens im Verwaltungsrecht, ist eine Behauptung, die sich nicht beweisen lässt. Ein Anspruch auf Gnade infolge des Vorliegens einer unbilligen Härte könnte sich daher allein aus dem grundrechtlichen Schutzanspruch auf Be102 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 81 f.; siehe auch H. Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 55. 103 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 82. 104 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 95 mit Fn. 124. 105 Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 97. 106 H. Maurer (Allgemeines Verwaltungsrecht, § 9 Rn. 55) nennt als Beispiele § 46 Abs. 2 StVO bezüglich § 29 Abs. 1 StVO sowie § 31 Abs. 2 BauGB in Bezug auf zwingende Vorschriften des Baurechts. 107 Vgl. SK-StPO-Paeffgen Vor § 449 Rn. 3. 108 Bezüglich § 456 StPO: BeckOK-StPO-Coen § 456 Rn. 10; OLG Karlsruhe StV 2000, 213 (124). Bezüglich Strafvollzugslockerungen: Schwind et al.-Laubenthal, § 115 Rn. 18; OLG Hamburg NStZ 1990, 606; LG Hamburg BeckRS 2011, 13938. Bezüglich § 35 BtMG: MK-Kornprobst, § 35 BtMG Rn. 134.
A. Zum prinzipiellen Anwendungsbereich der Gnade217
seitigung gegenwärtiger und Unterlassung fortdauernder Beeinträchtigungen (negatorischer Beseitigungsanspruch)109 ergeben. Denn ein rechtswidriger Grundrechtseingriff hat zur Folge, dass dem betroffenen Grundrechtsträger grundsätzlich ein subjektiv-rechtlicher Anspruch auf Unterlassung oder Beseitigung des Grundrechtseingriffs zusteht.110 Der Gnadenakt könnte dann das rechtliche Mittel darstellen, um diesen Anspruch zu erfüllen. Indes muss beachtet werden, dass ein solcher Anspruch die Rechtskraft der vorherigen strafgerichtlichen Entscheidung unterliefe. Dies gilt evident dann, wenn die den Anspruch begründende rechtswidrige Grundrechtsverletzung auf die Unverhältnismäßigkeit des Urteils selbst gestützt wird – etwa mit der Behauptung der eigenen Unschuld oder fehlerhafter Strafzumessung. Daher ist für den grundrechtlichen Schutzanspruch anerkannt, dass dieser grundsätzlich nicht bei Eingriffen durch der Rechtskraft fähige richterliche Entscheidungen gilt.111 Hintergrund ist, dass es andernfalls zu einer Umgehung der rechtsstaatlichen Gebote der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens käme.112 Insoweit wird auf den Rechtsgedanken des § 839 Abs. 2 BGB verwiesen, sofern man dessen ratio (auch) in der Sicherung der Rechtskraft richterlicher Urteile erblickt.113 Ein Anspruch auf Wiederaufrollen des bereits rechtskräftig entschiedenen Rechtsstreits gefährdete offenkundig den Sinn und Zweck der materiellen Rechtskraft, Rechtsfrieden und Rechtssicherheit zu schaffen,114 und unterliefe die gesetzgeberische Lösung des Spannungsverhältnisses von Rechtssicherheit und materieller Gerechtigkeit, wie sie insbesondere in §§ 359 ff. StPO getroffen wurde. Konsequenterweise wird man diesen Anspruchsausschluss dann aber auch auf solche Maßnahmen erstrecken müssen, welche die Rechtsfolgen der richterlichen Entscheidung vollstrecken, sprich auf die Strafvollstreckung. Denn der dem Ausschluss zugrunde liegende Schutz der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens würde unterlaufen, schützte man zwar die richterliche Entscheidung selbst, nicht aber deren Umsetzung. Mit dem negatorischen Beseitigungsanspruch können daher keine rechtswidrigen Grundrechtsbeeinträchtigungen infolge der strafgerichtlichen Verurteilung selbst oder ihrer Vollstreckung geltend gemacht werden. Überdies wäre – bejahte man die Voraussetzungen eines solchen Anspruchs – ohnehin die Passivlegitimation des Gnadenträgers zweifelhaft: Als näher Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 351 ff. in: HStR IX, § 191 Rn. 145. 111 Grzeszick, in: Handbuch der Grundrechte III, § 75 Rn. 119; Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 375; Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 222 f. m. w. N. 112 Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 223. 113 Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 102, 375. 114 Ossenbühl / Cornils, Staatshaftungsrecht, S. 102. 109 Dazu
110 Isensee,
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
Anspruchsgegner des grundrechtlichen Schutzanspruchs wird zum Teil derjenige angesehen, der in das Grundrecht in rechtswidriger Weise eingegriffen hat (Verletzer).115 Dies ist jedoch nicht der Gnadenträger, sondern – bei rechtswidrigen Eingriffen infolge der Strafvollstreckung – die Vollstreckungsbehörde. Um eine rechtliche Unmöglichkeit in solchen Fällen zu verhindern, in denen der Verletzer für die Beseitigung nicht zuständig ist, schlagen Andere vor, dass sich die Passivlegitimation nach der rechtlichen Befugnis zur Beseitigung bestimmt.116 Auch insoweit muss man die Vollstreckungsbehörden als passivlegitimiert ansehen: Sollte tatsächlich die Konstellation eintreten, dass die ununterbrochene Strafvollstreckung unverhältnismäßig ist, keine gesetzliche Alternativregelung Abhilfe verschaffen kann und auch die Gebote der Rechtssicherheit und des Rechtsfriedens einer Vergünstigung nicht entgegenstehen, müsste die Vollstreckungsbehörde in grundrechtskonformer Auslegung dazu übergehen, entsprechende Vergünstigungen zu gewähren, um dem abzuhelfen. Entgegenstehende gesetzliche Vorschriften bestehen im lückenhaften117 Strafvollstreckungsrecht jedenfalls nicht.118 Aufgrund des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes kommt der Vollstreckungsbehörde vielmehr die Rechtsmacht zu, die rechtskräftig verhängten Rechtsfolgen im Laufe des Vollstreckungsverfahrens an veränderte Umstände anzupassen.119 Im Ergebnis muss daher ein Anspruch auf Gnade infolge des Vorliegens einer unbilligen Härte verneint werden.120 Eine Pflicht des Gnadenträgers, 115 Isensee,
in: HStR IX, § 191 Rn. 145. Staatshaftungsrecht, S. 390; vgl. auch Detterbeck / Windthorst / Sproll, Staatshaftungsrecht, § 12 Rn. 66. 117 Dazu Laubenthal / Nestler, Strafvollstreckung, Rn. 9. 118 Mangels Grundrechtseingriffs infolge einer solchen Vergünstigung bedürfte es auch nicht einer formal-gesetzlichen Grundlage. Aus dem Umstand, dass der Anspruch auf die Vergünstigung aus einem unverhältnismäßigen Grundrechtseingriff resultiert, schiede auch eine Strafbarkeit aus §§ 258 Abs. 2, 258a StGB (Vollstreckungsvereitelung im Amt) aus; der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit erforderte insoweit eine reduzierende Auslegung der Tatbestandsmerkmale (zu diesem Aspekt Maunz / Dürig-Grzeszick, Art. 20 VII Rn. 124). 119 Vgl. auch SK-StPO-Paeffgen, Vor § 449 Rn. 3. Deutlich wird diese Rechtsmacht etwa in § 19 S. 2 StVollstrO, wonach – ohne formal-gesetzliche Rechtsgrundlage – Vollstreckungsausstand bei einer Revision des Mitangeklagten gewährt werden kann. 120 Ein Anspruch auf Gnade kann daher nur dann angenommen werden, wenn die (Rest-)Strafe zuvor im Gnadenweg ausgesetzt wurde und sich der Verurteilte während der Bewährungszeit bewährt. Denn durch die gnadenweise Aussetzung zur Bewährung wird dem Verurteilten eine Rechtsposition eingeräumt, die nicht mehr für ihn unvorhersehbar aufgehoben werden darf (BVerfG NJW 2013, 2414 [2415]). Dann muss ihm konsequenterweise die Reststrafe nach erfolgter Bewährung auch erlassen werden. Da dieser Erlass ebenfalls einen Gnadenakt darstellt (siehe unter § 2 A. [S. 92]), besteht also insoweit ein Rechtsanspruch. Dies wird von denjeni116 Ossenbühl / Cornils,
A. Zum prinzipiellen Anwendungsbereich der Gnade219
bei Vorliegen einer unbilligen Härte in jedem Fall einen Gnadenerweis zu erteilen, besteht daher nicht. Hieraus folgt wiederum, dass die Gnade unter weiteren Einschränkungen stehen kann. Der Frage nach etwaigen weiteren Schranken wird im Folgenden nachgegangen.
III. Abschließender Charakter der gesetzlichen Alternativregelungen? Eine weitere Einschränkung des der Gnade verbleibendenden Anwendungsbereichs könnte aus einer gesetzlichen Wertung folgen, wonach nur bei Erfüllung bestimmter, in den gesetzlichen Alternativregelungen verfasster Voraussetzungen eine Vergünstigung erfolgen darf. Mit anderen Worten: Wirkt sich der Umstand, dass der Gesetzgeber bestimmte Fälle, in denen er eine Vergünstigung unter bestimmten Voraussetzungen als sinnvoll erachtet und daher zwischenzeitlich gesetzlich vertypt hat, auf den der Gnade verbleibenden Raum aus? Können die gesetzlichen Alternativregelungen als (grundsätzlich?) abschließend verstanden werden?121 Jedenfalls kann den gesetzlichen Alternativregelungen nicht die Wertung entnommen werden, dass sich innerhalb ihres Anwendungsbereichs (z. B. Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe), aber außerhalb ihrer Voraussetzungen (z. B. nach zehn Jahren),122 ein Gnadenakt generell verbietet.123 Denn dass durch Ausübung des Begnadigungsrechts vom Gesetz abgewichen wird, liegt in der Natur der Sache. Ein Gnadengesuch kann schließlich nicht mit dem Argument verworfen werden, dass das „Recht“ eine Korrektur nicht zulässt.124 Denn auch wenn die gesetzlichen Alternativregelungen eine „Individualisierung“ im Strafrecht ermöglichen sollen, ist hierdurch nicht gesagt, dass sich nicht auch weiterhin Einzelfälle ergeben können, in denen trotz der bestehenden Regelungen eine unbillige Härte entsteht. gen verkannt, die generell (und mitunter lapidar) einen Anspruch auf Gnade ablehnen (vgl. die Nachweise auf S. 215 in Fn. 100). 121 s. speziell zur Frage des abschließenden Charakters der §§ 359 ff. StPO (Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten) unter § 4 C. V. 1. b) (S. 256 ff.). 122 „Innerhalb“ der Voraussetzungen der gesetzlichen Alternativregelungen verbieten sich originäre Gnadenentscheidungen freilich bereits aufgrund des Vorrangs des Gesetzes. Anders aber für Gnade nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung, vgl. sogleich unter § 4 B. (S. 223 ff.). 123 Im Ergebnis ebenso A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 139, 171 ff.; mit Blick auf § 57a StGB: J. Meier, Zur gegenwärtigen Behandlung des „Lebenslänglich“ beim Mord, S. 122 f.; Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (124 ff.). 124 HK-Pollähne § 452 Rn. 3; vgl. bereits unter § 3 C. III. 2. b) (S. 173).
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
Auch anhand der Gesetzesmaterialien zu den verschiedenen gesetzlichen Alternativregelungen lässt sich nicht zwingend darauf schließen, dass innerhalb des jeweiligen Geltungsbereichs die Ausübung des Begnadigungsrechts ausgeschlossen oder besonders beschränkt werden soll. Lassen sich zwar im Rahmen der Schaffung des § 57a StGB einzelne Stimmen finden, die von einem Ausschluss oder jedenfalls einer Einschränkung des Begnadigungsrechts durch das Gesetz ausgingen, so kann dies keinesfalls als „gesetzgeberischer Wille“ bezeichnet werden.125 Zu Recht weist A. Maurer darauf hin, dass – umgekehrt – in den Gesetzesmaterialien zu den jeweiligen gesetzlichen Alternativregelungen vielfach unmissverständlich das Begnadigungsrecht außerhalb der gesetzlichen Voraussetzungen für weiterhin anwendbar gehalten wurde.126 Auch aus dem allgemeinen Vorrang des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) folgt nichts anderes: Zwar besteht hiernach das sog. Abweichungsverbot, wonach die Exekutive nicht gegen bestehende Gesetze verstoßen darf.127 Jedoch ist dieses Abweichungsverbot bezogen auf das Anwendungsgebot128, da es die Art und Weise der sich aus dem Anwendungsgebot ergebenden Pflicht regelt, die bestehenden Gesetze anzuwenden.129 Daher entspricht die Reichweite des Abweichungsverbots derjenigen des Anwendungsverbots. Bezüglich letzterem wurde bereits festgestellt, dass dieses sich nach dem Geltungsumfang der jeweiligen Rechtsnorm richtet, d. h. für die jeweilige Behörde nur innerhalb ihrer Zuständigkeit gilt.130 Fällt also die gesetzliche Alternativregelung nicht in den Zuständigkeitsbereich des Gnadenträgers, greift erst gar nicht das Anwendungsgebot, mit der Folge, dass auch für Folgerungen anhand des Abweichungsverbots kein Raum ist. Doch selbst dann, wenn der Gnadenträger auch für die Gewährung einer Vergünstigung nach der gesetzlichen Alternativregelung zuständig ist, sodass das Anwendungsgebot greift – etwa beim Strafausstand131 –, folgt aus dem Abweichungsverbot kein Verbot, jedwede Gnadenbetätigung innerhalb des durch die gesetzliche Alternativregelung normierten Bereichs zu unterlassen. Denn ein Verstoß gegen den allgemeinen Vorrang des Gesetzes (und 125 s.
unter § 1 E. II. 5. b) cc) (S. 78). Begnadigungsrecht, S. 139. So etwa ausdrücklich in BT-Drucks. 1 / 3713 (Regierungsentwurf zum 3. StrÄndG), S. 29 im Hinblick auf Gnade außerhalb der neu geschaffenen Vorschriften zur (Rest-)Strafaussetzung – siehe unter § 1 E. II. 1. c) (S. 64). 127 Gusy, JuS 1983, 189 (191); Horn, Die grundrechtsunmittelbare Verwaltung, S. 26 f. 128 Hierzu bereits unter § 3 B. IV. 5. c) (S. 153). 129 Gusy, JuS 1983, 189 (191). 130 s. unter § 3 B. IV. 5. c) (S. 154). 131 s. unter § 3 B. IV. 5. c) (S. 154). 126 A. Maurer,
A. Zum prinzipiellen Anwendungsbereich der Gnade221
damit gegen das Abweichungsverbot) scheidet dann aus, „wenn der förmliche Gesetzgeber selbst … Abweichungen vom gesetzlichen Geltungsanspruch ausdrücklich zulässt“.132 Mit der ausdrücklichen Normierung des Begnadigungsrechts in Grundgesetz und sämtlichen Landesverfassungen hat der jeweilige Verfassungsgeber das Institut „Begnadigungsrecht“ verfassungsrechtlich garantiert und vorausgesetzt, dass der Gnadenträger im Einzelfall von gesetzlichen Regeln abweicht. Somit lässt sich aus dem Abweichungsverbot nicht folgern, dass innerhalb des Anwendungsbereichs einer gesetzlichen Alternativregelung eine Gnadenausübung zu unterbleiben hat. Es lässt sich demnach weder darauf schließen, dass Gnadenakte außerhalb der Voraussetzungen von bestehenden gesetzlichen Alternativregelungen generell zu unterbleiben haben (kein abschließender Charakter der gesetzlichen Alternativregelungen), noch, dass die Gnadenakte nur unter „besondereren“ Voraussetzungen als im Übrigen erfolgen dürfen.133 Eine Ausstrahlungswirkung der gesetzlichen Alternativregelungen gegenüber der Gnade liegt damit letztlich nur insofern vor, als sich infolge ihrer Normierung die Gewährung originärer Gnade auf besonders gelagerte Fälle beschränkt, in denen nämlich eine gesetzliche Alternativregelung nicht in Betracht kommt.134
132 Dreier-Schulze-Fielitz,
Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 97. aber offenbar Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 288, wonach sich der Gnadenträger bei Entscheidungen über eine gnadenweise Reststrafaussetzung „besonders eng an die gesetzlichen Vorschriften“ halten müsse. Eine Strafe von mehr als zwei Jahren dürfe daher wegen § 56 Abs. 2 S. 1 StGB nicht im Gnadenweg ausgesetzt werden (Birkhoff / Lemke, a. a. O., Rn. 290). Ferner J. Meier, Zur gegenwärtigen Behandlung des „Lebenslänglich“ beim Mord, S. 114, wonach wegen der in § 57a StGB getroffenen „Wertentscheidung des Gesetzgebers“ Begnadigungen vor Ablauf der Mindestverbüßungszeit „wirklich nur unter ganz besonderen Umständen“ in Betracht kommen könnten. Neben der Schwierigkeit, zwischen den ja ohnehin stets für eine Begnadigung erforderlichen besonderen Umständen und ganz besonderen Umständen zu differenzieren, spricht mit Blick auf § 57a StGB hiergegen schon der Umstand, dass vor Schaffung des § 57a StGB Begnadigungen vor Ablauf von 15 Jahren nicht unüblich waren (so erfolgten im Zeitraum von 1945 bis 1975 bundesweit 192 Begnadigungen von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten vor Ablauf von 15 Jahren – was einen Anteil von 28,4 % der Begnadigungen von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten ausmachte; vgl. Weber, Die Abschaffung der lebenslange Freiheitsstrafe, S. 57) und sich aus der Entstehungsgeschichte des § 57a StGB kaum darauf schließen lässt, der Gesetzgeber habe die Situation der Gefangenen insoweit verschlechtern wollen (siehe insbesondere unter § 1 E. II. 5. a) [S. 74]). 134 Vgl. auch Müller-Dietz, DRiZ 1987, 474 (478); Volckart, NStZ 1982, 496 f. 133 So
222
§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
IV. Zwischenergebnis Ging es bei der vorangegangenen Betrachtung darum, den Anwendungsbereich der Gnade nicht aus einer metaphysischen Sicht bzw. von einem theologischen Gnadenverständnis ausgehend zu beleuchten, sondern die nach geltendem Recht bestehenden Schranken zu bestimmen – ein Ansatz, der demjenigen, für den Gnade und Recht in einem dualistischen Verhältnis zueinander stehen, naturgemäß fremd ist –, so mag erstaunen, dass die hiernach gewonnenen, de lege lata bestehenden Konturen im Ergebnis zum Teil durchaus auf der Linie des dualistischen, metaphysischen Ansatzes liegen: So wird etwa die hier erfolgte Begründung des Einzelfallcharakters der Gnade135 dem Vertreter eines metaphysischen Gnadenverständnisses allzu formal erscheinen. Der aus dem Einzelfallcharakter gezogenen Schlussfolgerung, wonach der generelle Einsatz der Gnade als „Mittel der Kriminalpolitik“ unzulässig ist, wird im Ergebnis aber auch derjenige zustimmen, der in der Gnade ein „gesetzloses Wunder“ erblickt, welches als „leuchtender Strahl in den Bereich des Rechts einbricht“.136 Denn Radbruch wird bei Abfassung dieses Textes kaum etwa die nach generellem Muster gewährte „Weihnachtsamnestie“ oder auf Grundlage von VwV Nachschulung gewährte Gnadenakte im Sinn gehabt haben.137 Raum für Gnade besteht insbesondere dann, wenn die Strafverhängung bzw. die sich anschließende Strafvollstreckung ausnahmsweise unverhältnismäßig ist. Die Anwendung des abstrakt-generellen Gesetzes ist zur Verwirklichung der mit ihm verfolgten Zwecke in diesem Fall nicht erforderlich oder – häufiger – unangemessen. Das Gesetz „passt“ also nicht auf diesen Einzelfall, es liegt eine Gesetzeshärte vor. In diesem Fall kann die Verhältnismäßigkeit unter Umständen durch eine gnadenweise Vergünstigung wiederhergestellt und damit der „Individualgerechtigkeit“ – sofern man insoweit die Zweckmäßigkeit für maßgeblich hält – zum Durchbruch verholfen werden. Dabei hat der Einzelne indes keinen Anspruch auf Gnade.138 Dem Gnadenträger ist es also von Rechts wegen nicht verwehrt, einen Gnadenerweis zu versagen. Daher ist der Gnadenträger grundsätzlich nicht daran gehindert, die Gewährung von Gnadenakten von weiteren Voraussetzungen abhängig 135 Generelle Vergünstigungen sind als actus contrarius zum Gesetz ebenfalls in Gesetzesform zu erlassen; teils ausdrückliche Beschränkung auf den „Einzelfall“ in den verfassungsrechtlichen Kompetenzvorschriften (siehe unter § 4 A. I. [S. 196]). 136 s. das Zitat Radbruchs auf S. 19 in Fn. 2. 137 So ist die Gnade auch für Radbruch ein Einzelfallkorrektiv, siehe das Zitat Radbruchs auf S. 47 in Fn. 140. 138 s. unter § 4 A. II. 3. (S. 215 ff.). Sieht man einmal von der auf S. 218 in Fn. 120 genannten Ausnahme (Anspruch auf Gnade nach erfolgter Bewährung) ab.
B. Besondere Einschränkungen für Gnade223
zu machen, sofern er dadurch nicht ausnahmsweise gegen sonstige rechtliche Schranken verstößt.139 So kann er etwa im Einzelfall die Gewährung eines Gnadenerweises auch davon abhängig machen, ob er ein besonderes Vertrauen gegenüber dem Verurteilten in dessen künftige Straffreiheit aufbringt.140 Dem Ergebnis, dass der Verurteilte keinen Anspruch auf Gnade hat, wird im Übrigen auch derjenige zustimmen, der im juristischen Kontext mit dem theologischen Gnadenbegriff argumentiert.141 Denn Gnade kann auch nach theologischem Verständnis nicht beansprucht werden, sie ist vielmehr ein „bedingungsloses göttliches Geschenk“.142 Ist die Gnadengewährung nach theologischem Verständnis mithin durch nichts konditioniert (eines Vertrauens in künftige Straffreiheit bedürfte es also beispielsweise nicht), so gilt Gleiches für die Gnadenversagung. Obschon in positiver Hinsicht – sprich mit Blick auf Gnadenerweise – der theologische Gnadenbegriff nicht viel mit dem juristischen (rechtlichen Schranken unterworfenen, an den Strafzwecken orientierten) Gnadenbegriff gemein hat, so besteht doch in negativer Hinsicht die Gemeinsamkeit, dass Gnade nicht beansprucht werden kann.
B. Besondere Einschränkungen für Gnade nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung? I. Vorbemerkung Besondere Bindungen bei der Gnadenausübung könnten bestehen, wenn bereits im Rahmen eines gesetzlichen Verfahrens negativ über eine beantragte Vergünstigung entschieden wurde,143 und der Verurteilte diese Vergünstigung im Anschluss auf dem Gnadenweg begehrt. Auch wenn in der Praxis Gnadenakte im Anschluss an eine negative gesetzliche Entscheidung selten sein mögen,144 besteht gleichwohl die Problematik, dass das Gnadengesuch im Einzelfall zu einem „außerordentlichen 139 So darf er nicht aus irrationalen Gründen Gnade verweigern oder die in Art. 3 Abs. 3 GG genannten absoluten Differenzierungsverbote missachten (siehe bereits unter § 3 B. IV. 3. b) [S. 141]). 140 Dabei ist freilich zu beachten, dass der Gnadenträger im Rahmen seiner Gnadenentscheidung ohnehin den Aspekt der negativen Spezialprävention zu berücksichtigen hat, der sich mit dem Vertrauen in die künftige Straflosigkeit decken dürfte. 141 So Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 259 ff. 142 s. hierzu unter § 3 B. IV. 3. a) (S. 138). 143 Sei es, dass der Verurteilte zunächst direkt den gesetzlichen Weg erfolglos beschritten hat, sei es, dass er nach Einreichung seines Gnadengesuchs wegen des Vorrangs des Gesetzes auf den gesetzlichen Weg verwiesen wurde.
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
Rechtsbehelf“ gegen die zuvor ablehnende Entscheidung der gesetzlichen Stelle werden kann.145 Es stellt sich daher die Frage, ob sich infolge einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung die Bindungen des Gnadenträgers auf solche beschränken, die auch für den Erlass von originären Gnadenentscheidungen gelten, oder ob bei der Gnadenentscheidung nicht eine weitergehende – dann noch näher zu bestimmende – Bindungswirkung besteht.
II. Meinungsstand in der Literatur In der Literatur ist die Auffassung ganz herrschend, dass eine ablehnende gesetzliche Entscheidung einem nachfolgenden Gnadenakt jedenfalls nicht per se entgegensteht. Divergenzen bestehen indes hinsichtlich der Frage, ob die ablehnende gesetzliche Entscheidung den Gnadenträger überhaupt in irgendeiner Weise bindet, und ob eine solche etwaige Bindung als unverbindlicher Appell oder de lege lata bestehende Schranke zu verstehen ist. Einen extensiven Standpunkt vertritt Appl: Hiernach schließe eine durch das Gericht versagte Reststrafaussetzung nach §§ 57, 57a StGB eine nachfolgende Aussetzung im Gnadenweg nicht nur nicht aus; es gebe „auch keinen Grund, das Gnadenrecht in diesem Bereich in besonderem Maße restriktiv zu handhaben“.146 Begründen ließe sich dies mit der Erwägung, dass, wenn der Gnadenträger schon nicht an Strafrechtsvorschriften gebunden ist – von diesen kann er schließlich dispensieren –, nicht einzusehen ist, „weshalb er mit völliger Ausschließlichkeit an das richterliche Würdigungsrecht, an die kriminalpolitischen Vorstellungen eines Gerichts gebunden sein soll.“147 Demgegenüber ist nach überwiegender Auffassung für einen Gnadenakt in diesen Fällen erforderlich, dass nachträglich neue Umstände auftreten oder bekannt werden, die nunmehr eine gnadenweise Vergünstigung rechtfertigen.148 Zum Teil wird davon ausgegangen, dass auch bei einem zunehmenden zeitlichen Abstand von der ablehnenden gesetzlichen Entscheidung ein Gnadenakt ergehen dürfe.149 Speziell im Jugendstrafrecht wird ein Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 98 (mit Blick auf § 57a StGB). Art. 60 Rn. 36; zust. Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 61; Kett-Straub, GA 2007, 332 (347). 146 KK-StPO-Appl, § 454 Rn. 41. 147 Hüser, Begnadigung und Amnestie, S. 34 (in Bezug auf originäre Begnadigungen bei Fehlurteilen). 148 So mit Blick auf eine vorherige Entscheidung nach §§ 57, 57a StGB: LR-Graalmann-Scheerer, § 454 Rn. 102; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 37, 40. 149 Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 166; Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 37; wohl auch Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (126). 144 Vgl.
145 Maunz / Dürig-Herzog,
B. Besondere Einschränkungen für Gnade225
Gnadenerweis nach zuvor ablehnender Entscheidung nach § 21 JGG auch dann für möglich gehalten, wenn den Besonderheiten des Einzelfalls mit dem gesetzlichen Rechtsfolgensystem des JGG nicht hinreichend Rechnung getragen werden kann.150 Ob es sich bei diesen Voraussetzungen (neue Umstände, zeitlicher Abstand bzw. Besonderheiten des Jugendstrafrechts) um rechtliche Postulate handelt, die also de lege lata bestehen – und nicht um lediglich praktische Handhabungen –151, bleibt jedoch zumeist unklar. Einen Ansatzpunkt bietet zumindest Graalmann-Scheerer: Hiernach sei es „[g]rundsätzlich … eine unerträgliche Missachtung der richterlichen Gewalt und ein Missbrauch der Gnade, die mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbaren wäre, wenn die Gnadenbehörde, weil ihr richterliche Entscheidungen nicht gefallen…, diese im Wege der Gnade ‚korrigieren‘ wollte“.152 Dass der Gnadenträger nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung Gnade nicht mehr völlig frei gewähren darf, könnte demnach als ein rechtsstaatlich gebotenes, insbesondere aus dem Grundsatz der Gewaltenteilung folgendes Postulat zu verstehen sein.153
III. Stellungnahme 1. Vorbemerkung: Erneuter Vorrang des gesetzlichen Verfahrens? Zunächst ist festzustellen, dass sich die Frage einer besonderen Bindungswirkung bei einer Gnadenentscheidung, die im Anschluss an eine zuvor ablehnende gesetzliche Entscheidung ergehen soll, nur dann stellt, wenn in dieser Konstellation überhaupt eine Sachentscheidung über das Gnaden gesuch ergehen darf. Letzteres könnte dann ausgeschlossen sein, wenn auch nach der zuvor ablehnenden gesetzlichen Entscheidung der Vorrang des Gesetzes (erneut) griffe mit der Folge, dass eine Gnadenentscheidung abermals zu unterbleiben hätte. Denn im Ausgangspunkt ist kein Grund dafür ersichtlich, warum der gesetzliche Weg nur in Bezug auf originäre Gnadenentscheidungen vorran150 Eisenberg,
§ 21 Rn. 31. dieser Richtung Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 98. 152 LR-Graalmann-Scheerer, § 454 Rn. 102 (im Anschluss an LR-Schäfer, 24. Aufl. 1978, § 454 Rn. 47) bezüglich Gnadenakte nach zuvor ablehnender Entscheidung gem. §§ 57, 57a StGB. 153 Vgl. auch Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 36, wonach durch Gnade nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung „das gewöhnliche Verhältnis zwischen der zweiten und der dritten Gewalt in diesem … rechtsstaatlich empfindlichen Bereich auf den Kopf gestellt“ werde. 151 In
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
gig sein soll.154 Dürfen originäre Gnadenentscheidungen nur dann ergehen, wenn die begehrte Vergünstigung auf gesetzlichem Weg nicht in Betracht kommt, so muss im Ausgangspunkt Gleiches für den Anwendungsraum der Gnade nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung gelten. Dass trotz der negativen gesetzlichen Entscheidung die begehrte Vergünstigung auf gesetzlichem Weg in Betracht kommt, ist auf zweierlei Weise denkbar: Möglich ist zum einen, dass das Recht noch Rechtsbehelfe bietet, mithilfe derer gegen die ablehnende gesetzliche Entscheidung vorgegangen werden kann. Nur wenn dies nicht mehr der Fall ist – sei es, weil die hierfür etwaig vorgesehenen Fristen abgelaufen sind, sei es, weil der Verurteilte bereits vergeblich den Rechtsweg eingeschlagen hat –, ist überhaupt an eine Gnadenentscheidung zu denken.155 Da auch die Unanfechtbarkeit einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung einem neuerlichen gesetzlichen Verfahren in aller Regel nicht entgegensteht,156 wäre zum anderen zumindest theoretisch denkbar, dass abermals die Gewährung der zuvor abgelehnten Vergünstigung auf gesetzlichem Weg in Betracht kommt. Bei gleichbleibendem Sachverhalt besteht hier ein (erneuter) Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade freilich nicht mehr, zeigt die ablehnende gesetzliche Entscheidung doch gerade, dass das Gesetz – jedenfalls in 154 Anders (ohne Begründung) hingegen Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 166: „Die Frage eines Vorrangs gesetzlicher Regelungen oder der gerichtlichen Entscheidung besteht in diesem Fall nicht mehr.“ 155 Infolge einer ablehnenden Entscheidung nach §§ 455, 456 StPO wäre daher das gerichtliche Verfahren nach § 458 Abs. 2 StPO vorrangig (welches an keine Frist gebunden ist, vgl. SK-StPO-Paeffgen, § 458 Rn. 14); so auch Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 22 mit Fn. 36. Bei einer ablehnenden Aussetzungsentscheidung nach §§ 57, 57a StGB wäre eine noch zulässige sofortige Beschwerde vorrangig (§ 454 Abs. 3 S. 1 StPO), was ob der Wochenfrist (§ 311 Abs. 2 StPO) jedoch nur theoretischer Natur ist. 156 So kann die Vollstreckungsbehörde, selbst wenn ihre ablehnende Entscheidung nach §§ 455, 456 StPO in der Folge gerichtlich bestätigt wurde, hiervon „auf Grund veränderter Umstände, aber auch veränderter Beurteilungen des Sachverhalts zugunsten des Verurteilten abweichen“ (KK-StPO-Appl § 462 Rn. 6). Auch die Rechtskraft einer ablehnenden Aussetzungsentscheidung nach § 454 Abs. 1 StPO steht einem erneuten Antrag nicht entgegen (LR-Graalmann-Scheerer, § 454 Rn. 94); hat das Gericht allerdings gem. § 57 Abs. 7 bzw. § 57a Abs. 4 StGB eine Sperrfrist gesetzt, kommt ein Verfahren in dieser Zeit von vornherein nicht in Betracht (siehe unter § 4 C. I. 1. b) [S. 236 mit Fn. 196 – zu § 57 Abs. 7 StGB] und § 4 C. I. 2. b) [S. 240 mit Fn. 223 – zu § 57a Abs. 4 StGB]). Anders liegt es hingegen bei der Wiederaufnahme des Verfahrens: Die Rechtskraft des die Wiederaufnahme ablehnenden Beschlusses führt zu einem Verbrauch dieses Wiederaufnahmevorbringens; ein neuer Wiederaufnahmeantrag darf sich daher nicht auf dieselben Tatsachen und Beweismittel stützen (LR-Gössel, § 372 Rn. 22 m. w. N.).
B. Besondere Einschränkungen für Gnade227
Form der Rechtsanwendung durch die hierzu berufene Stelle – selbst kein Korrektiv zur Ausräumung der vom Verurteilten geltend gemachten Härte bietet. Eine Sachentscheidung über die Gnade wäre dann also problemlos möglich. Etwas anderes könnte hingegen dann gelten, wenn neue Tatsachen eintreten, aufgrund derer zu erwarten ist, dass die begehrte Vergünstigung nunmehr auf dem gesetzlichen Weg gewährt wird.157 Dabei ist jedoch zu beachten, dass nach einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung ein (erneuter) Vorrang des gesetzlichen Verfahrens – wenn überhaupt – nur in engen Grenzen bestehen kann. Denn ein Verweis auf den gesetzlichen Weg nach einer ablehnenden gesetzlichen Entscheidung könnte allzu formalistisch und überdies rechtsstaatswidrig sein, hat der Verurteilte doch ein Recht darauf, binnen angemessener Frist eine Sachentscheidung über seinen Gnadenantrag zu erlangen.158 Die sich nach den Umständen des Einzelfalls richtende Bestimmung der „Angemessenheit“ der Frist hat ersichtlich auch den Aspekt des „Zeitraums der Verfahrensverzögerung“ zu beachten.159 Wurde der Verurteilte nach bereits gestelltem Gnadenantrag wegen des Vorrangs des gesetzlichen Verfahrens auf den gesetzlichen Weg verwiesen und kam es daraufhin zu der ablehnenden Entscheidung, wird man ihn vor diesem Hintergrund nun – auch bei Eintreten neuer Umstände – grundsätzlich nicht abermals auf den gesetzlichen Weg verweisen können. Eine Ausnahme könnte aber dann gelten, wenn der Verurteilte nach der ablehnenden gesetzlichen Entscheidung nunmehr solche neuen Umstände geltend macht, welche eine Änderung des Entscheidungsgegenstands zur Folge haben. Denn schließlich sind bei der Bestimmung der „Angemessenheit“ der Frist insbesondere auch „Umfang und Schwierigkeit des Entscheidungsgegenstands“ zu beachten.160 Führt der Eintritt der neuen Umstände dazu, dass es sich nunmehr um einen anderen – neuen – Entscheidungsgegenstand handelt, könnte dies zur Folge haben, dass die Frist – welche zur Bestimmung einer unangemessenen Verfahrensdauer unter anderem herangezogen wird – gewissermaßen neu zu laufen beginnt. 157 Beispiel: Nachdem der Antrag des Verurteilten auf Reststrafaussetzung nach hälftiger Verbüßung gem. § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB erfolglos geblieben war, tritt bei ihm eine unumkehrbare schwere Erkrankung ein, die seine Lebenserwartung deutlich senkt / wirkt der Verurteilte nunmehr bei der Tataufklärung mit, was zum Wiederfinden der Beute führt / zeigt sich der Verurteilte einsichtig und entschuldigt sich beim Opfer (Beispiele nach MK-Groß, § 57 Rn. 26, § 56 Rn. 46). Dies gilt umso mehr, als es in der Zeitspanne zwischen Halbstrafen- und Zwei-Drittel-Verbüßung geringerer Anforderungen an die Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB bedarf (vgl. LG Hildesheim StV 2008, 36 [37]; LK-Hubrach, § 57 Rn. 38). 158 s. unter § 3 C. IV. 2. b) (S. 182). 159 s. unter § 3 C. IV. 2. c) (S. 184). 160 s. unter § 3 C. IV. 2. c) (S. 184).
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
Dabei ist jedoch zu beachten, dass nicht der bloße Eintritt neuer Umstände bereits für sich genommen zu einem neuen Entscheidungsgegenstand führt. Im Verwaltungsverfahren wird der Verfahrensgegenstand – jedenfalls dann, wenn das Verfahren auf Antrag des Einzelnen eingeleitet wird – ebenso wie der Streitgegenstand im Verwaltungs- und Zivilprozess bestimmt, d. h. nach dem Antrag in Verbindung mit dem konkreten Lebenssachverhalt.161 Der Verfahrensgegenstand ändert sich erst dann, wenn er auf einen wesentlich anderen Sachverhalt gestützt wird.162 Da es sich bei der auf die Fällung einer Gnadenentscheidung gerichteten Tätigkeit der Gnadenbehörden und des Gnadenträgers ebenfalls um Verwaltungstätigkeit handelt,163 liegt es nahe, den Verfahrensgegenstand im Gnadenverfahren ebenso zu bestimmen. So wird man z. B. dann, wenn der Verurteilte nach erfolglosem Verfahren nach §§ 57, 57a StGB lediglich weitere (neue) Umstände nennt, die denen des § 57 Abs. 1 S. 2 StGB ähneln, noch vom gleichen Entscheidungsgegenstand ausgehen müssen mit der Folge, dass ein abermaliges Beschreiten des gesetzlichen Wegs unangemessen wäre und damit eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch ergehen kann.164 Stützte der Verurteilte sein Gnadengesuch hingegen ursprünglich auf eine angeblich fehlerhafte Verurteilung – sodass der Gnadenträger den Verurteilten auf das vorrangige Wiederaufnahmeverfahren verwies, welches dann jedoch als unzulässig zurückgewiesen wurde –, und macht er nunmehr nachträgliche persönliche Umstände geltend, führte dies – da es sich um einen anderen Sachverhalt handelt – zur Annahme eines neuen Entscheidungsgegenstands. Dies hätte dann zur Folge, dass zunächst ein Verfahren nach §§ 57, 57a StGB anzustrengen wäre (sofern ein solches in Betracht kommt). Der Verurteilte wäre dann also wie bei der originären Gnade ausnahmsweise abermals auf den gesetzlichen Weg zu verweisen. 2. Zur Frage der Bindungswirkung Hat der Gnadenträger mangels erneuten Vorrangs des gesetzlichen Wegs nunmehr eine Sachentscheidung über das Gnadengesuch zu treffen, stellt sich also die Frage, ob (und wenn ja, inwieweit) er dabei durch die ablehnende gesetzliche Entscheidung gebunden ist. 161 Kopp / Ramsauer, § 9 Rn. 24; Obermayer / Funke-Kaiser-Wittinger, Vor § 9 Rn. 2 f. 162 Schoch / Schneider / Bier-Clausing, § 121 Rn. 56 m. w. N. 163 Soweit in der – für die Gnade allein relevanten – Strafvollstreckung nicht die Vollstreckungsgerichte tätig werden, handelt es sich um das „die Strafvollstreckung verwaltende Handeln von Behörden“ (SK-StPO-Paeffgen, Vor § 449 Rn. 9). Der Anwendungsbereich des VwVfG nach § 1 Abs. 1 wäre damit an sich eröffnet, entfällt aber gem. § 2 Abs. 3 Nr. 1 VwVfG (Stelkens / Bonk / Sachs-Schmitz, § 1 Rn. 192 ff.). 164 So also in den oben (S. 227 mit Fn. 157) genannten Beispielen.
B. Besondere Einschränkungen für Gnade229
Zunächst ist festzustellen, dass ein genereller Ausschluss des Begnadigungsrechts nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung ausscheidet. Denn zum einen ist nicht ausgemacht, dass nicht gleichwohl im Einzelfall unbillige Härten eintreten, die es im Gnadenweg zu korrigieren gilt. Versagte man nun eine Gnadenentscheidung mit Verweis auf die zuvor ablehnende gesetzliche Entscheidung, bedeutete dies eine Benachteiligung desjenigen, der eine Vergünstigung begehrt, die inzwischen gesetzlich vertypt wurde, deren Voraussetzungen aber verneint werden (keine Gnadenentscheidung), gegenüber demjenigen, für dessen Begehren von vornherein keine Vergünstigung auf gesetzlichem Weg „in Betracht kommt“ (volle Möglichkeit, dass die begehrte Vergünstigung im Gnadenweg erteilt wird). Besonders deutlich wird dies dann, wenn aufgrund der Ausgestaltung der gesetzlichen Alternativregelung das Vorbringen des Verurteilten auf dem gesetzlichen Weg nicht vollumfänglich berücksichtigt werden konnte.165 Zum anderen bedeutete ein genereller Ausschluss des Begnadigungsrechts nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung, dass der Gesetzgeber das Begnadigungsrecht einfach-gesetzlich faktisch abschaffen könnte: Sofern er auf den heute noch bestehenden Anwendungsfeldern originärer Gnade166 entsprechende gesetzliche Alternativregelungen schüfe (bzw. die bestehenden Regelungen erweiterte), wäre aufgrund des Vorrangs des Gesetzes kein Raum mehr für originäre Gnade. Dann muss der Gnade aber Raum nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung verbleiben, denn aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie des Begnadigungsrechts kann dieses nicht zur „Institution ohne Inhalt“ werden.167 Scheidet also ein genereller Ausschluss des Begnadigungsrechts aus, so stellt sich die Frage, ob infolge der ablehnenden gesetzlichen Entscheidung nicht zumindest bezüglich solcher Umstände eine Bindungswirkung besteht, über die im gesetzlichen Verfahren entschieden wurde. Zu denken wäre z. B. daran, dass die gerichtliche Bewertung eines Umstands als „durchschnittlich“ (sodass eine Strafrestaussetzung ausscheidet) der Annahme eines be165 Beispiel: Ein zu zeitiger Freiheitsstrafe Verurteilter begehrt nach Verbüßung von zwei Dritteln seiner Strafe im Gnadenweg die Aussetzung seines Strafrests zur Bewährung. Zur Begründung macht er geltend, dass die Verurteilung infolge einer Rechtsprechungsänderung nunmehr materiell-rechtlich nicht mehr im Einklang mit der BGH-Rechtsprechung stehe. Da eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB in Betracht kommt, gibt die Gnadenbehörde die Sache an das Vollstreckungsgericht weiter, welches in der Folge indes negativ entscheidet. Nähme man nun einen generellen Ausschluss der Gnade infolge der negativen gesetzlichen Entscheidung an, könnte der von dem Verurteilten geltend gemachte Umstand der Rechtsprechungsänderung – der durchaus einen Gnadenerweis rechtfertigen kann (siehe unter § 4 C. V. 1. a) bb) [S. 252]) – nicht berücksichtigt werden. 166 Hierzu im Einzelnen unter § 4 C. (S. 232 ff.). 167 s. zu diesem Aspekt bereits unter § 3 D. IV. (S. 195).
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
sonderen Grundes – der ein Abweichen vom Gesetz durch Gnade ermöglicht – durch den Gnadenträger entgegensteht.168 Dogmatischer Ansatzpunkt für eine solche Bindungswirkung könnte der Einwand Graalmann-Scheerers sein, wonach es sich um einen mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht zu vereinbarenden Missbrauch der Gnade handelte, „wenn die Gnadenbehörde, weil ihr richterliche Entscheidungen nicht gefallen …, diese im Wege der Gnade ‚korrigieren‘ wollte“.169 Allerdings kann vor dem Hintergrund, dass ein Gnadenakt nur bei einer im Einzelfall bestehenden Gesetzeshärte ergehen darf, ohnehin nicht davon gesprochen werden, dass es dem Gnadenträger gestattet ist, einen Gnadenakt zu erlassen, weil ihm die vorherige ablehnende Entscheidung „nicht gefällt“. Es ist nicht ersichtlich, wie man aus den reichlich unbestimmten „rechtsstaatlichen Grundsätzen“ zwingend auf eine Bindungswirkung schließen will. Der Gewaltenteilungsgrundsatz gebietet jedenfalls nicht, dass der Gnadenträger an die vorherige ablehnende gesetzliche Entscheidung rechtlich gebunden wäre. Denn schließlich ist es gerade die der Gnadengewalt zugewiesene Aufgabe, im Einzelfall von einer vorherigen Entscheidung abzuweichen. Dies zeigt schon der Vergleich mit originären Gnadenentscheidungen: Originäre Gnadenakte werden zwar in aller Regel aufgrund nachträglicher, d. h. nach der Entscheidung des erkennenden Gerichts eintretender Umstände ergehen. Zwingend ist dies jedoch nicht, sind Gnadenakte doch auch infolge von Fehlurteilen möglich, sei es, dass diese auf einer fehlerhaften rechtlichen Würdigung beruhen, sei es, dass die tatsächlichen Feststellungen fehlerhaft sind.170 Der Gnadenträger wird sich dann zwar kritisch mit der Entscheidung des erkennenden Gerichts auseinanderzusetzen haben – hieran gebunden ist er hingegen nicht. Wenn aber durch die Gnade von dem fehlerhaften Urteil des erkennenden Gerichts abgewichen werden kann, dann könnte dies dafür sprechen, dass eine Abweichungsmöglichkeit auch, wenn nicht sogar erst recht, bei einer – aus Sicht des Gnadenträgers – fehlerhaften nachträglichen gesetzlichen Entscheidung bestehen 168 Beispiel: Das Gericht bewertet eine Krebserkrankung des Verurteilten im Rahmen seiner Aussetzungsentscheidung als lediglich „durchschnittlichen“ Umstand (so z. B. LG Hamburg, Urteil vom 20.9.1993, 202 Js 298 / 90, mitgeteilt in BGH, Beschluss vom 13.7.1995, 5 StR 298 / 94, veröffentlicht bei Juris). Im Rahmen einer sich hieran anschließenden Gnadenentscheidung könnte dies einer Bewertung der Krebserkrankung als „außergewöhnlichen Umstand“, der ein Abweichen von der abstrakt-generellen Norm rechtfertigen könnte, entgegenstehen (Bindungswirkung). Gleiches könnte z. B. für die gerichtliche Bewertung des fortgeschrittenen Lebensalters, der Folgen der weiteren Strafvollstreckung für die von dem Verurteilten abhängige Familie oder für das Bemühen des Verurteilten um Schadenswiedergutmachung gelten. 169 s. hierzu unter § 4 B. II. (S. 225). 170 Dazu näher unter § 4 C. V. (S. 250 ff.).
B. Besondere Einschränkungen für Gnade231
muss. Denn wenn schon die in dem regelmäßig aufwendigeren Hauptverfahren zustande gekommene Entscheidung des erkennenden Gerichts den Gnadenträger nicht bindet, fragt sich, warum dies dann aber bezüglich der ablehnenden gesetzlichen Entscheidung gelten soll.171 Für eine Bindungswirkung könnte demgegenüber sprechen, dass es andernfalls zu einer Besserstellung desjenigen käme, der eine gesetzlich vertypte Vergünstigung begehrt, gegenüber demjenigen, für dessen Verlangen von vornherein keinerlei Aussicht auf eine Vergünstigung im gesetzlichen Verfahren besteht. Während nämlich ersterer durch das gesetzliche Verfahren einerseits und das – mangels Bindungswirkung nachfolgend „freie“ – Gnadenverfahren andererseits eine „doppelte Chance“ hätte, die begehrte Vergünstigung zu erlangen, müsste letzterer allein auf den Gnadenweg hoffen. Jedoch wurde bereits an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass diese Besserstellung durch die kriminalpolitisch motivierte Entscheidung des Gesetzgebers, die jeweilige Vergünstigung gesetzlich zu typisieren, sachlich begründet ist.172 Daher ist es keinesfalls so, dass die Annahme einer Bindungswirkung zur Vermeidung einer solchen Besserstellung zwingend wäre. Für die Annahme einer Bindungswirkung spricht schließlich auch nicht die Erwägung, dass andernfalls die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen durch die gesetzliche Stelle einerseits und den Gnadenträger andererseits bestünde.173 Denn zum einen handelt es sich bei dem Gedanken, sich widersprechende Entscheidungen zwischen der gesetzlichen Stelle und dem Gnadenträger zu vermeiden, nicht um ein zwingendes rechtliches Gebot, sodass sich die Frage nach der dogmatischen Grundlage für eine hieraus abgeleitete Bindungswirkung stellte.174 Zum anderen kann diesem Aspekt 171 Dies gilt jedenfalls dann, wenn das gesetzliche Verfahren nicht die gleichen Gewährleistungen wie das Hauptverfahren bietet, wie z. B. die Entscheidung über einen Strafausstand (§§ 455, 456 StPO), die ohne mündliche Verhandlung regelmäßig durch den Rechtspfleger (§ 31 Abs. 2 S. 1 RPflG) getroffen wird, und bei der auch die diesbezüglichen Rechtsbehelfe (gerichtliche Entscheidung nach § 458 Abs. 2 StPO und sich hieran ggf. anschließende sofortige Beschwerde gem. § 462 Abs. 3 StPO) ohne mündliche Verhandlung erfolgen. 172 s. unter § 3 B. IV. 6. (S. 158). 173 Beispiel 1: Die Strafvollstreckungskammer lehnt einen Antrag nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB mangels Vorliegens „besonderer Umstände“ ab, der Gnadenträger setzt daraufhin gleichwohl die Reststrafe im Gnadenweg zur Bewährung aus, weil er außergewöhnliche Umstände annimmt. Beispiel 2: Die Vollstreckungsbehörde versagt einen Strafaufschub mangels erheblichen, außerhalb des Strafzwecks liegenden Nachteils (§ 456 StPO), der Gnadenträger gewährt gleichwohl Strafaufschub im Gnadenweg. 174 Dadurch, dass es innerhalb der Gerichtsbarkeiten Instanzenzüge gibt, setzt das Gesetz schließlich gerade voraus, dass es zu sich widersprechenden staatlichen Entscheidungen kommen kann. Auch mit Blick auf den Grundsatz der Rechtssicherheit
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schon deshalb keine maßgebliche Bedeutung zukommen, weil die gesetz lichen Alternativregelungen für sich genommen ebenfalls nicht die Gefahr sich widersprechender Entscheidungen bannen. So kann etwa die Vollstreckungsbehörde später von ihren ursprünglichen Entscheidungen nach §§ 455, 456 StPO – auch bei gerichtlicher Bestätigung nach § 462 StPO – zugunsten des Verurteilten abweichen.175 Wenn aber schon insoweit keine Bindungswirkung besteht, dann mutete es verblüffend an, wenn der Gnadenträger an die in der ablehnenden Entscheidung erfolgten Bewertungen der gesetz lichen Stelle gebunden wäre. Im Ergebnis ist daher – in Übereinstimmung mit Appl –176 festzuhalten, dass im Rahmen einer Gnadenentscheidung nach zuvor ablehnender gesetzlicher Entscheidung keine weitergehenden Bindungen bestehen, als dies bei originären Gnadenentscheidungen der Fall ist. Insoweit ist Herzog zuzustimmen, wonach gegen die Entwicklung einer Gnade als „außerordent lichem Rechtsbehelf“ gegen ablehnende gesetzliche Entscheidungen „kein Kraut gewachsen“ sei.177
C. Gnade im Anwendungsbereich ausgewählter gesetzlicher Alternativregelungen Im Folgenden werden die bisher gewonnenen Ergebnisse auf das Verhältnis der Gnade zu wichtigen gesetzlichen Alternativregelungen angewendet, um so den der Gnade im Geltungsbereich dieser Regelungen verbleibenden Raum näher zu bestimmen.
I. Reststrafaussetzung zur Bewährung Von besonderer Bedeutung ist das Verhältnis der Gnade zur Reststrafaussetzung, handelt es sich bei §§ 57, 57a StGB doch um eine Materie, die als Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips ist ein Gnadenerweis nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung unproblematisch, soll durch die Rechtssicherheit doch insbesondere des Vertrauen des Bürgers in die Vorgaben des Rechts geschützt werden (vgl. Maunz / Dürig-Grzeszick, Art. 20 VII Rn. 69; BeckOK-GG-Huster / Rux, Art. 20 Rn. 181); den Verurteilten wird man aber nach einer ablehnenden Entscheidung ersichtlich nicht in seinem „Vertrauen in den Fortbestand der unbedingten Strafvollstreckung“ schützen müssen, zumal in aller Regel das Gnadenverfahren ja auf seinen Antrag hin betrieben wird, sprich er gar nicht in die weitere Strafvollstreckung „vertraut“. 175 KK-StPO-Appl, § 462 Rn. 6. Siehe bereits S. 226 mit Fn. 156. 176 s. unter § 4 B. II. (S. 224). 177 Maunz / Dürig-Herzog, Art. 60 Rn. 36 (ohne nähere Begründung).
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einst ein wichtiges (alleiniges) Feld der Gnade war. Aufgrund der unterschiedlichen gesetzlichen Ausgestaltung wird im Folgenden zwischen der Reststrafaussetzung bei zeitiger Freiheitsstrafe (§ 57 StGB) und lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB) differenziert. 1. Reststrafaussetzung bei zeitiger Freiheitsstrafe (§ 57 StGB) Das Gesetz unterscheidet zwischen der Zwei-Drittel-Aussetzung nach § 57 Abs. 1 StGB und zwei alternativen, voneinander zu unterscheidenden Fällen der Halbstrafenaussetzung (§ 57 Abs. 2 Nr. 1 und Nr. 2 StGB).178 a) Raum für originäre Gnadenentscheidungen Betrachtet man die Voraussetzungen für eine Reststrafaussetzung nach § 57 Abs. 1 bzw. § 57 Abs. 2 StGB, bleibt bei formelhafter Anwendung des Vorrangs des gesetzlichen Wegs – unter Berücksichtigung der oben gewonnenen Erkenntnisse zu seinem Inhalt –179 für originäre Gnadenentscheidungen im Bereich des § 57 StGB folgender Raum: 1. Der Verurteilte hat noch nicht wenigstens die Hälfte der verhängten Strafe verbüßt.180 2. Der Verurteilte hat zwar schon die Hälfte der verhängten Strafe verbüßt, die Freiheitsstrafe beträgt aber insgesamt nicht mehr als drei Monate.181 3. Der Verurteilte hat zwar schon die Hälfte der verhängten Strafe verbüßt, nicht aber zwei Drittel und a) die Freiheitsstrafe beträgt insgesamt nicht mehr als sechs Monate;182 178 Dabei hat die Zwei-Drittel-Aussetzung die zahlenmäßig größte Bedeutung. Im August 2016 wurde bundesweit die Reststrafe in 703 Fällen nach § 57 Abs. 1, in 63 Fällen nach § 57 Abs. 2 Nr. 1 und in 17 Fällen nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt (vgl. Statistisches Bundesamt, Bestand der Gefangenen und Verwahrten, Stichtag 31.08.2016, S. 9). 179 s. unter § 3 C. (S. 167 ff.), Zusammenfassung unter § 3 C. V. (S. 185 f.). 180 Hier fehlt es stets an den formellen Kriterien der Verbüßung der Hälfte (§ 57 Abs. 2 StGB) und von zwei Dritteln (§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB) der verhängten Strafe. 181 Hier ist stets das formelle Kriterium der Verbüßung von sechs Monaten nicht erfüllt (§ 57 Abs. 2 StGB). Ferner ist auch kein Fall denkbar, in dem der Verurteilte zwei Drittel der verhängten Strafe, mindestens jedoch zwei Monate verbüßt hat (§ 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB). 182 Hier fehlt es an den formellen Kriterien des § 57 Abs. 2 StGB (Verbüßung von sechs Monaten) und § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB (Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe).
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b) er ist kein Erstverbüßer und es ist offensichtlich, dass die nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB gebotene Gesamtwürdigung ergibt, dass keine besonderen Umstände vorliegen;183 oder c) die Freiheitsstrafe übersteigt zwei Jahre und es ist offensichtlich, dass die nach § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB gebotene Gesamtwürdigung ergibt, dass keine besonderen Umstände vorliegen.184 4. Es ist offensichtlich, dass die Reststrafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden kann.185 5. Es ist offensichtlich, dass das Gericht von einer Reststrafaussetzung gem. § 57 Abs. 6 StGB absehen wird. Die Fallgruppen 2) und 3a) sind wegen § 47 StGB nur in Ausnahmefällen möglich.186 Dass in den Fallgruppen 3b) und 3c) ein Gnadenakt praktisch zu unterbleiben hat, liegt auf der Hand: Die in § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB gebotene Gesamtwürdigung „besonderer Umstände“ ermöglicht bereits ein angemessenes Abstellen auf den Einzelfall und erfordert einen Sachverhalt, der sich vom Durchschnitt abhebt.187 Dabei sind nicht nur spezialpräventive Erwägungen relevant, sondern es können auch Sühnegesichtspunkte sowie generalpräventive Aspekte (Verteidigung der Rechtsordnung) mit einfließen,188 sodass – wie bei der Gnadenausübung auch – eine Orientierung an den Strafzwecken erfolgt. Fehlt es aus Sicht des Gnadenträgers von vornherein offensichtlich an einem solchen, sich vom Durchschnitt abhebenden Sachverhalt, greift zwar der Vorrang des auf eine Reststrafaussetzung nach § 57 StGB gerichteten Verfahrens nicht – der Gnadenträger wird indes keinen Gnadenerweis erlassen.189 183 Hier fehlt es an den formellen Kriterien des § 57 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 1 und des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB. Ferner ist das materielle Kriterium des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB offensichtlich nicht erfüllt. 184 Hier fehlt es an den formellen Kriterien des § 57 Abs. 2 Nr. 1 Alt. 2 und des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 1 StGB. Zudem ist das materielle Kriterium des § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB offensichtlich nicht erfüllt. 185 Hier ist das sowohl für § 57 Abs. 1 als auch Abs. 2 StGB relevante materielle Kriterium des § 57 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB offensichtlich nicht erfüllt. 186 Ein denkbares Anwendungsfeld für Gnade wäre hier die Reststrafaussetzung der Ersatzfreiheitsstrafe. Die Frage des Verhältnisses der Gnade zu § 57 StGB stellt sich hier aber ohnehin nur dann, wenn man die Anwendung des § 57 StGB auf Ersatzfreiheitsstrafen bejaht; siehe zu dieser strittigen Frage z. B. NK-Dünkel, § 57 Rn. 6 f. 187 MK-Groß, § 57 Rn. 26. 188 LK-Hubrach, § 57 Rn. 37 m. w. N.
C. Gnade im Anwendungsbereich235
Dass ein Gnadenakt bei offensichtlich ungünstiger Sozialprognose (Fallgruppe 4) zu unterbleiben hat, ist ebenfalls eine Selbstverständlichkeit,190 ist die weitere Strafvollstreckung hier doch im Hinblick auf die negative Spezialprävention angezeigt, sodass es an einer unbilligen Härte fehlt. Schließlich wird auch Fallgruppe 5 praktisch kaum einschlägig sein. Denn da die Ablehnung der Aussetzung gem. § 57 Abs. 6 StGB im Ermessen des Gerichts steht und durchaus Fälle denkbar sind, in denen das Verhalten des Verurteilten auf nachvollziehbaren Gründen beruht,191 ist praktisch kaum vorstellbar, dass die Reststrafaussetzung von vornherein „offensichtlich“ aufgrund von § 57 Abs. 6 StGB abgelehnt werden wird. Praktisch beschränkt sich damit der Raum für originäre Gnadenentscheidungen bei auf Reststrafaussetzung gerichteten Gesuchen auf die Zeitspanne vor dem Halbstrafenzeitpunkt.192 Beispiel: Der sich reuig und schuldeinsichtig zeigende Verurteilte (Erstverbüßer) hat sich bereits als Freigänger bewährt,193 nun ist seine Ehefrau unheilbar erkrankt und hat nur noch wenige Monate zu leben, er selbst hat den Halbstrafenzeitpunkt indes noch nicht erreicht. Allgemein gesprochen ist ein Gnadenakt hier denkbar bei einer Anhäufung von Gesichtspunkten, die sich im Rahmen der Strafzumessung positiv für den Verurteilten ausgewirkt hätten, allerdings erst nachträglich eintreten. Denn derlei Umstände können vor Ablauf des Halbstrafenzeitpunkts nach geltendem Recht nicht berücksichtigt werden, da eine Wiederaufnahme allein zwecks Änderung der Strafzumessung gem. § 363 Abs. 1 StPO unzulässig wäre.194
189 Anders offenbar Klein, Gnade, S. 11, wonach die Gnade im Vergleich zu § 57 StGB „alle Umstände weit umfassender heranziehen [könne] als eine ausschließlich auf Schuldausgleich oder reine Spezialprävention abgestellte Würdigung“. Dies mag in den (seltenen) Fällen politisch motivierter Gnadenentscheidungen (dazu unter § 4 A. II. 2. [S. 212 ff.]) stimmen; im Übrigen kann besonderen Umständen des Einzelfalls nach dem Halbstrafenzeitpunkt hingegen durch § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB hinreichend Rechnung getragen werden. 190 s. auch Müller-Dietz, in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (168). 191 Vgl. MK-Groß, § 57 Rn. 43; LK-Hubrach, § 57 Rn. 62. 192 So im Ergebnis auch Klein, Gnade, S. 40. Anders aber – offenbar unter Verkennung von § 57 Abs. 2 StGB – Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 61, wonach vor Verbüßung von zwei Dritteln der verhängten Strafe „nur die Möglichkeit einer Begnadigung“ bestehe. 193 Dazu KK-StPO-Appl, § 454 Rn. 41. 194 s. dazu unter § 4 C. V. 1. a) cc) (S. 255) sowie Pflieger, ZRP 2008, 84 (86) mit weiterem Beispiel; siehe auch Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 40 f. („wesentliche[r] Aufgabenbereich der Gnadeninstanz“); BeckOK-GG-Pieper, Art. 60 Rn. 11.1.
236
§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
b) Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. § 57 StGB Hat das Gericht eine Reststrafaussetzung gem. § 57 StGB abgelehnt, so folgen hieraus zwar keine besonderen rechtlichen Schranken für eine sich anschließende Gnadenentscheidung.195 Bei gleichbleibendem Sachverhalt ist praktisch jedoch nur schwer denkbar, dass der Gnadenträger einen Gnadenakt erlässt. Denn da bei der Gnadenentscheidung der Sache nach ebenfalls eine Gesamtwürdigung i. S. v. § 57 Abs. 2 Nr. 2 StGB vorzunehmen ist, bedürfte es insoweit schon einer anderen Würdigung durch den Gnaden träger. Erfolgversprechender wäre ein Gnadenverfahren hingegen dann, wenn neue Umstände eintreten, die nunmehr die Annahme eines besonders gelagerten Ausnahmefalls und damit einen Gnadenakt rechtfertigen. Bedeutung kann dies insbesondere dann erlangen, wenn das Gericht eine Sperrfrist (§ 57 Abs. 7 StGB) gesetzt hat, während der eine Reststrafaussetzung nach § 57 StGB grundsätzlich ausscheidet.196 2. Reststrafaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe (§ 57a StGB) Auch wenn das Begnadigungsrecht bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten durch Schaffung des § 57a StGB nicht abgeschafft werden sollte,197 hat es hierdurch im Laufe der Zeit ganz erheblich an praktischer Bedeutung verloren.198 Während Begnadigungen bei „Lebenslänglichen“ vor Inkrafttreten des § 57a StGB zum 1.5.1982 ohnehin die Regel waren, so ist bemerkenswert, dass zunächst auch noch nach dem Jahr 1982 Gnadenakte gegenüber „Lebenslänglichen“ in nicht unerheblichem Umfang gewährt wurden.199 Im Zeitraum von 2002 bis 2006 erfolgten hingegen lediglich sieben Entlassungen von zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten im Gnadenweg,200 im Jahr 2013 keine einzige,201 im Jahr 2014 nur eine.202 195 s.
unter § 4 B. III. 2. (S. 228 ff.). „wesentlich veränderten Umständen“ wird z. T. davon ausgegangen, dass das Gericht an eine zuvor gesetzte Sperrfrist nicht gebunden ist (vgl. LK-Hubrach, § 57 Rn. 65; Wittschier, NStZ 1986, 112 [113]). Folgt man dem, bedürfte es der Gnade dann zwar nicht zwingend. Sofern dann der Vorrang des Gesetzes (Verfahren nach § 57 Abs. 1 StGB) nicht erneut greift (dazu bereits unter § 4 B. III. 1. [S. 225 ff.]), wäre gleichwohl der Erlass eines Gnadenakts möglich. 197 s. insbesondere unter § 3 B. IV. 6. (S. 157). 198 Kett-Straub, GA 2007, 332 (344); B.-D. Meier, Strafrechtliche Sanktionen, S. 98 f. 199 Zeitraum 1945–1975: bundesweit 677 Gnadenakte; Zeitraum 1982–1989: bundesweit immerhin 67 Gnadenakte, davon 22 vor Ablauf der Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren (Weber, Die Abschaffung der lebenslangen Freiheitsstrafe, S. 57). 200 Was 3,7 % der Entlassungen unter „Lebenslänglichen“ ausmachte (NK-Dünkel, § 38 Rn. 36). 196 Bei
C. Gnade im Anwendungsbereich237
a) Raum für originäre Gnadenentscheidungen Dabei wäre unter Zugrundelegung des Vorrangs des Gesetzes (hier: Verfahren nach § 57a StGB) – zumindest theoretisch – folgender Raum für originäre Gnadenentscheidungen: 1. Der Verurteile hat noch nicht 15 Jahre der Strafe verbüßt. 2. Es ist offensichtlich, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung gebietet. 3. Es ist offensichtlich, dass die Reststrafaussetzung unter Berücksichtigung des Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit nicht verantwortet werden kann. 4. Es ist offensichtlich, dass das Gericht von einer Reststrafaussetzung gem. § 57a Abs. 1 S. 2 i. V. m. § 57 Abs. 6 StGB absehen wird. In Fallgruppe 3 scheidet ein Gnadenakt jedoch ersichtlich aus. Auch die Konstellation in Fallgruppe 4 wird praktisch kaum eintreten. Insoweit gilt das zu § 57 StGB Gesagte.203 In Fallgruppe 2 wird ein Gnadenakt ebenfalls zu unterbleiben haben. Denn selbst wenn das erkennende Gericht die besondere Schwere der Schuld festgestellt hat, ermöglicht die erforderliche spätere Prüfung des Vollstreckungsgerichts, ob die besondere Schwere der Schuld „die weitere Vollstreckung gebietet“, dem nachträglichen Eintritt von Umständen wie positiver Persönlichkeitsveränderung des Verurteilten im Vollzug, kritischem Gesundheitszustand, Sühneanstrengungen und Wiedergutmachungsbemühungen gegenüber Angehörigen des Opfers Rechnung zu tragen (sog. „vollstreckungsrechtliche Gesamtwürdigung“).204 Das bedeutet: Bei der Prüfung, ob anstelle der Gnade eine Reststrafaussetzung nach § 57a StGB in Betracht kommt, hat der Gnadenträger bei einem Verurteilten, bei dem die besondere Schwere der Schuld festgestellt wurde, mit zu berücksichtigen, dass nachträgliche Umstände dazu führen können, dass die weitere Vollstreckung nicht geboten ist und daher – trotz besonderer Schuldschwere – gleichwohl ein Verfahren nach § 57a StGB Aussicht auf Erfolg haben kann. Ist aus seiner Sicht hingegen offensichtlich, dass die besondere Schwere der Schuld die weitere Vollstreckung gebietet (mit anderen Worten: fehlt es aus seiner Sicht evident an nachträglichen Umständen, die zu einer Strafrestaussetzung gem. § 57a StGB trotz besonderer Schuldschwere führen können), wird es auch an einer unbilligen Härte fehlen und damit ein Gnadenerweis ausscheiden. 201 Dessecker,
Die Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen (2013), S. 45. Die Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafen (2014), S. 45. 203 s. unter § 4 C. I. 1. a) (S. 235). 204 LK-Hubrach, § 57a Rn. 17 ff. Siehe bereits S. 170 mit Fn. 344. 202 Dessecker,
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
Daher ist letztlich auch hier – wie bei der Reststrafaussetzung bei zeitiger Freiheitsstrafe – der für originäre Gnadenakte verbleibende Raum praktisch auf den Zeitraum vor Erreichung der Mindestverbüßungsdauer beschränkt (Fallgruppe 1). Zu denken ist hier an Fälle, in denen ein Gefangener z. B. wegen Krankheit oder hohen Alters nur noch eine kurze Lebenserwartung besitzt.205 Denn in Relation zur Lebenserwartung trifft den Verurteilten dann die Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren in besonderem Maße.206 Raum für Gnade kann auch dann bestehen, wenn neben der lebenslangen Freiheitsstrafe eine zeitige Freiheitsstrafe zu vollstrecken ist, oder gar mehrere lebenslange Freiheitsstrafen zu vollstrecken sind, und die Voraussetzungen einer Gesamtstrafenbildung nicht vorliegen.207 Eine Entscheidung über die Reststrafaussetzung kann in diesem Fall erst dann erfolgen, wenn über die Aussetzung sämtlicher Strafreste gleichzeitig entschieden werden kann (§ 454b Abs. 3 StPO). Bei mehreren lebenslangen Freiheitsstrafen hat dies zur Folge, dass dann für jede der lebenslangen Freiheitsstrafen im Rahmen der Anschlussvollstreckung die Mindestverbüßungsdauer von 15 Jahren einzuhalten ist.208 Im Einzelfall kann dies dazu führen, dass die verfassungsrechtlich gewährleistete „konkrete und grundsätzlich auch realisierbare Chance…, zu einem späteren Zeitpunkt die Freiheit wiedererlangen zu können“209, faktisch nicht besteht.210 Vor diesem Hintergrund kann gerade bei fortgeschrittenem Alter des Verurteilten die Angemessenheit der faktischen Vollstreckung bis ans Lebensende verneint und eine unbillige Härte angenommen werden, sodass Raum für Gnade ist.211 Schließlich wäre an Gnade auch dann zu denken, wenn der Verurteilte nachträglich Umstände geltend macht, welche die fehlerhafte Verneinung von § 21 StGB durch das erkennende Gericht nahelegen – scheidet aufgrund 205 MK-Groß, § 57a Rn. 2; Mysegades, Zur Problematik der Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, S. 184. 206 Vgl. OLG Hamburg MDR 1984, 163; LK-Hubrach, § 57a Rn. 6; Laubenthal, JA 1984, 471 (472). 207 Beispiel nach Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, § 57a Rn. 11a: Der „Lebenslängliche“ verübt im Strafvollzug einen weiteren Mord. 208 MK-Groß, § 57a Rn. 27. 209 BVerfGE 45, 187 (245). 210 Lackner / Kühl-Heger, § 57b Rn. 8. Nach BVerfGE 72, 105 (116 f.) dürfe zudem die erforderliche Aussicht auf Wiedererlangung der Freiheit nicht auf einen „von Siechtum und Todesnähe gekennzeichneten Lebensrest“ reduziert werden. 211 So im Ergebnis auch LK-Hubrach, § 57b Rn. 7; Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe, S. 121; Mysegades, Zur Problematik der Strafrestaussetzung bei lebenslanger Freiheitsstrafe, S. 182; Pollähne / Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, Rn. 461.
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von § 363 Abs. 2 StPO hier doch eine Wiederaufnahme aus.212 Dass eine unbillige Härte in einem solchen Fall vorliegen kann, folgt aus dem Umstand, dass das Maß der verwirkten Schuld hier die Vollstreckung lebenslanger Freiheitsstrafe in aller Regel213 nicht rechtfertigt. Zu bedenken ist schließlich, dass in Ausnahmefällen Gnadenentscheidungen auch aufgrund anderer Umstände als den in § 57a Abs. 1 StGB genannten ergehen können – etwa aus innenpolitischen Gründen.214 So wurde die ehemalige RAF-Terroristin Angelika Speitel im Frühjahr 1989 nach gut elf Jahren Inhaftierung vom damaligen Bundespräsidenten Richard v. Weizsäcker begnadigt. Die von v. Weizsäcker eingeholten Stellungnahmen stimmten darin überein, dass sich Speitel zum damaligen Zeitpunkt bereits seit Jahren nachhaltig vom Terrorismus abgewandt hatte und ihre Tat215 zutiefst bereute.216 Entgegen der derzeitigen Praxis, wonach das Begnadigungsrecht bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten faktisch vollständig durch § 57a StGB verdrängt wurde, kann also im Einzelfall durchaus Raum für originäre Gnade bestehen. b) Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. § 57a StGB Lehnt die Strafvollstreckungskammer eine Reststrafaussetzung gem. § 57a StGB ab, wird sich in der Praxis regelmäßig auch der Gnadenträger zurückhaltend gegenüber einer Begnadigung zeigen.217 Liegt der Grund für die ablehnende Entscheidung der Strafvollstreckungskammer darin, dass diese die weitere Vollstreckung wegen der besonderen Schuldschwere für geboten 212 Vgl. auch Kuhn, in: Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, X. A. 14. Anm. Nr. 12c) (3). 213 Steht lebenslange Freiheitsstrafe im Raum, werden an die Ablehnung des § 21 StGB besonders hohe Anforderungen gestellt, sodass es i. d. R. zur Verhängung einer zeitigen Freiheitsstrafe (§ 49 Abs. 1 Nr. 1 StGB) kommt (MK-Streng, § 21 Rn. 37 m. w. N.). 214 Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (126: „politische Befriedung oder Versöhnung“). Siehe bereits unter § 4 A. II. 2. (S. 212 ff.). 215 Speitel wurde im Jahr 1978 festgenommen, nachdem sie sich an der Tötung eines Polizeibeamten beteiligt hatte, und vom OLG Düsseldorf zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt. 216 Vgl. „Bundespräsident begnadigt Angelika Speitel“, Die Welt vom 13.3.1989 (Nr. 61), S. 2; „Sie hat ihre Tat aufrichtig bereut“, Der Spiegel vom 13.3.1989 (Nr. 11), S. 8 ff. 217 Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 98. Hierauf deutet auch die heute geringe Zahl von Begnadigungen gegenüber zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten hin.
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
hält (§ 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 2 StGB), hat sie in dieser Entscheidung zusätzlich darüber zu befinden, „bis wann die Vollstreckung … unter dem Gesichtspunkt der besonderen Schwere der Schuld fortzusetzen ist“218. Denkbar wäre, dass sich innerhalb der dabei festgelegten Restlaufzeit neue Umstände ergeben, welche die weitere Strafvollstreckung als unbillige Härte erscheinen lassen und damit Anlass für einen Gnadenakt geben.219 Dies gilt insbesondere mit zunehmendem zeitlichen Abstand, da dann die Situation eintreten kann, dass die Entscheidung der Strafvollstreckungskammer der aktuellen Situation des Verurteilten nicht mehr gerecht wird.220 Auch wenn bei grundlegender Veränderung von insoweit relevanten Umständen eine nachträgliche Abkürzung der Mindestverbüßungsdauer durch die Strafvollstreckungskammer möglich ist,221 wäre hier – da dann der Vorrang des Verfahrens nach § 57a StGB in der Regel nicht abermals greift222 – Raum für Gnade. Ähnlich liegt es, wenn die Strafvollstreckungskammer gem. § 57a Abs. 4 StGB eine Sperrfrist von bis zu zwei Jahren gesetzt hat, innerhalb derer ein erneuter Aussetzungsantrag des Verurteilten unzulässig ist.223
II. Strafausstand nach §§ 455, 456 StPO Die §§ 455, 456 StPO ermöglichen einen Strafausstand aus persönlichen Gründen.224 § 455 StPO regelt dabei den Strafausstand wegen gesundheitsbedingter Vollzugsuntauglichkeit. § 455 Abs. 1 bis 3 betreffen den Strafaufschub (d. h. den Strafausstand vor Beginn des Vollzugs), § 455 Abs. 4 die nachträgliche Unterbrechung des Vollzugs (Strafunterbrechung). Demgegen218 BVerfGE
86, 288 (331). Begnadigung und Delegation, S. 61. 220 Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 (126). 221 OLG Bamberg BeckRS 2013, 00402; LK-Hubrach, § 57a Rn. 36; Pollähne / Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, Rn. 459 m. w. N. Anders Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 61. 222 s. unter § 4 B. III. 1. (S. 225 ff.). 223 Kett-Straub, Die lebenslange Freiheitsstrafe, S. 121. Anders aber Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 324 f., wonach sich während der Sperrfrist i. S. v. § 57a Abs. 4 StGB Gnadenakte generell verböten und „der Vorrang der gerichtlichen Entscheidung gegenüber einem Gnadengesuch zeitlich bis nach ihrem Ablauf gestreckt“ werde. Dem muss entgegengetreten werden: Auch wenn der Gnadenträger i. d. R. eine durch die Strafvollstreckungskammer gesetzte Sperrfrist respektieren wird (Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 98), mag dies seine (ggf. politische) Entscheidung sein – de lege lata ist es ihm jedoch nicht verwehrt, bei Vorliegen einer im Einzelfall bestehenden unbilligen Härte aufgrund neu eintretender besonderer Umstände – auch und gerade innerhalb der Sperrfrist – einen Gnadenakt zu erlassen. 224 s. zur Entstehungsgeschichte der Vorgängernormen (§§ 487, 488 RStPO) unter § 1 B. II. 2. a) (S. 42). 219 Böllhoff,
C. Gnade im Anwendungsbereich241
über regelt § 456 StPO sonstige persönliche Härtefälle. Die Norm ermöglicht allein einen Strafaufschub225 und ist – im Gegensatz zu § 455 StPO, wo die Dauer vom Wiedereintritt der Vollzugstauglichkeit abhängt226 – auf eine Höchstdauer von vier Monaten begrenzt. Während § 455 StPO allein auf Freiheitsstrafen Anwendung findet, gilt § 456 StPO auch im Übrigen.227 1. Raum für originäre Gnadenentscheidungen Auch im Gnadenweg ist die Gewährung von Strafausstand möglich.228 Unter Zugrundelegung des Vorrangs des Verfahrens nach §§ 455, 456 StPO bleibt für originäre Gnadenentscheidungen, durch welche Strafausstand gewährt wird, folgender Raum: 1. Die Strafvollstreckung hat noch nicht begonnen und a) es ist offensichtlich, dass weder eine gesundheitsbedingte Vollzugsuntauglichkeit gegeben ist noch dem Verurteilten oder seiner Familie durch die sofortige Vollstreckung erhebliche, außerhalb des Strafzwecks liegende Nachteile erwachsen; oder b) der Verurteilte begehrt Vollstreckungsaufschub aus anderen als gesundheitlichen Gründen über die Dauer von vier Monaten hinaus. 2. Die Strafvollstreckung hat bereits begonnen und es ist offensichtlich keine gesundheitsbedingte Vollzugsuntauglichkeit i. S. v. § 455 Abs. 4 StPO gegeben.229 225 s.
bereits unter § 4 A. II. 1. a) bb) (S. 208 mit Fn. 65). § 455 Rn. 2. 227 D. h. bei einer besonderen Vollstreckung bedürftigen Nebenstrafen und Nebenfolgen sowie bei Maßregeln mit Ausnahme der Sicherungsverwahrung; für das Berufsverbot ist indes § 456c Abs. 2 und 3 StPO spezieller, bei Geldstrafen § 459a StPO (LR-Graalmann-Scheerer, § 456 Rn. 1). Zur Zuständigkeit für die Entscheidungen nach §§ 455, 456 StPO – Vollstreckungsbehörde (§ 451 StPO) unter weitgehender Übertragung an den Rechtspfleger – siehe bereits unter § 3 B. IV. 5. c) (S. 154 f. mit Fn. 284). 228 In den Gnadenordnungen wurden hierzu z. T. detaillierte Regelungen getroffen, welche positive Voraussetzungen für einen gnadenweisen Strafausstand vorsehen (z. B. „besondere Nachteile“ infolge des sofortigen und ununterbrochenen Vollzugs, „die über den mit der Vollstreckung in aller Regel verbundenen Eingriff in die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse hinausgehen“ – so Nr. 31.1 S. 1 GnORP) und / oder Negativkriterien enthalten (z. B. dass „überwiegende Gründe die alsbaldige Vollstreckung oder die Fortdauer des Vollzugs erfordern“, Nr. 31.1 S. 2 GnO-RP). Überblick hierzu bei Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 55 ff. 229 Zu beachten ist dabei, dass Strafausstand nach § 455 Abs. 4 bzw. § 456 StPO dann ausgeschlossen ist, wenn die öffentliche Sicherheit entgegensteht. Für § 455 Abs. 4 ist dies ausdrücklich in § 455 Abs. 4 S. 2 StPO normiert; für § 456 StPO (wo dieser Ausschlussgrund lediglich in § 456 Abs. 3 StPO anklingt) gilt jedoch 226 Meyer-Goßner / Schmitt-Schmitt,
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
In Fallgruppe 1a) wird ein gnadenweiser Strafaufschub selten sein. Denn der Begriff des „erheblichen Nachteils“ in diesem Sinne wird als deckungsgleich mit dem der „unbilligen Härte“ angesehen.230 Zu denken wäre daher allein an Fälle, in denen der Nachteil einer anderen Person als der des Verurteilten oder eines Familienangehörigen droht, also etwa dem Arbeitgeber, der den Verurteilten vorübergehend nicht entbehren kann,231 der Lebensgefährtin des Verurteilten oder deren Kindern.232 In der Praxis relevanter sind Gnadenfälle in Fallgruppe 1b), d. h. in solchen Konstellationen, in denen der Verurteilte Strafaufschub über den in § 456 Abs. 2 StPO genannten Zeitraum von vier Monaten hinaus begehrt,233 sofern der Grund hierfür zwar nur vorübergehend ist, aber über diese zeitliche Grenze hinaus andauert.234 Beispiel: Der Verurteilte wird in fünf Monaten seine Berufsausbildung abschließen.235 Auch in Fallgruppe 2 ist Raum für einen Strafausstand im Gnadenweg. Ein Beispiel wäre etwa die bevorstehende Geburt eines Kindes des Verurteilten, sodass die Ehefrau kurzfristig nicht dazu imstande ist, die gemeinsamen Kinder zu betreuen und auch sonst keine Betreuungsmöglichkeit besteht; Gleiches gilt bei einer kurzfristigen Erkrankung von Familienangehörigen und dadurch bedingten Schwierigkeiten bei der Kinderbetreuung.236 Denkbar wäre auch die gnadenweise Anordnung der Strafvollstreckung in Schüben nichts anderes, siehe Volckart, NStZ 1982, 496 (498). D. h. wäre die öffentliche Sicherheit infolge des Strafausstands offensichtlich gefährdet (bestünde die Gefahr der Begehung neuer schwerwiegender Straftaten oder Fluchtgefahr, siehe LR-GraalmannScheerer, § 455 Rn. 22), käme ein Strafausstand nach § 455 Abs. 4 oder § 456 StPO von vornherein nicht in Betracht, mit der Folge, dass der Vorrang einer Entscheidung nach §§ 455, 456 StPO nicht griffe. Da dann gleichwohl die negative Spezialprävention die ununterbrochene Vollstreckung erforderte und damit dem Erlass eines Gnadenakts ersichtlich entgegenstünde, wurde auf eine Aufnahme dieses Ausschlussgrundes in die hier genannten Fallkonstellationen verzichtet. 230 Vgl. LR-Graalmann-Scheerer, § 456 Rn. 1; Heimann, StV 2001, 54 (55) – wenn auch jeweils mit Verweis auf den Begriff der „unbilligen Härte“ i. S. v. § 459f StPO und nicht in dem oben (§ 4 A. II. 1. b) [S. 211]) definierten Sinn. 231 Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 22; Heimann, StV 2001, 54 (55). 232 Volckart / Pollähne / Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, 4. Auflage 2008, Rn. 83. 233 Sei es, weil von vornherein ein Aufschub über vier Monate hinaus begehrt wird, sei es, weil im Anschluss an einen nach § 456 StPO gewährten Aufschub eine – über die Grenze des § 456 Abs. 2 StPO hinaus dann nur im Gnadenweg mögliche – Verlängerung angestrebt wird. 234 Vgl. Krug, in: MAH Strafverteidigung, § 24 Rn. 199. 235 Vgl. Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 79. 236 s. zu diesem Beispielsfall bereits unter § 4 A. II. 1. a) bb) (S. 208). Vgl. auch § 27 Abs. 1 S. 1 GnO-BY: Ermächtigung der JVA-Leitung, „die Vollstreckung
C. Gnade im Anwendungsbereich243
(laufend wiederholte Unterbrechung).237 Beispiel: Der Verurteilte beantragt im Gnadenweg, dass nach jeweils drei Wochen Vollzug eine Strafunterbrechung von einer Woche eintreten soll und begründet dies damit, dass er nur dadurch seine wirtschaftliche Existenz als Selbständiger aufrechterhalten könne.238 Ferner wäre auch bei einer Anschlussvollstreckung – auch hier findet § 456 StPO nach h. M. keine Anwendung –239 an eine gnadenweise Strafunterbrechung aus besonderen persönlichen Gründen zu denken.240 Schließlich ist zu beachten, dass die vorstehenden Ausführungen zu dem der Gnade verbleibenden Raum unter dem Vorbehalt stehen, dass nicht nach einer anderen Vorschrift Strafausstand in Betracht kommt241 und auch die Voraussetzungen für eine Strafvollzugslockerung, die dem Ziel des Gnadengesuchs ebenfalls entspricht,242 nicht vorliegen. Heimann weist darauf hin, dass die Chancen auf gnadenweisen Strafausstand in der Praxis nicht so aussichtslos sind, „wie man das gemeinhin annimmt“.243 von zeitigen Freiheitsstrafen [im Gnadenweg] widerruflich zu unterbrechen, wenn ein Mitglied der Familie des Strafgefangenen schwer erkrankt oder gestorben ist…“ 237 § 456 StPO ist in diesem Fall nicht anwendbar (LR-Graalmann-Scheerer, § 456 Rn. 3). 238 Fall nach OLG Hamburg NJW 1969, 671. 239 Volckart / Pollähne / Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, Rn. 381. 240 Ob in den beiden letztgenannten Fällen ein entsprechender Gnadenakt kriminalpolitisch sinnvoll wäre, steht auf einem anderen Blatt. Da der Gnadenträger bei seiner Gnadenentscheidung die Strafzwecke zu wahren hat (siehe unter § 4 A. IV. [S. 210]), kann er diese Frage jedenfalls nicht völlig ausklammern. Entgegenstehen wird dieser Aspekt einem Gnadenakt indes für sich genommen i. d. R. nicht, betrifft die Frage der kriminalpolitischen Sinnhaftigkeit doch insbesondere den Zweck der positiven Spezialprävention, welcher in diesen Fällen ja vielfach gerade durch den Gnadenakt ebenfalls verfolgt wird (so auch in dem obigen Beispiel der laufend wiederholten Unterbrechung zwecks Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Existenz). 241 Vgl. hierzu die speziellen Regelungen in § 47 Abs. 2 StPO (Wiedereinsetzung), § 360 Abs. 2 StPO (Wiederaufnahme), § 456a StPO (Auslieferung), § 456c StPO (Berufsverbot), § 458 Abs. 3 S. 1, 2. HS StPO (gerichtliche Entscheidung i. S. v. § 458 Abs. 1 StPO), § 459a StPO (Zahlungserleichterungen) und § 459f (Ersatzfreiheitsstrafe). 242 Insbesondere gem. §§ 13, 35 StVollzG bzw. den inzwischen ergangenen landesgesetzlichen Bestimmungen. Vgl. auch § 11 Abs. 2 S. 1 GnO-NI: „Gnadengesuche um Strafunterbrechung sind darauf zu prüfen, ob der Zweck durch Vollzugsurlaub erreicht werden kann.“ Nr. 9.1 S. 2 GnO-RP: „Bei Gesuchen um Strafunterbrechung ist insbesondere zu prüfen, ob Ausführung, Ausgang, Freigang oder Urlaub in Betracht kommt.“ 243 Heimann, StV 2001, 54 (58). Vgl. auch Volckart, NStZ 1982, 496 (497: „besonders umfangreiche[r] Teil der Gnadenpraxis“).
244
§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
2. Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. §§ 455, 456 StPO Nach zuvor ablehnender Entscheidung gem. §§ 455, 456 StPO – und sich hieran anschließendem erfolglosen Antrag auf gerichtliche Entscheidung gem. § 458 Abs. 2 StPO244 – wird ein Gnadengesuch selten Erfolg haben.245 Da inzwischen geklärt ist, von welchem Zeitpunkt an die viermonatige Dauer i. S. d. § 456 Abs. 2 StPO zu berechnen ist,246 wird in der Praxis heute auch kaum die Situation eintreten, dass ein Antrag auf Strafaufschub nach § 456 StPO an der formellen Voraussetzung der Dauer von unter vier Monaten scheitert – mit der Folge, dass es zu einer ablehnenden Entscheidung der Vollstreckungsbehörde kommt, obwohl womöglich eine unbillige Härte vorliegt. Praktisch bleiben daher für Gnadenakte auch hier nur solche Fälle übrig, in denen neue Umstände eintreten, die nunmehr die Annahme eines besonderen Ausnahmefalls und damit den Erlass eines Gnadenakts rechtfertigen.
III. Strafvollzugslockerungen Im Strafvollzugsrecht wird die „Verdrängung der Gnade“ besonders deutlich, war doch vor Inkrafttreten des StVollzG zum 1.1.1977 die Gewährung von Vollzugslockerungen und Urlaub allein im Gnadenweg möglich.247 Nach Schaffung des StVollzG kann die Gnade selbstverständlich weiterhin nachrangig angewendet werden. Zu denken wäre hier an sämtliche den Inhaftierten begünstigende Maßnahmen, wie insbesondere die Gewährung von Hafturlaub, wenn die nach dem jeweiligen (Landes‑)Gesetz etwaig vorgesehene Obergrenze von Hafturlaubstagen bereits ausgeschöpft ist.248 Die praktische Relevanz von Gnadenakten im Bereich des Strafvollzugsrechts hat indes stark abgenommen, was auch in den Gnadenordnungen zum Ausdruck kommt: Sahen vor Schaffung des StVollzG die Gnadenordnungen zum Teil spezielle Regelungen für Vollzugslockerungen und Hafturlaub vor,249 beinhalten die Gnadenordnungen heute zwar (weiterhin) zum Teil detaillierte Re244 Vgl. Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 22 mit Fn. 36; hierzu bereits unter § 4 B. III. 1. (S. 226 mit Fn. 155). 245 Volckart / Pollähne / Woynar, Verteidigung in Vollstreckung und Vollzug, 4. Auflage 2008, Rn. 83. 246 Urteilsrechtskraft, Ausspruch des Aufschubs durch die Vollstreckungsbehörde, Zugang der Ladung zum Strafantritt oder in der Ladung vorgesehener Tag des Strafantritts? Siehe zu dieser einstigen Kontroverse, die nach inzwischen ganz h. M. zugunsten des letzteren Zeitpunkts zu entscheiden ist, Heimann, StV 2001, 54 (55). 247 s. bereits unter § 1 E. II. 4. (S. 70). 248 Laubenthal, Strafvollzug, Rn. 855; vgl. auch Walter, Strafvollzug, Rn. 369.
C. Gnade im Anwendungsbereich245
gelungen etwa zur gnadenweisen Strafaussetzung zur Bewährung, zum Strafausstand oder zur vorzeitigen Verkürzung der Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis – an Regelungen zu gnadenweisen Strafvollzugslockerungen und Hafturlaub fehlt es hingegen.250 Auf eine nähere Darstellung des der Gnade neben den strafvollzugsrechtlichen Vergünstigungen verbleibenden Raums wird daher verzichtet.
IV. Fahrverbot und Entziehung der Fahrerlaubnis Wie bereits erwähnt, findet das Begnadigungsrecht auch auf die Nebenstrafe (Fahrverbot) und nach h. M. auf Maßregeln der Besserung und Sicherung Anwendung.251 Praktisch relevant ist die Gnade, wenn es darum geht, die Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis (§ 69a StGB) oder Fahrverbote (§ 44 StGB) aufzuheben oder zu verkürzen.252 1. Raum für originäre Gnadenentscheidungen a) Entziehung der Fahrerlaubnis Für originäre Gnadenentscheidungen, welche die Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis verkürzen oder aufheben, bleibt unter Zugrundelegung des Vorrangs des Gesetzes (Verfahren nach § 69a Abs. 7 StGB) folgender Raum: 1. Es ist offensichtlich, dass Grund zur Annahme gegeben ist, dass der Verurteilte zum Führen von Kraftfahrzeugen weiterhin ungeeignet ist. 2. Gegen den Täter wurde in den letzten drei Jahren vor der Tat bereits eine Sperre angeordnet und die neue Sperre hat noch kein Jahr gedauert. 3. Gegen den Täter wurde in den letzten drei Jahren vor der Tat keine Sperre angeordnet und die Sperre hat noch keine drei Monate gedauert. In Fallgruppe 1 scheiden Gnadenakte offensichtlich aus. Der Raum, welcher der originären Gnade verbleibt, betrifft damit das Nichtvorliegen der 249 Vgl. insbesondere §§ 30–30e GnO-HE (Urlaub, Freigang, Ausgang) und § 32 GnO-SH in der im Jahr 1976 gültigen Fassung (abgedruckt bei Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, 1. Aufl. 1976, S. 223 ff., 306). 250 Überholt daher A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 157 f. Für nach §§ 63, 64 StGB Untergebrachte regelt § 37 GnO-NI die Gewährung von Kurzurlaub; insoweit besteht ein Vorrang des Verfahrens nach § 15 MVollzG-NI. 251 s. unter § 2 A. (S. 90 mit Fn. 8, 12). 252 Besondere Verwaltungsvorschriften hierzu gibt es in Hessen (§§ 26, 27 GnOHE) und Thüringen (§§ 27, 28 GnO-TH).
246
§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
Mindestdauer (Fallgruppe 2: ein Jahr; Fallgruppe 3: drei Monate). Gnadenakte sind dann auf besondere Einzelfälle beschränkt, in denen die gesetzliche Mindestdauer ausnahmsweise als unbillige Härte253 erscheint. Diese allgemein bei Gnadenakten bestehende Voraussetzung254 sei hier eigens betont, werden doch nach der VwV Nachschulung Gnadenakte nach Teilnahme an Nachschulungsprogrammen aus Gründen des Vertrauensschutzes gewährt, obwohl offenbar kein besonders gelagerter Einzelfall vorausgesetzt wird.255 Ein Anwendungsfall für einen Gnadenerweis ist vielmehr erst dann gegeben, wenn Umstände vorliegen, die den Einzelfall von den bereits durch § 69a Abs. 7 StGB geregelten Fällen besonders abheben. Beispiel: Der erstmals wegen Trunkenheitsfahrt Verurteilte (BAK: 1,1‰) nimmt kurz nach Rechtskraft der Verurteilung an einem Nachschulungskurs teil, zugleich trifft ihn die verhängte Sperrfrist deutlich stärker als bei Urteilsfällung gedacht, etwa weil ihm nunmehr infolge der Fahrerlaubnisentziehung ein Arbeitsplatzverlust droht, welcher voraussichtlich zu einer längerfristigen Arbeitslosigkeit führt, und der Verurteilte zugleich Alleinverdiener in seiner Familie ist.256 Insbesondere bei Berufskraftfahrern ist auch im Gnadenweg (wie nach dem Gesetz gem. § 69a Abs. 2 StGB) eine Beschränkung der Verkürzung bzw. Aufhebung der Sperrfrist auf bestimmte Kraftfahrzeuge möglich.257 b) Fahrverbot Bei nach § 44 StGB verhängten Fahrverboten fehlt es an einer gesetzlichen Alternativregelung. Originäre Gnadenentscheidungen können daher ohne Beachtung eines gesetzlichen Vorrangs ergehen, sofern im Einzelfall besondere Umstände vorliegen, die eine nachträgliche Korrektur der gerichtlichen Entscheidung rechtfertigen.258 Insoweit gelten die Ausführungen zu § 69a StGB 253 Da die Sperre (wie auch die Fahrerlaubnisentziehung) selbst Maßregel ist, richtet sich ihre Bemessung nicht nach allgemeinen Strafzumessungsregeln. Vielmehr hat sie ausschließlich spezialpräventiven Charakter, indem sie die Sicherung der Allgemeinheit vor den Gefahren, die sich aus der Teilnahme ungeeigneter Kraftfahrer am Straßenverkehr ergeben, bezweckt (MK-Athing / von Heintschel-Heinegg, § 69a Rn. 1, 24 m. w. N.). Die Bestimmung einer „unbilligen Härte“ richtet sich hier daher danach, ob die bezweckte Spezialprävention ausnahmsweise nicht erforderlich oder – aufgrund überwiegender berechtigter Interessen des Straftäters – unangemessen ist. 254 s. unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.); eine Ausnahme gilt für Gnadenakte aus politischen Gründen, siehe unter § 4 A. II. 2. (S. 212 ff.). 255 s. bereits S. 81 mit Fn. 362 und S. 200 mit Fn. 24. 256 Vgl. auch die Kriterien in § 27 GnO-HE. 257 So auch vorausgesetzt in § 26 Abs. 2 GnO-HE und § 27 Abs. 2 GnO-TH. Zur Möglichkeit, i. R.d. gesetzlichen Verfahrens nach § 69a Abs. 7 StGB die Aufhebung auf bestimmte Arten von Kraftfahrzeugen zu beschränken MK-Athing / von Heintschel-Heinegg, § 69a Rn. 55.
C. Gnade im Anwendungsbereich247
im Wesentlichen entsprechend, wobei der Charakter des Fahrverbots als Nebenstrafe zu beachten ist, d. h. – da allgemeine Strafzumessungsregeln gelten – der Zweck nicht ausschließlich in der Spezialprävention liegt.259 Als Rechtsfolge eines Gnadenerweises kommt nicht nur eine Verkürzung oder Aufhebung des nach § 44 StGB verhängten Fahrverbots, sondern auch seine Unterbrechung260 in Betracht. Letzteres ist insofern relevant, als die gesetzlichen Regelungen zum Strafausstand (insbesondere § 456c Abs. 2 StPO) nach h. M. keine (auch nicht analoge) Anwendung auf das Fahrverbot finden.261 Zum Teil wird die Möglichkeit einer gnadenweisen Unterbrechung des Fahrverbots zwar bestritten.262 Dem ist jedoch entgegenzutreten: Zwar wird das Fahrverbot nach derzeitiger Rechtslage263 bereits mit Rechtskraft der Verurteilung wirksam (§ 44 Abs. 2 S. 1 StGB), sodass es also anders als bei der Hauptstrafe keiner eigenen – dann aufschiebbaren oder zu unterbrechenden – Vollstreckungshandlung bedarf.264 Indes liegt es hier 258 Beispiel nach Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 89: Das Fahrverbot fällt in eine Zeit, in welcher der Straftäter das Fahrzeug aus besonders wichtigen, vom Durchschnitt erheblich abweichenden Gründen dringend benötigt, während der mit dem Fahrverbot beabsichtigte Zweck, dem Straftäter einen „Denkzettel“ zu verpassen, auch zu einem anderen Zeitpunkt erreicht werden könnte. 259 MK-Athing / von Heintschel-Heinegg § 44 Rn. 1. Nach Birkhoff / Lemke werde ein Fahrverbot regelmäßig nur dann Gegenstand eines Gnadenantrags sein, wenn es mehr als einen Monat beträgt, da ein einmonatiges Fahrverbot vielfach innerhalb von Urlaubszeiten erledigt werden könne (Birkhoff / Lemke, Gnadenrecht, Rn. 269). Indes ist zu beachten, dass der Verurteilte wegen § 44 Abs. 2 S. 1 StGB nur eingeschränkt Einfluss auf den Beginn des Fahrverbots nehmen kann (vgl. Niehaus, in: Berz / Burmann, Handbuch des Straßenverkehrsrechts, 16 B Rn. 25 f.), sodass z. B. nicht ausgemacht ist, dass er zu diesem Zeitpunkt noch über ausreichend Jahresurlaub verfügt (vgl. OLG Hamm NZV 2005, 495 [496 – in Bezug auf ein nach § 25 StVG verhängtes Fahrverbot]), oder ein Urlaub zu diesem Zeitpunkt überhaupt passend ist. 260 Ein gnadenweiser Aufschub des Fahrverbots nach § 44 StGB ist hingegen ausgeschlossen. Denn das Begnadigungsrecht findet nur auf bereits rechtskräftige Verurteilungen Anwendung – mit Rechtskraft der Verurteilung wird das Fahrverbot jedoch schon wirksam (§ 44 Abs. 2 S. 1 StGB). 261 Vgl. Fehl, NZV 1998, 439 (442); LK-Geppert, § 44 Rn. 57; Mürbe, DAR 1983, 45 (46). Für eine analoge Anwendung von § 456c StPO aber Schönke / Schröder-Stree / Kinzig, § 44 Rn. 20. 262 So LK-Geppert, § 44 Rn. 57; Hentschel, Trunkenheit, Fahrerlaubnisentziehung, Fahrverbot, Rn. 933; Mürbe, DAR 1983, 45 (47). 263 Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze vom 22.02.2017 (Gesetzesentwurf der Bundesregierung – BT-Drucks. 18 / 11272), sieht hingegen vor, dass das Fahrverbot erst einen Monat nach Rechtskraft des Urteils wirksam wird. 264 Für die Frage der Wirksamkeit des Fahrverbots ist auch ohne Belang, ob bereits die Vollstreckungsmaßnahme nach § 44 Abs. 2 S. 2 StGB erfolgt ist (Hentschel, Trunkenheit, Fahrerlaubnisentziehung, Fahrverbot, Rn. 933).
248
§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
nicht anders als beim Berufsverbot (vgl. § 70 Abs. 3 S. 1 StGB), bei welchem die – gesetzliche (§ 456c Abs. 2 und 3 StPO) – Möglichkeit der späteren Unterbrechung („Aussetzung“)265 durch die Vollstreckungsbehörde besteht. Wenn es aber auf gesetzlichem Weg schon möglich ist, ein bereits in Kraft getretenes Verbot nachträglich zu unterbrechen, dann ist nicht einzusehen, warum dies nicht auch im Gnadenweg – beim Fahrverbot – gehen soll, zumal durch die Gnade auch Rechtsfolgen denkbar sind, die das Gesetz nicht kennt.266 Das Begnadigungsrecht findet auch bei nach § 25 StVG verhängten Fahrverboten Anwendung.267 Anders als beim nach § 44 StGB verhängten Fahrverbot besteht hier die Besonderheit, dass ein Anwendungsfall für einen Gnadenakt speziell dann bestehen kann, wenn wegen verschiedener prozessualer Taten mehrere selbständige Fahrverbote verhängt werden, die – zusammenaddiert – insgesamt den Zeitraum von drei Monaten (§ 25 Abs. 1 S. 1 StVG) übersteigen.268 Im Strafrecht stellt sich dieses Problem nicht, da hier die Regelungen zur nachträglichen Gesamtstrafenbildung (§ 55 StGB, § 460 StPO) Abhilfe verschaffen können.269 Im Gegensatz zu § 44 StGB kann beim nach § 25 StVG verhängten Fahrverbot gem. § 25 Abs. 2a StVG eine Frist von bis zu vier Monaten gesetzt werden, innerhalb derer das Fahrverbot erst wirksam wird. Unbillige Härten,270 die durch den Zeitpunkt des Fahrverbots bedingt sind, können so vermieden werden. 265 Mit der in § 456c Abs. 2 StPO bezeichneten „Aussetzung“ ist die Unterbrechung des Verbots gemeint, nicht hingegen die Aussetzung des Verbots zur Bewährung gem. § 70a StGB. Der vom allgemeinen Strafausstand abweichende Begriff erklärt sich daraus, dass das Verbot bereits mit Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung wirksam wird. 266 s. zu Letzterem unter § 2 A. (S. 91). Die Möglichkeit einer gnadenweisen Unterbrechung des Fahrverbots voraussetzend SK-StPO-Paeffgen, § 456c Rn. 3; Pohlmann / Jabel / Wolf-Wolf, § 59a Rn. 26. Um beim Fahrverbot das Ergebnis eines „Strafaufausstands“ zu erreichen, schlägt Mürbe vor, ein verhängtes Fahrverbot zunächst gnadenweise aufzuheben, um das Fahrverbot dann zu einem späteren Zeitpunkt neu zu verhängen (Mürbe, DAR 1983, 45 [47 f.]). Einer solchen Vorgehensweise bedarf es jedoch nicht, zumal sich hier die Frage nach der Rechtsgrundlage für den Erlass des späteren Fahrverbots stellte (insoweit zu Recht krit. LK-Geppert, § 44 Rn. 57; Hentschel, Trunkenheit, Fahrerlaubnisentziehung, Fahrverbot, Rn. 933). 267 Göhler-Seitz, Vor § 89 Rn. 7. 268 Göhler-Gürtler, § 20 Rn. 6; Widmaier, NJW 1971, 1158 (1161); krit. zur Lösung durch die Gnade (da erst nach Rechtskraft der Bescheide möglich und „verfahrenstechnisch umständlich“) KK-OWiG-Mitsch, § 20 Rn. 8. 269 Daher können auch § 55 StGB und § 460 StPO als gesetzliche Alternativregelungen zum Begnadigungsrecht verstanden werden. 270 Bei der Bestimmung einer „unbilligen Härte“ ist zu berücksichtigen, dass bei § 25 StVG nach h. M. – im Gegensatz zu § 44 StGB – generalpräventive Aspekte keine Rolle spielen dürfen (Fehl, NZV 1998, 439 [441] m. w. N.).
C. Gnade im Anwendungsbereich249
Angesichts der Diskussion über die Öffnung des Fahrverbots für Straftaten auch außerhalb der Verkehrsdelikte und der Verlängerung des Fahrverbots auf eine Dauer von bis zu sechs Monaten271 könnte sich hier in Zukunft die praktische Bedeutung des Begnadigungsrechts erhöhen, zumal nicht zu erwarten ist, dass im Rahmen einer etwaigen Reform eine gesetzliche Möglichkeit zur nachträglichen Milderung in das Gesetz mit aufgenommen wird.272 2. Gnade nach ablehnender Entscheidung i. S. v. § 69a Abs. 7 StGB Erfolgte eine ablehnende Entscheidung gem. § 69a Abs. 7 StGB, weil das Gericht das materielle Merkmal des Wegfalls der Ungeeignetheit verneinte, wird für Gnade praktisch kein Raum sein. Denn für die Bejahung dieses Merkmals genügt bereits, dass Umstände vorliegen, die eine Teilnahme des Verurteilten am Kraftverkehr verantwortbar erscheinen lassen; einer Gewissheit, dass der Eignungsmangel, welcher zur Fahrerlaubnisentziehung geführt hat, nicht mehr besteht, bedarf es nicht.273 Unzulässig sind daher Gnadenakte, die trotz der ablehnenden Entscheidung des Gerichts „aus Gründen des Vertrauensschutzes“ ergehen.274
271 So der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze vom 22.02.2017 (Gesetzesentwurf der Bundesregierung – BT-Drucks. 18 / 11272). Übersicht zu weiteren Gesetzesentwürfen aus der Vergangenheit bei Zopfs, Wolter-FS, S. 815 mit Fn. 1. 272 Der Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Strafgesetzbuchs, des Jugendgerichtsgesetzes, der Strafprozessordnung und weiterer Gesetze vom 22.02.2017 (Gesetzesentwurf der Bundesregierung – BT-Drucks. 18 / 11272) sieht eine solche Möglichkeit jedenfalls nicht vor, ebenso wenig wie die früheren Entwürfe BTDrucks. 15 / 2725 (Regierungsentwurf) und BT-Drucks. 16 / 8695 (Entwurf des Bundesrats). Anders hingegen der von der SPD-Bundestagsfraktion eingebrachte Entwurf (BT-Drucks. 13 / 4462), wonach die Einführung des Fahrverbots als Hauptstrafe begleitet werden sollte von der Möglichkeit seiner Aussetzung (als § 456d Abs. 1 StPO: „Die Vollstreckungsbehörde kann auf Antrag des Verurteilten die Vollstreckung des Fahrverbotes [§ 44 des Strafgesetzbuches] aussetzen, wenn anderenfalls … eine erhebliche, außerhalb des Zwecks des Verbots liegende, durch spätere Vollstreckung vermeidbare Härte für den Verurteilten oder seine Angehörigen bestünde.“). 273 MK-Athing / von Heintschel-Heinegg, § 69a Rn. 52 m. w. N. 274 So aber vorgesehen von Nr. 3.1 VwV Nachschulung (siehe S. 81 mit Fn. 362).
250
§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
V. Wiederaufnahme des Verfahrens zugunsten des Verurteilten (§§ 359 ff. StPO) Im Folgenden ist näher zu untersuchen, welcher Raum der Gnade neben §§ 359 ff. StPO verbleibt. 1. Raum für originäre Gnadenentscheidungen a) Raum unter Zugrundelegung des Vorrangs des Gesetzes Die für die inhaltliche Ausgestaltung des Vorrangs des Gesetzes maßgebliche Unterscheidung zwischen formellen und materiellen Merkmalen ist bei den Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Verfahrens insofern problematisch, als es hier an einer den übrigen gesetzlichen Alternativregelungen vergleichbaren Struktur – regelmäßig zeitliche Schranken (formelle Merkmale) und unbestimmte Rechtsbegriffe (materielle Merkmale) – fehlt. Hinzu kommt ein abweichender Verfahrensablauf (Aditions- und Probationsverfahren),275 dessen erfolgreicher Verlauf – Erneuerung der Hauptverhandlung gem. § 370 Abs. 2 StPO – die Rechtskraft der Verurteilung beseitigt,276 sodass bereits hierdurch von einer gesetzlichen „Vergünstigung“ (im Sinne einer Besserstellung des Verurteilten) gesprochen werden kann.277 Ob aber letztlich das Antragsziel278 des Verurteilten erreicht wird, ist hiermit noch nicht gesagt. Gleichwohl kann auch hier eine Einteilung in formelle bzw. materielle Merkmale erfolgen: Allgemeine Zulässigkeitsvoraussetzungen im Aditionsverfahren, wie insbesondere die Statthaftigkeit der Wiederaufnahme – diese beschränkt sich nach h. M. weitgehend auf rechtskräftige Urteile bzw. Strafbefehle (§ 373a Abs. 2 StPO) –279, können ohne nähere sachliche Prüfung festgestellt werden, sodass es sich hierbei um formelle Merkmale handelt. Gleiches gilt, wenn der Verurteilte ein unzulässiges Antragsziel verfolgt, 275 Näher
hierzu K / M / R-Eschelbach, Vor § 359 Rn. 42 ff. § 370 Rn. 36. 277 So ist nach einer Anordnung i. S. v. § 370 Abs. 2 StPO mangels rechtskräftiger Verurteilung die weitere Strafvollstreckung gem. § 449 StPO nicht möglich (K / M / REschelbach, § 370 Rn. 36). 278 Antragsziele können grundsätzlich Freisprechung, Verfahrenseinstellung und Milderbestrafung in Anwendung eines anderen Strafgesetzes sein (K / M / R-Eschelbach, Vor § 359 Rn. 53 ff.). 279 K / M / R-Eschelbach, Vor § 359 Rn. 49; zur Anwendbarkeit der §§ 359 ff. StPO bei urteilsersetzenden Beschlüssen (insbesondere nach § 313 Abs. 2 und § 349 Abs. 2 StPO) SK-StPO-Gössel, Vor § 359 Rn. 20 m. w. N.; BeckOK-StPO-Singelnstein, § 359 Rn. 5. 276 K / M / R-Eschelbach,
C. Gnade im Anwendungsbereich251
beispielsweise eine günstigere Strafzumessung (§ 363 Abs. 1 StPO), eine Strafmilderung nach § 21 StGB (§ 363 Abs. 2 StPO) oder die Beseitigung von Nebenstrafen oder Nebenfolgen begehrt.280 Demgegenüber bedarf es zur Feststellung, ob ein Wiederaufnahmegrund – allen voran § 359 Nr. 5 StPO281 – greift, einer näheren sachlichen Prüfung. So richten sich z. B. die Anforderungen an die Beibringung neuer „Tatsachen oder Beweismittel“ i. S. v. § 359 Nr. 5 StPO unter anderem danach, ob es sich um ein „Indizienurteil“ handelt282 und auf welche Art von Beweismitteln sich das Gericht bei der Verurteilung maßgeblich gestützt hat.283 Aufgrund der erforderlichen näheren Sachprüfung sind die einzelnen Wiederaufnahmegründe daher als materielle Merkmale einzuordnen. Unter Zugrundelegung des Vorrangs des Gesetzes (sprich: Verfahren nach §§ 359 ff. StPO) verbleiben für originäre Gnadenentscheidungen, die sich auf die Unrichtigkeit der Verurteilung stützen, daher folgende Anwendungsbereiche: 1. Der Verurteilte wendet sich gegen eine gerichtliche Entscheidung, bezüglich derer das Wiederaufnahmeverfahren nicht statthaft ist. 2. Nach dem Vorbringen des Verurteilten liegt offensichtlich kein Wiederaufnahmegrund (§ 359 Nr. 1 bis 6 StPO oder § 79 Abs. 1 BVerfGG) vor. 3. Der Verurteilte erstrebt allein eine mildere Strafzumessung aufgrund desselben Strafgesetzes (§ 363 Abs. 1 StPO) oder eine Strafmilderung wegen verminderter Schuldfähigkeit (§ 21 StGB). aa) Fallgruppe 1 Fallgruppe 1 kann insbesondere dann relevant werden, wenn man die Anwendung der §§ 359 ff. StPO bei Bewährungswiderrufsbeschlüssen (§ 56f StGB) verneint.284 Beispiel: Der Verurteilte versäumt es, gegen einen Bewährungswiderrufsbeschluss vorzugehen, und macht nachträglich Tatsachen
280 Vgl.
K / M / R-Eschelbach, Vor § 359 Rn. 56. Strate (in: MAH Strafverteidigung, § 27 Rn. 3) betreffen „99 % aller Wiederaufnahmeverfahren“ den Wiederaufnahmegrund des § 359 Nr. 5 StPO. 282 Dann reicht es grundsätzlich aus, einen einzigen Beweisgrund zu widerlegen, um das Urteil insgesamt zu erschüttern (Strate, in: MAH Strafverteidigung, § 27 Rn. 90; OLG Karlsruhe BeckRS 2004, 09772). 283 Näher Strate, in: MAH Strafverteidigung, § 27 Rn. 90 ff. 284 So z. B. OLG Zweibrücken NStZ 1997, 55 f.; BeckOK-StPO-Singelnstein, § 359 Rn. 5; a. A. (§ 359 StPO analog) SK-StPO-Gössel, Vor § 359 Rn. 32 m. w. N. zum Streitstand. 281 Nach
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
geltend, aufgrund derer der Widerruf hätte unterbleiben müssen.285 War also ein solcher Beschluss nicht erforderlich oder jedenfalls unangemessen, läge eine unbillige Härte vor, die den Raum für Gnade eröffnete. bb) Fallgruppe 2 In Fallgruppe 2 ist insbesondere daran zu denken, dass der Verurteilte seinen Gnadenantrag auf die Unrichtigkeit der Verurteilung aus Rechtsgründen stützt. Denn eine Wiederaufnahme aus Rechtsgründen scheidet in aller Regel aus.286 Denkbar wäre dabei zunächst die Konstellation, dass das erkennende Gericht das geltende Recht zum Nachteil des Verurteilten falsch angewendet hat.287 Kuhn nennt als Beispiel ein amtsgerichtliches Urteil auf dem Gebiet des Nebenstrafrechts, gegen welches kein Rechtsmittel eingelegt worden ist,288 Birkhoff den Fall, dass eine vor Urteilsspruch erfolgende Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung dem erkennenden Gericht nicht bekannt war.289 Zu der Fallgruppe „Unrichtigkeit aus Rechtsgründen“ können aber auch solche Fälle gezählt werden, in denen sich die Rechtslage erst nachträglich ändert:290 Raum für Gnade wäre dabei zum einen, wenn es nach rechtskräftiger Verurteilung zu einer Änderung der höchstrichterlichen Rechtsprechung kommt, die sich zugunsten des Verurteilten ausgewirkt hätte.291 Ein wichtiges Beispiel ist etwa die infolge des Beschlusses des Großen Strafsenats im Jahr 1981 nunmehr in der Rechtsprechung vertretene Rechtsfolgenlösung beim Mord.292 Denkbar wäre auch eine Verurteilung von zwei Personen 285 Fall nach LG Hamburg NStZ 1991, 149 (150) – nach dem LG verspreche in solchen Fällen ein Gnadenantrag „unbedingte Aussicht auf Erfolg“; auf die Möglichkeit eines Gnadenverfahrens verweist auch OLG Zweibrücken NStZ 1997, 55 (56). 286 Ausnahmen sind § 359 Nr. 6 StPO und § 79 Abs. 1 BVerfGG sowie die Wiederaufnahme zwecks Einstellung des Verfahrens, weil der Verurteilung ein Verfahrenshindernis entgegenstand (K / M / R-Eschelbach, Vor § 359 Rn. 54, 77). 287 Zur Unzulässigkeit der Wiederaufnahme in solchen Fällen LR-Gössel, § 359 Rn. 75 ff. 288 Vgl. Kuhn, in: Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, X. A. 14. Anm. Nr. 12c) (1). 289 Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 23. 290 Auch wenn die Entscheidung des Gerichts im Entscheidungszeitpunkt richtig war, ist sie es dann aus nachträglicher Perspektive nicht mehr. 291 Geerds, Gnade, Recht und Kriminalpolitik, S. 39 f. („menschliche Pflicht der Gnadeninstanz, helfend einzuschreiten“); unklar Blaich, Gnadenrecht, S. 188. 292 Vgl. BGHSt 30, 105 ff. Zur Unzulässigkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens bei Altfällen, in denen „außergewöhnliche Umstände“ i. S. v. BGHSt 30, 105 ff. gel-
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jeweils nach §§ 250 Abs. 2 Nr. 2, 25 Abs. 2 StGB, bevor die Rechtsprechung das Erfordernis von drei Personen für die Annahme einer „Bande“ statuierte,293 mit der Folge, dass nur noch eine Strafbarkeit nach §§ 250 Abs. 1 Nr. 1a) Alt. 1, 25 Abs. 2 StGB gegeben wäre.294 Raum für Gnade wäre ferner infolge einer Gesetzesänderung, bei der die Anwendung des neuen Gesetzes den Verurteilten – würde die Strafbarkeit nach neuem Recht beurteilt – bevorzugte.295 Beispiel: Der Täter wird im Jahr 1997 rechtskräftig nach § 316a StGB wegen des Unternehmens eines Angriffs i. S. v. § 316a StGB a. F. verurteilt, weil er in der Absicht, unter „Ausnutzung der besonderen Verhältnisse des Straßenverkehrs“ einen späteren Raub zu begehen, in das Fahrzeug des Opfers stieg.296 Nach der Neufassung des Tatbestands durch das 6. StrRG (nunmehr Verüben erforderlich) würde sich der Täter mit dem bloßen Einsteigen in das Fahrzeug hingegen nicht mehr wegen (vollendetem) § 316a StGB strafbar machen.297 Wenngleich in den Fällen der nachträglichen „Unrichtigkeit“ des Urteils aus Rechtsgründen zumeist ohne nähere Begründung Raum für Gnadenakte tend gemacht werden: OLG Bamberg NJW 1982, 1714 f.; nach den vom OLG mitgeteilten Ausführungen des LG könnten derlei Umstände „nur im Gnadenweg berücksichtigt werden“. 293 BGHSt 46, 321 ff. 294 Weiteres Beispiel nach Klein, Gnade, S. 19: Begnadigung bei rechtskräftiger Verurteilung wegen Nötigung durch Sitzblockaden, nachdem das BVerfG entschied, dass Sitzblockaden, deren Zwangswirkung auf den Genötigten nur psychischer Art sind, keine „Gewalt“ i. S. d. § 240 StGB darstellen (BVerfGE 92, 1 ff.). 295 Vgl. BGHSt 57, 218 (223); BeckOK-GG-Pieper, Art. 60 Rn. 11.1; SK-StGBRudolphi / Jäger, § 2 Rn. 7. Dies gilt freilich nur dann, wenn nicht das jeweilige Änderungsgesetz eine Amnestieregelung enthält (Schätzler, NJW 1975, 1249 [1251]). So traf das 1. StrRG eine entsprechende Regelung in Art. 96 f. Ein weiteres Beispiel bildet Art. 313 Abs. 1 EGStGB, welcher Straffreiheit von im Zeitpunkt des Inkrafttretens des EGStGB zum 1.1.1975 rechtskräftig Verurteilten vorsah, deren Taten nach damals neuem Recht (2. StrRG) nicht mehr strafbar waren (vgl. BT-Drucks. 7 / 1261 [Bericht des Sonderausschusses], S. 60). Die Norm ermöglicht freilich keine Amnestie bei heutigen Gesetzesänderungen (unklar Blaich, Gnadenrecht, S. 186; Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 59). 296 Dies reichte – jedenfalls nach der Rspr. – bereits für eine Strafbarkeit nach § 316a StGB a. F. aus, siehe z. B. BGHSt 33, 378 (381); weitere Nachweise bei Küper / Zopfs, Strafrecht Besonderer Teil, Rn. 39 mit Fn. 34. 297 Näher Küper / Zopfs, Strafrecht Besonderer Teil, Rn. 32, 34. Inwieweit die Rspr. in Fällen, in denen sie früher Vollendung annahm, nunmehr wegen Versuchs straft (dann bestünde im Vergleich zur Rechtslage vor 1998 zumindest die Möglichkeit einer Strafmilderung gem. § 23 Abs. 2 StGB), oder das bloße Einsteigen für sich genommen noch keinen Versuch darstellt (dann keine Strafbarkeit nach § 316a – insoweit hätte man es mit einer Kombination aus Gesetzes- und Rechtsprechungsänderung zu tun), bleibt abzuwarten.
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gesehen wird,298 stellt sich die Frage, warum dies der Fall ist. So weist Schätzler darauf hin, es sei „weder unrichtig noch ungerecht, es bei der nach dem geltenden Strafgesetz rechtens verhängten Strafe zu belassen“299. Für die Annahme einer unbilligen Härte spricht indes, dass der Verurteilte andernfalls eine Strafe verbüßt, obgleich der Staat die begangene Handlung nicht mehr als sozialethisch tadelnswert erachtet, es also aus nachträglicher Sicht (wenn auch nur ex nunc) an Unrecht fehlt, auf das es mittels Strafe zu reagieren gilt.300 Aufgrund des Wesens der Gnade als Einzelfallkorrektiv muss es sich dabei aber um einen besonderen Einzelfall handeln.301 Während damit ein vergleichsweise weiter Anwendungsbereich für originäre Gnadenakte aus Rechtsgründen besteht, ist der Raum für originäre Gnadenentscheidungen bei auf tatsächlichen Gründen beruhenden Fehlurteilen denkbar eng, denn es lässt sich schwerlich sagen, wann offensichtlich der Wiederaufnahmegrund des § 359 Abs. 1 Nr. 5 StPO ausscheidet.302 Ein Beispiel wäre, dass schon keine „neuen“ Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden, sondern mit dem Gnadengesuch allein der Beweiswürdigung des erkennenden Gerichts widersprochen wird.303 Werden neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht, läge eine offensichtliche Ungeeignet298 Vgl. z. B. BT-Drucks. 7 / 1171, S. 4, wonach nach Angaben der einzelnen Bundesländer nachträgliche Änderungen des Strafgesetzes – so sie den Verurteilten begünstigt hätten – regelmäßig zu Gnadenakten führten. 299 Schätzler, NJW 1975, 1249 (1251). 300 Dabei ist nicht zu vernachlässigen, dass mit der Strafvollstreckung auch die Rechtskraft der Verurteilung umgesetzt und damit für Rechtsfrieden gesorgt wird. Dieser Aspekt wird bei der Frage, ob die weitere Strafvollstreckung der nach alter Rechtslage ergangenen Entscheidung unangemessen ist, mit zu berücksichtigen sein. Gänzlich anders liegt es, wenn keine Rechtsprechungs- oder Gesetzesänderung vorliegt, sondern dem Gnadenträger die Rspr. als unpassend erscheint. Dies allein vermag einen Gnadenakt nicht rechtfertigen (Pieper, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 89 [103]; Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 24). 301 Dies wäre in dem oben zu § 316a StGB gebildeten Beispiel der Fall. Gleiches gilt für die „Rechtsfolgenlösung“ zu § 211 StGB, da es sich dabei schon per Definition um „außergewöhnliche Umstände“ und damit besondere Einzelfälle handeln muss. Für Vergünstigungen bei einer Vielzahl von Fällen bedürfte es hingegen einer entsprechenden Amnestieregelung, wie etwa Art. 96 f. des 1. StrRG oder Art. 313 Abs. 1 EGStGB. Daher erscheint die Praxis nach Schaffung des JGG 1953, die lebenslange Freiheitsstrafe von Heranwachsenden, bei denen unterstellt werden konnte, das Gericht hätte Jugendstrafrecht angewendet, im Gnadenweg in eine zeitige Strafe umzuwandeln (dazu § 1 E. II. 2. [S. 66]), zweifelhaft. 302 Bereits im Aditionsverfahren – und damit durch Freibeweis – werden Richtigkeit und Beweiskraft des Vorbringens geprüft; dies macht eine Prognose hinsichtlich der Erfolgschancen des Wiederaufnahmeantrags nahezu unmöglich (vgl. K / M / R-Eschelbach, § 359 Rn. 203 f.). 303 Zur Unzulässigkeit eines Wiederaufnahmeverfahrens in diesen Fällen K / M / REschelbach, § 359 Rn. 123.
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heit vor, wenn diese rechtlich unerheblich sind – sprich bei fehlender Schlüssigkeit des Vorbringens. In diesen beiden Fällen könnte also eine originäre Gnadenentscheidung ergehen – praktisch wird diese allerdings negativ ausfallen. cc) Fallgruppe 3 Bei Geltendmachung von Umständen, die eine andere Strafzumessung aufgrund desselben Strafgesetzes ermöglichen, besteht zwar kein Vorrang des Verfahrens nach §§ 359 ff. StPO gegenüber der Gnade, weil einer Wiederaufnahme von vornherein die Vorschrift des § 363 Abs. 1 StPO entgegensteht. Soweit sich das Begehren auf den Eintritt nachträglicher Umstände stützt, wird hier dann aber vielfach der Vorrang des Verfahrens nach § 57 StGB greifen, sodass dann aus diesem Grund eine originäre Gnadenentscheidung zu unterbleiben hat.304 Raum für originäre Gnadenentscheidungen wäre hingegen z. B. dann gegeben, wenn der Verurteilte vor dem Halbstrafenzeitpunkt nachträglich Umstände geltend macht, welche die Annahme eines minder schweren Falls i. S. d. § 213 Alt. 2 StGB nahelegen, weil in diesem Fall einer Wiederaufnahme § 363 Abs. 1 StPO entgegenstünde.305 Gleiches gilt, wenn der Täter im Nachhinein die Annahme eines besonders schweren Falls widerlegen kann, da auch hier eine Wiederaufnahme – wenn auch nach bestrittener Auffassung – von vornherein an § 363 Abs. 1 StPO scheiterte.306 Aufgrund von § 363 Abs. 2 StPO verbleibt Raum für originäre Gnadenentscheidungen auch dann, wenn Fehler bei der Nichtanwendung von § 21 StGB durch das erkennende Gericht erfolgten,307 was etwa dann von Bedeutung sein kann, wenn bei Verurteilung zu lebenslanger Freiheitsstrafe eine Haftentlassung vor der zeitlichen Grenze des § 57a StGB angestrebt wird.308
304 s.
bereits unter § 4 C. I. 1. a) (S. 235). KK-StPO-Schmidt, § 363 Rn. 7. 306 Vgl. LR-Gössel, § 363 Rn. 11; KK-StPO-Schmidt, § 363 Rn. 8; jeweils m. w. N. Beispiel: Der wegen einer Tat nach §§ 242 Abs. 1, 243 Abs. 1 S. 2 Nr. 1 StGB Verurteilte kann nachträglich nachweisen, dass der von ihm verwendete Schlüssel, mit dem er zur Ausführung der Tat in ein Gebäude eingedrungen ist, nicht „falsch“ war. 307 KK-StPO-Schmidt, § 363 Rn. 11. 308 Kuhn, in: Beck’sches Formularbuch für den Strafverteidiger, X. A. 14. Anm. Nr. 12c) (3). Siehe bereits unter § 4 C. I. 2. a) (S. 238). 305 Vgl.
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b) Einschränkungen wegen abschließenden Charakters der §§ 359 ff. StPO? All dies ist jedoch nicht unbestritten. Insbesondere dann, wenn mit dem Gnadengesuch geltend gemacht wird, die Verurteilung sei bereits im Zeitpunkt der Entscheidung fehlerhaft gewesen – die Fehlerhaftigkeit also weder aus einer Rechtsprechungs- noch aus einer Gesetzesänderung resultiert –, wird die Anwendbarkeit des Begnadigungsrechts in Zweifel gezogen. Die besondere Problematik – die also für originäre Gnade im Bereich anderer gesetzlicher Alternativregelungen nicht besteht – liegt hier darin, dass der Gnadenträger, der im Rahmen des Gnadenverfahrens über die Fehlerhaftigkeit der Verurteilung zu entscheiden hat, zu einer Art „Superrevisionsinstanz“ wird.309 Rüping kommt daher zu dem Schluss, dass ein Einsatz der Gnade zur Korrektur von Fehlurteilen generell ausscheide. Er begründet dies damit, dass die vom geltenden Recht zur Verfügung gestellten Rechtsmittel und Rechtsbehelfe abschließend seien. Zudem spreche hier die Rechtssicherheit gegen den Einsatz der Gnade. Ferner sei es „inkonsequent“, eine Korrektur von Strafurteilen zum Zwecke der materiellen Gerechtigkeit im Gnadenweg zuzulassen, nicht aber im Bereich des Privatrechts.310 All dies vermag indes nicht zu überzeugen: Eine Argumentation311 anhand des „abschließenden Charakters“ der bestehenden Rechtsregeln erscheint zweifelhaft. Die für den Anwendungsbereich der Wiederaufnahme des Verfahrens maßgeblichen Vorschriften der §§ 359, 363 StPO gab es in weitgehend unveränderter Form bereits in der RStPO im Jahr 1877.312 Zum damaligen Zeitpunkt wurde die Freiheit der Gnadenaus309 Vgl. Birkhoff, in: MAH Strafverteidigung, § 26 Rn. 23 („Quasi-Revisionsgnadengesuch“); Schöch, in: Kaiser / Schöch, Strafvollzug, § 9 Rn. 73; siehe auch Bettermann, AöR 96 (1971), 528 (540). 310 Vgl. zum Vorstehenden Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (39); zust. Holste, Jura 2003, 738 (741). Krit. bezüglich Gnade bei Fehlurteilen auch Duttge, in: Schumann (Hrsg.), Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, Diskussionsprotokoll, S. 190. 311 Streng genommen ist der Hinweis auf den abschließenden Charakter kein Argument, sondern das Ergebnis der Auslegung – welches dann aber argumentativ belegt werden müsste. Gemeint ist daher offenbar, dass den bestehenden Rechtsregeln die Wertung entnommen werden könne, dass es neben §§ 359 ff. StPO keine Gnadenakte geben soll. 312 Der heutige § 359 Nr. 1 bis 5 StPO entspricht in seiner Grundstruktur § 399 Nr. 1 bis 5 RStPO (siehe unter § 1 B. II. 2. b) [S. 45]), § 363 Abs. 1 StPO entspricht sachlich § 403 RStPO („Eine Wiederaufnahme des Verfahrens zu dem Zwecke der Aenderung der Strafe innerhalb des durch dasselbe Gesetz bestimmten Strafmaßes findet nicht statt.“). Wesentliche Änderungen betreffen lediglich § 363 Abs. 2 StPO (eingefügt im Jahr 1933, vgl. LR-Gössel, Entstehungsgeschichte zu
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übung aber nicht in Zweifel gezogen.313 Entweder müsste also damals die gesetzliche Wertung, wonach die Regeln über die Wiederaufnahme des Verfahrens abschließend sind und sich daher Gnadenakte bei Fehlurteilen generell verbieten, zunächst verkannt worden sein, oder man müsste erst dem jahrzehntelangen Untätigbleiben des Gesetzgebers in diesem Bereich nunmehr eine solche Wertung entnehmen können – dies erscheint allzu konstruiert. Auch die Annahme, aus Gründen der Rechtssicherheit scheide eine Korrektur von Fehlurteilen im Gnadenweg generell aus, geht fehl. Der Gesetzgeber hat zwar einerseits im Rahmen des ihm zustehenden Ermessens mit Schaffung der §§ 359 ff. StPO einen Ausgleich zwischen dem Prinzip der Rechtssicherheit und der materiellen Gerechtigkeit zu finden versucht.314 Andererseits hat er aber eben auch mit der Schaffung abstrakt-genereller Regelungen auf der einen Seite und der Festschreibung der Gnade als Einzelfallkorrektiv zwecks Realisierung der Einzelfallgerechtigkeit auf der anderen Seite das Spannungsfeld zwischen Normgerechtigkeit und Einzelfallgerechtigkeit zu lösen versucht.315 Diese – letztere – vom Gesetzgeber getroffene Lösung wird man kaum mit Verweis auf die vom Gesetzgeber an anderer Stelle – sprich den §§ 359 ff. StPO – getroffene Entscheidung dergestalt korrigieren können, dass das Einzelfallkorrektiv „Gnade“ bei Fehlurteilen generell ausgeschlossen wird. Im Übrigen könnte man dieser Logik folgend generell – d. h. nicht nur bei möglichen Fehlurteilen – gegen den Erlass von Gnadenakten argumentieren: Denn die Rechtssicherheit ist nicht nur tangiert, wenn im Gnadenweg eine Vergünstigung gewährt wird, weil (erhebliche) Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung bestehen, sondern auch in sonstigen Fällen, sprich weil nachträglich in der Person des Verurteilten liegende Umstände eintreten, die gerade für diesen Einzelfall die unbedingte Vollstreckung als unbillig erscheinen lassen. Mit Blick auf eine mögliche Störung des Rechtsfriedens ist zu beachten, dass ein Gnadenakt jedenfalls nichts an dem Urteilsspruch ändert: Das gefällte sozialethische Unwerturteil bleibt erhalten, der Verurteilte wird also nicht rehabilitiert.316 § 363), § 79 Abs. 1 BVerfGG sowie § 359 Abs. 1 Nr. 6 (eingefügt im Jahr 1998, siehe unter § 1 E. II. 8. [S. 85]). 313 Nachweise unter § 1 A. II. 2. a) (S. 30 mit Fn. 34). 314 Dazu näher z. B. Strate, in: MAH Strafverteidigung, § 27 Rn. 1 ff. 315 Vgl. Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 76; näher unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.). 316 s. bereits unter § 2 A. (S. 91). Krit. Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 102 („unstatthaft[e] formal[e] Betrachtungsweise“). Da Gnadenentscheidungen nicht begründet werden – d. h. der Gnadenträger nicht nach außen zur (Un-)Richtigkeit der Verurteilung Stellung beziehen muss –, dürften auch die faktischen Auswirkungen für den Rechtsfrieden vielfach nicht anders als bei Begnadigungen aus sonstigen Gründen sein.
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Schließlich verfängt auch nicht der Vergleich mit zivilrechtlichen Urteilen, bei denen keine Korrektur im Gnadenweg möglich ist. Die Ausübung des Begnadigungsrechts stellt nach h. M. einen Verzicht auf die Vollstreckung des rechtskräftig festgestellten staatlichen Strafanspruchs dar.317 Demgegenüber ist im Zivilrecht der Staat nicht Inhaber des Vollstreckungsanspruchs, sondern der jeweilige (private) Vollstreckungsgläubiger. Anders als im Strafrecht kann der Staat hier also auch auf nichts verzichten. Dem Vollstreckungsgläubiger steht im Zivilrecht hingegen selbstverständlich das Recht zu, auf die Vollstreckung des Urteils einseitig zu verzichten. Im Übrigen ist der Unterschied zu anderen Rechtsgebieten dadurch bedingt, dass sich der Gesetzgeber durch Implementierung des Begnadigungsrechts in Grundgesetz und Landesverfassungen dafür entschieden hat, dass eine nachträgliche Korrektur rechtskräftiger Entscheidungen auf dem Gebiet des Strafrechts nun mal möglich sein soll. Dies kann man als rechtspolitisch verfehlt ansehen – ist aber geltendes Recht. Dann wird man aber schwerlich als Argument für eine restriktive Anwendung der Gnade – bzw. gar einen teilweisen Ausschluss, nämlich bei Fehlurteilen – den Vergleich mit solchen Rechtsgebieten anführen können, in denen es an einem solchen Institut fehlt. Auch der Verweis darauf, der Verurteilte hätte etwaige Fehler des Urteils mit dem zulässigen Rechtsmittel rügen können,318 hilft nicht weiter. Denn selbst wenn dies auf Nachlässigkeit des Betroffenen beruhen sollte,319 ändert dies nichts am Charakter einer im Hinblick auf die Strafzwecke nicht erforderlichen Verurteilung, die den Anwendungsbereich der Gnade grundsätzlich eröffnet. Ein Ausschluss der Gnade bei Fehlurteilen hätte zudem die merkwürdige Konsequenz, dass man Gnade zwar gegenüber Schuldigen für anwendbar hielt, nicht aber gegenüber Unschuldigen. Mit Verweis auf das „Rechtsgefühl“, wonach Gnade an sich einem Schuldigen zuteilwerden, die Wieder317 s.
unter § 2 A. (S. 90 mit Fn. 13). dieser Richtung Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 88. 319 Dies ist freilich alles andere als zwingend, denkt man etwa an die „Vier-Augen-Praxis“, Revisionen im Beschlussverfahren gem. § 359 Abs. 2 StPO als „offensichtlich unbegründet“ zu verwerfen, nachdem lediglich Berichterstatter und Vorsitzender die Akte gelesen haben (dazu z. B. Hamm / Krehl, NJW 2014, 903 ff.; zur Verfassungsmäßigkeit BVerfG NJW 2012, 2334 [2336]; zum maßgeblichen Einfluss des Berichterstatters auf die Ergebnisse von Revisionsverfahren Fischer, NStZ 2013, 425 ff.). Weiteres Beispiel nach BGH StraFo 2005, 71 f. (im Anschluss an BGH StraFo 2004, 313 f.): Auf eine Revision des Angeklagten erfolgt eine Strafmaßreduzierung durch das Revisionsgericht. Diese Entscheidung wird jedoch rückwirkend für gegenstandslos erklärt, da eine wirksame Revisionsrücknahme des Angeklagten vorlag, die dem Revisionsgericht zunächst unbekannt geblieben war; nach Weyde (in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 30) liege hier ein Gnadenerweis „auf der Hand“. 318 In
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aufnahme hingegen dem Unschuldigen zu seinem Recht verhelfen soll,320 wird man eine Gnadenbetätigung hier jedenfalls nicht ausschließen können. Der Unschuldige mag zwar sicher lieber freigesprochen als begnadigt werden, führt doch nur der Freispruch zu einer vollständigen Rehabilitation. Wenn aber Schuldige begnadigt werden können, dann muss der Unschuldige in solchen Bereichen, wo eine Wiederaufnahme von vornherein ausscheidet und damit Raum für einen originären Gnadenakt wäre, erst recht die Chance auf eine Vergünstigung haben – wenn diese nach der geltenden Rechtsordnung nur im Gnadenweg möglich ist, wird man ihm dies nicht generell verweigern können. Nach alledem kann der These eines generellen Ausschlusses der Gnade zur Korrektur von Fehlurteilen nicht gefolgt werden. Wenn auch nicht – wie Rüping – Begnadigungen bei Fehlurteilen generell ausschließend, stehen Andere der Gnade in diesem Bereich jedoch zumindest skeptisch gegenüber und verlangen eine besonders restriktive Anwendung: Nach Merten müssen im Gnadenverfahren solche Umstände außer Betracht bleiben, die bereits das erkennende Gericht berücksichtigen konnte.321 Schätzler und Weyde wollen Gnadenakte jedenfalls bei (möglichen) Tatsachenfehlern weitgehend ausschließen,322 Bettermann und Mickisch beschränken den Anwendungsbereich auf solche Fälle, in denen die Unrichtigkeit des Urteils offensichtlich ist.323 Demgegenüber soll es nach Hüser für den Erlass eines Gnadenakts bereits ausreichen, dass „der begründete Verdacht eines Fehlurteils gegenüber einem Unschuldigen besteht“324. Die Frage, ob eine Begnadigung ergehen kann, wird dann eine solche des Beurteilungsmaßstabs, d. h. welchen Wahrscheinlichkeitsmaßstab der Gnadenträger hinsichtlich der Fehlerhaftigkeit des Urteils zugrunde legen muss. Diese Frage stellt sich aber nicht nur bei Begnadigungen von Fehlurteilen, sondern immer dann, wenn der Verurteilte nachträgliche Umstände gelten macht, die – treffen sie zu – zur Annahme einer unbilligen Härte führen. Hinsichtlich des Beurteilungsmaßstabs des Gnadenträgers werden sich aber schwerlich konkrete und verbindliche – d. h. de lege lata bestehende – Vorgaben treffen lassen. 320 Vgl. A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 102 f.; siehe bereits unter § 1 A. II. 2. a) (S. 30). 321 Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 50 f. 322 Vgl. Weyde, in: HStA, Rn. 23 (denkbar nur bei „offensichtlich willkürlichen Entscheidungen“); ähnlich Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 87 f. Zust. Blaich, Gnadenrecht, S. 185 f. 323 Bettermann, AöR 96 (1971), 528 (540); Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 106. 324 Hüser, Begnadigung und Amnestie, S. 33.
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§ 4 Welcher Raum verbleibt der Gnade?
Allein mit Verweis darauf, dass Sachverhaltsfeststellung und Beweiswürdigung „ureigenste Aufgabe des Tatrichters“ seien, lässt sich die Beschränkung von Gnadenakten bei Tatsachenfehlern auf „offensichtlich willkürliche Entscheidungen“ jedenfalls nicht begründen.325 Denn auch die Strafzumessung ist nicht „unureigener“ – gleichwohl wird die Anwendbarkeit des Begnadigungsrechts beim nachträglichen Eintreten insoweit relevanter Umstände kaum prinzipiell in Zweifel gezogen und Gnadenakte etwa jenseits der Voraussetzungen der §§ 57, 57a StGB für möglich gehalten. Insoweit verhält es sich aber nicht grundlegend anders, wenn nachträglich neue Umstände eintreten, die nunmehr Zweifel an der Richtigkeit der Verurteilung in tatsächlicher Hinsicht aufkommen lassen, sich also etwa ein neuer Zeuge meldet oder ein sonstiges neues Beweismittel zutage tritt. Gleiches gilt, wenn nachträglich eine Rechtsprechungs- oder Gesetzesänderung eintritt, zumal bei einer nachträglichen Änderung der Rechtslage ohnehin nicht die Richtigkeit der Entscheidung des erkennenden Gerichts in Zweifel gezogen wird. Selbstverständlich kann die Gnade zur Korrektur von Fehlurteilen nur ganz ausnahmsweise eingesetzt werden. Dies folgt aber nicht erst aus Besonderheiten des Wiederaufnahmerechts, sondern aus dem Ausnahmecharakter der Gnade. So paradox es klingt: Sofern die Einschätzung Eschelbachs, wonach jedes vierte Urteil ein Fehlurteil sei,326 auch nur annähernd stimmte, kann nicht die bloße Behauptung einer falschen Verurteilung zu einem Gnadenakt führen. Die von Eschelbach genannte Quote zugrunde gelegt könnten sonst Gnadenakte in 25 % der Fälle ergehen – mit der Eigenschaft der Gnade als ausnahmsweisem Einzelfallkorrektiv wäre dies unvereinbar. Macht der Verurteilte also mit seinem Gnadengesuch schlicht die anfängliche Unrichtigkeit der Beweiswürdigung geltend, ohne dass neue Beweismittel beigebracht werden, kann es kaum zum Erlass eines Gnadenakts kommen. Bei der Beibringung neuer Tatsachen oder Beweismittel, die nicht zum Vorrang eines Wiederaufnahmeverfahrens (§§ 359 ff. StPO) führen, wird der Gnadenträger letztlich selbst zu beurteilen haben, ob er etwa einem nachträglich benannten neuen Zeugen, der zur Erschütterung der Annahme eines besonders schweren Falls benannt wird, Glauben schenkt. Warum die Erschütterung eines besonders schweren Falls – die ja nur im Gnadenweg möglich ist – dann aber nur bei „offensichtlich willkürlichen Entscheidungen“327 erfolgen können soll, erschließt sich nicht. aber Weyde, in: HStA, 7. Teil, 4. Kapitel, Rn. 23. „Ohne jeden Zweifel“, SZ vom 16.5.2015, S. 2. 327 So schließlich Weyde bezüglich der Korrektur von tatsächlichen Fehlern im Gnadenweg, siehe S. 259 mit Fn. 322. 325 So
326 Vgl.
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Nach alledem ist festzuhalten, dass für den Erlass originärer Gnadenakte bei Fehlurteilen keine im Vergleich zu sonstigen originären Gnadenakten besonderen Einschränkungen gelten. 2. Gnade nach ablehnender Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren Bei der Bewertung, inwieweit im Anschluss an eine ablehnende Entscheidung im Wiederaufnahmeverfahren noch Raum für Gnade ist, ist zwischen den verschiedenen Verfahrensstadien – Aditionsverfahren, Probationsverfahren und Erneuerung der Hauptverhandlung – zu differenzieren: Zunächst gilt (wie auch bei den übrigen gesetzlichen Alternativregelungen) die Einschränkung, dass nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung nur dann Raum für Gnade ist, wenn keine Rechtsbehelfe mehr Erfolg versprechen. Soweit zulässig (insbesondere nicht verfristet), ist daher bei ablehnenden Entscheidungen im Aditions- oder Probationsverfahren die sofortige Beschwerde (§ 372 StPO) vorrangig, bei Aufrechterhaltung der Verurteilung nach erneuter Hauptverhandlung sind dies die Rechtsmittel des Erkenntnisverfahrens (Berufung bzw. Revision).328 Soweit das Aditionsverfahren schon keinen Erfolg hat – insbesondere weil eine der oben genannten329 drei Fallgruppen einschlägig ist – wird der Raum für Gnadenakte im Vergleich zu originärer Gnade nicht tangiert. Insofern verhält es sich nicht anders, als wenn der Verurteilte direkt ein Gnadenverfahren angestrengt hätte. Anders liegt es hingegen, wenn das Wiederaufnahmeverfahren im Probationsverfahren oder nach erneuter Hauptverhandlung scheitert. Denn die neu beigebrachten Tatsachen oder Beweismittel wurden dann gerichtlich gewürdigt und für nicht ausreichend erachtet. Insofern verhält es sich dann aber nicht anders, als wenn der Verurteilte von vornherein die Unrichtigkeit der im Ausgangsverfahren erfolgten Beweiswürdigung geltend macht – wie soeben festgestellt, ist dann schwerlich Raum für einen Gnadenakt. Um in der Folge gleichwohl Aussicht auf einen Gnadenakt haben zu können, müsste der Verurteilte also wiederum neue Beweismittel oder Tatsachen beibringen oder Rechtsfehler geltend machen.
328 Letzteres folgt auch daraus, dass das Begnadigungsrecht nur bei rechtskräftigen Verurteilungen Anwendung findet, die Erneuerung der Hauptverhandlung jedoch dazu führt, dass die Rechtskraft der angefochtenen Entscheidung durchbrochen wird (LR-Gössel, § 370 Rn. 31). 329 s. unter § 4 C. V. 1. a) (S. 251).
Ergebnis und Ausblick Die mit Durchsetzung der Idee eines (auch) der Spezialprävention verhafteten Strafrechts aufkommenden zahlreichen gesetzlichen Regelungen, die eine Anpassung der Verurteilung und Strafvollstreckung an die Besonderheiten des Einzelfalls ermöglichen, haben das Anwendungsfeld der Gnade nicht nur faktisch stark verringert. Vielmehr besteht ein rechtsverbindlicher Vorrang des gesetzlichen Wegs gegenüber der Gnade. Nur wenn eine gesetzliche Vergünstigung von vornherein nicht in Betracht kommt, oder aber die für die gesetzliche Entscheidung zuständige Stelle die Vergünstigung versagt, können Gnadenakte überhaupt noch rechtmäßigerweise ergehen. Erlässt der Gnadenträger einen gegen den Vorrang des Gesetzes verstoßenden (und damit rechtswidrigen) Gnadenakt, so ist dieser gleichwohl wirksam. Auch eine Strafbarkeit des Gnadenträgers gem. §§ 258 Abs. 2, 258a StGB scheidet aus. Der Gnade verbleiben auch heute noch Anwendungsfelder. Denn die bestehenden gesetzlichen Alternativregelungen sind zum einen fragmentarisch. Zum anderen lassen sich innerhalb ihres Anwendungsbereichs Beispiele nennen, in denen die gesetzlichen Voraussetzungen nicht vorliegen und Gnadenakte angezeigt sein können. Dies ist vielfach dann der Fall, wenn die Dauer gesetzlich festgelegter Zeiträume unterschritten1 bzw. überschritten2 werden soll. Raum für Gnade besteht zum Teil aber auch trotz Vorliegens dieser formellen Merkmale.3 Der Raum, welcher der originären Gnade im Übrigen verbleibt, beschränkt sich auf solche Bereiche, in denen es an einer gesetzlichen Regelung fehlt, welche die Gewährung der durch das Gnadengesuch begehrten Vergünstigung vorsieht. Solche „Gesetzeslücken“4 bestehen entweder, weil bezüglich der Sanktionsform keine gesetzliche Alternativregelung besteht – wie derzeit beim Fahrverbot (§ 44 StGB) – oder weil eine Rechtsfolge begehrt wird, die 1 Vgl.
§§ 57 Abs. 2, 57a Abs. 1 S. 1 Nr. 1, 69a Abs. 7 S. 2 StGB. § 456 Abs. 2 StPO sowie die Urlaubsregelungen des Strafvollzugsrechts. 3 Beispiele sind etwa Strafaufschub bei Geltendmachung einer besonderen Härte für nicht der Familie angehörende Dritte (z. B. Arbeitgeber) oder aber die Behauptung eines fehlerhaften Urteils bei Nichtvorliegen eines Wiederaufnahmegrundes. In der Tendenz richtig, den Anwendungsbereich bei Nichtvorliegen materieller Merkmale aber zu sehr einengend A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 172 f. 4 Bezeichnung nach A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 166. 2 Vgl.
Ergebnis und Ausblick263
das Strafrechtssystem nicht kennt – etwa die Umwandlung einer Strafe in eine andere oder ihr unbedingter Erlass. Auch nach ablehnender gesetzlicher Entscheidung kann Raum für Gnade bestehen, insbesondere dann, wenn neue Umstände eintreten oder bekanntwerden. Eine Bindungswirkung infolge der ablehnenden gesetzlichen Entscheidung besteht nicht. Die Idee eines „Sicherheitsventils des Rechts“5 ist mithin nicht obsolet. Der Raum, welcher der originären Gnade heute noch verbleibt, ließe sich allerdings durch eine gesetzliche Regelung de lege ferenda schließen. Soweit darauf verwiesen wird, der Gesetzgeber könne unmöglich sämtliche Fälle, in denen die Gnade weiterhelfen kann, voraussehen und beurteilen,6 ist dem entgegenzuhalten, dass die Problematik, durch abstrakt-generelle Regelung ein für jeden erdenklichen Einzelfall adäquates Gesetz zu schaffen, dem Strafrecht nicht eigen ist.7 So werden bekanntlich im Zivilrecht missliebige Ergebnisse z. B. durch die Generalklausel des § 242 BGB („Treu und Glauben“) korrigiert.8 Im Zivilprozessrecht besteht zwecks Wahrung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes9 unter anderem die Generalklausel des § 765a ZPO. Hiernach kann das Vollstreckungsgericht dem Schuldner Vollstreckungsschutz gewähren, wenn eine Zwangsvollstreckungsmaßnahme „unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist“. Während ursprünglich noch der Souverän durch Gnadenakt vorübergehend zahlungsunfähigen Schuldnern Vollstreckungsaufschub gewähren konn te, wurde diese Praxis ab dem 19. Jahrhundert erfolgreich bekämpft und ist damit heute vollständig vergesetzlicht.10 Im Öffentlichen Recht besteht neben den bereits oben genannten Möglichkeiten des Dispenses sowie des grundrechtlichen negatorischen Beseitigungsanspruchs11 die Möglichkeit, ein Wie5 v. Ihering
– siehe bereits S. 28 mit Fn. 25. in: Das strafende Gesetz im sozialen Rechtsstaat, S. 149 (169); Schall, Herzberg-FS, S. 899 (908 f.); weitere Nachweise auf S. 103 mit Fn. 102. Nach Böllhoff (Begnadigung und Delegation, S. 46) erkenne das Grundgesetz mit Integration des Begnadigungsrechts „die Endlichkeit des Rechts an“. Vor dem Hintergrund, dass das Begnadigungsrecht ohne nähere Diskussion in das Grundgesetz übernommen wurde (siehe unter § 1 E. I. [S. 59]), ist indes Vorsicht geboten, hieraus den Schluss zu ziehen, das Begnadigungsrecht sei aus Sicht der „Väter des Grundgesetzes“ zwingend notwendig, um besonderen Umständen des Einzelfalls Rechnung zu tragen. 7 Vgl. Henkel, Rechtsphilosophie, S. 325: „universale Problemlage allen Normenrechts“; Herzog, in: Staat und Recht im Wandel, S. 199 (200 f.). 8 Zu diesem Zusammenhang Engisch, Auf der Suche nach Gerechtigkeit, S. 183. 9 Vgl. MK-ZPO-Heßler, § 765a Rn. 30. 10 Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (33 f.) m. w. N. 11 s. dazu unter § 4 A. II. 3. (S. 216). 6 Müller-Dietz,
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deraufgreifen des Verfahrens zu erreichen;12 im Asylrecht haben sämtliche Bundesländer auf der Grundlage von § 23a AufenthG Härtefallkommissionen eingerichtet,13 welche in besonders gelagerten Einzelfällen eine Aufenthaltserlaubnis erteilen können, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen hierfür nicht gegeben sind. Die Idee der vollständigen Ablösung der Gnade durch ein gesetzliches Institut ist freilich nicht neu. Verschiedentliche Vorschläge sind hierzu in der Vergangenheit bereits ergangen. Neben der Idee v. Iherings eines „höchsten Gerichtshofes über dem Gesetz“14 ist aus neuerer Zeit insbesondere15 Kleins Vorschlag zu nennen, die Verfassungen zu ändern (Streichung von Art. 60 Abs. 2 und 3 GG sowie der entsprechenden Bestimmungen in sämt lichen Landesverfassungen) und zugleich ein bundesrechtliches „Gesetz zum Erlaß und zur Milderung von Strafurteilsrechtsfolgen“ zu schaffen. Hiernach sollten die Strafvollstreckungskammern die Rolle eines „Gnadengerichts“ einnehmen und anhand einer Generalklausel über die Gewährung von Vergünstigungen entscheiden.16 Dabei sollten nach Klein auch solche Vergünstigungen gewährt werden können, die bislang nur im Gnadenweg möglich sind, wie die Umwandlung einer Strafe in eine mildere oder der bedingungslose Straferlass. Daneben schlägt Klein punktuelle Änderungen vor, wie etwa die Streichung von § 456 Abs. 2 StPO oder § 69a Abs. 7 S. 2 StGB.17 Die Rechtmäßigkeit einer solchen generalklauselartigen Alternativregelung wird von A. Maurer in Zweifel gezogen. So bestünden verfassungsrechtliche Bedenken, da es zum einen unter Gewaltenteilungsgesichtspunkten und dem Prinzip der formellen Rechtskraft problematisch sei, wenn nachträglich in den Bestand eines rechtskräftigen Strafurteils eingegriffen werde; zum anderen stünde womöglich das verfassungsrechtliche Bestimmt12 Gem. § 51 VwVfG (Wiederaufgreifen im engeren Sinn) oder – sofern die Voraussetzungen des § 51 VwVfG nicht vorliegen – gem. §§ 48, 49 VwVfG (Wiederaufgreifen im weiteren Sinn). 13 Bergmann / Dienelt-Dienelt / Bergmann, § 23a AufenthG Rn. 4. Zur Parallele zwischen asylrechtlichem Härtefall und Begnadigungsrecht Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 155 ff. 14 s. unter § 1 A. I. 2. (S. 26). 15 Ferner: Dimoulis, Die Begnadigung in vergleichender Perspektive, S. 197 f.; Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 (41); Schneider, MDR 1991, 101 (104). Offenbar für eine ersatzlose Streichung des Begnadigungsrechts Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Recht durch Gnade?, S. 131 (143 ff.). 16 Die Frage, ob es sich infolge einer solchen gesetzlichen Regelung noch um „Gnade“ handelte (verneinend z. B. Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 143; Waldhoff, in: Gnade vor Recht – Gnade durch Recht?, S. 131 [144 f.]; Wussow, DÖD 1989, 105 [111]), ist letztlich rein terminologischer Natur. 17 Vgl. zum Vorstehenden Klein, Gnade, S. 120 ff, Gesetzesvorschlag auf S. 131 ff.
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heitsgebot einer solchen Generalklausel entgegen.18 Dem muss jedoch widersprochen werden: Inwieweit durch eine solche Generalklausel in den Bestand des Urteilsspruchs eingegriffen werden würde, ist Frage der inhaltlichen Ausgestaltung der betreffenden Regelung. So greifen etwa die Strafvollstreckungskammern bei ihren Entscheidungen nach §§ 57, 57a StGB nicht in verfassungswidriger Weise in den Bestand der vorherigen Verurteilung ein,19 oder es werden rechtskräftige Verurteilungen im Wiederaufnahmeverfahren nicht in verfassungswidriger Weise korrigiert. Insoweit wäre jedenfalls aus rechtsstaatlicher Sicht keine Verschlechterung gegenüber dem Status quo zu sehen, wonach die Gnadeninstanz ja ebenfalls die Folgen der rechtskräftigen Verurteilung beseitigt. Unter Gewaltenteilungsgesichtspunkten wäre es – umgekehrt – unbedenklicher, wenn nicht die Gnadeninstanz als Teil der Exekutive, sondern ein Gericht die Folgen der Verurteilung nachträglich korrigierte. Auch stünde das Prinzip der formellen Rechtskraft einer solchen Regelung nicht entgegen. Dem Gesetzgeber steht ein Ermessensspielraum zu, wie das Spannungsverhältnis zwischen formeller Rechtskraft und materieller Gerechtigkeit aufzulösen ist, der nur bei willkürlichem Handeln verletzt wird.20 Bei einer Regelung, die für außergewöhnliche Einzelfälle eine nachträgliche Korrektur vorsieht, wird dieser Ermessensspielraum ersichtlich nicht überschritten. Auch dem verfassungsrechtlichen Bestimmtheitsgebot könnte bei Schaffung einer solchen Generalklausel Rechnung getragen werden. Art. 103 Abs. 2 GG wäre hier ohnehin nicht einschlägig, da die Norm die hier in Rede stehende Strafvollstreckung gar nicht erfasst.21 Wie jede formal-gesetzliche Regelung müsste sich eine vollstreckungsrechtliche Generalklausel freilich an dem allgemeinen, aus dem Rechtsstaatsprinzip folgenden Bestimmtheitsgebot messen lassen.22 Hierdurch wird die Verwendung unbestimmter Rechtsbegriffe jedoch nicht ausgeschlossen; maßgeblich ist vielmehr, dass keine Verlagerung grundlegender Wertentscheidungen, die von der Legislative zu treffend sind, auf Exekutive bzw. Judikative erfolgt.23 Bedenkt man, dass etliche Gnadenordnungen typische Fallgruppen nennen, in denen Gnadenakte besonders naheliegen – ähnlich der Regelbeispieltechnik im materiellen 18 A. Maurer,
Begnadigungsrecht, S. 205 f. mit Fn. 163. Klein, Gnade, S. 125. 20 BVerfGE 3, 225 (237 f.); siehe auch BVerfGE 22, 322 (329). 21 Vgl. BVerfGE 64, 261 (280 – bezüglich § 13 StVollzG); Maunz / DürigSchmidt-Aßmann, Art. 103 Rn. 197. 22 Vgl. Maunz / Dürig-Schmidt-Aßmann, Art. 103 Rn. 167. 23 Schmidt-Aßmann, in: HStR I, § 24 Rn. 60. 19 Vgl.
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Strafrecht24 –, wäre daran zu denken, eine solche Generalklausel anhand der in den Gnadenordnungen genannten Gnadengründe zu konkretisieren.25 Da diese indes fragmentarisch sind,26 erscheint es sinnvoller, den Begriff der „unbilligen Härte“ zur Voraussetzung für die Gewährung einer Vergünstigung zu machen und diesen entsprechend der obigen Ausführungen27 anhand des Verhältnisses von Strafzwecken und berechtigten Interessen des Verurteilten zu konkretisieren. Es gibt jedenfalls heute im Vollstreckungsrecht Klauseln, die deutlich unbestimmter sind, indem sie als Voraussetzung lediglich „Unbilligkeit“ oder eine „unbillige Härte“ vorsehen,28 ohne dies näher zu konkretisieren – vom BVerfG wegen Verstoßes gegen das Bestimmtheitsgebot für nichtig erklärt wurden sie bislang nicht. Der Vorschlag Kleins ist im Ansatz zu begrüßen, wiewohl er in einigen Punkten Anlass zur Kritik bietet. Richtig ist zunächst die Erkenntnis, dass es allein mit fragmentarischen Änderungen, die sich auf die Erweiterung bereits bestehender gesetzlicher Alternativregelungen beziehen,29 nicht getan ist. Ungeachtet der Tatsache, dass dies zu einer Aufblähung der bestehenden Regelungen führte, garantierte dies nicht, dass tatsächlich ein lückenloses System nachträglicher Korrektur unbilliger Härten entstünde. Im Übrigen ist nicht ausgeschlossen, dass etwa bei Schaffung neuer Sanktionsformen – z. B. der Einführung des Fahrverbots als dritter Hauptstrafe – nicht nachträglich Unbilligkeiten eintreten, die der Gesetzgeber zuvor nicht bedacht hat, und die mangels einer spezifischen Alternativregelung für diese spezielle Sanktionsform dann nicht korrigiert werden können.30 Dies zeigt, dass nur eine Generalklausel den der originären Gnade verbleibenden Raum schließen kann. Aufgrund der fehlenden Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes für den Strafvollzug müsste sich eine entsprechende Regelung freidiesem Zusammenhang Walter, Strafvollzug, Rn. 370. diese Richtung geht auch § 3 von Kleins Vorschlag (Gnade, S. 131). 26 s. unter § 2 C. III. 2. (S. 104). 27 s. unter § 4 A. II. 1. (S. 200 ff.). 28 Vgl. z. B. § 436 Abs. 3 S. 2 StPO (Entschädigung bei Einziehung), § 459f StPO (Absehen von Vollstreckung bei Ersatzfreiheitsstrafe) sowie die kostenrechtlichen Vorschriften der §§ 465 Abs. 2 S. 1, 470 S. 1, 472 Abs. 1 S. 2, 472a Abs. 2 S. 2 und 473 Abs. 2 StPO. 29 Z. B. die Einfügung eines Absatzes 2a in § 57 StGB, der in besonders gelagerten Ausnahmefällen eine Reststrafaussetzung auch schon vor dem Halbstrafenzeitpunkt ermöglicht, etc. 30 Als weiteres Beispiel sei der durch Gesetz vom 17.7.2015 (BGBl. I, S. 1349) neu eingefügte § 54a Abs. 1 Nr. 2 IRG genannt, wonach für eine Strafrestaussetzung nach § 57 Abs. 2 StGB die Zustimmung des Urteilsstaats erforderlich ist. Hieraus resultierende unbillige Härten (Beispielsfälle bei Heydenreich, StraFo 2015, 8 [14]) können mangels gesetzlicher Milderungsmöglichkeit derzeit nur im Gnadenweg korrigiert werden. 24 Zu 25 In
Ergebnis und Ausblick267
lich auf das Strafrecht und Strafvollstreckungsrecht beschränken; dementsprechend wäre etwa die Möglichkeit einer Vollstreckungsunterbrechung aus besonderen persönlichen Gründen auf Grundlage einer solchen Generalklausel möglich, nicht hingegen Hafturlaub. Eine solche Generalklausel könnte de lege ferenda wie folgt lauten: § 461a StPO31 (1) 1Das Gericht32 kann auf Antrag des Verurteilten oder von Amts wegen33 im Einzelfall34 nach Rechtskraft der Verurteilung eine Strafe, Nebenstrafe, Nebenfolge oder Maßregel der Besserung und Sicherung ganz oder teilweise erlassen, ihre Vollstreckung aussetzen oder unterbrechen.35 2Insbesondere36 kann das Gericht 31 Als Regelungsstandort bietet sich der Erste Abschnitt des Siebenten Buchs der Strafprozessordnung an. Die Stellung hinter § 461 StPO erklärt sich daraus, dass zuvor speziellere gesetzliche Alternativregelungen bestehen. Mit der systematischen Stellung hinter diesen Regelungen würde der Ausnahmecharakter der Generalklausel eigens betont. Eines gesonderten Gesetzes bedürfte es entgegen Klein (siehe S. 264) nicht. 32 Bezüglich der Entscheidungszuständigkeit könnte an §§ 462, 462a StPO angeknüpft werden (Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammer bei der Vollstreckung von Freiheitsstrafen, im Übrigen Gericht des ersten Rechtszugs); siehe zur Begründung S. 270 mit Fn. 50. Dies erforderte die Aufnahme von § 461a StPO in die Aufzählungen in § 462 Abs. 1 S. 1 und § 462a Abs. 1 S. 1 StPO. 33 Die Möglichkeit einer Tätigkeit von Amts wegen sollte bestehen, da auch das Gnadenverfahren von Amts wegen eingeleitet werden kann; ebenso sollte im Gleichlauf mit dem Gnadenverfahren auf ein Zustimmungserfordernis verzichtet werden; siehe zu beidem unter § 2 C. III. (S. 98 mit Fn. 74 sowie S. 101 mit Fn. 91). 34 Auch insoweit sollte an die Rechtslage im Gnadenverfahren angeknüpft werden; siehe zum Einzelfallerfordernis bei der Gnadenausübung unter § 4 A. I. (S. 196 ff.). 35 Vgl. hinsichtlich des Gegenstands und der möglichen Milderungsmöglichkeiten auch § 2 von Kleins (Gnade, S. 131) Vorschlag. 36 Zur Regelungstechnik: S. 2 betrifft weitgehend diejenigen Bereiche, die als Ergebnis von § 4 C. (S. 232 ff.) noch an originärer Gnade übrig bleiben. Auf eine Regelung zur vorzeitigen Aufhebung der Sperrfrist zur Wiedererteilung der Fahrerlaubnis könnte verzichtet werden, wenn man § 69a Abs. 7 S. 2, 1. HS StGB wie folgt fasste: „Die Aufhebung ist in der Regel frühestens zulässig, wenn die Sperre drei Monate, in den Fällen des Absatzes 3 ein Jahr gedauert hat…“ Aus den soeben (S. 266) genannten Gründen sollten indes nicht allein punktuelle Änderungen (S. 2) vorgenommen, sondern eine Generalklausel (S. 1) geschaffen werden. Durch S. 2 könnten dem weit gefassten S. 1 jedoch Konturen gegeben werden. Die Möglichkeit des Erlasses soll insbesondere den der originären Gnade im Wiederaufnahmerecht ausnahmsweise verbleibenden Raum schließen. Im Übrigen könnten hierdurch unbillige Härten im Bereich der Nebenfolgen korrigiert werden (Anwendungsfall bei Sobota, Die Nebenfolge im System strafrechtlicher Sanktionen, S. 221).
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1. die Vollstreckung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder des Restes einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe zur Bewährung aussetzen, oder 2. die Vollstreckung einer rechtskräftigen Freiheitsstrafe oder eines nach § 44 des Strafgesetzbuchs verhängten Fahrverbots37 unterbrechen.38 (2) 1Eine Vergünstigung nach Absatz 1 setzt voraus, dass die Strafvollstreckung oder Fortsetzung der Strafvollstreckung für den Verurteilten ausnahmsweise eine unbillige Härte bedeutete. 2Eine unbillige Härte liegt vor, wenn die Strafvollstreckung oder Fortsetzung der Strafvollstreckung im Hinblick auf die hiermit verfolgten Zwecke nicht erforderlich ist oder ausnahmsweise die berechtigten Interessen des Verurteilten überwiegen, und eine Abhilfe nach sonstigen Rechtsvorschriften nicht in Betracht kommt. (3) Berechtigte Interessen des Verurteilten können sich nur als solchen Umständen ergeben, die dem erkennenden Gericht nicht bekannt waren.39 (4) 1In den Fällen des Absatzes 1 Satz 2 Nr. 1 ist eine Bewährungszeit von zwei bis fünf Jahren zu bestimmen. 2Die §§ 56a bis 56e des Strafgesetzbuchs und §§ 454, 454a gelten entsprechend. (5) Das Gericht kann Fristen von höchstens sechs Monaten, bei zu lebenslanger Freiheitsstrafe Verurteilten von bis zu zwei Jahren festsetzen, vor deren Ablauf ein erneuter Antrag des Verurteilten unzulässig ist.40 37 Wegen der systematischen Stellung der neu zu schaffenden Norm im Strafvollstreckungsrecht sollte sich die Klausel auf nach § 44 StGB verhängte Fahrverbote beschränken (und damit Fahrverbote auf Grundlage des § 25 StVG ausklammern). Um den bezüglich letzterer bestehenden Anwendungsraum originärer Gnade (dazu unter § 4 C. IV. 1. b) [S. 248]) einzuschränken, wäre an eine spezielle Regelung in § 25 StVG zu denken. 38 Die Möglichkeit, Strafaufschub zu gewähren, müsste in der Klausel hingegen nicht geregelt werden, wenn § 456 Abs. 2 StPO gestrichen und in § 456 Abs. 1 StPO „seiner Familie“ durch „einem Dritten“ ersetzt werden würde. Denn der Raum, welcher der Gnade hier heute noch verbleibt (dazu unter § 4 C. II. 1. [S. 241]), würde hierdurch weitgehend geschlossen. Durch die Möglichkeit einer Vollstreckungsunterbrechung nach der neu zu schaffenden Regelung entstünde freilich eine divergierende Entscheidungszuständigkeit über den Strafausstand (§§ 455, 456 StPO: Vollstreckungsbehörde; § 461a StPO: Gericht), welche in Anbetracht des Ausnahmecharakters von § 461a StPO jedoch hinnehmbar wäre. 39 Damit soll einer ausufernden Handhabung entgegengewirkt und dem Aspekt der Rechtssicherheit (Schutz der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung) Rechnung getragen werden; siehe zu diesem (von Klein vernachlässigten) Aspekt bereits im Zusammenhang mit dem fehlenden Anspruch auf Gnade unter § 4 A. II. 3. (S. 217).
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Gegen die Entscheidung des Gerichts wäre die sofortige Beschwerde gem. § 462 Abs. 3 StPO statthaft. Die Vorschrift ist lediglich als Anstoß zu begreifen, der den Vorschlag Kleins weiterentwickeln soll. Im Vergleich zum Gnadenverfahren brächte sie jedenfalls ein Mehr an Rechtsstaatlichkeit mit sich. Der These, wonach die Gnadenmotivationen „keineswegs so vielfältig [sind], daß sie nicht enumeriert und normiert werden könnten“41, wäre mit einer solchen Regelung mit Blick auf originäre Gnade zuzustimmen. Denn die Gnade schöpft ihre Legitimität eben nicht allein aus den nicht „behebbaren“ Mängeln des abstrakt-generellen Gesetzes,42 sondern aus den nicht behobenen. Eine Korrektur unbilliger Härten – dem maßgeblichen Anwendungsbereich der Gnade – wäre auf diesem Weg möglich. Soweit man daneben die Legitimität von Gnadenakten auch aus politischen Gründen anerkennt,43 ist fraglich, inwieweit hierfür in unserer heutigen Rechtsordnung überhaupt ein Bedürfnis besteht. In dem häufig genannten Beispiel der Begnadigung eines ausländischen Spions zwecks Gefangenenaustauschs44 wird vielfach schon § 456a StPO greifen,45 weil ein Grund für eine Ausweisung nach dem AufenthG gegeben ist.46 Der den politischen Gnadenentscheidungen zugeordnete Aspekt der „Befriedung“ bzw. „Wiederherstellung des Rechtsfriedens“ könnte – sollte er heutzutage denn überhaupt praktische Relevanz erlangen47 – als ein Aspekt der Strafzwecke (vgl. Abs. 2 S. 2 des obigen Vorschlags) berücksichtigt werden. Die Problematik eines solchen Vorschlags liegt – entgegen A. Maurer – nicht im Rechtlichen. Es stellt sich vielmehr die rechtspolitische Frage, ob 40 In Anlehnung an §§ 57 Abs. 7, 57a Abs. 4 StGB. Zur Begründung siehe sogleich S. 270 mit Fn. 50 a. E. 41 Bettermann, AöR 96 (1971), 528 (539); ebenso Klein, Gnade, S. 128. Anders aber (ohne nähere Begründung) Mickisch, Die Gnade im Rechtsstaat, S. 150; weitere Nachweise auf S. 103 in Fn. 102 und S. 263 in Fn. 6. 42 So aber Merten, Rechtsstaatlichkeit und Gnade, S. 76; siehe dazu S. 201 mit Fn. 30. 43 Dazu unter § 4 A. II. 2. (S. 212 ff.). 44 Dazu z. B. näher Schätzler, Handbuch des Gnadenrechts, S. 96, 153 f. 45 Klein, Gnade, S. 16; Schulz-Merkel, Gnadenrecht, S. 64. 46 Vgl. insbesondere die Vorschriften der §§ 53 Abs. 1, 54 Abs. 1 Nr. 1 bzw. Abs. 2 Nr. 1 AufenthG. Mit Aufnahme einer Regelung de lege ferenda, wonach z. B. in den Katalog des § 54 Abs. 1 AufenthG ausdrücklich die für die Spionage relevanten Straftatbestände mit aufgenommen werden, wäre jedenfalls für originäre Gnadenakte in diesem Bereich kein Raum mehr. Die Befürchtung A. Maurers (Begnadigungsrecht, S. 203), der hierin einen „legalisierten Freibrief bspw. zur Spionage“ sieht, kann nicht geteilt werden. 47 So hätte jedenfalls im Fall Klar eine Begnadigung den Rechtsfrieden wohl eher gestört denn wiederhergestellt (vgl. Kett-Straub, GA 2007, 332 [345 ff.]).
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der Raum für Gnade weiter eingeengt werden sollte. Auch wenn es praktisch wohl kaum eine politische Mehrheit für die Streichung von Art. 60 Abs. 2 GG (sowie § 452 StPO) und – in sämtlichen Ländern – den entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen geben wird,48 könnte mit einer solchen Generalklausel der Bereich originärer Gnadenakte einfach-gesetzlich weitgehend – auf „kaltem Wege“49 – abgeschafft werden: Weil nach Schaffung einer solchen Generalklausel praktisch kaum mehr ein Fall denkbar ist, in welchem nicht von vornherein die Gewährung einer Vergünstigung auf gesetzlichem Weg (nach den bereits bestehenden gesetzlichen Alternativregelungen oder nach der neu zu schaffenden Generalklausel) „in Betracht kommt“ – d. h. der Vorrang des Gesetzes gegenüber der Gnade greift –, verblieben der Gnade dann nur noch diejenigen Fälle, in denen zuvor das Begehren auf gesetzlichem Weg abgelehnt wurde. Neben dem Umstand, dass die weitere Verlagerung von Anwendungsfeldern originärer Gnade auf den gesetzlichen Weg insoweit ein Mehr an Rechtsstaatlichkeit mit sich brächte,50 hätte sie also den Nebeneffekt, dass der weitgehenden Delegation des Begnadigungsrechts – welche insbesondere aus der Erwägung heraus erfolgte, dass die Gnadensachen bislang 48 Hieran krankt Kleins Vorschlag der vollständigen Abschaffung der Gnade durch Streichung von Art. 60 Abs. 2 GG und der entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Bestimmungen, was er für „schwierig, aber realisierbar“ hält (Klein, Gnade, S. 120). 49 A. Maurer, Begnadigungsrecht, S. 199. Siehe zur Rechtmäßigkeit der Abschaffung der Gnade auf „kaltem Wege“ bereits unter § 3 D. IV. (S. 195). 50 Die eingangs (S. 21 mit Fn. 14) genannten verfahrensrechtlichen Defizite könnten mit einer solchen Generalklausel behoben werden. Fraglich ist, ob sich der Staat ein solches Mehr an Rechtsstaatlichkeit leisten möchte. Denn gegenüber dem intransparenten Gnadenverfahren wäre ein gesetzliches Verfahren auf Grundlage einer Generalklausel sicher attraktiver, mit der Folge, dass im Vergleich zu den Gnadenverfahren eine zahlenmäßige Verfahrenszunahme zu erwarten wäre; die zugleich zu schaffende Rechtsbehelfsmöglichkeit (sofortige Beschwerde gem. § 462 Abs. 3 StPO) erforderte weitere Ressourcen. In Zeiten „knapper Kassen“ erscheinen daher solche Vorschläge unrealistisch, welche die Entscheidungszuständigkeit über eine solche Generalklausel generell einem Kollegialorgan zuweisen wollen (so aber Rüping, Schaffstein-FS, S. 31 [41: aus Vertretern von Gericht, Staatsanwaltschaft und Vollzugsanstalt zusammengesetzte Kommission]; siehe auch den bereits oben [S. 26] genannten Vorschlag v. Iherings eines „höchsten Gerichtshofes über dem Gesetz“). Daher erscheint es sinnvoller, an §§ 462, 462a StPO anzuknüpfen (Zuständigkeit der Strafvollstreckungskammern [§ 462a Abs. 1 StPO], welche grundsätzlich mit einem Richter entscheiden [§ 78b Abs. 1 Nr. 2 GVG]). Krit. gegenüber einer Entscheidungszuständigkeit der Strafvollstreckungskammern de lege ferenda jedoch Blaich, Gnadenrecht, S. 269 f. In diesem Zusammenhang erscheint zudem eine den §§ 57 Abs. 7, 57a Abs. 4 StGB vergleichbare Regelung sinnvoll (siehe hierzu Abs. 5 des obigen Gesetzesvorschlags) – eine solche sieht Kleins Vorschlag nicht vor.
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zahlenmäßig zu groß sind, als dass sie allein von den hierfür von den Verfassungen vorgesehenen Entscheidungsträgern getroffen werden könnten –51 der Boden entzogen wäre. Das praktische Bedürfnis der viel kritisierten Delegation der Gnade auf die Ebene unterhalb des Justizministeriums, die freilich wenig mit dem zu tun hat, was man landläufig unter „Gnade“ versteht,52 würde hierdurch jedenfalls entfallen.53 Auch wenn sich die vorliegende Arbeit darum bemüht hat, die Integration der Gnade in das Recht aufzuzeigen und der metaphysischen Vorstellung von einer dem Recht vorgeschalteten Gnade entgegenzutreten – die weitgehende Abschaffung der originären Gnade also nicht dazu führen kann, dass sich die Gnade wieder auf ihre „eigentliche Aufgabe“ als „außerrechtlich[es] … Korrektiv“54 konzentrieren kann, hierfür ist im Rechtsstaat kein Raum –, wäre dies zumindest ein Mittel, der Gnade wieder ihr „amtscharismatisches“ Element55 zurückzuverleihen. „Die Gnade ist dem Wunder innigst verwandt: wie dieses die Naturgesetze durchbricht, so durchbricht sie die Rechtsgesetzlichkeit…“56 Doch so wie es des Naturwissenschaftlers Antrieb ist, die Wunder naturgesetzlich zu verstehen, so sollte auch der Anwendungsbereich des „Wunders Gnade“ möglichst durch das Gesetz weiter verkleinert werden.
51 Vgl. Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 18; siehe dazu bereits Burger (S. 94 mit Fn. 42 und S. 95 mit Fn. 50). 52 Vgl. die vielbeachtete Bezeichnung Dürigs (JZ 1961, 166), wonach die von unteren Behörden nach Gnadenordnungen gewährte Gnade zur „kleinen Münze“ werde; Klein (Gnade, S. 108) hält die Delegation an Staatsanwaltschaften gar für „verfassungswidrig“. 53 Insofern verhielte es sich ähnlich wie bei der Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde (vgl. § 90 Abs. 2 BVerfGG), deren Sinn und Zweck u. a. darin liegt, „das Bundesverfassungsgericht zu entlasten und für seine eigentliche Aufgabe des Verfassungsschutzes freizumachen“ (BVerfGE 4, 193 [198]; ebenso BVerfGE 16, 124 [127]; 102, 197 [207]; Warmke, Die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde, S. 33, 36). Der von Klein vorgeschlagenen – praktisch kaum durchsetzbaren – Streichung von Art. 60 Abs. 2 GG sowie der entsprechenden landesverfassungsrechtlichen Vorschriften bedürfte es daher nicht. 54 So Volckart, NStZ 1982, 496 f. 55 Hierfür zuletzt Böllhoff, Begnadigung und Delegation, S. 201 f. Seine Forderung nach einem Verfahren, in welchem die Anzahl von Begnadigungsgesuchen durch eine „amtscharismatische“ Stelle (Bundespräsident bzw. Ministerpräsidenten, Minister und Staatssekretäre) „sinnvoll bearbeitet“ werden kann (a. a. O., S. 201), ließe sich hierdurch verwirklichen. 56 Radbruch, Rechtsphilosophie III, S. 264.
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Sachregister abschließender Charakter 219 ff. Absehen von Strafe 67 ff., 129 Amnestie 122 ff. Anspruch auf Gnade 162 ff., 215 ff. Auslegung von Gnadengesuchen 167 f. bedingte Begnadigung 35 ff., 48 f. bedingte Entlassung 61 f. Begnadigungsrecht (Begriff) 19, 34 f. Beschleunigungsgebot 164 f., 182 ff. Bewährungswiderruf 251 f. Bindungswirkung 228 ff. Deutsches Kaiserreich 33 ff. Einzelfallkorrektiv 47, 196 ff. Entziehung der Fahrerlaubnis (Historie) 79 ff. Entziehung der Fahrerlaubnis und Gnade 199 f., 245 f., 249 Ersatzfreiheitsstrafe 82 f. Fahrverbot und Gnade 246 ff. Fehlurteile 30, 250 ff. formelle Merkmale (Begriff) 169 f. Geldstrafen 46, 51 ff., 55, 82 Gesetzesänderung 253 f. gesetzliche Alternativregelungen (Begriff) 23 gesetzliche Strafvergünstigungen (Begriff) 23 Gewaltenteilungsgrundsatz 142 ff., 160 Gewohnheitsrecht 106 f., 159 f. Gnade als außerordentlicher Rechts behelf 223 ff. Gnadenbehörde (Begriff) 100 Gnadengründe 102 ff.
Gnadenordnungen 96 ff. Gnadenrecht (Begriff) 23 Gnadenverfahren (Ablauf) 96 ff. GnO 1935 54 ff. Individualgerechtigkeit (Begriff) 201 f., 211 f. Individualisierung (Begriff) 28 f. Inhalt der Gnadenentscheidung 89 ff. irrationale Gnade (Begriff) 137 Jugendstrafrecht 51 ff., 58 f., 64 ff., 84 f. Justiziabilität 107 ff. Konkurrenzregeln 149 ff. Kriminalpolitik 45, 87 f., 198 ff. lebenslange Freiheitsstrafe 73 ff., 236 ff. Maßregeln der Besserung und Sicherung 56 ff., 84, 90 materielle Merkmale (Begriff) 169 f. Nebenfolgen 84, 90 NS-Zeit 53 ff. originäre Gnade (Begriff) 131 originärer Gnadenträger (Begriff) 48 Politische Gnadenentscheidungen 212 ff. RAF 21 f., 212, 239 Rechtsprechung zur Gnade 109 ff. Rechtsprechungsänderung 252 f. Rechtssicherheit 217, 257 rechtswidrige Gnade 190 ff.
Sachregister289 Reststrafaussetzung (Historie) 66 f., 73 ff., 78 f. Reststrafaussetzung und Gnade 91 f., 232 ff. Richten nach Gnade 24 Selbstbindung der Verwaltung 136 Strafaufschub (Historie) 42 ff. Strafaufschub und Gnade 208, 240 ff. Strafaussetzung zur Bewährung 60 ff., 66 f., 129 Strafausstand (Historie) 42 ff. Strafausstand und Gnade 208 f., 240 ff. Strafunterbrechung (Historie) 78 Strafunterbrechung und Gnade 208 f., 240 ff. Strafvollzugslockerungen (Historie) 70 ff. Strafvollzugslockerungen und Gnade 244 f. Strafzwecke 105, 207 Subsidiarität der Gnade 146 ff.
Theologie 138 f., 223 Todesstrafe 35, 47, 202 unbillige Härte (Begriff) 200 ff., 211 Vergesetzlichung (Begriff) 21, 128 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 203 ff. Vollstreckungsvereitelung 192 ff. vorläufige Entlassung 39 ff., 45, 56 Vorrang des Gesetzes 128 ff., 148 f. VwV Nachschulung 80 f., 199 f. Weihnachtsamnestie 72 f., 198 f. Weimarer Reichsverfassung 46 ff. Wiederaufnahme des Verfahrens (Historie) 29 ff., 44 f., 55, 85 Wiederaufnahme des Verfahrens und Gnade 250 ff. Zahlungserleichterungen 49 ff., 82 Zuständigkeit für Gnade 92 ff.