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German Pages 178
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Grundwissen Theologie Herausgegeben von Klaus von Stosch
Der Autor: Jürgen Werbick, geboren 1946, Theologiestudium von 1965 bis 1973 in Mainz, München und Zürich, 1973 Promotion bei Heinrich Fries, 1973 bis 1975 Pastoralassistent in der Erzdiözese München und Freising, 1975 bis 1981 Wissenschaftlicher Assistent im Institut für Praktische Theologie (Homiletik) der Ludwig Maximilians-Universität in München, 1981 Habilitation für Fundamentaltheologie und Ökumenische Theologie an der dortigen Katholisch-Theologischen Fakultät, 1981 bis 1994 Professor für Systematische Theologie in der Universität Siegen, 1994 bis 2011 Professor für Fundamentaltheologie in der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster. Zahlreiche Veröffentlichungen in den Bereichen Fundamentaltheologie, Dogmatik und Praktische Theologie, insbesondere Homiletik.
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
© 2013 Ferdinand Schöningh, Paderborn (Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn) Internet: www.schoeningh.de Das Werk, einschließlich aller seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn Einbandgestaltung: Atelier Reichert, Stuttgart UTB-Band-Nr: 3842 ISBN 978-3-8252-3842-1
Inhaltsverzeichnis Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Mister Gnadenlos … . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . … und die Gnadenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1. Gnade als Lebensqualität – biblische Perspektiven . . . . . . 1.1 Über die Lebensnot hinaus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.2 JHWHs Segen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Das Evangelium von Gottes Gnade (Apg 20,24). . . . . 1.4 Die Macht der Gnade . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Gottes Werk – und der Menschen Beitrag?. . . . . . . . . . . . . 2.1 Die Gnade auf dem Weg der Gott-Verähnlichung . . . . 2.2 Gnade und freier Wille – zum Ersten . . . . . . . . . . . . . . 2.3 Die Gnade allein, Gott allein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Befreiung vom Augustinismus? . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen . . . . . . . . . . . . . . . 3.1 Weitung der Perspektive. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Vielfalt und Einheit der Gnade. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Gnade: die Selbstgabe des liebenden Gottes . . . . . . . .
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4. Gnade als Rechtfertigung: Luthers Augustinismus. . . . . . . 4.1 Wie kriege ich einen gnädigen Gott? . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Gnade als die „fremde“ Gerechtigkeit? . . . . . . . . . . . . 4.3 Glaube oder Sünde: Woher lebt der Mensch? . . . . . . . 4.4 Gnade und Freiheit: zum Zweiten . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Gesetz und Evangelium . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.6 Fernwirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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5. Gnade und menschliche Freiheit: eine unabgeschlossene Konfliktgeschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 5.1 Trient: Korrektur oder Missverständnis Luthers? . . . . 85 5.2 Verständigungsversuche und der Kern des Konflikts . 88 5.3 Der Gnadenstreit in der katholischen Theologie . . . . . 95 5.4 Überholte Fragestellungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 5.5 Gnade als verheißungsvolle Herausforderung . . . . . . . 101
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Inhaltsverzeichnis
5.6 Neuzeitliches Freiheitsbewusstsein vs. rechtfertigungstheologische Befreiungsbotschaft? . . . 104 5.7 Gnade als befreit-befreiende Leidenschaft. . . . . . . . . . 109 6. Natur und Gnade: eine Entfremdungs-Geschichte? . . . . . . 6.1 Von der Metaphysik zur Empirie – und wie die Theologie reagiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Zwei-Stockwerk-Theorie? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.3 Gnaden-Immanenz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.4 Auf dem Weg zu einer neuen Theologie der konkreten Menschenwirklichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.5 Gnade mitten im Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.6 Gnade und Glück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe: Geschichte einer Herausforderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Das Mit-Gegebene: Mitgift, so oder so . . . . . . . . . . . . 7.2 Anerkennung und Missachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.3 Gnade im Gabe-Paradigma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.4 Gott gibt sich selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.5 Gnadengaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.6 Die Gabe des guten Weges – und der Rechtleitung . . .
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Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
Einführung Mister Gnadenlos … Kennen Sie Michael Strochowitz? Er ist erfolgreicher Motivationstrainer in der Network-Marketing-Szene. Beim Network-Marketing geht es darum, mit viel „Überzeugungsarbeit“ Menschen für direkt vermarktete Produkte zu gewinnen und womöglich auch dafür, ihrerseits im „Netzwerk“ Direktverkäufer zu werden, für den Klassiker Tupperware etwa oder teure Kosmetika. Die Frustrationsrate ist hoch, die Motivation weiterzumachen schnell aufgezehrt. Da braucht es Motivationstrainer wie Mister Gnadenlos Michael Strochowitz. Seine Kampfparole: Gnadenlos ehrlich, gnadenlos direkt, gnadenlos inspirierend, gnadenlos erfolgreich! Und dazu noch etwas bieder: Erfolg ist Pflicht. Die Fußballtrainer alter Schule sind noch aus anderem Holz geschnitzt: harte Hunde; einer hat den Spitznamen Quälix; Mister Gnadenlos war der Kampfname von Eduard Geyer, dem letzten Trainer der DDR-Fußball-Nationalmannschaft. Im Leistungssport muss man gnadenlos sein, um 150% Leistung aus der Mannschaft herauszuholen. Die „gesunde Härte“ und die rücksichtslose Erfolgsorientierung machen den Erfolgs-Coach, mitunter auch das Erfolgs-Image der Politiker. Ältere erinnern sich noch an den „Richter Gnadenlos“ Ronald Schill, der mit diesem Label prompt eine politische Karriere hinlegte und es bis zum Hamburger Innensenator brachte, bis er doch dem süßen Leben zum Opfer fiel. Googelt man das Stichwort Gnade, so findet man mit wenigen Ausnahmen religiöse oder kirchliche Bezüge; im säkularen Sprachgebrauch kommt fast nur die Wortfolge ohne Gnade vor; als Forderung etwa: keine Gnade für Kinderschänder; oder im Titel des Ben Affleck-Films: The Town – Stadt ohne Gnade. Eine seltene Ausnahme ist der Titel eines Romans der Nobelpreisträgerin Toni Morrison: Gnade (deutsch 2010). Da geht es um die Geschichte von vier Frauen in den USA der Sklavenzeit. Alle leben sie von der – oft genug grausam verweigerten – Gnade eines Mannes; nur eine schafft es, loszukommen von dieser entwürdigenden Abhängigkeit.1 Gnade ist nichts für einen aufrechten Mann, für eine taffe, entschlossen ihre Chance ergreifende Frau. Gnade hat seit alters her mit Betteln zu tun; damit, dass ein Mächtiger, ja der Mächtigste sie erweisen muss. Noch gibt es sie in unserem Rechtssystem, die Begna-
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Einführung
digung durch den Souverän. Ist sie nicht ein Rest aus dem feudalen Willkürsystem, in dem der Fürst das Schicksal seiner Untertanen in der Hand hatte und über es entscheiden konnte? Die französische Revolution hat die Begnadigung abgeschafft, nicht auf Dauer freilich. Wer will schon von der Gnade anderer abhängig sein! Auf die eigenen Stärken soll es ankommen, auf die Freiheit, das zu werden, was in mir steckt – und was aus mir herausgeholt werden muss durch Härte gegen mich selbst und, wenn es sein muss, gegen andere; durch einen „Weg der Grösse“, in Gefahr dem Gipfel entgegen, durch Abgründe. Nietzsche und sein Prophet Zarathustra lassen grüßen und geben das Leitmotiv vor: „Gelobt sei, was hart macht! Ich lobe das Land nicht, wo Butter und Honig – fliesst!“2 Verachtet sei das Vertrauen auf die wohlfeile Gnade, das jedes Selbstvertrauen untergräbt, Zuflucht der Schwachen und Zu-kurz-Gekommenen, die das Leben nicht in die Hand nehmen, immer und überall auf Mitgefühl und Hilfe angewiesen sind, sich ausruhen auf dem sanften Kissen, das ihnen von den bisher noch funktionierenden Sozialsystemen untergeschoben wird. Der Nietzsche des „Gelobt sei, was hart macht“ hat Konjunktur. Die Märkte kennen keine Gnade; sie bestrafen alle, die sachfremde Rücksichten nehmen. Die Wirklichkeit selbst ist gnadenlos. Ihre Herausforderungen besteht nur, wer keine Gnade kennt. Ist das der Pendel-Ausschlag nach der anderen, der rechten Seite, nachdem der Ausschlag auf der Linken viel zu viel soziale Mitfühlsamkeit und Absicherung nach sich gezogen und die Selbstverantwortung untergraben hat? Die Neoliberalen sehen es so; Hartz IV-Empfänger spüren eher die Gnadenlosigkeit einer Gesellschaft, die jetzt wieder entschiedener auf die „Leistungsträger“ setzen und soziale Wohltaten einschränken muss. Wie soll man da theologisch von Gnade reden, ohne sich dafür von vornherein die Etikettierung „hilflos-folgenloser GutmenschenSprech“ einzufangen? Hält das theologische Sprechen von Gnade die Menschen nicht abhängig und weinerlich, statt sie zur nötigen Härte und Entschlossenheit herauszufordern? Bietet sie ihnen nicht einen billigen Trost im Scheitern und Zurückbleiben, wo es darauf ankäme, letzte Reserven zu mobilisieren? Macht sie ihnen nicht weiß, es käme doch nicht entscheidend auf ihre Leistung, sondern eben auf Gottes Gnade an –, so dass dann der letzte Einsatz fehlt, der die schlimmen Dinge vielleicht noch ändern könnte? Diese Fragen problematisieren das Sprechen von Gnade nach unterschiedlichen Richtungen. Sie sind alles andere als rhetorisch. Wir werden sie mitnehmen und ernstnehmen müssen, wenn wir uns in
… und die Gnadenlehre
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Geschichte und Systematik der Gnadenlehre hineinarbeiten, damit das theologische Reden von Gnade nicht in die gesellschaftliche Belanglosigkeit verführt. Wie also von Gnade sprechen in einer Zeit, in der man aus der Not der Gnadenlosigkeit eine Tugend macht, die Tugend vielleicht, die heute am meisten vonnöten ist; in einer Zeit, da man allenfalls noch die in den höheren Sphären beheimateten großen Künstler begnadet nennt? … und die Gnadenlehre Worte und Begriffe haben ihre Geschichte, ihr Schicksal – sua fata habent verba. Ohne ihre Geschichte verlieren sie den Ort, an dem sie ursprünglich und selbst-verständlich gesprochen haben, und werden sie missverständlich. Aber man darf sie nicht in ihre Geschichte einsperren, als hätten sie ihren Ort und ihre Verstehbarkeit allein in Situationen und Verhältnissen, die nicht mehr die unseren sind; als seien die Worte ebenso vergangen und in der Geschichte zurückgeblieben, wie es diese Situationen und Verhältnisse sind. Die Glaubens-Worte, von denen heute noch zu sprechen ist, passten nie genau in die Situation, waren nie ganz selbstverständlich. Sie haben von einer erstaunlichen Erfahrung gesprochen, die Menschen in der gewohnt-alltäglichen Erfahrungswelt nicht mehr ganz zuhause sein ließ; mit einer gewissen Befremdlichkeit, die immer wieder neu zum Anstoß wurde, zu verstehen und zu artikulieren, was diese Menschen zum Staunen oder zum Erschrecken brachte. – In einer Sprache, mit der man sich ansonsten alltäglich verständigte und die eben jetzt das Nicht-Alltägliche sagen sollte, mehr sagen sollte, als die Sprache alltäglich hergab. Worte sollen mehr sagen als das, was man in ihnen bisher hörte und verstand; sie werden für neue, erstaunliche Erfahrungen und Situationen in Dienst genommen, auf neue Situationen übertragen, für die man sie bisher nicht in Anspruch genommen hat. So entsteht eine Unstimmigkeit, und man ist – wenn man verstehen will, was da gesagt wird – genötigt, mitzuvollziehen, wie das alte Wort die neue Situation doch irgendwie verstehbar macht und wie die neue Situation das althergebrachte Wort umdefiniert. Der Vorgang ist kompliziert zu beschreiben. Aber wir vollziehen ihn ganz alltäglich mit. Um ein ganz banales Beispiel anzuführen: Wir sprechen von Haircut, Haarschnitt. Und wenn wir das Wort im Kontext von Wirtschaftsnachrichten hören, verstehen wir Schuldenschnitt: Die Schulden eines Staates oder privater Schuldner werden
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Einführung
„gestutzt“, nicht vom Friseur natürlich, sondern vom Gläubigerkonsortium. Man stutzt sie zurecht, damit die Schuldner vielleicht wenigstens einen Teil zurückzahlen und die Banken die faulen Kredite nicht zu 100% abschreiben müssen. Haircut: Wer wird geschoren? Zunächst müssen die Banken „Haare lassen“ – Teilbeträge in den Wind schreiben. Aber geschoren wird zuletzt doch der Schuldner. Er muss harte Bedingungen akzeptieren und wird nicht ganz aus seinen Verpflichtungen entlassen. Haircut: Wer das Wort verstehen will, muss es aus der Situation und der Geschichte heraus, in der es nun seine Selbstverständlichkeit hat, neu verstehen und dabei auch nachvollziehen, wie es die neue Situation verständlich macht, in ihrem Erfahrungsgehalt bildhaft erschließt: Was wird gestutzt? – Wer wird geschoren? Fragend und verstehend arbeiten wir spontan oder reflektiert die Spannung ab, welche die Metapher Haircut uns zumutet. Wir haben den Alltagsvorgang des Haarschnitts als Metapher zu nehmen und auszulegen. Metaphern können nur funktionieren, wenn Worte eine neue Geschichte bekommen; in Erzählungen, in denen wir den neuen Sinn der Worte mitvollziehen lernen, ehe wir überhaupt danach fragen können, worin er liegt. Die treffende Metapher ist so etwas wie die Pointe der Geschichte: Haircut – eine Geschichte des Stutzens und Zusammengestutztwerdens; ein Drama, in dem die „Scheren“ weit mehr Gewalt ausüben als beim Friseur um die Ecke. Metaphern übertragen, so der Wortsinn bei Aristoteles. Aber sie sagen es doch mit einer treffend-bildhaften Direktheit, wie es eine eher technische Beschreibung der Vorgänge nie könnte. Spräche man von einem Teilerlass der Schulden, man hätte bei weitem nicht so evokativ – das Vorstellungsvermögen herausfordernd – von der Sache gesprochen und damit auch nicht so treffend. Es wird Leute geben, die solche Metaphern nicht mögen, weil sie treffen und den Schleier wegreißen von Vorgängen, die im Verborgenen reibungsloser funktionieren. Metaphern können Entlarvungen sein. Die Glaubenssprache ist durch und durch metaphorisch. Wie könnte es auch anders sein! Sie soll ja vom Nicht-Alltäglichen mitten im Alltag sprechen: dem Göttlichen. Für antike Völker und Religionen mag das Göttliche alltäglich gewesen sein, ein bestimmender Faktor im sozialen Gefüge, so sichtbar und in alltäglicher Verständigung präsent wie das Haareschneiden: Götterfiguren, Tempel, Opfer, Gottesmänner und -frauen, aus denen der Gott sprach, Richter, die seine Urteile fällten, Könige, die ihn repräsentierten und mitunter Gnade – Seine Gnade – walten ließen. Wo die Glaubenswelt eine „eigene“
… und die Gnadenlehre
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Welt wurde und sich nicht mehr mit innerweltlichen Faktoren identifizieren ließ, wo also die Götter nicht mehr selbstverständlich dabei oder „darin“ waren, wenn Menschen das Alltägliche und Könige das Herrschaftswichtige taten, Priester und Propheten Gottes Worte sprachen und den Wohnort der Götter unter den Menschen betreuten, da gerieten die Glaubensworte in eine deutliche metaphorische Spannung: Was hieß es denn nun, dass Gott im Tempel wohnte, wo er doch der Unermessliche, über jeden Ort Erhabene war? Was hieß es, dass er sprach, wo er doch keinen Mund und keine für das menschliche Ohr vernehmbare Stimme hatte? Was hieß es, dass er handelte, in die Geschichte eingriff, wenn er doch keine Hände hatte, keine Heere, die den Gang der Geschichte beeinflussen konnten, keine Machtmittel, vor denen die Potentaten klein bei gaben? Was hieß es, dass er den Menschen Gnade erwies, sein Angesicht zuwandte und sie mit Wohltaten segnete, wo er doch nicht wie ein Herrscher auf dem Thron saß und sich seinen Untertanen gnädig erweisen konnte – oder auch nicht? Mit solchen Fragen beginnt Theologie. Die Bibel nimmt diese Worte auf und gibt ihnen eine neue Geschichte. Sie sind nicht mehr in ihre Herkunft eingesperrt, haben Zukunft, werden aufschlussreich für neue Situationen und Erfahrungen – und nötigen die Menschen zu fragen, was sie jetzt bedeuten. So entsteht der Stand der religiösen Profis, die solche Fragen von Amts wegen stellen und auf je ihre Weise bearbeiten: indem sie in den überlieferten Geschichten für heute neue Akzente setzen, so dass die Zeitgenossen verstehen lernen, was es heißt, dass Gott redet – oder schweigt, wo und wie er redet, warum er schweigt; was es heißen kann, dass wir in seiner Gnade leben. Relativ spät kommt die begriffliche Arbeit hinzu, die an den Metaphern und Geschichten zu unterscheiden versucht, was sie tatsächlich bedeuten und wo sie in die Irre führen könnten, welcher Sinn herausgearbeitet werden soll und welche Assoziationen ausgeblendet bleiben müssen. Die zunehmende – von immer größeren Sprachgemeinschaften, immer umfassenderen Diskurskulturen und Alternativangeboten provozierte – Erfahrung der Fehlbarkeit von Sprache erzwingt das Unterscheiden und bewusste Akzentuieren: Das ist gemeint, jenes nicht! In der katholischen Tradition wird daraus schließlich die Überzeugung, es müsse ein „unfehlbares“ (besser: untrügliches, weil nicht in die Irre führendes, infallibles) Lehramt geben als sichtbare, letzte Instanz, welche die Vieldeutigkeit der Glaubenssprache verbindlich zur Eindeutigkeit bringt, soweit das in Entscheidungssituationen nötig sein sollte. Aber es kann verhängnisvoll sein, zu schnell und zu radikal Eindeutigkeit
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Einführung
erzwingen zu wollen. Die Worte werden dann in die geschichtliche Situation eingesperrt, in der man über ihren eindeutigen Sinn entschied; sie verlieren das Potential, „mehr“ zu bedeuten, in neuen Geschichten vorzukommen und in neue Erfahrungen auszustrahlen. Sie büßen ihren Beziehungsreichtum ein und werden museal, Worte von gestern oder vorgestern. Ging es nicht auch mit dem Wort Gnade so? Wurde es nicht von kirchlichem Lehramt und den Theologien der unterschiedlichen christlichen Konfessionen beziehungsarm gemacht und zu Tode definiert? Der Befund der Internet-Recherche mag dafür sprechen. Das Wort Gnade scheint kaum in neuen Geschichten vorzukommen. Wenn doch einmal ein Roman auf es zurückgreift, dann genau deshalb, weil er den Emanzipationsprozess der Protagonistin gegen es profilieren will: Gnade als das, was sie hinter sich lassen muss, um das eigene Leben zu leben. Gnade museal: der Begriff leuchtet unsere Situation nicht mehr aus; er nimmt nichts mehr von unseren Erfahrungen in sich auf. Ist es so? Immerhin: der Begriff gnadenlos trifft mitten in die Selbst- und Gesellschaftsbilder, in die Sehnsucht und die Ängste der Zeitgenossen. Lebt das alte Wort Gnade da noch im Gefühls- und Sprach-Untergrund weiter? Es käme in der theologischen Gnadenlehre darauf an, den Beziehungsreichtum des Glaubens-Wortes Gnade neu zur Geltung zu bringen, nicht indem man die erreichten und notwendig gewordenen Differenzierungen und Definitionen negiert, sondern indem man sie im Gesamtzusammenhang der biblischen und kirchlichen Überlieferungen relativiert. Die Definitionen gewannen ihre Bestimmtheit durch semantische Verarmung der leitenden Metaphern zu genau bestimmten Begriffen, durch „Vereindeutigung“, die sie nur in einer Konflikt- und Klärungsgeschichte bedeutsam sein ließ und die Geschichten, in denen dieses Glaubens-Wort zuvor seine vielfältige Bedeutung gewann, weitgehend abblendete.3 Wenn man diese weiteren, früheren Geschichten wieder mitzuhören versucht, so macht man die danach erreichten Definitionen nicht gegenstandslos oder unnötig. Man liest sie im Zusammenhang anderer Geschichten, in denen das Wort auch eine aufschlussreiche Bedeutung gewonnen hatte. Man versucht, es durch ein Wiederlesen – durch Relecture – dieser früheren und anderen Geschichten semantisch „anzureichern“, ohne schon erreichte Bestimmtheiten aufzugeben. So könnte der Beziehungsreichtum des Wortes auch in den Geschichten der Gegenwart neu zum Tragen kommen. Und vielleicht könnten die Zeitgenossen wieder etwas damit anfangen.
… und die Gnadenlehre
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Ob das mit dem Glaubens-Wort Gnade gelingen kann? Es wäre einen Versuch wert. Das negative Derivat gnadenlos darf nicht allein den Sprachgebrauch beherrschen! Die tiefe, immer noch vielfach als katastrophal empfundene Zwiespältigkeit der Gnadenlosigkeit kann doch nur verstanden und ihr könnte nur widerstanden werden, wenn man wieder beziehungsreich und herausfordernd von Gnade sprechen lernen würde. Das Buch, das Sie in die Hand genommen haben, ist so geschrieben, dass es die Geschichten nacheinander und ineinander zu erzählen versucht, in denen das Wort Gnade jeweils seine Bedeutung gewann. Die Zeugnisse der Bibel, die Auseinandersetzungen der Kirchen- und Theologiegeschichte, Verfremdungsgeschichten, in denen das Wort Gnade von anderen Worten aufgesaugt und mitunter um seinen Eigen-Sinn gebracht wurde, Entdeckungsgeschichten, in denen eine neue Sprache für das alte Wort gefunden und so auch neue Zusammenhänge, veränderte Erfahrungswelten artikuliert werden konnten: Sie werden hier so arrangiert, dass man – wenn es beim Schreiben einigermaßen gut gegangen ist und beim Lesen gut geht – ein Panorama der Bezüge vor sich hat, in denen das Wort Gnade seinen Beziehungsreichtum entfaltete und damit auch Anfragen an unser heutiges Welt-, Selbst- und Gottesverständnis artikuliert. Das ist das Ziel dieser Einführung: Das Wort Gnade soll uns beim Durchgang durch die Geschichten, Erfahrungen und Diskussionen, in denen es eine bedeutsame Rolle spielte, neu lebendig werden; lebendig werden als die Frage, ob sich in ihm ein verstehbarer und lebbarer, lebenswerter Gegenentwurf gegen das prekäre Ideal der Gnadenlosigkeit abzeichnet. Diese Zielvorgabe bringt es mit sich, dass die Erfahrungs-, Artikulations- und Problemgeschichten nicht nur nacheinander, sondern irgendwie ineinander erzählt werden: als Geschichte der Anreicherung, auch des Absterbens von Bedeutungen, die das Wort Gnade wachgerufen hat oder immer noch wachruft; auch im Nachzeichnen und Stabilisieren jener Grundbedeutungen und elementaren Anfragen, die uns das Wort heute noch von Bedeutung sein lässt. Hie und da sind noch Overhead-Projektoren im Gebrauch. Ich stelle mir vor, wie man verschiedene Folien aufeinander legt: Die jeweils nächste zeichnet in das Bild der vorhergehenden neue Strukturen ein, reichert es an oder verändert sein Umfeld. Die neu aufgelegten Linien und Farben lassen uns das vorher Gesehene neu sehen, in neuen Zusammenhängen und Konstellationen sehen. Und die Frage wird sein, ob wir uns mit unseren Fragen und Erfahrungen in dem so entstandenen
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Einführung
Bild wiedererkennen oder welche Linien wir verstärken, anders kolorieren, verlängern, neu zeichnen müssten. Das Ineinander macht die Sache riskant. Wie leicht könnte ein Durcheinander entstehen. Aber das bloße Nacheinander wäre auch nicht hilfreich. Es gäbe uns bloß Informationen darüber an die Hand, wie es einmal gewesen sein mag. Wir wollen ja wissen, was daran für uns – noch – wichtig ist. Und deshalb erzählen wir unsere Geschichte mit, wenn wir die „alten Geschichten“ zu erzählen versuchen; wir erzählen sie in die alten Geschichten hinein. Wenn das nicht mehr ginge, wäre das Wort Gnade mit den Geschichten vergangen, die mehr oder weniger lange zurückliegen. Die theologische Gnadenlehre erzählt und bedenkt traditionell die „klassischen“ Geschichten, in denen das Thema Gnade Streit auslöste und eine neue Artikulation erforderlich machte. Manches an diesen Geschichten mag uns heute überholt und lebensfern erscheinen. Am nächsten scheint uns wohl die Geschichte des Streits zwischen Reformation und römischer Kirche. Sie ist uns durch die ökumenische Bewegung und insbesondere die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ der Katholischen Kirche und des Lutherischen Weltbundes aus dem Jahre 1999 wieder lebendig geworden. Das zeigt: Es kommt darauf an, wie man diese Geschichten liest. Es kann leicht sein, dass sich eine Folgegeschichte an sie anschließt oder eine neue Geschichte aus ihr entsteht, übersehene Geschichten mitunter, Geschichten auch, die mitten hinein in unsere Geschichten führen – und vielleicht immer noch oder neu als Gegengeschichten gegen die Stories von den Gnadenlosen gelesen werden können. Unsere Geschichte wird erzählt und kommt uns zu Bewusstsein, wenn alte Geschichten aufschlussreich weitererzählt und als Erschließungs- oder Problemgeschichten einigermaßen verstanden werden – nostra historia agitur. Worum geht es bei diesen Geschichten wirklich, in denen das Wort Gnade eine zentrale Rolle spielt, so ausgesprochen oder in Abrede gestellt, verschwiegen und dementiert? Geht es darum, dass Gnade vor Recht ergeht, so dass es doch nicht so schlimm kommt, wie man befürchten musste – im „Diesseits“ oder im „Jenseits“? Geht es um eine inspirierende Kraft, die es mir ermöglicht, ein „besseres“, erfüllteres, hoffnungsvolleres Leben zu führen? Geht es um das Durchdrungenwerden von einer „übernatürlichen Energie“, die mich für eine Lebenszukunft öffnet, die ich mir selbst nicht erringen könnte? Oder um Energien, die in meinem eigenen Innern schlummern und nur darauf warten, durch Übung, Disziplin, Therapie geweckt und
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nutzbar gemacht zu werden? Von all dem handeln die Gnadengeschichten – und gewinnen sie ihre innere Spannung. Von Anfang an. Auch Bücher haben ihre Geschichte. Vier Menschen will ich hier dankbar nennen, die in die Geschichte dieses Buches hineingehören. Klaus von Stosch hat mich zu ihm angeregt; Veronika Hoffmann verdanke ich wichtige Hinweise zu sozialwissenschaftlichen, philosophischen und theologischen Gabediskursen; mit Michael Beintker durfte ich in meinem letzten aktiven Universitätssemester ein ökumenisches Hauptseminar zu „Freiheit und Rechtfertigung“ halten; Katharina Del Re hat freundlich und genau die Mühen der Redaktion mit übernommen und als Anwältin der Leser(innen) zur besseren Lesbarkeit des Textes beigetragen.
Literatur Als Klassiker für eine aktuelle und hilfreiche Theorie der hier nur im Vorübergehen berührten Metaphorik religiöser Sprache: Paul Ricœur – Eberhard Jüngel, Metapher. Zur Hermeneutik religiöser Sprache, (Sonderheft der EVANGELISCHEN THEOLOGIE), München 1974. Immer noch sehr brauchbare Einführungen in die Grundprobleme der Gnadenlehre sind: Otto Hermann Pesch – Albrecht Peters, Einführung in die Lehre von Gnade und Rechtfertigung, Darmstadt 1981 (aus katholischer und evangelischer Perspektive); Gisbert Greshake, Geschenkte Freiheit. Einführung in die Gnadenlehre, Freiburg – Basel – Wien 1992. Karl-Heinz Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003.
1. Gnade als Lebensqualität – biblische Perspektiven
Die alttestamentlichen Überlieferungen sprechen in unterschiedlichen Wortfeldern und Bildern von der Zuwendung JHWHs, die das Volk Israels oder einzelne JHWH-Treue in der lebenssteigernden Nähe Gottes leben, im Machtbereich seiner Güte gesegnet sein und an seiner Beziehungsgerechtigkeit teilhaben lässt, so dass sie der beziehungsfeindlichen Macht des Bösen widerstehen können. Neutestamentlich, vor allem paulinisch, wird Jesus Christus als der endgültig-endzeitliche (eschatologische) Erweis der Gnade Gottes gesehen. Sein Evangelium verkündet und wirkt sie, in seiner Sendung bis ans Kreuz und in seiner Auferweckung geschieht sie so, dass die Glaubenden (und Getauften) an ihr Anteil gewinnen. Sie nehmen an ihr Teil, indem sie sich – nach den synoptischen Evangelien – von der Einladung Jesu in Gottes nahe gekommene Herrschaft erreichen und in der Lebens-Verbundenheit mit ihm zur Praxis der Gottesherrschaft bewegen lassen.
1.1 Über die Lebensnot hinaus Die Bibel erzählt Gnadengeschichten; oder sie legt es nahe, sich solche Geschichten vorzustellen: Geschichten, in denen Worte und Metaphern ihr pragmatisch-semantisches Umfeld hatten; Worte, die etwas mit dem zu tun haben mögen, was man auf deutsch Gnade nennt. Die biblischen Sprachen kennen keinen einheitlichen und wohl definierten terminus technicus für Gnade; und wahrscheinlich ist ja auch das deutsche Wort selbst kein solcher terminus technicus, sondern eine Metapher –, aber eben eine Zentralmetapher, die ein weites und differenziertes Bedeutungsfeld strukturiert. Im biblischen Hebräisch stehen unterschiedliche Wortstämme nebeneinander, die – je nach literarisch-theologischem und historischem Umfeld – selbst noch einmal Unterschiedliches bedeuten. Im Zusammenklang mit den anderen Worten sagen sie mehr oder weniger deutlich ihr Eigenes, modellieren sie das Profil der Geschichte und Geschichten, in denen Gnade als Lebenswirklichkeit erfahren, erbeten, dankbar staunend am Werk gesehen und gerühmt oder vermisst wurde.
1.1 Über die Lebensnot hinaus
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Der Semantik des deutschen Wortes Gnade mag der hebräische Stamm hnn am nächsten stehen. Das Nomen kommt in Geschichten vor, die einen Menschen Gunst gewinnen lassen in den Augen eines Hochgestellten, so auch vor JHWHs Angesicht. JHWH erweist Mose und der Exodusschar sein Wohlwollen: Sein Antlitz „geht mit“; sein wohlwollender Blick ruht auf ihnen, da sie hen vor ihm gefunden haben – auch wenn sich JHWHs Antlitz nicht im Gegenüber, face to face, wahrnehmen lässt, sondern eben nur in den Auswirkungen des Wohlwollens, derer die Begnadeten sich erfreuen dürfen (vgl. Ex 33,11–23). Die Assoziationen knüpfen sich an die eher seltene Erfahrung bei Hofe, vom Herrscher nicht übersehen, gar einer Zuwendung und Anrede gewürdigt zu werden. Die Zuneigung des Herrschers hebt den Empfänger von hen „aus der gestaltlosen Masse heraus …“; sie bemerkt, ja berücksichtigt ihn, vielleicht gar seine Bitte, die der einfache Mann nun vortragen kann. Vielleicht gewinnt er so tatsächlich die Gunst des Herrschers. Wie sollte der kein offenes Ohr haben für den Bittsteller, den er aufmerksam und wohlwollend wahrgenommen hat und jetzt „kennt“ (Ex 33,12; Ex 22,26; vgl. H. J. Stoebe, hnn, THAT 1, 591)! Dass nicht nur irgendein Despot, sondern JHWH selbst hen erweist, ist das schlechthin Unerwartbare und für die, denen jedes „Ansehen“ unter den Mächtigen dieser Welt fehlt, doch so Lebensnotwendige, Inbegriff des Segens: Er möge sein Angesicht über uns leuchten lassen, es uns zuwenden, uns Gnade und Heil erweisen (vgl. Num 6,25 f.). Das Nicht-Erwartbare bei hen – bei JHWHs hen – ist dieses: dass man in einem Raum geradezu familiären Wohlwollens leben darf, wo man sich doch ansonsten von den Hochgestellten ignoriert oder allenfalls als Menschen-Material kalkuliert weiß. Nun genießt man Ansehen, hat geradezu „Charme“ in JHWHs Augen. Quelle und Ursprung dieses Ansehens aber ist chǽsæd, im Entscheidenden Seine chǽsæd, die Er nicht nur in vorübergehender Gemütsregung gewährt, sondern in Treue (ǽmæt) erweist (vgl. etwa Gen 24,27.49; Ex 34,6). Seine chǽsæd will aber die chǽsæd derer erwecken, denen sie von Ihm erweisen wurde. Einst folgten sie Seinem lockenden Ruf in die Wüste des Exodus (vgl. Jer 2,2); dann aber haben sie ihre Treue vergessen, ihre „Herzenshingabe“1 zurückgenommen, JHWHs herzliche Güte nicht mehr erwidert. Ob sie immer noch und von Neuem darauf zählen dürfen, dass JHWH ein Herz für sie hat? Kann er tatsächlich und im Letzten hartherzig sein, da sein Lieblings-Volk dem Untergang geweiht scheint? Wenn vom Gegenteil zu „hartherzig“ die Rede ist, kommt der Stamm
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rhm ins Spiel: Er assoziiert den Mutterschoß (rǽhæm) und das Gefühl, das von dort her, vom weichen Inneren des Menschen, von der „‚weiche[n] Stelle‘ im Wesen eines Menschen“2 ausgeht (vgl. Gen 43,30). Der mütterlich empfindende JHWH bleibt seinem Volk von innen heraus unauflöslich verbunden. Er kann nicht vergessen, wem er sich in dieser zutiefst emotionalen innerlichen Regung (vgl. Jes 49,15) verbunden hat. Wo alles für Erbarmungslosigkeit zu sprechen scheint, da gewinnt bei JHWH eben doch seine innerste Bindung die Oberhand. Er setzt die Davongelaufenen von Neuem in ihre Zugehörigkeit als „Familienmitglieder“ ein (vgl. Hosea 2,25). Er erbarmt sich ihrer. In seinem Erbarmen verschafft sich die innere Bewegtheit JHWHs für seine Erwählte, sein erwähltes Volk, ihren mütterlichväterlichen Ausdruck, ist der Zorn über die Untreue des Volkes gestillt (vgl. Jes 54,8; 60,10), geschieht Vergebung (vgl. Jes 55,7 bzw. Micha 7,19). Längst werden hier keine Geschichten von der hoheitlich-herablassenden Zuwendung eines ansonsten unzugänglichen Herrschers mehr erzählt, sondern Geschichten, die geradezu Familiencharakter und Familiendramatik zu haben scheinen oder von freundschaftlicher Zuneigung erzählen. Das Überraschende und Beglückende ist nun, dass von JHWH so gesprochen werden darf: Von ihm geht die verwandelnde Kraft des Wohlwollens aus, die in menschlichen Nahbeziehungen eine Ahnung und immer wieder eine lebendige Erfahrung davon vermittelt, was es heißen kann, dass Leben ins Leben kommt, so dass es sich in Dimensionen hinein erfüllt, die weit über das bloß Lebensnotwendige hinausreichen – und ahnen lassen, wozu der Schöpfer dieses Lebens Menschen beruft, wie er ihr Leben durch seine zutiefst wohlwollende Zuneigung heilt und aufblühen lässt. Zwei hebräische Wortstämme sprechen davon in unterschiedlicher Weise: šlm und sdq. Ps 85 schließt sie unmittelbar an eben schon genannte Stämme an: Mitmenschliches Wohlwollen (chǽsæd) und familiär-freundschaftliche Verlässlichkeit (ǽmæt) treffen einander; sedaka und šālōm küssen sich (V. 11). Frieden und Gerechtigkeit – so die geläufige Übersetzung – werden gleichsam von der Intimität der Zuneigung durchdrungen; sie küssen sich, sind im Miteinander Ausdruck einer Lebenssteigerung, die nur in der Liebe erfahren wird. Aber diese Lebenssteigerung wird in geradezu kosmischen Dimensionen vorgestellt: ǽmæt sprosst aus der Erde, vom Himmel blickt gnädig die sedaka. In diesem Zusammenspiel segnet JHWH das Volk und das Land gibt seinen Ertrag (V. 12 f.). Der intime Spielraum des Wohlwollens weitet sich wieder in die Räume gesellschaftlich-poli-
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tischen Zusammenlebens, ja selbst des wirtschaftlichen Wohllebens, einer wahrhaft guten Herrschaft. Der Wortstamm šlm hat wohl ursprünglich mit dieser guten Wechselseitigkeit zu tun, auf welcher der Friede aufruhen muss: dass alle genug haben von dem, was sie be-friedigen kann, so dass sie in ihren Ansprüchen und den Notwendigkeiten des Lebens elementar befriedigt sind, zufrieden sein können. Es gibt keine „offenen Rechnungen“, so dass einer den anderen zur Rechenschaft ziehen, sich an ihm schadlos halten und bei ihm seine Forderungen durchsetzen müsste. Niemand ist zu kurz gekommen, so dass ihm der Sinn nach Vergeltung stehen müsste; und darüber hinaus: man ist in einem Zustand, in dem einem auch insofern nichts fehlt, als man sich all seiner Kräfte und Möglichkeiten erfreuen darf und „hochgemut“ sein kann (Gen 33,18). Hier ist das Leben ganz geworden; man bleibt sich und anderen nichts schuldig, so dass auf der Bezahlung solcher Schuld zu bestehen wäre. Darauf baut sich der „anspruchsvollere“ Sinn von šālōm auf, der „das bloß genau Ausreichende transzendiert und das Volle, das nach vollem oder reichlichem Maß gemessene ‚Genüge‘ bezeichnet“.3 Wo nicht mehr darum gekämpft werden muss, dass keiner sich als zu kurz gekommen ansehen muss, kann Friede werden; da hat der Friede ein Fundament, der ihn dauerhaft und stabil machen kann (vgl. Ps 120,6 f.; Jes 59,7 f.). Dieses Fundament wird mit dem Wortstamm sdq bezeichnet. Ursprünglich mag damit jene Art von Wohltätigkeit gemeint sein, durch die auch die Notleidenden und durch ihre Not vom Genuss der gemeinsam erarbeiteten Güter Ausgeschlossenen in den guten Kreislauf gemeinschaftlichen Lebens hereingeholt werden. Wenn jeder und jede am jeweiligen Ort seine (ihre) Verantwortlichkeit wahrnimmt, entsteht ein geregeltes und verlässliches Miteinander, in dem alle das ihnen Notwendige und Zustehende erlangen, weil alle leisten, was von ihnen erwartet werden darf. Diese Idee scheint ein gemeinorientalisches Erbe zu sein, deutlich greifbar in der Maat Altägyptens, die als göttlich und von den zuständigen Göttern geschützt angesehen wird. Leitend ist hier „die Vorstellung einer ständigen, durch verantwortliches Tun vollzogenen ‚Zirkulation‘ zwischen göttlichem und menschlichem Bereich“.4 Der Pharao und dann ebenso auch der König in Jerusalem sind dafür zuständig, diese gedeihliche Ordnung für das ganze Volk (mišpāt bzw. sedāqā) aufrechtzuerhalten. Sie nehmen aber ihre Zuständigkeit oft eher mangelhaft wahr, so dass sich in Israel die Hoffnung auf einen von Gott gesandten wahren König und Davidssproß richtet (vgl. Jer 22,3.15; 23,5; 33,15).
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Alltäglich zu wahren ist s dāqā durch gemeinschaftstreues Verhalten bzw. durch eine Rechtsprechung, in der die aufgetretenen Störungen der Gemeinschaftsverhältnisse zurechtgerückt und die sedāqā der jeweils Geschädigten, der Übervorteilten oder ungerechterweise Beschuldigten, durch unparteiliches Urteil wiederhergestellt wird: Ihnen wird zu ihrem Recht verholfen. So wird die Gemeinschaft davor bewahrt, dass sich das Unrecht in sie hineinfrisst und ihre guten Lebensverhältnisse zersetzt (vgl. Dtn 25,1). Das Böse soll aus der Mitte des Volkes „weggeschafft“ und so um seine Wirkung gebracht werden (Dtn 19,19). Es ist wie das Wirksamwerden von „diskonnektiv“-desintegrativen – den gesellschaftlichen Zusammenhalt zersetzenden – Energien vorgestellt, gegen die durch Rechtsprechung aber umfassender noch durch gerechtes Verhalten in allen Lebenslagen die konnektiven Kräfte gestärkt und mobilisiert werden müssen.5 Die Entbindung der konnektiven Kräfte aber wird als das Wirksamwerden jener sedāqā-Wirklichkeit erfahren, die von JHWH dem Volk zugewendet wird, das nach Gerechtigkeit sucht, „etwa wie ein Kraftfeld, in das Menschen einbezogen und dadurch zu besonderen Taten ermächtigt werden“.6 JHWH selbst bringt sich und seine sedāqā gegen die Sünde, in welcher die gerechten Lebensverhältnisse zersetzt werden, immer wieder neu zur Geltung. So lässt etwa die in gemeinschaftlichen Opferfeiern geschehende Theophanie das Volk von neuem an der alles umgreifenden und zurechtbringenden Sphären der göttlichen Gerechtigkeit teilhaben. Darauf also darf sich die Hoffnung der Beter (und den Kult Begehenden) richten: „Ich aber will in Gerechtigkeit dein Angesicht schauen, mich satt sehen an deiner Gestalt“ (Ps 17,15) – wenn die „Zirkulation von göttlicher und menschlicher sedāqā“ restituiert ist7 und das Volk seine Verpflichtung ergreift, die neu empfangene sedāqā selbst zu tun. Der Psalmenbeter erbittet das Erscheinen Gottes in seiner sedāqā normalerweise zu seinen Gunsten, als der von Ungerechtigkeit Heimgesuchte. So preist er JHWHs endlich erschienene Gerechtigkeit als die ihm konkret widerfahrene Hilfe, durch die er in seine sedāqā wieder eingesetzt wurde (Ps 35,28). Wer Gerechtigkeit erfahren durfte, der will aus ihr leben, so leben, wie es dem Gerechtigkeits-Willen JHWHs entspricht. Seine Weisung (tora) trägt er im Herzen; er tut sie und rühmt, was sein Herz bewegt. Er verbirgt JHWHs Gerechtigkeit nicht in seinem Herzen, er feiert und bewährt sie in der Öffentlichkeit der Gemeinde (Ps 40,10 f.). Die Sinnbezüge zwischen Tora und Gerechtigkeit sind nicht immer so offensichtlich, aber der Sache nach deutlich; auch insofern deut-
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lich, als die Tora ebenfalls wie die s dāqā als „gute Gabe Gottes“ angesehen wird, „die dem Menschen das Leben mit Gott und dem Mitmenschen ermöglichen soll. Sie ist Weisung zum Leben und … schenkt wirkliche umfassende Lebensfreude“.8 Sie ist es deshalb, weil sie die Toragetreuen und in die Tora sich Vertiefenden einbezieht in den von JHWH selbst dem Chaos abgerungenen Raum der heilvollen Lebensordnung und gerade so ihre rettende und das Böse eindämmende Macht erweist (vgl. Ps 119).9 Zentral bedeutsam für das Verständnis der Tora als Gabe ist der enge Zusammenhang von Tora und Exodus: Die Tora ist die Leben ermöglichende Ordnung eines freien, gemeinschaftlichen Lebens, wie es durch JHWHs Einsatz für die Befreiung seines Volkes als Perspektive für Israel eröffnet wurde. Noch der Gehorsam gegen die Gebote und die Bekehrung der Ungehorsamen sind JHWHs Heilsgabe: Dieser wird das Herz der Israeliten beschneiden. „Dann wirst du den Herrn, deinen Gott, mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele lieben können, damit du das Leben hast“ (Dtn 30,6). Das Gesetz wird auf das Herz der zum erneuerten Bund Erwählten geschrieben sein; so werden sie es von innen heraus tun können und wahrhaft JHWHs erwähltes Volk sein (Jer 31,33). Ihre innere Mitte – die Tora – ist nicht das auf Steintafeln geschriebene und in der Beschneidung der Vorhaut realisierte, sondern das Herzens-Gesetz, das beschnittene Herz; der Geist Gottes wird in diesem lebendigen Herzen „bewirke[n], dass ihr meinen Gesetzen folgt und auf meine Gebote achtet und sie erfüllt“ (Ez 36, 26 f.; vgl. 11,19 f.). So erweist sich die Tora mit ihren Gesetzen und Geboten über die bloße Forderung hinaus als der geschützte Raum und die „Motivation“, die das Leben in der Gottesgemeinschaft des Bundes zu seiner Fülle kommen lassen. 1.2 JHWHs Segen JHWH eröffnet seinem Volk einen Raum des Gedeihens, in welchem das Leben fruchtbar wird und als Glück erfahren werden kann, worin es all die Potenzen realisieren kann, die der Schöpfer in es hineingelegt hat. Diese vielfach variierte Leitvorstellung fasst sich im Begriff des Segens (brk) zusammen. Als Inbegriff des im Segen sich Mitteilenden kann der šālōm genannt werden (so Ps 29,11). JWHW segnet, er gießt seine berākā aus wie Tau und Regen, und die Menschen gelangen zu Kraft; sie kommen zu lebendiger Erfahrung der Gottesgegenwart (Ps 84,6–8). Menschen – Verheißungsträger, der König, auch das Volk
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Israel als solches – können so mit JHWHs Segen erfüllt werden, dass sie selbst anderen, ja allen Geschlechtern und Völkern zum Segen werden (Ps 21,7; Gen 12,2; Jes 19,24 f.). Sie werden gleichsam zum Medium des Segens, da sie als Gerechte, selbst von JHWHs sedāqā Durchdrungene, mithandeln, was JHWH mit ihnen und durch sie wirkt (Ps 37,23–28). Segen lässt gedeihen; das Gedeihen macht JHWHs Segen am Gerechten sichtbar, lässt Segen von ihm ausgehen. Man kann vielleicht sogar sagen: Das segnende Tun des Einen (JHWHs) realisiert sich im Gerechtsein des Anderen (des Gesegneten), auf dem der Segen ruht – zum Segen für alle, zu denen hin die Segen-realisierende Kraft der Gerechtigkeit ausstrahlt. Wenn JHWHs Heilshandeln sich im Gedeihen des Lebens realisiert, liegt es nahe, schwere Lebens-Einbußen als Entzug der „Gnade“ wahrzunehmen: JHWH wendet sich ab, straft, verlässt die, die sich nicht für sein Heilshandeln öffnen, ihm Widerstand entgegensetzen und sich so selbst das Unheil – den Fluch – zuziehen. Die Überzeugung von einem durch JHWHs „gerechtes“ Handeln gewahrten Tun-Ergehen- bzw. Sünde-Unheil-Zusammenhang prägt das AT weithin, wird aber in der Spätzeit (in Ijob und Kohelet) durchgreifend problematisiert. Seit Deuterojesaja wird der Gedanke erwogen, ob nicht der leidende Gerechte (der Gottesknecht, der Märtyrer) durch sein „unverdientes“ Leiden den Sündern zum Segen bzw. zur Sühne wird (Jes 53; vgl. aber auch 2 Makk 7,37 f.; 4 Makk 6,27–29; Dan 3,26–45 LXX). Es wird vorstellbar, dass Gott auch da heilschaffend wirkt, wo man sein Wirken nicht mehr am Gedeihen des Begnadeten (Gesegneten, Erwählten) ablesen kann; dass JHWH also auch da in seinem Erwählten gegenwärtig wird, wo dieser nach Menschenermessen scheitert und untergeht. Die alttestamentlichen Traditionen erzählen Geschichten des Gelingens und der Rettung des (gemeinschaftlichen) Lebens, der Erfüllung mit einer „Kraft“, die es erstarken lässt an vitaler Lebendigkeit und Gerechtigkeit, die von ihm Kräfte ausgehen lässt, durch die den Lebens- und Gemeinschafts-zersetzenden Dynamiken der Sünde widerstanden oder diese Dynamiken aufgefangen werden können. Die „Gnadenkräfte“ wirken ein „Kraftfeld“, in dem sich nicht nur die guten Wechselseitigkeiten des alltäglichen gemeinsamen Lebens entfalten, sondern darin auch – und nicht davon abgelöst – die gute Wechselseitigkeit des Verhältnisses von JHWH und seinem erwählten Volk: JHWH wirkt das Aufblühen seines Volkes; das Volk gibt dem Gnadenwirken JHWHs Raum, indem es sich von seiner sedāqā durchwirken und dazu bestimmen lässt, den diskonnektiven Energien
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des Bösen zu widerstehen. In den Gnadenerweisen wird JHWHs Wohlwollen als „Quelle“ der guten Energien erfahrbar; ja man kann vielleicht sagen, dieses Wohlwollen ist die in dem Kraftfeld, mit dem JHWH sein Volk auf dessen Bundestreue hin umgibt, eigentlich wirksame Kraft. Diese wirkt nicht „von außen“ auf das Volk und die Einzelnen, sondern entbindet gleichsam, was an Lebens-SteigerungsMöglichkeiten den Geschöpfen mitgegeben ist, macht es gegen lebensfeindliche Realitäten stark und fordert dazu heraus, sich in das Wirken der Gnaden-Kraft einzubringen. Wo das Gott- und Lebenswidrige Platz gegriffen hat und bestimmend wurde, auch da findet und schafft die Kraft des göttlichen Wohlwollens noch Möglichkeiten, bis zum „Herzen“ des Volkes und der Einzelnen durchzudringen, es zu bekehren und in ihm das Mitwollen mit JHWHs gutem Willen von Neuem zu erwecken. JHWHs Zuwendung erweckt die Bereitschaft und darüber hinaus die Fähigkeit, die Tora zu erfüllen. Überall wird von Wirk-lichkeiten als Wirkkräften erzählt und das in einer Weise, die sich modernem Verstehen nicht sofort erschließt. Die modernen Wissenschaften, auch die Geschichtswissenschaften, betrachten Prozesse ja jeweils als einen „geschlossenen Wirkungszusammenhang“ und würden „jede Rede als Mythologie [ansehen], die beansprucht, vom Handeln jenseitiger Mächte zu reden als von einem Handeln, das in der dem objektivierenden Blick vorliegenden Welt … konstatierbar“ wäre.10 Der naturwissenschaftlich basale Energieerhaltungssatz verweise, so wird von streng naturalistisch argumentierenden Wissenschaftstheoretikern mitunter behauptet, jedes Reden von Energien, die nicht Naturphänomene sind, sondern gleichsam von außen in den geschlossenen Wechselwirkungszusammenhang der Natur einwirken, in den Bereich religiöser Hirngespinste. Die „Entzauberung der Welt“ ist – so scheint es – auch für Teilbereiche der Wirklichkeit nicht mehr rückgängig zu machen; und sie beruht auf dem „Glauben daran: dass man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, dass es … prinzipiell keine geheimnisvollen Mächte gebe, die da hineinspielen, dass man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnung beherrschen könne“.11 Hat das als Selbstmissverständnis moderner Wissenschaft zu gelten oder ist mit dem irreversiblen Prozess der Entzauberung der Welt die biblische Rede von Gnade definitiv unmöglich geworden? Diese Frage wird uns bis zum Ende dieses Grundrisses der Gnadenlehre begleiten. Zunächst aber ist auf eine Geschichte zu schauen, die Anlass gab, einige der am AT aufgewiesenen Bedeutungslinien aufzunehmen und zu radikalisieren: die Geschichte Jesu Christi.
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1. Gnade als Lebensqualität
1.3 Das Evangelium von Gottes Gnade (Apg 20,24) Die weit verzweigten Wortfelder, auf denen im AT von Gottes wohlwollender Zuwendung und Vergebungsbereitschaft, seiner Großzügigkeit, seinem machtvoll wirksamen „Engagement“ für das Leben der ihm Angehörenden die Rede war, scheinen sich neutestamentlich auf die gnadenwirksame Sendung und das Evangelium Jesu Christi und begrifflich auf das Wort χάρις (charis) zu konzentrieren. Bestimmte Akzente sind zwar mit έλεος (eleos, Erbarmen) oder οικτιρμός (oiktirmos, Barmherzigkeit) markiert. Aber der größere Heils-Zusammenhang wird – vor allem unter dem Einfluss der paulinischen Verkündigung – fast schon terminologisch mit charis (lateinisch dann: gratia) angesprochen. Das ist nicht unbedingt nahe liegend, da charis in der LXX nur vereinzelt als Übersetzung von hen gebraucht wird (so etwa Gen 6,8; 18,3; Sach 12,10; Spr 3,34). Erklären lässt es sich vielleicht damit, dass charis im griechischen Umfeld schon traditionell eine vielfältige Semantik mit dem Akzent auf dem unverdient und überreich Gewährten aufweist. Darüber hinaus mag für diese terminologische Entscheidung eine Rolle spielen, dass charis in paulinischer Verwendung die oben anhand der hebräischen Wortstämme skizzierten Erfahrungen und Zusammenhänge christologisch-soteriologisch aufzunehmen und zu fokussieren erlaubte: Jesus Christus ist der endgültig-endzeitliche (eschatologische) Erweis der charis Gottes, sein Evangelium verkündet und wirkt sie, in seiner Sendung bis ans Kreuz und in seiner Auferweckung geschieht sie so, dass die Glaubenden (und Getauften) an ihr Anteil gewinnen können. Charis wird bei Paulus zum Inbegriff des Evangeliums und des von Gott her in Jesus Christus Geschehenen. Der Begriff tritt so gleichsam an die Stelle jener Zentralmetapher der Verkündigung Jesu, die sich ja ihrerseits als Auslegung des im Zeugnis Jesu selbst schon Geschehenden verstand: der nahe gekommenen und in Glaube und Nachfolge zugänglichen Gottesherrschaft. So überrascht es nicht, dass das Wort charis in den Evangelien selbst keine zentrale Rolle spielt; am häufigsten begegnet es noch – seiner hellenistischen Prägung entsprechend – im lukanischen Doppelwerk: Die Zugänglichkeit der Gottesherrschaft ist die Gnade, von der dann im Corpus Paulinum als durch die Sendung Jesu Christi vermittelte gesprochen wird. Die Gleichnisse von der nahe gekommenen Gottesherrschaft erzählen konkret und paradigmatisch, wie denen, die das Evangelium hören, Gottes Gnade angeboten ist:
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als verbindliche Einladung zu einem festlichen Mahl, bei dem Gott selbst der Gastgeber ist und mit seiner gnädigen Gegenwart beschenkt (vgl. Lk 14,15–24), weshalb hier endzeitlich geschehen und sich erfüllen wird, was in den Opfermählern zuvor nur angedeutet ist; als die überreiche Aussaat, die auch da noch Ertrag bringt, wo man es nicht vermuten konnte (vgl. Mk 4); als die dem Sünder zutiefst wohl wollende Vergebungsbereitschaft des Vaters (Lk 15,11–32), die von denen geteilt werden will, die selbst Vergebung erfuhren (Mt 18,23–35); als die Großzügigkeit, die den „Lohn“ nicht nach erbrachter Leistung abmisst und sich nach Menschenart nach der – im neidvollen Blick vorweggenommenen – Logik der Knappheit bestimmen lässt (vgl. Mt 20,1–15); als die Einforderung der Solidarität mit den Armen und vom Schicksal Geschlagenen, in der tatsächlich „Christophanie“ geschieht und Gottes Herrschaft sich jetzt schon öffnet (Mt 25,31– 46).
Der Herr dieser Gottesherrschaft herrscht durch seine liebevolle, geradezu verwandtschaftliche Zuwendung; ein Motiv, das deutlich an die alttestamentliche hen-Vorstellung anschließt. Diese Zuwendung geht allein vom Herrn der Gottesherrschaft aus, will sich aber auch darin den vom Evangelium Angesprochenen mitteilen, dass diese an ihr partizipieren. Sie sollen ihr eigenes Leben und Handeln von einem „Freundschaftsethos“ bestimmen lassen, in welchem sie das Wohlergehen des Anderen ebenso interessiert, wie das eigene (vgl. Mt 7,12), so dass sie dem Anderen umso entschiedener dienen, je größer seine Notlage ist. Die Bergpredigt imaginiert ein Ethos, bei dem die Gnadenlosigkeit der unabdingbaren wechselseitigen Verpflichtungen in der Orientierung am wirklich Hilfreichen überboten ist; in dem statt des Unabdingbaren, wozu man eigentlich gezwungen ist, die Großzügigkeit des Wohlwollens herrscht und jener Veränderung des Menschen von seinem Innersten her Raum gibt, die sich als Bekehrung zur jetzt zugänglichen Gottesherrschaft realisieren soll. In den Gleichnissen greift Gottes Herrschaft nach den Herzen der Menschen. Wer sich das Evangelium nahe gehen lässt, dessen Herz wird verwandelt, so dass es zum Ursprung eines neuen Lebens und Handelns wird. In der Sprache unserer Zeit dürfte man sagen: Die Gottesherrschaft kommt durch Jesu Verkündigung des Evangeliums und seine Reich-Gottes-Praxis unter den Menschen so an, dass es sich ihnen als eine Atmosphäre des Wohlwollens und der Überschwäng-
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lichkeit öffnet, in der sie sich nicht mehr gnadenlos unter Druck gesetzt, sondern als bei Gott willkommen und von den Mitmenschen mit Wohlwollen aufgenommen erleben. Diese Atmosphäre öffnet die Menschen für mehr als die alltägliche Selbstbehauptung, macht sie umkehrfähig und großzügig, wie es dem Geist der Gottesherrschaft entspricht (vgl. Lk 19,1–10). Sie atmet den Geist, der Jesus selbst beseelte (vgl. Mk 1,9–11): den Geist der Diakonie Jesu Christi, welche die in sich selbst und unterdrückenden Verhältnissen gefangenen Menschen aus ihren Fesseln „freikauft“ (vgl. Mk 10,44 f.). Jesu Diakonie bezeugt und „handelt“ das Dasein Gottes selbst für die Menschen in der Not ihres Menschseins und ihrer Sünde. Es ist die messianische Sendung des Menschensohns Jesus, die Menschen in die schon von der Gottesherrschaft bestimmte Atmosphäre der Freiheit für ihre Berufung zum Leben einzuladen, damit sie in ihr aufatmen und zur Fülle des Lebens (vgl. Joh 10,10) kommen können. Die Evangelien sprechen hier – wie erwähnt – eher selten von charis. Aber der Sache nach ist vielfach von ihr die Rede, wo immer Menschen in der Begegnung mit Jesus Christus ihre Berufung zum Leben in der Gottesherrschaft ergreifen und sich von der jetzt anbrechenden Gottesherrschaft in Anspruch nehmen lassen. Paulus bestimmte das christliche Reden von charis nachhaltig, und das in unterschiedliche Richtungen. Zuerst und entscheidend: Das Wort Gnade steht bei ihm für eine mitunter geradezu überwältigende, verwandelnde Kraft, die den Apostel selbst bekehrte und zum Apostolat befähigt (Gal 1,15), sich in seinem Einsatz selbst „abmüht“ (1 Kor 15,10) und in seiner „Schwachheit“ ihre Macht erweist. Sie „genügt“ ihm in allen Anfechtungen, denn es ist die „Kraft Christi“ (vgl. 2 Kor 12,9), des Gekreuzigten und Auferweckten. Sie lässt ihn – wie alle Glaubenden – εν Χριστω sein: im Kraftfeld des Auferstandenen, Glied an seinem Leib, von der Kraft seines und Gottes Geistes zu einer spezifischen Aufgabe in der Gemeinde begabt und herausgefordert (vgl. 1 Kor 12). Die Gnade erweist sich konkret in den Gnadengaben – den Charismen –, die ihrerseits hingeordnet sind und ihre Erfüllung finden in Glaube, Hoffnung und Liebe. Unter ihnen ist die Liebe „am größten“ (vgl. 1 Kor 13,13), weil sie am innigsten mit Christus verbindet. In Christus wohnt – so dann die Deuteropaulinen Eph und Kol – die Fülle der Gotteswirklichkeit (pleroma); die mit ihm Verbundenen haben an ihr Anteil und werden selbst mit ihr erfüllt (vgl. Eph 3,16.19; Kol 1,19; 2,9), so dass – wie dann in den johanneischen Schriften ausgeführt – die Fülle des Lebens in ihnen ist, da Gott und Jesus
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Christus im Heiligen Geist Wohnung in ihnen genommen haben. Gnade wirkt Lebensreichtum; der Messias Jesus ist ja dazu gekommen, in diesen Reichtum einzuführen (vgl. Joh 10,10). Er vermittelt ihn als die Fülle göttlichen Lebens, die von ihm her und durch ihn auf die zu ihm Gehörenden überfließt (vgl. Joh 15; vgl. Joh 1,16). Man mag es angesichts dieser weit greifenden (späteren) Perspektivierungen als Einengung ansehen, wenn zu Anfang der neutestamentlichen Gnadendiskurse im Römerbrief von Christi machtvoller Gnadenwirklichkeit und Gnadenwirksamkeit in den Glaubenden vor allem im Blick auf die Macht der Sünde und des Todes gesprochen wird, welche die Menschen seit Adams Sünde gefangen hält. Alle Menschen sind auf unheilvollste Weise mit Adam verbunden und entbehren so der rettenden „Gerechtigkeit“; Sünde und Tod haben von ihnen Besitz ergriffen. Die Gegen-Macht der Gnade rettet sie aus der Adams-Verbundenheit in den Raum der Christusverbundenheit, in dem die von der Gnade zuinnerst Verwandelten geschenkweise an Gottes Gerechtigkeit teilhaben (5,12–17). Von Gottes Gerechtigkeit erreicht, werden sie selbst gerecht gemacht (gerecht gesprochen): über den Herrschaftsbereich der Sündenmacht und der Verurteilung, welche die Unterwerfung unter diese Unheilsmacht nach sich ziehen müsste, hinausgeführt in den Herrschaftsbereich der Gnade. In ihm herrschen nicht mehr Lebens- und Gerechtigkeitsmangel, sondern der Überfluss der lebendig machenden Gnade, die gerecht macht und zum ewigen Leben führt (vgl. VV. 20 f.). Durch Christus ist die Gnade zugänglich geworden, in der zwischen Gott und den Menschen ειρήνη (šālōm) zur Wirkung kommt, so dass die Menschen in der Gnade Stand gewinnen (5,2) und Bestand haben können. Für das Verständnis dieser Passagen des Römerbriefs ist entscheidend wichtig, dass man sich des dynamischen Charakters von sedāqā erinnert: der Gottesgerechtigkeit, die sich durch Gottes machtvolles Erscheinen an den Menschen erweist, diese ergreifen und sie in die rechte Wechselseitigkeit mit Gott einbeziehen will. Gottes sedāqā ist die Gegenmacht gegen die Sünde; die Gerechtgemachten sind dieser Macht teilhaftig geworden und können so bestehen. Die machtvolle Dynamik der Gottesgerechtigkeit ist freilich nur im Glauben wahrnehmbar und kann nur im Glauben ihre Wirksamkeit erlangen (vgl. Röm 5,1), denn sie erweist ihre Kraft in abgründiger Schwäche, christo-logisch ursprünglich und als Gnadenwirklichkeit für alle, die glauben, am Kreuz Jesu Christi. In Röm 3,21–26 (wie dann auch im Hebräerbrief) wird dieser Gedanke in den Kategorien einer priesterlichen Sühnetheologie aus-
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gesagt: Nun – in Christus – ist Gottes s dāqā offenkundig geworden; nicht auf den Wegen der Erfüllung bestimmter im Gesetz festgelegter Bedingungen durch die Menschen, sondern eben von Gott her. Das Erscheinen der Gerechtigkeit ist Gottesepiphanie am Kreuz Jesu Christi. Das blutige Holz des Kreuzes wird von Paulus als die neue kapporæt (griechisch: hilastérion), als blutbespritzter Deckel der Bundeslade gedeutet. Nach der priesterlichen Theologie ist die kapporæt der Thronschemel JHWHs im Allerheiligsten des Tempels, zu dem der Hohepriester nur einmal im Jahr – am Großen Versöhnungstag – Zugang hatte, um dort das Blut der Versöhnung auszugießen und so die „Reinigung“ des gestörten Verhältnisses zwischen JHWH und seinem Volk zu wirken. In Wirklichkeit bewirkt natürlich Gott selbst diese Heilung, da er auf der kapporæt heilbringend-sühnend erscheint. Nun aber ist der gekreuzigte Jesus Christus Ort dieser Gottesepiphanie, nicht mehr die im Allerheiligsten verborgene, hier ja nur noch liturgisch vorgestellte Bundeslade. „Ihn hat Gott offen hingestellt als hilastérion – für die Augen des Glaubens – in seinem eigenen Blut [eben nicht im Blut von Opfertieren] zur Offenbarung und zum Erweis seiner Gerechtigkeit, [die sich konkret erweist] durch das Nachlassen [Kraftlosmachen] der vorher geschehenen Sünden“ (3,25 f.). Die Offenbarung der die Macht der Gnade wirksam durchsetzenden Gottesgerechtigkeit geschieht in Jesus Christus und verwandelt die Menschen aus Sündern zu Gerechtgemachten, die an dieser Gottesgerechtigkeit Anteil haben. Für Paulus ist entscheidend, dass all das von Gott her in Jesus Christus und eben nicht durch die Initiative der Menschen – durch Werke des Gesetzes (was man darunter auch immer zu verstehen hat) – Wirklichkeit wird. Um das sicher zu stellen, akzentuiert er die Alleinwirksamkeit des göttlichen Gnadenhandelns mit einer Konsequenz, die den Menschen zu einem bloßen Objekt göttlichen Handelns – des göttlichen Erbarmens (hen) – zu machen droht. Noch einmal setzt sich die Vorstellung eines himmelhohen Gefälles vom Sich-Erbarmenden zu denen durch, denen das Erbarmen überreich und völlig unverdient zuteil wird: Gott hat ein Recht darauf, sich derer zu erbarmen, derer er sich offenbaren will, und denen Offenbarung zu verweigern, denen er sie verweigern will, sie gar zu verstocken (Röm 9,14–18 mit Bezugnahme auf Ex 33,19 und 9,16). Der Gedanke einer göttlichen Vorherbestimmung soll hier den Einwand abwehren, Gott handle ungerecht, wenn er ganz von sich aus Gnade gewährt oder sie nicht gewährt. Darüber hinaus soll ausgeschlossen werden, dass es doch irgendwie am Menschen – am
1.3 Das Evangelium von Gottes Gnade (Apg 20,24)
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Tun des Gesetzes – liegen könnte, ob Gott sich erbarmt oder nicht erbarmt. Es ist offenkundig, wie der Gedanke der Gerechtigkeit Gottes und seiner Gnadenerweise hier von dem der gerechten Zuteilung mitbestimmt wird, nach Paulus aber doch nicht mitbestimmt werden darf. Der gnädige, in seiner gnädigen Zuwendung absolut souveräne Gott unterliegt diesem Maßstab gerechter Zuteilung gerade nicht. Die „Argumente“, die Paulus aufbietet, sollen nun den Gedanken einer verdienten und verdienbaren Gnade im Ansatz unmöglich machen. So drängen sie den Gedanken in die strikt-ausschließliche Alternative eines Entweder (Gott allein) oder (auch der Mensch), mit der hier die Alleinwirksamkeit und das Eigenrecht der Gnade zu Lasten einer wie auch immer verstandenen Mitwirkung des Menschen zur Geltung gebracht werden muss. Das hatte für die Geschichte der christlichen Gnadenlehre unabsehbare und oft nicht hinreichend durchschaute Folgen. Die Strategie der Alternativen-Anschärfung wird von Paulus dann auch in der Frage Christus allein oder auch die Tora angewendet, schon im Römerbrief, mit besonderer Entschiedenheit im Galaterbrief. Die Gnade erscheint deshalb exklusiv auf Jesus Christus bezogen, weil sie als Christusverbundenheit im Glauben gefasst wird. Die Glaubenden sind mit Christus „zusammengekreuzigt“, um jenseits des Gesetzes, das am Kreuz sein Recht auf die Glaubenden einbüßt, „für Gott“ lebendig zu werden. Dieses neue Leben ist das Lebendigwerden in Christus bzw. des Christus in mir. Die christologisch gefüllte Bedeutung von charis darf nach Paulus nicht dadurch um ihre Macht gebracht werden, dass man neben der Gnade der Christusverbundenheit auch noch den Weg des Gesetzes offenhält. Dann wäre „Christus umsonst gestorben“ (2,19–21). Wer auf das Gesetz seine Hoffnungen setzt, hat Christus in seiner Heilsbedeutung negiert und ist so aus der Gnade der Christusverbundenheit „herausgefallen“ – im entscheidenden Unterschied zu denen, in denen durch den Geist die Hoffnung auf die Teilhabe an Gottes Gerechtheit lebendig ist und der „durch Liebe wirkende Glaube“ (5,4–6). Die argumentative Kraft des Gedankens bezieht Paulus aus dem Verständnis von Gnade als Eingebundenwerden in Christus, in sein Gekreuzigtwerden wie seine Auferweckung; der Römerbrief kann sogar von einem „Eingepflanztwerden“ sprechen (6,3–5). Diese im Glauben auf Hoffnung und Liebe hin wirksame, geradezu physische Gnaden- und Geistverbundenheit löst die Sünder „aus dem Fluch des Gesetzes“ heraus, „damit wir die Verheißung des Geistes durch den Glauben empfangen“ (3,13 f.). So sind wir durch Christus „zur Frei-
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1. Gnade als Lebensqualität
heit befreit“ (5,1). In ihm ist uns das Gnadengeschenk des Vaters geschenkt: zu „unendliche[r] Ermutigung und gute[r] Hoffnung“, zur Festigung im guten Werk und Wort (2 Thess 2,16 f.). Wer daneben auch aus dem Tun des Gesetzes Ermutigung und Hoffnung auf eine Teilhabe an Gottes Gerechtigkeit ziehen wollte, der würde – so die von Paulus gezogene und eingeschärfte Konsequenz – Christus und sein Werk missachten, ihm das Geschenk der Gnade nicht verdanken wollen, sondern sich eher auf das eigene Werk der Gesetzeserfüllung verlassen. Er würde sich weigern, sich durch Glauben in das Wirkungsfeld der ihm von Gott in Jesus Christus geschenkten Gnade einbeziehen zu lassen. Zu dieser „polemischen Zuspitzung“12, welche die Gnade exklusiv der im Glauben vollzogenen Christusverbundenheit vorbehält, müsste es aus heutiger Perspektive vielleicht nicht kommen. Denkbar wäre ja auch im Blick auf den gesamtbiblischen Befund – und so wird es heute vielfach gedacht – eine inklusive Christusverbundenheit in dem Sinne, dass den Menschen in Christus die Fülle und die eschatologische Bestimmung der Gnade zugänglich wird, in den Menschen das wahre, „ewige“ Leben zu wirken und zu seiner Vollendung zu bringen. Die Sendung Jesu Christi könnte – im Anschluss an Joh 14,6 – als das Geschenk oder die Öffnung des Weges verstanden werden, auf dem man in Christusnachfolge und Christusverbundenheit den Weg der Wahrheit zum Leben geht. Man dürfte dann mit dem 2. Vatikanischen Konzil13 offen lassen, ob nicht auch Menschen, welche die Wahrheit ihres Lebens auf anderen Wegen suchen, den Christusgläubigen durch Gottes Gnade verbunden sind und sich mit ihnen zusammenfinden werden, um – ob ihnen das bewusst ist oder nicht – gemeinsam der Vollendung ihres Lebens in Gott entgegenzugehen. Paulus konnte an einen solchen Inklusivismus schon deshalb nicht denken, weil für ihn alle Wege außerhalb der glaubenden Christusverbundenheit in der Gnade Wege nicht des Christusvertrauens, sondern den Vertrauens auf eigene Möglichkeiten gewesen wären. Diese vermögen aber angesichts der für Menschen unüberwindlichen Macht der Sünde nichts Heilsames und können die Menschen – so Paulus – nur immer tiefer in die Verzweiflung über ihre Hilflosigkeit stürzen. Für Paulus war deshalb klar: Wer den Exklusivismus der als Gnade gewährten Christusverbundenheit in Frage stellt, der bestreitet die unvergleichliche Kraft der Gnade; der unterstellt damit aber auch, dass der äußerste Liebeserweis Gottes im Kreuz und in der Auferweckung Jesu Christi „eigentlich“ unnötig war, da es auch andere
1.4 Die Macht der Gnade
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Wege gäbe, das Ziel der Menschen in der Gottverbundenheit zu erreichen. Mit seiner exklusivistischen Zuspitzung hat Paulus der Christentumsgeschichte eine Herausforderung mit auf den Weg gegeben, die sie immer wieder neu zu einer Geschichte der Auseinandersetzungen und auch der Trennungen gemacht hat. So bleibt bis in die Gegenwart hinein zu bedenken, ob man seine gnadentheologische Konsequenz so formulieren und ihr in allem folgen muss. 1.4 Die Macht der Gnade Versucht man, Zusammenhänge und unterschiedliche Akzentuierungen in den biblischen Gnadengeschichten zu überblicken, so fallen einige „Trends“ und signifikante Spannungen ins Auge: Wo die alttestamentlichen Gnadengeschichten von der lebenssteigernden Macht von hen und chǽsæd erzählen, wo sie diese Lebenssteigerung als šālōm darstellen, als die den Menschen im šālōm zuteilgewordene Gottes-sedaqa, die sich ihnen als Segen erweist und sie zum Segen macht, da ist neutestamentlich von der Gnadenfülle die Rede, die in Jesus Christus „wohnt“, in die sich die ihm Nachfolgenden und an seinem Leben Teilnehmenden einleben, an der sie in ihrer Christusverbundenheit durch den Geist teilnehmen dürfen. Paulus preist die Macht der Gnade, die Sünde und Tod überwindet, da sie an Jesus Christus selbst und der in ihm offenbarten Gottesgerechtigkeit Anteil gibt. Der Tod ist die unheilvolle Konsequenz der Sünde (ihr „Sold“ oder Lohn; Röm 6,23); im Tod setzt sich die beziehungsfeindliche Macht der Sünde durch. So erweist sich die lebenssteigernde Macht der Gnade entscheidend darin, dass sie das heilvolle Gottes-Beziehungs-Wesen des Lebens von Gott her grundlegend erneuert. Das geschieht so, dass die unheilvolle Konsequenz der Sünde durch Gottes Selbst-Einsatz in Jesus Christus – durch die machtvolle Offenbarung der Gottesgerechtigkeit am Kreuz des Messias – aufgehoben und in der Liebe überwunden wird, „die in Christus Jesus, unserem Herrn, da ist“. Von ihr können die Glaubenden durch keine Macht der Welt mehr abgetrennt werden (Röm 8,39). Gottes Lebens- und Liebesmacht erneuert die Bundes-Gerechtigkeit der Sünder; sie gründet ihre Beziehung zu Gott neu, so dass sie nun in und aus Christus durch seinen Geist leben. Dieser Sachzusammenhang ist ganz von der christologischen Zentrierung des Gnadengeschehens her entwickelt und lässt die Gnade im Entscheidenden als Sünden-überwindende Kraft hervortreten: als
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1. Gnade als Lebensqualität
Gerechtmachung und Rechtfertigung. Die Teilhabe an Gottes Gerechtigkeit setzt die Menschen unverdientermaßen in ein neues Verhältnis zu Gott ein, so dass sie nicht mehr die Leben-zerstörende Konsequenz – die Verurteilung – ihrer Sünde gewärtigen müssen, sondern in der Gemeinschaft mit Christus durch die Taufe den Tod schon hinter sich haben und zum Gottesleben auferweckt sind. Die Sündenvergebung (in der Taufe) wird hier als das primordiale und exemplarische Ereignis von Gnade verstanden: die Begnadigung des Todgeweihten durch den göttlichen Gerichtsherrn, der allein Gnade vor Recht ergehen lassen und den Sünder rechtfertigen kann. Das weite Feld des Segens, das alttestamentlich als Auswirkung von Gnade mitten im Leben und zugunsten des Lebens in dieser Welt zur Sprache kam, rückt – unter dem apokalyptischen Druck des andrängenden Verhängnisses – ganz in den Hintergrund. Im Vordergrund steht das eschatologische Gnadenereignis, das allein vor dem Verhängnis noch retten und der endzeitlichen Vollendung den Weg bereiten kann. Wo alttestamentlich Gnade eher als segensreiches Sich-Entfalten und Erstarken eines „guten“ Lebens in sedaqa und šālōm – in der guten Wechselseitigkeit zwischen Gott und den Menschen – empfunden wird, da tritt nun die strenge Einseitigkeit des Gnadengeschehens in den Vordergrund. Gott erweist Gnade in Jesus Christus, frei und souverän, wem er will. Und er hat das gute Recht, sie zu verweigern, wem er sie verweigern will. Gottes unerwartbare Großzügigkeit gerät in den Schatten seiner schlechthin souveränen Entscheidung, nach seinem unerforschlichen Willen im konkreten Fall Gnade zu gewähren oder sie – wie es ja nur gerecht wäre – zu verweigern. Diese im Wesentlichen paulinischen Weichenstellungen haben die weiteren Entwicklungen der Gnadenlehre im lateinischen Westen weithin bestimmt. Hier dachte man mit Paulus Gnade staurozentrisch: vom Kreuz Jesu Christi her, weniger inkarnationstheologisch, wie in den Kirchen und Theologien des griechischen Ostens. Denkt man eher inkarnationstheologisch, so wird die Gnade dem Menschengeschlecht entscheidend durch die Menschwerdung seines Logos zuteil, da sich mit der Inkarnation ja Gott selbst dem Menschsein unauflöslich und konkret wirksam verband. Für Aporien wie für Stärken des staurozentrischen Weges steht in der Alten Kirche Augustinus, der „Lehrer der Gnade“ schlechthin. Zunächst aber ein Blick auf die großen Theologen des Ostens. Sie schlossen sich enger an johanneische und deuteropaulinische Motive an und dachten das neue Verhältnis von Gott und Mensch im Gnadengeschehen eher als ver-
1.4 Die Macht der Gnade
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göttlichendes Miteinander, welches in der Menschwerdung des göttlichen Logos begründet wurde und im vergöttlichenden Wirken des Heiligen Geistes in den Glaubenden zur Geltung kommt.
Literatur Gediegene Informationen zu Wortfeldern in den Schriften des Alten Testaments bietet: E. Jenni – C. Westermann (Hg.), Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament (THAT), 2 Bde., Gütersloh 62004. Für das Neue Testament immer noch unverzichtbar: G. Kittel (Hg.), später G. Friedrich (Hg.), Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 10 Bde., Stuttgart 1933–1979. Solide und weit gespannte biblisch-theologische Informationen bietet: A. Ganoczy, Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen. Grundriss der Gnadenlehre, Düsseldorf 1989.
2. Gottes Werk – und der Menschen Beitrag?
Die Theologie des griechischen Ostens versteht Gnade als die von der Menschwerdung des Logos her der Menschheit sich mitteilende Kraft des Heiligen Geistes zur „Vergöttlichung“ der Menschen. Wo die Glaubenden sich dieser Kraft öffnen und an ihr mitwirken, bildet sich an ihnen von neuem jene Gottebenbildlichkeit aus, die das Menschengeschlecht mit Adams Sünde verlor. Augustinus und – ihm mehr oder weniger folgend – die Theologie des Westens denken vom Kreuz Jesu Christi her: Die am Kreuz erlangte und der Menschheit zugewendete Gnade löst die Sünder aus der Knechtschaft der Sünde, in der sie ihre Freiheit zum Guten verloren haben und von sich selbst her nur noch sündigen können. Gottes Geist und die Gnade allein retten den Sünder aus dem Sündenverhängnis, das „gerechterweise“ seine ewige Verdammnis nach sich ziehen müsste. Die Gnade bringt im Menschen erst die Möglichkeit des Mithandelns mit Gottes Güte und damit auch die Möglichkeit hervor, gute Werke zu wirken. Diese augustinische Position ist in der Theologie der westlichen Kirche vielfach differenziert und modifiziert worden. Luther erneuert sie und wendet sie gegen das Vertrauen auf kirchlich-verdienstliche Werke, das er der römischen Kirche zuschreibt.
2.1 Die Gnade auf dem Weg der Gott-Verähnlichung Die Christengemeinden gerieten in den ersten Jahrhunderten schnell in die „weltanschaulichen“ Auseinandersetzungen der Alten Welt. In ihnen ging es um eine nachvollziehbare Gesamtdeutung der Wirklichkeit und einer Weltsituation, die zunehmend als Verhängnis oder als Gefangensein in endlichen Nichtigkeiten erfahren wurde und das Verlangen nach einer wie auch immer verstandenen Erlösung wachrief. Den Menschen war offenkundig eine Sehnsucht mitgegeben, die in der Welt – dem Chaos des in ihr Geschehenden und Vergehenden – keine Befriedigung fand, weil sie sich auf das Beständige, das wahre Sein und das wahrhaft Gute richtete. Die haltlose Vielfalt dieser Welt schien irgendwie aus dem ursprünglich-vollendet Einen und Guten
2.1 Die Gnade auf dem Weg der Gott-Verähnlichung
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herausgefallen. Den Menschen aber war – so die Intuition der „Wissenden“ – die Rückkehr in das vollkommen in sich ruhende Eine aufgegeben: die „Einsammlung“ des Zerstreuten in die ursprüngliche und endzeitliche Fülle, der Weg der Erhebung über die Nichtigkeiten dieser Welt. Gnostische Erzählungen malten den Katastrophenweg des Seins in die haltlose Vielheit und Nichtigkeit plastisch aus, um den Weg zurück ebenso konkret vorzuzeichnen und dringlich zu machen. Platonisches Erbe konnte das Deutungsschema Abstieg (gnostisch: Abfall) und Aufstieg den „Wissenden“ und Eingeweihten als elementares Narrativ plausibel machen. Die Christen aber sahen sich vor der Herausforderung, ihre Gnadenerfahrung als konkurrenzfähiges, ja als überlegenes Lebens- und „Wissens“-Angebot verständlich zu machen. Der aus Kleinasien stammende Bischof Irenäus von Lyon (gestorben ca. 202) bringt gegen das gnostische Motiv des ontologischen Falls in die zerstreute Vielfalt der Welt den christlichen Glauben an die gute Schöpfung zur Geltung und führt das Unheil der Welt auf die Sünde der Menschen von Anfang an zurück. Von der Sendung des Logos ins Fleisch nimmt die Rückwendung der abgefallenen Schöpfung zu ihrem guten Ursprung ihren Ausgang. Sie realisiert und vollendet sich im Heiligen Geist als Wiedereinsammlung der Geschichte (recapitulatio) unter ihrem Haupt. Vom Erlöser gehen die „Wohltaten“ aus und durch das Wirken des Heiligen Geistes werden sie dem Glaubenden zugewendet. Sie ermöglichen ihm „Fortschritt und Wachstum zu Gott“, so dass er im Fruchtbringen aus der Gnade und im Dank für diese Wohltaten Gottes „Gefäß seiner Ehre und ein Werkzeug seiner Verklärung“ sein kann (Adversus haereses IV, 11, 2–3). In der Gnade wirkt der Heilige Geist die Erneuerung der in Adam verlorenen Gottebenbildlichkeit, die der Mensch in Christus zurückerhielt (III, 18, 1), deren Ausprägung im Leben vom Heiligen Geist „ernährt und vermehrt“ wird, so dass „der Mensch allmählich vorankommt und zur Vollkommenheit aufsteigt, das heißt in die Nähe des Unerschaffenen gelangt“ (IV, 38, 3), endlich noch über die Engel emporsteigt und vollkommen „gestaltet wird nach dem Bild und Gleichnis Gottes“ (V, 36, 3). Irenäus rezipiert das Abstiegs-Aufstiegs-Schema; aber er deutet es nicht im Sinne einer Geschichte des Göttlich-Einen selbst, das sich aus der ihm widerfahrenen Zerstreuung in der Gnosis der Wissenden einsammelt, sondern als oikonomia (heilsame Ordnung) des Heils, in der die Gottesnähe und Gottähnlichkeit im Anfang durch die Sendung des Sohnes und das Gnadenwirken des Heiligen Geistes so erneuert
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2. Gottes Werk
wird, dass die Glaubenden im Aufstieg zum Göttlichen ihr Gottesbild-Sein neu ausprägen können. Die Gnadenlehre des Irenäus bleibt von der Pneumatologie eingefasst. Das wird für die östliche Theologie maßgebend bleiben, so auch für Origenes (gestorben 253/54), den größten Theologen der Alten Kirche im Osten. Noch nachdrücklicher als Irenäus greift er das platonische Modell der Teilhabe auf: der seinsspendenden Teilhabe der Abbilder an den Urbildern (Ideen). Die Menschen sind, was sie sein können, als die möglichst vollkommenen Abbilder Gottes, die an der Seinsmacht und Güte des Urbildes teilhaben. Der Heilige Geist ist gewissermaßen das Medium der Teilhabe. Von seiner Gnade werden alle geheiligt, die sich von ihr heiligen lassen; und so haben sie Anteil am Heiligen Geist selbst (De principiis I 1, 3), durch ihn aber auch am Vater und am Sohn (I 3, 5), so dass sie durch die Gnade des Geistes die Gottähnlichkeit in sich ausbilden (bzw. von dieser zur Gottähnlichkeit gebildet werden) können. Es ist „das höchste Gut […] Gott ähnlich zu werden, soweit es möglich ist“ (vgl. Gen 1,26) In der Schöpfung empfing der Mensch die „Würde des Bildes“; die „Vollendung der Ähnlichkeit [ist] ihm aber für das Ende aufgespart … nachdem ihm zu Anfang die Fähigkeit zur Vervollkommnung kraft der Würde des Bildes gegeben war, sollte er schließlich am Ende selber durch eigenes Wirken die vollkommene Ähnlichkeit vollenden“ (III 6, 1). Tatsächlich durch „eigenes Wirken“? Es ist zweifellos der Heilige Geist, der diesem Wirken durch seine Gnade helfend beisteht und es zur Verähnlichung kommen lässt; aus eigenem Vermögen kann der Mensch sie nach dem „Fall des freien Willens“ (II 10, 7) nicht erreichen. Offenkundig reicht „der menschliche Wille allein nicht aus …, um das Gute zu vollbringen“ (III 2, 2). Die Vollendung des Menschen geschieht jedoch auch nicht, „ohne dass wir etwas tun; aber sie wird nicht von uns zu Ende geführt, sondern Gott wirkt das meiste dabei“. Sein „Beitrag“ ist „unendlich viel größer als der, der von unserer freien Entscheidung kommt“ (III 1, 19; vgl. III 1, 24). Wenn man aber nach dem Verhältnis von menschlicher Fähigkeit und göttlicher Befähigung fragt, so verweist Origenes unbefangen auf den Prozess der Bildung, in welchem der Ungebildete „sich dem Erzieher anvertraut“, damit dieser „die Unbildung aus ihm wegnehmen und Bildung in ihn hineinbringen“ kann. Für das Ziel der Bildung kommt es gleichwohl auf den Zögling an; der Erzieher kann ihn ja nur bessern, wenn er es selber will. Ebenso kommen die Sünder „zu dem Erlöser …, ihn um Heilung zu bitten“ und Gesundheit zu finden. Und ebenso kann die Belehrung durch das Wort Gottes „das steinerne, harte Herz, d. h. die
2.1 Die Gnade auf dem Weg der Gott-Verähnlichung
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Schlechtigkeit“ aus den Sündern wegnehmen, „damit man in den göttlichen Geboten wandle und die göttlichen Anweisungen halte“ (III 1, 15 mit Bezug auf Ez 11,19–20). Gnade als göttliche Erziehung? Origenes scheint keine Probleme mit diesem Modell zu haben. Er führt es ausdrücklich ins Feld, um sich von solchen abzugrenzen, welche „die menschliche Freiheit aufheben“ wollen (ebd.). Das Modell scheint ihm jene Weise des Zusammenwirkens darzustellen, worin der „unendlich größere Beitrag Gottes“ den Beitrag der Menschen erfordert und ermöglicht. Origenes wird – selbst schon in der Spur des Alexandriners Clemens (gestorben nach 215; vgl. Stromateis VII, 48, 4) – auch mit diesem GnadenSynergismus für die Theologie der Ostkirche traditionsbildend. Einprägsam formuliert mehr als hundert Jahre später Johannes Chrysostomus (ca. 360–430): „Es liegt an uns und an ihm [Gott]. Wir müssen zuerst das Gute wählen; ist dann die Wahl getroffen, so fügt er das Seinige hinzu […] An uns liegt es, zu wählen und zu wollen. Gott aber vollendet und führt zu Ende“ und hat dabei zweifellos „den größeren Anteil“ (Homilien zum Hebräerbrief 12,3). Und der Armenier Mesrop (ca. 361–439) spricht von den zum Glauben gekommenen Menschen als von den „Mitarbeitern“ des guten Willens Gottes (5. Rede). Das Wirken des Heiligen Geistes und seiner Gnade wird im Osten häufiger als Hilfe zum Guten und Bestärkung im Guten gesehen, womit zur Vollendung kommt, was der Mensch von sich aus nicht vollenden kann. So spricht Basilius (ca. 330–379) vom „festmachenden“ Geist und erläutert: „Mit ‚Festmachen‘ ist aber nichts anderes gemeint als die Vollendung in der Heiligkeit, wobei das ‚Festmachen‘ auf das Nichtnachgeben, die Unerschütterlichkeit, das Festgegründetsein im Guten hinweist“ (De spiritu sancto XVI 38). Das soll nicht in Abrede stellen, dass er zugleich als der „Ursprung der Heiligung“ und als Lebendigmacher bekannt und gepriesen wird (vgl. ebd. IX 22). Aber im Hinweis auf den „festmachenden“ Geist artikuliert sich eine spirituelle Erfahrung, die für das Asketentum des Ostens von zentraler Bedeutung ist: dass der gute Wille der in freier Entscheidung zum Glauben Gekommenen und zum Weg der radikalen Christusnachfolge durch Askese Entschlossenen auf die Hilfe der Gnade angewiesen ist, um sich gegen die Anfechtungen der bösen Mächte behaupten zu können, und auf diese Gnaden-Hilfe auch zählen kann. Die Asketen-Erfahrung mag die Gnadengeschichten bestimmen, in denen sich der Synergismus des Ostens ausprägte: eine Gnadentheologie, die dem Mitwirken der Menschen mit der Gnade große Bedeu-
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2. Gottes Werk
tung beimisst. Die Asketen wissen sich in ihrer eigenen Entscheidung für den Weg entschiedener Christusnachfolge mit allen Kräften gefordert, diese Entscheidung durchzutragen. Und sie wissen sich zugleich elementar angewiesen auf den Gnadenbeistand des Heiligen Geistes, der sie in ihrer Entscheidung für das Gute „fest macht“, ihren Weg der Gott- bzw. Christusverähnlichung festigt. Der Synergismus rückt den menschlichen Willen mitunter so in den Vordergrund, dass gesagt wird: „Wenn wir nur wollen, dann sind wir imstande, durch die Kraft des Willens den ganzen Widerstreit der Natur zu überwinden […] Wenn wir unseren ganzen Willen hergeben, dann verleiht uns Gott, der Herr, große Gnadenkraft, und wir sind dann durch keine feindliche Macht zu überwältigen“.1 Dem asketischen Weg entspricht aber ebenso die Erfahrung, dass alle menschliche Anstrengung schon von Gottes Gnade getragen und „gesegnet“ sein muss, damit sie ihren heilvollen Ertrag bringen kann. Johannes Cassianus (ca. 360–430), der die Erfahrungen des östlichen Mönchtums und der „Wüstenväter“ in die monastischen Bewegungen des Westens einbringt und so schließlich auch mit Augustins Gnadenlehre in Konflikt gerät, kann immerhin – fast schon auf der Linie Augustins – geltend machen, „dass nicht nur der Anfang der Handlungen, sondern auch der guten Gedanken von Gott ist, der uns die Keime des guten Willens einflößt und auch die Kraft und Gelegenheit gibt, unsere guten Begierden auszuführen.“ Bei den Menschen aber liege es, „täglich der uns ziehenden Gnade Gottes demütig zu folgen oder aber ‚mit hartem Nacken‘ ihr zu widerstehen“.2 Grundsätzlich gilt: „Kein Gerechter ist sich selbst genug zur Erlangung der Gerechtigkeit“. Er bleibt immer darauf angewiesen – hier kommt das synergistische Motiv wieder zu seinem Recht –, dass „die göttliche Güte jeden Augenblick dem Wankenden und Stürzenden ihre Hand als Stütze unterlegt, damit er nicht im Sturze ganz zugrunde gehe, wenn er durch die Schwäche des freien Willens zu Fall kam“. Der „gute Wille“, der frei ist von den Fesseln der bösen Begierden, muss in uns durch die Gnade „zustande gebracht“ werden, damit er nicht schwach werde, sondern im Guten fest gegründet sei. Aber es ist der gute, freie Wille des Menschen, der in seinem Wollen von der Gnade im Guten gegründet und zu seiner Realisierung gestärkt wird.3 Synergistische Konzepte, wie sie im Osten die Regel sind, können es dabei belassen, das Angewiesensein des Menschen auf die Gnade und das Wollen des Menschen nebeneinander stehen zu lassen – beides ist nötig – oder gar ineinander zu denken; und dies deshalb, weil es der Erfahrung menschlichen Wollens entspricht, dass ich mein
2.2 Gnade und freier Wille
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Wollen vollziehen muss und von meinem Wollen doch weiß, dass es getragen und gegründet sein bzw. lebendig gemacht werden muss von dem, was es will. Das Wollenkönnen und die Entfaltungsmöglichkeit des Willens zum freien Willen durch Gründung im wahrhaft Guten, aus dem der Wille seine Willenskraft empfängt, gehören zur Gottebenbildlichkeit des Menschen; sie sind dem Menschen vom Schöpfer mitgeteilt. Die Sünde schwächt die Gründung des Willens im Guten, durch die der Wille vom Guten gleichsam angezogen wird. Die Gnade kann deshalb als Stärkung des Willens gedacht werden, der durch den Heiligen Geist aufgrund der Erlösungstat Christi von Neuem in Gott als dem wahrhaft Guten verwurzelt, ja Gottes selbst teilhaftig4 und zum Wollen des Guten befähigt wird. Diese Vorstellung des Miteinanders und Ineinanders von helfender, mit dem wahrhaft Guten in Beziehung bringender Gnade und menschlichem Wollen ist im Erziehungsmodell des Origenes lebensweltlich plausibel vorgestellt. Es wäre dagegen zu schützen, dass sich der Mensch das Heils-Entscheidende selbst zuschreibt, so dass Gottes Gnade nur noch Ergänzung oder Vollendung meines Wollens wäre und man aufgrund des eigenen guten Wollens gleichsam ein Anrecht darauf hätte, das, was man selbst nicht hinreichend leisten kann, als Gottes stützende Gnadenhilfe zu empfangen. Das entspräche offenkundig nicht dem paulinischen Gnadendenken. Aber die östliche Gnadentheologie sieht noch keine Notwendigkeit, prinzipiell-alternativ zu denken: entweder durch die Gnade und deshalb in keiner Weise durch den menschlichen Willen oder durch den menschlichen Willen und dann eben nicht durch die Gnade. Hier folgt sie Paulus nicht, der diese Alternative freilich im Blick auf das Gesetz geltend machte und noch keinen Anlass hatte, sie allgemein-anthropologisch durchzuführen. Es ist Augustinus, der diese Radikalisierung des paulinischen Alternativen-Denkens vollzieht – und das in Auseinandersetzung mit Konzepten, die in der östlichen Gnadentheologie verwurzelt sind: dem des Pelagius und den Überzeugungen von Mönchsgemeinschaften, die unter dem Einfluss des Johannes Cassianus und so in der Tradition der Mönchsväter des Ostens stehen. 2.2 Gnade und freier Wille – zum Ersten Augustinus widerspricht der offenkundigen Selbsterfahrung des Menschen, wonach mein Wollen aus mir hervorgeht und – als gutes Wollen – zugleich angezogen bzw. getragen ist von dem Guten, das
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2. Gottes Werk
es will. Sein Widerspruch hebt offenbar einseitig auf die konstitutive Passivität des guten Wollens ab und setzt diese gnadentheologisch gegen seine ebenso konstitutive Selbstursächlichkeit. Worin liegen die Gründe, die ihn dazu veranlassen? Die Frage ist nicht leicht zu beantworten, zumal Augustinus vor 395 selbst dem freien Willen des Menschen – seiner Selbstbestimmung – Entscheidendes zutraute. So konnte er sagen: „Der Geist wird nur dann Sklave der Begierde, wenn er es selbst will“ (De libero arbitrio III 2, 8). Und: „unser Wille wäre gar kein Wille, wenn er nicht in unserer Macht stünde. Aber weil er in unserer Macht steht, ist er frei“ (ebd., III 8, 32). Die Schrift De diversis questionibus ad Simplicianum aus dem Jahre 397 bringt – lange vor Ausbruch der Kontroversen mit Pelagius – die Wende. Sie hat ebenso mit einem radikalisierten Verständnis der Sünde wie mit einer zugespitzten Theorie des alleinwirksamen, in keiner Hinsicht „bestimmbaren“ Gottes zu tun. Auch Ad Simplicianum räumt zunächst ein: „Der freie Wille hat sehr großen Wert, gewiss, es gibt ihn“, um dann jedoch einzuwenden: „aber welchen Wert hat er bei denen, die unter die Sünde verkauft sind?“ (I 2, 21) Die Freiheit des freien Willens ist unter der Knechtschaft des bösen Feindes zunichte geworden, in welcher der Sünder sich vorfindet. Wie groß könnte „die Freiheit des dem Feinde untertan gewordenen Knechtes [noch] sein?“ (Enchiridon VIII 30). Im Entscheidenden kann sie gar nicht mehr gegeben sein. Sie kann sich selbst jedenfalls nicht ihrer Knechtschaft unter der Herrschaft des Bösen entwinden und den bösen Willen des Menschen zu einem guten machen. Der Wille des Sünders ist des Guten nicht mehr fähig, da er sich dem Bösen versklavt hat (ebd., VIII 32). Durch freie Willensentscheidung hat das Menschengeschlecht in Adam den (guten) Willen „zugrunde“ gerichtet – wie „einer, der Selbstmord übt, freilich noch lebend“ (ebd. VII 30). Dieser Selbstmord kann nicht von dem zurückgenommen werden, der ihn aus freien Stücken begangen hat. Der freie Wille hat die Güte, die ihn zu guten Werken lebendig machen würde, in sich abgetötet; er kann das Gute nicht mehr wollen und vollbringen, sondern nur noch sündigen. Vorausgesetzt ist hier die dramatische Erbsündenlehre des Augustinus, die alle Menschen in die Sünde im Anfang einbezogen und um die Fähigkeit gebracht sieht, das Gute zu wollen und zu tun – es sei denn, sie würden ohne eigenes Verdienst aus dieser Knechtschaft des Bösen befreit. Alle sündigten in Adam; so sind sie alle vor Gottes Gerechtigkeit zum Unheil verdammt, auch die kleinsten Kinder, die in ihrem Leben noch gar nicht aus eigener Verantwortung sündigen
2.2 Gnade und freier Wille
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konnten. Nur die aus der Sünde befreiende Taufgnade kann ihnen die Güte des Willens zurückgeben und sie frei machen zu guten Werken. Die theologische Motivation dieser Erbsündenlehre ist höchst fragwürdig. Die Erbsünde soll Gott im Recht sein lassen angesichts der „Strafen“, welche die Menschen schon von Kindesbeinen an durch ein gnadenloses Schicksal in dieser Welt und auch noch im Jenseits zu erdulden haben. Sie haben es nicht besser verdient; jede Verschonung müsste ihnen ohne alles Verdienst geschenkt werden. Diese Strategie der Entschuldigung Gottes durch die radikalst-denkbare Beschuldigung der Menschen hat nicht erst für unsere Zeitgenossen jeden Kredit verloren. Sie erscheint als Ausdruck einer abgründigen theologischen Verlegenheit, nicht etwa als in irgendeinem Sinne weiterführender Beitrag zum Glaubens- und Selbstverständnis des Menschen. Gleichwohl versteckt sich in Augustins Erbsündenlehre ein immer noch bemerkenswerter Versuch, die Macht der Sünde über die Freiheit des Menschen zu verstehen. Worin besteht nach Augustinus die Knechtschaft, in der sich der Sünder vorfindet? Er hat seine Freiheit immer schon dazu missbraucht, sich tatsächlich mit dem Bösen zu identifizieren. Und so kann diese Freiheit nur noch „darin bestehen, dass er Freude an der Sünde empfindet“, dass er „den Willen seines Herrn [des Herrn des Bösen] gerne erfüllt“ (Enchiridion VII 30). Man wird als Sünder gleichsam hineingezogen in eine geradezu perverse Mitfreude am Bösen, so dass man es von Herzen gern hat und tut. Der Sünder ist unfähig geworden, mit der Verheißung des Guten noch mitzufühlen. Das Böse herrscht über ihn, da es, modern gesprochen, seine Identität besetzt hält, sich sein Bejahenkönnen angeeignet hat und die offene Wahrnehmung anderer Identifikationsmöglichkeiten – so auch die Identifikation mit dem Guten – „sabotiert“. Der Sünder wird nach Augustinus „nur dann frei sein zu gerechtem Tun, wenn er, zunächst befreit von der Sünde, anfängt, ein Knecht der Gerechtigkeit zu werden. Denn darin besteht die wahre Freiheit, in der Freude am rechten Tun“ (ebd.). Wahre Freiheit heißt also für Augustinus noch nicht, sich mit A oder mit B identifizieren zu können, die Freiheit der Wahl zu haben. Gleichsam dahinter entscheidet sich wahre Freiheit daran, ob ich die Möglichkeit finde, mich mit dem zu identifizieren, was meiner Identifikation überhaupt erst würdig wäre; ob ich wahrnehmen kann, was für mich das Gute ist und ich es deshalb zum verbindlichen Inhalt meines Willens machen kann, dem gegenüber es nicht auch noch alle
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2. Gottes Werk
möglichen – ebenso möglichen – Alternativen gäbe. Freiheit ist nicht gegeben, wo es beliebige Alternativen gibt, sondern wo es die schlechthin gute Alternative gibt, mit der ich mich aus ganzem Herzen identifizieren kann. Sie entscheidet sich daran, ob mir widerfährt und aufgeht, was meine Herzens-Identifikation zu Recht in Anspruch nimmt, was meine Freude für das Gute hervorrufen kann, was in diesem Sinne mein Wollen in eine Perspektive des Guten und zugleich gern Gewollten hinein befreit und stärkt. Augustinus kommt schon in Ad Simplicianum sehr einleuchtend und grundsätzlich auf diese gnadentheologisch so wichtige Dimension heilvoller Passivität in der menschlichen Freiheit zu sprechen, die auch für die vom Platonismus beeinflussten Theologen des Ostens zentral wichtig war. Ich zitiere im Zusammenhang: „In wessen Macht steht es, dass sein Denken von etwas, das er gesehen hat, derart beeindruckt wird, dass sein Wille sich dem Glauben [hier noch verstehbar im allgemeinen Sinn des Sich-Identifizierens-mit] zuwendet? Wer wendete sich mit ganzer Seele einer Sache zu, die ihn nicht erfreut? Oder in wessen Macht liegt es, dass ihm etwas begegnet, was ihn erfreuen kann bzw. dass ihn erfreut, was ihm begegnet? Wenn uns also erfreut, was uns zu Gott bringt, wird auch das durch Gottes Gnade eingegeben und geschenkt. Es wird nicht durch unseren Willen und unsere Anstrengung oder durch verdienstvolle Werke erworben … der Wille selbst kann keinesfalls bewegt werden, wenn ihm nichts begegnet, was die Seele erfreut und einlädt. Dass ihm das begegnet, liegt aber nicht in menschlicher Macht“ (I 2, 21–22).
Kurt Flasch hat sich darüber gewundert, „dass Augustin sich den Willen nur als höheres Strebevermögen denken kann, das vom Höherwertigen so angelockt wird wie das sinnliche Strebevermögen von der Lust“.5 Aber ist das tatsächlich in der Sache und nicht nur von einem an Kant orientierten Begriff selbstbestimmter Freiheit her verwunderlich? Kann Freiheit gedacht werden ohne das – dann auch kritisch zu prüfende – Beanspruchtsein von einer verheißungsvollen, zutiefst erfreulichen Herausforderung, an der ich die Güte dieser Herausforderung entdecken und vernünftig verantworten kann?6 Freiheit geschieht doch, wenn ich nicht nur einer (vernünftigen) Forderung folge, sondern gefunden habe, wozu ich bei klarem Verstand und aus vollem Herzen Ja sagen, womit ich mich verantwortlich und gern identifizieren kann, weil es dem vernünftig Gesollten wie dem von mir mit ganzem Herzen Gesuchten entspricht. Wenn dem aber so ist, dann liegt es schon näher, theologisch davon auszugehen, dass der Mensch in der Sünde zu solcher Freiheit befreit werden muss und
2.2 Gnade und freier Wille
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dabei die Gnade immer schon im Spiel ist: das unverfügbare Geschenk der Begegnung mit dem, „was die Seele erfreut und einlädt“, sich von Guten bestimmen zu lassen. Dann erscheint auch das Abgründige der Verführung unter die „Knechtschaft“ des Bösen in seiner ganzen Dramatik. Das Böse richtet seine Herrschaft nicht nur „von außen“, sondern im Innersten des Menschen auf, indem es seine innerste Unverfügbarkeit okkupiert: das Gespür dafür, was ihm Freude macht und Erfüllung verspricht, so dass er es in allem sucht. Meine innersten Neigungen sind mir selbst unverfügbar, auch wenn ich verpflichtet bin, ihr Wirksamwerden in meinem Leben kritisch zu begleiten. Hier nistet sich das Böse ein: da, wo ich sowieso nicht vollständig „Herr im eigenen Haus“ sein kann, errichtet es sein Herrschaft; hier ist es mir innerlicher geworden als ich mir selbst innerlich nahe bin und als ich über mich selbst verfügen könnte. Diese Selbst-Unverfügbarkeit wäre nur dem zugänglich, der mit seinem unendlich guten Willen auf mich zukommt, mir daran zuinnerst Anteil geben will – und dies auch kann, weil er mir mit seiner Liebe innerlicher ist, als ich mir selbst innerlich sein könnte (Confessiones III, 6, 11). Gott wendet mich, den noch in Sünde verstrickten Beter, mit seiner Gnade „zu mir selbst herum“, holt mich „hinter meinem eigenen Rücken“ hervor (Confessiones VIII, 7, 16); er „wendet das Innerste des von ihm Abgewandten zu sich, indem er ihm nach und nach die Wonne (delectatio) seiner Güte eingibt, ihn an sich zieht und ihm die Freiheit sowie ein gottähnliches Liebesvermögen verleiht.“7 Die Gnade verwandelt die innerste, alles bestimmende „Motivation“ des Sünders, so dass er nicht mehr aus der Selbstliebe und für sie lebt, sondern für die Gottesliebe – und so in der Civitas Dei lebt, nicht länger in der Civitas diaboli (De civitate Dei XIV 28). Die Gnade bewirkt diese Neuschöpfung des guten Willens, der aus der Herrschaft des Bösen freigekommen ist; sie wirkt die Auferweckung des zum Guten freien Willens, der in der Sünde Selbstmord begangen hatte. Sie befreit den Sünder aus dem Griff der Sünde, was der Sünder von sich aus gar nicht könnte, weil er seiner selbst zuinnerst enteignet und entfremdet ist: zu einer Wirklichkeit der Sünde geworden ist, aus der nichts anderes als Sünde hervorgehen kann. Er ist der schlechte Baum, der nur schlechte Früchte bringt. Erst wenn er zum guten Baum verwandelt wurde, kann er gute Früchte bringen. Nur wenn dem Menschen die Wirklichkeit geschehen ist, die ihn selbst zu einer anderen, guten Wirklichkeit macht, kann er entsprechend leben. In diesem Sinne lesen sich die folgenden Fragen als Steigerung des Gedankens ins völlig Alternativlose: „Wie kann
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2. Gottes Werk
denn jemand gerecht leben, der nicht gerecht gemacht ist? Wie heilig leben, der nicht geheiligt ist, ja überhaupt leben, der nicht lebendig gemacht worden ist?“ (Ad Simplicianum I 2, 3). In der Tat: Wer tot ist, kann nicht leben, es sei denn, er sei zum neuen Leben erweckt. Aber warum urgiert Augustinus hier die Parallele zur Totenerweckung, die den Sünder beim Geschehen der Gnade in die denkbar extremste Passivität hineindefiniert, so dass man sagen muss: Ihm geschieht die Gnade, aber sie geschieht nicht mit ihm? Weil Gottes Werk bei Augustinus dem (guten) Wirken des Menschen in jeder Hinsicht vorausgehen muss, der Mensch also mit seinem Wirken nicht so in Gottes Werk einbezogen sein kann, dass es mit ihm geschähe. Das griechische Erziehungsmodell dachte anders. Gnade wird hier als Lebensprozess, fast möchte man sagen: als ein dialogischer Prozess vorgestellt, in dem Gott und Mensch „immer schon“ interagieren. Wenn dann – wie etwa bei Gregor von Nyssa – die Begnadung doch als Adoption des Menschen an Sohnes Statt und damit als quasi-ontologische Statusveränderung verstanden wird, so ist auch hier noch der Gedanke leitend, die Adoption sei gewissermaßen Inbegriff eines Nahekommendürfens, das dem Menschen ohne jedes Verdienst gewährt ist und zugleich seine höchste Lebensherausforderung bedeutet (vgl. Orationes de beatudinibus 7). Die Gnadenmetaphorik der Auferweckung bei Augustinus geht darüber weit hinaus. 2.3 Die Gnade allein, Gott allein Augustinus macht bis zu den antipelagianischen Schriften hin immer nachdrücklicher die Unverdientheit und Unverdienbarkeit der Gnade geltend. Das biblische Motiv des Staunens und Dankens über Gottes unbegreifliche Großzügigkeit und Freigiebigkeit wird nun gleichsam negativ gegen alle Möglichkeiten der Sünder gewendet, vor Gott etwas Heilsames beitragen zu können; die Warnung des Paulus davor, sich seiner Verdienste zu rühmen (1 Kor 1,29–31), scheint ja zu solcher Zuspitzung zu drängen: Wer sich hier selbst etwas zuschreiben, gar den Anspruch erheben wollte, Gnade verdient zu haben, der vergeht sich am Herrn der Gnade, der doch ganz von sich aus handelt – nur aufgrund seiner Entschiedenheit, Gnade zu gewähren –, und dabei in keiner Weise bloß re-agiert: irgend etwas in seiner Entscheidung berücksichtigen würde, was sein souveränes Handeln von Seiten der Begnadigten hervorrufen könnte. Gott ist alleiniges Subjekt
2.3 Die Gnade allein, Gott allein
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der Gnade, der Mensch aber ihr Objekt; genauer: im Blick auf das Begnadetwerden ist der Mensch ausschließlich Objekt, im Blick auf das Begnadetsein aber kommt der Mensch selbstverständlich als Mithandelnder in Frage. Die Gnade bringt in ihm die Möglichkeit des Mithandelns mit Gottes Güte und damit auch die Möglichkeit hervor, gute Werke zu wirken. In diesem Sinne formuliert Ad Simplicianum, gute Werke seien „nicht Voraussetzung, sondern Folge der Gnade“ (I 2, 2). Aber wie steht es mit dem Glauben, ohne den die Menschen nicht Begnadete sein können? Hier müssen sie doch als Mit-Subjekte dessen verstanden werden, was da mit ihnen geschieht. Dass ihnen die Möglichkeit zum Glauben eröffnet sein muss, ist das Eine. Gott selbst gibt ihnen ja die Verheißung, auf die ihr Glauben sich richten kann. Und er öffnet ihnen die geistlichen Sinne für die Schönheit und Glaubwürdigkeit dieser Verheißung. Aber sind nicht doch sie es, die glauben – und sich so für einen Heilsweg öffnen, der sie ihrer Vollendung in Gottes Herrschaft entgegenführt? Pelagius (gestorben nach 418) bringt diese Plausibilität in der gnadentheologisch elementaren Sentenz zum Ausdruck: „Weder handelt der Mensch ohne die Gnade noch die Gnade ohne ihn“ (Expositiones XIII epistularum Pauli, 215,4). Sie gilt bei Pelagius ausdrücklich auch schon für den Glauben. Er ist des Menschen ureigener Akt, auch wenn dieser ihn erst durch Gottes Güte geschenkt bekommt und der Heilige Geist ihn im Glaubenden wirkt (ebd. 90,13 und 348,9). Pelagius will beides festhalten: dass der Mensch Subjekt des Glaubens ist und dass er ihm zugleich geschenkt ist, so dass er nicht als des Menschen gutes Werk Bedingung seines Heils sein kann. Augustinus ist das nicht eindeutig genug. Er urgiert auch hier die Passivität des Menschen bis zum Äußersten. Es kann nur eine „Ursache“ der Gnade und so auch des Zum-Glauben-Kommens geben. Man kann in diesem Sinne die „Anfangsstadien des Glaubens“ mit einer „Empfängnis“ vergleichen (Ad Simplicianum I 2, 2), an welcher der Empfangene ja in keiner Weise mitwirkt. Und als ob damit nicht schon genug Eindeutigkeit erreicht wäre, geht Augustinus mit dem Paulus des Römerbriefs noch einen höchst problematischen Schritt weiter: Die Gnade kommt allein vom „Berufenden“ und dies auch im Blick auf die Gnade zum Glauben, die den Menschen nach der souveränen Entscheidung des Berufenden entweder gewährt oder eben nicht gewährt wird (ebd., I 2, 3). Gott erbarmt sich der Menschen, derer er sich erbarmen will, als sie noch Ungläubige waren, so dass sie glauben konnten; seine Berufung geht dem Wollenkönnen zum
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2. Gottes Werk
Glauben hin voraus und bewirkt es (ebd., I 2, 9–13), da Gott sich dieses Berufenen erbarmen will, ihm also eine Berufung zubestimmt hat, der er nach seinem Ratschluss auch folgen kann. In all dem bleibt der Berufende und Erwählende alleiniges Subjekt; das Wollen des Menschen entscheidet nicht einmal darüber, ob er seiner Berufung folgt und so auserwählt ist. „Denn die Wirkung des Erbarmens Gottes kann nicht in der Macht des Menschen liegen; sonst würde Gott sich vergeblich erbarmen, wenn der Mensch nicht will“ (ebd., I 2, 13). Und weiter: „Wessen er sich erbarmt, den beruft Gott so, wie er weiß, dass es ihm entspricht, damit der Mensch den Berufenden nicht zurückweist“ (ebd.). Denen aber, derer Gott sich nicht erbarmt, kann „Erbarmen aus Gründen einer völlig verborgenen und von menschlicher Einsicht weit entfernten Gerechtigkeit nicht gewährt werden“ (ebd., I 2, 16). Niemand kann seinem Willen widerstehen, mit dem er alles selbst bestimmt „in seinen unerforschlichen Ratschlüssen“ (ebd., I 2, 17–18). Augustins Entschlossenheit zur äußersten Konsequenz ist erstaunlich; und er zahlt einen hohen theologischen Preis. Aber wofür zahlt er ihn? Für ein Verständnis der Alleinwirksamkeit Gottes, das Gott – in platonischer Tradition – keinerlei Wechselwirkung ausgesetzt sehen kann. Gott reagiert nicht; das würde seiner Vollkommenheit widersprechen. Er wird von nichts betroffen, was nicht seinem souveränen Willen entsprechend geschieht. So darf auch das Endergebnis seines Wollens im Blick auf die Menschen nicht von diesen selbst abhängen. Augustin setzt also voraus – so Kurt Flasch –, „dass die Selbstbestimmung des menschlichen Willens nicht zugleich das Wirken Gottes sein könne, dass also Gott sein Wirken nicht modifizieren lasse durch das Wollen des Menschen, dass es also nicht zu einem gemeinsamen Wirken kommen könne.“ Man wird Flasch auch in seiner Folgerung zustimmen: Wenn man diese theo-logische Voraussetzung nicht mitvollzieht, fällt Augustines Argumentation,8 verliert sie jedenfalls ihre Zwangsläufigkeit. Die Kehrseite der Medaille: Wie die nötigen Revisionen im Gottesverständnis tatsächlich zu realisieren wären, so dass gesagt werden dürfte: Gott handelt in seiner Gnadenmitteilung am Menschen nicht ohne den Menschen9 – und wie diese Formel auch stringent durchgehalten werden könnte bis in die theologische Würdigung des ZumGlauben-Kommens –, das ist weder von den Kontrahenten des Augustinus deutlich gemacht worden, noch ist es bis in die Gegenwart hinein hinreichend durchdacht worden. Die östliche Theologie bot das Erziehungsmodell an; noch Pelagius hat sich in seiner Argumen-
2.3 Die Gnade allein, Gott allein
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tation daran orientiert. Das hatte bei ihm die Konsequenz, dass er sich die Gnadenwirksamkeit wie die Wirksamkeit der Sünde in der Welt relativ stark in Analogie zur Wirkung des guten oder des schlechten Vorbilds vorstellte, das von „bösen Gewohnheiten“ freikommen hilft oder zu ihnen verführt (vgl. Expositiones 337,15). Das kann die Lösung des Problems noch nicht sein, das in Augustins Erbsündenlehre zum Austrag kommt: dass der Sünder so innerlich vom Nicht-Wollen oder gar Nicht-wollen-Können des Guten bestimmt ist, dass ihm das Befreitwerden zum Wollenkönnen des Guten widerfahren muss – und es doch, was bei Augustinus nicht hinreichend zur Geltung kommt, sein Wollen ist, das hier zu sich selbst „erwacht“. 2.4 Befreiung vom Augustinismus? Nach manchen Irrungen und Wirrungen hat der Augustinismus in der Gnadenlehre in der westlichen Kirche gegen den Pelagianismus und seine semipelagianischen Weiterentwicklungen Alleingeltung erlangt, sie aber nicht auf Dauer wirklich einnehmen können. Der Augustinermönch Martin Luther wird sich als Erneuerer des augustinischen Erbes verstehen und gegen eine Gnadenlehre wenden, in der er dieses Erbe in entscheidenden Punkten nicht mehr wiedererkennen konnte. Aber – wie gesagt – im 5. Jahrhundert zieht Pelagius den Kürzeren. Verschiedene Regionalsynoden, die im Westen allgemeine Anerkennung finden, bestätigen den Augustinismus (Karthago 418, Arles 473, Orange 529), versuchen aber auch schon, manche Konsequenzen zu vermeiden, die Augustins Gnadenlehre ins Zwielicht rücken könnten. So sieht sich Prosper von Aquitanien (gestorben nach 455) gegen den von Johannes Cassian inspirierten Semipelagianismus und seine Weigerung, den „Anfang des Glaubens“ eindeutig und ausschließlich der Gnade zuzurechnen, in seinem breit rezipierten Indiculus gratiae zu der Klarstellung genötigt, Gott wirke „im Herzen der Menschen und im freien Willen selbst so, dass ein heiliger Gedanke, ein frommer Entschluss und jede Regung des guten Willens aus Gott ist“ (DH 244); er sei „Urheber aller guten Neigungen und Werke, aller Bemühungen und aller Tugend“ (DH 248). Andererseits soll ebenso feststehen, dass damit „der freie Wille nicht aufgehoben, sondern befreit [wird], damit er aus einem finsteren zu leuchtenden werden, aus einem Verkehrten zum geraden“. Denn Gott will, „dass unsere Verdienste seien, was seine eigenen Geschenke sind“ (ebd.).
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2. Gottes Werk
Die Synode von Orange gab dem Augustinismus in der Gnadenlehre eine Fassung, die großkirchlich einigermaßen akzeptierbar war. Sie folgte Augustinus entschieden darin, dass sie die Gnadenlehre von der Sündenlehre und insbesondere von der Erbsünde her konzipierte und forderte deshalb die Zustimmung zu einem absoluten Primat der Gnade vor jeder menschlichen Initiative zum Guten ein. Sie stellte in diesem Sinne klar, es sei die Eingebung des Heiligen Geistes, „dass wir glauben wollen“ (DH 376), ohne sich in der Frage festzulegen, wie der Wille des Menschen von dieser Eingebung in Anspruch genommen und befreit wird. Die Gnade kommt jedenfalls all dem zuvor, was der Sünder tun könnte. Aber sie gilt nicht nur den wenigen Erwählten und zum Heil Bestimmten; sie wird von Gott vielmehr grenzenlos freigiebig gewährt (DH 396). So vermied man die verhängnisvollen Konsequenzen der Prädestinationslehre Augustins oder versuchte zumindest, ihnen auszuweichen. Der freie Wille: nicht aufgehoben, sondern zu sich selbst befreit. Das ist Augustinismus in der Gnadenlehre. Der kritische Punkt ist sichtbar geworden: Nach Augustinus kann sich der Sünder nicht frei dazu verhalten, ob er sich in seinem Wollen von der Gnade befreien lassen will, solange er noch einen durch die Sünde beherrschten Willen hat. Der unfreie Wille kann nicht frei wollen, befreit zu werden – oder eben nicht befreit zu werden. Diese Konsequenz erscheint gnadentheologisch gewissermaßen gnadenlos konsequent; und sie führt letztlich auf einen Gott, der souverän verwirft oder erwählt. Die Bedingungslosigkeit seiner Erwählung macht den Sünder zum bloßen Objekt seiner Wahl. Was aber ist das für eine Liebe, die am vollkommensten sein soll, wenn sie ohne Ansehen der Person – des erwählten Geliebten – geschieht? Pelagius scheint da menschlicher zu denken: Auch durch die Sünde verliert der Mensch nicht sein Subjektsein vor Gott; er bleibt in der Verantwortung, sich dafür zu entscheiden, ob er sich von Gott retten lassen will. Aber ist man als dem Verderben preisgegebener Mensch tatsächlich in der Lage, frei darüber zu entscheiden, ob man gerettet werden will? Wird die Unterstellung eines freien Willens gegenüber der Gnade nicht schnell zu einer abstrakten Behauptung? Augustinus kommt das bleibende Verdienst zu, die Befreiung des Sünders zur Freiheit (Gal 5,1) in einer Tiefe gedacht zu haben, von der her sich die Gnaden- und Freiheitserfahrung der Glaubenden tatsächlich neu erschließt. Wo dem Sünder die Faszination und die Herausforderung des Guten tatsächlich als die schlechthin verheißungsvolle Alternative seines Lebens in der Sünde nahe kommt, da
2.3 Die Gnade allein, Gott allein
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geschieht ihm das Umkehr Ermöglichende in der Tiefe seines eigenen Lebens, zu der er von sich aus keinen Zugang hätte. Es geschieht ihm unverfügbar – gleichsam vorwillentlich10 – und doch so, dass er nie das bloße Objekt dieses Geschehens ist, sondern darin zu seinem (Mit-)Subjektsein kommt. Auch das hätte Augustinus vielleicht noch sagen können. Aber er konnte nicht mehr vermeiden, zu behaupten, dass das Menschensubjekt auf durch und durch objektivistische Weise durch Gott zu seinem Glauben und so zu seinem Subjektsein kommt, in sein Subjektsein auferweckt wird. Und er pointiert diese Behauptung durch seine Prädestinationslehre bis ins Unerträgliche. Seine Prädestinationslehre aber kann er überhaupt nur verteidigen, weil er eine Erbsündenlehre vertritt, die alle Menschen zum Unheil verdammt sein lässt und die völlig unverdiente Erwählung der Wenigen als eine Gnade verstehen lässt, gegen die sich die nicht Erwählten nicht im Geringsten auf Gerechtigkeit berufen könnten. So bleibt ein höchst zwiespältiges Fazit: Solange Augustinus menschliche (Selbst-)Erfahrung auslegt, gelingen ihm Analysen von unvergleichlicher Präzision und Eindringlichkeit: • wie wenig der Mensch Herr im eigenen Haus ist, da er über seine Geneigtheiten nicht beliebig verfügen kann; • wie er in dieser Unverfügbarkeit seines Innersten darauf angewiesen ist, durch eine Widerfahrnis des wahrhaft Guten zu diesem Guten als der unendlich verheißungsvollen Alternative der Versklavung unter die Sünde bewegt, ja „motiviert“ und „mobilisiert“ zu werden; • wie ihm darin die Gnade zuteil wird, welche die Menschen im Glauben wahrnehmungsfähig macht und mit der Leidenschaft zum Guten erfüllen kann; • wie all das angesichts der bleibenden, immer wieder neu die Identität des Glaubenden angreifenden Versuchungen zur Sünde ungesichert und auf fortwährende Gnadenhilfe angewiesen ist. Sobald diese Erfahrungen aber mit Konsequenzen und Voraussetzungen belastet werden, zu deren Annahme sich Augustinus gezwungen sieht, um den Worten des Römerbriefs Genüge zu tun und einem Gott die Ehre zu geben, dessen souverän gewährte Gnade den Sündern ohne Ansehen der Person geschieht, verzerrt sich das Bild ins Monströse. Der theologische Rahmen, der darüber bestimmt, was die elementaren Erfahrungen sagen und sie gleichsam theologisch in Dienst nimmt, lässt die Bedrohlichkeit einer Gottesbeziehung in den Vordergrund treten, in der alle Menschen der Verdammung gewärtig sein
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2. Gottes Werk
müssen. Die Zuwendung Gottes scheint nur wenigen zu gelten, als Willkür der erwählenden Liebe; und man kann sie sich jederzeit verscherzen können – in welchem Falle man eben nicht von Gott zum Heil prädestiniert war. Die biblisch so vielfältig dargestellte und bedachte Gnadenwirksamkeit und Gnadenwirklichkeit gelingenden Lebens kommt von der völlig unverdienten Vergebung der Sünden her in den Blick, die dann aber denen, denen sie heilswirksam zuteil wird, die Fähigkeit zu guten Werken der Liebe mitteilt. Besteht die Möglichkeit, Augustinus gegen Augustinus in Schutz zu nehmen und mit ihm zu denken, ohne sich theologisch zu den Konsequenzen erpressen zu lassen, die er selbst für unausweichlich hielt? Diese Frage bleibt auf der theologischen Tagesordnung; sie ist von Luther neu dringlich gemacht worden und bis heute zur ökumenischen Klärung aufgegeben. Man sollte sie nicht von vornherein verneinen und das Heil in der Gnadenlehre von einer bloßen Überwindung des Augustinismus erwarten.
Literatur Gisbert Greshake, Gnade als konkrete Freiheit. Eine Untersuchung zur Gnadenlehre des Pelagius, Mainz 1972. Karl-Heinz Menke, Das Kriterium des Christseins. Grundriss der Gnadenlehre, Regensburg 2003 (ein pointiert Augustinus-kritischer Entwurf). Die lehramtlichen Dokumente sind zitiert nach: Heinrich Denziger (Begründer) – Peter Hünermann (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, Freiburg – Basel – Rom – Wien 381999 (DH).
3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen
Die Relativierungsgeschichte, in welcher der strenge Augustinismus großkirchlich rezipierbar wurde, ist geprägt vom Gedanken einer Gnadenordnung, die das Geschehen der Gnade als Heilsordnung der größeren Gottesgerechtigkeit theologisch nachvollziehbar machte. Lässt sich der Mensch durch die Gnade in diese Ordnung einfügen, so wird sein innerstes Streben nach Erfüllung aus der sündhaften Fixierung auf Endliches befreit und für die Teilhabe an der Liebe Gottes bereitet. Es macht die Ordnung der göttlichen Liebe wesentlich mit aus, dass der ursprünglich und schöpferisch Liebende den Geliebten nicht im unendlichen Abstand des absolut Vollkommenen zum Nichtswürdigen begegnen will, sondern auf der Augenhöhe des Freundes zum Freund. So macht Gott die Begnadeten – soweit möglich – ihrer Vollendung in der Gnade würdig. Aber erwächst ihnen daraus nicht eine Verpflichtung, von der man nie wissen kann, ob man sie erfüllt?
3.1 Weitung der Perspektive Augustinismus: die Geschichte einer Bekehrung. Augustinus erlebt sie als die heilvolle Wende seines Lebens, die ohne eigenes Zutun über den Suchenden und auf Abwege Geratenen gekommen ist. So singt er das Loblied einer Gnade, die über ihn, den Sünder, mächtig geworden ist, so dass er jetzt trotz seiner Sünde gerecht gemacht ist und aus der Gnade leben kann: zu guten Werken fähig wird. Die Gnade macht einen Anfang, der einer Auferweckung gleich kommt; in dieser Auferweckung wird der Wille zum guten Willen erweckt. Der Gnade sei Dank und ihr allein ist es zu danken. Die dunkle Kehrseite dieser Bekehrungsgeschichte: Der Gott, der da ganz von sich aus Gnade gewährt, kann sie auch nach seinem absolut verborgenen Ratschluss verweigern und die Sünder der verdienten Verdammnis anheimgeben. Wer aus der Gnade leben darf, preist die Souveränität des unverdient Rettenden; er weiß ja, wozu Gott in seiner Souveränität auch fähig gewesen wäre: nicht Gnade vor Recht ergehen zu lassen. Aber vor welchem Recht? Aufgrund
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3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen
welcher Gerechtigkeit? So zu fragen steht dem vor Gott rechtlosen Sünder nicht zu. Keine theologische Bedenklichkeit reicht an den Lobpreis der Gnade heran. Und findet dieser Lobpreis nicht gerade dann die rechte, hochgestimmte Tonart, wenn er auf die Strafen der Verdammten sieht und sich so der eigenen Seligkeit recht freuen mag?1 Wie kann es zu einer Weitung der Perspektive kommen, in der das dunkle Gegenbild einer emphatischen Gnadenlehre nicht nur aus dem Blick gerät, sondern theologisch überwunden wäre? Das ist die Frage eines vom modernen Selbstverständnis kritisch gestimmten Glaubens an Gottes gnädige Zugewandtheit. Sie ist in der Relativierungs-Geschichte des Augustinismus bis ins 16. Jahrhundert hinein noch nicht gestellt worden. Wenn man sie stellt, geraten Positionen und Erfahrungen in den Blick, die in der mittelalterlichen Theologie dazu beigetragen haben, die Rede von der Gnade weniger zwiespältig erscheinen zu lassen, sie aber auch neu zum Problem gemacht haben. In ihnen trat Gottes „Gerecht-heit“ neu hervor, auch die „Gerecht-heit“ seiner gnädigen Erwählung, an der nicht mehr die Ahnung von Willkür hängen bleiben sollte. Der gnädige Gott wird eingebunden in die Rahmenvorstellung einer guten Ordnung, die von seinen Gnadenerweisen nicht konterkariert, sondern zu einer Gnaden-Ordnung ausgestaltet wird. Aber bindet man ihn damit nicht zu sehr an das nach Menschenermessen Angemessene? Werden Voraussetzungslosigkeit und Macht der Gnade nicht um ihre Bedeutung gebracht? Die biblisch so vielfältigen Zeugnisse eines gelingenden und erfüllten Lebens in der Beziehungsgerechtigkeit des Bundes werden in den theologischen Aufbrüchen des beginnenden Mittelalters neu bedeutsam in der Erfahrung, einer guten Ordnung eingefügt und von ihr getragen zu sein. Dass die Ordnung mönchischen Lebens und dann auch die einer einigermaßen rechtssicheren Stadt- bzw. Feudalkultur die gute Ordnung des Geschaffenen und mit Gottes Hilfe von Menschen Gestalteten in den Blick treten lässt, dokumentiert die LebensWirklichkeit eines Glaubens, den man weithin schon als Lebensprägend vorfindet und in dessen Gegebenheit man hineinwächst. Es geht um die Ausgerichtetheit an der Gottesordnung der Schöpfung und der Heilsverwirklichung, um die Gerechtigkeit, die in der Rechtheit des Wollens nachzuvollziehen und anzueignen ist. Weil sich der Wille in der Sünde gegen die Gottesordnung gewendet hat, deshalb muss er ihr – nach Anselm von Canterbury – durch Jesu Christi stellvertretende Satisfactio wieder eingefügt und so gerecht gemacht werden.2 Deshalb auch gilt, „dass kein Geschöpf diese Gerechtigkeit
3.2 Vielfalt und Einheit der Gnade
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ohne Gnade zu erlangen“ vermag (De concordantia, q. III, cap. 2). Die Gnade unterstützt „stets den natürlichen freien Willen, der ohne sie nichts zum Heile vermöchte, indem sie ihm die Richtigkeit verleiht, die er dann aus Freiheit bewahrt“ (ebd., cap. 3). Der freie Wille aber kommt zu der aus seinem Inneren wirkenden Kraft des Guten – zur virtus –, indem er durch den Heiligen Geist an der göttlichen Liebe selbst Anteil gewinnt und zur Liebe befähigt wird; so Petrus Lombardus (ca. 1100–1160) in seinen Ausführungen zu Röm 5,5 („die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist“; vgl. Sententiae in IV libris distinctae I, distinctio 17, cap. 1). Der freie Wille lebt aus der Liebe, die als geschaffene (geschöpflich wirksame) Gnade unmittelbar aus der ungeschaffenen (d.h. als sie selbst göttlichen) Gnade erfließt: aus der heilswirksamen Gegenwart des Heiligen Geistes im Menschen.3 An dieser Unterscheidung wird schon der Versuch deutlich, die vielfältige Gnadenwirklichkeit differenziert zu beschreiben und als eine die Glaubenden gleichsam „von allen Seiten“ umgebende, alle Lebensdimensionen durchwirkende Sphäre des Gottbezogenseins zu systematisieren. 3.2 Vielfalt und Einheit der Gnade Unter dem missverständlichen Titel „De divisione gratiae“ kommt Thomas von Aquin (1225/26–1274; Summa theologiae I/II q.111, a.2) auf jene Unterscheidungen zu sprechen, die der Scholastik dazu dienten, verschiedene Hinsichten zu differenzieren, in denen fachtheologisch von der geschaffenen Gnade zu handeln ist: von den Wirkungen der Gnade im Menschen. Er unterscheidet • die gratia gratum faciens, die den Menschen heiligt und Gott genehm macht, so dass dieser sich ihm wohlwollend zuwendet (die Rechtfertigungsgnade), von der gratia gratis data, die den Menschen umsonst gegeben ist, damit sie anderen zum Heil hilfreich sein können; • die gratia operans, welche die glaubende Hinwendung zu Gott ohne menschliche Mitwirkung hervorruft, und die gratia cooperans, die mit dem freien Wollen des Mensch mitwirkt, ihm zu Hilfe kommt, sein Ausgerichtetsein auf das Gute bestärkt; • die gratia praeveniens, die allem heilswirksamen Tun des Menschen zuvorkommt, und die gratia subsequens, die ihm nach seiner grundlegenden Umkehr zu Gott gegeben ist, damit sie in ei-
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3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen
nem von Glaube, Hoffnung und Liebe gewiesenen Weg der Nachfolge durchgehalten werde und Früchte bringe; die gratia habitualis, welche die Gerechtfertigten durch eine bleibende Gottesbezogenheit heiligt, ihnen gewissermaßen eine neue, ihre Natur erhöhende neue Lebens-Qualität mitteilt, und die gratia actualis, mit der Gott in konkreten Lebenssituationen helfend eingreift, damit das Gnadenleben sich entfalten kann.
Weitere Einteilungen werden in der Folgezeit bedeutsam und mehr oder weniger allgemein gebräuchlich. Man unterscheidet: • gratia creatoris elevans (Schöpfergnade), durch die das erste Menschenpaar im Paradies gnadenhaft erhoben (geheiligt) war, und gratia redemptoris elevans et sanans (Erlösergnade), welche die Sünder von ihrer Sündhaftigkeit heilt und zu einem heiligenden Gottesverhältnis erhebt; • gratia externa, die den Menschen „von außen“ zugewendet wird, etwa durch Verkündigung und Sakramente, und gratia interna, die sich heiligend oder helfend in der Seele des Menschen auswirkt und sie so verändert. Die Rezeptionsgeschichte dieser und ähnlicher Einteilungen erweckte den Eindruck, als gäbe es verschiedene „Sorten“ von Gnade, die sich real voneinander unterschieden und jeweils unterschiedliche Aufgaben und Wirkungen hätten. Als gnadentheologisch fatal erwies sich insbesondere die Überdehnung der bei Thomas gar nicht im Vordergrund stehenden Unterscheidung in geschaffene und ungeschaffene Gnade, die in der Scholastik schließlich zu einer Ablösung der Gnadenwirkungen im Menschen und der Kirche von der Gnadenwirklichkeit der im Heiligen Geist und als der Heilige Geist sich mitteilenden göttlichen Liebe führte. Diese Wirkungsgeschichte wird man der Gnadentheologie des Thomas von Aquin nicht anlasten dürfen. Bei ihm gerät die Sinneinheit des Gnadengeschehens nie aus dem Blick. Mit Augustinus unterscheidet er zwar die aller menschlichen Mitwirkung zuvorkommende, anfängliche Gnade von jenen Gnadenwirkungen, die in der Mitwirkung des Menschen zur Wirkung kommen, ihn – ostkirchlich gesprochen – zur Synergie befähigen und als Cooperans in Anspruch nehmen. Aber es kommt bei ihm nicht zu jener Zuspitzung, die Augustinus metaphorisch vom Selbstmord des dem Bösen sich zuwendenden freien Willens sprechen ließ und der Gnade die Auferweckung oder eine Neuerschaffung des guten Willens im Menschen zuschreiben musste.
3.2 Vielfalt und Einheit der Gnade
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Gottes Zuvorkommen öffnet den Raum – und hält ihn offen –, in den hinein der Mensch die Grunddynamik seines Geist-Daseins in recht geordneter Weise leben kann. Der Mensch ist „natürlicherweise hingeneigt zum letzten Ziel, d.h. zur Gottesschau“ (In Boethium De Trinitate, Lect. II, q.2, a.4, ad 5); in ihm ist ein desiderium naturale videndi Deum (oder desiderium naturae: Natur-Bedürfnis, Summa theologiae I q.12, a.1) lebendig, das durch die Sünde freilich auf Abwege gerät. Vielleicht darf man heute so interpretieren: Die Suche und die Sehnsucht nach dem Absoluten verlieren mit der Sünde ihre Ausrichtung auf Gott als das schlechthin und um seiner selbst willen zu erstrebende höchste Gut. Im unerlöst-selbstbezogenen Streben heften sie sich an Ersatz-Absolutheiten und verabsolutieren diese. Wo die Gnade im Sünder wirksam wird, befreit sie das desiderium naturale dazu, sich aus seinen wesenswidrigen Fixierungen auf bloß Relatives lösen und seiner „natürlichen“ Ausrichtung auf Gott folgen zu können. In dem aber, was die natürliche Lebenswelt des Menschen ausmacht, kann das Natur-Bedürfnis des geist-leiblichen Menschseins seine Befriedigung nicht finden. Es muss noch einmal geöffnet und geweitet werden, damit es für ein höchstes, um seiner selbst willen zu erstrebendes Gut wahrnehmungsbereit und empfänglich wird, das alle endlich-natürliche Güte, von welcher der Mensch natürlicherweise angezogen wird, unendlich überragt. Diese Öffnung geschieht in der Disposition durch den Gnaden-Habitus, die den Menschen fähig macht zur Teilhabe am höchsten Gut, auf die er von Natur aus hinstrebt, die ihm aber als bloßes Natur-Wesen nicht zuteil werden könnte. Die Gottesgemeinschaft, in der er am höchsten Gut teilhat, vermag er „nicht zu vollziehen auf natureigene Weise, sondern allein durch die Gnade, und dies eben wegen der Überragendheit jenes Ziels“ (In Boethium De Trinitate, ebd.). Die Natur ist von der Gnade in allen Dimensionen natürlichen Strebens in Anspruch genommen, durch sie von all ihren Verkehrungen erlöst und über sich selbst hinaus zu einer Vollendung geführt, die ihr aus sich selbst nicht erreichbar ist: gratia praesupponit (non tollit sed perficit) naturam (die Gnade setzt die Natur voraus, beseitigt sie nicht, sondern vollendet sie; vgl. Summa theologiae I/II q.99, a.2, ad 1).4 So wirkt die eine Gnade am Menschen Unterschiedliches, damit dieser seine Wesensbestimmung wahrnehmen, aus und mit der Gnade realisieren, zur rechten Gottesbeziehung, ja Gottes-Teilhabe „geheiligt“, in ihr gegen alle Anfechtungen und Verführungen gestärkt und den Mitmenschen zum Segen werden, damit er schließlich in der Gemeinschaft mit Gott seine Vollendung finden kann. Dieser umfas-
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3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen
sende Sinnzusammenhang der Gnade schließt durchaus die für Augustinus so zentrale Frage ein, wie der Mensch vor Gott gerecht wird und dem ewigen Unheilsschicksal entgeht. Aber diese Frage bleibt nicht allein im Mittelpunkt der gnadentheologischen Überlegungen. Sie ist eingebunden in die Leitfrage, wie der Mensch sein elementares Desiderium nach einer absolut erfüllenden, mit sich selbst beschenkenden Wirklichkeit in erlöster Offenheit lebt und sich so in rechter Weise in der guten Ordnung geschöpflichen Daseins zu realisieren vermag, wie er darüber hinaus so über die natürliche Eingebundenheit seines endlichen Strebens hinausgeführt wird, dass sich ihm die göttliche Wirklichkeit in ihrer unendlichen Fülle tatsächlich mitteilen kann. Dieses Ziel, zu dem die Gnade den Menschen bereitet, wird schon in seinem Bewegtwerden zu Glaube, Hoffnung und Liebe wirksam. Wo der Sünder sich dazu bewegen lässt, wird ihm unverdient die Vergebung seiner Sünden gewährt. Das Ziel der Gnade aber ergreift und durchwaltet das Leben des zum Recht-Sein verwandelten Menschen lebensgeschichtlich real in der Erfahrung der „Liebe, mit der Gott uns liebt“ (Summa theologiae I/II, q.113, a.1 und 2) – und in der Teilhabe an ihr. So kann man die „Logik“ der Gnade als Logik der göttlichen Liebe verstehen, zu der Gott die Menschen erwecken und in der er sie würdigen will. Sie sollen tatsächlich gewürdigt werden, Mitsubjekte ihres Heilsweges zu werden: als „Erben“ des ihnen durch Jesus Christus Erworbenen und durch den Heiligen Geist Erschlossenen, in freier Bejahung des ihnen Geschenkten, im Fruchtbringen durch das Mitwirken an der Gnade und so auch in der Würde der Erben, die von dem, der sie zu Erben der endzeitlichen Seligkeit einsetzte, tatsächlich „gesehen“ und anerkannt werden – was bei Thomas mit dem wirkungsgeschichtlich so schwierigen VerdienstGedanken zum Ausdruck gebracht wird (Summa theologiae I/II, q.114). Neben diesem an der voraussetzungslos geschenkten neuen „Rechtsstellung“ des Gerechtfertigten orientierten Bild des Erben kann man bei Thomas den Sinn des Gnadengeschehens auch in der Metapher der Gottesfreundschaft ausgedrückt finden: Gnade ist – so interpretiert Otto Hermann Pesch – „das Ankommen der ewigen Liebe Gottes in der ‚Seele‘, sagen wir modern: in der Ich-Mitte des Menschen.“ Das Freundschaftsangebot Gottes weckt im Menschen „die auf jede andere Art unerschwingliche Fähigkeit und Bereitschaft, auf Gottes Liebe in entsprechender, das heißt spontaner und freudiger, Hingabe zu antworten.“5 Vielleicht lässt sich die Weitung der Perspektive nicht deutlicher markieren als mit dem Hinweis auf die umfassende Logik der Liebe
3.3 Die Selbstgabe des liebenden Gottes
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und Freundschaft, die Gottes Menschenverhältnis von allem Anfang an intendiert und verwirklicht. Nie darf die Theologie Gott einen anderen „Beweggrund“ zuschreiben. Nie darf sie aus dem Blick verlieren, dass Gott allen Menschen liebend zugewandt bleibt – auch da noch bzw. auch da schon, wo diese seiner frei gewährten und in diesem Sinne nicht verdienten und niemals verdienbaren Vergebung bedürfen. In die Logik der Liebe und der Freundschaft eingebunden erscheint die Unverdientheit der Gnade nicht ausschließlich im fahlen Licht einer von der (Erb-)Sünde verursachten Nichtswürdigkeit. Nichtswürdig – der Würdigung gar nicht mehr fähig – sind nach Augustinus die Menschen, weil sie für die Sünde Adams und Evas mit verantwortlich sind und ohne Ansehen der Person von vornherein der Masse der Verdammten angehören. Diese Nichtswürdigkeit ist bei ihm die Negativfolie der unverdienten Gnade. Bei Thomas kommt das Unverdiente als Liebeswirklichkeit in den Blick: Liebende Zuwendung – und um wie viel mehr die göttliche Liebeszuwendung – kann man sich niemals verdienen. Sie ist ein Geschenk, in dem der/ die Liebende sich selbst schenkt und mich herausfordert, mit mir selbst zu antworten. In der Unverdientheit der Zuwendung verwirklicht sich das Selbst – das Subjekt – der Selbstgabe: Es reagiert nicht nur, sondern wird als Selbst präsent, zugänglich, so dass auch die Beschenkten sich auf ihr Selbst angesprochen und zur Antwort befähigt erfahren können. Dass die unverdiente göttliche Selbstgabe auch die Selbst-Verlorenheit der Menschen umgreift und sich ihnen so zuwendet, dass sie sich trotz all dem, was ihre eigene unerlöste Selbstsuche und Selbstsucht in die Welt gebracht hat, mit sich selbst und mit Gott versöhnt wissen dürfen, auch das entspricht noch der Logik jener göttlichen Liebe, von der die Sünder in der Gnade erreicht und verwandelt werden. 3.3 Gnade: die Selbstgabe des liebenden Gottes Deutlicher noch als bei Thomas von Aquin wird die Gnade bei Bonaventura (ca. 1217–1274) als ordo amoris (Liebes-Ordnung) gedacht. In Anschluss an die östliche Theologie, die ja auch Thomas von Aquin in der Gestalt des Dionysius Areopagita vor Augen stand, versteht Bonaventura Gnade als Mitteilung und Einwohnung des Heiligen Geistes. Mit ihr wird das Gottförmigwerden, ja die GottTeilhabe des Begnadeten erwirkt und ergreift die Liebe Gottes vom Menschen Besitz, so dass er selbst Gott „besitzen“ und genießen darf.
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3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen
Wie von der ehelichen Hingabe gilt hier, dass niemand Gott besitzt und von Gott besessen wird, „der ihn nicht in ganz besonderer und unvergleichlicher Weise liebt und von ihm wiedergeliebt wird wie die Braut vom Bräutigam. Niemand aber“ – so Bonaventura weiter – „wird derart geliebt, der nicht an Sohnes Statt zur ewigen Erbschaft angenommen wird. Darum macht die heiligmachende Gnade die Seele zum Tempel Gottes, zur Braut Christi und zur Tochter des ewigen Vaters“ (Breviloquium V, cap. 1). Gottes Liebe verbindet sich dem Geliebten so, dass sie ihn zuinnerst verwandelt, ihm einen neuen Stand (den des Erben, der Braut des Sohnes, der Tochter des Vaters) verleiht, der kein „naturverliehener Habitus“ sein kann, sondern eben nur „als Gnadengeschenk eingeflößte Gabe“, ein „Habitus der Liebe“ (ebd.). Dieser Habitus aktualisiert sich in der vierfachen übernatürlichen Liebe zum ewigen Gott, uns selber, unseren Nächsten und unserem Leib (ebd., cap. 8). In ihr lässt der Begnadete sich von der Dynamik der von Gottes Geist eingegossenen göttlichen Liebe dazu bestimmen, sich aus dem Ursprung der Liebe als Liebender zu empfangen. Sinn der Gnade ist es, „das von Gott ausgehende Werk wieder zu ihm zurückzubringen, und darin besteht, ähnlich wie bei einem geistigen Kreislauf, die Vollendung aller vernünftigen Geister“ (Breviloquium V, cap. 1).6 Die Liebesmetaphorik bringt gnadentheologisch zur Geltung, wie die Menschen von Gottes Wirklichkeit ohne eigene Verdienst so ergriffen, verwandelt und erfüllt werden können, dass sie nicht mehr verloren gehen, sondern zu dem zurückgelangen können, dem sie sich selbst und alles verdanken, auf den sich – schon in den Irrungen und Wirrungen der Sünde – ihr tiefstes Verlangen richtet. Die Liebesmetaphorik macht auch nachvollziehbar, wie der freie Wille des Menschen sich in der Freiheit zur Liebe realisiert und durch die Mitteilung der göttlichen Liebe „auflebt“. Gottes Selbstmitteilung im Heiligen Geist und in der Liebe, in der die Begnadeten vergöttlicht werden, wirkt die Befreiung in Liebe und zur Liebe. Sie wird von den Menschen frei bejaht, wo sie sich diese Befreiung gefallen und sich auf das hier Geschenkte einstimmen lassen. Johannes Duns Scotus (gestorben 1308), der große Franziskanertheologe in der Generation nach Bonaventura, gibt dessen LiebesGnadentheologie neue Akzente. Ihm geht es darum, die Konsequenz der göttlichen Liebe in der Mitteilung der Gnade theologisch zur Geltung zu bringen. Gott bindet sich an diese Konsequenz, da er sich zur Schöpfung entscheidet. Er bestimmt sein durch nichts bedingtes Alles-Vermögen (seine potentia absoluta) dazu, „Mitliebende“ ha-
3.3 Die Selbstgabe des liebenden Gottes
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ben zu wollen (vgl. Opus oxoniense III, 32, nr. 6) und diesen die Glückseligkeit in der Vollendung der Liebe zu ermöglichen. So bindet er sein Alles-Vermögen an ein geordnetes Vermögen, in welchem er die Realisierung dieser Liebes-Konsequenz will und wirkt. Zu dieser Konsequenz gehört es, dass die Liebe in einem noch anspruchsvolleren Sinn als dem der Thomas-Deutung oben schon unterlegten die Geliebten würdigen will: Sie will die Geliebten befähigen, der ihnen erwiesenen Liebe würdig zu werden, da sie an ihr teilhaben und teilnehmen. Der Mensch kann sich von der ihm durch Einwohnung des Heiligen Geistes mitgeteilten Liebes-Gnade so bestimmen lassen, dass er gleichsam zum würdigen Partner Gottes wird: sein Gefallen und seine Annahme findet. Gnade geschieht als jene Annahme des Menschen und seines Tuns, in welcher Gott den Menschen würdig sein lässt, zu seiner Vollendung in der Liebe zu gelangen, die ihm gleichwohl von Gott geschenkt wird, da er ihn ja auf seine Glückseligkeit hinführt. Es macht die Ordnung der göttlichen Liebe wesentlich mit aus, dass der ursprünglich und schöpferisch Liebende den Geliebten nicht im unendlichen Abstand des absolut Vollkommenen zum Nichtswürdigen begegnen will, sondern – soweit möglich – auf der Augenhöhe des Freundes zum Freund; schon Thomas hatte diesen Gedanken ja stark gemacht. Das Motiv der acceptatio (der Annahme) bringt diese Intention in der Vorstellung zur Geltung, Gott handle nicht nur an den Menschen, sondern in und mit ihnen, so dass sie sich und ihre guten Werke in die ihnen durch die Gnade eröffnete Gottes-Freundschaft einbringen können. Gott will sie annehmen und sich wertvoll sein lassen. Führt dieser Gedanke nicht unweigerlich zu der Unterstellung, die Menschen könnten sich vor Gott ein Anrecht auf Gnade erwerben, sich Gottes Gnadengeschenk geradezu verdienen? Diese Konsequenz liegt nahe, wenn man die Intuition der Liebes-Konsequenz, an die Gott sich selbst bindet, zu Hilfe nimmt, um sich gegen die dunkle Perspektive eines Willkür-Gottes abzusichern, wie sie mit der Annahme einer göttlichen potentia absoluta verbunden sein konnte. Angesichts der unabsehbaren Möglichkeiten, wie sie Gott in seiner ungebundenen Freiheit nach der spätscholastisch-nominalistischen Zuspitzung des Potentia-absoluta-Gedankens an sich zukamen, schien der Glaube nur in einer Selbstfestlegung Gottes Halt zu finden. Dem Gnaden-Verhältnis zwischen Gott und den Menschen sollte quasi-juristische Verbindlichkeit zukommen. Wenn der Mensch tat, was er konnte, um Gott zu gefallen, durfte er vielleicht doch davon
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3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen
ausgehen, dass Gott seine Bemühung als hinreichend ansah und als Heilsbedingung akzeptierte. In der Spur Wilhelm von Ockhams (gestorben 1349) vertritt Gabriel Biel (um 1410–1495) diese Auffassung: Demjenigen, „der tut, was in seinen Kräften steht … schuldet Gott seine Gnade notwendigerweise, gemeint ist jedoch nicht die Notwendigkeit des Zwangs, sondern der Unveränderlichkeit [seiner Selbstbindung]. Gott setzte nämlich fest, demjenigen, der tut, was in seinen Kräften steht, seine Gnade einzugießen, wodurch er von seinen Vergehen gereinigt wird“ (Erklärung des Messkanons, Lektion 59 P). Lag es dann nicht am Menschen selbst, ob er der Gnade teilhaftig wurde? Gabriel Biel hält gegenüber dieser Potentia-ordinata-Perspektive durchaus auch gnadentheologisch an Gottes potentia absoluta fest: Wenn er wollte, könnte Gott den Menschen auch ohne eigenes Verdienst gerecht machen; und umgekehrt: das gute Werk des Menschen gewinnt erst mit der freien Annahme durch Gott seine Heilsbedeutung (Collect. I, distinctio 19, quaestio unica, a.1, n.3). Gott bleibt die alles entscheidende Instanz. Und so kann die Frage zurückkehren, ob Gott sich im konkreten Fall dazu bereit finden wird, das als hinreichend zu würdigen, was der Mensch von sich aus getan hat – ob also mit dem, was der Mensch geleistet hat, das ihm Mögliche getan und das „Anrecht“ auf die Gnade tatsächlich erworben wurde. Die Geschichte des Gnadenverständnisses in den theologischen Schulen des 11. bis zum 15. Jahrhundert war von einem „wissenschaftlichen“ Differenzierungsbedürfnis bestimmt, das mit Hilfe aristotelischer Kategorien die in der Theologie zu berücksichtigenden Aspekte des Gnadengeschehens in einem geordneten, „systematischen“ Zusammenhang darstellen wollte. Vor allem in der Theologie der Franziskaner wird die innere Konsequenz der Liebe Gottes in Anspruch genommen, nach der Gott sich dazu bestimmt, die zur MitLiebe Erschaffenen auf den Wegen der Liebe in der Liebe zu vollenden, damit sie in endlich-vollkommener Weise an seiner Liebe teilhaben können. Es ist Gottes willentliche Selbstbestimmung, die den Menschen diesen Heilsweg eröffnet und ihn – nach der Ordnung der Gnade, welche zugleich die Konsequenz der Liebe ist – gangbar macht. Mit dem Gedanken der willentlichen Selbstfestlegung Gottes – der Festlegung auf eine bestimmte Weise, seine unendlichen Möglichkeiten zugunsten der Realisierung eines Heilsweges konkret einzusetzen – wird die in der augustinischen Prädestinationslehre mobilisierte Hintergrundvorstellung eines Willkürgottes domestiziert, aber nicht völlig ausgeschlossen. Gottes potentia absoluta – sein Alles-
3.3 Die Selbstgabe des liebenden Gottes
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Vermögen – ist von ihm zwar faktisch bestimmt und geordnet zum Alles-Vermögen in der Liebe und um der Liebe willen (potentia ordinata). Aber könnte Gott nicht auch anders, wenn er nur wollte? Und ist seine Selbstfestlegung wirklich so absolut konsequent, dass er nicht auch faktisch anders kann? Wo die potentia absoluta eine gegenüber der potentia ordinata theologisch selbstständige Größe ist, da bleibt sie gnadentheologisch ein „Unsicherheits-Hintergrund“ und kann immer wieder neu die Frage aufwerfen, ob die von der Liebe geordnete potentia Gottes tatsächlich die einzige Realisierung seiner potentia absoluta ist. Noch zeichnet sich theologisch keine Möglichkeit ab, das All-Vermögen Gottes stringent als ein All-Vermögen der Liebe zu denken. Es bleibt die Sache einer kontingenten Entscheidung Gottes, den Menschen konsequent liebend zu begegnen und ihnen so an seinem göttlichen Wesen Anteil zu geben. Aber wenn Gott doch in seinem Wesen Liebe ist? Hat er dann tatsächlich noch andere Möglichkeiten, als in und mit den Menschen die Liebe zu wollen und zu verwirklichen? Müsste er sie haben, weil er ansonsten in seinem All-Vermögen eingeschränkt wäre? Wäre es aber nicht eine Einschränkung seines All-Vermögens, wenn er dieses nicht als Liebe – also seinem Wesen vollkommen entsprechend – realisierte? Oder kann die Realisierung der göttlichen Liebe um der Gerechtigkeit – der Rechtheit – dieser Liebe willen doch eine Gestalt annehmen, die auch von Abwendung, von Strafe, von Leidzufügung, ja von der Möglichkeit einer ewigen Verdammnis gezeichnet bleibt? Wie würde dann – für mich – Gottes Liebe wirklich, für mich, den in bestimmter Hinsicht eben doch nichts-würdigen Sünder? Das sind einige der Fragen, die im 16. Jahrhundert zu einer neuen und für den Weg des westlichen Christentums schicksalhaften Zuspitzung in den Kontroversen der Gnaden- und Rechtfertigungslehre führen.
Literatur Holger Dörnemann, Freundschaft. Die Erlösungslehre des Thomas von Aquin, Regensburg 2012. Gerhard Ludwig Müller (Bearbeiter), Gnadenlehre, 2 Bde. (Texte zur Theologie. Dogmatik), Graz – Wien – Köln 1996 (eine gut zusammengestellte und kommentierte Sammlung wichtiger Texte des Lehramts und der Theologie in deutscher Übersetzung). Otto Hermann Pesch, Theologie der Rechtfertigung bei Martin Luther und Thomas, Mainz 1966.
4. Gnade als Rechtfertigung: Luthers Augustinismus
Der Glaube an die unverdiente Gnade ist für Luther Zentrum des christlichen Glaubens, weil darin der schlechthin von sich aus, nicht aufgrund menschlicher Werke gnädige Gott geglaubt wird. Mit ihm verbindet der Glaube durch Christus im Heiligen Geist. Diese Lebensgemeinschaft mit Gott rettet den Sünder aus seiner Verlorenheit in die Sünde; sie macht ihn bei Gott gerecht und frei zu guten Taten, so wenig er damit das Sündersein schon hinter sich hat. Gnade bindet das Herz an Gott und gibt ihm so die Möglichkeit, in lebenslanger Buße von den falschen Göttern – den falschen Herren seines Lebens – frei zu werden. In der Gnade nimmt Gott den unfreien Willen des Sünders in Besitz, so dass dieser mit Gott und aus Gott das Gute spüren und wollen und selbst gut sein kann: für die Nächsten, für Gottes Herrschaft, für sich selbst. Gerecht gemacht durch die Gnade kann der Sünder – mit einer modernen Übersetzung der Rechtfertigungslehre gesprochen – sich selbst bejahen als von Gott bejaht.
4.1 Wie kriege ich einen gnädigen Gott? Luthers Theologie setzt bei der Erfahrung an; damit bahnt sie den Weg in die Neuzeit. Die elementare Erfahrung des Augustinermönchs ist die Heils-Ungewissheit, wie der Mensch – wie er, Martin Luther – genug tun kann, um der Gnade Gottes sicher sein zu können: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ (WA 37,661,29) Muss oder kann ich noch mehr tun, um Gottes Zorn abzuwenden? Luthers elementare Einsicht: Es ist – von Gott selbst in Jesus Christus – genug getan; und es wäre Unglaube, wenn der Mensch angesichts des von Gott Getanen versuchte, Gott durch eigene Werke gnädig zu stimmen. Gottes Gerechtigkeit wird dem Glaubenden, der nichts tun kann und nichts tun muss, um Gott zur Güte zu bewegen, als Barmherzigkeit zuteil. Sie geschieht ihm und er wird leben, wenn er im Glauben geschehen lässt, was der gnädige Gott an ihm und mit ihm tut (vgl. Röm 1,17) – wenn er Gott auf das Evangelium Jesu Christi und die in ihm beglaubigte Verheißung hin vorbehaltlos vertraut (vgl. WA 54,185f.).
4.1 Wie kriege ich einen gnädigen Gott?
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Schon hier wird deutlich, wie Luther die Gnadenthematik theozentrisch radikalisiert. Bei der Gnade geht es um Gottes Gnädigsein, darum, dass er nicht zornig Unheil über die Menschen verhängt. Der gnädige Gott ist die Gnade; sie geschieht, da Gott gnädig ist und der Mensch sich an ihn halten, an ihn sein Herz hängen kann und so einen gnädigen Gott „hat“1. Sie geschieht in Christus, in dem Gott sich den Menschen verspricht und sie zum Glauben an dieses Versprechen ruft, damit sie in der Anfechtung durch das Phantasma eines zornigen Gottes bewahrt werden: Der in Christus offenbare Gott rettet vor dem Schrecken des verborgenen Gottes,2 so auch vor der Imagination eines „Allesvermögens“, das Gott nicht zum Heil, sondern zur Verdammung gebrauchen könnte. In dieser Unglaubens-Imagination verdichtet sich nur die Selbsterfahrung des Menschen als eines Sünders bis in die Tiefen seines Daseins, der es nicht verdiente, einen gnädigen Gott zu haben, der sich angesichts seiner Selbsterfahrung nur an die ihm ohne eigenes Verdienst von Gott geschenkte Selbstzusage halten und ihr glauben kann. Mit Augustinus nennt Luther die Menschen eine dem ewigen Tod verfallene „massa perditionis“ (Masse des Verderbens; WA 50/ II,381,2), die diesem Todesschicksal nur entgehen kann, wenn die Sünder jetzt schon aus ihrem verhängnisvollen Dasein „heraussterben“ und sich von Gott aus Gnaden zu neuem Leben erwecken lassen. Gott „macht nicht lebend denn die Toten, macht nicht fromm denn die Sünder“ (WA 1,184,4 f.), die sich ihrem Sündersein nicht länger durch die zutiefst falsche Selbsteinschätzung entziehen, vor Gott gerecht zu sein. Das falsche Selbstbewusstsein, vor Gott etwas zu sein und leisten zu können, muss zunichte werden. Mit der Mystik des Mittelalters spricht Luther von der Nichtigkeit des Sünders, die als solche wahrgenommen und in der Umkehr vollzogen werden muss, damit Gott im Menschen Wirklichkeit werden und durch ihn wirken kann: Wer aber „noch nicht nichts ist, aus dem kann Gott auch nichts machen“ (WA 1,184,1 f.). Wer zunichte geworden und von Gott in Jesus Christus auferweckt worden ist, in dessen Innerstem wirkt Gott. Wo zuvor die „Unlust zum Guten und [die] Lust zum Bösen“ entsprang, da gibt der heilige Geist die „Lust … freier Liebe“ ins Herz; im „Herzensgrund“ macht er das Herz frei zu guten Werken, die nicht mehr aus der Heilsangst hervorgehen und Gott zum Guten beeinflussen, sondern dem Nächsten dienstbar sein wollen: „ohn Zwang willig und lustig“,3 nach der „Natur der Liebe“, die „nicht das Ihre sucht, sondern was des Nächsten ist“.4
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4. Gnade als Rechtfertigung
4.2 Gnade als die „fremde“ Gerechtigkeit? Luther macht die Theozentrik der Gnade gegen die Vorstellung einer mit der menschlichen Natur gegebenen Gnaden-Disposition wie auch gegen den scholastischen Gedanken eines Gnaden-Habitus geltend, einer „Gnaden-Qualität“ des Menschen selbst, auf die Gott, der sie freilich selbst gewirkt hat, mit weiteren Gnadengaben nur noch zu reagieren hätte. Der Mensch ist im Blick auf das, was seine eigene Wirklichkeit ausmacht – „quod est in se“ –, der „verdorbene Baum“, der nur Böses hervorbringt. So darf des Menschen eigene Wirklichkeit weder als Disposition zur Gnade angesehen werden noch als die Befähigung, Hindernisse für das Ankommen und Wirksamwerden der Gnade wegzuräumen. Gott ist in seinem Gnadenhandeln schlechthin initiativ; was die Gnade wirkt, ist allein sein Wirken. Die alleinige „dispositio“ und „praeparatio“ zur Gnade ist die auf Seiten Gottes wirksame: seine Erwählung und Prädestination. So kommt auch die in der Gnade geschenkte Hoffnungs-Gewissheit „nicht aus den Verdiensten [der Menschen], sondern aus dem Erleiden, in dem alle [vermeintlichen] Verdienste zunichte werden müssen.“5 Weil nichts, was im Menschen zu finden ist, eine Gnaden-Würdigkeit und ein dem Menschen zukommendes, ihm von Gott einzuräumendes Anrecht auf die Gnade begründet, ist auch der Gedanke einer im Menschen real gegebenen und ihn qualifizierenden Gnaden-Zuständlichkeit abzulehnen, welche gleichsam – nach dem Vorbild der aristotelischen Tugendlehre – durch ständige Übung vom Menschen als seine eigene Qualität erworben würde.6 Gnade ist konsequent und streng das extra me des Menschen: von außerhalb seiner menschlichen Wirklichkeit herkommend und schöpferisch auf sie einwirkend. Sie ist iustitita aliena et passiva: fremd im Blick auf das dem Menschen selbst Mögliche, die ihm gnadenhalber zugerechnete „iustitia Christi“ (vgl. WA 2,44,32 f.; WA 40/I,45,24–26), keine ihm zu eigen gewordene Tugend oder Qualität, ihn aber im Innersten verwandelnd und zur Liebe befreiend. Luthers Gedanke der fremden Gerechtigkeit ist darin gut biblisch, dass er die Glaubens-Gerechtigkeit als Gottesgabe zur Geltung bringt: als das im Glauben geschehende, geschenkweise Hineingenommenwerden in die Heil wirkende Verlässlichkeit Gottes, als die den Menschen gerecht machende Bundes-Gerechtigkeit JHWHs. Die Formulierung iustitia aliena wie auch das juridisch klingende Wort Rechtfertigung assoziieren freilich ein Äußerlichbleiben dessen, was da am Menschen und mit ihm geschieht: Der rechtfertigende Gott tritt
4.2 Gnade als die „fremde“ Gerechtigkeit?
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dem seiner Gnade ganz und gar unwürdigen Menschen entgegen, überführt ihn seiner Unwürdigkeit und spricht ihn trotzdem frei; er rechtfertigt ihn gegen alles Verdienst. Im Glauben an dieses über ihn ausgesprochene Gnadenurteil wird der Mensch nur insofern gerecht, als ihm in der Relation zum Gerechtsprechenden das völlig Unverdiente und für ihn Unverdienbare zu-erkannt wird, ohne dass es seine eigene Wirklichkeit würde. In dieser forensischen Prägung des Gerecht-Sprechens mag die Praxis der Lossprechung im Bußgericht der Beichte nachklingen: Angesichts des vom Richter erhobenen Sachverhalts wird von diesem eine Gerechtigkeit festgestellt, die sich nicht auf den Sachverhalt, sondern allein auf die Gnade des Richters gründen kann. Diese rechtliche Prägung des Gnadenverständnisses – Gnade vor Recht – wird dem rechtfertigungstheologischen Sachverhalt schon bei Luther selbst aber nicht gerecht; darauf hat insbesondere die finnische Lutherforschung des ausgehenden 20. Jahrhunderts hingewiesen. Hier wird eine enge, wohl durch die Mystik des Mittelalters vermittelte Verwandtschaft der Rechtfertigungslehre Luthers zur ostkirchlichen Lehre von der Vergöttlichung (theosis oder theopoiesis) durch die Einwohnung Christi im Glaubenden gesehen: „In ipsa fide Christus adest“ (im Glauben ist Christus gegenwärtig).7 Rechtfertigung wäre bei Luther dann nicht so konzipiert, dass sie sich auf ein aus unendlicher Distanz gefälltes „Urteil Gottes über den Menschen [bezieht], also eines, das den gottfernen Menschen gnadenhalber gerecht spricht, wobei dann die Distanz zu Gott nicht aufgehoben wird.“ Vielmehr geschieht in ihr eine „ontische Verbindung zwischen Gott und Mensch“ 8 in Christus, die sich als „unio personalis“ fassen lässt. „Wo Christus ist, da ist er Gottes Gnade und zugleich Gottes verändernde und heiligmachende Präsenz – und das dauerhaft.“9 In diesem Sinne könnte man sagen, „die ekstatische Gemeinschaft des Glaubens mit Christus, auf den der Glaubende sich verlässt, [bilde] die Grundlage für das Verständnis der Rechtfertigung“.10 Der Glaube wäre dann als „ontologische Partizipation“11 zu verstehen, die dem Glaubenden durch Gottes Fleisch gewordenes Wort gewährt ist. Man mag das schon an dem berühmten Brautgleichnis aus der „Freiheit eines Christenmenschen“ ablesen, das Luther aus der Mystik überliefert war. Der Glaube vereinigt „die Seele mit Christo wie eine Braut mit ihrem Bräutigam“. So wird der Seele zu eigen, „was Christus hat“ und „was die Seele hat, wird Christus zu eigen.“ Alle Güter und Seligkeit, die Christus hat, sind nun der Seele zu eigen; die Sünde und Bosheit aber, die auf der Seele liegen, werden Eigentum
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4. Gnade als Rechtfertigung
Christi. Das ist „der fröhliche Wechsel und Streit“: Der ewig sündlose Gottmensch Jesus Christus nimmt durch den Brautring des Glaubens, mit welchem ihm die Seele vereinigt ist, deren Sünde auf sich, so dass sie „in ihm verschlungen und ersäuft werden.“ Die Seele aber wird „des Glaubens halber ledig und frei [von ihrer Sünde] und begabt mit der ewigen Gerechtigkeit ihres Bräutigams“ (WA 7,23–24). Auch diese Tauschmetaphorik ist gut biblisch begründet; am deutlichsten präfiguriert ist sie in 2 Kor 5,21: „Den, der von der Sünde nichts wusste, hat er [Gott] für uns zur Sünde gemacht, damit wir durch ihn Gottes Gerechtigkeit würden.“12 Die Gnade der Vergebung wird hier darin begründet gesehen, dass Gott eine Gemeinschaft mit den Menschen sucht, welche die sündige Distanzierung der Menschen von Gott überwindet: In Christus ist ein Miteinander gestiftet, durch das die Menschen in Jesu Christi „Reichtum“ – in seine Gottesgemeinschaft – hineingenommen werden können. Sie werden zu „Erben“ und Teilhabern dessen, was ihn mit dem Vater verbindet, da er sich mit ihnen „gemein“ gemacht hat. Gnade ist rettende Koinonia (lat.: Communio): Die Gemeinschaft mit und in Christus rettet, weil sich in ihr Gottes Sich-Versprechen – sein Fleisch gewordener Gemeinschaftswille – auf die mit Jesus Christus Verbundenen hin öffnet. Die Kirchenväter des Ostens haben diese Gnade der rettenden Koinonia in einer anspruchsvollen Christologie der Inkarnation begründet: Da Gott im inkarnierten Logos die Menschennatur angenommen hat, heilt er sie, indem er den Menschen an seiner göttlichen Natur Anteil gibt. Das ganze Menschengeschlecht kann geheilt werden, weil die Menschennatur als solche von Gott angenommen ist. Gregor von Nazianz hat diese Intuition in der soteriologischen Formel verdichtet: „Was nicht angenommen ist, ist nicht geheilt; was mit Gott geeint ist, das wird auch gerettet.“13 Inkarnationschristologisch wird daraus etwa bei Athanasius: „Der Logos ist Mensch geworden, damit wir vergöttlicht werden.“14 Luther kann an dieses Modell in einer frühen Weihnachtspredigt explizit anschließen: „Wie Gottes Wort Fleisch wurde, so sollte zweifellos das Fleisch Wort werden. Denn dazu wurde das Wort Fleisch, dass das Fleisch Wort werde. Dazu wurde Gott Mensch, dass der Mensch Gott werde“ (WA 1,28). Luther behält diesen „Gedanke[n] des im Glauben real-ontisch anwesenden Christus“15 auch später bei, um die reale Verwandlung des Glaubenden – seine Vergöttlichung – durch die Gnade festhalten zu können, die sich dann in der Heiligung des Menschen lebensgeschichtlich auswirkt.16
4.3 Glaube oder Sünde
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Wer diese gnadentheologischen Zusammenhänge im Blick behält, wird die später kontroverstheologisch zugespitzte Alternative zwischen forensischer (evangelisch verstandener) und effektiver (katholisch verstandener) Rechtfertigung für wenig hilfreich halten. Der forensische Aspekt rückt ins Blickfeld, dass den Sündern die Gnade unverdienbar durch Gottes Zuwendung geschieht, dass sie in dieser Zuwendung besteht und nichts ist, was außerhalb der Beziehung, die hier gestiftet ist, eine gewissermaßen eigen-ständige Realität hätte. Von effektiver Rechtfertigung kann man reden, um die lebensverändernde Selbstvergegenwärtigung Gottes in der Beziehung zwischen Christus und den Gläubigen – und durch den Heiligen Geist in den Gläubigen selbst – zur Sprache zu bringen. Dass die Selbstvergegenwärtigung Gottes in den Gläubigen im Glauben geschieht und insofern eine Glaubenswirklichkeit, niemals eine Tugendwirklichkeit ist, die vom Menschen (mit) hervorgebracht wäre, wird von Luther durch das simul iustus et peccator (Sünder und gerecht zugleich; WA 56,261,1–270,2) eingeschärft. Gottes Selbstgegenwart ist und bleibt eine Gabe; den Beschenkten kann sie freilich nur in dem Maße verwandeln, wie dieser sich dem Sinn dieser Gabe im Glauben öffnet. Gott wird im Sünder wirklich, indem er dessen Heiligung und Vergöttlichung wirkt. Der Sünder aber hört nicht auf, ein Sünder zu sein, da er sich nicht in seinem ganzen Dasein von diesem Geschenk ergreifen und zum neuen Menschen machen lässt (vgl. WA 39/I,83, 26 f.). Die Taufe, in welcher der alte Adam getötet wurde und der neue Mensch auferstanden ist, muss „unser Leben lang in uns weitergehen, so dass ein christliches Leben nichts anderes ist als ein tägliches Taufen, das einmal angefangen hat und in dem immer weitergegangen wird.“17 Täglich müssen die Getauften „in die Taufe hineinkriechen und aus ihr hervorkommen im lebenslangen Prozess der Vervollkommnung.“18 4.3 Glaube oder Sünde: Woher lebt der Mensch? Alter und neuer Adam: zwei Realisierungen des Menschseins, die auch bei den Glaubenden lebenslang im Streit miteinander liegen. Der Mensch kann sich den neuen Adam nicht aneignen, so sehr er berufen ist und die Gnade empfangen hat, sich in ihn einzuleben. Luthers Anthropologie ist – in der Spur Augustins – ganz von der Erfahrung der Selbst-Unverfügbarkeit des Menschen bestimmt. Die Sünde hat sich so tief in mir eingenistet, sie bewohnt mich so pene-
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4. Gnade als Rechtfertigung
trant, alles durchdringend, dass ich nicht mehr Herr im eigenen Haus bin. Sie kommt allem meinem Anfangen, meinen vermeintlich selbstbestimmten Initiativen, zuvor und nimmt sie für sich in Dienst. Nichts, was in mir ist, nichts, was ich aus mir selbst tun könnte, vermag mich in den Stand zu setzen, Herr meiner selbst zu werden – so sehr die mich beherrschende Sünde diese Illusion in mir wecken mag. Die Illusion, selbst-bestimmt zu leben, verdeckt mir mein Beherrschtwerden von Mächten, die mich gerade durch diese Illusion beherrschen und mir verbergen, woran „mein Herz“ tatsächlich „hängt“, was mein Gott ist. Die Formulierung des Großen Katechismus zum ersten Gebot markiert eine Verinnerlichung des Verständnisses von Sünde und Glaube, wie sie zuvor kaum erreicht wurde und seither die theologischen Reflexionen zu Sünde und Gnade in Atem hält. Hier scheint deutlich geworden zu sein: Nur wer die Sünde als Selbst-Verfehlung in der Dimension der Selbst-Unverfügbarkeit, ja Selbst-Entzogenheit zur Sprache bringen kann, dürfte unter den Denk-Bedingungen einer von menschlicher Selbstbestimmung faszinierten und herausgeforderten Neuzeit noch von Erbsünde sprechen. Dann gilt aber auch: Gnade ereignet sich in genau dieser Tiefendimension der Selbst-Unverfügbarkeit, die aller freien Selbstbestimmung zuvorkommt, sie überhaupt erst eröffnet. Sie ereignet sich als die Befreiung des „Herzens“ von der Herrschaft der falschen Götter. Das Herz hängt in der Sünde an den falschen Göttern. Von ihnen her lebt der Sünder sein Leben; sein Herz ist – so könnte man es in heute geläufigen Kategorien sagen – von einer falschen Motivation erfüllt, von einem falschen Worumwillen, dem das Leben gehorchen muss, das es in allem erreichen will. In lebenslanger Buße kommt der Gerechtfertigte den falschen Göttern auf die Spur, an denen sein Herz hängt. Er kommt ihnen immer wieder neu und kommt immer wieder neuen Göttern auf die Spur, gerade wenn er sie durch seine Frömmigkeit besiegt zu haben meint. Sie sind ihm immer noch innerlicher, entziehen sich immer noch und immer neu einer Bußpraxis, welche den Gerechtfertigten in der Hingabe an den wahren Gott und an den Nächsten zum Herrn seiner selbst machen soll. Luthers Augustinismus wurde auf diesem Weg zum entscheidenden Impuls für das Pathos neuzeitlichen Selbst-Bewusstwerdens und gab ihm die Provokation mit, Selbstbewusstwerden als Gnade der Umkehr zu denken. Nur wenn Gott im Herzen des Menschen Wohnung genommen hat und sein Herz in Gott „ruht“, „an ihm hängt“, von ihm alles Gute erwartet und bei ihm allein seine Zuflucht sucht,
4.3 Glaube oder Sünde
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können die falschen Götter als solche entlarvt werden, wird der Mensch umkehrbereit und umkehrfähig: fähig, seinen falschen Hörigkeiten auf die Spur zu kommen; bereit, sich von ihnen abzuwenden um des wahren Gottes und der Lebensfülle willen, die in ihm zugänglich wird. Nur wenn der Mensch ein befreiendes Wohin seines Lebens gefunden hat – wenn er im Glauben „weiß“, wohin mit sich –, wird ihm wahrnehmbar, woher er bisher lebte, gelebt wurde, und woher ihm jetzt die Möglichkeit zukommt, an einem Leben in Fülle Anteil zu gewinnen. Folgt man der finnischen Lutherdeutung, so geschieht das Neuwerden des Herzens19 durch Gottes Anteilgabe, welche die Menschen an seinem Eigensten – seiner Natur – gnadenhaft, nicht naturhaft, teilhaben lässt: Im Fleisch gewordenen Wort öffnet Gott sich dieser Teilhabe; und er wirkt sie im Glaubenden durch die Gnade des Heiligen Geistes. So kommt er den Menschen näher, als sie sich selbst nahe sein könnten; so wird er ihnen innerlicher, als die Sünde in ihnen wohnte. Dieses Nahekommen ist kein von außen geschehender Eingriff ins Innerste wie bei den Mächten und Götzen, sondern die Eröffnung eines befreienden Miteinanderseins, wie es inniger und befreiender nicht gedacht werden kann: die Gewährung der Partizipation am göttlichen Leben selbst. Wenn Gott den Menschen im Glauben so innerlich geworden ist und sie aus Gottes Wesen leben, wird dieses Wesen – die Liebe – in ihnen zu der Quelle, aus der ihnen das Leben in Fülle zuströmt. Aus dieser Geist-lichen Quelle zu leben heißt, von ihr genährt und erquickt zu werden. Der Heilige Geist gibt die „Lust … freier Liebe ins Herz;20 aus ihrem „Herzens-Grund“ wirken die Glaubenden Gottes Liebe in der Welt, wirken sie, worin sie ganz sie selbst sein können, weil sie ganz aus Gott sind. Nirgends ist Luther der großen Mystik des Mittelalters näher als in diesem Gedanken. Dass er mit seiner gnadentheologischen Verinnerlichung bis ins Innerste, Vorwillentliche des Menschen dem antipelagianischen Augustinus nahe ist und ihn an der Schwelle zu einer „neuen Zeit“ reformuliert, steht ebenfalls außer Frage. Höchst frag-würdig aber ist, wie er auch die Zwiespältigkeit in Augustins später Gnadenlehre erneuert: die in einer entschiedenen Prädestinationslehre wurzelnde Lehre vom unfreien Willen des Sünders.
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4. Gnade als Rechtfertigung
4.4 Gnade und Freiheit: zum Zweiten Muss man Luther wie schon Augustin attestieren, nach seiner Rechtfertigungslehre sei die Rechtfertigung ein „Handeln Gottes am Sünder ohne den Sünder“21, so dass Gottes Gnadenhandeln sich an ihm als bloßem Objekt, nicht als Subjekt vollziehe? Wäre es so, stünde Luther gewissermaßen janusköpfig an der Schwelle zur Neuzeit mit dem Blick zurück in die Aporien des Augustinismus und mit dem Blick nach vorn in die Aporien des Selbstbestimmungsgedankens. Oder bedingt gar das Eine das Andere, so dass man Luther einen besonderen Scharfblick für die in der Spätscholastik schon aufbrechenden Aporien neuzeitlichen Subjekt-Denkens zusprechen müsste? Der Blick zurück: mit Augustinus teilt Luther die Lehre von der Alleinwirksamkeit des göttlichen Willens zum Heil der Menschen in der gnadenhaften Menschen-Beziehung Gottes. Gott wirkt hier alles in allem (vgl. 1 Kor 12,6); daraus folgt, „dass die Barmherzigkeit Gottes allein alles tue und dass unser Wille nichts tue, sondern vielmehr nur passiv sei, sonst würde Gott nicht alles zugeschrieben“ (De servo arbitrio, WA 18, hier nach der Übersetzung in: Luther deutsch, Bd. 3, 170). Für Luther gilt mit letzter Konsequenz, „dass Gott unwandelbar alles vollführt, und dass seinem Willen weder Widerstand geleistet, noch dass er geändert oder gehemmt werden kann“ (ebd., 176). Weil der Glaubende Gott zutrauen darf, dass er unfehlbar das Gute will und wirkt und dabei in keiner Weise vom menschlichen Willen abhängig ist, kann er dessen gewiss sein, dass auch an ihm Gottes Wille unfehlbar Heil wirkt. Alles geschieht nach göttlicher Notwendigkeit, nichts nach menschlicher Unzuverlässigkeit; in allem vertraut der Glaubende Gott, nicht dem eigenen Wollen und Wirken (vgl. ebd., 175). Diese für moderne Ohren befremdlichen Thesen werden gnadenund rechtfertigungstheologisch wichtig im Blick auf die Frage, ob der Mensch irgendetwas von sich aus aufbieten kann, um Gottes Heilswillen und Heilswirken hervorzurufen. Hier gilt – wie deutlich wurde – für Luther unabdingbar, dass menschlicher Wille und menschliches Wirken nichts vermag, also nicht frei ist, etwas Gutes zu tun, auf das Gott nur reagieren würde. Es ist ja so, dass „nicht wir, sondern Gott die Seligkeit in uns wirkt“; und deshalb ist auch „nichts heilsam, was wir vor seinem Wirken tun, ob wir wollen oder nicht“ (ebd., 195). Der menschliche Wille kann Gott nicht zum Guten bestimmen wollen; das Gute will Gott ja immer und unfehlbar von sich aus. Der Mensch kann nicht auf Gott, sondern nur mit Gott und aus ihm wir-
4.4 Gnade und Freiheit
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ken. Das geschieht, wo er an Gottes Liebe teilhat und sie selbst tut. Wo der Mensch auf Gott wirken wollte, wäre er der Sünder, der Gott für seinen Eigen-Willen in Dienst zu nehmen begehrte. Der unfreie Wille des Menschen, der für seine Heilszukunft etwas tun will, es aber nicht vermag, muss gleichsam von Gott besiegt und angeeignet werden, damit Gottes Wille im Menschenwillen geschehen kann. Das geschieht so, dass der Heilige Geist dem sündigen Wollen einen guten Willen „einbläst“. Gott wirkt in uns so, dass „der durch den Geist Gottes gewandelte und freundlich eingeblasene Wille … aus reiner Lust und Neigung“ will und handelt. Er ist nun instandgesetzt, „das Gute zu wollen, gern zu haben und zu lieben, so wie er vorher [als unter den Gott dieser Welt versklavter Wille] das Böse wollte, gern hatte und liebte.“ „[O]hne die Einwirkung und den Geist des wahren Gottes“ sind die Menschen in der Gefangenschaft des Gottes dieser Welt, „so dass wir nur wollen können, was er selbst will … Und das tun wir willig und gern, entsprechend der Natur des Willens, der kein Wille mehr wäre, wenn er gezwungen würde. Denn Zwang ist vielmehr (um das so auszudrücken) Nichtwille. Wenn aber ein Stärkerer über ihn [den Gott dieser Welt] kommt, ihn besiegt und uns als Beute raubt, so werden wir umgekehrt durch dessen Geist Sklaven und Gefangene (was dennoch eine königliche Freiheit bedeutet), so dass wir gern wollen und tun, was er selbst will“ (ebd., 195 f.). Man erkennt hier die Willensanalyse des späten Augustin wieder: Der Willen realisiert sich und hat seine Kraft darin, dem zuzustimmen, was ihm gefällt, oder zurückzuweisen, was er verabscheut (vgl. De servo arbitrio, a.a.O., 228). Wie aber entsteht im Willen das Gefallen oder Missfallen? Kommt es aus ihm selbst oder widerfährt es ihm? Nach Luther wie nach Augustinus geschieht es ihm. Der Wille wird von dem „eingenommen“, was ihm gefällt, und von dem abgestoßen, was ihm deshalb missfällt. Insofern wird das Wollen des Willens hervorgerufen von einer Macht, die ihm dieses oder jenes anziehend macht, so dass er es will. Wenn der Mensch – als Sünder – vom Gott dieser Welt in seinem Wollen bestimmt wird, so verursacht dieser Gott, dass dem Menschen das Böse gefällt und das Gute gar nicht erst anziehend wird. Er muss von einem „stärkeren“, dem wahren Gott besiegt werden, dessen Geist dem Menschen das Gefallenfinden am Guten – die Gnade des guten Wollens – einbläst, so dass er dieses Gute wirklich wollen kann. Aber was geschieht dem Menschen, wenn der wahre Gott in ihm und für ihn den Gott dieser Welt besiegt? Die Metapher des Sieges
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4. Gnade als Rechtfertigung
klingt wenig Freiheits-freundlich; noch weniger Freiheits-freundlich, geradezu gewaltsam klingt der folgende Vergleich: „So ist der menschliche Wille in die Mitte gestellt (zwischen Gott und den Satan) wie ein Zugtier. Wenn Gott sich darauf gesetzt hat, will er und geht, wohin Gott will … Wenn der Satan sich darauf gesetzt hat, will und geht er, wohin Satan will. Und es steht nicht in seiner freien Entscheidung, zu einem von beiden Reitern zu laufen oder ihn sich zu verschaffen zu suchen, sondern die Reiter selbst kämpfen miteinander, ihn zu erlangen und zu besitzen“ (ebd., 196).
Da scheint eine Schwelle überschritten, die zu neuzeitlich kaum Erträglichem führt: dass das Gute wie das Böse über den Menschen kommt, auf seinem Rücken sitzt und ihn antreibt, geradezu zwingt, zu wollen, was der jeweilige Herr vorgibt. Oder ist man in der (Post-) Moderne wieder fähig zu verstehen, wovon hier die Rede sein könnte: von den Manipulationen, mit denen mir die Zügel übergeworfen werden und die Richtung meines Lebens, der Umkreis meines Gefallens und Missfallens vorbestimmt wird, kaum dass ich selbst wahrnehme, wie mir vieles Andere dadurch unzugänglich wird? Das ist die satanische Verführung, die Menschen zum Schicksal wird, da sie die Einfühlsamkeit für anderes als das von Manipulateuren mit ihnen Gewollte verloren haben. Aber dass auch Gott als ein solcher „Reiter“ vorgestellt wird, der mir seinen Willen auferlegt? Es ist das „Bezwingende“ der Liebe Gottes, die den Begnadeten einwohnt, von dem hier gesprochen wird. Was ihn bewohnt, das nimmt ihn gefangen – wie eben die Liebe, wenn sie mich „besiegt“. Sie nimmt mich gefangen, da sie mir keine Alternativen, aber auch keine Ausflüchte lässt, wenn und solange sie tatsächlich in mir lebt. Sie erweckt, sammelt und konzentriert mein Bejahen; sie lässt alles – eine ganze Welt – daraus hervorgehen, so dass ich sie nun zusammen mit den Geliebten bewohnen, all meine Lebenskraft in sie „investieren“ kann. Wenn die Liebe über mich kommt, macht sie mich lebendig, geht mein Wollen und Handeln aus meinem Innersten hervor: aus ungetrübtem Wohlwollen und Wohlgefallen. Und es schwindet das Manipuliertwerden von den äußeren Motiven, die mich in Eigennutz-Kalkülen gefangen halten. Das Bezwingende der Liebe liegt gerade darin, dass ich die Erfahrung mache: Es ist jetzt mit mir so, wie es sein muss, weil es so gut ist und ich zuinnerst nach außen gewendet bin auf das Gute hin, nach dem ich zuinnerst strebe – durch dieses Gute selbst, das mich im Innersten eingenommen hat, so dass ich nach ihm streben kann. Darin erst wird mein Wollen klar und
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lebendig; wird es frei von all dem, was es an Nebenabsichten mitbestimmt, damit es reines, freies, aus seiner göttlichen Quelle entspringendes Wollen sein kann. Sind diese Analysen des Bewohnt-, ja Besessenwerdens von der Liebe so bei Luther selbst zu finden? In De servo arbitrio spricht er von der „Kraft des menschlichen Willens“ im Zustimmenkönnen (vgl. ebd., 228); mehrfach kommt er auf die „Lust freier Liebe“ zu sprechen, welche aus der Quelle hervorgeht, die der Heilige Geist im Gerechtfertigten ist und so in seinem Herzensgrund strömt, dass er ganz in dieser Lust lebt und auflebt, sich in ihr – würde man heute wohl sagen – verwirklicht (ohne dass man freilich von einer dem Menschen selbst abverlangten und zu leistenden Selbstverwirklichung sprechen könnte).22 Es ist diese frei machende Dynamik der Gnade, die Luther gar nicht genug preisen kann: Im Herzensgrund des Gerechtfertigten mobilisiert sie alle Kräfte des Wohlwollens und der Wertschätzung, so dass die von der Gnade und Liebe Gottes Bewohnten frei werden zu guten Werken, weil sie diese zuinnerst und ohne die Nebenabsicht, sich selbst zu rechtfertigen, wollen können. Ohne die Gnade ist der Wille „wahrlich nicht frei, sondern unwandelbar ein Gefangener und Sklave des Bösen, dass er sich nicht von allein zum Guten hinwenden kann.“ Die den Gerechtfertigten geschenkte „Kraft des freien Willens“ wäre – noch genauer ausgedrückt – das, „wodurch der Mensch befähigt wird, vom Geist Gottes ergriffen und mit seiner Gnade erfüllt zu werden“ (De servo arbitrio, 197). Die Entbindung dieser Dynamik steht nicht im Belieben der Menschen, weil sie aus Gott – der reinen Dynamik der Liebe – ist und wirkt. In diesem Sinne müsse man „unbedingt bekennen, dass der lebendige und wahre Gott eine solche Macht haben muss, aus seiner Freiheit uns Notwendigkeit aufzuerlegen“ (ebd., 286 f.). Das gilt nach Luther auch für den Gerechtfertigten, in dem „nicht irgendeine Freiheit oder ein freier Wille, sich anderswohin zu wenden oder anders zu wollen, existiert, solange der Geist und die Gnade Gottes im Menschen andauert“ (ebd., 195). Das hieße: Der Mensch ist durch die Gnade, aber nicht der Gnade gegenüber frei, weil der gnädige Gott die Menschen souverän ergreift, wie er will, diese sich aber nicht souverän zur gnädigen Zuwendung Gottes wie zu einem bloßen Angebot verhalten können. Souveränität kommt ihnen nur im Blick auf das zu, was „unter ihnen“ ist und worüber sie verfügen können, nicht jedoch im Blick auf das, was „über ihnen“ ist (ebd., 200).23
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4. Gnade als Rechtfertigung
Das Ineinander von Freiheit und Notwendigkeit, von dem beim Willen, im Blick auf die Liebe und a fortiori im Gottesverhältnis gesprochen werden muss, findet bei Luther keine angemessene Sprache, weil es ihm vor allem darum geht, die reine Passivität des Menschen und seines Willens gegenüber Gottes Alleinwirksamkeit und der unfehlbaren Wirksamkeit seines Gnadenwillens einzuschärfen.24 Wo Gottes Wille wirkt, wirkt er unfehlbar das von ihm Gewollte; niemand kann ihn in seiner Wirksamkeit hemmen. Deshalb gibt es keine Vermittlung zwischen Gottes Alleinwirksamkeit und der reinen Passivität des Menschen. Mit dem ersten ist das zweite gesetzt. Man wird neuzeitlich noch deutlicher, als in der Antike im Blick auf Augustins Gnadenlehre, zu der Frage gedrängt, ob das Miteinander, Gegeneinander und Zueinander des Willens Gottes und der Menschenwillen auf dem Hintergrund der Vorstellung konkurrierender Kraftwirkungen gedacht werden muss. Dann gilt tatsächlich: Entweder wirkt der Mensch oder Gott. Weil Gott das Wirken nie abgesprochen werden kann, muss der Mensch Gott gegenüber rein passiv sein und Gott darin als Gott anerkennen, dass er ihn an sich und in sich wirken lässt. Gibt es tatsächlich keine Möglichkeit zu denken, dass das Wirken des Einen in gewisser, sorgfältig zu präzisierender Weise das Wirken des Anderen ist?25 Der Liebe geht es ja schon mitmenschlich von Anfang an sowohl darum, den Anderen für sich „einzunehmen“, wie auch darum, seine freie Gegenliebe zu gewinnen, sein Handeln zu begeistern, so wie man selbst von seinem Wesen geradezu vorwillentlich begeistert war und ist. Wenn aber Gott sich gibt, wenn er Menschen an der Gnadendynamik seiner Liebe teilhaben lässt, sie ebenso liebt wie mit seiner Liebe bewohnen und Geist-lich durchdringen will: Ist dieses Über-uns-Kommen Gottes nicht von Anfang an das Zu-sich-Kommen, das Zu-uns-Kommen der Menschen – das Zu-uns-selbst- wie Zu-den-Mitmenschen-Kommen-Können? Das Erwecktwerden zu den Möglichkeiten des Menschseins und seiner Freiheit, die nicht die unseren sind, in denen wir aber uns selbst frei und in der „Lust“ des vom Innersten her kommenden LiebesWollens leben können? Wie aber wäre dieses innerliche Miteinander – das „Commercium“ – der Freiheit Gottes und der Menschen zu denken? Wie wäre es so zu denken, dass der freie Wille der Menschen in Gottes liebend-bejahende Freiheit hinein aufgeht und aufblüht, die Kraft gewinnt, wertschätzen und sich schenken lassen zu können, was in die Fülle des Lebens hineinführt? Luther bleibt in der Spur Augustins und der großen mittelalterlichen Mystik. Sein Denken ist deshalb von der
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theo-logischen Notwendigkeit bestimmt, das Commercium der Freiheiten so zu bestimmen, dass Gottes freiem Wollen alles, dem freien Wollen der Menschen nichts zugesprochen wird. Dann kann auch die Bekehrung des Menschen nur als ein Zunichte- und Auferwecktwerden aus dem Nichts gedacht werden, nicht als das Lebendigmachen des von Todesmächten umdrängten und „besetzten“ Menschen zum Wollenkönnen der ihm von der Gnade verheißungsvoll und zugänglich gemachten Möglichkeit eines Lebens in Gott. Luther vertieft das Konzept des freien Willens, so dass wieder theologisch sichtbar werden kann: Freiheit des Willens ist Gottes-Geschenk, nicht natürliches und selbstverständliches Können des Menschen. Aber es fehlen die Kategorien, die das Ineinander und Miteinander denkbar werden ließen, ohne Gottes Gnadeninitiative von menschlichen Vorleistungen abhängig zu machen. Vielleicht wirken die Kontroversen, die sich an Luthers rechtfertigungstheologischem Einspruch gegen die römische Gnadenlehre entzündet haben, bis heute nach, weil diese Kategorien immer noch nicht hinreichend ausgearbeitet zur Verfügung stehen. Vielleicht verschärften sich diese Kontroversen über Jahrhunderte aber auch dadurch, dass die mystische Einfärbung der Gnadentheologie Luthers, welche die finnische Lutherdeutung deutlicher ins theologische Bewusstsein gerufen hat, gegenüber dem forensischen Rahmen des Rechtfertigungsgedankens in den Hintergrund trat. So muss es noch einmal in aller Kürze um Bedeutung und Problematik der forensischen Rechtfertigung bei Luther selbst und in der Wirkungsgeschichte seiner Rechtfertigungslehre gehen. 4.5 Gesetz und Evangelium Gnade bedeutet nach Luther entschiedener als je zuvor: Gerechtmachung (iustificatio) bzw. Gerechtsprechung des als Sünder Überführten und Geständigen. Gottes Wort deckt dem Sünder im Geltendmachen des Gesetzes das eigene Sündersein auf. Den zu Verurteilenden aber spricht es im Evangelium völlig unverdient frei; es schenkt ihm die Rechtfertigung, für die er selbst nichts vorweisen konnte. Das gottgegebene Gesetz fordert den Menschen; im usus theologicus streng gottbezogen genommen fordert es ihn vor das Gericht der heiligen göttlichen Majestät, vor der er nicht bestehen kann (vgl. WA 4,305). Bedrängend wird es im Herzen des Menschen laut,
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4. Gnade als Rechtfertigung
„dein Herz und dein Gewissen beunruhigend, so dass du nicht weißt, wohin du dich wenden sollst. Denn das Gesetz ist jenes Gefühl oder jene Gewalt oder, wie Paulus sagt, jene unseren Herzen eingepresste Handschrift [Chirographum, Kol 2,14], welche das Herz und Gewissen züchtigt und erschüttert, so dass du augenblicklich verzweifeln und schreien musst: O weh, o weh, es ist um mich geschehen, ich bin ganz und gar verloren; Gott will mich nicht; er hat mich vergessen; er hasst mich; er ist mein Richter und der, der mich verdammt; wohin soll ich fliehen vor seinem zornigen Angesicht? usw.“ (WA 39/I, 455).26
Das Gesetz auf diese den Sünder überführende Wirkung hin gesehen (usus elenchticus27) hat seine Aufgabe darin, „illa bestia opinionis iustitiae“ zusammenzuschlagen: die monströse Vorstellung, der Sünder könne aus seinem eigenen, dem Gesetz gehorchenden Tun etwas für seine Gerechtigkeit vor Gott geltend machen (WA 40 I,481 f.). So offenbart das Gesetz Gottes Zorn, damit der Sünder vor der bloßen, heiligen Majestät des Richter-Gottes flüchtet (vgl. WA 40/I,259), sich nicht länger auf die eigenen Leistungen – seine aktive Gerechtigkeit – beruft, sondern sich allein an das Evangelium hält, das an Jesus Christus Gottes Liebe offenbart und im Heiligen Geist voraussetzungslose Vergebung zuspricht: die Gerechtigkeit als Gottes-Gabe, als passive Gerechtigkeit. Wer sich fordern lässt, seine Gerechtigkeit selbst zu vollbringen, wer also auf die iustitia activa setzt, der gründet sich in sich selbst. Das Vertrauen auf sich selbst muss ihm zerschlagen werden, so dass er sich nur noch auf die Zusage des Evangeliums verlassen kann, was er nicht leisten könne, sei ihm geschenkt. Das Evangelium „ponit nos extra nos“ (versetzt oder gründet uns außerhalb unserer selbst).28 Ihm zu glauben heißt: „sich auf Gott verlassen und insofern sich selber eben wirklich verlassen können.“ Der Glaube an das Evangelium lässt Gott in seinem Zusagewort im Innersten des Menschen ankommen. Hier ist er mir innerlicher als ich mir selbst je sein könnte, um mich aus mir selbst herauszuführen, außerhalb meiner selbst in Gott zu gründen: „Gott geht sozusagen mit mir aus mir heraus“,29 gründet mein Vertrauen in einem Grund, der mir von Gottes gutem Willen verbürgt wird. Das ist die theologisch-theozentrische Zuspitzung des Rechtfertigungsgedankens: Der Sünder muss – vom Gesetz seines Unvermögens zur Selbstrechtfertigung überführt – aus seinem Selbst-Vertrauen befreit werden, um sich – durch das Zusagewort des Evangeliums – das Gott-Vertrauen erschließen zu lassen. In der Umwendung der Vertrauensrichtung liegt die Bekehrung, die Gott mit seinem Wort am Menschen wirkt, indem er ihm „jenseits des Gesetzes“ und aller
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Gesetzerfüllung (vgl. Röm 3,21 ff.) einen verlässlichen Grund für sein Vertrauen gibt. Luthers Gnaden- und Rechtfertigungslehre ist wie die Augustins an der Bekehrung orientiert und auf die existentiell-befreiende Wende vom Selbst- zum Gottesvertrauen fokussiert. Diese Befreiung aber hat die (Selbst-)Verurteilung gewissermaßen zu ihrer theo-logischen Bedingung, in welcher der Mensch an seinem Selbstvertrauen und seiner Selbstrechtfertigung verzweifelt. Im Pietismus wird dieses Bedingungsverhältnis zur Verlaufsform einer existentiellen Lebenswende-Erfahrung dramatisiert: Die Gnade der grundlosen Vergebung geschieht nur denen, die sich unbedingt auf Vergebung angewiesen erfahren, da sie sich als verdammungswürdige Sünder wahrgenommen haben. August Tholuck (1799–1877) spricht es in aller Schärfe aus: Die Rechtfertigung des Sünders führt durch „die Höllenfahrt der Selbsterkenntnis zur Himmelfahrt der Gotteserkenntnis“,30 der Erkenntnis Gottes als des im Versöhner Jesus Christus grundlos Vergebenden. Wilhelm Herrmann (1846–1922) aktualisiert Luthers Rechtfertigungslehre im spätpietistischen Geist, wenn er vom Wort Gottes spricht, „das uns wirklich als solches gewiss wird, weil es uns völlig niederwirft und uns aus dem Nichts zu neuem Leben ruft“, uns an Jesus Christus erleben lässt, „dass Gott lebt und sich unser annimmt“.31 Die Bekehrungs- und Erweckungstheologie in der Spur Luthers sieht den Menschen auf sich zurückgeworfen: auf das ihn verklagende Gewissen, das nur durch das Vergebungswort des Evangeliums „getröstet“ werden kann. Diese lange sich anbahnende Existentialisierung der Gnade führt zu deutlich anderen Akzenten, als sie für das katholische Verständnis mit seiner weitgehenden Verkirchlichung der Gnade bestimmend wurden. Hier geht es nicht so sehr um eine existentiell vollzogene Wende-Erfahrung, sondern eher um das gehorsame Sich-Einfügen in eine Gnadenordnung, die von der Kirche repräsentiert und für die immer wieder in Sünde fallenden Gläubigen bereitgehalten wird, damit sie die Gnade der Taufe nicht verspielen. So führt die Gnadentheologie die beiden großen christlichen Traditionen des Westens seit dem 18. Jahrhundert in unterschiedliche Richtungen: Die reformatorische Gnadenlehre fördert Individualisierung und Erfahrungsbezogenheit; die katholische Gnadenlehre profiliert die Kirche als Gnadenanstalt, in der die Menschen gegen die Heillosigkeit der Welt geschützt und mit den Gnadenmitteln ausgestattet sind, die sie auf dem Weg in die himmlische Vollendung voranbringen.
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4. Gnade als Rechtfertigung
4.6 Fernwirkungen Gemeinsam ist den christlichen Konfessionen des Westens, dass Gnade gut augustinisch entscheidend als Sündenvergebung aufgefasst wird. Diese Ausrichtung der Gnadenlehre trifft auf die Neigung der Aufklärungsphilosophie, das Verständnis des Bösen und speziell die Erbsündenüberlieferung zu entdramatisieren. Gegen das erwachende bürgerlich-aufgeklärte Selbstbewusstsein, das die Selbst-Bestimmung im gesellschaftlich-wirtschaftlichen Bereich wie in ethischverantwortlicher Lebensgestaltung als selbstverständliches Ziel ansah, versuchten Prediger und Theologen die Menschen auf das Scheitern gerade ihrer sittlichen Selbststeigerung anzusprechen.32 Noch für Kant ist das ein unverantwortliches Vorgehen. Es unterstütze die Neigung des Menschen, sich der Anforderung zu entziehen, ein besserer Mensch zu werden. Man wende sich ja lieber an den gnädigen, als an den heiligen und gerechten Gott, „um so die abschreckende Bedingung [des Heils], den Forderungen [des heiligen und gerechten Gottes] gemäß zu sein, zu umgehen. Es ist mühsam, ein guter Diener zu sein (man hört da immer nur von Pflichten sprechen); er möchte daher lieber ein Favorit sein, wo ihm vieles nachgesehen, oder, wenn ja zu gröblich gegen Pflicht verstoßen worden, alles durch Vermittelung irgend eines im höchsten Grade Begünstigten wiederum gut gemacht wird, indessen dass er immer der lose Knecht bleibt, der er war.“33 Wer den Menschen davon spricht, es komme nicht entscheidend auf ihre sittliche Besserung, sondern auf die Gnade an, der verführt sie, den billigeren Weg gehen zu wollen: den Weg, Gnade zu erlangen, statt ein besserer Mensch zu werden. Die sittliche Selbstbestimmung allein wird vielleicht nicht zum Ziel führen; und es mag Gott selbst sein, der dann vollenden wird, was der Mensch nicht erreicht hat. Die Vernunft bietet dem Menschen, der um sein moralisches Ungenügen weiß, noch diesen „Trost … dass, wer in einer wahrhaften der Pflicht ergebenen Gesinnung so viel, als in seinem Vermögen steht, thut, um (wenigstens in einer beständigen Annäherung zur vollständigen Angemessenheit mit dem Gesetze) seiner Verbindlichkeit Genüge zu leisten, hoffen dürfe, was nicht in seinem Vermögen steht, das werde von der höchsten Weisheit auf irgend eine Weise … ergänzt werden“.34 An solche Gnade mag man glauben. Aber vermessen wäre es, von ihr wissen oder sie gar (durch kultische Handlungen) hervorbringen zu wollen.35
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Das Hoffen auf Gnade wird zum Randphänomen eines sittlichen Selbstbewusstseins, welches sich der Herausforderung, Gottes Willen zu tun, stellt und mit einem gnädigen Gott rechnen darf, der die gute Gesinnung für die vollendete, vollkommene Tat nehmen wird. Das kann man als den Kern einer bürgerlichen Religion ansehen, wie sie – zumindest im evangelischen Bereich – während des 19. Jahrhunderts weithin paradigmatisch gewesen zu sein scheint. Gegen dieses sittlich-religiöse Selbstbewusstsein mit „Hoffnungsüberschuss“ mobilisieren Tholuck, Herrmann und andere neukantianisch gegen Kant argumentierende evangelische Theologen Luthers Rechtfertigungslehre, die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts neu entdeckt und interpretiert wird: Das sittliche Selbstbewusstsein erweist sich angesichts seiner eigenen Kraftlosigkeit als die Lüge der opinio iustitiae: Man betrügt sich im Gewissen, da man sich eine sittlich reine Gesinnung zuschreibt und nicht sehen will, welche unlauteren Motive diese Selbstrechtfertigung mitbedingen. Gutes Gewissen und die reine sittliche Gesinnung: beides kann der Mensch nicht selbst hervorbringen und verbürgen. Immer muss er sich fragen (lassen), ob seine Selbsteinschätzung nicht von besonderem Hochmut und ausgeprägter Missachtung derer geleitet ist, denen gegenüber man besser sein will. Ein gut funktionierendes Gewissen lässt sich aber nicht betrügen; immer ist es den wirklichen Motiven auf der Spur. Einen Freispruch wegen erwiesenermaßen eindeutig guter Motive kann es nicht zustande bringen. Es fragt immer weiter und ist nur getröstet, wenn vergeben ist, was es aufdeckt. Der Pietistenpfarrer-Sohn Friedrich Nietzsche konnte diesen „großen Beitrag zur Aufklärung“ noch schätzen: Das Christentum lehrte – so sein Urteil – „die moralische Skepsis auf eine sehr eindringliche und wirksame Weise: anklagend, verbitternd, aber mit unermüdlicher Geduld und Feinheit: es vernichtete in jedem einzelnen Menschen den Glauben an seine ‚Tugenden‘“.36 Die moralische verwandelt sich schließlich in die wissenschaftliche Skepsis, die den christlichen Glauben selbst zersetzte: „der immer strenger genommene Begriff der Wahrhaftigkeit, die Beichtväter-Feinheit des christlichen Gewissens, übersetzt und sublimiert zum wissenschaftlichen Gewissen, zur intellektuellen Sauberkeit um jeden Preis.“37 Das wissenschaftliche Gewissen beerbt und beargwöhnt das moralische Gewissen; es glaubt ihm nicht mehr, weil es – spätestens mit der Psychoanalyse Freuds – begriffen hat, was die Dynamik des schlechten Gewissens antreibt. Wer sich noch Vorwürfe macht, darf sich trösten lassen durch die
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4. Gnade als Rechtfertigung
Einsicht in den Funktionszusammenhang der Psyche, in welchem das Überich sich herausbildet und seine Zensur über die Triebe ausübt. Nietzsche hatte es sich nicht so einfach gemacht, den christlichen Rechtfertigungsgedanken zu beerben. In der Dynamik des moralischen Gewissens steckt ja die heillose Suche danach, zu sich selbst ja sagen zu können. Im Christentum wird diese Dynamik zum Stehen gebracht durch die Zuflucht bei einer Instanz, gegen deren Ja kein Nein etwas ausrichten könnte – wenn dieses Ja mir tatsächlich gilt. Aber habe ich diesen gnädigen Gott? So fragt indes nur, wer sich nicht selbst bejahen und rechtfertigen kann. Nietzsches Überbietung der Rechtfertigungslehre ist zuletzt einfach und konsequent: „liebt euch selber aus Gnade, – dann habt ihr euren Gott gar nicht mehr nöthig, und das ganze Drama von Sündenfall und Erlösung spielt sich in euch selber zu Ende!“38 Wer sich selbst und alles bejahen und rechtfertigen kann, weil es so ist, wie es ewig sein soll, der verbürgt sich das Ja selbst und braucht keine weiteren Rechtfertigungen: Alles trägt sein Ja in sich, ist gerechtfertigt als eine Spielart des Willens zum Leben und zur Macht. Mehr Rechtfertigung braucht es nicht als die, die der bejahende Mensch überall entdecken, in alle Wirklichkeit hineinleben, wenigstens ästhetisch feiern kann.39 Alles wäre gerechtfertigt, wenn es bejahenswert wäre. Nietzsches Konsequenz: Der Mensch muss dahin kommen, alles zu bejahen, indem er sich selbst als Naturwesen und damit als Realisierung des alles umfassenden Willens zur Macht bejaht und keine weitere Rechtfertigungsbedürftigkeit seiner selbst wie dieses allumfassenden Willens zum starken Leben mehr anerkennt. In gewissem Sinne war Nietzsche damit Vorläufer gegenwärtiger Naturalismus-Konzepte. Die Frage nach der Rechtfertigung ist erst erledigt, wenn sich die Frage erledigt, wozu das Menschsein und jedes einzelne menschliche Leben da ist und gut ist. Es ist Naturwirklichkeit; der Prozess der Natur aber bedarf keiner Rechtfertigung. Er ist, weil er ist. Die Natur beerbt Gott als den nicht Rechtfertigungsbedürftigen. Wenn sie ihn überhaupt noch als Randgröße übrig lässt, wird er selbst rechtfertigungsbedürftig und der Frage ausgesetzt: Welche Funktion hat er denn noch – und warum hat er die Welt so leidvoll sein lassen, wenn er doch Gott sein will? Aber das wäre noch ein Rest an religiösem Rechtfertigungsglauben. Radikaler ist es allemal, die Warum-Frage auf den begreifenden Nachvollzug des Naturprozesses zu lenken und keine weiteren Warum-Fragen für sinnvoll zu halten, „das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen: wozu
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freilich“ – wie Nietzsche nicht nur im Blick auf die Antike einräumt – „wenn die Gründe nicht ausreichen, schliesslich auch der Mythos dienen muss“.40 Der Mythos der Moderne erzählt von der Herstellung des Selbstverständlichen, das keiner Rechtfertigung mehr bedarf: Es ist, weil es ist. Und es ist so, wie es ist, weil es so ist. Das „Geheimnis“ seines Soseins lässt sich immer weiter begreifen; man ist schon weit gekommen auf der Suche nach den noch fehlenden Gründen. Wer nach dem Warum? fragt, rechnet nur mit Antworten, welche die naturgegebene Vernetzung von Ursachen und Wirkungen noch dichter rekonstruierbar und das Gegebene selbstverständlich – aus sich selbst verständlich – machen. Die Frage, warum ich bin und wofür ich gut sein könnte, beantwortet sich beim Blick auf evolutionäre Zusammenhänge. Die Frage, warum ich getan habe, was ich getan habe, erweist sich als sinnlos, weil sie mir eine Intention unterstellt, die doch allenfalls ein Epiphänomen des Prozesses ist, der sich auch in mir durchspielt und uns in seinem Spiel immer begreiflicher wird. Dagegen also der uralte Mythos, der Gott in der Rolle des Fragenden sieht, der den Kain in uns allen der Frage und der Forderung aussetzt: Was hast du getan? – Warum hast du das getan? (vgl. Gen 4,10) Rechtfertige dich! Bleibt nicht der Verdacht, dass der Mensch sich in die Unverantwortlichkeit des Natürlich-Selbstverständlichen flüchtet, weil er sich nicht selbst rechtfertigen kann und den Glauben daran verloren hat, dass er jenseits all dessen, was er leisten und an Gründen aufbieten könnte, gerechtfertigt wird? Die Rechtfertigungsfrage Warum? macht den Menschen verantwortlich. Sie macht ihn schließlich – bei Augustinus – für alles verantwortlich, damit Gott von der Forderung verschont bleibt, sich für eine schrecklich-schöne Schöpfung zu rechtfertigen. Diese Forderung wird ihm erspart, weil er die Menschen rechtfertigt, welche die Verantwortung übernommen und seiner Vergebung anheimgestellt haben. Die Rechtfertigungs-Frage nach dem Warum? schlägt nicht auf Gott zurück, solange der Glaube nicht verstehen will, „wie dieser Gott barmherzig und gerecht sein kann, der so viel Zorn und Ungerechtigkeit an den Tag legt“ (De servo arbitrio, a.a.O., 194); solange sich der Glaube dabei beruhigen kann, dass „recht sein [muss], was geschieht“ (ebd., 280). Sobald der Mensch die Verantwortung für sich übernehmen will, dringt er auch darauf, seine Verantwortung durch die Abgrenzung zu anderen Verantwortlichkeiten tragbarer zu machen – und so auch Gott der Rechtfertigungs-Frage zu unterwerfen: Theo-dizee – Gott zur Rechenschaft gezogen; Gott aber entzieht sich ihr weiterhin. Hi-
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obs Frage nach dem Warum? bleibt ohne Antwort. So stellt sich die Frage, ob man dann nicht zu der Konsequenz genötigt ist, die Rechtfertigungsfrage – soweit sie die Frage nach Verantwortlichkeiten ist – radikal zu entsorgen, sie in der Dynamik der Frage nach den natürlichen Ursachen still zu stellen. Aber das lässt sich die Frage nach der Rechtfertigung nicht gefallen. Wie es um die Rechtfertigung Gottes – die Theodizee – auch stehen mag: Immer stellt sich die Frage nach Rechtfertigung auch als Warum-Frage, als Frage danach, ob und wie ein Mensch es verantworten kann, der zu sein, der er ist. Und die unabdingbare Forderung: Rechtfertige dich! drängt dann dazu, wenigstens besser zu sein, wenn es zum Gutsein schon nicht reicht. Das gnadenlose Vergleichen soll uns Recht geben. Wer sich als besser ansehen kann, weiß sich ins Recht gesetzt. Die medial inszenierte Tribunalisierung der Öffentlichkeit41 ermöglicht – imaginiert – Selbstrechtfertigung durch Bessersein und Rechthaben; „Rechtfertigung ohne Religion wird zur Rechthaberei“. Wenigstens im Recht sein, wenn mehr nicht zu erreichen ist: Rechthaben als akzeptierter Ersatz für Rechtfertigung.42 Der Vergleich muss das eigene Bessersein rechtfertigen. Deshalb ist er gnadenlos; so gnadenlos wie die Einsicht in die Notwendigkeiten, die uns als reine Naturwesen bestimmen. Das Vergleichen ist uns ja selbst zur zweiten – oder doch schon zur eigentlichen? – Natur geworden, da es die Voraussetzung dafür ist, besser, also evolutionär erfolgreich zu sein, den behaupteten Vorsprung tatsächlich zu realisieren: im Bessersein durch Arbeit oder auch nur dadurch, dass es einem gut geht.43 Aber das Besser-Sein und Es-sich-gut-gehen-Lassen ist nun einmal nicht gut sein. Diese Differenz bricht immer wieder auf; und die Frage, wie es über den Zwang zum Bessersein hinaus mit mir gut werden könnte. Deshalb die Frage nach einem Gott, der mir das Besserseinmüssen abnähme, weil er mich gut sein ließe. Auch wenn es diesen Gott nicht geben sollte, würde er fehlen44 – und durch sein Fehlen wenigstens die Differenz zwischen gut und besser als Rechtfertigungs-Lücke, als Wunde menschlichen Selbstbewusstseins offenhalten. Die lutherische Tradition der Rechtfertigungslehre bleibt lebendig, wo sie auf die Gnadenlosigkeit einer Selbstrechtfertigung durchs Bessersein und durchs Unverantwortlichsein reagiert, protestiert. Wo sie dem menschlichen Selbstbewusstsein unnachsichtig – wenn man es so sagen will: als Predigt des Gesetzes – die Rechtfertigungsfrage nach dem Warum? zumutet. Das Evangelium wird verkündigt, damit sich die Warum?-Frage vom Vergangenen ablösen und dem auf uns
4.6 Fernwirkungen
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Zukommenden zuwenden kann. Das Evangelium von der voraussetzungslosen Vergebung aus Gnade ist der Horizont, in dem ich neu fragen lerne. Nicht: Warum bin ich gut, und warum geht es mir unverdient schlecht? Das bleibt eine heillose Frage, auf die nicht einmal Gott die Antwort sein könnte. Also nicht diese heillose Frage, sondern die Zukunfts-offene Frage: Wofür bin ich gut? Darauf kann die Antwort sein: Für Gott selbst, dafür, dass du zur Wirklichkeit Gottes in der Welt wirst. Dann bist du tatsächlich gut für Gott, für seine Herrschaft – und wirst es immer bleiben. Dann bin ich gerechtfertigt, weil ich für ihn und für die Geschöpfe gut bin, für die er selbst gut sein will. Dann könnte ich mich bejahen als den, der gut für Gottes Herrschaft ist – und es immer mehr werden kann; dann könnte ich mich bejahen als von ihm bejaht,45 bejaht als gut für ihn selbst. Liebe ist die Bereitschaft und die Kraft, andere als für mich selbst gut zu bejahen und uns selbst als gut füreinander wie für die anderen zu bejahen, die unsere Nächsten werden. Der liebende Gott schenkt die Gnade, dass wir für ihn und mit ihm gut sein können – und darin unser Nicht-gut-Sein versöhnt und vergeben ist. Er setzt die Menschen nicht dem gnadenlosen Druck des Besser-sein-Müssens – des (ab)wertenden Vergleichs – aus, sondern lässt es mit jedem auf seine ganz individuelle Weise gut sein, gut werden. Darin verwirklicht sich das Geheimnis seiner schöpferischen Würdigung: Nicht an unserem Zunichtewerden, an unserem Zerschlagenwerden durch Anklage und Verurteilung liegt ihm, sondern am Lebendigwerden aller unserer Lebenskräfte füreinander. So umgibt er uns mit einer Geist-Atmosphäre des Wohlwollens, der Gnade, die uns lebendig werden lässt; so würdigt er jeden einzelnen Weg, auf dem Menschen die nächsten Schritte zur Gottesherrschaft wagen – oder zurückbleiben. Darf man mit diesem Modell der Würdigung über die Forensik des Rechtfertigungsmodells hinausdenken? Kann man Gnade als schöpferische Würdigung vorstellen, mit der die Liebe schon mitmenschlich das Gute dankbar wahrnimmt, das Gott sei Dank geworden ist, und ihm den Raum zur Entfaltung öffnet: damit es wahrhaft gut werden kann? Oder träte der Ernst der Sünde – die Dramatik verweigerter Aufbrüche und Herausforderungen – hier zu sehr in den Hintergrund? Muss nicht deutlicher werden, wie herausfordernd die Gnade sich mitteilt, wie viel an Umkehr sie zumutet?
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4. Gnade als Rechtfertigung
Literatur Michael Beintker, Rechtfertigung in der neuzeitlichen Lebenswelt, Tübingen 1998; Eberhard Jüngel, Das Evangelium von der Rechtfertigung des Gottlosen als Zentrum des christlichen Glaubens, Tübingen 1998; Tuomo Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, Hannover 1989; Luthers Schriften werden zitiert nach der Weimarer Ausgabe (WA), Weimar 1883 ff., nach: Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Taschenbuchausgabe Gütersloh 1986, nach: Luther deutsch. Die Werke Martin Luthers in neuer Auswahl für die Gegenwart, hg. von K. Aland, Bd. 3, Stuttgart – Göttingen 1961 sowie nach: Ausgewählte Werke, hg. von H. H. Borcherdt und G. Merz, Bd. VI, München 31988.
5. Gnade und menschliche Freiheit: eine unabgeschlossene Konfliktgeschichte
In der Auseinandersetzung der römisch-katholischen Gnadenlehre mit Luthers Rechtfertigungslehre geht es entscheidend um die genauere Bestimmung der Passivität und der Eigentätigkeit des Menschen im Wirksamwerden der Gnade. Das Konzil von Trient will dabei festhalten, dass die Gnade nicht an der Freiheit des Menschen vorbei gegeben und wirksam wird. Gnade ruft den Menschen in die Entscheidung und damit auch in die (Mit-)Verantwortung dafür, dass sie an ihm wirksam wird. Der Konflikt zwischen reformatorischen und römisch-katholischen Traditionen entzündet sich bis in die Gegenwart hinein immer wieder neu an der Frage: Wird der Sünder in der Gnade frei oder ist er auch gegenüber der Gnade frei? Beide Antwortmöglichkeiten führen – isoliert für sich genommen – in die Aporie: Widerfährt die Befreiung durch Gnade dem schlechthin Unfreien, fällt die Verantwortung für das Nahekommen und Ergreifenkönnen der Gnade auf Gott zurück. Ist der Sünder aber der ihm angebotenen Gnade gegenüber frei, bleibt die Ablehnung der Gnade unverständlich. Weiter kommt man wohl nur mit der ursprünglich augustinischen Strategie des Nicht ohne. Einerseits: Gottes Nahekommen in der Gnade erreicht mich nicht, ohne dass ich mich erreichen lasse. Andererseits: Ich kann mich von Gottes Gnade nicht erreichen lassen, ohne dass sich mir die schlechthin verheißungsvolle Perspektive meines Menschseins von sich aus, also gnadenhaft, erschließt. Im Blick auf das neuzeitlich-transzendentale Freiheitsverständnis ist dieses Nicht ohne als Gleichursprünglichkeit von autonomer Selbstbestimmung und Ergriffenwerden zu denken: Mit der Gnade erschließt sich die befreiende Reich-Gottes-Leidenschaft, in der die menschliche Selbstbestimmung sich zu einem Leben in Fülle inspiriert und herausgefordert erfahren kann.
5.1 Trient: Korrektur oder Missverständnis Luthers? Das Konzil von Trient (1545–63) stand vor der nicht einfachen Aufgabe, Luthers konsequentem Augustinismus so zu begegnen, dass die
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5. Gnade und menschliche Freiheit
Autorität des Doctor gratiae einigermaßen gewahrt blieb und die scholastische Intention, Gnade im Sinne einer die Mitwirkung der Menschen einbeziehenden Gnadenordnung zu verstehen, dennoch nicht aufgegeben werden musste. Zentrale Bedeutung kam dann der Frage zu, inwieweit die menschliche Freiheit darüber (mit-)entscheiden konnte, ob die Gnade im Menschen wirksam wird und ihn den Weg zum Heil führt. Luthers Zuspitzung der augustinischen Tradition wird darin sichtbar, dass er auf der reinen Passivität des Menschen im Vorgang der Rechtfertigung besteht. Als Sünder trägt er mit dem, was er selbst leisten könnte, nichts zu seiner Rechtfertigung bei: „Hier verhält sich der Mensch rein passiv (wie man es bezeichnet [mere passive]), und tut auf keine Weise etwas, sondern wird völlig [nec facit … sed fit], d.h. lässt ganz an sich geschehen.“ Wir werden Kinder Gottes „durch die uns geschenkte Kraft Gottes, nicht durch das Vermögen des uns eingepflanzten freien Willens“ (De servo arbitrio, a.a.O., 262). Wenn Gott gibt, so setzt das voraus, dass auf Seiten des empfangenden Menschen nichts als Empfänglichkeit ist, von ihm also nichts aufgeboten werden kann, was Gottes Gabe hervorriefe oder verdiente. Es ist „Gottes Natur, zuerst zu zerstören und zunichtezumachen, was in uns ist, bevor er das Seine gibt“ (WA 56,375 ff.). In uns ist die sündige Meinung, das „Rühmen“, etwas Gutes, gar Heilswirksames von uns aus tun bzw. daran mitwirken zu können. Sie muss zunichte werden; wer konnte sich schon „rühmen, er habe daran mitgewirkt, als er im Uterus geformt wurde?“ (WA 6,126,3 f.). Dieses Mere passive wird zum Zankapfel. Mit ihm scheint in den Augen der römischen Theologie bestritten, dass der Mensch auch als Sünder Subjekt bleibt, das sich zu dem verhalten kann, was ihm in der Rechtfertigung widerfährt. Das Rechtfertigungsdekret des Konzils von Trient versucht dementsprechend festzuhalten, dass die Gnade nicht an der Freiheit des Menschen vorbei gegeben und wirksam wird. Mit Augustinus aber wird zugleich unterstrichen, dass die menschliche Freiheit sich auch nicht ohne die zuvorkommende Gnade der rechtfertigenden Gnade öffnen könnte. Der Text stellt an entscheidender Stelle fest, „dass diese Rechtfertigung bei Erwachsenen ihren Anfang von Gottes zuvorkommender Gnade durch Christus Jesus nehmen muss, das heißt, von seinem Ruf, durch den sie – ohne dass ihrerseits irgendwelche Verdienste vorlägen – gerufen werden, so dass sie, die durch ihre Sünden von Gott abgewandt waren, durch seine erweckende und helfende Gnade darauf vorbereitet werden, sich durch freie Zustimmung und Mitwirkung mit dieser Gnade zu ihrer eigenen Rechtfertigung zu be-
5.1 Trient
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kehren; wenn also Gott durch die Erleuchtung des Heiligen Geistes das Herz des Menschen berührt, tut der Mensch selbst, wenn er diese Einhauchung aufnimmt, weder überhaupt nichts – er könnte sie ja auch verschmähen –, noch kann er sich andererseits ohne die Gnade durch seinen freien Willen auf die Gerechtigkeit vor ihm zubewegen. Wenn daher in der heiligen Schrift gesagt wird: ‚Kehrt um zu mir, und ich werde zu euch umkehren‘ [Sach 1,3], werden wir an unsere Freiheit erinnert; wenn wir antworten: ‚Kehre uns um, Herr, zu dir, und wir werden umkehren‘ [Klgl 5,21], bekennen wir, dass uns die Gnade Gottes zuvorkommt“ (DH 1525).
Das augustinische Nicht ohne ist der Schlüssel; die in der Scholastik differenzierte Rede von der Gnade wird zum „Werkzeug“, um dieses wechselseitige Nicht ohne gleichsam gnadenbiographisch auszufüllen. Die zuvorkommende, erweckende und helfende Gnade „unterstützt“ die Menschen dabei, zum Glauben zu kommen „und sich Gott aus freien Stücken zu[zu]wenden“ (DH 15261). So bereiten sie sich, da sie von der Gnade vorbereitet werden, für die Gnade der Rechtfertigung. Diese macht in ihnen die Liebe und die Hoffnung darauf lebendig, „dass Gott ihnen um Christi willen gnädig sein werde“ (ebd.). Sie wird den Gerechtfertigten tatsächlich eingegossen und strömt ihnen als „Kraft“ zu, die den guten Werken der Gerechtfertigten „immer vorangeht, sie begleitet und ihnen nachfolgt, und ohne die sie auf keine Weise Gott gefällig und verdienstvoll sein könnten“ (DH 1546 f.). Wo das Tridentinum die Mitwirkung des Menschen zur Erlangung der Rechtfertigungsgnade zur Sprache bringt, grenzt es sich gegen das Mere passive der Reformation ab. Die Behauptung, „es sei keineswegs notwendig, dass er [der Sünder] sich durch eigene Willensregung vorbereite und zurüste“, wird mit dem Anathem belegt. Damit soll der freie Wille ins Spiel gebracht werden, der sich zwar nicht ohne die Hilfe der Gnade aus der Beherrschung durch die Sünde befreien kann, aber selbst umkehren und dies auch verweigern können muss. Von Anfang an ist der Mensch in den Vorgang der Rechtfertigung involviert. So ist Rechtfertigung auch nicht nur eine über dem Menschen ausgesprochene Feststellung, seine Sünden würden ihm aufgrund des Verdienstes Jesu Christi nicht mehr angerechnet (forensische Rechtfertigung), sondern die ihn verwandelnde Einwohnung des Heiligen Geistes. Der Heilige Geist macht im Menschen Glaube, Liebe und Hoffnung lebendig, damit er in freier Identifikation mit dem ihm Eingegossenen Gott wohlgefällig werde und durch seine Verdienste sein Heil mit wirke (vgl. DH 1561).
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5. Gnade und menschliche Freiheit
Vorausgesetzt ist dabei, dass im Menschen, der von Adams Sünde her „in seinen [Willens-]Kräften geschwächt und gebeugt war“, der freie Wille gleichwohl „keineswegs ausgelöscht worden“ ist (DH 1521; vgl. DH 1555). Der durch die Gnade aufgerichtete und gestärkte Wille des Menschen wird von Gott sogar in der Weise gewürdigt, dass er – unter Mitwirkung der Gnade – jene Verdienste erwerben kann (und auch muss), die ihn Gott wohlgefällig machen und so für das ewige Heil unabdingbar sind. Es ist nun einerseits verständlich, dass diese Formulierungen den konfessionellen Streit weiter anheizten und zu weiteren Zuspitzungen führen mussten. So hat die Solida declaratio der Konkordienformel aus dem Jahr 1577 (II,59) das Mere passive gegen die Trienter These vom geschwächten, aber nicht ausgelöschten freien Willen noch einmal eingeschärft und formuliert, zu seiner Bekehrung könne der Sünder „ganz und gar nichts beitragen.“ Insofern sei er „viel ärger als ein Holzblock, weil er dem Wort und Willen Gottes widersteht, bis Gott ihn vom Tode der Sünde auferweckt, erleuchtet und erneuert“. Andererseits aber ist doch zu fragen, wo in all diesen zugespitzten Formulierungen der eigentliche Differenzpunkt greifbar wird und ob die Konfliktparteien ihn hinreichend erfassten. 5.2 Verständigungsversuche und der Kern des Konflikts Die Gemeinsame Erklärung des Lutherischen Weltbundes und der Katholischen Kirche zur Rechtfertigungslehre vom 4. März 1997, die bei allen bleibenden Differenzen einen Konsens im Wesentlichen zu formulieren versuchte, sieht den Streit des 16. Jahrhunderts über den unfreien Willen als weitgehend überwunden an und kommt zu Klarstellungen, die in der akuten Phase des Streits so nicht zu erreichen waren. Katholiken und Lutheraner bekennen gemeinsam, „dass der Mensch im Blick auf sein Heil völlig auf die rettende Gnade Gottes angewiesen ist“ und dass die „Freiheit, die er gegenüber den Menschen und den Dingen der Welt besitzt, keine Freiheit auf sein Heil hin“ ist (4.1, § 19). Die Gemeinsame Erklärung trägt damit dem Verständnis der Unfreiheit des Willens Rechnung, wie es bei Luther formuliert ist: Der Wille des Sünders ist darin unfrei, dass ihm die Willenskraft fehlt, das Heilsame von sich aus zu wollen und so auch lebensbestimmend werden zu lassen, das ihm hier von Gott ohne Vorbedingung auf Seiten des Beschenkten eröffnet wird. Willensfreiheit wäre nach diesem Verständnis nicht zuerst Alternativenfreiheit,
5.2 Verständigungsversuche
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sondern das innerste Mitwollenkönnen des Menschen mit Gottes gutem Willen. Das liegt aber offensichtlich nicht im Vermögen des Menschen selbst. Gott muss das Mitwollen des Sünders erwecken; und er tut es in der bedingungslos geschenkten zuvorkommenden Gnade. Wenn also die Katholiken „sagen, dass der Mensch bei der Vorbereitung auf die Rechtfertigung und deren Annahme durch seine Zustimmung zu Gottes rechtfertigendem Handeln ‚mitwirke‘, so sehen sie in solch personaler Zustimmung selbst eine Wirkung der Gnade und kein Tun des Menschen aus eigenen Kräften“ (4.1, § 20). Umgekehrt lehnen die Lutheraner zwar den Gedanken der Mitwirkung ab und „verneinen … damit jede Möglichkeit eines eigenen Beitrags des Menschen zu seiner Rechtfertigung, nicht aber sein volles personales Beteiligtsein im Glauben, das von Gott selbst gewirkt wird“. So wird auch eingeräumt, „dass der Mensch das Wirken der Gnade ablehnen kann“ (4.1, § 21). Karl-Heinz Menke hat diese Klarstellungen der Lutheraner als logisch widersprüchlich angesehen, insofern die Möglichkeit der Ablehnung der Gnade zwar eingeräumt, das Ja-Wort des Menschen zu ihr aber nicht als „Beitrag des Gerechtfertigten zu seiner Rechtfertigung“ anerkannt werde. Diese Position bedeute in der Konsequenz, „dass Gott im Rechtfertigungsgeschehen an uns ohne uns“ handle.2 Wenn der Mensch die Gnade auch ablehnen könne, so folge daraus doch, dass er nicht durch die Annahme der Gnade frei werde, sondern es – in der Ablehnung – „auch gegenüber der Gnade“ sei. Allerdings bedeute – so Menke weiter – „das Gegenüber-der-Gnade-frei-Sein des Menschen nicht Unabhängig-von-Gott-frei-sein“, sondern auf Gott hin frei sein. So sei ja schon biblisch bezeugt, „dass Gottes Allmacht sich in der Heilsgeschichte selbst dazu bestimmt, sich von wirklicher (selbstursprünglicher) geschöpflicher Freiheit real bestimmen zu lassen.“3 Freiheit im Sinne der Selbstursprünglichkeit und der Selbstverfügung müsse – das ist hier der Haupteinwand gegen die Position der Lutheraner – unbedingt gegeben sein, wenn dem Menschen auch die Ablehnung der Gnade möglich sein soll, wenn er m.a.W. auch außerhalb der Gnade menschliches Subjekt sei und dies nicht erst durch die Begnadung werde. Damit scheint nun tatsächlich eine Differenz markiert, welche seit den konfessionellen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts fortbesteht und keine befriedigende Klärung gefunden hat. Die selbstursprüngliche Freiheit des Menschen, in der dieser über sich selbst verfügt, wird in der lutherischen Tradition als in der Knechtschaft der Sünde verloren angesehen. Über den Sünder ist so
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5. Gnade und menschliche Freiheit
tiefreichend verfügt, dass er nicht mehr über sich verfügen kann. Es steht nicht in seinem Willen, womit er sich identifiziert und wovon er zuinnerst in Anspruch genommen ist. Er hat sich selbst nicht in der Hand, da er in seinen Motiven und Neigungen voreingenommen ist: von dem, was sich ihm anziehend gemacht hat und so den Willen, sich mit ihm zu identifizieren, wachruft und entschieden macht. Dieses Bestimmtwerden ist dem menschlichen Willen so innerlich, dass es ihn in allen Vollzügen, in denen er sich aus sich selbst bestimmen will, entscheidend (mit)bestimmt. Es hat ja sein „Herz“ gefangen genommen, von dem alle selbstbestimmten Vollzüge ausgehen müssten. Woran das Herz hängt, das entscheidet darüber, welche Richtung die aus der Personmitte ausgehenden Strebungen nehmen.4 Rechtfertigung geschieht deshalb in jener Befreiung des sündigen Willens zum Guten, durch die der Sünder sich Gott wieder öffnen und wollen kann, dass er Gott sei: das höchste Gut, das alles Hoffen und Streben auf sich zieht. Hier wird dem Gerechtfertigten eine Glaubens-, Hoffnungs- und Lebensperspektive zugänglich und motivierend-eindrücklich, die ihn aus dem Bestimmtwerden von Abgöttern herausholt und ihm die Kraft zum Glaubens-Ja gibt, damit die Gnade in ihm wirke und er selbst aus der Gnade zur Heiligung mitwirke. Woher kommt dann die Kraft zum Nein? Dazu bedarf es nach Luther keiner Willenskraft. Der Sünder funktioniert ja willenlos im Machtgefüge der Sünde. Er ist mit falschen Prioritäten identifiziert, unempfindlich gegen die Verlockungen zum Guten. So sagt er nicht selbstursprünglich frei Nein zur Gnade. Er wird nur nicht von ihr erreicht – lässt sich von der unvergleichlich verheißungsvoll-heilvollen Alternative nicht so erreichen, dass sie ihn (fast?) unwiderstehlich anziehen und befreien würde. Ließe er sich von ihr anziehen und befreien, würde in ihm der Wille zum Guten lebendig, der das Gute aus der Gnade und seinem lebendigen Willen so in seiner Personmitte entspringen lässt, dass er es „mit Lust“ – mit voller Identifikation – täte. Nun aber kommt es erst zur heikelsten Frage: Warum wird diesem die verheißungsvolle Alternative anziehend, jenem aber nicht? Warum erreicht letzteren nicht, was ihn zu Gott, zu sich selbst und zum Nächsten – zum Guten – befreien würde? Verweigert er sich eben doch selbstursprünglich frei? Oder hat Gott ihm seine gnadenhaftbefreiende Nähe nicht so eindrücklich-nahegehend geschenkt, dass er die verheißungsvolle Alternative zur Sünde ergreifen und sich ihr öffnen könnte? Der Augustinismus in der Gnadenlehre tendiert zur zweiten Antwort. Die Aporien der Prädestinationslehre, die sich hier
5.2 Verständigungsversuche
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auftun, sind offenkundig. Aber führt nicht auch die Option für den selbstursprünglich freien Willen in eine unauflösbare Aporie? Wenn sich das Gute dem Menschen als die schlechthin verheißungsvolle Alternative zum Bösen zeigte, wie könnte er sich ihr frei verweigern? Hält der Sünder tatsächlich am Bösen fest, weil er das Böse will, oder doch nur deshalb, weil sich ihm keine bessere Alternative zeigt und er nicht berührt ist von ihrer Verheißung eines „besseren“ Lebens? Es ist kaum verstehbar, dass der Mensch das Gute ablehnt, wenn es ihm als solches nahe kam und zur Verheißung wurde. Das Prädestinationsproblem der Willkür Gottes – einer blinden Entscheidung ohne Grund – würde mit einer solchen Annahme nur in den Menschen selbst verlagert, dessen „freie“ Entscheidung gegen die Gnade abgründig grundlos wäre und so auch nicht mehr als freie Entscheidung verstanden werden könnte. Die These, der Mensch könne durch seine freie Entscheidung das Böse als solches – bei voller Einsicht in eine verheißungsvolle gute Alternative – wählen, ist nicht mehr nachvollziehbar. Wenn der Mensch das Böse wählt, so deshalb, weil er es für die bessere Alternative hält; das ist die altüberlieferte platonische Sicht der Dinge. Er mag das jetzt für ihn Gute dem in jeder Hinsicht und für alle Guten vorziehen und so faktisch das Böse tun. Aber er zieht vor, was er hier konkret als Handlungsalternative wählt, weil sich ihm keine verheißungsvollere Perspektive darstellt. Würde ihm eine verheißungsvollere Perspektive einleuchten, hätte er keinen Grund, sie nicht zu wählen. Anzunehmen, dass der Mensch das Böse grundlos frei wählt, würde den Gedanken der Wahlfreiheit selbst und den der Verantwortlichkeit (hier für die böse Wahl) zersetzen, ihn auf blinde Willkür reduzieren oder unterstellen müssen, dass man sich tatsächlich gegen das erkannte schlechthin Gute und damit auch gegen sein Heil entscheiden könnte. Alternativenfreiheit setzt die Möglichkeit voraus, eine Wahl zu begründen, und die Fähigkeit, dem Urteil über die mit guten Gründen hic et nunc vorzuziehende Alternative auch zu folgen. Wo das nicht mehr freiheitstheoretisch im Blick ist oder auch nur faktisch keine Rolle spielt, ist die Beliebigkeit an die Stelle freier Entscheidung getreten. Das heißt umgekehrt: Die Selbstursprünglichkeit der Wahlfreiheit besteht nur im Bezug auf eine jeweils wählbare bessere, verheißungsvollere Alternative. Im Blick auf die Bestimmung des Menschen – auf „die Dinge …, die höher sind“ als der Mensch (De servo arbitrio, a.a.O., 200) – kann der Mensch eine solche verheißungsvolle Alternative aber nicht selbst hervorbringen. Sie muss sich ihm erschließen, ihm geschenkt werden. So ist die Wahl
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5. Gnade und menschliche Freiheit
hier unabdingbar-gleichursprünglich an das Sich-Erschließen einer verheißungsvollen Handlungs- und Lebensmöglichkeit gebunden, der sich der Mensch in der Wahl selbst öffnen muss – und sich gleichwohl aus vielleicht verstehbaren Gründen nicht öffnen kann, aus kaum noch verstehbaren Gründen nicht öffnen will. Auch wenn man mit Menke gnadentheologisch daran festzuhalten hat, dass „[d]ie rechtfertigende Gnade … dem Menschen wirkliche Freiheit“ ermöglicht, wird man seiner Behauptung widersprechen, sie sei „ihrem Adressaten nicht innerlicher als dieser sich selbst.“5 Gnade will den Menschen von einem Beherrschtwerden befreien, das ihn nicht mehr Herr im eigenen Selbst sein lässt, ihm die Möglichkeit genommen hat, sich frei zu bestimmen. Diese Möglichkeit wird ihm (zurück)gegeben, da ihm eine verheißungsvolle Möglichkeit – der Zugang zu wahrhaft erfülltem Leben – inspirierend nahekommt und ergreifbar wird. Wenn man sich die Frage stellt, warum Menschen von der Gnade nicht ergriffen und zum Mitwirken an ihrer Heiligung verwandelt werden, bleiben zwei Antwortmöglichkeiten, die beide in die Aporie führen, weil man in beiden Fällen auf eine bloße Willkürentscheidung rekurrieren müsste: auf einen exemplarischen Fall grundloser, absolut irrationaler Wahl, was den Begriff der freien Wahl aufheben würde. Entweder liegt die Antwort auf diese Frage in der Willkürentscheidung der göttlichen Prädestination, die grundlos darüber entschieden hat, wem das schlechthin Gute befreiend nahe kommt und wem nicht. Oder sie liegt in der Willkürentscheidung des sich verweigernden Menschen, der sich gegen sein Heil entscheidet, obwohl er seiner an der Schwelle zum Glauben ansichtig geworden sein müsste, um sich gegen es entscheiden zu können. Der Rekurs auf blinde Willkür führt im einen wie im anderen Fall zu keiner konsistenten Lösung. Wir wissen nicht nur nicht, was es bedeuten soll und wie es sein kann, dass das Verhältnis Gottes zum Menschen letztlich von Willkür bestimmt wäre. Wir wissen auch nicht, was es bedeuten soll und wie es sein kann, dass ein Mensch sich sehenden Auges gegen sein Heil entscheidet – und gegen die Gnade, die es ihm zugänglich macht. Beide Antwortmöglichkeiten sind in sich unmöglich; und in ihrer inneren Unmöglichkeit verweisen sie aufeinander. Ein konsistenter Gedanke kommt nur zuwege, wenn man zunächst einmal zum augustinischen Nicht ohne zurückkehrt. Einerseits: Gottes Nahekommen in der Gnade erreicht mich nicht, ohne dass ich mich erreichen lasse. Andererseits: Ich kann mich von Gottes Gnade nicht erreichen lassen, wenn sie mir nicht die schlechthin verheißungsvolle Perspektive er-
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füllten Menschseins von sich aus erschließt. Die entscheidenden Operatoren in diesen Aussagen – sich erreichen lassen und erschließendes nahe kommen – müssen sich wechselseitig relativieren, wenn sie denkbar bleiben sollen. Man kann nur nachvollziehen, dass das Sicherreichen-Lassen als Korrektiv fungiert zum einfach von sich her (von Gott her) geschehenden Nahe-Kommen, und dass das Nahekommen ein Sich-nahe-gehen-Lassen erfordert, wenn es Menschen nicht überwältigen soll. Wenn diese Analyse stimmt, so ist damit nicht eine Reductio in mysterium (ein Rückzug ins Geheimnis) vollzogen oder eine „paradoxale Denkform“ anempfohlen.6 Es wäre vielmehr aufgewiesen, wie sich die beiden elementaren Weisen, von Freiheit zu sprechen – das Konzept selbstursprünglicher Wahl- oder Alternativenfreiheit und das Konzept der befreiten Freiheit – gegenseitig erfordern und relativieren müssen, und das nicht erst im Blick auf das Geheimnis der Heilsgeschichte, sondern schon im Blick auf unabdingbare Gegebenheiten menschlicher Freiheitserfahrung. Menschliche Freiheit hat gleichursprünglich partizipativen Charakter und den Charakter der Selbstursprünglichkeit. Freiheit wird wirklich, sie realisiert sich in einem freien Willen, da sie Anteil gewinnt an einer befreiend-verheißungsvollen Perspektive erfüllten Lebens und diese Verheißung willentlich ergreift, die sie nicht aus sich selbst haben kann. Wie dieses Ineinander und Miteinander jeweils Wirklichkeit wird, das lässt sich nicht mehr in allgemeinen Begriffen umschreiben, allenfalls im konkreten Fall erzählen, denn es ereignet sich lebensgeschichtlich konkret im je eigenen Zusammenspiel. Wenn man die innere Struktur dieses Zusammenspiels, worin Freiheit geschehen kann, einigermaßen aufgehellt hat, wird man nicht mehr genötigt sein, Alternativen zu erzwingen: Gottes Souveränität oder selbstursprüngliche menschliche Freiheit; zuerst die Gnade oder zuerst die Freiheit; zuerst Selbstbestimmung oder zuerst das Bestimmtwerden. Es ist offenkundig, dass die Geschichte der gnadentheologischen Konflikte zwischen den Konfessionen, aber – wie sich zeigen wird – auch innerhalb der römisch-katholischen Theologie eine Geschichte der Alternativen-Anschärfung ist, in der die Rücksicht auf jeweils von den „Gegnern“ geltend gemachte andere Elemente des Zusammenspiels von Gnade und Freiheit aus dem Blick gerieten. Sie müssen nicht aus dem Blick geraten. Man kann sie etwa bei Luther selbst identifizieren, wenn man mit der finnischen Lutherdeutung das Rechtfertigungsgeschehen als trinitarisch geordnetes Anteilgeben Gottes und als Teilhabe des Menschen an Gottes Inners-
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5. Gnade und menschliche Freiheit
tem versteht, welche nicht zur Aufhebung der menschlichen Eigenwirklichkeit, sondern zu ihrer Vollendung führen soll: Gottes SelbstGabe will von uns aufgenommen werden und unser Selbst wirklich machen. Da sind also – schreibt Luther in seiner Schrift „Vom Abendmahl Christi“ (1528) – „die drei Personen und ein Gott, der sich uns allen selbst ganz und gar gegeben hat mit allem, was er ist und hat. Der Vater gibt sich uns mit Himmel und Erde samt allen Kreaturen, dass sie uns dienen und nützlich seien. Aber diese Gabe ist durch Adams Fall verfinstert und nutzlos geworden. Darum hat sich danach der Sohn selbst uns gegeben, alle seine Werke, Leiden, seine Weisheit und Gerechtigkeit geschenkt und uns mit dem Vater versöhnt, damit wir wieder lebendig und gerecht werden, auch den Vater mit seinen Gaben erkennen und haben möchten. Weil aber diese Gnade niemand nützlich wäre, wenn sie unzugänglich [heimlich verborgen] bliebe und nicht zu uns kommen könnte, so kommt der Heilige Geist und gibt sich uns ganz und gar. Er lehrt uns, die uns von Christus erwiesene Wohltat erkennen, hilft, sie zu empfangen und zu behalten, sie nützlich zu gebrauchen, auszuteilen, zu mehren und zu fördern […]“ (WA 26,505–506).
Die innere Struktur von Freiheit und Selbstwerden durch Teilhabe steht auch in der Geschichte der katholischen Gnadentheologie gerade bei „Spitzenformulierungen“ mitunter im Hintergrund. Dass dieser Hintergrund nicht immer hinreichend theologisch ausgeleuchtet wird, zeigte sich in Kontroversen, die heute vielfach als nutzlos empfunden werden, weil die Kontrahenten die Begrenztheit ihrer eigenen Perspektive nicht mehr im Blick hatten. Wie die oft so unversöhnlichen Alternativen aufeinander bezogen werden müssten, das hat Karl Rahner in einer berühmt gewordenen Spitzenformulierung seiner Gnadenlehre artikuliert, wenn auch nicht expliziert. Zwei „sicher gegebene Tatsachen“ dürften – so Rahner – nicht deswegen bestritten werden, „weil wir sie nicht auseinander oder aus einem dritten ableiten können oder ein drittes Wie und Warum ihrer Koexistenz nicht aufzuweisen vermögen. Totale Herkünftigkeit von Gott in allem und eigenständige Freiheit sind solche Tatsachen.“7 Das „Wie und Warum“ der Koexistenz von Gnade und Freiheit lässt sich – wenn auch nicht aus einem zugrunde liegenden Dritten – doch aufweisen: Selbstursprünglichkeit setzt aus den genannten Gründen Hervorgerufensein voraus bzw. ist dessen Geschehen im Menschen. So ist Rahners Formel tatsächlich wegweisend, Herkünftigkeit und Selbststand verhielten sich nicht reziprok (in einem umgekehrten Verhältnis), sondern gleichsinnig zueinander; nicht: je mehr (gnadenhafte)
5.3 Der Gnadenstreit
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Herkünftigkeit, desto weniger Selbststand bzw. umgekehrt je mehr Selbststand, desto weniger Herkünftigkeit, sondern: je mehr Herkünftigkeit, desto mehr Selbstsein, je weniger Herkünftigkeit desto weniger Selbstsein.8 Der Weg, der hier gewiesen wird, war in der katholischen Theologie nach Trient keineswegs immer deutlich absehbar. Man wird sogar sagen müssen, dass die in den Formulierungen des Konzils aufweisbaren Aporien wie die Aporien der interkonfessionellen Auseinandersetzungen sich im innerkatholischen Diskurs selbst aufdrängten und zuspitzten, etwa in jener exemplarischen Auseinandersetzung, die man in der Folge „den“ Gnadenstreit nannte. 5.3 Der Gnadenstreit in der katholischen Theologie Das Konzil von Trient macht im Rechtfertigungsdekret einerseits die auch dem Sünder verbleibende Entscheidungsfreiheit stark und andererseits – durchaus im Konsens mit der Reformation – die zuvorkommende Gnade, die alles heilsbezogene Sich-Verhalten des Menschen ermöglichen muss. Wie aber sind Gottes absolutes Zuvorkommen und die Selbstursprünglichkeit menschlicher Freiheit in einem konsistenten Gedanken miteinander vermittelbar? Das Tridentinum lässt die katholische Theologie mit dieser Frage weitgehend allein. Gerade die reformatorische Herausforderung und der Augustinismus der lutherischen Rechtfertigungslehre zwangen aber dazu, die Vermittlung so zu denken, dass man dem Gnadenverständnis gegen das Rechtfertigungsdenken der Reformation ein römisch-katholisches Profil gab, ohne die Autorität des Augustinus zu untergraben. Auslöser oder kritisches Zentrum der lang andauernden Diskussionen war die Frage, die oben schon die Zuspitzung der Alternativen provozierte: Wie ist zu denken, dass die einem Menschen zukommende, gnadenhafte Berufung zum Heil-eröffnenden Glauben von diesem doch abgelehnt wird? Der Jesuit Luis de Molina (1535–1600) entwickelte dazu ein Gedankenexperiment: Es kann sein, „dass von zwei Menschen, die durch die gleiche innere Gnadenhilfe berufen werden, der eine aufgrund seiner freien Willensentscheidung sich bekehrt und der andere im Unglauben verharrt.“9 Sein Kontrahent, der Dominikaner Domingo Bañez (1528–1604) wendet sich mit Entschiedenheit gegen Molinas These, es hänge letztlich von der Freiheit des Menschen ab, ob die innere Gnadenhilfe zur Umkehr – die vorbereitende zuvorkommende Gnade – im Sünder zum Ziel komme
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5. Gnade und menschliche Freiheit
oder nicht. Er meint widersprechen zu müssen, „weil Gott selbst jenen [den Sünder] in letzter Hinsicht vorbereitet durch die gewährten Gnadenhilfen, beziehungsweise diese Gnadenhilfen den anderen, der sich nicht bekehrt, in letzter Hinsicht nicht vorbereiten.“10 Kommt Bañez damit nicht in gefährliche Nähe zu den Dunkelheiten der augustinischen Prädestinationslehre, aber auch zu entsprechenden Annahmen bei den Reformatoren des 16. Jahrhunderts? Warum riskiert er diese offene Flanke? Bañez will gut augustinisch an der Unüberwindlichkeit der Gnade festhalten. Wenn Gott Menschen in entsprechender Weise – durch vorbereitende, aktuierende, helfende, stützende, versöhnende und vollendende Gnadengaben – begnadet, kommt seine Gnade in ihnen unfehlbar wirksam (efficax) zum Ziel. Etwas anderes zu behaupten, würde Gottes Allmacht und die Vollkommenheit seines Handelns am und im Menschen in Zweifel ziehen. Es kann letztlich nicht am Menschen liegen, ob die Gnade an ihm heilswirksam wird, sondern an Gottes Vorherbestimmung. Zu dieser Konsequenz sieht sich Bañez auch durch allgemeinontologische Überlegungen gedrängt. Er sieht die Feststellung des Paulus „Was aber hast du, was du nicht empfangen hast?“ (1 Kor 4,7) auf der Spur seines Ordensheiligen Thomas von Aquin in einen schöpfungstheologischen Rahmen: Die Schöpfungsordnung ist eine Ordnung des Könnens, von Potential(ität)en, aus denen Realitäten werden können. Die Überführung der Potentialitäten in Aktualität – in Wirk-lichkeit – bedeutet einen Seins- bzw. Vollkommenheitszuwachs, der den Geschöpfen wiederum vom Schöpfer mitgeteilt sein muss. Er wirkt in diesem Sinne tatsächlich „alles in allem“ (1 Kor 12,6); er wirkt das Wirklichwerden, ist – wie Luther in seinem Verständnis der Allwirksamkeit Gottes es sich vorstellt – die Energie des Wirklichwerdens.11 Das Mehrwerden der Potentialitäten durch ihre Verwirklichung wird von Gottes aktuell wirksamer Schöpfermacht getragen; sie steht nicht in der Macht menschlich-natürlichen Könnens. So ist auch die Realisierung von Möglichkeiten durch freie menschliche Entscheidung die Verwirklichung eines Mehrwerdens, das von Gott ermöglicht oder gegebenenfalls nicht ermöglicht wird, in welchem Falle es eben nicht geschieht. Das heißt dann aber, dass die menschliche Freiheit nur das verwirklichen kann, was ihr von Gott in seiner Verwirklichung ermöglicht wird. Das gilt für den Bereich des natürlichen Lebens – im Blick auf das, was „unter uns ist“ – ebenso, wie für den Bereich der ausdrücklichen Gottesbeziehung, in der die Umkehr des Sünders und seine Begnadung Wirklichkeit werden
5.3 Der Gnadenstreit
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können. Die verwirrende Pointe des Gedankens bei Bañez ist nun diese: Auch für die Entscheidung zur sündigen Verweigerung gilt, dass in ihr Verwirklichung geschieht: das Mehrwerden bloßer Potentialität zur Wirklichkeit. So muss dem Sünder die Realisierung der Sünde von Gottes Allwirksamkeit ermöglicht werden. Sie würde unterbleiben, wenn Gott nicht den Übergang vom bloß Möglichen zur Wirklichkeit hin wirkte. Umgekehrt gilt für die Gnade: Sie verwirklicht sich nicht – sie verwirklicht nicht die Umkehr des Menschen und ihre Verwirklichung in seiner Heiligung –, wenn Gott dies nicht durch seine Verwirklichungsmacht erwirkt. Wie könnte dann die Freiheit des Menschen so etwas wie eine Kausalität sein, die einen eigenständigen Anfang setzt oder jedenfalls darüber entscheidet, in welche Richtung der von Gott gesetzte Anfang wirklich, vielleicht auch verhindert wird? – Das wäre ja erst das Verständnis von Freiheit, das sich neuzeitlich durchgesetzt hat und durch Kant kanonisch wurde. Aus heutiger Perspektive liegt das Problem dieser Konzeption darin, dass das Verhältnis von göttlicher Ermöglichung (des Wirklichwerdens) und menschlich-eigenständigem Verwirklichungshandeln unter den gegebenen Denkvoraussetzungen nicht mehr geklärt werden kann, so dass der ontologische Vorrang der göttlichen Verwirklichungs-Dynamik das menschliche Verwirklichen aus Freiheit um jeden Eigenstand bringt. In der Gnadentheologie hat das zur kaum vermeidbaren Konsequenz, dass unbegriffen bleiben muss, wie der Mensch sich in das Gnadengeschehen einbringen kann, da hier alle Verwirklichung von Gott gegeben und von ihm eben nicht gegeben wird, wenn sie ausbleibt. Das bañezianische Konzept stellt jeden Übergang von der Möglichkeit zur Wirklichkeit im Sinne der aristotelisch-thomistischen Potenz-Akt-Lehre als ein ontologisches MehrWerden vor, das nur durch Gottes verwirklichendes Einwirken möglich wird. Die Rolle der menschlichen Initiative in der Verwirklichung eines ihm Möglichen wird dann kaum noch einleuchtend beschreibbar: Menschlich-„freie“ Initiative verwirklicht ja; und als verwirklichend ist sie von Gott ermöglicht. Wie vermag sie dann etwas aus sich selbst? Die Konsequenzen aus dieser ontologischen Rahmenvorstellung für eine nachtridentinische, gegen Luthers Konzept des unfreien Willens formulierte Gnadenlehre liegen auf der Hand.12 Luis de Molina sucht ihnen zu entgehen und hält am Gegebensein der endlichen Entscheidungsfreiheit fest. Ein endlich freies Wesen ist dasjenige, „was bei Gegebensein aller Vorbedingungen zum Handeln tätig oder
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5. Gnade und menschliche Freiheit
nicht tätig sein kann beziehungsweise so handeln kann, dass es jeweils auch das Gegenteil seiner Handlung tun könnte“.13 Molina bleibt freilich seinerseits der Potenz-Akt-Ontologie verpflichtet und nimmt deshalb einen Concursus divinus an: ein Mitwirken Gottes, das die Realisierung neuen Seins durch die freie Entscheidung des Menschen ermöglichen muss. Aber Gott setzt seine schöpferische Allmacht dazu ein, „dem Geschöpf unmittelbar zur freien Verfügung bereitzustehen, wann und wie immer dieses aus sich heraus tätig werden will.“14 Wenn es von der freien Entscheidung des Menschen abhängen sollte, in welche Richtung sich die von Gott zur Wirklichkeit gebrachten Entwicklungen vollziehen, hängt es dann nicht auch letztlich vom Menschen ab, ob und wie Gott mit seinem Heilswillen bei jedem einzelnen Menschen und in der gesamten Menschheitsgeschichte zum Ziel kommt? Was beim einzelnen Menschen vielleicht nicht ausgeschlossen werden kann, ist für die gesamte Geschichte schwer anzunehmen. Molina will diese Konsequenz vermeiden; sie hätte ihn ja in direkten Gegensatz zur augustinischen Lehre von der Allwirksamkeit Gottes und der unfehlbaren Wirkung seiner Gnade gebracht. So bleibt nur der Ausweg, Gott ein Vorauswissen dessen zuzuerkennen, wozu der Mensch sich in seiner Freiheit entscheiden wird, und ihm aufgrund dieses Vorauswissens (der Scientia media) die Möglichkeit zuzusprechen, seine Gnadenhilfen so zu disponieren, dass sein Heilswerk nicht scheitern wird. Molinas Scientia-media-Konzept15 bot viele Angriffspunkte, unter denen sich einer in der Folge als gravierend herausstellen sollte: Wenn Gott die Möglichkeit zugebilligt wird, seinen Gnadenerweis so zu disponieren, dass der Mensch in Freiheit von der Gnade Gebrauch macht und sein Heil erlangt, warum realisiert Gott diese Möglichkeit dann nicht für alle Menschen? Diese Frage musste dringlich werden, sobald die antiken Theodizee-Argumente ihre Überzeugungskraft verloren, etwa dieses: dass es einen größeren Reichtum an Wirklichkeit bedeute, wenn alle Heils- und Unheils-Möglichkeiten tatsächlich realisiert würden und nicht nur die eine Heilsmöglichkeit für alle Menschen. Die Theodizeefrage stellte sich in Molinas Konzept auch deshalb, weil das Zusammenwirken von göttlicher Ermöglichung und menschlich-freier Entscheidung hier ebenfalls ungeklärt blieb. Das formale Verständnis von Entscheidungsfreiheit schließt es eigentlich aus, dass das Mitwirken Gottes – sei es im Prozess der Schöpfung, sei es beim Wirksamwerden der vorbereitenden Gnade – noch eine Rolle spielen könnte. Die Entscheidungssou-
5.4 Überholte Fragestellungen?
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veränität des Menschen, die diesen neuzeitlich in seinem Selbstbewusstsein auszeichnen sollte, lässt keinen Ort mehr dafür, sich vorzustellen, wie Gott erwirkt, wozu der Mensch sich entschließt – es sei denn, man denkt, wie später Kant, an die postmortale Verwirklichung des vom Menschen dann selbst nicht mehr zu verwirklichenden, aber in moralischer Entschiedenheit gefassten guten Willens. Bei genauerer Klärung des bei Molina Selbstverständlichen – des endlich-freien Willens in seinem Wirksamwerden – hätte erfahrungsnäher einleuchten können, wie Gottes Gnade den freien Willen befreit und so als freien Willen hervorruft: indem sie dem Menschen mit der schlechthin verheißungsvollen Alternative der Berufung zum erfüllten Leben durch und in Gott nahe kommt. Dann aber hätte sich die Gnade-Freiheit-Aporie – wie oben skizziert – nur anders aufgetan. Man hätte sich fragen müssen, wie der Mensch sich gegen die ihm nahe gekommene Heils-Perspektive entscheiden kann und ob das nicht nur geradezu undenkbarerweise so gedacht werden könnte, dass Gott diesem Menschen nicht hinreichend bewegend nahe kommen wollte, jenem Menschen aber schon. 5.4 Überholte Fragestellungen? Sind die zwischen Bañez und Molina umstrittenen Fragen noch die unseren? Sind nicht mit der ontologischen Rahmenvorstellung des Potenz-Akt-Verwirklichungsdenkens und der theo-logischen Rahmenvorstellung der Gnaden-Prädestination auch die Aporien, die sich daraus ergaben, problemgeschichtliche Erinnerungsstücke geworden, die man nicht kennen muss und aus denen man nichts lernen kann?16 Man sollte das nicht zu schnell annehmen oder jedenfalls genauer bestimmen, welche Problematisierungen man vergessen kann und welche Fragen virulent bleiben bzw. in neuer Gestalt wiederkehren. Wie ist es etwa mit der so anstößigen augustinischen Vorstellung einer unfehlbaren Gandenwirksamkeit, die das Gelingen des göttlichen Heilsplans in der Geschichte sichern soll? Kann man theologisch – um der menschlichen Entscheidungsfreiheit willen – mit der Möglichkeit des Scheiterns Gottes in der Geschichte rechnen? Oder sollte die Theologie nicht zumindest die Vernünftigkeit einer Hoffnung darauf zu begründen versuchen, dass Gottes schöpferisches Allvermögen Wege finden wird, Menschen zur Fülle ihres Lebens zu „verlocken“?17 Die in diese docta spes (die so weit als möglich ratio-
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5. Gnade und menschliche Freiheit
nal zu rechtfertigende Hoffnung) investierten ontologischen Vorstellungen werden sich weniger an einem herkunftsbestimmten als einem zukunftsbestimmten Wirklichkeitsverständnis orientieren: an der Hoffnung auf eine Fülle des Lebens, die jetzt schon im Hoffnung gründenden, gnadenhaften Nahekommen Gottes gegenwartswirksam werden und vom Menschen so ergriffen werden kann, dass er aus und mit dem guten Willen Gottes, der ihm so nahe kommt, in die Heilszukunft hinein handelt. Die gnadentheologischen Vorstellungen nehmen ein allgemein ontologisches Modell in Anspruch, können aber auch dazu beitragen, dieses Modell zu erweitern und so etwa einen Zugang zur Ontologie des Concursus divinus zu finden, die ihrerseits dazu beiträgt, das Wirksamwerden der Gnade besser zu verstehen. Es liegt vielleicht doch nicht außerhalb unseres Vorstellungshorizonts, Gott als bewegend mitten in seiner Schöpfung wahrzunehmen. Von der Tradition wurde die ontologische „Nötigkeit“ seines Concursus darin gesehen, dass Menschen sich nur durch ihn nach Seins-Höherem ausstrecken und es ergreifen könnten. Weshalb aber sollte man noch darauf rekurrieren, dass Gott die Realisierung dieses meines Könnens trägt und in meinem Mehrwerden – meiner „Selbstverwirklichung“ – kreativ wirkt, wenn nach der Evolutionslehre das Mehrwerden als Dynamik der Natur selbstverständlich begreiflich wurde? Wie kann man – mit Paulus, Luther, Bañez – jetzt noch davon sprechen, dass Gott alles in allem wirkt? Man könnte Gott und seine Schöpfungs- wie seine Gnadengegenwart als die Herausforderung in allen Schöpfungsgegebenheiten ansehen, diese auf Zukunft hin zu leben, sie zu „durchleben“, aus ihnen und durch sie auf eine gute Lebensperspektive hin zu leben. Diese Schöpfungs- und Lebensperspektive erschließt das Gegebene als meine Lebensmöglichkeit, als Herausforderung zum guten, erfüllten Leben. Wenn sie sich tatsächlich als heilvoll erschließt, ist sie Gottes Gnadenangebot und Gnaden-Herausforderung: Aus der natürlichen Herausforderung, die Welt auf Zukunft hin zu durchleben, wird die Herausforderung zu einem erfüllten Leben aus Gott und in ihn hinein, die Herausforderung zur Teilnahme an der Gottesherrschaft. Die noch zu analysierende Unterscheidung zwischen Natur und Gnade (Übernatur) wird durchlässig: In der Natur, die nicht nur Reich der Notwendigkeit ist, wirkt schon Gottes Herausforderung; die Herausforderung: nicht nur ein Element unter Elementen zu sein, sondern Zukunft zu gestalten, sie mit zu verantworten im Gestalten von Lebensbeziehungen. Das kann auf die schöpfungswidrige Unterjochung der „Welt“ zum bloßen Material hinauslaufen. Es kann aber auch so
5.5 Gnade als verheißungsvolle Herausforderung
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geschehen, dass ich im Gegebenen lebendig werde und das Gegebene durch mich verlebendigt wird, weil ich die verheißungsvolle Herausforderung höre und annehme, am Schöpfungs-Sinn des naturhaft Gegebenen mitzuwirken. 5.5 Gnade als verheißungsvolle Herausforderung Das Wort „Herausforderung“ ist im alltäglichen Sprachgebrauch abgegriffen, fast ein Reklameklischee, das vor allem Produkte mit Männlichkeits- oder Entschlossenheits-Appeal an den Mann und die Frau bringen soll. Gnadentheologisch aussagekräftig wäre es, wenn man ihm anhörte, wie alle Formen der Herausforderung darauf abzielen – und versprechen –, dass Leben ins Leben kommt, dass in meinem Leben eine Energie geweckt und erfahrbar wird, die „abruft“ und aktiviert, was in mir ist an Potentialen und Fähigkeiten. Herausgefordert werde ich – so die vielfach genutzte Reklamebotschaft – aus Lethargie und Selbstverfehlung oder Selbst-Unterbietung, aus Lebenseinstellungen, in denen ich die Möglichkeiten meines Lebens verschleudere, nicht lebe, was in mir „steckt“. Herausgefordert werde ich, indem mir etwas zugänglich wird, das mich lebendig macht, mir zu intensiverem, „gesteigertem“ Leben verhilft. Diese Message mag noch so trivial daher kommen. Sie kommuniziert das Vermissen oder die Erfahrung einer Dynamik, die in mir hervorgerufen werden müsste, damit ich mich auf den Weg der Selbstrealisierung – der Selbsttranszendenz – mache und dabei erst mich finden und erfahren kann. In meine Selbstrealisierung wäre ich mit allem, was mich ausmacht, einbezogen; so einbezogen, dass es dabei meine Wirklichkeit werden kann. Was ich in mir selbst bin und sein kann, „kommt heraus“, da es mich in den Beziehungen und Konstellationen, in denen ich mich vorfinde, zum Selbst-Werden, zur Selbstbestimmung unterwegs sein lässt. Ich weiß mich herausgefordert, in diesem Feld der Bedingungen meines Lebens mich zu finden, zu realisieren und zu transzendieren auf eine Zukunftsgestalt meiner selbst und „meiner“ Welt hin, in der erfülltes Leben möglich sein wird. In der Herausforderung zu Selbstrealisierung und Selbsttranszendenz mag sich – gut nietzscheanisch – die Stimme des „höheren Lebens“ Gehör verschaffen. In schöpfungs- und gnadentheologischer Artikulation wird man sagen, Gott selbst komme mir mit seiner „Verlockung“ nahe, mich in seine göttliche Liebe hinein zu transzen-
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5. Gnade und menschliche Freiheit
dieren und an ihr teilzunehmen. Die amerikanische Prozesstheologie versteht diese göttliche Verlockung zum Mehr-Sein als universales, theo-ontologisches Prinzip: Gott bringt sich selbst in dieses Engagement für die Selbsttranszendenz der Geschöpfe und des ganzen Kosmos auf mehr Leben hin ein. Er wird „zu einem immanenten ‚Faktor im Universum‘“, der nicht souverän „von außen“ in es eingreift, sondern im Modus einer „teilnehmenden Erwiderung“ persuasiv (überredend) von innen heraus auf seine Schöpfung einzuwirken sucht.18 Gottes Teilnahme ermöglicht Selbsttranszendenz zur Teilhabe an seinem Leben. Er bewirkt sie nicht nach Art einer bloß antreibenden Dynamik, sondern in persuasiver Kommunikation im evolutiven Prozess der Schöpfung.19 Seine Schöpfungs-Immanenz lässt ihn tatsächlich am Werden des evolutiven Kosmos beteiligt und auf das ZumZiel-Kommen seiner „Überredung“ angewiesen sein. Er ist für sich selbst nicht immer schon am Ziel, sondern zuinnerst in die Selbsttranszendenz der Schöpfung involviert, so dass er in bestimmter Hinsicht in ihr selbst wird. So würde – in Radikalisierung der Position Molinas – für die Gnade gelten, dass ihr Zum-Ziel-Kommen ganz in die Hände der Menschen gelegt ist und Gott mit den Angeboten seiner Gnade dialogisch-persuasiv darauf eingeht, wie die Menschen sich seinem Angebot öffnen. Die prozesstheologischen Intuitionen sind gnadentheologisch höchst fruchtbar. Man wird aber nicht sagen können, dass die hier gebrauchten Leitmetaphern zur Beschreibung des Verhältnisses zwischen Gott und Kosmos bzw. Gott und den Menschen die darin ausgesprochenen Beziehungen hinreichend klären. Sehr einleuchtend arbeitet die Prozesstheologie heraus, dass die Teilhabe der Menschen an Gottes Wesen und gutem Willen die Teilnahme Gottes am Menschsein in all seinen Dimensionen und Aporien zur theo-logischen Voraussetzung hat. Das ist theologisch vor allem in der Christologie auszuformulieren, aber vielleicht nur in den Christologien des Ostens mit einiger Konsequenz bedacht worden. In Jesus Christus nimmt Gott bis in den Tod hinein teil an einem in seiner Zukunftsfähigkeit und Menschlichkeit zutiefst bedrohten Leben. Nur als in Jesus Christus und durch den Heiligen Geist am menschlichen Leben Teilnehmender kann er Menschen im Innersten herausfordern, sich so für das erfüllte Leben in der Gottesherrschaft engagieren zu lassen, dass ihr Reich-Gottes-Handeln frei aus ihrem Innersten entspringt, in Luthers Worten: mit Lust geschieht. Das bringt die Metapher der persuasiven Kommunikation prägnant zum Ausdruck. Aber muss man so weit
5.5 Gnade als verheißungsvolle Herausforderung
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gehen, Gott als einen dem Kosmos „immanenten Faktor“ anzusehen? Oder sollte man die Metaphorik der Kommunikation ernster nehmen, die bei allem Miteinander, aller wechselseitigen Teilhabe und Teilnahme ein bleibendes Gegenüber assoziiert? Die Einwände gegen das prozesstheologische Denken richten sich gegen die in ihm wahrgenommene Tendenz zum Pantheismus (Gott ist alles, jedenfalls das Innerste all dessen, was ist) oder zum Panentheismus (Gott ist in allem, was ist; seine Immanenz trägt und finalisiert alles). Der Pantheismusvorwurf ist überzogen; eine monistisch-panentheistische Option aber wird man der Prozesstheologie unterstellen dürfen. Wäre das ein Gegenargument?20 Auf jeden Fall wird man christologisch, pneumatologisch und dann gnadentheologisch die Immanenz Gottes in seiner Schöpfung stärker zur Geltung bringen müssen, als dies im theologischen Schulbetrieb meist geschah. Aber man hätte zugleich deutlich zu machen, dass diese Immanenz personalen bzw. personalisierenden Charakter hat. Sie ist nicht zu verstehen im Sinne einer dem Kosmos immanenten Evolutionsenergie, etwa „als „Selbstorganisations-Dynamik auf vielen Ebenen, als eine Dynamik, die selbst evolviert.“21 Sie hat eher den Charakter personal-kommunikativer Präsenz, von der die personalisierende – Menschen zu ihrem Selbst-Werden provozierende – Herausforderung ausgeht, sich Gottes gutem Willen zu öffnen und an ihm teilzunehmen.22 Der biblisch-religiöse Name dieser Herausforderung ist Berufung. Gnade ist – so Karl-Heinz Menke – „die Berufung, die Gott jedem Menschen schenkt“ und darin „das Geschenk unverwechselbarer Personalität“, die Berufung, zu sein, was man empfängt.23 Damit wäre aber auch gesagt, dass der oder die Berufene ihre „Berufung annehmen oder ablehnen [kann]. Wer sich verweigert, ist wie eine Pore, die sich dem Leben schenkenden Wasser verschließt. Und umgekehrt: Wer ‚Ja‘ sagt, wird zu einem Mittel und Werkzeug des Handelns Gottes in der Welt.“24 Die hier gewählten Metaphern sind vielleicht nicht personal ansprechend; aber sie assoziieren hinreichend, was gemeint ist: Gnade will mit den Menschen und durch sie die Verwandlung der Menschenwelt in Gottes Herrschaft auf den Weg bringen und die Menschen, die sich ihr öffnen, selbst zur gnadenhaften Herausforderung machen, sich von diesem Werk in Anspruch nehmen zu lassen. Diese personalisierende Auswirkung der Gnade als Berufung schenkt die Freiheit, sich von mehr und anderem bestimmen lassen zu können als von gesellschaftlichen und individuellen Selbstbehaup-
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5. Gnade und menschliche Freiheit
tungsdynamiken. Sie schenkt dem Menschen – wenn sie in ihm zum Ziel kommt – die Reich-Gottes-Leidenschaft für erfülltes Leben in Gottes-Gerechtigkeit, die sein Leben lebendig machen kann und ihm ein Ja ermöglicht, in dem er mit all seinen menschlichen Möglichkeiten, Hoffnungen und Erfahrungen zu sich selbst, zu den Mitmenschen und zu Gott finden – in dem er seine Identität aussprechen und sein Selbst angesprochen wissen kann. Wie aber steht es um seine Entscheidungsfreiheit, die Gnade anzunehmen oder sie abzulehnen? Ist sie nicht der Freiheit zum Ja vorzuordnen, die ihm die Gnade erst eröffnet? Ist es nicht erst die Entscheidungsfreiheit, die den Menschen als Person ausmacht? Wir stehen erneut vor der Frage, wie Freiheit und Gnade zusammengehören. Der Augustinismus hat sie der Christentumsgeschichte mit auf den Weg gegeben. Muss diese Frage unter der Voraussetzung des neuzeitlichen Freiheitsbewusstseins neu gestellt und so beantwortet werden, dass der Gedanke der Selbstbestimmung endlich über den augustinisch-paulinischen Gedanken des Zur-Freiheit-befreit-Werdens25 obsiegt? 5.6 Neuzeitliches Freiheitsbewusstsein vs. rechtfertigungstheologische Befreiungsbotschaft? Neuzeitliches Freiheitsbewusstsein steht, so die gängige Wahrnehmung, unter dem Vorzeichen der Autonomie, der Selbst-Gesetzgebung. Freiheit ist gegen das bloße (vitale) Wollen – gegen meine Neigungen – im Gehorsam gegen ein Sollen zu realisieren, das mir nicht von außen auferlegt ist, sondern einem Gesetz folgt, welches ich mir im unwiderlegbaren Spruch meiner Vernunft selbst gebe. Unwiderlegbar ist dieser Spruch nach Immanuel Kant deshalb, weil er mein Sollen nach der für die Vernunft konstitutiven Verallgemeinerungsregel bestimmt: Nicht mein partikularer Eigenwille soll geschehen, sondern die Norm soll erfüllt werden, die in dieser Situation von allen und im Blick auf alle anerkannt werden müsste.26 Endliche Freiheit beruht auf dem Vermögen vernünftiger Alternativenprüfung; dieses aber setzt voraus, dass die freie Entscheidung nicht einem naturbedingten Wollen folgen muss, sondern sich bejahend oder zurückweisend zu Handlungsalternativen verhalten und diese vernünftig beurteilen kann. Das Freiheitsbewusstsein erschließt sich – so Thomas Pröpper – „als unsere Fähigkeit, zu schlechthin allem (zu jeder Gegebenheit, jeder Forderung, sogar noch zum eigenen Dasein)
5.6 Freiheitsbewusstsein vs. Befreiungsbotschaft?
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uns verhalten zu können, d.h. jedes Gegebene distanzieren, es überschreiten und dann bejahen oder verneinen zu können. Also ist Freiheit“ – so Pröpper weiter – „zu denken als spontanes Sichverhalten, als grenzenloses Sichöffnen und ursprüngliches Sichentschließen: als (mit einem Wort) Fähigkeit der Selbstbestimmung.“27 In diesem ursprünglich sich aufschließenden, durch keine Bedingtheit festgelegten, also unbedingten Sichöffnen wird Freiheit als formal unbedingte vollzogen. Nichtfestgelegtsein ist das Eine: Ich muss weder meinen inneren vitalen Antrieben noch einer mich zwingenden äußeren Direktive folgen, kann mich distanzieren und entscheiden, wie ich handeln und wer ich demzufolge sein will. Aber was unterscheidet selbstbestimmtes Sich-Verhalten- und Zu-Möglichkeiten-in-Beziehung-setzenKönnen von purer Beliebigkeit? Meine Selbstbestimmung müsste – das ist das Andere – einer Vernunft-Verbindlichkeit folgen, die sie frei an-erkennt, weil sie es als gut bzw. gar als schlechthin gut erkennt, ihr zu folgen. Freiheit muss sich als sehende und erkennende Freiheit realisieren: in der an-erkennenden Bindung an ein Gut, das ich in freier Entscheidung vernünftigerweise anerkennen soll, weil es als in dieser oder jener Hinsicht oder als absolut bejahenswert erkannt ist. Aber wie kommt es zu solcher Erkenntnis? Was ist ihr Kriterium? Der von Kant gebahnte Weg transzendentalen Denkens in der praktischen Philosophie will vom Einen – dem Gedanken der Selbstbestimmung – in der kürzest-denkbaren Entfernung zum Anderen gelangen – der inneren Vernunft-Verbindlichkeit des in Selbstbestimmung zu Wählenden. Freie Selbstbestimmung an-erkennt sich selbst als das unbedingt Seinsollende und unterliegt damit der Verallgemeinerungs-Regel: Das unbedingt Seinsollende – Selbstbestimmung – ist in seiner Vernünftigkeit nur erkannt, wenn seine allgemeine Gültigkeit mit erkannt ist: Selbstbestimmung soll für alle gelten; und sie soll in allem gelten, wozu ich mich verhalte. Wahre Selbstbestimmung ist – als negativ-formale Freiheit – sowohl die vernünftig-unabdingbare Qualität des freien Willens wie auch sein verbindlicher, unabdingbar verpflichtender Inhalt. Dieser versteht sich in seiner Verbindlichkeit von selbst und entfaltet die bindende Kraft dessen, was eine freie Entscheidung inhaltlich unabdingbar binden muss. In diesem Konzept freier Selbstbestimmung spielt die Frage nur eine Nebenrolle, ob der Mensch aus eigener Kraft zu frei vollzogener und im konkreten Handeln verwirklichter Anerkennung des Guten kommen kann oder auf eine ihm geschenkte Kraft angewiesen ist, die ihn für das An-Zuerkennende öffnet und es auch tun lässt; davon war
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5. Gnade und menschliche Freiheit
schon die Rede. Die Idee der Selbstursprünglichkeit freier Subjektivität kann nicht auf Gnade rekurrieren, wenn es darum geht, den freien Willen zu verstehen. Gnade kann hier nicht als Freiheit erwirkend gedacht werden; das menschlich-endliche Subjekt ist Ursprung seiner Freiheit; es wird nicht erst frei dadurch, dass es an einer ihm gegebenen Freiheit partizipiert. Will man Gnadentheologie transzendental denken, so ist diese Strategie des kürzesten Weges problematisch und doch unumgänglich. Freiheit geschieht in selbstursprünglicher, verbindlich bestimmter Selbstbestimmung. Sie wird nicht „von außen“, sondern nur „von innen“, von sich selbst bestimmt, ist aber insofern auf Gott bezogen, als in ihm die Möglichkeit der Freiheit als deren Wirklichkeit verbürgt ist: Freiheit vollzieht hier immer schon den ihr allein angemessenen Inhalt; hier ist sie auch material unbedingt ewig realisiert, da sie die Anerkennung anderer Freiheit tatsächlich unbedingt – als Liebe – vollzieht. Menschen können sich glaubend, hoffend und liebend in den Selbstvollzug göttlich-absoluter Freiheit zur Liebe einbezogen wissen und an ihm teilhaben.28 Die augustinisch-lutherische Rechtfertigungslehre erscheint mit dem Konzept des selbstursprünglichen menschlichen Freiheitssubjekts nicht mehr kompatibel: Der Sünder wird durch Gnade zur Freiheit befreit (Gal 5,1); er hat die Freiheit nicht aus sich selbst. Nicht aus sich selbst – und doch zu sich selbst (zum anderen und zu Gott), so dass er als von Gott in der Gnade Ergriffener sein Subjektsein in Freiheit ergreifen kann. Könnte dann nicht das transzendentale Konzept einer Selbstursprünglichkeit des menschlich-freien Willens eingebunden werden in ein Konzept der Gleichursprünglichkeit von Selbstbestimmung und befreiendem Bestimmtwerden (Ergriffenwerden) von einer Verbindlichkeit des schlechthin Guten, an welcher der Subjekt-Freiheit aufgeht, worin sie sich realisieren und zur Willensfreiheit ausbilden kann? Aber wie wäre – was neuzeitlich unabdingbar ist – sicherzustellen, dass dieses Bestimmtwerden der Selbstbestimmung zwar heterogen ist, ihr aber nicht widerspricht? In den Bahnen des transzendentalen Denkens argumentiert man auf den „kurzen Wegen“ der Unabdingbarkeit: Ein freier Wille muss Ja sagen zur Selbstbestimmung aller anderen. Sein verbindlicher Gehalt ist durch die freie Anerkennung der anderen Freiheitssubjekte unabdingbar bestimmt. Diese Bestimmung lässt sich womöglich durch den Gedanken einer unbedingten Anerkennung des anderen fortbestimmen; und es lässt sich vielleicht theologisch zeigen, dass dieser Gedanke erst in der Liebe tatsächlich realisiert ist. Liebe aber
5.6 Neuzeitliches Freiheitsbewusstsein vs.
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ist nun endgültig nicht mehr als selbstursprünglich zu denken. In ihr wird offenkundig das Zugleich von Selbstursprünglichkeit und Teilhabe erfahren. Und es ist hier gleichfalls offenkundig so, dass das, woran ich teilhabe, was sich mir im Teilhabenkönnen eröffnet hat, mir erst eine Realisierung meines Subjektseins geschenkt hat, mit der ich mich schlechthin identifizieren kann. Das, wozu ich frei Ja sagen kann, ist nicht gleichsam aus den Unabdingbarkeiten meiner freien Selbstbestimmung auf kurzem Weg transzendental abgeleitet. Es schenkt sich mir; und es schenkt sich mir so, dass ich es als das meine Freiheit erfüllende Geschenk in Selbstbestimmung entgegennehmen kann: als das, was ich in vernünftiger (Selbst-)Prüfung selbst zuinnerst will. Wenn mir dieses Geschenk gemacht wird, so geschieht es mir und offenbart es sich mir als das, „quo majus nil fieri potest, worüber schlechterdings nichts Größeres geschehen kann“.29 In dem, was mir so geschieht, erschließt sich mir, was mich mit den besten Gründen der Welt zuinnerst und aufs Äußerste herausfordert. Es erschließt sich mir, weil es mir schon geschehen ist und darum wirbt, dass ich mich damit identifiziere, mich in den Reichtum einbringe, der sich mir hier geöffnet hat. Im Ergriffenwerden vom Guten sich selbst ergreifen und vernünftig bestimmen zu können, das macht offenkundig das Geschehen von Willensfreiheit ursprünglich aus. Ergriffenwerden von einer als schlechthin vernünftig nachvollziehbaren, ergreifbaren Herausforderung und das Ergreifen des im Ergriffenwerden Sichöffnenden: das sind miteinander gegebene Selbst-Gegebenheiten. Ich bestimme mich selbst, indem ich mein Bestimmtwerden als Geöffnetwerden für das vernünftigerweise zu bejahende Gute und für mich selbst anerkenne. Man kann dieses Konzept der Gleichursprünglichkeit von Selbstbestimmung und Ergriffenwerden von der „Vision“ eines schlechthin Guten, worin Selbstbestimmung sich realisieren kann, dann auch so anlegen, dass man auf Luthers Konzept der Befreiung des Willens zur Willensfreiheit Bezug nimmt. Das formale Vermögen des Sich-entscheiden-Könnens bedarf im Blick auf das, quod supra nos est (was über uns ist), des Zugänglich- und Verheißungsvollwerdens einer Perspektive erfüllten Lebens, in der ich eine wahrhaft gute Alternative vor mir sehe, die ich aus „vollem Herzen“ bejahen und mit der ich mich in einer Entscheidung, die ganz „von innen“ kommt, identifizieren kann. Der Wille wird frei, da er in dieser Alternative das entdeckt, was er zuinnerst und frei-willig – eben nicht „von außen“ angesonnen – will, so dass er zu jener positiv entschiedenen Willenskraft kommt, die ein eigenes, aus mir selbst
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5. Gnade und menschliche Freiheit
entspringendes und gleichursprünglich vom wahrhaft Guten hervorgerufenes Wollen wirklich werden lässt. Der Gedanke ist ebenso einleuchtend wie gefährlich. Vielfach wurde die traumatische Erfahrung einer im schlimmsten Sinn missbrauchten Selbstbestimmung gemacht. Menschen wird ein Wollen „implantiert“, das sie aus sich selbst hervorgehend empfinden, mit dem sie sich scheinbar zuinnerst identifizieren und das ihnen doch eigensüchtig zugefügt wurde. Mir wird die Freiwilligkeit der Unfreiheit eingepflanzt; mein Herz hängt an Abgöttern, die mein Wollen steuern und es mir entfremden. Damit sie ihre Macht über mich verlieren, muss es mir geschehen, dass mir das Geschehen des Guten, worüber Größeres und Besseres mir nicht geschehen kann, zuinnerst nahe kommt und die in Manipulation gefangene Frei-Willigkeit zu sich wie zum Mitwirkenwollen am Guten befreit. Die Befreiung des Wollens kann als solche erfahren und mitgewollt werden, weil das Mitwollen des Bösen Willenlosigkeit ist – oder die mir selbst noch nicht bewusste Enteignung meines eigenen Willens. Mein Wille müsste gestärkt und herausgefordert werden zu dem Wagnis, mehr und Größeres zu wollen als das, was für ein von den Abgöttern in Besitz genommenes Wollen erreichbar ist. Er müsste hungern und dürsten nach der größeren Gerechtigkeit, sich sehnen nach einem erfüllten Leben, zu dem er ohne jede Einschränkung Ja sagen, mit dem er sich tatsächlich identifizieren könnte. Dass ihm diese Willenskraft gestärkt wird zu wahrer Frei-Willigkeit, das ist nicht einfach auf dem kurzen Weg einer vernünftigen Vertiefung in die Bedingungen und Dimensionen menschlicher Selbstbestimmung erlangbar. Es geschieht dem Menschen auf den langen Wegen und Umwegen geschichtlicher Selbst- und Gottesvergewisserung. Es geschieht ihm in Zeugnissen, die ihm bezeugen, dass heilsam geschehen ist und immer wieder geschieht, worüber Größeres nicht geschehen kann: das Geschehen eines schlechthin guten Willens, der mir und ebenso meinen Mitgeschöpfen gilt und an dem ich teilnehmen darf; einer Liebe, die von reinem Wohlwollen beseelt ist und deshalb Quelle alles Guten sein kann. In solchen Zeugnissen, die christlich im Zeugnis von dem in Jesus Christus geschehenen guten Willen Gottes wurzeln und vom Heiligen Geist als Bezeugungen dieses guten Willens in uns lebendig gemacht werden, erreicht uns die Gnade. Sie ermutigt dazu, dem hier Bezeugten zu trauen und sich ihm zu öffnen, es frei-willig mitzuwollen: aus der Herzmitte menschlichen Daseins, in der Verwirklichung dessen, was ich zuinnerst bin und sein will. So erst geschieht Willens-Freiheit:
5.7 Gnade als befreit-befreiende Leidenschaft
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dass ich das wollen und mich mit dem identifizieren kann, wofür ich selbst da sein will, weil ich eingesehen habe und mit ganzem Herzen bejahe, dass es so gut werden kann – mit mir und meinen Mitgeschöpfen. So erst wird die Willens-Schwäche eines unfreien, durch Manipulation ent-eigneten Willens überwunden: Eine Leidenschaft ergreift mich, in der mein Wille auflebt und von mir angeeignet werden kann, weil er von der vernünftigen Verheißung eines erfüllten, guten Lebens inspiriert und zur freien Selbst-Identifikation herausgefordert wird. 5.7 Gnade als befreit-befreiende Leidenschaft Das Zugleich von Bestimmtsein und Sich-selbst-Bestimmen im Selbst-Vollzug menschlicher Freiheit bedeutet keinen Selbst-Widerspruch. Freiheit des Willens liegt gerade „darin, dass er auf ganz bestimmte Weise bedingt ist: durch unser Denken und Urteilen“, 30 darin, dass ich diesen Willen als meinen eigenen will, weil ich erkenne, dass ich mich in ihm verwirkliche: Nicht mehr gewollt werden, sondern einen eigenen Willen haben, sich mit dem Wollen in mir identifizieren können, weil es so will, wie es um meinetwillen, um der Anderen und um Gottes willen gut ist und deshalb gewollt werden soll. Es geht – so Peter Bieri – entscheidend darum, diesen eigenen Willen „auszubilden“, die Wünsche, Bedürfnisse und Hoffnungen, die den Willen aus der Tiefe meiner Physis antreiben, so anzueignen, dass sie mich nicht länger an meinem Selbst vorbei bestimmen, sondern meinem Selbstwerden dienen und es verwirklichen. „Mein Wille ist frei, weil er der Wille ist, den ich haben möchte“31 und mit dem ich mich deshalb identifizieren kann. Der freie Wille ist durch ein Wollen hervorgebracht, in dem ich ganz bei mir sein kann – und in dem, was ich zuinnerst sein möchte, weil ich weiß, dass es so gut wäre. Ein freier, eigener Wille ist bestimmt von einem Gewollten, das ihn so ergriffen hat, dass er es wirklich selbst will; das ihn ergriffen hat, weil er sich von ihm freiwillig hat ergreifen lassen; von dem er sich aber nur ergreifen lassen konnte, weil es ihn ergriffen hat. Peter Bieri spricht hier von einer freien Leidenschaft, von der ergriffen der Mensch tatsächlich alternativlos „wollen [muss], was er will. Aber ganz anders als der Zwanghafte … erlebt er dieses Müssen nicht als etwas, das ihn überrollt wie eine innere Lawine, gegen die er sich nicht wehren kann, sondern als etwas, das ihn trägt“32; das ihn seinem Werdenwollen und Werden-
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5. Gnade und menschliche Freiheit
sollen zu-trägt und ihm die lebendige Erfahrung vermittelt, hier dem eigentlich Gewollten – dem erfüllten Leben – auf der Spur zu sein. In einer solchen sehenden Leidenschaft, die Augen hat für die Spuren, in denen ich das Leben finde, gewinnt der freie Wille seine lebensbestimmende Kraft, macht er den Willenlosen oder in seinem Wollen Enteigneten zu einem Menschen, „der keine Alternative zu seinem Willen sieht“.33 Er sieht keine Alternative, weil es keine vergleichbar verheißungsvolle Alternative gibt, nicht etwa deshalb, weil er willenlos auf eine von vielen schlechten oder mittelmäßigen Alternativen festgelegt wäre. Die sehende, weil zur Freiheit – zum freien Willen – befreiende Leidenschaft ist zugleich meine und nichtmeine: meine, weil ich mich glaubend-bejahend mit ihr identifiziere; nicht-meine, weil ich sie nicht willentlich produzieren konnte, sie mich ergriffen haben muss, um mich tragen zu können.34 Darin kann sie ein Modell für die Erfahrung der Gnade sein: Gottes Geist ergreift mich als die Leidenschaft für erfülltes Leben. Diese Leidenschaft will keinen blind-getriebenen Fanatismus hervorbringen, der keine Augen dafür hat, wie er Leben zerstört. Sie will in den Glaubenden – sich mit ihr und in ihr Identifizierenden – zur sehenden, frei und verantwortlich angeeigneten Leidenschaft werden, in und aus der ich leben will, weil sie mich geistlich lebendig, sehend und einfühlsam macht für all das, was dem Leben zugute kommt; weil sie in mir Hoffnung und Liebe lebendig macht: die Leidenschaft dafür, dass Gottes Herrschaft in dieser Welt und noch weit über sie hinaus Wirklichkeit werde. Gnade als Reich-Gottes-Leidenschaft: So wäre sie mitten im Leben wirksam und erfahrbar, weil sie Leben ins Leben bringt, zum Glauben lockt, Liebe entfacht und Hoffnung stärkt. Ihr Wirken lässt sich kaum dingfest machen. Man weiß vermutlich nur selten, wie sie in mein Leben einströmte, mein Wollen befreite und stärkte, so dass ich es glaubend aneignen konnte. Aber eine befreit-befreiende, sehende Leidenschaft ist eine Kraft im Leben, deren Wirken das Leben konkret verändert, auf Motivationen Einfluss nimmt, Lebenseinstellungen prägen und anders ausrichten kann. Wenn schon eine Kraft, dann keine natürliche, sondern eine übernatürliche Kraft: Diese schon für die Scholastik des Mittelalters wichtige gnadentheologische Weichenstellung wird für die katholische Schultheologie der Neuzeit zum zentralen Thema. Ihr gilt nun unsere Aufmerksamkeit.
5.7 Gnade als befreit-befreiende Leidenschaft
111 Literatur
Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a. M. 2003 (eine gut lesbare Einführung in die gegenwärtige philosophische Debatte um Willensfreiheit); Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie, Freiburg – Basel – Wien 2011 (ein profilierter, transzendentaltheologisch inspirierter Überblick zu allen Fragestellungen, die mit der Gnadentheologie zusammenhängen).
6. Natur und Gnade: eine Entfremdungs-Geschichte?
Der Weg in die Neuzeit ist in Wissenschaften wie in gesellschaftlichen Praktiken in vielfacher Hinsicht von einem neuen Blick auf die Natur bestimmt. Auch in der Theologie setzt sich ein Verständnis der Natur durch, das bestimmte Aspekte des herkömmlich-theologischen Begriffs der Schöpfung ausblendet und Natur als in sich abgeschlossene Sphäre der Immanenz vorstellt. So ist auch der seine Natur verwirklichende Mensch kein Wesen der Transzendenz; er kann im Bereich der Natur-Immanenz seine Ziele verfolgen, ohne von der Gnade erreicht zu werden oder auf sie angewiesen zu sein. Die Gnade wird ihm von Gott in Jesus Christus schlechterdings ungeschuldet zugewendet, damit er seine übernatürliche Vollendung erreichen kann. Lässt sich dann noch erläutern, wie der „natürliche“ Mensch sich von der Gnade beschenkt und übernatürlich erhoben erfahren kann? Oder steigert sich die Ungeschuldetheit der Gnade zur Beziehungslosigkeit gegenüber dem Natürlichen? Lehramt und Theologie haben sich im 19. und 20. Jahrhundert schwer getan, an der Ungeschuldetheit der Gnade ebenso festzuhalten wie an der Überzeugung, dass die Gnade die Natur – wenn auch auf übernatürliche Weise – vollendet. Sie mussten lernen, den inneren Zusammenhang von Leben und Gnade zur Geltung zu bringen und ihn aus der Erfahrung der Gnade als unverdienbares Geschenk zu verstehen, um sich der biblischen Perspektive „Gnade als Fülle des Lebens“ neu öffnen zu können.
6.1 Von der Metaphysik zur Empirie – und wie die Theologie reagiert Wenn man als Zeitgenosse von Natur reden hört, versteht man unvermeidlich: Natur und nichts sonst. Der naturwissenschaftlich orientierte moderne Naturalismus begreift alle Wirklichkeit, auch die des Menschen und seiner „vermeintlichen“ Freiheit, als Miteinander und Ineinander naturgesetzlich bestimmter Naturzusammenhänge, die als solche in einem evolutiv bestimmten Wirkungsgeflecht verständlich werden. Die glaubens- und theologiekritische Spitze dieses Natura-
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lismus liegt auf der Hand. Er proklamiert den Abschied von Vorstellungen und Begriffen, die für den Menschen in der Natur eine Sonderstellung reklamieren und ihn so zum Partner Gottes privilegieren wollen. Friedrich Nietzsche sprach ungeschminkt aus, was mit der Durchsetzung einer wirklichen Natur-Wissenschaft auf die Tagesordnung käme: dass unter der „Farbe und Übermalung“ durch eine Metaphysik, die sich den Menschen als Ziel und Mittelpunkt der Schöpfung zurechtphantasierte, „der schreckliche Grundtext homo natura wieder herauserkannt werden“ müsste.1 Noch ist es nicht so weit. Die „Schatten Gottes“ in den Höhlen metaphysischen Peudowissens sind noch zu besiegen. Ungeduld prägt Nietzsches ganzes Werk: „Wann werden wir die Natur ganz entgöttlicht haben? Wann werden wir anfangen dürfen, uns Menschen mit der reinen, neu gefundenen, neu erlösten Natur zu vernatürlichen?“2 Antike und Mittelalter sprechen anders von der Natur der Dinge und des Menschen. Der Wandel zu einem Verständnis von Natur, wie es sich seit dem 18. Jahrhundert durchsetzen und gegen den Gottesglauben wenden sollte, zeichnete sich aber im späten Mittelalter schon ab und hat auch mit einer theologischen Neubestimmung des Verhältnisses von Natur und Gnade zu tun. Sehen wir uns die komplexen Zusammenhänge genauer an! Wer in der antiken Philosophie von Natur redete, der meinte mit Aristoteles das, was ein Seiendes als solches ausmacht, seine Wirklichkeit – und das im genauen Wortsinne: die Art und Weise, wie es sich realisiert, wie es sich selbst und wie es auf anderes Seiendes hin „wirkt“, also die ihm eigene Wirkkraft und Wirkmöglichkeit (propria virtus).3 Mitgemeint ist auch sein Hervorgebracht- und Erwirktwordensein. Die Worte physis (griechisch) und natura (lateinisch) assoziieren gerade dieses Gewordensein. Damit kann sich christlich wie von selbst der Gedanke des Geschöpfseins anschließen. Natur ist – wenn man von der Gott-Natur einmal absieht – gleichbedeutend mit Schöpfung. Die Schöpfung aber steht in einem großen, alles umfassenden Sinnzusammenhang mit Gott, dem frei Schaffenden, aus dem sie hervorgeht und zu dem sie zurückkehren soll. Das Egressio-regressio-Schema des Neuplatonismus, das schon die Theologie der Alten Kirche entscheidend prägte,4 bestimmt noch die Gliederung der Summa theologica des Thomas von Aquin. Der „Natur“ eines jeden Geschöpfs ist dieses Woher und Wohin unauslöschlich eingeschrieben. Der Mensch kann bewusst mitvollziehen und in seinem Leben realisieren, wovonher und woraufhin er ist und sein soll. Darin liegt nach Thomas seine Gottebenbildlichkeit. Gehört dann nicht auch die
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Bestimmung des Menschen zur Gemeinschaft mit Gott – zur Gottbegegnung – zu seinem Wesensbestand, der ihm als geistig-selbstbewusstem Geschöpf durch den Schöpfer mit auf seinen Weg gegeben ist? Thomas von Aquin differenziert: „In gewissem Sinne überragt die selige Gottesschau die Natur der Geist-Seele, da diese nie aus eigener Kraft [propria virtute] zur Gottesschau gelangen kann. In anderer Hinsicht jedoch ist die Geist-Seele von Natur aus der Gottesschau fähig, da sie nach dem Bilde Gottes erschaffen wurde. Das ungeschaffene Wissen [Gottes] hingegen übersteigt auf jede Weise die Natur der Menschenseele.“5
Die zentrale Antwort des hier zitierten Artikels spricht davon, im Menschen ruhe die Möglichkeit (sei sie ihm „in potentia“, also der Möglichkeit nach gegeben), „Gott zu schauen, wie die Seligen Ihn schauen.“ Darauf sei der Mensch hingeordnet als auf sein Ziel. „Denn der geschaffene Geist ist als Abbild Gottes dieser beseligenden Erkenntnis fähig.“ Was dem Menschen der Potenz (der Wesensmöglichkeit) nach mitgeteilt ist, das wird Realität durch die Menschheit Christi, in der Gott die Gottebenbildlichkeit erneuern und die Menschen zur Herrlichkeit führen wollte.6 Dem Menschen ist also seiner Natur nach ein Verlangen mitgegeben – ein „naturale desiderium“ –, welches durch die Glückseligkeit der Gottesschau erfüllt würde.7 So ergibt sich: Das Bedürfen ist den Menschen naturgegeben, nicht jedoch seine Erfüllung; die ist reine Gnade, durch das Werk der Erlösung im Gottmenschen Jesus Christus den Glaubenden geschenkt. Dieses Einerseits – Andererseits ist für die Argumentation des Thomas kennzeichnend. Einerseits also ist es dem Menschen seiner Natur nach zu eigen, dass er nicht nur ist, was er ist, sondern sein Sein tatsächlich aus der Quelle, aus der er ist, entgegennehmen, seiner Quelle in diesem Sinne nahe, ja mit ihr vereinigt sein will. Er sieht sich selbst als Wirkung, als von einer Ursache Hervorgebrachtes, und will sich als das Hervorgebrachte aus dem Hervorbringenden wie auch auf seine Zielursache hin verstehen; ihm kommt deshalb ein „naturale desiderium cognoscendi causam“ zu (ein natürliches Verlangen, die Ursache, auch die als Ziel wirkende Ursache, zu erkennen).8 Andererseits vermag er das nicht „durch seine natürlichen Kräfte“. Diese reichen nur so weit, dass der Mensch das ihm als leibseelischem Wesen Ko-naturale (Wesensverwandte) erkennen kann, nicht aber das so viel höhere Wesen Gottes. Das Erkannte ist dem Erkennenden „immer nach der Seinsweise des Erkennenden“
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zugänglich. Der erkennende Mensch würde also von sich aus Gott nur endlich – verendlichend – erkennen können. So könnte es für ihn keine Gottesschau geben, „es sei denn, Gott vereinige sich durch seine Gnade mit dem geschaffenen Verstand und gebe sich ihm zu erkennen.“9 Das Einerseits – Andererseits ist bei Thomas darin begründet, dass im Menschen selbst etwas ist – die Quelle seines Daseins –, das zugleich nicht er selbst ist, sondern das, woraus er sein Dasein hat. Der Mensch kann aber von sich aus nur dieses sein Verursachtsein adäquat erkennen, nicht jedoch das Verursachende in all seiner Vollkommenheit. Schöpfungswirklichkeiten können „unseren Verstand nicht dahin führen, dass in ihnen die Substanz Gottes als das, was sie ist, gesehen wird, da sie Wirkungen sind, die der Kraft der Ursache nicht gleichkommen.“10 Die Gnade kann den Menschen aber mit der vollendeten Gottes-Gemeinschaft beschenken, weil der Mensch von sich aus – durch sein naturale desiderium – dieses Geschenk ersehnen und so auch in ihm die Erfüllung seines Sehnens im Glauben wahrnehmen kann, weil er Gottes Ebenbild ist. Das naturale desiderium ist gleichbedeutend mit der Offenheit des Menschen als Geistwesen für eine Erfüllung, die dieser nicht aus sich heraus erreichen, sondern nur sich schenken lassen kann. Die Voraussetzungen des Einerseits und Andererseits von naturhaftem Bedürfnis und gnadenhafter Erfüllung waren vom 14. Jahrhundert an gedanklich und in der konkreten Wirklichkeits-Erfahrung der Menschen immer weniger gegeben. Der geordnete Sinnzusammenhang einer Natur, dem Menschen sich einfügen und in dem sie sich auf den göttlichen Ursprung allen Seienden bezogen wissen können, wurde immer mehr als fragil erlebt. In ihm sind Menschen tätig, die sich der natürlichen Zusammenhänge bedienen, um sie ihren Interessen dienstbar zu machen; autonom planende und handelnde Menschen, die sich nicht in das Vorgegebene einfügen, sondern eher von außen in es hineinwirken und es nach eigenen Vorstellungen gestalten. Man stellte sich dann auch die Frage, inwiefern Gott selbst tatsächlich als der Grund und das Ziel der Natur in dieser selbst zugänglich ist, sich in ihr als der umfassende Sinnzusammenhang zumindest erahnen lässt. In den Konzepten der Spätscholastik tritt er selbst gewissermaßen neben seine Schöpfung. Diese ist nicht mehr selbstverständlich die von seinem freien Willen in Entsprechung zu seinem Wesen hervorgebrachte gute Schöpfung, in der sich seine Güte dankbar wahrnehmen lässt. Sie wird mehr und mehr als die Realisierung seines wählenden Willens verstanden, der die Schöp-
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fung so oder ganz anders hervorbringen konnte. Der vom Menschen durch seine Vernunft nur erahnbare Sinnzusammenhang zwischen Gottes Wesen und der geschaffenen Natur lockert sich weiter; er veräußerlicht sich dadurch, dass Gott so oder anders gekonnt hätte11 – wie ja auch die Menschen sich als wählende entdecken, die so oder anders mit der Natur umgehen können und erforschen wollen, wie sie mit ihr nach Maßgabe ihrer eigenen Interessen am effektivsten umgehen. Der Naturzusammenhang wird zum Spielfeld der Willen, des göttlich gründenden und der menschlichen Eigen-Willen. Der menschliche Wille aber ist, wie die Reformation nachdrücklich geltend macht, mit der Erbsünde ein böser Wille geworden, der seinen Eigenwillen gegen Gottes guten Willen gerichtet hat. So ist auch die Schöpfungsordnung nicht mehr der vernünftig nachvollziehbare Sinnzusammenhang, der die Menschen als Ebenbilder Gottes auf das göttliche Urbild – Ursprung und Ziel ihres Daseins – bezogen sein lässt, sondern ein Konfliktfeld, auf dem die Sünder mit den katastrophalen Auswirkungen ihres sündigen Wollens konfrontiert werden. Hier begegnet der verborgene Gott, dessen Welt-Wirk-lichkeit ihnen zur abgründigen Anfechtung wird.12 Gottes Wille ist nicht mehr erkennbar in der Natur am guten Werk, sondern nur in der Offenbarung vernehmbar, in der Gott sein Gnaden- und Verheißungswort spricht. Diese vielfach sich überschneidenden Entwicklungen tragen wesentlich dazu bei, • dass die Natur weniger als die umfassende Schöpfungswirklichkeit wahrgenommen wird, worin der Mensch sich auf Gott als den Grund und das Ziel der Schöpfungsordnung bezogen weiß und „natürlicherweise“ nach Gottes Nähe verlangt; dass man Natur vielmehr als das dem menschlichen Erkennen und Wollen Gegenüberstehende sieht, in das der Mensch, sofern er über das nötige Wissen verfügt, von außen hineinwirkt; • dass man sich Natur als selbstständigen Zusammenhang verständlich macht, der wie ein Mechanismus am Anfang von Gott so vollkommen konstruiert wurde, dass dieser nun nicht mehr durch einzelne Interventionen Einfluss nehmen muss, sondern den Dingen ihren Lauf und den Menschen ihre eigenständigen Wirkungsmöglichkeiten lassen kann, damit sie sich die Automatismen und Ressourcen der Natur zunutze machen; • dass die Gnadeninitiative Gottes streng geschieden wird von den immanent-gesetzlichen Zusammenhängen der Natur, die von den Menschen auf ihr Wohl hin genutzt werden können, in ihrer autonomen Zielgerichtetheit aber kaum noch mit dem Ziel zu tun
6.2 Zwei-Stockwerk-Theorie?
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haben, zu dem Gott die Menschen durch den Erweis seiner Gnade führen will. So gewinnt ab dem 15. Jahrhundert die theologische Unterscheidung zwischen Natur und Gnade eine Schärfe, die sich in Thomas von Aquins Einerseits – Andererseits nicht findet. Damit wird dann auch ein Weg beschritten, der Gottes Gnade mehr und mehr von der gnadenlosen Wirklichkeit der Natur und unserer natürlichen Selbstbehauptung abhebt, sie schließlich zur Sache ziemlich abgehobener theologischer Theoriebildungen macht. 6.2 Zwei-Stockwerk-Theorie? Mit Francisco Suarez (1548–1617) setzt sich eine Deutung der thomanischen Gnadenlehre durch, die das Theorem von der natürlichen Sehnsucht nach der beseligenden Gottesbeziehung (desiderium naturale videndi Deum) auflöst und die Naturausstattung des Menschen von der übernatürlichen Gnadenordnung trennt. Beide Ordnungen folgen jetzt einer je eigenen Zielperspektive. Und daraus ergibt sich, dass es für den Menschen eine naturimmanente Vollendung geben muss, die er erreichen kann, ohne von der Gnade in den Bereich der übernatürlichen Vollendung erhoben zu werden. Es gebe nach der Lehre des Thomas von Aquin – so interpretiert Suarez – „das doppelte Endziel des Menschen, ein natürliches, auf das der Mensch in der Kraft und Dynamik seiner Natur hinstrebt, und ein anderes die Natur überschreitendes Endziel, auf das der Mensch durch die Gnade hingeordnet ist … Denn es ist notwendig, dass jedes natürliche Wesen ein ihm konaturales Endziel hat, auf das es hinstrebt. Bei einer intellektuellen Substanz ist dies die Glückseligkeit.“13
Die Natur-entsprechende Glückseligkeit eines erfüllten Menschenlebens ist nicht noch einmal hingeordnet auf die übernatürliche Vollendung des Menschen in der beseligenden Gottesschau. Diese liegt also nicht in der „inneren Konsequenz seiner Natur [debito naturae]“; der Mensch erstrebt und erlangt sie „allein aus der Gratuität der Liebe und des Willens Gottes“.14 Wäre schon die Natur des Menschen auf die übernatürliche Vollendung bezogen, wäre diese ihm geschuldet – hätte der Schöpfer die Verpflichtung, seinem Geschöpf nicht vorzuenthalten, worauf es seiner Natur nach strebend hingeordnet ist. Die Gottesschau der ewigen Seligkeit ist aber absolut ungeschuldetes
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6. Natur und Gnade
Geschenk. Dieses kann nur als opus superadditum (dem natürlichen Bestand unendlich überragendes Werk des Heiligen Geistes) hinzugefügt werden. Von sich aus hat die menschliche Seele „kein Verlangen [appetitus] zur heilmachenden Gnade.“15 Das natürliche Streben und Verlangen bezieht den Menschen im „ersten Stockwerk“ nur auf natürliche Gegebenheiten und Ziele. Die Schwierigkeit bestand hier von vornherein darin, dass diese (über-)deutliche Markierung der Ungeschuldetheit den Lebensbezug der Gnade gnadentheologisch in den „Schatten“ stellte. Dass die Gnade als ein Geschenk zu verstehen ist, auf das der Mensch kein Anrecht haben kann, hat gnadentheologisch gewiss vorrangige Bedeutung. Aber das Geschenk der Gnade sollte vom Menschen doch als unendlich willkommenes Geschenk wertgeschätzt werden können. Insofern müsste es beim Menschen so „ankommen“ können, dass dieser sich in gewiss über alles Vorstellbare hinausreichender Fülle beglückt und sein Leben erfüllt erfahren würde. Es müsste also eine theologische Balance zwischen der Ungeschuldetheit der Gnade und ihrer das Menschsein erfüllenden Qualität gefunden werden, gerade weil Gnade eine Gabe ist, die dem Menschen schon im ersten Stockwerk der Natur doch unendlich wohltuend zugute kommen und nicht einfach als zweites Stockwerk aufgesetzt sein soll. Suarez und die ihm folgenden Entwürfe haben diese Nötigung wohl vor allem deshalb nicht empfunden, weil sie die Gnade nach juristischer Logik als unverdiente Amnestie dachten und die Amnestie im System der vergeltenden Gerechtigkeit tatsächlich keinen systematisch bestimmbaren Ort hat. Es ergeht Gnade vor Recht; darauf hat der Mensch kein Anrecht. Natur-gerecht aber ist das Erlangenkönnen dessen, worauf natürliche Prozesse angelegt sind. Die Schöpfungsordnung ermöglicht, dass schöpfungsgemäßes Streben sein Ziel erreicht bzw. – im Freiheitsbereich des menschlichen Geistes – das „Verdiente“ erlangt werden kann. Der Schöpfer selbst begründet diese „Ansprüche“ menschlichnatürlichen Strebens und hat deshalb ihre Einlösbarkeit zu verbürgen. In diesem System der Äquivalenzen (Entsprechungen) von Anrecht (geschuldet) und Erreichen (gewährt) hat die schlechthin ungeschuldete Gnade keinen Ort. Sie gehört einer völligen anderen Ordnung an, die mit der stabilen Ordnung der Äquivalenzen und Gleichgewichte in der Natur nicht einmal „verzahnt“ sein kann. Wenn in dieses an sich stabile System der Schöpfung die Sünde eindringt und die gute, von Gott in es hineingelegte Ordnung in Mitleidenschaft zieht, ist auch dafür zunächst nur der naturgemäße, Äqui-
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valenz wahrende Verlauf vorgesehen: Die Strafe muss ausgleichen, was der Sünder aus dem Gleichgewicht gebracht hat. Vergebung wäre sogar naturwidrig. Sie hat in der natürlichen Ordnung und Logik der Äquivalenzen keinen Ort, kann nicht bezogen sein auf das Gerechtigkeits-Gleichgewicht von Anspruch und Erreichenkönnen; sie gehört der Ordnung der grundlos und frei gewährten Liebe an. Aber ist nicht schon die Natur des Menschen ganz vom Angewiesensein auf grundlose Liebe bestimmt? Suchen Menschen nicht unendlich mehr, als was sie gerechterweise verdienen und von sich aus – aufgrund ihrer Naturausstattung – erreichen können? Die spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Modellierung der Natur als Ordnungs-Gleichgewicht, das zunehmend als Kräfte-Gleichgewicht gedeutet wird, schließt solche Überlegungen aus und führt faktisch zu einem mechanistischen Verständnis der Natur. Natur funktioniert quasi-automatisch in sich selbst und ist zu ihrem Funktionieren nicht auf Einwirkungen angewiesen, welche diesem Automatismus zusätzliche Energien oder Intentionen zuführen bzw. sie sind für solche Einwirkungen nicht einmal mehr offen. Wenn man die bei Suarez gezeichneten Linien konsequent verfolgt, kann man also auch bei einem immanentistischen Naturalismus ankommen, wie er in seiner frühen Ausprägung etwa bei dem französischen Aufklärungsdenker Paul-Henri Thiry d’ Holbach vorliegt. Die Natur wird hier als gute Mutter vorgestellt, die den Menschen „sehr viele Güter verschaffen [wird], wenn wir ihr die Achtung entgegenbringen, die ihr zukommt“.16 Sie ist eben „keine Stiefmutter“, die uns willkürlich vorenthielte, was das menschliche Leben braucht und erfreulich machen kann; in ihr kann der Mensch sich geborgen wissen, so dass er nicht nach einer „übernatürlichen“ Erfüllung verlangen müsste. Das ist die Kehrseite der originär theologischen Vorstellung von einer natura pura (reinen Natur), die der Mensch aus Eigenem nicht transzendieren kann – und nach naturalistischer Vorstellung gar nicht transzendieren will –, um seine Wesens-gemäße Vollendung zu finden. Das Konzept der natura pura ist zunächst nur eingesetzt, um die Ungeschuldetheit der Übernatur zu wahren. Es ist vielleicht nie mehr gewesen als ein Begriffskonstrukt, ohne das man gnadentheologisch nicht auszukommen meinte.17 Aber sie macht sich gleichsam selbstständig und gewinnt Geltung in der naturalistischen Vision einer autarken Menschennatur. Dabei steht außer Frage, dass schon die Tendenzen zur theologischen Verselbstständigung einer reinen Natur ihrerseits von außertheologischen Faktoren mitbestimmt waren. Die Ausdifferenzierung zweier mehr oder weniger selbstständiger Ord-
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6. Natur und Gnade
nungen und Gewalten – der geistlich-kirchlichen und der „weltlichen“ – zeichnete sich schon im Mittelalter ab. Sie wurde in den Auseinandersetzungen zwischen Papst und Kaiser geschichtliche Realität und führte dann in der Zwei-Reiche-Lehre Luthers dahin, dass eine Logik der (zwingenden) Gerechtigkeit im Bereich der weltlichen Herrschaftsausübung über die sichtbare Wirklichkeit von der göttlichen Logik grundlos-liebender Vergebung im Bereich des Geglaubten, also nicht Sichtbaren, unterschieden wurde. Die römische Theologie versuchte zwar, die Oberherrschaft der Gnadenanstalt Kirche über den Bereich der weltlichen Herrschaft so lange wie möglich aufrecht zu erhalten oder zumindest zu beanspruchen. Mit der Ausbildung und Zuspitzung der gnadentheologischen Unterscheidung von Natur und Übernatur arbeitete sie jedoch selbst am AutonomWerden der weltlich-natürlichen Ordnungen mit. Im 19. Jahrhundert setzte sich das römische Lehramt gegen diese unerwünschten Nebenfolgen entschiedener zur Wehr, als die Übernatur gegenüber der Natur gleichsam überflüssig zu werden drohte und der Anspruch der natürlichen Vernunft, alleinige Wahrheitsinstanz zu sein, in aller Schärfe mit dem Anspruch des Lehramts kollidierte, eine übernatürliche und heilsnotwendige Offenbarungs-Wahrheit auszulegen.18 Man versuchte nun, die Begrenztheit der Natur und der auf sie bezogenen natürlichen Vernunft einerseits und die Überordnung der höheren Gnaden- und Offenbarungsordnung andererseits gleichzeitig geltend zu machen, hatte sich aber dadurch theologisch in die Zwickmühle manövriert, dass man um der Ungeschuldetheit der von Gott frei zugewendeten Gnade willen eine autonome, von der Übernatur unabhängige Naturordnung geradezu brauchte. Es liegt eine „Ironie […] darin, dass diese saubere, vom lateinischen Christentum des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit getroffene Unterscheidung ursprünglich dazu dienen sollte, die Autonomie des Übernatürlichen klar hervorzuheben“, faktisch aber dazu beitrug, das Konzept eines immanent geordneten und in sich geschlossenen, „physikalischen“ Universums zu stabilisieren.19 In dieser Situation entwickelte der Neuscholastiker Matthias Joseph Scheeben (1835–1888) ein umfassendes gnadentheologisches Konzept, das den heraufziehenden Anforderungen gewachsen sein sollte und im Umfeld des Ersten Vatikanischen Konzils große Resonanz fand. In der Bestimmung des Natürlichen folgt Scheeben der scholastischen Tradition, insofern er damit „namentlich die Ordnung eines Wesens zu seinem Ziele“ sowie den „Inbegriff alles dessen [angesprochen sieht], was dazu gehört“, insbesondere die „eigentüm-
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lichen [der jeweiligen Natur entsprechenden] Kräfte und deren eigentümliche Tätigkeit“, mit denen die Hinordnung auf das Wesensziel – auf das konaturale höchste Gut – realisiert werden kann.20 Übernatürlich sind alle Güter, die nicht mit den jeweils Natur-eigentümlichen Kräften erreicht werden können und „so erhaben sind, dass sie einer höheren, eigentümlichen Ordnung angehören.“ Der Begriff des übernatürlichen Gutes ist formal dadurch definiert, „dass es ein Gut ist, welches an sich nur einer höheren Natur zukommt und der niederen nur dadurch zuteil wird, dass sie gewissermaßen über ihre eigene Würde und Kraft zu der über ihr stehenden Natur erhoben wird.“21 Dieser formale Begriff dient dann der näheren Bestimmung des Verhältnisses von Natur und Gnade. Die Metapher des Erhebens bzw. Erhobenwerdens tritt an die Stelle eines eher statischen Zwei-Stockwerk-Schemas. Die Gnade (Übernatur) baut sich nicht einfach auf das erste Stockwerk der Natur auf. Sie ist vielmehr jene Dynamik, welche sich der Naturdynamik so innerlich mitteilt, dass diese nun auf das höchste Gut hingeordnet sein kann. Das Hinzukommen der Übernatur zur Natur geschieht so, dass „die Gottheit, das reinste Licht und das stärkste Feuer, ihr Geschöpf ganz mit ihrer Kraft durchdringen will, um es ganz zu durchleuchten, zu durchglühen, es ganz in ihre Herrlichkeit zu verklären und ihm die Fülle seines göttlichen Lebens mitzuteilen“. So wird „das ganze Sein des [endlich-leibhaften] Geistes in seinem tiefsten Grund und in all seinen Verzweigungen bis zum Gipfel hin ein anderes …, nicht durch Zerstörung, sondern durch Erhebung und Verklärung“.22 Scheeben konzipiert die Erhebung der Natur durch die Gnade in die Übernatur konsequent im Sinne des scholastischen Axioms, wonach die Gnade die Natur nicht aufhebt, sed perficit, also übernatürlich vollendet: sie in eine perfectio erhebt, die sie aus eigenen Kräften nicht erreichen könnte, die aber doch als perfectio dieser menschlichen Natur zu denken ist. Gnade wirkt jene perfectio der menschlichen Natur, welche Gott den Menschen durch die Teilgabe an seiner göttlichen Natur gewährt. Die theologische Balance zwischen der Ungeschuldetheit der Gnade und ihrer das Menschsein zuhöchst und zuinnerst erfüllenden Wirklichkeit wird hier zweifellos eher getroffen als in einem statischen Zwei-Stockwerk-Schema, in welchem eher die Beziehungslosigkeit des über das Erdgeschoß der Natur „Darübergebauten“ als die überwesentliche Vollendung der Natur durch die Gnade ausgesagt werden kann. Wurde damit auch der bei Thomas von Aquin entwickelte Gedanke einer natürlichen Sehnsucht (naturale desiderium) nach dem
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6. Natur und Gnade
Übernatürlichen wieder erreicht, der die menschlich-geistige Natur als in dieser Sehnsucht sich auf eine mögliche übernatürliche Erfüllung hin selbst überschreitend verstehen ließ? Hier schien immer noch der Gedanke der Ungeschuldetheit der Gnade im Weg: Man durfte nicht zu sehr die Hinordnung der Natur auf die Übernatur akzentuieren, hatte aber gnadentheologisch gleichwohl die Übernatur als Vollendung, ja Verklärung der menschlichen Natur zu denken. Das NaturÜbernatur-Verhältnis sollte nicht von unten nach oben, sondern von oben nach unten gedacht werden, damit es nicht zu einer „Naturalisierung der Gnade“ käme. Und entsprechend konnte die Gnadenanstalt Kirche noch in den Auseinandersetzungen um christliche Gewerkschaften oder Parteien zu Beginn des 20. Jahrhunderts ihre Überordnung auch über die Bereiche der menschlichen (Sozial-)Natur wie der Kultur behaupten, da sie für eine Vollendung dieser Bereiche „zuständig“ war, die weit „oberhalb“ der in ihnen selbst autonom erreichbaren Vervollkommnung lag, aber eben doch als die perfectio dieser Natur- und Kultur-Bereiche zu gelten hatte. Kirche kann – so folgerte man – von oben, von der Selbstkundgabe des höchsten Gutes her authentisch über die relativen Güter sprechen und sie auf das höchste Gut hin relativieren, sie von jener Vollendung her betrachten und beurteilen, welche nicht in der Reichweite ihrer Natur-immanenten Entwicklungsmöglichkeiten liegt und nur der übernatürlichen Gnade zugeschrieben werden kann. Anfang des 20. Jahrhunderts sah das römische Lehramt Anlass, diese gnadentheologischen Differenzierungen mit aller Schärfe einzufordern. 6.3 Gnaden-Immanenz? Gnade durfte nicht als immanent-anthropologische Wirklichkeit und Wirkkraft verstanden bzw. auf eine solche reduziert werden. Hier engagierte sich das römische Lehramt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und vor allem in der Modernismuskrise mit seiner ganzen Autorität und allen institutionellen Möglichkeiten. Entschiedenes Eingreifen schien geboten, weil sich auch in der Theologie die Bereitschaft zeigte, stärker auf evolutionistische und naturalistische Modelle zu setzen. Die göttlich-übernatürliche Religion des Christentums wurde hier offenkundig als Hervorbringung aus den Tiefen des Menschseins – aus dem menschlichen Unterbewussten – angesehen, als ein Bedürfnis oder Gefühl, das in der kirchlichen Gemeinschaft kultiviert und durch die Vernunft „entwickelt“ werden konnte. Weil aber – so
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deutet die Antimodernismus-Enzyklika Pascendi dominici gregis vom 8. September 1907 die Intentionen der als Modernisten gebrandmarkten Theologen – „die Religion eine bestimmte Form des Lebens ist, ist sie ganz im Leben der Menschen zu finden. Aufgrund dessen wird das Prinzip der religiösen Immanenz behauptet. Bei einem jeden vitalen Phänomen – ein solches ist, wie schon gesagt wurde, die Religion – ist nun gleichsam die erste Regung aus einem Bedürfnis [indigentia] bzw. einem Drang [impulsione] herzuleiten: die Anfänge aber, wenn wir über das Leben genauer reden wollen, sind in einer Regung des Herzens zu sehen, das Gefühl genannt wird. Deshalb ist, da Gott der Gegenstand der Religion ist, zwangsläufig zu schließen, dass der Glaube, der der Anfang und die Grundlage jedweder Religion ist, in einem innersten Gefühl liegen muss, das aus einem Bedürfnis nach Göttlichem erwächst.“23
Das „religiöse Gefühl, das durch vitale Immanenz aus den Schlupfwinkeln des Unterbewusstsein hervorbricht“, sowie die vernünftig durchdachte „persönliche Erfahrung jedes Menschen“, in welcher sich dieses zum Ausdruck bringt und den Menschen auf eine göttliche Wirklichkeit ausrichtet, werden hier – so Pascendi dominici gregis – zur Urwirklichkeit jeder Religion, „zum Grund von allem, was in jedweder Religion war oder sein wird“.24 Und so kämen die „Modernisten“ zu jener „völlig unvernünftige[n] Behauptung […], jedwede Religion sei in verschiedener Hinsicht zugleich natürlich und übernatürlich zu nennen.“25 Natürlich wäre Religion, da sie aus einem Natur-Bedürfnis des Menschen entspringt; übernatürlich wäre sie allenfalls deshalb, weil sich darin so etwas wie ein menschliches Bewusstsein des Absoluten manifestiert. Die Stoßrichtung des lehramtlichen Antimodernismus ist klar: Es geht darum, den Glauben als streng übernatürliche Wirklichkeit im Menschen zu verstehen und nicht als bloße Gefühls- oder Erfahrungsgegebenheit, nicht nur als ein „Phänomen des Lebens“. Das religiöse Bedürfnis könnte als solches identifiziert werden; in ihm ist die menschliche Natur gerade nicht transzendiert, sondern bei sich selbst und nur auf Menschliches verwiesen. Noch die Enzyklika Humani generis vom 12. August 1950 schärft deshalb die suarezianische Lehre einer von der Gnadenvollendung zu unterscheidenden naturimmanenten Vollendung des Menschen ein, indem sie sich gegen die Behauptung wendet, „Gott könne keine vernunftbegabten Wesen schaffen, ohne sie auf die seligmachende Schau hinzuordnen und dazu zu berufen.“ Mit dieser Behauptung werde – so die Enzyklika – „die wahre ‚Gnadenhaftigkeit‘ der übernatürlichen Ordnung zunichte[gemacht]“.26
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Das römische Lehramt sieht den Feind in einer Theologie oder Philosophie der „vitalen Immanenz“, welche die übernatürliche Gnade irgendwie in das Kraftfeld der menschlichen Natur einbezieht; und sei es nur dadurch, dass man im Menschen ein naturgegebenes religiöses Bedürfnis annimmt, in welchem sich in irgendeiner Weise schon die Glaubenshoffnung auf Erfüllung dieses Natur-Bedürfnisses begründet sehen könnte. Dem musste, so die Strategie des römischen Lehramts, dadurch ein Riegel vorgeschoben werden, dass man die menschliche Geistnatur als ein in sich geschlossenes und nicht über sich hinaus verweisendes System von Kräften, Bedürfnissen und Befriedigungen ansah. In ihm konnte sich noch keine Hinordnung auf ein übernatürliches Ziel finden. Hier gab es nur Erfahrungen des Natürlichen, keine religiöse Erfahrung, aus der sich das Eigentliche der übernatürlichen Religion hätte entwickeln können. Wäre in der menschlichen Natur schon etwas enthalten, was auf die Berufung zu übernatürlicher Vollendung schließen ließ, so wäre die Gnadenordnung letztlich doch nur die Ergänzung dessen, was der menschlichen Natur fehlt – und was Gott, der die Natur des Menschen ja gut und „vollständig“ geschaffen hat, seinem Geschöpf nicht hätte vorenthalten dürfen. Die Gnade wird als eigenes Wirkungsfeld gesehen, das nicht in das Wirkungsfeld der Natur-Kräfte gleichsam hineingezogen werden darf. Vielmehr gilt – so hatte es ja schon Scheeben gesehen –, dass die Gnade auf das Kraftfeld der (menschlichen) Natur übergreift und den ganzen Menschen auf das übernatürliche Ziel der endzeitlichen Gottesschau ausrichtet. Aber wie wird die Neuorientierungs-Kraft der Gnade im Kraftfeld der Natur und an den Naturkräften konkret wirksam, womöglich erfahrbar? Im neuscholastischen Konzept liegt es nahe, hier auf die sakramentale, verkündigende und erzieherische Wirksamkeit der Kirche zu verweisen: In der Kirche werden die Menschen so in das Wirkungsfeld der Gnade einbezogen, dass der alte Adam (die alte Eva) sich durch Bekehrung in den neuen Menschen wandelt. Von Erfahrung aber will man hier eher nicht sprechen, weil sich menschliche Erfahrung ja im natürlichen Kraftfeld des Menschen ereigne. Eine Erfahrung der Gnade käme dann einer Naturalisierung der Gnade gleich – solange nicht gezeigt werden kann, wie sich die Gnade konkret welthaft im Leben und in der Erfahrung gewissermaßen als Phänomen auswirkt. Hier scheint der kritische Punkt dieses Natur-Übernatur-Modells zu liegen: Das Nebeneinander oder Übereinander von Natur und Gnade lässt sich einigermaßen denken, bleibt aber theologisch unbe-
6.3 Gnaden-Immanenz?
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friedigend. Die wirksame Immanenz der Gnade im menschlichen Leben – im Kraftfeld der Menschennatur – lässt sich kaum noch denken, ohne dass man in die Gefahr gerät, die Gnadenwirklichkeit in die Naturwirklichkeit einzuebnen, wovor das römische Lehramt ja spätestens seit dem 1. Vatikanischen Konzil unablässig warnte. Gnade müsste aber als Lebens-Wirklichkeit erfahrbar werden können, wenn man der theologisch doch weit dramatischeren Gefahr begegnen wollte, das Menschenleben in dem, was es „eigentlich“ ausmacht – in seiner natürlich-sozialen Lebenswelt – von einem gnadenlosen Kampf ums Dasein bestimmt zu sehen, für den die übernatürliche Gnadenmitteilung keine Bedeutung haben könnte. Ließe sich die Natur in diesem Sinne ganz aus sich selbst verstehen – was das 1. Vatikanische Konzil zurückgewiesen hat, da Gott als Ursprung und Ziel des Geschaffenen prinzipiell erkennbar sei27 –, so käme das opus superadditum der Gnade zu spät, um noch als Vollendung der Natur verstanden werden zu können. Hatte Thomas von Aquin nicht doch Recht mit seiner Intuition, die Natur des Menschen sei bestimmt vom desiderium videndi deum, ja sie sei selbst wesentlich dieses Verlangen nach Gottes gnädig zugewandtem Angesicht? Die Psalmen geben ihm Recht, allen voran Psalm 42, der Gottes-Sehnsuchts-Psalm par excellence: „Wie eine Hirschkuh lechzt an Wasserbächen, so lechzt mein Leben nach dir, Gott. Es dürstet mein Leben nach Gott, dem lebendigen Gott: wann werde ich kommen und sehen das Gesicht Gottes? […] Was zerfließt du, mein Leben, und was begehrst du auf gegen mich? Harre auf Gott, denn ich werde ihm wieder danken, der Rettung meines Gesichts und meinem Gott“ (Verse 2–3.6).
Die näfäsch, die Lebenskraft, dürstet nach Gott; sie zerfließt, da sie sich nach seiner Gegenwart verzehrt – und streckt sich aus nach seinem Gesicht, danach, ihn schauen zu können und so selbst Gesicht zu haben, von Angesicht zu Angesicht gewürdigt und gerettet zu sein. Das ist die alttestamentliche Intuition: dass näfäsch auflebt in der Gottbegegnung, im Kult, in der Wohngemeinschaft mit JHWH, überall da, wo Leben ins Leben kommt. Die Gnade Seiner Gegenwart macht die Menschen lebendig, lässt sie aufleben. Und so dürstet die näfäsch in den Zeiten der Glaubens-Trockenheit, wenn Seine Gegenwart sich nicht erfahren lässt. Was ist daran Natur, was Übernatur? Die Bibel half und hilft, die überkommenen theologischen Distinktionen zu relativieren. Sie hilft, die konkrete menschliche Wirklichkeit
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Ernst zu nehmen – und so auch das Dürsten der näfäsch zu Gottes Angesicht hin, das desiderium, das sich nicht mit den Gütern der Welt allein abspeisen lässt. Wie müsste eine Gnadentheologie aussehen, die sich der konkreten Lebens-Erfahrung der Menschen zuwendet und die theologische Begrifflichkeit nutzt, diese – von Gott her und auf ihn hin – besser zu verstehen? 6.4 Auf dem Weg zu einer neuen Theologie der konkreten Menschenwirklichkeit Diese neue Theologie verdankt sich zu einem Gutteil der Inspiration durch eine alte: durch die mystischen Erfahrungstheologien der Antike in der Ostkirche, durch die Mystik des hohen und des späten Mittelalters. Sie meldete sich zu Wort, als man das vom neuzeitlichen Denken provozierte Weiterfragen in Philosophie und Theologie in eine flächendeckende neuscholastische Einheitstheorie einzuebnen versuchte. Antonio Rosmini-Serbati (1797–1853) sieht die vernünftige Selbstreflexion des Menschen von der Hinordnung auf ein Unbedingtes in Bewegung gehalten, worin der Mensch seine Erfüllung fände, wenn es sich ihm schenkte – was die menschliche Vernunft selbst nicht sicherstellen kann. Das bedeutet für ihn, „dass die natürliche Vernunft nur dann nicht an ihrer Verwiesenheit auf das ihr selbst unerreichbare Unbedingte verzweifeln muss, wenn es Gott gibt, und wenn Gott trinitarisch ist, d.h. sich selbst an das Andere seiner selbst mitteilen kann.“28 In der natürlichen Vernunft bringt sich eine Dynamik der Selbstüberschreitung zur Erfahrung, die nicht verbürgen kann, woraufhin sie sich überschreitet. Soll diese Dynamik der Selbstüberschreitung aber nicht ins Leere gehen, so müsste sie schon vom Übernatürlichen getragen werden und in ihm zur Erfüllung kommen können. In diesem Sinne ist das Übernatürliche für den Menschen, der sein Dasein vernünftig wahrnimmt und lebt, eine Notwendigkeit, auf die hin sein Leben und Denken Halt gewinnt. Aber das Leben und Denken ist sich nicht selbst der Halt, den es braucht.29 Maurice Blondel (1861–1949) dachte in ähnlichen Bahnen und wurde so zum Vordenker jener „Nouvelle théologie“, die seit etwa 1930 von Frankreich ausgehend die neuscholastische Gnadentheologie hinter sich ließ. Im Unterschied zu Rosmini nicht im Zuge der Antimodernismuskampagne gemaßregelt, hat er der katholischen Theologie des 20. Jahrhunderts die bedeutendsten innovativen Impulse mit auf den Weg gegeben. Wie Rosmini bezieht sich Blondel in seinem Erstlingswerk L’ action. Essai d’une critique de la vie et
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d’ une science de la pratique von 1893 auf die dem Menschsein innewohnende Dynamik der Selbstüberschreitung ins Absolute hinein, welche im äußersten Selbsteinsatz der „Hingabe unseres Scheinlebens“ ans „wirkliche[…] Leben“ mitgewollt und getan wird. Dieses Wollen und Tun wäre freilich verkannt, „wenn wir dabei nicht ebenso klar um das natürliche Unvermögen, ja die Unmöglichkeit wissen, die den Menschen hindert, aus eigener Kraft an sein notwendiges Ziel zu kommen. Aristoteles hat das geahnt, wenn er einmal schreibt: Es gibt im Menschen ein Leben, das besser ist als der Mensch, und dieses Leben vermag der Mensch nicht aus eigener Kraft zu hegen; es muss etwas Göttliches in ihm wohnen. Absolut unerreichbar und absolut notwendig für den Menschen: das ist genau der Begriff der Übernatur.“30
Das Gott-Bedürfen erfährt sich zugleich als glaubendes Gott-Entbehren, als vitales Angewiesensein auf eine übernatürliche Erfüllung meines Bedürfens durch Gott selbst. In Blondels eigenen Worten, die hier unmittelbar an den Gottes-Sehnsuchts-Psalm 42 erinnern: „an Gott glauben, ihn herbeisehnen, zu ihm schreien, dies ganze unausweichliche Sich-geschlagen-Geben unseres Herzens hat für uns nur Sinn, wenn wir von ihm das erhoffen, was wir selbst nicht sind, was wir allein weder zu sein noch zu tun vermögen“; wenn wir uns tatsächlich suchend und sehnend ihm anzuvertrauen und zu übergeben wagen. Denn: „Wo anders könnten wir Ihn finden als dort, wo das Wollen in einer Art Enteignung über sich selbst hinausgetrieben wird?“31 Den zu suchen, der mein tiefstes Sehnen erfüllt, und ihn in der Bereitschaft zu suchen, sich ihm anzuvertrauen, das macht diese Wesensbewegung des Menschen aus, die sich in der action (der Verwirklichung) seines Menschseins zur Geltung bringt. Aber es liegt wiederum nicht im Vermögen des Menschen, dem Suchen diese Bereitschaft einzustiften und es so auf den Weg zum dankbaren Empfang des Übernatürlichen zu führen. „So muss sogar die Dynamik unseres Suchens, das uns Gott entgegenführt, in seinem tiefsten Grund ein Gnadengeschenk sein.“ Nicht nur die Erfüllung also, sondern schon das Hervorgerufenwerden eines Erfüllungs-offenen Suchens sind Gottes Werk. Wir können es „nicht selbstständig anfangen“ und „noch weniger selbstständig zu Ende führen“. Wir brauchen den – und er ist uns in Jesus Christus gegeben –, „der sozusagen zum Tun unseres Tuns, zum Beten unseres Betens und zur Darbringung unseres Schenkens wird. In seiner Kraft allein vermag unser Wollen
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sich selbst zu erfüllen und den ganzen Abstand zwischen seinem Ursprung und seinem Ziel zu umgreifen“.32 Hier ist das neuscholastische Nebeneinander oder Übereinander von Natur und Gnade im Ansatz überwunden; in einem philosophisch-theologischen Denken überwunden, welches ein Ineinander vorstellbar und glaubbar macht, wie es innerlicher kaum gedacht werden kann. Blondel mag der Indizierung entgangen sein, weil er schon die Gottes-Sehnsucht im konkret-geschichtlichen Menschen einleuchtend als Gnadenwirkung darstellt und sich so einigermaßen in der Spur der tridentinischen Rechtfertigungslehre hält. Der bedeutendste Vertreter der französischen Nouvelle Théologie, der Jesuit Henri de Lubac (1896–1991), nimmt Blondel so auf, dass er von einer mit der Geistnatur des Menschen gegebenen Ausrichtung auf die ewige Gemeinschaft mit Gott spricht und mit Blondel gleichwohl daran festhält, dass der Mensch nicht von sich aus erreichen kann, worauf er als unendlich sich selbst überschreitendes, personales Geistwesen angelegt ist.33 De Lubac will die Zwei-Stockwerk-Theorie der Neuscholastik konsequent dadurch überwinden, dass er Schöpfung und Erlösung (bzw. Gnadenmitteilung) theologisch als den einen Zusammenhang der Selbstmitteilung Gottes versteht. Damit provoziert er bei den (neu-)scholastisch denkenden Theologen die Rückfrage, wie hier noch die Ungeschuldetheit der Gnadenmitteilung an die Menschen gewahrt werden könne.34 Das Problem dieser Rückfrage liegt in der ebenso selbstverständlichen wie schwierigen Vorstellung des Ungeschuldetseins. Diese setzt ja einen Begriff der Freiheit Gottes voraus, der ganz von der Wahlfreiheit her bestimmt ist: Gott konnte den Menschen als Geistgeschöpfen genauso gut Gnade gewähren oder eben nicht gewähren. Hätte er sie als Geistpersonen zur Gemeinschaft mit sich selbst geschaffen und wäre diese Gemeinschaft – wie es gar nicht anders sein kann – Inbegriff der Gnade, so wäre er nicht mehr frei, diese Gnade zu gewähren oder nicht zu gewähren. Er könnte sie gerechterweise nur dem bekehrungsunwilligen Sünder vorenthalten. Die Gnade der Bekehrung wäre in diesem Sinne notwendig gewährt, so sehr dem Menschen die – warum auch immer aktualisierte – Möglichkeit bleiben muss, sich gegen diese Gnade zu verschließen. Kann man die Freiheit Gottes tatsächlich so sehen, dass Gott die Menschen als zuinnerst auf Gemeinschaft angewiesene Wesen erschaffen hätte und ihnen die Erfüllung ihres Gemeinschaftswesens in der Gemeinschaft mit sich auch hätte verweigern können? Oder sollte von der Ungeschuldetheit der Gnade nicht eher mit anthropologi-
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schem Akzent gesprochen werden? Das hieße: Der Glaubende weiß, dass Gottes Gnadenzuwendung von ihm selbst nicht verdient werden kann, so wie man sich ein Geschenk eben nicht verdienen kann. Aber er muss nicht darüber urteilen, in welcher Hinsicht das Geschenk von Gott her gesehen ungeschuldet ist bzw. von ihm auch nicht hätte gegeben werden können. Es mag ja so sein, dass Gott dieses Geschenk der Gemeinschaft mit den Menschen sich in gewisser Weise selbst „schuldet“ – ohne in seinem Gottsein davon abhängig zu sein, dass die Menschen es annehmen und aus ihm leben. Formuliert man das Problem so, wirft es die theologisch zentrale Frage nach dem Sinn der Freiheit Gottes auf. Dieser Frage hat man sich zur Mitte des 20. Jahrhunderts nicht gestellt. So war auch de Lubac – jedenfalls vorübergehend – von kirchlichen Maßregelungen betroffen, ehe er doch zum Kardinal aufstieg. Karl Rahner (1904– 1984) ging den angesprochenen Fragen eher aus dem Weg, indem er einen anderen Aspekt des Blondelschen Denkens aufgriff. Blondel sprach davon, dass schon die innerste Dynamik des Menschseins – die Begierde nach einem anvertrauenswürdigen Absoluten – ein Gnadengeschenk sei. Damit war der Begriff einer bloßen Menschennatur (natura pura), die noch nicht von Gottes Gnade berührt wäre, entweder abgetan oder als bloße Konstruktion relativiert, die nur die Funktion haben konnte, Gnade als vom Menschen her unverdiente Gabe anzusprechen. Rahner denkt die zweite mögliche Folgerung mit großer Konsequenz durch und kommt so zu seinem Konzept des übernatürlichen Existentials. In der Tradition Rosminis und Blondels sieht Rahner den Menschen als Geist-Geschöpf durch das Transzendieren seiner geistigen Grundvollzüge über alle endlichen Gegebenheiten hinaus ins Unendliche ausgezeichnet. Das Gute, das der Mensch erstrebt, ist ihm erstrebenswert im Unendlichkeitshorizont des höchsten Guten; und so ist menschliches Streben, wenn es sich tatsächlich dem Guten öffnet, immer schon über jedes endlich Gute auf das unendlich und in sich Gute ausgerichtet und herausgefordert, sich von ihm zuinnerst in Anspruch nehmen zu lassen – sich ihm anheimzugeben. Menschliches Erkennen vollzieht sich im Unendlichkeitshorizont einer alles einbeziehenden und schlechthin umfassenden Würdigung, welche das Erkannte tatsächlich als es selbst wahrnehmen würde; und es sieht sich deshalb herausfordert, das ihm gegebene Endliche so aufmerksam und unvoreingenommen wie irgend möglich zu würdigen. Aber ist der unendliche Horizont der Güte und Wahrheit selbst für den Menschen eine gute Herausforderung; die Herausforderung, sich in
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seinem Erkennen und Lieben hoffend über alle endlich bezogenen Realisierungen dieser elementar-geistigen Vollzüge hinaus auf eine Unendlichkeit hin zu transzendieren, in der er sein Wollen und Erkennen gerechtfertigt, aufgenommen und vollendet wissen dürfte? Oder überschreitet er sich in seinem Wollen und Erkennen letztlich doch ins Leere und Absurde hinein, in die leere Geheimnislosigkeit des Nichtigen, so dass er besser beim Endlichen bliebe? Sind Erkennen und Wollen also von einer letzten Vergeblichkeit bestimmt, dazu unterwegs, an der Unzugänglichkeit und Vergeblichkeit aller Wirklichkeit zu scheitern? Oder erfahren sie sich getragen von der guten Hoffnung, in allem Erkennen und Wollen teile sich ihnen schon anfänglich das zutiefst und zuletzt Wissenswerte und Liebenswerte mit? In Rahners Worten, die von diesem unendlichen Woraufhin von Erkennen und Wollen als unendliches Geheimnis sprechen: Will dieses Geheimnis „die für uns schweigend in sich verschlossene und uns in unsere Endlichkeit hineindistanzierende Unendlichkeit oder die radikale Nähe der Selbstmitteilung sein“?35 Von sich aus kann sich der Mensch diese Frage nicht beantworten und sich zur Hoffnung darauf bewegen, dass seine Sehnsucht im Erkennen und Wollen zu einem beseligenden Geheimnis und nicht zu schlechthin unzugänglicher Vergeblichkeit unterwegs ist. Wo der Mensch sich zur Hoffnung auf den ihm entgegenkommenden Unendlichen geöffnet und zur Sehnsucht nach dem Geschenk des in sich und schlechthin Wahren und Guten inspiriert erfährt, da hat ihn Gott schon mit seiner Gnade angerührt. So gilt auch für Rahner, gerade für ihn, Blondels gnadentheologischer Kerngedanke, „die Dynamik unseres Suchens, das uns Gott entgegenführt, [sei] in seinem tiefsten Grund ein Gnadengeschenk.“36 Gottes Zuwendung in der Gnade, die den Menschen erst zu wahrer, hoffender Offenheit seiner geistigen Selbstvollzüge gelangen lässt, bringt sich – so Rahners emphatisch-einfühlsame Meditation – zu Bewusstsein, „wenn man plötzlich die Erfahrung personaler Liebe und Begegnung macht, plötzlich selig erschreckt merkt, wie man in Liebe absolut, bedingungslos angenommen wird, obwohl man für sich allein in seiner Endlichkeit und Brüchigkeit dieser Bedingungslosigkeit der Liebe von der anderen Seite gar keinen Grund und keine zureichende Begründung geben kann, wie man selbst ebenso liebt, in unbegreiflicher Kühnheit die gewusste Fragwürdigkeit des anderen überspringend, wie diese Liebe in ihrer Absolutheit einem Grund vertraut, der ihr selbst nicht
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mehr untertan ist, ihr in seiner Unbegreiflichkeit zuinnerst und von ihr unterschieden ist.“37
Dem Menschen zuinnerst und doch von ihm unterschieden: das Geschenk des Sich-öffnen-Könnens für eine Erfüllung unseres Erkennens, Hoffens und Liebens, welches unsere Selbstüberschreitung mit Gottes-Sehnsucht beseelt. Gott lässt – so Rahner – keinen Menschen ohne dieses Geschenk; denn ohne es könnte der endliche Geist gar nicht verstehen, was es hieße, dass seine erkennend-liebend-hoffende Selbstüberschreitung in Gottes Selbstmitteilung zum Ziel kommt; könnte er gar nicht darauf hoffen. So ist jeder Mensch von Gottes Gnade berührt, weil jeder Mensch zum Glauben und zur Gottesbegegnung berufen ist – und verstehen können muss, was das für ihn bedeutet. Niemand ist eine gnaden-lose natura pura; das konkrete Menschsein ist immer schon bestimmt durch ein übernatürliches Existential, welches ihn Gott-Begegnungs-fähig macht. Rahners Konsequenz: Der Mensch ist von Gott her einbezogen in eine Heils- (bzw. Gnaden-)Geschichte und eine Unheilsgeschichte: als von Gottes Gnade Berührter und dieser Berührung sich Öffnender oder sich Verschließender und darin seiner Gottes-Zukunft sich Anvertrauender oder Verweigernder. Als das unauflösbare Geheimnis dieser Heils- und Unheilsgeschichte wird man es anzusehen haben, wie der Mensch sich Gottes Berührung verschließen kann, und wie Gott immer wieder Bekehrung ermöglicht, wie er sich vielleicht nie „geschlagen gibt“ von der Gotteszukunftsverweigerung der Sünder – ihrer Hoffnungsverweigerung. In der Christologie wird dieses Geheimnis als Heilsmysterium des guten Willens Gottes eine geschichtliche Wirklichkeit: Gott „transsubstantiiert“ die Verweigerung der Menschen, die Gottes Heilszusage in Person aus ihrem Leben und der Geschichte zu verdrängen suchen, zum unerschöpflich gnadenwirksamen Zeichen – zum „Realsymbol“38 – der Versöhnung in der nahe gekommenen Gottesherrschaft. 6.5 Gnade mitten im Leben Gnade wird biblisch verstanden als Lebens-Steigerung, als das Zugänglichwerden von Weite und Hoffnungskraft, als das Inspiriert- und Motiviertwerden von einer Gottes-Verheißung, die alle Lebenskräfte weckt, und so auch als das Glück eines Lebens, in dem spürbar wird, wie es in Gottes Gegenwart zu seiner Fülle kommt. Mit all dem
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kommt Leben ins menschliche Leben, Leben aus Gott und auf Gott hin. Aber ist es tatsächlich so, dass das Lebenssteigernde ins Leben kommt? Oder doch „in Wirklichkeit“ so, dass menschliches Leben sich aus sich selbst und zu sich selbst steigert? Friedrich Nietzsche ist einmal mehr der Gesprächspartner, mit dem heute die Kontroverse um die Fülle des Lebens auszutragen wäre. Er bleibt die Antwort darauf nicht schuldig, was das für ein Leben ist, das sich aus sich und zu sich selbst – zum höheren Leben – steigert. Es ist – so Nietzsche – ein Leben, das gegen den Tod stark werden, alles vom Tod Infizierte und Geschwächte von sich abstoßen muss. In dieser Abstoßung potenziert sich die Energie des Lebens, um sich schließlich an den Prozess des machtvollen Lebens und des in allem wirkenden Willens zur Macht hinzugeben. Zarathustras Jünger sollen die Selbstbehauptung des Lebens gegen alle Schwächung des Lebensdrangs mitleben, sich „aller empfindsamen Schwächlichkeit erwehren“39, damit die Macht des Lebens noch im Sterben seine Macht entfalte. Lebenssteigerung durch Gnadenlosigkeit gegen das Schwache und „Degenerierte“: Nur so kann Leben über mich hinweg zu höherem, wirklichem Leben aufsteigen. Gnade ist lebensfeindlich, bedeutet Nachgiebigkeit, wo Rücksichtslosigkeit um des Lebens willen gefordert wäre; bedeutet Solidarität mit den Lebensuntüchtigen, Hoffnung für die Sterbenden, daran glauben wollen, dass in der Natur und über sie hinaus mehr Wirklichkeit wird, als was die Natur aus sich selbst hervorbringt. Nietzsches Plädoyer für die Stärkung eines gnadenlosen Willens zum höheren Leben – zur Macht des Lebens – spitzt die Alternative zur Fülle des Lebens aus der Gnade dramatisch zu. Vor, neben und nach Nietzsche trifft man vielfach auf weniger dramatische, fast selbstverständliche Abschiede von der Gnade, vielleicht auch von der Überanstrengung eines höheren Lebens. „Säkulare“ Menschen wissen nicht mehr, was sie sich von der Gnade für ein gutes Lebens erwarten sollten. Warum das gute Leben nicht auf den Wegen der Natur und aus eigenen Kräften erreichen? Menschliches Wohl scheint in der menschlichen Natur vorgesehen und aus ihr heraus realisierbar. Liegt in ihr denn nicht die Möglichkeit, sich zum wechselseitigen Vorteil solidarisch zusammenzufinden und den Eigennutz mit dem Interessiertsein an dem für alle Nützlichen zu verbinden? Auf dieses Verbundensein von Selbstliebe und Solidarität im Einsatz für das gemeinsame Gute kommt es doch offenkundig entscheidend an. Sie scheint keine Sache der Gnade zu sein, sondern einer durch Aufklärung vorangebrachten, im Entscheidenden sich selbst tragenden und
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auf eine „selbsttragende“ moralische Ordnung hinführenden Entwicklung menschlicher Möglichkeiten und Kräfte. Was von Augustinus zum strikten Gegensatz zugespitzt wurde – Liebe zu sich selbst und Liebe zu Gott oder zum höchsten Gut –, das schien sich nicht mehr zu widersprechen. Man müsste nur aufmerksam die innere Hinneigung der Natur zur Verfolgung des Eigennutzes bei gleichzeitiger Förderung des für alle Guten in den Blick nehmen, sie in vernünftig-„liberaler“ Praxis zur Geltung bringen und zur Richtschnur ethischen Handelns machen. Sobald man es einleuchtend fand, diese „natürliche“ Willensharmonie als Inbegriff erfüllten Lebens und moralischer Vollendung anzusehen, und sobald man – etwa beim Blick auf die im ökonomischen Handeln gleichsinnig sich steigernden und eben nicht gegeneinander gerichteten Intuitionen des Eigennutzes und des Gemeinnutzens – Anlass zu haben schien, die Realisierung der natürlichen Harmonie als in den elementaren menschlichen Antrieben selbst angelegt zu sehen, schien für das Erreichen des menschlich Wertvollsten Gnade definitiv bedeutungslos geworden zu sein. Wenn man auch noch darauf verweisen konnte, dass Menschen ganz ohne Inanspruchnahme ihrer Gottesbeziehung zu „menschlichem“ Mitgefühl und Solidarität fähig und bereit schienen, was lag da noch an der Gnade als Ressource für erfülltes Leben? Es war offenbar tatsächlich so weit gekommen, „dass moralischspirituelle Ressourcen als etwas rein Immanentes erlebt werden“ und Menschen davon überzeugt sein können, „ganz im Bereich der rein innermenschlichen Kräfte bleiben [zu] können“40, wenn sie sich auf dem Weg zu menschlicher Erfüllung wissen. Wer die Kräfte der menschlichen Natur entdeckt und kultiviert, braucht die Gnade nicht mehr. Er hat sie auch bei der Verfolgung seiner höchsten Ziele nicht mehr nötig. Man konnte einwenden, dieser Aufklärungsoptimismus in die natürlich-moralischen Ressourcen der Menschen sei in den folgenden Jahrhunderten doch ziemlich kleinlaut geworden und habe mit der Psychoanalyse des 20. Jahrhunderts der illusionslosen Einsicht in die tiefe und unaufhebbare Ambivalenz der elementaren menschlichen Antriebe und Gefühle weichen müssen. Man wird mit gutem Grund darauf hinweisen, dass deshalb auch der Inbegriff erfüllten oder höheren Lebens seit der Aufklärung eine weitere dramatische Herabstufung erlitten hat. Nach Freud dürfte man schon zufrieden sein, wenn es der menschlichen Liebeskraft gelänge, die Destruktivität der Menschen einigermaßen im Zaum zu halten und sie hie und da fruchtbar werden zu lassen. Spricht solcher „Realismus“ tatsächlich für sich selbst – oder doch
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nur dafür, dass man mit den „größeren“ Hoffnungen nichts mehr anfangen kann, womöglich gerade deshalb nichts mehr anfangen kann, weil sie für die Rettung des Menschlichen gegen seine Verächter ja doch nichts bringen? Gnadentheologisch scheint es noch zu einer weiteren Rückfrage kommen zu müssen. Dass man Gnade nicht mehr braucht, weil sie nicht ersetzen kann, aber auch gar nicht ersetzen soll, was vom Menschen selbst zu leisten und zu entwickeln ist: das klingt fast wie eine außertheologische Entsprechung zur Warnung vor der Naturalisierung der Gnade, zu der sich das römische Lehramt in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer wieder veranlasst sah. Ja, Gnade kann nicht an die Stelle natürlicher Prozesse treten, kann im Kontext des Menschlich-Natürlichen nicht erforderlich sein – in dem Sinne nötig sein, dass der Mensch in seinem Menschsein unabdingbar auf sie angewiesen wäre. Gnade verändert die Natur nicht, sondern macht sie in einem neuen, von der Natur selbst nicht erschließbaren neuen Zusammenhang lebbar. Gnade öffnet – so kann man es vielleicht sagen – den Horizont für eine Vollendung des Menschlichen, in den sich menschliches Leben erst einfinden und einüben müsste, um zu entdecken, wohin es unterwegs sein und woraufhin es sich transzendieren darf, zu welcher Größe und „Überfülle“ es berufen ist.41 Kirche wäre dann – gründlich und recht verstanden – Gemeinschaft der Einübung und des Sich-Einlebens in die Verheißung dieser Überfülle, gemeinschaftliches Entdecken der „übernatürlichen“ Ressourcen, in denen die Überfülle eines guten Lebens aus Gott menschliches Leben zu bestimmen anfängt. Leben aus der Gnade wäre ein von Glaube, Hoffnung und Liebe getragenes und erfülltes Leben, Leben in der Kraft der „theologischen Tugenden“, die dem Leben die Spannkraft geben, auf den Nächsten und auf Gott hin zu leben und so hineinzuleben in den Zukunftshorizont eines Lebens, das nicht verloren geht, sondern zu seiner Vollendung unterwegs ist, wenn man es selbstvergessen teilt und einsetzt. So sehen es Menschen, die den Glaubensweg zu gehen versuchen: Mitten in ihrem Leben kommt die Gnade zu ihrer Wirkung, als Glaubens-, Hoffnungs- und Liebeskraft. Wer aus diesen Kraftquellen lebt, gewinnt die Weite eines Lebens, die er sich niemals selbst aufschließen und verbürgen könnte, die er aber als Horizont eines Lebens in Fülle wertschätzen und für den er sich deshalb dankbar öffnen lassen kann. Gnade geschieht inmitten der elementaren geistigen Selbstvollzüge und nimmt diese hinein in den Horizont der Selbstmitteilung Gottes an den Menschen. In diesem Horizont werden sie zu „übernatürlichen“ Tugenden, durch de-
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ren Glaubens-, Hoffnungs- und Liebeskraft die Menschen schon in diesem Leben – in den Grenzen ihres endlich-geschichtlichen Lebens – an Gottes „ewigem“ Leben teilhaben. Befremdlich klingen solche Formulierungen, weil sie davon auszugehen scheinen, dass das menschliche Selbst nicht aus sich lebendig wird, dass es zum Leben kommt, indem es aus Quellen schöpft, die ihm nicht wie beliebig nutzbare Lebensressourcen selbstverständlich zur Verfügung stehen.42 Es widerspricht moderner Selbstwahrnehmung, das Selbst nicht als „Ausgangspunkt“ aller seiner Initiativen und Zustände zu sehen, es gewissermaßen als durchlässig für Energien und Kräfte anzusehen, die in ihm Lebenssteigerndes, ja Lebensentscheidendes hervorrufen. Mit der „Entzauberung“ der Weltwirklichkeit spätestens seit der mittelalterlichen „Aufklärung“ verloren gute und böse Geister – auch göttliche Mächte – den ontologischen Status von Wirklichkeits-bestimmenden, unverfügbaren und auch auf die Menschen wirkenden Mächten. Subjektivität und Einwirkungs-Macht kommen nun allein noch den Menschen zu, die prinzipiell alle Gegebenheiten als Naturgegebenheiten ihrer Selbstbestimmung unterwerfen und sich von diesen nur noch insoweit bestimmen lassen müssen, als sie auf die Gesetze achten, deren Kenntnis sie für das menschliche Selbst verfügbar machen. Das Selbst-Bild wandelt sich seither von dem des „porösen“ zu einem „abgepufferten Selbst“. Das poröse Selbst hatte „die Quellen seiner eindringlichsten und wichtigsten Gefühle außerhalb“ seiner selbst.43 Das abgepufferte Selbst verfügt über die Möglichkeit der Distanzierung. Es weiß sich als den Ursprung seiner Stellungnahmen und Bedeutungszuweisungen, mit denen es nicht nur in der Welt ist, sondern Welt hat – seine Weltbezüge konstituiert.44 Selbst und Welt treten ins Verhältnis des Innen zum Außen; in ein Verhältnis, das vom Selbst gelebt und bestimmt, von innen nach außen konstituiert wird. Das Selbst „entbettet“ sich aus der ihn umgebenden – gar durchdringenden – Außenwirklichkeit; es ist desengagierter Beobachter einer ihm gegenüberstehenden, von ihm objektivierten Wirklichkeit. Seine Innenwirklichkeit erscheint ihm als die alleinige Quelle seiner ihm möglichen Intentionen und Handlungen. Ihm von außen zukommende oder geschehende höhere, „gnadenförmige“ Lebens- oder Handlungsmöglichkeiten erscheinen diesem abgepufferten Selbst eher als mysteriöse und überdies unnötige Projektionen. Hier scheint sich eine im Wesentlichen irreversible Entwicklung vollzogen zu haben: die vom mythischen Denken hin zu einer säkularen Rationalität, welche das menschliche Selbst nur als selbstur-
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sprünglich und Welt-konstituierend denken kann. Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass man auch die elementaren religiösen Erfahrungen des Ergriffenseins – im Extrem: des Besessenseins – als „Leistungen“ des Selbst interpretierte und deshalb die mythische Perspektive, die gerade in den starken Affekten die wirksame Gegenwart von göttlichen Mächten erfuhr, als definitiv überholt angesehen hat.45 Auch das Ergriffensein des Ergriffenen ist dessen eigene Leistung bzw. eine Anmutung, die ihn vielleicht aus seiner Seelentiefe erreicht, aber eben nicht auf eine „von außen“ eingreifende Macht zurückgeht. Wo diese selbst-ursprüngliche, „desengagiert“ von außen auf die Welt einwirkende Selbst-Subjektivität im 20. Jahrhundert auf allerdings fragwürdige Weise fragwürdig wird, zeigt sich, dass der Mensch nicht der Herr seines In-der-Welt-Seins, seiner „Gestimmtheiten“ ist: der Weisen, wie sich ihm das In-der-Welt-Sein zur Erfahrung bringt und vollziehbar wird.46 Das Selbst (das menschliche „Dasein“) findet sich vor; es ist, was es ist, nicht einfach und in jeder Hinsicht aus sich selbst. Es kommt dann nicht von ungefähr, dass die Frage nach dem Woher der Gestimmtheit und nach dem im SichVorfinden jeweils Gefundenen der Theologie – vor allem der evangelischen Theologie – die Möglichkeit gab, neu vom Gnadenhandeln Gottes und der Rechtfertigung des Sünders zu sprechen.47 Aber wie wären die im Prozess der Entzauberung gewonnenen Möglichkeiten und Einsichten theologisch so zu sichern, dass man dafür nicht die Geschichte des menschlichen Selbstbewusstwerdens zur Selbstbestimmung durchstreichen müsste? 6.6 Gnade und Glück Dass ins Leben kommt, was das Leben steigert, gar zu seiner Fülle bringt, aber nicht einfach der Selbststeigerung des Lebens zugeschrieben werden kann, das scheint elementar an den Erfahrungen des Glücks aufweisbar. Das Glück müsste mir widerfahren; ich kann nicht von mir aus bewirken, dass es mir zufällt. Glück gehabt – oder Pech gehabt: die Lotterie des Lebens kennt Hauptgewinne und Nieten. Und mit des Glückes Mächten ist kein ew’ger Bund zu flechten. Was sind überhaupt „des Glückes Mächte“? Sind sie zu reduzieren auf den bloßen Zufall? Oder sind tatsächlich Mächte am Werk, die das Zufällige zubestimmen? Wo es um bloßen Zufall ginge, hätte das, was mir da zufällt, mit mir keine Beziehung, so sehr es mein Leben fördern oder schädigen oder auch herausfordern kann. Die Geschich-
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ten über lebensglückliche, weil lebenstüchtige und unglückliche, weil lebensuntüchtige Lottomillionäre sind Legion. Das Glück in der Gestalt der Fortuna: Es fällt mir zu; ich kann es ergreifen wollen – und ich bleibe doch Objekt dessen, was mir da geschieht. Es verändert meine Lebensumstände, betrifft mich von außen, aber es geschieht nicht wirklich mit mir. Fortuna, die reine Kontingenz, wäre sicher kein Modell für Gnade. Oder „riechen“ manche Modelle der Prädestinationslehre nicht doch verdächtig nach Gnade als purer Kontingenz: Gnade als Gottes-Zufall? Das Unangemessene dieser Assoziation scheint auf der Hand zu liegen. Gnade geschieht mir doch nicht von außen, beziehungslos, zufällig. Aber ist es mit dem Lebensglück nicht ebenso? Es bedeutet doch Gelingen, das Gelingen meines Lebens; ein Gelingen, in das ich als Subjekt meines Lebens zutiefst einbezogen bin und das im Entscheidenden nicht mein Werk ist. Recht ungeschickt sagt man tatsächlich, man müsse es ergreifen oder „schmieden“; jeder sei seines Glückes Schmied. Aber bleibt man damit der Erfahrung des Glückens nicht das Entscheidende schuldig? Es geschieht mir etwas, das mich zuinnerst anrührt und herausfordert. Ich lasse mich von ihm so herausfordern, dass es gut mit mir wird, oder es fordert mich so heraus, dass es gut mit mir werden kann. Genau so gelingt zwischen ihm und mir das, was jetzt gut für mich und auch für andere ist. Es gelingt, wovon ich und hoffentlich auch andere in der Rückschau sagen werden: Gut, dass es so gekommen ist. Es gelingt nicht einfach mir oder uns; aber es gelingt mit mir, mit uns und für uns. „Das Glück ist nicht unser Werk; es vollendet dieses, ohne dass man einen verdienten Anspruch darauf hätte.“48 Wenn man so vom Glück redet oder stammelt, kommt einem der Zusammenhang von Glück und Gnade schon deutlich enger vor.49 Und dann kann man vielleicht doch sagen: Mir kommt es als Gnade zu, dass ich mitkommen kann, dass ich in dem, was mir da zukommt, zu dem kommen kann, was gut für mich (und andere) wird, weil ich in die Lage komme, mit dem mir Geschehenden selbst mitzuwerden. Was da allgemein und formal als Gelingen beschrieben wird, begreift mich ebenso ein, wie das mir Geschehende. Und es ist klar: Das mir Geschehende macht das Gnadenmoment des Gelingens entscheidend aus. Aber ich selbst bin so innerlich ins Gelingen einbezogen, dass es an mir und auch durch mich Wirklichkeit wird. Vielleicht kann man – immer noch ziemlich hilflos – sagen, dass ich das Medium oder das lebendige „Instrument“ bin, dessen das Gelingen sich bedient. Es hat eine Eigenwirklichkeit; aber ich bin der, der das Gelin-
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gen leben – es bezeugen – darf. Und genau darin scheint ja mein Lebensglück zu liegen, dass sich hier ein Gelingen bezeugt, dem ich dienen kann und das sich genau so mit mir ereignet. Ist damit nicht eine Erfahrung umschrieben, die eine Ahnung davon vermitteln kann, wie einseitig die Selbstwahrnehmung des „abgepufferten Selbst“ doch ist – wie Gnade mitten im MiteinanderLeben und im Selbst wirklich wird? Beim Blick auf Menschen, welche die Wirklichkeit der Gnade bezeugen durften – etwa Mystiker und Mystikerinnen des späten Mittelalters wir Johannes vom Kreuz und Teresa von Avila – sträubt sich etwas gegen diesen schnellen gnadentheologischen Schluss. Ist die Erfahrung der Gnade tatsächlich durchweg die des Gelingens und nicht oft genug gerade die des Scheiterns? Provoziert die Kategorie des Glücks (im Sinne des Glückens und Geglücktseins) nicht doch fast mit Notwendigkeit Vorstellungen eines natürlich-vitalen Wohlseins, das man bei begnadeten Gottesmenschen keineswegs immer, vielleicht sogar eher selten realisiert sieht?50 Die „Gnade des Nullpunkts“ mag manche von ihnen erst zum bedingungslosen Gottvertrauen bewegt haben. Die Gnade des Scheiterns wird ihnen vielfach erst den Horizont ihrer Umkehr geöffnet haben. All das mag im Sinne ihrer Glaubensbiographie ein Glück für sie gewesen sein. Aber was bedeutet es dann noch, vom Glücken zu sprechen, wenn es im Scheitern geschieht? Inwiefern also sind die vital-natürlichen Erfahrungen des Glückens irgendwie doch aufgenommen in das übernatürliche Gnadengeschehen? Und wo wird es vermutlich in die Irre führen, wenn man sich von solchen Erfahrungen und Erinnerungen gnadentheologisch führen lässt? Müssen sie gar im Zeichen des Kreuzes aufgehoben und durchgestrichen werden, damit das „Eigentliche“ der Gnade zum Durchbruch kommt? Diese Fragen gehen noch einmal auf die gnadentheologisch so zentrale Frage zurück, ob und gegebenenfalls in welchem Sinne Gnade als Gabe bzw. als Geschenk gedacht und vom Menschen auch als solches erfahren werden kann. Könnte sich der Mensch von der Gnade beschenkt erfahren, müsste sich diese Erfahrung als ganzmenschliche auslegen und nachvollziehen lassen. Auch da also, wo sie – menschlich gesehen – Scheitern einschließt, gar mit menschlichem Scheitern identisch zu sein scheint, müsste der Geschenkcharakter der Gnade theologisch und in der Erfahrung des Glaubens erkennbar bleiben. Von welchem Geschenk aber ist da die Rede; und wie könnte von ihm die Rede sein, ohne dass man in den Zynismus abglitte? Dass sich die Gnadenlehre auf diese Frage zuspitzt, wird kaum überraschen. Aber erst in gegenwärtigen Entwürfen ist die durchaus in der
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Tradition geläufige pneumatologische und gnadentheologische Kategorie des Geschenks bzw. der Gabe wieder ins Zentrum gerückt.
Literatur Maurice Blondel, Logik der Tat. Aus der „Action“ von 1893 ausgewählt und übersetzt von P. Henrici, Einsiedeln 1957 (das Buch, welches die neuscholastische Gnadenlehre endgültig überwunden hat). Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg – Basel – Wien 1976 (ein Gesamtüberblick über Rahners Theologie, die im Entscheidenden Gnadentheologie war).
7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe: Geschichte einer Herausforderung
In der Gnade gibt Gott sich selbst durch seinen Heiligen Geist, der die Menschen zum Aufbruch in die Gottesherrschaft bewegt und inspiriert. Wie der Gottesgeist den Menschen an Gottes Wirklichkeit teilhaben lässt, das kann gnadentheologisch erläutert werden, indem man sich auf sozialwissenschaftliche und philosophische Gabe-Diskurse bezieht: Menschsein bedeutet danach nicht einfach Selbstursprünglichkeit, sondern Sich-gegeben-Werden in GabeVerhältnissen, in denen Menschen Aufmerksamkeit und Würdigung erfahren und selbst dafür geöffnet werden, Aufmerksamkeit und Würdigung zu gewähren. Die Gnadentheologie versucht, das Anteil-Gewinnen an solchen Gabe-Verhältnissen als Teilnehmendürfen an Gottes Selbstgabe auszulegen.
7.1 Das Mit-Gegebene: Mitgift, so oder so Gabe alltäglich: Das Wechselspiel von Geben und Empfangen macht die Menschen zu sozialen Wesen. Ich gebe und empfange, also bin ich Mensch in Gemeinschaft. Wenn Geben und Empfangen als ökonomische Realitäten begriffen werden – als erwartbare, weil bezahlte oder sonstwie „verdiente“ Gegenleistung, als das Entgegennehmen des als verdient Angesehenen –, spricht man eher nicht mehr von einer Gabe, bestimmt nicht von Geschenk. Gabe und Geschenk haben ihren Ort vor allem in nicht-ökonomischen Sozialbeziehungen, bei denen es eine gewisse Asymmetrie im Verhältnis von Gebenden und Empfangenden gibt. Der Gebende empfängt nicht, und der Empfangende gibt nicht. Bei genauerer Betrachtung kommt man freilich ins Grübeln. Ist es nicht oft so, dass der Empfänger dem Gebenden durch die Weise, wie er das Gegebene empfängt, unendlich viel geben kann, mehr womöglich, als der Schenkende ihm gegeben hat? Gar nicht so selten erfährt sich der Schenkende selbst zuinnerst beschenkt, da er an der Freude des von ihm Beschenkten teilhaben darf. Anthropologische und sozialwissenschaftliche wie identitätstheoretische und philosophische Gabe-Diskurse machen mehr oder weniger deutlich, wie komplex
7.1 Das Mit-Gegebene
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sich Beziehungen aufbauen (können), in denen dem Geben wie dem Empfangen eine zentrale Bedeutung zukommt.1 Ein entscheidendes und die Gabe-Beziehungen von ökonomischen Verhältnissen unterscheidendes Merkmal scheint es zu sein, dass die Gabe tatsächlich Beziehung initiiert. Mit der Gabe fängt etwas an oder tritt etwas in eine neue Phase, während ökonomische Beziehungen mit dem vollzogenen Geschäft zunächst einmal abgeschlossen sind: Man ist quitt, wenn man für eine Leistung bezahlt hat, und geht seiner Wege. Es ist gewiss möglich und auch häufig so, dass gute Geschäfte weitere nach sich ziehen: Man baut gute Geschäftsbeziehungen auf. Aber die Logik des Ökonomischen ist keine Beziehungssondern eine Ergebnislogik. Es geht um Bilanzen, nicht – jedenfalls nicht direkt – um Beziehungsgeschichten. Das scheint in Gabe-Verhältnissen grundlegend anders zu sein. Die Gabe bringt eine auf den Empfänger gerichtete Absicht des Gebenden zum Ausdruck. Diese Absicht mag kaum bewusst oder aber wohl überlegt in das Geben „investiert“ sein; sie kann mehr oder weniger institutionalisiert oder konventionell sein; vielleicht täuscht sich der Gebende auch über seine wahre Absicht. Aber die Gabe „transportiert“ als solche eine Intention, die verstanden werden will, so sehr sie auch häufig missverstanden wird. Lässt sich formal und allgemein etwas über die Absicht sagen, die eine soziale Beziehung zu einer Gabe-Beziehung macht? Zumindest so viel: Es ist dem Gebenden mehr oder weniger wichtig, nie jedoch völlig gleichgültig, diesen Empfänger mit dieser Gabe zu erreichen. Und so liegt ihm auch daran, dass seine Gabe beim Empfänger „ankommt“, dass sie ihm willkommen ist. Man mag das eher als Charakteristikum des Geschenks ansehen, würde aber auch kaum von einer Gabe sprechen wollen, wenn die leitende Intention nicht von diesem Wohlwollen bestimmt wäre. Freilich: es gab und gibt das Danaer-Geschenk, mit dem die Beschenkten sich das Verderben „ins Haus“ holen; sei es, dass das Geschenk von vornherein – wie im Troja-Mythos – eine böse List zum Erfolg bringen soll; sei es, dass Schenkende wie Beschenkte selbst nicht absehen können, wie unheilvoll diese Gabe-Beziehung sich auswirken wird. Wir kommen in Grenzbereiche des Gabe-Phänomens – und müssen damit rechnen, dass es gerade hier gnadentheologisch ebenso prekär wie bedeutsam wird. Wenn die Gabe, die den Empfangenden erreicht, ihm mehr oder weniger nahe kommt, das „Herzblut“ eines Menschen ist, seine innere Wirklichkeit, die er dem Empfänger (mit-) gibt, aber eben auch die Last, gar das Trauma, das diese innere Wirk-
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
lichkeit zum Verhängnis machen kann: Geschieht dann nicht das Geben wie das Empfangen in einer Tiefe, in der die Gabe-Beziehung zu einem Schicksal wird, dessen Bedeutung die Beteiligten kaum noch ermessen können? Die Rede ist von einem Erbe, das die Gebenden weiter-geben, ohne recht zu wissen, was sie da vererben, und das die Empfangenden antreten, ohne gefragt zu werden und abschätzen zu können, was da in ihr Leben kommt. Man sollte nicht zu schnell vom Schicksal sprechen.2 Vom Verhängnis schon: Es setzt sich eine Unheilsgeschichte fort, weil die Weiter-Gebenden ihr eigenes Unheil-Sein in ihre Gabe mit investieren; weil sie weitergeben, was sie sind – in und noch vor allem Wollen. Wir erreichen hier eine Weiter-Gabe-Wirklichkeit, welche man in der theologischen Tradition mit den verhängnisvoll missverständlichen Begriffen Erbschuld oder gar Erbsünde zum Ausdruck zu bringen versuchte. Es geschieht tatsächlich ein Geben, in welchem Unheil weitergegeben wird, nicht weil die Gebenden es so wollten und die Empfangenden es empfangen wollten, sondern weil die Gebenden von ihm in einer Tiefe bestimmt und zur Weitergabe bestimmt sind, über die sie nicht mehr willentlich verfügen können. Von Erbsünde zu sprechen führt dann in die Irre, wenn man so etwas wie eine Kollektiv-Verantwortlichkeit der Weitergebenden und der Empfangenden unterstellt, die dann auch noch eine allgemeine Straf-, ja Verdammungswürdigkeit begründen würde. Dieser Aspekt des augustinischen Erbsündebegriffs hat theologisch viel Unheil angerichtet. Ein Erbe kann – so wird vielfach eingewandt – doch nicht jene Verantwortlichkeit mit sich bringen, die allein mit einer freien Entscheidung verbunden ist.3 Als vollends prekär stellt sich die Erbsündenlehre mit der noch vom Trienter Konzil wiederholten Unterscheidung dar, „diese Sünde [sei] durch Fortpflanzung [propagatione], nicht durch Nachahmung [non imitatione] übertragen [transfusum]“ (DH 1513). Die hier in Anspruch genommene Unterscheidung ist schon deshalb unbefriedigend, weil die Alternative Zeugung vs. Nachahmung die hier zu artikulierende Spannung, in gewisser Hinsicht zugleich Opfer und Täter zu sein, nicht im Mindesten artikulieren hilft. Verhängnisvoll hat sie sich aber auch darin ausgewirkt, dass sie es nahe legte, mit dem Akt der Zeugung die Sexualität überhaupt als Ursprungswirklichkeit der Sünde anzusehen. Nimmt man den Begriff Erbsünde mit Paul Ricœur aber als Metapher für eine Sünden-Macht, deren Unheilsdynamik ich – als Weitergebender wie als Empfangender – ebenso ausgeliefert bin, wie ich sie selbst zur Wirkung bringe, so bietet der Begriff eine hermeneu-
7.1 Das Mit-Gegebene
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tisch wertvolle Hilfe zur Artikulation der unauflösbar zweideutigen und spannungsreichen menschlichen Erfahrung, vom Unheil betroffen und in es so involviert zu sein, dass ich mich tatsächlich selbst in dieses Unheilsgeschehen investiere. Von mir gehen soziale Wirkungen aus, die andere, vor allem mir nahe stehende oder mir anvertraute Menschen in Mitleidenschaft ziehen, die ich nicht „im Griff“ habe, aber eben doch durch mich weitergegeben werden: durch meine Art, zu leben und das Leben mit anderen zu gestalten, unsere gemeinsame Welt zu formen. Diese sozialen Wirkungen sind Wirklichkeiten der Sünde, wenn sie die Ressourcen für ein erfülltes Lebens schädigen, statt ihnen zugute zu kommen. Menschen wirken daran mit, solche Ressourcen zu erschöpfen, gar zu vergiften. Sie versäumen es, das Ihre dafür zu tun, dass sich Menschen Möglichkeiten eröffnen, zu einem Leben in Fülle zu finden. Sie verweigern ihnen jenen guten Willen, der ihnen helfen würde, das eigene Leben ebenso wie das Leben anderer in seiner Fülle und Güte wahrzunehmen und zu bejahen. Diese sozialen Wirkungen, in denen sich den Menschen „von Anfang an“ – noch bevor sie sich selbst bestimmen können – Unheil mitteilt, sind die Lebensrealität eines Erbes, dessen Unheilswirklichkeit sich im Entscheiden und Handeln der Menschen verbreitet und verdichtet. Sie geben „immer schon“ die Geringschätzung weiter, die ihnen selbst mitgegeben wurde und zugefügt wird; so treten sie das Unheils-Erbe an. Was sie da anrichten oder versäumen, beginnen sie nicht; aber sie tun es. Sie wirken an einer Sünden-Dynamik mit, die ihnen ebenso zugefügt wie von ihnen selbst „dynamisiert“ wird. Und es lässt sich nicht trennscharf zur Klarheit bringen, inwiefern und inwieweit jeder und jede Opfer oder Täter dieser Unheilswirkungen ist. Der Sünder macht sich nicht selbst zum Sünder. Aber er lebt sein Sündersein in eigener Verantwortlichkeit – er tritt das Erbe an. Seine Selbstbestimmung als Sünder ist zutiefst und zuinnerst bestimmt von den Unheilswirkungen, die ihn in Mitleidenschaft ziehen. Aber er lässt sich in Mitleidenschaft ziehen. Dieses menschlich unauflösbare Ineinander und Zugleich – das Eine nicht ohne das Andere – kommt in der Metapher des Erbes immer noch gültig zum Ausdruck, wenn man sich theologisch entschließt, sich nicht an die im Augustinismus bestimmend gewordenen Assoziationen zu binden. Diese Metapher bleibt so lange glaubens-lebendig, als sie zu Auslegungen drängt, in denen an elementaren Menschheitserfahrungen die Spannung zwischen Opfer- und Tätersein erhellend nachvollzogen und auf die Wirkungen der Gnade bezogen wird, von denen hier ja – gerade nach Augustinus
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
– eigentlich zu sprechen ist. Wie aber wäre von der Gnade zu sprechen, wenn sie dazu gegeben wäre, dem Sünden-Erbe zu entkommen und die Gottesherrschaft zu „erben“ (vgl. Röm 8,17; Gal 3,18; Eph 1,14; 1 Petr 1,4)? Eine Sprechmöglichkeit, die ich hier vorschlagen will, wäre diese: Im Blick darauf, wie Unheil menschlich weitergegeben wird, im Blick also darauf, was dieses Geben so verhängnisvoll macht, könnte sich das Gegenbild andeuten und die Andeutung eines Gebens gewinnen lassen, welches dem Unheil des verhängnisvollen Weitergebens entgegenwirkt. Aber wie konkret lässt sich dieses Gegenbild theologisch entwerfen? 7.2 Anerkennung und Missachtung Das Danaer-Geschenk, das Menschen zum Verhängnis wird: Sie werden zu Opfern gemacht, zu „Erben“ eines Unheils, das so über sie und in sie kommt, dass sie selbst zu Tätern dieses Unheils werden. Opfer sein heißt elementar: in der desengagierten Außenperspektive wahrgenommen zu werden, in der das Selbst-Sein, die eigenen Wünsche, Erfahrungen und Optionen, nur im Blick auf ihre Beherrschbarkeit und Organisierbarkeit vorkommen. Das Desengagement der Beobachter rechnet mit den Anderen, insoweit man mit ihnen um eigener Vorhaben willen rechnen muss. Am Selbstsein – an der „Innenwelt“ – derer, mit denen es da rechnet, bleibt es desinteressiert. Man „schenkt“ den Beobachteten eine hochselektive Aufmerksamkeit: insoweit man sie braucht, um Erfolg zu haben.4 So präpariert man sie zum Gegenstand meiner (unserer) Verfügung, missachtet man das Gut- und Schönsein gerade dieses Lebens. Der desengagierte Beobachter sieht ihm die Fülle nicht an, die in ihm Wirklichkeit werden soll. Als ein Selbst missachtet zu werden, nur in Funktionszusammenhängen vorkommen zu dürfen, in denen es nicht (entscheidend) um mich geht, sondern allenfalls darum, wie ich in ihnen funktioniere und nützlich bin: Es mag einseitig sein, das Erbe, in das jeder Mensch hineingeboren wird, nur durch diese Funktionalisierung bestimmt zu sehen, der es im Wesentlichen darum geht, wofür ich gut (benutzbar) bin, nicht darum, mein Gutsein zur Geltung zu bringen.5 Ist das Erbe, dessen Menschen jeweils von Anfang an teilhaftig werden, sind die Menschheits-Ressourcen, an denen sie „immer schon“ teilhaben, nicht auch von einem Wohlwollen gespeist, dem es tatsächlich um das Gedeihen eines Menschen geht? Es ist offenkundig die tiefe
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Ambivalenz zwischen Wohlwollen und Benutzenwollen, welche die Conditio humana bestimmt, ihr möglicherweise evolutionär mitgegeben ist. Die Erbsündenlehre sieht vielleicht nur die Unheilsdynamik der Weitergabe von Missbrauch und Missachtung, nicht auch das „evolutionäre“ Erbe des Interessiertseins am Gedeihen und Selbstwerdenkönnen der Anderen und meiner selbst; das wohlwollende Interesse daran, dass das Leben gedeiht und zu seiner Fülle kommt. Sie wird für eine bedeutsame Artikulation menschlicher ElementarErfahrungen nur Bedeutung gewinnen können, wenn sie sich auf die Ambivalenzerfahrung bezieht, in der Menschen immer wieder neu auf Ressourcen des Wohlwollens angewiesen und von der Übermacht der (Selbst-)Missachtung heimgesucht sind, auf die Ambivalenz der Teilhabe an der Sünde wie an der Gnade. Am Danaer-Geschenk der kalkulierend-selegierenden Aufmerksamkeit, die das Selbst-Sein des Menschen missachtet, zeichnet sich das Angewiesensein auf die Gabe der Anerkennung als in sich selbst wichtiger und wertgeschätzter Mit-Mensch ab. Marcel Hénaff hat im Anschluss an Marcel Mauss und in der Auseinandersetzung mit ihm den Sinn der archaischen Gabepraxis wie noch gegenwärtiger, nicht-ökonomischer Gabepraktiken in der wechselseitigen Anerkennung von Gebenden und Empfangenden sehen können. Wichtig sei – so Hénaff – „nicht das Geben an sich, sondern ein Verfahren gegenseitiger Anerkennung (im Sinne von einander anerkennen) einzuleiten und fortzusetzen, das sich in kostbaren Gütern oder Diensten ausdrückt.“6 Aber was meint Anerkennung? Und wie könnte man der Gabe der Anerkennung zutrauen, die Ressourcen eines guten Lebens „aufzufüllen“, sie gegen den Zugriff einer bloß kalkulierenden Aufmerksamkeit zu schützen? Die Gabe – mehr noch das Geschenk – begründen die Verbindlichkeit einer Beziehung. In der Gabe wird derjenige, dem sie zugedacht ist, als ein Selbst anerkannt, dem ich in meinem Geschenk meinen guten Willen erweisen will. Mir liegt an ihn – und daran, dass meine Gabe seine Zustimmung findet, von ihm so angenommen wird, dass er etwas von ihr hat. Ich binde mich an seine Billigung; sie ist mir wichtig. Er aber ist daran gebunden, die Gabe zu würdigen. In Gabe und Empfang realisieren sich Aufmerksamkeit und Präsenz, werden wir – Gebende wie Beschenkte – füreinander in unserem Selbstsein bedeutsam, ver-binden wir uns insofern, als wir uns im Geben und Empfangen als füreinander bedeutsam anerkennen: als Adressat unserer Zuwendung. Solche Anerkennung ist also „Ausdruck der Würdigung der qualitativen Bedeutung, die andere Personen […] für unseren Daseinsvollzug besitzen.“7
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
Die Gabe ist ursprünglich und im Entscheidenden die der Aufmerksamkeit des weiten Blicks, der Präsenz von Selbst zu Selbst.8 Ich schenke und erbitte Aufmerksamkeit, bin überhaupt nur präsent, indem ich sie erbitte und schenke. Wem ich Präsenz schenke, dem wende ich mich zu: als ein Selbst, das ein Selbst wahr nimmt. Ich komme nicht nur vor, sondern bin da: ich selbst für… Ich aktualisiere, erfahre mein Dasein in der Zuwendung zu Daseiendem; kann es nur so erfahren und aktualisieren; freilich auch in der Selbst-Zuwendung, in welcher ich mir selbst Aufmerksamkeit schenken kann. Zuwendung öffnet die Wahrnehmung über die Verfügungsperspektive hinaus für die unendliche und unendlich zustimmungsfähige Güte gerade dieses Daseins, sieht ihm schon die Fülle des Lebens an, nach der es verlangt und zu der es gelangen soll. Wie aber und wo entspringt diese Präsenz? In meiner Initiative? Wohl kaum. Etwas/jemand hat meine Aufmerksamkeit gefunden, meine Zuwendung und Zustimmung hervorgerufen. Dieses Finden und Hervorrufen muss kein intentionaler Akt gewesen sein. Irgendwie wurde ich gefunden und angerufen, so dass ich meine Aufmerksamkeit schenken und meine Zuwendung gewähren konnte. Ich „investiere“ Aufmerksamkeit, ohne sofort an Rendite zu denken. Am Ursprung dieser Gabe ist die affektive Zuwendung, die mir jemand oder etwas der Aufmerksamkeit wert sein lässt, mich an diesen Wert bindet, ehe ich ihn womöglich in meine Kalküle einbeziehe. Ich bin „angesprochen“ und erwidere mit meiner Gabe, drücke in ihr aus, was oder wer mir wichtig geworden ist. So beginnt Anerkennung in der freien Bindung an die, denen ich meine Aufmerksamkeit schenke, weil sie meine Aufmerksamkeit gefunden haben und ich sie gefunden habe als meiner Aufmerksamkeit wert. Am Anfang war nicht die Initiative, meine nicht, aber oft genug auch deine und ihre nicht. Dieses vor-intentionale Geschehen bleibt der Anerkennung wesentlich. Niemand kann letztlich darüber entscheiden, womit er Aufmerksamkeit und Anerkennung findet – wem er warum Aufmerksamkeit und dann auch Anerkennung schenkt. Es entsteht eine Bindung, der ich als Aufmerksamkeit und Anerkennung Schenkender irgendwann zustimmen mag; die ich mir als mit Aufmerksamkeit Beschenkter und so in meinem Dasein Bejahter gern gefallen lasse. Die Bejahung selbst aber entsteht als Möglichkeit aus der Bindung, die vor ihr entstanden ist: als Möglichkeit der Rück-Bindung an das mir als Selbst-Bindung Ermöglichte. Bedingungslose Anerkennung wäre deshalb menschlich ein Widerspruch in sich, wie es ja auch schon die souverän von mir initiier-
7.2 Anerkennung und Missachtung
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te Aufmerksamkeit wäre. Ich fange beides nicht an; und ich kann letztlich nicht von mir aus entscheiden, wann und wodurch sie sich ereignen, da sie nicht einfach von mir ausgehen. Gerade in der höchsten Realisierung von Anerkennung und Aufmerksamkeit, der Liebe, bin ich nicht Herr meiner selbst. Meine Liebe ist ebenso hervorgerufen wie sie von mir geschenkt wird. Meine Zuwendung ist Hinneigung zur Liebenswürdigkeit der Geliebten. Mit ihrer Liebenswürdigkeit ermöglicht mir die Geliebte meine Hinneigung, die ich in der Zuwendung vollziehe und bejahe. Worin besteht ihre Liebenswürdigkeit? Ist das ihre Leistung? Ist es meine Leistung, dass sie mich zur Zuwendung bewegt? Liebenswürdigkeit und Hinneigung stiften eine Bindung, zu der Stellung genommen werden muss, die aber als solche nicht von uns willentlich hervorgebracht wird. Meine Liebe würdigt, was ist: deine Liebenswürdigkeit – dass ich sie als Geschenk wertschätzen kann, wertschätzen will, dass dieses Geschenk mich ergreift und ich darin gefunden habe, was ich mit meinem ganzen Dasein empfangen und beantworten will. Wer ist hier Gebender und wer Empfangender? Beide sind wir beides; gemeinsam sind wir die Empfangenden, denen geschenkt ist, einander zu lieben. Nicht jede Gabe ist schon Ausdruck der Liebe. Der Vorblick auf das „Ideal“ der Liebe hat hier nur die Funktion, die der Gabe innewohnende Anerkennungsdimension in ihrer Wechselseitigkeit zum Vorschein zu bringen. Wer gibt, anerkennt den Empfänger als einen solchen, der die Gabe zu schätzen wissen wird. Und diese Anerkennung ist umso „gefüllter“, je offensichtlicher die Gabe den repräsentiert, der da (sich) gibt, in die Gabe „investiert“. Wer dankbar empfängt, anerkennt die Güte des Geschenks und des Schenkenden – und dass es ihm geschenkt wurde. Er anerkennt den Geber, der sich ihm zugewandt hat, als „Ursprung“ eines für ihn – für den Empfangenden – Guten. Darin besteht die offenkundige Wechselseitigkeit im Gabe-Vorgang. Die Gabe ist also eine Bitte: Lass dir diese Gabe bedeutsam sein! Die Gabe und die damit verbundene Bitte sind darauf angewiesen, dass der Empfänger meine Wertschätzung nicht ins Leere gehen lässt – dass er die Bedeutung, die ich seinem wertschätzenden Empfangen beilege, seinerseits wertschätzen kann. Wir sind beide von dem Band wertschätzender Aufmerksamkeit in Anspruch genommen, das in der bittenden Gabe und in der dankbar-empfangenden Erfüllung der Bitte um wohlwollende Annahme befestigt oder aber in der Verweigerung dieser Bitte durchtrennt wird. In der Gabe wende ich mich dir zu, weil du mir wichtig bist, und hoffe, dass meine
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
Aufmerksamkeit deine Aufmerksamkeit findet, dass sie dir wertvoll ist, weil ich mich dir darin zugewendet habe. Solche Gabe-Verhältnisse machen die Armut ökonomischer Verhältnisse sichtbar und lassen erahnen, wie menschliches Leben sich in der Anerkennung, mehr noch in wohlwollend geschenkter Aufmerksamkeit zu seiner Fülle entfaltet. Die Ambivalenz des Menschseins liegt offenkundig darin, dass Menschen vorwillentlich sowohl an den „Teufelskreisen“ eines selektiven Ausbeuterkalküls wie an den Ressourcen wohlwollender Anerkennung teilhaben und beide aktualisieren – und herausgefordert sind, die Unheilsdynamiken zu durchbrechen, damit die Wohlwollen-Ressourcen nicht erschöpft werden. Aber was ist damit gesagt, dass sie an Unheil und Wohlwollen teilhaben? Zunächst einmal dies: dass sie es nicht in jeder Hinsicht selbst hervorbringen, so sehr sie es selbst leben und zur Wirkung bringen. Menschen finden sich in Unheils- wie in heilvollen Wohlwollens-Zusammenhängen vor, gewinnen in letzteren die Freiheit, andere wohlwollend als sie selbst anzuerkennen, und sind gleichwohl davon voreingenommen, desengagiert und selektiv auf andere und ihre Welt zuzugreifen. Kommen Menschen aus eigenen Möglichkeiten dazu, sich den Teufelskreisen der Missachtung zu entziehen? Sie können Wohlwollens-Ressourcen mobilisieren, aufmerksam werden für das Selbst des Anderen und seine unvergleichliche Güte. Aber sie können kaum „objektiv“ darüber urteilen, ob diese Ressourcen „ihre eigenen“ sind, ob das wahrnehmungsbereite Wohlwollen aus ihnen selbst „entspringt“ oder in ihnen entspringen kann, weil sie daran teilhaben dürfen. Diese kurze Analyse von Gabe-Beziehungen hat vielleicht deutlich machen können, wie Geben und Empfangen einander zuinnerst verbunden sind, so dass das Eine nicht ohne das Andere geschieht, ja im Anderen geschieht. Aufmerksamkeit schenken kann, wem Augen und Herz für Aufmerksamkeitswürdiges geschenkt worden sind. Steht diese „primordiale“ Gabe noch einmal in der Verfügung des Menschen; ist sie etwa ableitbar aus den Sozialbeziehungen, in denen sich Menschsein – wie zwiespältig auch immer – als solches vollzieht? Oder teilt sich in dieser Gabe ein Wohlwollen mit, an dem Menschen teilhaben, das sie aber nicht selbst hervorbringen und rechtfertigen können? Es ist deutlich: Dass die primordiale Gabe nicht nur dem einzelnen Menschen, sondern dem Menschsein gegeben werden muss, lässt sich nicht beweisen. Man kann sich diesem Gegebensein nicht in Beobachterperspektive gegenübersetzen und dem abgepufferten Ich nach-
7.3 Gnade im Gabe-Paradigma
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weisen, dass es nicht aus sich selbst hat, was ihm hilft, nicht in den Teufelskreisen des Unheils gefangen zu bleiben. Die Gnadenlehre beweist nicht die Notwendigkeit der Gnade. Sie macht ein Artikulationsangebot und stellt vor die Fragen: Lassen sich die elementaren Ambivalenzerfahrungen, in denen sich den Menschen die Conditio humana erschließt, angemessen so artikulieren, dass Gnade als befreiende Über-Macht über die Sündenmacht der Missachtung verstanden und erhofft wird? Bietet diese Artikulation erkennbare Vorzüge gegenüber Artikulationen der Conditio humana, die eine Überwindung der elementaren Menschheits-Ambivalenz auf anderen Wegen vorzeichnet oder die Voraussetzung einer elementaren Menschheits-Ambivalenz gar nicht erst mitvollziehen wollen? Zeichnet man die christlich verstandene Gnade in das Gabe-Paradigma ein, so resultieren daraus aber auch Impulse für ein erneuertes und erweitertes Verständnis der Gnade als Gottes-Gabe. Ihnen nachzuspüren wird Argumente dafür an die Hand geben, dass eine gnadentheologische Artikulation der Conditio humana wesentliche Menschheitserfahrungen angemessen zur Sprache bringen kann. 7.3 Gnade im Gabe-Paradigma Gnadentheologie setzt sich mit dem neuzeitlich so selbstverständlichen Selbst-Bild des abgepufferten Ich auseinander. Der Blick des desengagierten Beobachters auf Welt und Menschen realisiert die Perspektive des Anfangen- und Verfügenkönnens. Er blendet die Perspektive des Partizipierens – der Teilnahme – mehr oder weniger konsequent aus und modelliert die Zusammenhänge, in denen Menschsein gelebt wird, nach dem Ideal der Selbst-Ursächlichkeit. So ist auch das neuzeitliche Freiheitsverständnis da, wo es noch eine Rolle spielt, komplementär zum objektivierenden Blick des Beobachters im Sinne des Nicht-Einbezogenseins eines selbstursprünglichen, sich und seine Welt bestimmenden Ichs konzipiert: Wenn Freiheit, dann als Nicht-Bestimmtsein und reine Selbstbestimmung. Gnade gerät zwischen zwei Selbstverständlichkeiten, die je auf ihre Weise Teilhabe unsichtbar machen: die der desengagiert-distanzierten Objektivität und die der allein durch sich selbst bestimmten Subjektivität. Die Reflexionen zum Gabe-Diskurs haben aber deutlich gemacht, wie konkret gelebtes Menschsein durch höchst ambivalente Teilhabe bestimmt ist: durch Involviertsein in Atmosphären der Missachtung
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
wie des Wohlwollens. In solchen Vorgaben leben wir, bewegen wir uns und sind wir die, die wir sind (vgl. Apg 17,28), werden uns elementare Möglichkeiten unseres Menschseins eröffnet – und verschlossen. Durch Partizipation werden die Menschen – theologisch gesprochen – zu Sündern, die sich das Selbstsein der anderen nicht nahe gehen lassen; durch Partizipation werden sie sie selbst im Aufmerksamwerden für das Selbst der anderen. Partizipation kann höchste Unfreiheit bedeuten – Beherrschtwerden von hoch selektiven Ausbeuterperspektiven; und es kann Befreiung bedeuten – Freiwerden von objektivierenden Selektionsperspektiven für die Fülle eines Lebens der Teilhabe und des Teilnehmens. In diese Konstellation zeichnet die Gnadenlehre die Gabe, die mich für die Teilnahme an Gabeverhältnissen wechselseitiger Anerkennung öffnet, als Gottes-Gabe ein. Mit welchem Recht? Gnade ist hier der Name für eine unverfügbare Gabe, die mir gibt, mich frei in mein Geben hineingeben zu können. Nicht nur kalkulierend-selektive Aufmerksamkeit aufzubringen, sondern Aufmerksamkeit und Präsenz zu schenken, das setzt in irgendeinem, näher zu explizierenden Sinne voraus, dass man selbst im Zeit-Raum unzweideutiger Präsenz lebt. An solche mir erwiesene, zutiefst wohlwollende Präsenz glauben zu können öffnet Ressourcen eigenen Wohlwollens. Dass sich solche Ressourcen aus dem von anderen Menschen erwiesenen Wohlwollen speisen, steht außer Frage. Aber auch sie sind ja auf unverfügbare Ressourcen des Wohlwollens angewiesen. Wenig spricht dafür, dass die Menschheit angesichts einer tief zwiespältigen Conditio humana aus sich selbst hinreichend für diese Ressourcen aufkommen könnte. So kann man durchaus mit guten Gründen auf die primordiale Gabe des göttlichen Wohlwollens hinweisen, an der Menschen teilnehmen und die sie überall da bezeugen, wo sie es sich geben lassen, Präsenz und Aufmerksamkeit zu leben, damit das Leben seiner Fülle näher komme. Hier von Gnade zu sprechen bedeutet, Unverfügbares als die Gabe der Freiheit zur Sprache zu bringen; bedeutet, menschliche Freiheit zugleich als Selbst-Ursprünglichkeit wie als Teilhabe zu begreifen: Ich will den anderen anerkennen und wohlwollend-aufmerksame Präsenz schenken; aber das steht nicht einfach in meinem Belieben. Wo es zu solcher Anerkennung kommt, lebt sie davon, dass es dem Anerkennenden gegeben ist, sich in die Gabe der Anerkennung hineinzugeben und sie so zum Geschenk seiner wohlwollenden Präsenz zu machen. Wollen und Können sind hier zuinnerst miteinander verwoben. Das Wollen kann nicht für das Können aufkommen; ja es wird nicht
7.3 Gnade im Gabe-Paradigma
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einmal selbst-bestimmend – in Freiheit – vollzogen, wenn ihm nicht die Kraft geschenkt ist, die aus der Erfahrung stammt, an der heilendbefreienden Wirklichkeit des Anerkennens und Anerkanntseins selbst Anteil zu haben. Wer christlich „sachgerecht“ von Gnade spricht, bezieht sich auf dieses unauflösbare Ineinander von Können und Wollen und meint ein gottgewirktes Können, aus dem das Wollen des Guten – des Geschenks wohlwollender Präsenz – seine Kraft und Selbst-Bestimmtheit gewinnt. Der Psalmist kennt die Erfahrung, dass JHWH sein Herz weitet; und er bittet darum, JHWH möge es seinen Zeugnissen (oder Weisungen) zuwenden (Ps 119,32.36 nach Martin Buber bzw. der Einheitsübersetzung). Wo das Handelnkönnen entspringt, da möge JHWH das Herz des Beters von den Attraktionen des Gewinnstrebens fernhalten (vgl. Vers 36b), es berühren mit dem Geschehen seines Wohlwollens, damit es weit werde und an diesem Wohlwollen teilnehme – der Weisung folge, die sich ihm hier auftut, weil ihm schon geschehen ist, was es in Anspruch nimmt. Gottes Gnaden-Gabe ist das Geschenk seines unendlich wohlwollenden Daseins für mich/für uns: Sein Angesicht leuchtet über uns – so wird es im „aaronitischen Segen“ zugesprochen (Num 6,25); seine Zuwendung verbürgt sein Interesse an unserem Heilwerden (vgl. Vers 26). Wo Menschen diese Gottes-Präsenz zuteil wird, wo ihnen der Glaube an dieses unendlich interessierte Dasein Gottes geschenkt ist, wendet sich ihr Herz, von seiner Zuwendung berührt, der „Weisung“ zu, die sich darin bezeugt: der Weg-Weisung, das eigene Leben vom erfahrenen und geglaubten Wohlwollen Gottes erfüllen zu lassen, damit es zum Zeugnis – zur Welt-Wirklichkeit – dieses Wohlwollens werde. Wer sich die Gnade seiner Zuwendung gefallen lässt, wird selbst ein Mensch der Zuwendung; er wird in seinem Herzen erreicht und berührt, so dass auch seine Zuwendung zum Nächsten von Herzen kommen und ihm die Fülle seines Lebens bezeugen kann. Menschen sind davon in Anspruch genommen, Gottes Gnade zu verleiblichen. Wo sie Gottes Engagiertsein für die Fülle des Lebens glauben und daran teilnehmen, werden sie zum Segen für die Menschen: zu Medien der Weitergabe seines Wohlwollens in die Welt hinein – zur Gegenmacht gegen die erbsündlichen Teufelskreise der Missachtung und des Missbrauchs. Dass sie der Macht der Sünde gleichwohl immer wieder selbst erliegen, ist eine bittere Realität dieses Äons. Das darf nicht vergessen machen, was durch sie zum Segen für die Menschen geschah und geschieht: was durch sie – innerhalb wie außerhalb der Kirchen – an Wohlwollen in diese Welt kam, so dass
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andere in diesem Wohlwollen lebendig werden und an ihm teilnehmen konnten. Auch die Gnade wird zum Menschheitserbe;9 nicht deshalb, weil Menschen ihr die Wirkkraft verleihen könnten, der Sünde im Menschheitserbe zu widerstehen. Gott selbst ruft die Gnade des Widerstehenkönnens im Menschen hervor und gibt menschlichem Wohlwollen die Kraft, zu einem Leben in Fülle beizutragen. Die gnadentheologische Überlieferung hat diesem Zusammenhang mit der Unterscheidung in geschaffene und ungeschaffene Gnade Rechnung zu tragen versucht. Geschaffene Gnade: was Gottes unendlich wohlwollende Zuwendung im Menschen hervorruft und so zu einer Wirklichkeit in dieser Welt – in der Schöpfung – macht; ungeschaffene Gnade: Gottes, des Ungeschaffenen, Zuwendung selbst, mit der er die Menschen teilhaben lässt an seinem schöpferischen, das Leben in Fülle erwirkenden Wohlwollen. 7.4 Gott gibt sich selbst Die Unterscheidung in geschaffene und ungeschaffene Gnade ist theologisch hilfreich, wenn sie nicht – wie in der Tradition vielfach geschehen – zu einer isolierten, hoch ausdifferenzierten Betrachtung der einzelnen Gnaden-„Arten“ führt und deren Ursprung in Gottes heilvoller Zuwendung faktisch vergessen lässt. Karl Rahner hat den unbedingten theologischen Vorrang der ungeschaffenen Gnade gegen solche neuscholastischen Akzentverschiebungen neu herausgestellt: Er geht aus von der heilsgeschichtlichen Elementar-Kategorie der Selbstmitteilung Gottes. Dieser Begriff „bezeichnet die ‚ungeschaffene‘ Gnade im Gegensatz zur bloß geschaffenen als das eigentliche Wesen der Gnade“. Gott ist „der unmittelbar sich selbst in Teilhabe gewährende“; in der Gnade eröffnet er den Menschen die Partizipation an sich selbst; und Gnade ist im Entscheidenden nichts anderes als dieses Teilhabendürfen.10 Im Anschluss an Rahners Intervention kann man sagen: Wo Gott sich selbst mitteilt, da wirkt der Heilige Geist das Hineingenommenwerden des Menschen in die Wirklichkeit göttlichen Wohlwollens, die aber nur insoweit zum Ziel kommt, als der Mensch diese Partizipation selbst lebt: an Gottes unbedingtem Wohlwollen teilnimmt. Von geschaffener Gnade ist also zu sprechen im Blick auf die den Menschen zum Teilnehmer der Gnade befähigende Macht der ungeschaffenen Gnade. Indem Rahner Gnade in der Tradition der östlichen Theologie als Anteilgewinnen an Gott selbst – in der Sprache der östlichen Theo-
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logie: als „Vergöttlichung“ – beschreibt, öffnet er auch „das Tor zur Erfahrungsdimension der Gnade in der Alltagsexistenz des Menschen.“11 Gnade ist im Glauben, in der Liebe und auf Hoffnung hin erfahrbar als Hineingenommenwerden in jenes unbedingte Wohlwollen, das der Mensch berührt, wenn ihm aufgeht, wie er anderen Menschen unverzweckte Aufmerksamkeit schenkt – und daran scheitert, sich tatsächlich ganz in dieses Geschenk hineinzugeben. Die Erfahrung der Gnade ist eine gebrochene: Menschen erahnen die Dimensionen und Herausforderungen ihres Teilnehmens an Gottes unbedingtem Wohlwollen, ihrer „Vergöttlichung“. Und sie erfahren sich selbst als allzu kleinmütig und wenig Teilnahme-bereit. Erfahrung von Gnade ist zugleich Erfahrung des „Mitgenommenwerdens“ und des Zurückbleibens, der unbedingten Herausforderung und der vergebungsbedürftigen Selbst-Verweigerung. Auch dieser ErfahrungsZwiespalt erschließt sich noch in mitmenschlichen Gabe-Verhältnissen, in denen mehr an Herausforderung erfahren werden kann, als von den Gebenden selbst eingelöst wird. Die „unmögliche (reine) Gabe“12 provoziert immerhin die Frage, wer das Subjekt dieser menschlich unmöglichen Gabe sein könnte: der unzweideutigen, nebenabsichtslosen Selbst-Gabe, zu der Menschen nicht fähig sind.13 In dieser Provokation können sie erahnen, wovon gesprochen wird, wenn theologisch von Gnade die Rede ist. Versteht man die ungeschaffene Gnade aber konsequent Gabetheologisch, so hat das Rückwirkungen auf einige in der Theologie weithin geteilte Selbstverständlichkeiten des Gottesverständnisses, die dann wiederum auf das Verständnis von Gnade zurückwirken. Zunächst die Anfrage an das Gottesbild: Wer gibt, mehr noch: wer sich gibt, bindet sich in gewisser Weise an den, dem er diese Gabe zugedacht hat. Er ist zutiefst daran „interessiert“, dass dieser sich auf die ihm gewidmete Gabe einlässt; und er ist es deshalb, weil ihm am Wohl, letztlich am Gut-Sein des Beschenkten liegt. Ist es theologisch angemessen, von einer Bindung des sich selbst schenkenden Gottes an die Beschenkten zu sprechen, gar von einem leidenschaftlichen Interesse daran, die Beschenkten für sein Geschenk zu gewinnen? Aber muss man nicht so sprechen, wenn man das alttestamentliche Modell des Bundes theologisch wichtig nehmen will? Der Schenkende macht sich abhängig; er hört nicht auf, um die Annahme seines Geschenks zu werben. Das Geschenk aber ist er selbst. Es geht ihm bis zuletzt um die Annahme dieser bis zum äußersten gehenden Selbstmitteilung – weil es ihm darin um sein „Selbst-Sein“ geht; weil er zuinnerst eben dies ist und sein will: sich Verschenken. Ist er dann
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
noch frei? Nicht im Sinne eines souveränen So-oder-Anders – ich könnte mich genauso gut behalten oder verschenken! Frei sehr wohl in dem Sinne: Ich bin ganz und gar und frei ich selbst, da ich mich verschenke, in dieser Leidenschaft des Schenkenden für die Annahme seines Geschenks, die trinitätstheologisch als das Wirken und Werben des Heiligen Geistes dargestellt wird. Folgt man dieser theologischen Spur, so verliert das Reden von der Gnade endgültig jene desengagiert-hoheitliche Einfärbung, die es im Deutschen immer behalten hat. Das Recht der Begnadigung ist das vornehmste Recht des Souveräns. Er ist souverän, weil er nach seiner freien Entscheidung für den konkreten Fall Recht oder Gnade in Geltung setzen kann. Dass er vom „Erbarmen“ bewegt sein mag, spielt in dieser Gnaden-Logik keine Rolle. Für Gott aber spielt das die entscheidende Rolle. Er „kann“ gar nicht anders, als sich den Menschen im Elend ihrer Menschen-Zwiespältigkeit zu schenken; und in diesem Geschenk ist er dennoch ganz frei, weil er in ihm ganz da ist, für die Beschenkten wirklich ist – und es zu dieser Wirklichkeit gehört, um die Annahme dieses Geschenks leidenschaftlich zu werben. Zu behaupten, er könne auch anders, wäre logisch nicht falsch, aber ganz unangemessen, denn in dem, was er hier tut, ist er ganz bei sich selbst, er selbst. Und man kann sich menschlich gar nicht vorstellen, dass er ebenso bei sich selbst wäre, wenn er sich nicht so schenken würde. Dann aber klingt das Reden von Gnade nicht mehr nach souveränem Tun-und-Lassen-Können, sondern – sehr menschlich gesprochen – nach äußerstem, leidenschaftlichem Engagement und im Blick auf die Beschenkten nach äußerster, Lebens-entscheidender Herausforderung. Wenn Gott sich in seinem Geist den Menschen gibt,14 dann geschieht ihnen jene unbedingte, mitmenschlich unmögliche Anerkennung, die ihnen die Fülle des Lebens eröffnet. Das scheint in der Konsequenz eines Gabe-theologisch ausformulierten Gnadenverständnisses zu liegen. Aber ist die Kategorie der Anerkennung damit nicht gnadentheologisch überdehnt? Das Sprechen von unbedingter Anerkennung steht in der Gefahr, einen entscheidenden Aspekt abzublenden, der menschlich unbedingt zur Anerkennung hinzugehört: Anerkennung bedeutet auch Wertschätzung, Anerkennung dessen, was du bist, gerade auch deiner Stärken. Müsste eine unbedingte Anerkennung von all dem absehen, um unbedingt sein zu können? Dann wäre sie keine Wertschätzung mehr – und kein Geschenk mehr, eher eine Zumutung.
7.4 Gott gibt sich selbst
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Wenn aber Gott seine Anerkennung unbedingt gewährt – ohne eine Bedingung, die in dem läge, dem er sie schenkt –, muss es dann nicht so sein, dass er den Nichtswürdigen bedingungslos annimmt: den, der von sich aus gar nicht wertgeschätzt werden könnte? So entspräche es zweifellos der herkömmlichen, auf die völlig unverdiente Sündenvergebung fokussierten Gnadenlehre des Westens. Aber widerspricht es nicht der Logik eines Geschenks, das die Beschenkten würdigen und sie eben nicht entwerten will? Die Menschen verdienen das Geschenk der Selbstgabe Gottes nicht, können es nie verdienen. Das ist das Eine. Aber – und das wäre das Andere: Müsste man gnadentheologisch nicht denken, dass Gottes Selbstgabe die Menschen würdigt und wertschätzt in all ihrer Zwiespältigkeit und trotz ihres Involviertseins in die Teufelskreise der Sünde? Kann man nicht denken, dass er seine Gnade in der Vergebung der Sünde wie in der wohlwollenden Annahme all dessen erweist, was Menschen – wie fragmentarisch und unvollkommen auch immer – an Menschlichkeit leben und gelebt haben? Das unbedingte Wohlwollen, in welchem er sich den Menschen schenkt, muss und „kann“ solche Wertschätzung doch nicht ausschließen. So wäre die Gnadenlehre noch einmal herausgefordert, eine Spannung zum Ausdruck zu bringen, die sich menschlich-gabetheoretisch abzeichnet, aber anthropologisch schwer zu artikulieren ist: Mitmenschliche Anerkennung greift über das Anerkennenswerte beim Anderen hinaus, da sie sich nicht vom Geleisteten abhängig macht. Insofern ist sie unverdienbares Geschenk. Aber sie streicht das Anerkennenswerte eben nicht durch, sondern bringt es durch die Anerkennung dieses Menschen zu vielleicht unverdienter Geltung. Sie sieht dem Anerkennenswerten mehr an, als man ihm an Wertschätzung zubilligen „müsste“, weil sie es wohlwollend ansieht. Das Wort Gnade spricht von diesem wohlwollenden „Blick“ Gottes, der dem Menschen in der Sünde mehr ansieht als die Sünde und ihm so auch die Herausforderung in die Fülle des Lebens zutraut, die der Heilige Geist für ihn sein will. Das Unverdiente der Gnade ist das Eine, Gottes herausforderndes Zutrauen das Andere. Das Unverdiente am Geschenk ist gerade die vertrauensvolle Herausforderung, von diesem Geschenk einen guten Gebrauch zu machen. Gott schenkt (sich), damit die Menschen aus seinem Zutrauen leben und sich immer mehr für die Fülle des Lebens öffnen.
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
7.5 Gnadengaben Das nebenabsichtslose Wohlwollen, das Menschen diesem konkreten Mitmenschen als diesem Menschen schenken, ist keine Eigen-Leistung. Es ist liebenden Menschen gegeben, dieses Wohlwollen zu spüren und sich in es hineinzugeben, soweit sie es vermögen. Gnade ist gegeben, damit Menschen sich zu einer neuen Lebendigkeit umgestalten lassen und so dem Leben in Fülle auf der Spur bleiben, ihm dienen können. Die Vor-Gabe der Gnade – des göttlichen Wohlwollens – öffnet Wege zu einem Leben in Fülle, auf denen Menschen einander weitergeben, was sie selbst empfangen haben. Grund-Figuren dieses Weitergebens und Empfangens in kirchlicher Weggemeinschaft sind die Sakramente. In ihnen verleiblicht sich die empfangene und geglaubte Zuneigung Gottes im Zeugnis der Kirche, im leibhaften Empfangen und Mithandeln ihrer Mitglieder, die sich gegenseitig und „der Welt“ bezeugen, wie sich im Mithandeln mit der empfangenen Gnade die Welt in Gottes Herrschaft wandelt. Das Lebenszeugnis Jesu Christi ist die Grundfigur dieser Verleiblichung; sie wird – in den christlichen Konfessionen unterschiedlich ausdifferenziert – in Einzelpraktiken kirchlich „gehandelt“. Die Taufe verwirklicht ekklesial Gottes wohlwollende Anerkennung dieses konkreten Menschenlebens. Gott ruft es im kirchlichen Zeichen bei seinem Namen, beruft es zu einem Lebensweg, auf dem es nicht den Irrnissen und Wirrnissen der Sünde anheimfallen, sondern zu einem Leben in Fülle gelangen soll. Dem Getauften gilt das Prophetenwort: „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich ausgelöst. Bei deinem Namen habe ich dich gerufen. Du bist mein“ (Jes 43,1). Wer sein ist, gehört nicht den Mächten, die in den Teufelskreisen der Sünde herrschen. Und er ist gesandt, die Gnade der Erwählung in einem Leben zu bezeugen, das diesen Mächten widersteht. Das Sakrament der Buße verleiblicht ekklesial die Gnade der unverdienten und unverdienbaren Versöhnungsbereitschaft Gottes, die immer zu unterscheiden weiß zwischen der Sünde, an deren Unheil die Menschen mitwirken, und den bei ihrem Namen gerufenen, unverlierbar ihm gehörenden Menschen selbst. Wer Versöhnung erfährt, ist herausgefordert, an die Versöhnung zu glauben und zum Instrument der Versöhnung zu werden. Die Eucharistie verleiblicht die Gnade des Mit-Christus-Seins. Wer mit, ja in Christus ist, hat Anteil – und nimmt teil – an seinem Einsatz für Gottes gute Herrschaft wie an der Verherrlichung, die ihm zuteil geworden ist.
7.5 Gnadengaben
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Das Geist-Sakrament der Firmung (Konfirmation) verleiblicht ekklesial die je eigene Berufung durch die Mitteilung der Geistes-Gaben – der Charismen (vgl. 1 Kor 12) –, die einen Menschen in die ihm eröffnete Form des Zeugnisses für Gottes unendlich schöpferisches Wohlwollen hineinführen. Die Sakramente der Ehe und der Ordination verleiblichen die Mitteilung dieser beiden Charismen und der in ihnen gegebenen Zusage Gottes, Menschen durch seinen Heiligen Geist auf den Wegen, die man als Ordinierte(r) und in Ehe und Familie geführt wird, in die Fülle des Lebens hineinzuführen. Das Sakrament der Krankensalbung verleiblicht ekklesial Gottes Zusage, sein schöpferisches Wohlwollen gelte unverlierbar jedem einzelnen Menschen, auch im Leiden und selbst über den Tod hinaus. Es verpflichtet alle, die es (mit-)feiern zum Zeugnis dafür, kein Menschenleben für verloren zu halten und das heißt: jedem Menschen eine unbedingte und unverlierbare Bedeutung zuzuerkennen. Das kirchliche Zeugnis in der Feier der Sakramente bezeugt die Wirksamkeit der Gnade über alle menschliche Erfahrung hinaus, aber eben nicht jenseits menschlicher Erfahrung. In den Sakramenten – keineswegs nur in ihnen – erweist sich die Gnade als wirksam unter den Menschen. An ihnen ist es, sich den Gnadenwirkungen zu öffnen und sie in einem Leben zu bezeugen, das an Gottes in den Sakramenten verleiblichtem Wohlwollen teilnimmt, das sich nicht von der Sünde beherrschen, sondern von der Herausforderung Gottesherrschaft bestimmen lässt. Neben und mit den Sakramenten teilt Gottes Geist viele Gnadengaben mit. Der Geist ruft sie in den Menschen auf je individuelle Weise hervor, da er ihnen einen Vorgeschmack des durch Gott erfüllten Lebens schenkt (vgl. Röm 8,23) und sie bewegt, mit all ihren Menschenmöglichkeiten und Menschenunmöglichkeiten in die Gotteszukunft hinein aufzubrechen. Die Gnadentugenden des Aufbruchs, die kein Mensch selbst in sich hervorrufen kann, sind Glaube, Hoffnung und Liebe. Diese drei „bleiben für jetzt … Am größten unter ihnen aber ist die Liebe“ (1 Kor 13,13). An sie zu glauben und auf sie zu hoffen, weil Gott sich in ihr schenkt, das ist das bewegendinspirierende Werk des Gottesgeistes in allen seinen Gnadengaben.
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
7.6 Die Gabe des guten Weges – und die Rechtleitung Gnade als Gabe: So viele Gabe-Erfahrungen und Gabe-Geschichten drängen zu dem Missverständnis, die Gabe, um die es hier geht, würde es einem im Leben leichter oder billiger machen. Eine Gabe, die mir etwas erspart, die substituiert, was mir schwer fiele: schon Kant hatte gegen die Neigung polemisiert, eher ein Günstling sein zu wollen, der von milden Gaben lebt, als ein Mensch, der sein Leben ändert. Das Luther-Missverständnis, das dieses Bild mit gemalt hat, macht sich an der Formel der „billigen Gnade“ fest. Dietrich Bonhoeffer greift sie auf und attackiert sie als die Ausrede, die sie immer schon war, als eine Verführung, die das Christentum in seiner äußersten Herausforderung belanglos und wehrlos zu machen droht: „Billige Gnade ist der Todfeind unserer Kirche. Unser Kampf geht heute um die teure Gnade.“ Gnade als „Schleuderware“, „ohne Preis, ohne Kosten“, die Mühelosigkeit eines religiösen Lebens, in dem einem zuzufallen scheint, was das Leben gelingen und zu seiner Fülle kommen lässt: So mag man es sehen, wenn die Gnade im Sinne einer geglaubten, immer richtigen Lehre „angenommen“ wird: Die Sünde wird vergeben, nachdem sie begangen wurde; Gott liebt mich, so wie ich bin – ich kann mich zurücklehnen. Bonhoeffers bitterer Kommentar: „Billige Gnade ist die Gnade, die wir mit uns selbst haben“: mit der ich mir selbst den General-Pardon zubillige, es sei doch alles nicht so schlimm. Bonhoeffers Widerspruch will nicht bestreiten, dass Gott immer wieder neu vergibt, dass er uns schenkt, was ein Leben in Fülle ausmacht. Er widerspricht der Versuchung, Gottes Ja als Beruhigung statt als Herausforderung zu hören. Deshalb Bonhoeffers provokante Rede von der teuren Gnade: „Teure Gnade ist der verborgene Schatz im Acker, um dessentwillen der Mensch hingeht und mit Freuden alles verkauft, was er hatte; die köstliche Perle, für deren Preis der Kaufmann alle seine Güter dahingibt; die Königsherrschaft Christi, um derentwillen sich der Mensch das Auge ausreißt, das ihn ärgert, der Ruf Christi, auf den hin der Jünger seine Netze verlässt und nachfolgt. Teure Gnade ist das Evangelium, das immer wieder gesucht, die Gabe, um die gebeten, die Tür, an die angeklopft werden muss. Teuer ist sie, weil sie in die Nachfolge ruft, Gnade ist sie, weil sie in die Nachfolge Jesu Christi ruft“. Eine Gabe, die den ganzen Menschen anfordert, sie zu empfangen und zu leben; teure Gnade, weil sie Gottes Selbsthingabe ist, die – so verlangt es die Liebe – nur in Selbsthingabe empfangen werden kann.
7.6 Die Gabe des guten Weges – und die Rechtleitung
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Bonhoeffers Widerspruch gegen ein bequemes Christentum hat an Aktualität nichts verloren. Er führt unmittelbar in unsere Weltsituation hinein – und nicht zuletzt in die Situation eines spannungsreich herausfordernden Miteinanders der Religionen. Die Botschaft vom barmherzigen Gott, der sein Volk gerade deshalb auf die Tora verpflichtet, weil sie der Weg ist, Barmherzigkeit zu er-leben und zu finden, ist den Christen von den Zeugen Israels mit Nachdruck in die Bibel geschrieben. Und so wird sie ihnen auch vom Koran bezeugt, dessen Suren fast ausnahmslos vom barmherzigen Gott sprechen. Der Koran kennt keine „starke“ Soteriologie mit einer Heilsgeschichte, in der sich Gottes Barmherzigkeit ein für alle Mal als siegreich erwiesen hätte. Aber nichts ist für ihn klarer als dies: Das Lob der Gläubigen darf „dem Erbarmer, dem Barmherzigen“ gelten, der zum Verzeihen bereit ist; und an ihn darf sich die Bitte richten: „Führe uns den geraden Weg, den Weg derer, die Du begnadet hast, die nicht dem Zorn verfallen und nicht irregehen“ (Sure 1:2–6). Der Name Erbarmer kommt ihm in Wahrheit zu; sein Erbarmen umfasst und umgreift alles (vgl. Sure 7:156); und es geht aus seinem Innersten hervor – wie im Alten Testament wird es mit dem Wortstamm rhm angesprochen. Mehrfach begegnet im Koran die Zuordnung Barmherzigkeit und Rechtleitung: Gott erbarmt sich seiner Gläubigen gerade darin, dass er es ihnen ermöglicht, den guten Weg zu gehen und ihnen dabei nahe ist, sie geleitet, so dass sie ihn – sich selbst – nicht verfehlen und für ihr Inneres Heilung finden (vgl. Suren 10:57; 31:3; vgl. 41:44). Dass die Gnade des Korans selbst und der Nähe Gottes, der dem Menschen „näher [ist] als die Halsschlagader“ (Sure 50:16), gerade darin und dazu gegeben ist, dass der Mensch vom „Weg Gottes“ nicht abirrt (vgl. Sure 31:6), ist auch biblisch ein bekanntes Motiv; christologisch zentriert begegnet es in Joh 14,6, wo der johanneische Christus sich selbst als das Geschenk des heilsamen Wegs in Wahrheit zum Leben und zum Vater bezeichnet, den die ihm Nachfolgenden durch ihn finden und gehen können. Der Koran bringt nachdrücklicher vielleicht als das Neue Testament, aber durchaus in der Spur des Alten die Konkretheit der einzelnen Schritte dieses Weges Gottes zur Sprache: Nur wer sich an das im Koran (oder auch schon in der Tora) Vorgezeichnete hält, verliert nicht die Orientierung, geht in den vielfältigen Entscheidungssituationen des Lebens nicht in die Irre. Das westliche Selbstbestimmungsideal trägt dazu bei, die Konkretheit der Wegweisungen als heteronome Einengung zu beargwöhnen. Damit gerät womöglich die in Zeiten weltraumgestützter elektronischer Orientierungssysteme fremd gewordene Erfahrung in den
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7. Menschen-Gaben, Gottes-Gabe
Schatten, wie wohltuend, ja rettend es sein kann, durch richtige Wegweisung davor bewahrt zu werden, sich heillos zu verirren. Aber ist diese Glaubens-Erfahrung nicht doch elementar gemeinsames Erbe der abrahamitischen Religionen: die Dankbarkeit darüber, dass es im Wirrwarr der Verheißungen und Ausweglosigkeiten Wegweisungen zu einem Leben in Fülle gibt, die es nicht ersparen, sich über den eigenen Weg Rechenschaft zu geben und den gewiesenen Weg in eigener Verantwortung zu gehen, die ihn aber überhaupt erst als Verheißung wahrnehmbar machen? Der „Weg Gottes“, der Weg der Christusnachfolge: sie sind Gnadengabe. Und der sie gegeben hat, bleibt in seiner Wegleitung nahe, kommt den Menschen in jenem guten Geist nahe, der die „teure Gnade“ der Nachfolge mitteilt, sie aber nicht zur hoffnungslosen Überforderung werden lässt. Gnade ist die Gabe der verheißungsvollen Herausforderung auf Leben und Tod – zu einem Leben in Fülle. Bibel und Koran bezeugen den Ernst wie die Verheißung dieser Herausforderung auf je ihre Weise, damit man den Entscheidungen nicht aus dem Weg geht, in denen man Gottes Herausforderung treu bleiben muss. Ob diese Entscheidungen immer da zu treffen sind und ob sie so ausfallen müssen, wie das die religiösen Überlieferungen geltend machen, steht auf einem anderen Blatt.
Literatur Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, dt. Frankfurt a. M. 2009 (eine weit ausgreifende Phänomenologie der Gabe, die viele gnadentheologische Perspektiven eröffnet). Veronika Hoffmann (Hg.), Die Gabe. Ein „Urwort“ der Theologie?, Frankfurt a. M. 2009 (eine erste Bilanz der Gabe-Diskurse in theologischer Perspektive).
Anmerkungen Einleitung 1
Zu nennen wäre auch Linn Ullmanns Roman Gnade (dt. München 2004), in dem ein unheilbar Kranker die Sterbehilfe als Gnade erbittet – dem dann aber doch die Liebe der Frau, die er darum bittet, auf den letzten Schritten seines Lebenswegs zur Gnade geworden sein mag. Also sprach Zarathustra III, Der Wanderer, in: Friedrich Nietzsche, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe (KSA), hg. von G. Colli und M. Montinari, Berlin – München 1980, Bd. 4, 194. In den Definitionen bezog man sich auf die anderen Geschichten meist nur noch als „Fundorte“ von Argumenten, mit denen man die jetzt zu treffende Entscheidung begründete (als „dicta probantia“).
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1. Gnade als Lebensqualität – biblische Perspektiven 1
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So übersetzt Hans Joachim Stoebe chǽsæd in diesem Zusammenhang; ders., chǽsæd, THAT 1, 600–622, hier 615. Ders., rhm, THAT 2, 761–768, hier 762. Gillis Gerleman, šlm, THAT 2, 919–935, hier 928. Siegfried Morenz, Gott und Mensch im alten Ägypten, Leipzig 1964, 122. Joachim von Soosten, Die „Erfindung“ der Sünde. Soziologische und semantische Aspekte zu der Rede von der Sünde im alttestamentlichen Sprachgebrauch, in: Jahrbuch für Biblische Theologie, Bd. 9: Sünde und Gericht, Neukirchen–Vluyn 1994, 87–110, hier 94–108. Gerhard von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, München 10 1992, 388. Klaus Koch, sedāqā, THAT 2, 507–530, hier 521. Gabriele Obst – Frank Crüsemann, Müssen sich Christinnen und Christen an das Gesetz des Alten Testaments halten?, in: F. Crüsemann – U. Theissmann (Hg.), Ich glaube an den Gott Israels. Fragen und Antworten zu einem Thema, das im christlichen Glaubensbekenntnis fehlt, Gütersloh 1993, 11–118, hier 115. Vgl. Erich Zenger, Torafrömmigkeit. Beobachtungen zum poetischen und theologischen Profil von Ps 119, in: C. Hardmeier – R. Kessler – A. Ruwe (Hg.), Freiheit und Gerechtigkeit (Festschrift für Frank Crüsemann), Gütersloh 2003, 380–396. Rudolf Bultmann, Zum Problem der Entmythologisierung, in: ders., Glauben und Verstehen, Bd. 4, Tübingen 21967, 128–137, hier 133.
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Anmerkungen
Max Weber, Wissenschaft als Beruf, in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 31968, 582–613, hier 594. Vgl. Michael Theobald, Artikel Gnade. Neues Testament, W. Kasper (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 4, Freiburg – Basel – Rom – Wien 31995, 766–772, hier 769. Vgl. das Dekret über die Missionstätigkeit der Kirche Ad gentes, wo in Ziffer 7 davon gesprochen wird, dass „Gott Menschen, die das Evangelium ohne ihre Schuld nicht kennen, auf Wegen, die er weiß, zum Glauben führen kann“.
2. Gottes Werk – und der Menschen Beitrag? 1 2 3 4
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Johannes Chrysostomus, Lobrede auf den heiligen Paulus 6. Johannes Cassianus, Unterredungen mit den Vätern, 13,3. Vgl. ebd., 3,11 bzw. 3,15. Vgl. etwa Gregor von Nyssa (um 335–394), der in gnadentheologischer Perspektive sagen kann, die Menschennatur sei durch die Inkarnation keimhaft mit Gott vereint; die göttliche Natur durchsäuere und reinige deshalb die menschliche wie ein Sauerteig (vgl. Raymund Schwager, Der wunderbare Tausch. Zur Geschichte und Deutung der Erlösungslehre, München 1986, 77 ff; Belege). Logik des Schreckens. Augustinus von Hippo, De diversis quaestionibus ad Simplicianum I 2, hg. und erklärt von Kurt Flasch, Mainz 21995, 82. Das bedeutet nicht, „dass man schon deshalb frei handelt, weil man es gern tut“; das könnte hier ja heißen: durch Gott, der weiß, womit er mich locken kann, so verlockt würde, dass man nicht widerstehen kann (so: Der Schrecken der Freiheit, 317). Nichts hindert doch daran, die Faszination des „gerne Tuns“ als die innerste Motivation eines Handelns zu verstehen, das die Vernunft als Realisierung des Guten nachvollziehen kann, und genau darin das Spezifikum eines vom freien eigenen Willen getragenen Handelns zu sehen. Dann dürfte man sagen: Freiheit ist ohne dieses Wollen gar nicht denkbar, ohne eine Realisierung des Guten, die tatsächlich von mir (gern) gewollt ist. Der Begriff des Wollens, der in dem des guten Willen nicht ausfallen darf, schließt das aus eigenem Antrieb und gern Wollen ein; nach Augustinus ist der eigene Antrieb durch die Gnade hervorgerufen. Auch von Kants Verständnis der vernünftigen Selbstbestimmung her wird man einräumen müssen, dass es im Menschen einer „Motivation“ für die Realisierung des von der Vernunft als schlechthin gut Vorgegebenen bedarf – Kant kommt hier auf die Achtung vor dem vernünftigen Sittengesetz zu sprechen, schweigt sich allerdings darüber aus, woher dem Menschen diese Achtung zukommen sollte.
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So kommentiert Alexandre Ganoczy (Aus seiner Fülle haben wir alle empfangen. Grundriss der Gnadenlehre, Düsseldorf 1989, 119) Augustins Tractatus in Ioannis evangelium XXVI, 2–9. Logik des Schreckens, 47 f. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die Formel des Nicht ohne vom Seelsorger Augustinus stammt. In Sermo 169,13 kann er sagen: „Ohne deinen Willen wird die Gnade Gottes nicht in dir sein … Gott hat dich ohne dich erschaffen, er rechtfertigt dich nicht ohne dich.“ Diese Vorwillentlichkeit ist die heilsame Kehrseite jener Unwillentlichkeit, mit welcher der Sünder in eine Unheilssolidarität des Sündigens einbezogen ist, noch ehe er willentlich zustimmt. Zu dieser „rettendkritischen“ Interpretation der augustinischen Erbsündenvorstellung vgl. Paul Ricœur, Die „Erbsünde – eine Bedeutungsstudie, in: ders., Hermeneutik und Psychoanalyse. Der Konflikt der Interpretationen II, dt. München 1974, 140–161.
3. Gnade: Teilhabe an Gottes Wohlwollen 1
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So Friedrich Nietzsches sarkastische Kritik (Zur Genealogie der Moral. Erste Abhandlung, Aphorismus 15, KSA 5, 284). Als Beleg muss ihm ausgerechnet Thomas von Aquin dienen. Zu einer historisch einigermaßen abgesicherten Interpretation der Satisfaktionslehre vgl. Jürgen Werbick, Den Glauben verantworten. Eine Fundamentaltheologie, Freiburg – Basel – Wien 32005, 436–442. Zur Unterscheidung der geschaffenen von der ungeschaffenen Gnade vgl. bei Thomas von Aquin: Summa theologiae I/II q.3, a.1. Die „Urform“ des Axioms begegnet bei Bonaventura in einem Vergleich: Die Gnade setzt die Natur voraus, wie das Akzidens die Substanz voraussetzt (II Sent. d.9, q.9, ad 2); vgl. Joseph Ratzinger, Gratia praesupponit naturam, in: ders., Dogma und Verkündigung, München – Freiburg i. Br. 1973, 161–181. Otto Hermann Pesch, Frei sein aus Gnade. Theologische Anthropologie, Freiburg – Basel – Wien 1983, 261 f. Der Geist realisiert sich nach scholastischer Lehre im erkennend-wollenden „Hinausgehen“ zum Gewollten und Erkannten und im erkennendwollenden Hereinnehmen dessen, „wohin“ er ging, in den Selbstvollzug des Geistes.
4. Gnade als Rechtfertigung: Luthers Augustinismus 1
Vgl. die berühmte Formulierung aus Luthers Großem Katechismus zum ersten Gebot („Was heißt ‚einen Gott haben‘, bzw. was ist ‚Gott‘?“): „Ein
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Anmerkungen
‚Gott‘ heißt etwas, von dem man alles Gute erhoffen und zu dem man in allen Nöten seine Zuflucht nehmen soll […] Woran du nun, sage ich, dein Herz hängst und [worauf du dich] verlässest, das ist eigentlich dein Gott“ (Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, Taschenbuchausgabe Gütersloh 1986, 595 f.). Vgl. Gerhard Ebeling, Existenz zwischen Gott und Gott. Ein Beitrag zur Frage nach der Existenz Gottes, in: ders., Wort und Glaube. Zweiter Band, Tübingen 1969, 257–286. Vorrede zum Römerbrief (1522), in: Ausgewählte Werke, hg. von H. H. Borcherdt und G. Merz, Bd. VI, München 31988, 86–98, hierzu 86–90. Luther rekurriert hier offenkundig auf das Konzept der Frei-willigkeit, wie es in der antiken griechischen Philosophie durch die Wortfamilie ekōn repräsentiert wird. Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7,38. So Luthers Thesen gegen Gabriel Biel und andere „Scholastiker“: Disputatio contra scholasticam theologiam (1517), WA 1,224f. (Ziffern 4, 17, 25, 26, 29, 33). Vgl. Gerhard Ebeling, Luther. Einführung in sein Denken, Tübingen 1964, 173–176. Auf dieses Lutherzitat gründet Tuomo Mannermaa seine Deutung; vgl. ders., Der im Glauben gegenwärtige Christus. Rechtfertigung und Vergottung. Zum ökumenischen Dialog, Hannover 1989. Martin Hailer, Gottes Gnade als Teilgewährung an ihm. Überlegungen zur finnischen Luther-Interpretation, in: Evangelische Theologie 71 (2011), 35–49, hier 37. So Hailers Deutung der Konzeption Mannermaas, a.a.O., 38. So Wolfhart Pannenberg, Systematische Theologie, Bd. 3, Göttingen 1993, 242. Vgl. Risto Saarinen, Partizipation als Gabe: Zwanzig Jahre neue finnische Lutherforschung, in: Ökumenische Rundschau 57 (2008), 131–143, hier 132. Vgl. Gal 3,13; Röm 8,3 f. und noch einmal aus dem 2. Korintherbrief die prägnante Stelle, an der es heißt, Christus sei um unsretwillen „arm geworden, obwohl er reich war“, um uns „durch seine Armut reich zu machen“ (8,9). Epistulae 101. De incarnatione 54. Tuomo Mannermaa, Der im Glauben gegenwärtige Christus, 92. Dass die Rechtfertigung dem Menschen nach Luther gleichwohl nur die fremde Gerechtigkeit zuspricht, die ihm nie zueigen werden kann, markiert womöglich doch eine Differenz zur ostkirchlichen Theosis-Lehre wie auch zur mittelalterlichen Mystik, welche diese Lehre ja aufgenommen hat. Vgl. etwa eine Predigtformulierung Meister Eckharts, die so ganz anders klingt als Luthers Rede von der fremden Gerechtigkeit: „Gottes Sein ist mein Leben. Ist denn mein Leben Gottes Sein, so muss
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Gottes Sein mein sein und Gottes Wesenheit meine Wesenheit, nicht weniger und nicht mehr“ (Predigt 7: Iusti vivent in aeternum, in: Deutsche Predigten und Traktate, hg. und übersetzt von J. Quint, München 1963, 182–187, hier 184). Der Große Katechismus, in: Die Bekenntnisschriften der evangelischlutherischen Kirche, 740. So formuliert mit Rückgriff auf Luther eine Zwischenüberschrift im Taufbüchlein des Großen Katechismus nach der Ausgabe der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 741. Der Bezug auf Ez 36,26 f. („Ich schenke euch ein neues Herz und lege einen neuen Geist in euch. Ich nehme das Herz von Stein aus eurer Brust und gebe euch ein Herz aus Fleisch“) liegt auf der Hand. Vgl. die oben zitierte Passage aus der Vorrede zum Römerbrief von 1522. Vgl. Karl-Heinz Menke, Was ist das eigentlich: „Gnade“? Sechs Thesen zur Diskussion, in: Theologie und Philosophie 84 (2009), 356–373, hier 372. Vgl. etwa: Von der Freiheit eines Christenmenschen, WA 7,38. Die Confessio Augustana sagt dazu im 18. Artikel: „Vom freien Willen wird so gelehrt, dass der Mensch in gewissem Maße einen freien Willen hat, äußerlich ehrbar zu leben (iustitia civilis) und zu wählen unter den Dingen, die die Vernunft begreift (res rationi subjectae). Aber ohne Gnade, Hilfe und Wirkung des Heiligen Geistes kann der Mensch Gott nicht gefallen (iustitia spiritualis), Gott nicht von Herzen fürchten oder [an ihn] glauben oder nicht die angeborenen bösen Lüste aus dem Herzen werfen, sondern dies geschieht durch den Heiligen Geist, der durch Gottes Wort gegeben wird“ (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche, 73). Die „ontologische“ Alleinwirksamkeit Gottes ist nach Luther für alles zu behaupten. In allem ist er die Energie des Wirkens; der Mensch kann diesem Wirken aber die Richtung auf das Böse geben. So wirkt Gott auch in Menschenunglück und Not, in denen er als der Verborgene die Menschen anficht, damit sie sich von ihrem Irrglauben abwenden und bei seinem Verheißungswort ihre Zuflucht suchen; vgl. De servo arbitrio, a.a.O., 277 f. und als Kommentar: Gerhard Ebeling, Existenz zwischen Gott und Gott, a.a.O. Diese Formulierung ist gewonnen in der Beschäftigung mit dem Buch von Helm Stierlin, Das Tun des Einen ist das Tun des Anderen. Eine Dynamik menschlicher Beziehungen, Frankfurt a. M. 1976. Vgl. Friedrich Gogarten, Luthers Theologie, Tübingen 1967, 48 f. Neben diesem theologischen gibt es nach Luther selbstverständlich auch den „zivilen“ Sinn (usus civilis), des Gesetzes, der darauf abzielt, die bürgerliche Ordnung des Gemeinwesens aufrechtzuerhalten. WA 40/I, 589,8, hier von der Theologie gesagt, die dem Evangelium folgt. Eberhard Jüngel, Gottesgewissheit, in: ders., Entsprechungen: Gott – Wahrheit – Mensch. Theologische Erörterungen, München 1980, 252– 264, hier 260.
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August Tholuck, Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner oder die wahre Weihe des Zweiflers, Gotha 81862, 166 f. Die Formel selbst ist schon Kant geläufig gewesen; er schreibt sie Hamann zu (Immanuel Kant, Der Streit der Fakultäten, Kants Werke. Akademie Textausgabe, Berlin 1968, Bd. VII, 55). Wilhelm Herrmann, Schriften zur Grundlegung der Theologie, hg. von P. Fischer-Appelt, 2 Bde. München 1966/67, Bd. 2, 194; Bd. 1, 168. Vgl. Bernhard Groethuysen, Die Entstehung der bürgerlichen Welt- und Lebensanschauung in Frankreich, Neuausgabe Frankfurt a. M. 1978, besonders S. 194 ff. Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Kants Werke, Bd. VI, 200. Ebd., 171. Vgl. ebd. 174. Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 122, KSA 3, 478. Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 357, KSA 3, 600. Morgenröthe, Erstes Buch, Aphorismus 79, KSA 3, 78. Vgl. Die Geburt der Tragödie 5, KSA 1, 47: „[…] nur als aesthetisches Phänomen ist das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“. Die Geburt der Tragödie 15, KSA 1, 99. Odo Marquard führt diese Dynamik unmittelbar auf die „Liquidierung der Gnade“ zurück: „die Rechtfertigung durch Gott entfällt; so geraten die Menschen erneut unter den Zwang der Rechtfertigung durch sich selber, und zwar nunmehr unter gnadenlosen, unter absoluten Rechtfertigungsdruck […] Sein: das bedeutet nunmehr unentrinnbares Angeklagtsein, vorbehaltlose Rechtfertigungsbedürftigkeit, unbedingten Legitimationszwang; es bedeutet: die totale Beweislast haben dafür, dass man nicht schuldig ist“ (ders., Identität – Autobiographie – Verantwortung [ein Annäherungsversuch], in: ders. – K. Stierle [Hg.], Identität [Poetik und Hermeneutik VIII], München 1979, 690–699, hier 693). So Martin Walser, Über Rechtfertigung, eine Versuchung, Reinbek bei Hamburg 22012, 33. Vgl. Martin Walser, ebd., 41: „Was wir hinter uns gelassen haben: Rechtfertigung überhaupt von, sagen wir, oben zu erwarten. Heute genügt es, dass es einem gut geht, dann ist sein Rechtfertigungsbedarf schon gedeckt.“ Noch einmal Martin Walser: „Wenn ich von einem Atheisten, und sei es von einem ‚bekennenden‘, höre, dass es Gott nicht gebe, fällt mir ein: Aber er fehlt. Mir“ (ebd., 81). Paul Tillich sieht den Sinn des Rechtfertigungsglaubens darin, zu bejahen, dass der Gerechtfertigte „von Gott bejaht ist; er muss [und kann] die Bejahung bejahen“ (Systematische Theologie, Bd. II, Stuttgart 41973, 192).
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5. Gnade und menschliche Freiheit: eine unabgeschlossene Konfliktgeschichte 1
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Das lateinische „libere moventur“ unterstreicht hier das Ineinander der Freiheit und des Bewegtwerdens. Karl-Heinz Menke, Gottes Handeln an uns ohne uns? Jüdisch perspektivierte Anfrage an einen binnenchristlichen Konsens, in: Catholica 63 (2009), 58–72, hier 59 f. Ebd., 64 mit Bezugnahme auf das Konzept von Thomas Pröpper. Luthers Katechismusformulierung spricht gleichwohl davon, dass der Mensch sein Herz an Gott oder Abgott hängt. Karl-Heinz Menke, Gottes Handeln an uns ohne uns, a.a.O., 60. Gegen Karl-Heinz Menke, ebd., 63. Karl Rahner, Artikel: Gnade und Freiheit, in: ders. (Hg.) Sacramentum mundi, Bd. 2, Freiburg – Basel – Wien 1968, 469–476, hier 475. Rahners eigene Formulierung: „Das Verhältnis zwischen Gott und der Kreatur ist gerade im Unterschied zu jeder sonstigen innerweltlichen kausalen Abhängigkeit dadurch gekennzeichnet, dass Eigenstand (Eigensein) und Abhängigkeit im selben Maße, nicht im umgekehrten wachsen … Die transzendentale Herkünftigkeit des freien Aktes von Gott ist gerade seine Setzung als eines freien, seine Überantwortung an die Selbstverantwortung der Kreatur“ (ebd., 470 f.). Kritisch zu Rahners Formel äußert sich Thomas Pröpper, Gott hat auf uns gehofft… Theologische Folgen des Freiheitsparadigmas, in: ders., Evangelium und freie Vernunft. Konturen einer theologischen Hermeneutik, Freiburg – Basel – Wien 2001, 300–321, hier 314. Luis de Molina, Liberi arbitrii cum gratiae donis, divina praescientia, providentia, praedestinatione et reprobatione Concordia, Madrid 1953, Pars I, disp. 12. Domenigo Bañez y las controversias sobre la Gracia. Textos y Documentos, ed. B. de Heredia OP, Madrid 1968, I 1, 125; deutsche Übersetzung nach G. L. Müller, Gnadenlehre II, 83. Nach Luther wird eben auch der Böse „fortgerissen von dem Antrieb der göttlichen Allmacht“ ins Wirklichwerden seiner bösen Absichten (vgl. De servo arbitrio, a.a.O., 277). Vgl. die sehr luzide Darstellung von Michael Greiner, Gottes wirksame Gnade und menschliche Freiheit. Wiederaufnahme eines verdrängten Schlüsselproblems, in: Thomas Pröpper, Theologische Anthropologie. Zweiter Teilband, Freiburg – Basel – Wien 2011, 1351–1436. Concordia, Pars I, disp. 2, n. 3; deutsche Übersetzung nach Michael Greiner (a.a.O., 1376). So Michael Greiners Zusammenfassung, a.a.O., 1381. Scientia media (mittleres Wissen) wird dieses göttliche Planungswissen deshalb genannt, weil es in der Mitte steht zwischen Gottes Wissen aller
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Möglichkeiten und dem Vorauswissen der Tatsachen: als ein Eventualitätswissen, dessen „Gegenstand“ ja von menschlicher Freiheit gesetzt wird. Man mag sich in dieser Einschätzung von der Entscheidung des römischen Lehramts bestätigt fühlen, in der es beiden Streit-Parteien untersagt wurde, sich gegenseitig weiterhin zu verketzern (vgl. DH 1997). Damit scheint doch auch gesagt, dass beide gnadentheologische Positionierungen katholisch vertretbar sind und der Dissens nicht den Kern des katholischen Verständnisses von Gnade betrifft. Michael Greiner spricht hier von „Gottes unendlich geduldiger Gewinnungsmacht“, die darauf hoffen lassen könnte, dass er eschatologisch „doch noch die freie Zustimmung aller freien Geschöpfe“ gewinnt (Gottes wirksame Gnade und menschliche Freiheit, a.a.O., 1436). So die Zusammenfassung der prozesstheologischen Intuition bei Christian Link, Schöpfung. Schöpfungstheologie angesichts der Herausforderungen des 20. Jahrhunderts (Handbuch Systematischer Theologie, Bd. 7/2), Gütersloh 1991, 436. Zur Einführung in die Prozesstheologie kann herangezogen werden: John B. Cobb – David R. Griffin, Prozess-Theologie. Eine einführende Darstellung, Göttingen 1979 und Roland Faber, Prozesstheologie. Zu ihrer Würdigung und Erneuerung, Mainz 2000. Ein Klassiker der auf die Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads (vgl. ders., Abenteuer der Ideen, dt. Frankfurt a. M. 1971) zurückgreifenden Prozesstheologie ist: Charles Hartshorne, Omnipotence and other Theological Mistakes, New York 1984. Karl Rahner hat das Konzept der Selbsttranszendenz des Geistes in Weiterentwicklung der Philosophie des Thomas von Aquin theologisch eingeführt und auch dazu genutzt, die Intentionen des theologischen Evolutionskonzepts von Pierre Teilhard de Chardin zu rezipieren; von Rahner vgl. Die Christologie innerhalb einer evolutiven Weltanschauung, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. V, Einsiedeln – Zürich – Köln 21964, 183–221. Von Pierre Teilhard de Chardin vgl. Der Mensch im Kosmos, dt. München 1965. Für eine ausgeprägter monistisch-panentheistische Artikulation des christlichen Gottesverständnisses plädiert etwa Klaus Müller in seinem Buch: Streit um Gott. Politik, Poetik und Philosophie im Ringen um das wahre Gottesbild, Regensburg 2006. So versteht der Physiker Erich Jantsch geistige „Selbsttranszendenz“; vgl. ders., Die Selbstorganisation des Universums, München 21984, 411. Dieses bleibende Zugleich von Gegenüber und Immanenz ist das „nervöse Zentrum“ der Trinitätslehre. Diesen Gedanken habe ich weiter ausgearbeitet in meinem Buch: Gott verbindlich. Eine theologische Gotteslehre, Freiburg – Basel – Wien 2007, 562–638. Karl-Heinz Menke, Was ist das eigentlich: „Gnade“?, a.a.O., 363–365, 370. Ebd., 365.
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Vgl. die Formulierung des Galaterbriefs (5,1): „Zur Freiheit hat uns Christus befreit. Bleibt daher fest und lasst euch nicht von neuem das Joch der Knechtschaft auflegen!“ Vgl. den erhellenden Überblick bei Thomas Pröpper, Freiheit. Ausprägungen ihres Bewusstseins, in: ders., Evangelium und freie Vernunft, 103–128, hierzu 114–121. Von Immanuel Kant vgl. Kritik der praktischen Vernunft, Erster Theil. Erstes Buch: Die Analytik der reinen praktischen Vernunft, Kants Werke, Bd. V, 19–106. Thomas Pröpper, „Wenn alles gleich gültig ist…“. Subjektwerdung und Gottesgedächtnis, in: ders, Evangelium und freie Vernunft, 23–39, hier 28. Thomas Pröppers Konzept ist in den Bahnen des hier skizzierten gnadentheologisch-transzendentalen Freiheitskonzepts ausgearbeitet. Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Philosophie der Offenbarung, Bd. 2, Ausgewählte Werke, Darmstadt 1974, 27. Peter Bieri, Das Handwerk der Freiheit. Über die Entdeckung des eigenen Willens, Frankfurt a. M. 2003, 80. Ebd., 399. Ebd., 424. Ebd., 425. Etwa in diesem Sinne sprach Charles Péguy von der „mystique“ im Unterschied zur Politik. Höchste Freiheit besteht – so Charles Taylors Zusammenfassung – „darin, dass man sich nicht organisieren und mobilisieren, sondern von der eigenen mystique motivieren lässt, ohne von politischen [und religiösen] Autoritäten zum Befolgen von Regeln gezwungen zu werden“ (Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, dt. Frankfurt a. M. 2009, 1238). In einer mystique sind – so Péguy – Ideale inkarniert, zur vitalen Lebenswirklichkeit geworden (vgl. ebd., 1238 f.).
6. Natur und Gnade: eine Entfremdungs-Geschichte? 1 2
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Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 230, KSA 5, 169. Die fröhliche Wissenschaft, Aphorismus 109, KSA 3, 469; vgl. ebd., Aphorismus 108, KSA 3, 467. Diese je eigene Wirkmöglichkeit bestimmt sich nach dem Rang einer bestimmten Natur. Je höher dieser Rang ist, desto „innerlicher“ – also aus dem Inneren bzw. Innersten bewusst hervorgebracht – ist sein Wirken; vgl. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles IV, 11). Vgl. oben das Kapitel 3.1. Summa theologica III, q. 9, a. 3 ad 3. Der aufschlussreiche lateinische Wortlaut: „Ad hunc autem finem beatitudinis homines reducunter per Christum humanitatem“. Thomas von Aquin, Summa contra Gentiles III, 40. Summa theologica I, q. 12, a. 1.
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Summa theologica I, q. 12, a. 4. Summa contra Gentiles I, 3. Für diesen voluntaristischen Grundzug in der Spätscholastik vgl. oben Kapitel 4.3. Die hier nur schematisch skizzierten Zusammenhänge werden breit ausgefaltet in: Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 51–175. Francisco Suarez, Disputationen über die Gnade, Prolegomena 4. Kapitel, 10. Absatz, zitiert nach Gerhard Ludwig Müller, Gnadenlehre II, 81 (lateinisch: Opera Omnia 7, Paris 1858, 179–185). Francisco Suarez, bei Gerhard Ludwig Müller, Gnadenlehre II, 81. Ebd., 82. Ders., Le christianisme dévoilé, London 1761, 344. Juan Alfaro führt den Begriff der natura pura schon auf den Dominikaner und dennoch stark voluntaristisch eingestellten Petrus de Palude (1280– 1342) zurück und unterstreicht den funktionalen Charakter des Begriffs; vgl. seinen Artikel: Natura pura, in: J. Höfer – K. Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 7, Freiburg i. Br. 21962, Sp. 809–810. Vgl. die Dogmatische Konstitution Dei filius des 1. Vatikanischen Konzils (DH 3017) Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 904. Matthias Joseph Scheeben, Natur und Gnade, ders., Gesammelte Schriften, Bd. 1, hg. von R. Grosche, Freiburg i. Br. 161941, 18. Ebd., 20f. Ebd., 22. DH 3477. Vgl. DH 3481 bzw. 3484. DH 3478. DH 3891. Vgl. DH 3004. So die Zusammenfassung bei Karl-Heinz Menke, Das Kriterium des Christseins, 164. Karl-Heinz Menke zitiert (ebd., 165) als Beleg: Antonio Rosmini, Antropologia Soprannaturale, Bd. 1, hg. von U. Muratore, Rom 1983. Maurice Blondel, Logik der Tat. Aus der „Action“ von 1893 ausgewählt und übersetzt von P. Henrici, Einsiedeln 1957, 91. Ebd., 92. Ebd., 93. Vgl. Henri de Lubacs grundlegenden Entwurf: Surnaturel. Études historique, Paris 21965. Diese Kritik lässt sich in der oben zitierten Formulierung der Enzyklika Humani generis erkennen. Vgl. Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens, Freiburg – Basel – Wien 1976, 173. Vgl. oben Fn 32.
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Karl Rahner, Gotteserfahrung heute, in: ders., Schriften zur Theologie IX, Einsiedeln 1970, 161–176, hier 165. Vgl. den Artikel „Realsymbol“ von Karl-Heinz Menke in: W. Kasper (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 8, Freiburg – Basel – Wien 3 1999, Sp. 867 f., der im Wesentlichen an Rahner anknüpft. So formuliert Nietzsche dann in Jenseits von Gut und Böse, Aphorismus 259, KSA 207, um fortzufahren: „Leben selbst ist wesentlich Aneignung, Verletzung, Überwältigung des Fremden und Schwächeren, Unterdrückung. Härte, Aufzwängung eigner Formen, Einverleibung und mindestens, mildestens, Ausbeutung“. Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, 418; Taylor zeichnet diese schon im Hochmittelalter einsetzende Entwicklung minutiös nach, die sich schließlich seit dem 18. Jahrhundert in dem, was er „ausgrenzenden Humanismus“ nennt, explizit gegen Gottesglauben und Christentum wendet. Paul Ricœur hat in den gnaden- und rechtfertigungstheologisch zentralen Texten des Paulus eine „Logik der Überfülle“ aufgedeckt, von der her sich die neuzeitlich so selbstverständliche Logik des Nötigen, das seine Dignität gerade darin hat, dass es als theoretisch und praktisch unerlässlich aufgewiesen werden kann, als Logik des Mangels sichtbar wird. Vgl. von ihm: Die Freiheit im Licht der Hoffnung, in: ders., Hermeneutik und Strukturalismus, dt. München 1973, 199–226. Charles Taylors erstes Hauptwerk trägt nicht zufällig den Titel: Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität (dt. 1994). Vgl. ders., Ein säkulares Zeitalter, 72; vgl. das gesamte Buch. Vgl. ebd., 79 ff. Vgl. das Resumée bei Bruno Snell (Der Glaube an die olympischen Götter, in: ders., Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Enstehung des europäischen Denkens bei den Griechen, Göttingen 71993, 30–44, hier 36): „Was später als ‚Innenleben‘ interpretiert wird, stellte sich ursprünglich als Eingriff der Gottheit dar.“ Ich greife hier auf die wichtigen Überlegungen zurück, die Joachim Negel in seiner (noch unveröffentlichten) Habilitationsschrift: „Nur im Echo unserer Antwort wird uns vernehmbar der Gott.“ Drei fortlaufende Fragen über Projektion, Inspiration und Offenbarung, Münster 2011 im Anschluss vor allem an die Arbeiten von Arbogast Schmitt angestellt hat (vgl. ebd., 299–375). Vgl. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 101963 (erstmals 1927), fünftes und sechstes Kapitel. Zu nennen ist hier vor allem Rudolf Bultmanns Entmythologisierungskonzept; vgl. ders., Neues Testament und Mythologie. Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung, in: H.-W. Bartsch, Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch, Hamburg– Volksdorf 1954, 15–48. Paul Ricœur, Die Freiheit im Licht der Hoffnung, a.a.O., 217.
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Vgl. die hilfreichen Analysen und Differenzierungen bei Martin Rohner, Glück und Erlösung. Konstellationen einer modernen Selbstverständigung, Münster 2004, 32–54. Vgl. Johann Baptist Metz’ provokante Bemerkung: „Macht Gott glücklich? Im Sinn eines sehnsuchts- und leidensfreien Glücks. War Israel je in diesem Sinne glücklich mit Jahwe? ... Ich zweifle“ (Gottespassion Freiburg im Breisgau 1991, 33).
7. Menschen-Gaben, Gottes Gabe: Geschichte einer Herausforderung 1
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Das von der DFG geförderte und von Veronika Hoffmann geleitete wissenschaftliche Netzwerk „Gabe – Beiträge der Theologie zu einem interdisziplinären Forschungsfeld“ hat hier wichtige Sondierungsarbeit geleistet. Der in diesem Kapitel skizzierte Entwurf verdankt sich im Wesentlichen der Mitarbeit in diesem Netzwerk. Zur theologischen Last mit dem Schicksalsbegriff vgl. Stefan Peitzmann, …damit es nicht nur Schicksal ist. Hermeneutiken des Unverfügbaren im Spiegel theologischen Denkens, Münster 2012. Das hat Thomas Pröpper in der gebotenen Deutlichkeit herausgearbeitet. Er spricht vom „Ungedanke[n] einer übertragbaren Schuld“. Vgl. von ihm: Theologische Anthropologie, 1082 ff. Nach Karl Barth ist Erbsünde, wenn die beiden Begriffselemente ernst genommen würden, „eine contradictio in adiecto, der gegenüber sich noch niemand anders als damit hat helfen können, dass er den einen oder den anderen dieser Begriffsteile faktisch eskamotiert hat“ (Kirchliche Dogmatik IV/1, Zollikon – Zürich 1953, 558). Vgl. Georg Frank, Ökonomie der Aufmerksamkeit. Ein Entwurf, München – Wien 1998. Das Unterscheidenkönnen von Gut und Böse ist in der Paradiesesgeschichte der Genesis – wenn man Claus Westermann folgt – als das Abschätzenkönnen der Tauglichkeit von Schöpfungsgütern zu verstehen, welches den Abschätzenden zum Gott der Anderen macht. Westermanns Deutung macht verständlich, warum es eine Versuchung – vielleicht die elementare Versuchung menschlicher Freiheit – ist, in diesem Sinne durch Wissen mächtig werden zu wollen; vgl. ders., Schöpfung, Stuttgart 1983, 132. Marcel Hénaff, Der Preis der Wahrheit. Gabe, Geld und Philosophie, dt. Frankfurt a. M. 2009, 205. In ähnliche Richtung denkt Paul Ricœur; vgl. von ihm: Wege der Anerkennung. Erkennen, Wiedererkennen, Anerkanntsein, dt. Frankfurt a. M. 2006 . Zu dem von beiden Autoren ausgearbeiteten Konzept vgl. Veronika Hoffmann, Die Gabe der Anerkennung. Ein Beitrag zur Soteriologie aus der Perspektive des Werkes von Paul
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Ricœur, in: Theologie und Philosophie 81 (2006), 503–528. Das Werk von Marcel Mauss, auf das sich heute praktisch alle Gabe-Diskurse beziehen, ist: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, dt. Frankfurt a. M. 1990 (auf französisch 1925 erschienen). Axel Honneth, Verdinglichung. Eine anerkennungstheoretische Studie, Frankfurt a. M. 2005, 42. Vgl. meine Überlegungen in dem Buch: Vergewisserungen im interreligiösen Feld, Berlin 2011, 297–316. Joachim Negel hat in diesem Sinne theologisch-begrifflich gewagt, aber in der Sache zutreffend von „Erbgnade“ gesprochen; vgl. von ihm: Erbsünde? Erbgnade? Grundlegung einer Höhenpsychologie als Beitrag zu einer existentiellen Theologie der Gnade (Antrittsvorlesung an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität am 20. Januar 2012. Vgl. Karl Rahner, Artikel „Selbstmitteilung Gottes“, in: J. Höfer – K. Rahner (Hg.), Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. IX, Freiburg i. Br. 2 1964, 627 und ders., Artikel „Teilhabe“, ebd., 1340 f. Peter Hardt, Genealogie der Gnade. Eine theologische Untersuchung zur Methode Michel Foucaults, Münster 2005, 276. Von Rahner vgl. Über die Erfahrung der Gnade, in: ders., Schriften zur Theologie, Bd. III, Einsiedeln – Zürich – Köln 71967, 105–110. Vgl. Jacques Derrida, Falschgeld. Zeit geben, dt. München 1993. Vgl. meine Überlegungen in dem Aufsatz: Gottes-Gabe. Fundamentaltheologische Reflexionen zum Gabe-Diskurs, in: Vergewisserungen im interreligiösen Feld, 283–296, hierzu 292 ff. Der „Eigennamen“ des Heiligen Geistes ist schon in den Überlieferungen der Alten Kirche der Name Gabe; vgl. Aurelius Augustinus, De fide 9,19 bzw. De trinitate V, 15–16. Dietrich Bonhoeffer, Nachfolge, München 151985, 13–15.
Personenregister
Alfaro, Juan 170 Anselm von Canterbury 52 Aristoteles 10, 113, 127, 173 Athanasius 66, 164 Augustinus 32, 34, 39-52, 54, 56 f., 63, 69-71, 81, 86, 95, 133, 143, 162 f., 173, 176 Bañez, Domingo 95-97, 99 f., 167 Barth, Karl 172 Basilius 37 Beintker, Michael 84 Biel, Gabriel 60, 164 Bieri, Peter 109-111, 169 Blondel, Maurice 126-130, 139, 170 Bonaventura 57 f., 163 Bonhoeffer, Dietrich Bultmann, Rudolf 161, 171 Clemens Alexandrinus 37 Cobb, John B. 168 Derrida, Jacques 173 Dionysius Areopagita 57 Dörnemann, Holger 61 Ebeling, Gerhard 164 f. Meister Eckhart 164 Faber, Roland 168 Flasch, Kurt 42, 46, 162 Frank, Georg 172 Freud, Sigmund 79, 133 Ganoczy, Alexandre 33, 163 Gerleman, Gillis 161 Gogarten, Friedrich 165 Gregor von Nazianz 66, 164 Gregor von Nyssa 44, 162 Greiner, Michael 167 f. Greshake, Gisbert 15, 50 Griffin, David R. 168 Groethuysen, Bernhard 166
Hailer, Martin 164 Hardt, Peter 173 Hartshorne, Charles 168 Heidegger, Martin 171 Hénaff, Marcel 145, 160, 172 Herrmann, Wilhelm 77, 79, 166 Hoffmann, Veronika 160, 172 Honneth, Axel 173 Irenäus von Lyon 35 f. Jantsch, Erich 168 Johannes Cassianus 38 f., 162 Johannes Chrysostomus 37, 162 Johannes Duns Scotus 58 Johannes vom Kreuz 138 Jüngel, Eberhard 15, 84, 165 Kant, Immanuel 42, 78 f., 97, 99, 104 f., 158 Koch, Klaus 161 Link, Christian 168 de Lubac, Henri 128 f., 170 Luther, Martin 34, 47, 50, 62-79, 85 f., 88, 90, 93 f., 96 f., 100, 102, 107, 120, 158, 163-165, 167 Mannermaa, Tuomo 84, 164 Marquard, Odo 166 Mauss, Marcel 145, 173 Menke, Karl-Heinz 15, 50, 89, 92, 103, 165, 167 f., 170 f. Mesrop 37 Metz, Johann Baptist 172 Molina, Luis de 95, 97-99, 102, 167 Morrison, Toni 7 Morenz, Siegfried 161 Müller, Gerhard Ludwig 61, 167, 170 Müller, Klaus 168 Negel, Joachim 171, 173
Personenregister Nietzsche, Friedrich 8, 79-81, 101, 113, 132, 161, 163, 171 Origenes 36-39 Pannenberg, Wolfhart 164 Paulus 24, 26-32, 39, 44 f., 76, 96, 100, 171 Peitzmann, Stefan 172 Pelagius 39 f., 45-48 Péguy, Charles 169 Pesch, Otto Hermann 15, 56, 61, 163 Peters, Albrecht 15 Petrus Lombardus 53 Pröpper, Thomas 104 f., 111, 167, 169, 172 Prosper von Aquitanien 47 von Rad, Gerhard 161 Rahner, Karl 94, 129-131, 139, 152, 167 f., 170 f., 173 Ratzinger, Joseph 163 Ricœur, Paul 15, 142, 163, 171 f. Rohner, Martin 172 Rosmini-Serbati, Antonio 126, 129, 170 Saarinen, Risto 164 Scheeben, Matthias Joseph 120-124, 170
175 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 169 Snell, Bruno 171 von Soosten, Joachim 161 Stierlin, Helm 165 Stoebe, Hans Joachim 17, 161 Suarez, Francisco 117-119, 123, 170 Ullmann, Linn 161 Taylor, Charles 169-171 Teilhard de Chardin, Pierre 169 Teresa von Avila 138 Theobald, Michael 162 Thiry d’Holbach, Paul-Henri 119, 170 Tholuck, August 77, 79, 166 Thomas von Aquin 53 f., 57, 96, 113 f., 117, 121, 125, 163, 168 f. Tillich, Paul 166 Walser, Martin 166 Weber, Max 162 Werbick, Jürgen 163, 168, 173 Westermann, Claus 33, 172 Whitehead, Alfred North 168 Wilhelm von Ockham 60 Zenger, Erich 161
Sachregister
Allwirksamkeit/Allvermögen (Gottes) 28 f., 46, 61, 70, 74, 99, 165 Ambivalenz 133, 145-149 Anerkennung 105 f., 144-150, 154-156, 172 f. Artikulation 13 f., 101, 143-145, 149, 168 Aufmerksamkeit 140, 144-150, 153, 172 Augustinismus 47-52, 62, 68, 70, 85, 90, 95, 104, 143 Autonomie 85, 104, 115 f., 120-122 Bekehrung/Umkehr 21, 25 f., 49-53, 63, 68 f., 75-77, 83, 87 f., 95-97, 128, 131, 138 Berufung 26, 45 f., 95, 99, 103, 124, 157 Charismen 26, 157 Christologie 34-39, 66, 102, 131, 168 Concursus divinus 98, 100 Conditio humana 145-150 Entzauberung 23, 135 f. Erbarmen 18, 24, 28, 45 f., 154, 159 Erbsünde 40 f., 47-49, 67-68, 78, 116, 142-145, 163, 172 f. Erziehung 37-39, 44-46 Evolution 81 f., 100, 103, 122, 145, 168 Freiheit/freier bzw. unfreier Wille 8, 26, 34, 37-44, 47-50, 53. 58 f., 70-75, 85100, 103-110, 112, 128 f., 146-151, 162, 172 Friede (šālōm) 18-21, 27, 31 f. Gabe/Geschenk 21, 26, 30, 41-47, 56-64, 67, 67-69, 73-76, 86, 89-91, 94, 103107, 112-115, 118, 127-131, 138-160 Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre 14, 88
Gerechtigkeit 16-22, 27-32, 38-41, 46, 49, 51 f., 61 f., 66, 76, 87, 94, 104, 108, 118-120 – passive/aktive 76 – fremde 64 f., 164 – forensische 64 Gesetz und Evangelium 75-77 Glück 21, 59, 114, 117, 131, 136-138 Gnade fortlaufend – aktuelle/habituelle G. 54 f., 58, 64 – geschaffene/ungeschaffene G. 53 f., 152 f. – helfende G. 39, 53, 86 f., 96 – innere/äußere G. 54, 95 – Rechtfertigungs-/heiligmachende G. 53, 87 – Schöpfungs-/Erlösungsgnade 54 – zuvorkommende/nachfolgende G. 53, 87, 96 – Erfahrung der G. 17-24, 35-38, 4852, 56, 62, 67, 77, 104, 110, 112, 124, 126-138, 151-153, 157 – Ungeschuldetheit der G. 12, 118122, 128 Gnadengabe(n) 26, 156 f. Gnadenstreit 95-99 Gottebenbildlichkeit 34, 39, 113 f. Heiligung 37, 66 f., 90, 92, 97 Heilswillen (Gottes) 70, 98 Immanenz/Transzendenz 101-103, 112, 122-126, 168 Konzil von Trient 85-88, 95, 142 Kreuz 16, 24-34 Leben 8, 14, 16-32, 37, 39, 44, 49-52, 55 f., 62 f., 67-69, 72-77, 80, 83, 85, 9193, 99-104, 107-112, 117-119, 123127, 131-138, 142-160
178 Leidenschaft 49, 85, 104, 109 f., 143, 153 f. Mächte 23, 37, 68 f., 75, 135 f., 156 Metapher 9-12, 16, 24, 56, 71, 102 f., 121, 142 f. (Anti-)Modernismus 122 f., 126 Naturalismus 80, 112, 119 Natürlich/übernatürlich 57 f., 100, 110, 122-138 Ökonomie 133, 140 f., 148 Ordnung (des Heils, der Gnade, der Liebe) 19, 21, 35, 51-61, 77, 86, 117-124 Pantheismus/Panentheismus 103 Partizipation/Teilhabe 16, 20, 27-32, 36, 55-60, 65-69, 74, 93 f., 102 f., 106 f., 135, 140, 144 f., 148-152 Pelagianismus 47 Platonismus 42, 113 Pneumatologie/Heiliger Geist 21, 27, 33-39, 53 f., 56-59, 62, 67, 69, 71, 73, 76, 87, 102, 108, 118, 140, 151, 157 Potentia absoluta/ordinata 58-61 Prädestinationslehre 48 f., 60, 69, 90, 96, 137 Präsenz 65, 103, 145 f., 150 f. Prozesstheologie 102 f., 168 Rechtfertigung 32, 53, 62-70, 75-83, 8595, 104-109 Rechtleitung 158-160 Sakramente 54, 156 f. Schöpfung 35 f., 52, 58, 81, 93-103, 112118, 128, 152
Sachregister Segen 17, 21-23, 31 f., 55, 151 Selbstmitteilung (Gottes) 58, 128, 130 f., 134, 152 f., 155 Selbsttranszendenz (des Menschen) 101 f., 131, 168 Selbstursprünglichkeit/Selbstbestimmung 40, 46, 68, 70, 78, 85, 89-95, 101, 104-108, 135 f., 140, 143, 149, 159, 162 Sünde 20, 22, 26-57, 62-71, 75-78, 83, 85-91, 95-97, 106, 118, 131, 142 f., 145, 149-152, 155-158 Synergismus 37 f. Theodizee 82, 98 Tora 20 f., 23, 29, 159 Treue (Gottes) 17, 20 Unüberwindlichkeit (der Gnade) 96 Verborgener Gott 51, 63, 116, 165 Verdammnis 34, 40, 49, 51 f., 61, 63, 76 f., 142 Vergebung 18, 24 f., 32, 50, 56 f., 66, 76-83, 119 f., 153, 155 Vergöttlichung 34, 65-67, 153 Verheißung 29, 41 f., 45, 48 f., 62, 75, 85, 90-93, 99, 101-104, 107-111, 131, 134, 160 Vorwillentlichkeit 49, 69, 74, 148, 163 Wohlwollen 17 f., 23-26, 51-59, 72 f., 83, 108, 141, 144-157 Zwei-Stockwerk-Theorie 117-122, 128