Modus supplicandi: Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium [1 ed.] 9783205232407, 9783205232384


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Modus supplicandi: Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium [1 ed.]
 9783205232407, 9783205232384

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Modus supplicandi Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium Herausgegeben von Christian Lackner und Daniel Luger

Modus supplicandi Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium

Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung Band 72

2019 Böhlau Verlag Wien

Modus supplicandi Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium

Herausgegeben von Christian Lackner und Daniel Luger

2019 Böhlau Verlag Wien Köln Weimar

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://portal.dnb.de abrufbar. © 2019 by Böhlau Verlag Gesellschaft m.b.H & Co. KG, Kölblgasse 8 –10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Kolorierte Federzeichnung aus Joseph Grünpecks Historia Friderici III. et Maximiliani I. (HHStA HS B 9 fol. 76r) Umschlaggestaltung: Michael Haderer, Wien Wissenschaftlicher Satz: satz&sonders GmbH, Dülmen Redaktion: Andrea Sommerlechner, Herwig Weigl

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23240-7

Inhalt Christian L Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Ludwig S Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Jasmin H Institutionengeschichte durch „Ego-Dokumente“? Verfahrensdokumente und Selbstzeugnisse zu den Supplikationsverfahren bei Ehehindernissen im Florenz der Renaissance

.

35

Gian Maria V Le suppliche ai signori italiani del Trecento: ideologia, formulari, aspetti diplomatistici. Qualche nota sugli studi recenti . . . . . . . . . . . . . .

51

Bence P Das Supplikenwesen am spätmittelalterlichen ungarischen Königshof

...

67

.........

93

Petr E Das Supplikenwesen am böhmischen Hof im Spätmittelalter

Daniel L Suppliken und Petenten am Hof Kaiser Friedrichs III. (1440 –1493) im Spiegel literarischer und erzählender Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 Nadja K Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519) . . . . . . . . . . . . . . . . 139 Christian L Bitten an den ungeliebten Herrn. Erzherzog / König Maximilian in den Burgundischen Ländern . . . . . . . . . 169 Claudia G In . . . dingen, die zimlich sind zu piten. Gnadenbitten im Kontext der Königsherrschaft im römischdeutschen Reich des Spätmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181

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Inhalt

Thomas S Das Votum ad imperatorem für den Schneider Niklas Huber. Ein Fallbeispiel aus der Onlinedatenbank „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612)“ . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 Siglenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Beitragende

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 223

Einführung Christian Lackner

Wir schreiben das Jahr 1333: Im Dominikanerkonvent der päpstlichen Residenzstadt Avignon ist für den 3. Jänner eine Predigt des englischen Dominikaners Thomas Waleys zu einem brisanten Thema angekündigt 1. Waleys, der als Kritiker der neuen Lehre Papst Johannes’ XXII. über die Visio beatifica galt, blies zum Angriff. Zunächst einigermaßen vorsichtig theologisch argumentierend, setzte er sich mit der neuen Lehre auseinander. Die ersten beiden Punkte der Predigt wurden ruhig behandelt, gleichsam solide abgearbeitet. Doch dann redete sich der englische Dominikaner unweigerlich in Rage – später vor dem Inquisitionsgericht wird er aussagen, er habe sich von der Dynamik der Predigt hinreißen lassen. Fiat, Ecce fiat, fiat, schmetterte er wie ein Anathem den Anhängern der neuen päpstlichen Lehre entgegen. Und allen Zuhörenden musste klar sein, welch schwerwiegender Vorwurf mit den magischen Worten ausgedrückt wurde. Nicht die theologischen auctoritates hätten die Anhänger der neuen Lehre des Papstes überzeugt, sondern das kleine Wörtchen „fiat“, das es Pfründen und Benefizien regnen ließ. Und Waleys weiter: sanctitati vestre supplicat devotus filius vester pro tali beneficio: fiat! Item, quod transeat sine alia leccione: fiat 2. Was der englische Dominikaner hier unternahm, war augenscheinlich ein Frontalangriff auf das Wesen der kurialen Gratialpraxis, ja der päpstlichen Gratialmaschine, wenn der Ausdruck gestattet ist. Die weiteren Ereignisse im Avignon des Jahres 1333 müssen hier nicht erzählt werden. Das Inquisitionsverfahren gegen den englischen „Rebellen“ folgte, wenig überraschend, auf den Fuß. Waleys Zuhörerschaft im Avignon des Jahres 1333 wusste genau, wogegen sich der Zorn des Predigers richtete. Das kleine Wörtchen „fiat“ war für viele von ihnen Teil des Lebensvollzuges, evozierte unmittelbar Bilder vom päpstlichen Supplikenwesen. Es sind diese Bilder, die bei Mediävistinnen und Mediävisten noch heute entstehen, wenn sie den Begriff „Supplik“ hören. Man denkt zuerst und vor allem an die päpstliche Kurie, an Supplikenrotuli, Supplikenregister, Sola signatura, die Pönitentiarie etc., und dies aus gutem Grund. Es besteht tatsächlich kein Zweifel, dass das Supplikenwesen der Kurie im Spätmittelalter Vorbildfunktion für die Gratialpraxis im weltlichen Bereich besessen hat. Was lag an den Herrscher- und Fürstenhöfen näher, als die elaborierte päpstliche Supplikenpraxis, leicht modifiziert und angepasst an die eigenen Gegebenheiten, zu

1 Vgl. zur Sache Th(omas) K O.P., Le Procès contre Thomas Waleys O.P. Étude et documents (Dissertationes Historicae Fasc. VI, Romae 1936) bes. 11 –16. 2 Sermo fratris Thome Waleys Aviniony, in: K, Procès (wie Anm. 1) 93 –108, hier 105.

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Christian Lackner

übernehmen, zumal die meist geistlichen Akteure der fürstlichen Verwaltungen mit der kurialen Gratialpraxis aus eigener Anschauung bestens vertraut waren. Die Vorbildfunktion der Kurie ist das eine, die Forschungsgeschichte das andere. Bis in die jüngste Zeit meinte, wer von Suppliken sprach, das päpstliche Supplikenwesen. Dieses bildet seit mehr als hundert Jahren den Gegenstand einer facettenreichen Forschung, die sich auch und nicht zuletzt mit Fragen des kurialen Geschäftsganges intensiv befasst hat 3. Sehr rezent dagegen ist das Interesse der mediävistischen Forschung am Supplikenwesen außerhalb der Kurie. Wohl nicht zuletzt deshalb, weil dort eine umfangreiche Supplikenüberlieferung aus dem Spätmittelalter erhalten ist, hat die englische Forschung sich des Themas im vergangenen Jahrzehnt in besonderer Weise angenommen. William Mark Ormrod und Gwilym Dodd verfolgen ein großangelegtes Forschungsprojekt, das den Bitten an die englischen Könige gewidmet ist 4 und bereits ein erhebliches Quellencorpus an Suppliken erschließen bzw. teilweise durch Editionen zugänglich machen konnte 5. Neben England kann Italien bereits auf eine reiche Forschung zu spätmittelalterlichen Suppliken aus dem weltlichen Bereich verweisen, dies insbesondere dank der Arbeiten von Gian Maria Varanini, Maria Nadia Covini und Massimo Vallerani 6. Varanini war es auch, der vor einigen Jahren anhand der Suppliken an oberitalienische

3 Thomas F, Papsturkunden des Mittelalters und der Neuzeit (Stuttgart 2000) 33 –35 u. 67 f.; Suppliques et requêtes. Le gouvernement par la grâce en occident (XIIe –XVe siècle), hg. von Hélène M (Collection de l’École française de Rome 310, Rome 2003) mit einschlägigen Beiträgen u. a. von Patrick Zutshi und Ludwig Schmugge; zuletzt Andreas M, Regieren mit Urkunden im Spätmittelalter. Päpstliche Kanzlei und weltliche Kanzleien im Vergleich, in: Urkunden und ihre Erforschung. Zum Gedenken an Heinrich A, hg. von Werner M (VIÖG 62, Wien 2014) 71 –91, hier 85 –87. – Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang natürlich auch das unter Leitung von Ludwig Schmugge seit 1996 erarbeitete „Repertorium Poenitentiariae Germanicum. Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches“ des 15. Jahrhunderts. 4 Patrick Z, The Papal Chancery and English Documents in the Fourteenth and Early Fifteenth Centuries, in: Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert, hg. von Peter H–Hermann J (AfD Beih. 7, Köln 1999) 201 –218, hier 208 f.; Gwilym D, Justice and Grace: Parliament and Private Petitioning in the Late Middle Ages (Oxford 2007); Medieval Petitions. Grace and grievance, hg. von W. Mark O–Gwilym D–Anthony M (Woodbridge 2009); Gwilym D–Matthew P–Helen K, Multiple-Clause Petitions to the English Parliament in the Later Middle Ages. Instruments of Pragmatism or Persuasion? JmedHist 40 (2014) 176 –194. 5 Petitions to the Crown from English Religious Houses c.1272 –c.1485, ed. Gwilym D–Alison K. MH (Hockley 2010). 6 Andrea B, Le „petizioni“ inviate dalle comunità del contado al governo senese (secoli XIII–XV), in: Suppliques et requêtes (wie Anm. 3) 265 –279; Gian Maria V, „An den prächtigen und mächtigen Herrn“. Suppliken an italienische Signori im 14. Jahrhundert zwischen Kanzlei und Hof: Das Beispiel der Scaliger in Verona, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. –18. Jahrhundert), hg. von Cecilia N–Andreas W (Schriften des ItalienischDeutschen Historischen Instituts in Trient 19, Berlin 2005) 95 –132, und Nadia C, Die Behandlung der Suppliken in der Kanzlei der Sforza: Von Francesco Sforza bis Ludovico il Moro, in: ebd. 133 –165; Massimo V, La supplica al signore e il potere della misericordia. Quaderni storici 131 (2009) 411 – 441; ., La pauvreté et la citoyenneté dans les suppliques du XIVe siècle, in: Suppliques. Lois et cas dans la normativité de l’époque moderne, hg. von Simona C–Massimo V (L’Atelier du Centre de recherches historiques 13, Paris 2015) 19 –46, und Maria Nadia C, Pétitions et suppliques pendant la domination des Visconti et des Sforza au XVe siècle: exception, dérogation et formes simplifiées de justice, in: ebd. 47 –71.

Einführung

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Signoren des 14. Jahrhunderts erstmals die zentralen Koordinaten einer Diplomatik der spätmittelalterlichen Supplik abgesteckt hat. Von ihnen muss ausgehen, wer immer sich unter diplomatischen Gesichtspunkten mit dem Supplikenwesen der Vormoderne befassen will. Wichtige Anregungen erfuhr die Forschung zu den spätmittelalterlichen Suppliken in der jüngeren Vergangenheit durch Studien, die sich mit Bittschriften und Suppliken der Frühen Neuzeit beschäftigten. Vor allem methodische Fragen sind hier zu beachten und zu diskutieren. Es sei an Simona Cerutti erinnert, die die Quellengattung „Supplik“ als „très riche, mais aussi très fragile et complexe . . . parce que trompeuse“ charakterisierte. Deren Verwendung erfordere höchste interpretative Vorsicht, so Cerutti 7. Wenn Hélène Millet vor einiger Zeit wohl mit Bezug auf die an der Kurie eingereichten Bittschriften meinte, für die Abfassung einer Supplik habe es professioneller Kenntnisse bedurft 8, dann sprach sie nur eine dieser bei der Interpretation von Suppliken gebotenen Kautelen an. Neueste Untersuchungen thematisieren auch die in Suppliken bisweilen sich artikulierenden subtilen narrativen Strategien der Bittstellerinnen und Bittsteller. All dies gehört zu einer angemessenen Deutung von Suppliken, ändert aber nichts daran, dass mit Suppliken zahlreiche Menschen früherer Epochen eine Stimme erhalten, die sonst niemals in unseren Quellen zu Wort kommen würden. Aus der Reihe aktueller geschichtswissenschaftlicher Diskurse, in welchen Suppliken als zentrales Element Eingang gefunden haben, greife ich hier nur einen heraus: Die „Ursprünge des Staates“ – Statebuilding, um das englische Schlagwort zu verwenden. Was Suppliken uns in diesem Kontext sagen können, hat Gian Maria Varanini anhand der städtischen Signorien Oberitaliens – jenem Experimentierlabor verschiedener Formen der Macht, wie er es nannte – eindrücklich aufgezeigt. „Dort, wo es die Suppliken“ im 14. Jahrhundert „‚nicht‘“ gab – in Mantua bei den Gonzaga oder in Padua bei den Carrara –, hat Varanini dies der „‚Dichte‘ der ununterdrückbaren, unauslöschlichen politischen und städtisch-kommunalen Dimension“ zugeschrieben 9. Suppliken wurden zu einem wichtigen Teil der politischen Regie, die das neue Selbstverständnis der Signoren als Stadtherrn kommunizierten. „Selbstverständlich von oben nach unten“ fügte Varanini 2007 noch hinzu 10. Seither kamen vor allem aus der Frühneuzeitforschung, die das wechselseitige aufeinander bezogen Sein von Untertanen und Obrigkeit zu betonen bemüht ist, Anregungen, im Sinne des Konzepts der „Empowering Interactions“ stärker auch Bottom-up Prozessen beim Werden des Staates Beachtung zu schenken 11. Obgleich Wolfgang Reinhard dem zuletzt mit dem

7 Simona C, Travail, mobilité et legitimité. Suppliques au roi dans une société d’Ancien Régime (Turin XVIIIe siècle). Annales 65 (2010) 571 –611, hier 572. 8 Hélène M, Introduction, in: Suppliques et requêtes (wie Anm. 3) 1 –14, hier 6: „En fait, pour rédiger une supplique, il fallait du métier.“ 9 V, Suppliken (wie Anm. 6) 129. 10 Vgl. dazu jetzt auch die Arbeiten von Massimo Vallerani über die Bologneser Signorie des Taddeo Pepoli in den Jahren 1337 bis 1345. Vallerani schreibt den Suppliken eine wesentliche Rolle beim Aufbau des neuen Herrschaftssystems des Signoren zu „faisant de la supplique le système ordinaire des relations avec les citoyens-sujets“ (V, Pauvreté [wie Anm. 6] 22). 11 André H, Introduction: Empowering Interactions: Looking at Statebuilding from Below, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300 –1900, hg. von Wim B–André H–Jon M (Farnham 2009) 1 –31, hier 26: „‚Empowering interactions‘ suggests that both the representatives of particular interests and the state benefited from such

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Christian Lackner

apodiktischen Satz „No Statebuilding from Below“ eine scharfe Absage erteilte 12, zeigen neue Mikrostudien zur Rolle von Bittschriften ein durchaus differenziertes Bild. So konstatierte der belgische Mediävist Jelle Haemers unlängst in Bezug auf das spätmittelalterliche Flandern: „Petitioners regularly put economic wishes, juridical matters and fiscal requirements on the rulers’ political agenda. It will never be possible to quantify the impact of such urban petitions because the pressure ‚from below‘ is not always ‚visible‘ in the source material, but I hope to have proved that the impact was real“ 13. Der vorliegende, den spätmittelalterlichen Suppliken gewidmete Band geht auf eine Tagung zurück, die am 18./19. Mai 2017 an der Universität Wien stattgefunden hat. Der Tagungstitel, der gleichzeitig Titel dieses Bandes ist, lautete „Modus supplicandi – Zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium“. Im Fokus der Beiträge stand die spätmittelalterliche Supplik in ihrer materiellen Erscheinungsform und Gestalt. Ihr weiterer Weg, d. h. der herrschaftlich-bürokratische Umgang mit der Bittschrift, sollte einer eingehenden Analyse unterzogen werden. Im Untertitel klingt das Spannungsfeld an, in dem der „Modus supplicandi“ zu verorten ist, ein Spannungsfeld, das es im Rahmen der Tagung auszumessen galt. Gleichsam für den Normalfall des herrscherlichen Gnadenhandelns, das reibungslose Funktionieren des Gratialbetriebes, steht die Bittschrift, die ohne jede Einschränkung genehmigt wurde. Dabei konnte das bürokratisch-technische Prozedere der Bewilligung unterschiedliche Formen annehmen, sei es – und dies ist wohl am häufigsten der Fall –, dass der wesentliche Inhalt der Supplik in der Narratio der impetrierten Urkunde wiederkehrt, sei es auch, dass man sich bei der Beurkundung zu einer volltextlichen Inserierung der Supplik verstand. Und schließlich – auch dies gab es – konnte nach dem Prinzip der päpstlichen Sola signatura verfahren werden, indem mittels einer Unterschrift des Monarchen oder Fürsten die Supplik ohne weiteres zur rechtsgültigen Urkunde wurde. Allenthalben in den theoretischen Diskursen über die gute Regierung eingefordert wurde das stets offene Ohr des Herrschenden für die Wünsche der Petenten. Die Kehrseite dessen ist der Fürst, der dem Ansturm der Bittschriften nahezu hilf los gegenübersteht. Und damit sind wir bei der importunitas petentium, der schon vor mehr als drei Jahrzehnten Werner Paravicini eine eindrucksvolle Studie gewidmet hat 14. Dort liest man u. a. von einem Herzog der Bretagne aus dem frühen 15. Jahrhundert, der fürchtete, Gnaden verleihen zu müssen, obwohl er dies gar nicht wollte, und zwar par inavertance ou oppression de prieres et supplicacions qui nous pourroint estre faictes 15.

interactions. In a specific sense, both parties became more powerful: the bearers of particular interests received authoritative support, while the state broadened its social acceptance and legitimacy.“ 12 Wolfgang R, No Statebuilding from Below! A Critical Commentary, in: Empowering Interactions (wie Anm. 11) 299 –304. 13 Jelle H, Ad petitionem burgensium. Petitions and peaceful resistance of craftsmen in Flanders and Mechelen (13th –16th centuries), in: Los grupos populares en la ciudad medieval Europea, hg. von Jesús Ángel S T–Beatriz A B–Jelle H (Logroño 2014) 371 –394, hier 394. 14 Werner P, Administrateurs professionnels et princes dilettantes. Remarques sur un problème de sociologie administrative à la fin du moyen âge, in: Histoire comparée de l’administration (IVe –XVIIIe siècles), hg. von Werner P–Karl Ferdinand W (Beih. der Francia 9, Zürich– München 1980) 168 –181. 15 P, Administrateurs professionnels (wie Anm. 14) 173.

Einführung

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Entstanden ist die Idee zu dieser Tagung vor einigen Jahren, und zwar im Zusammenhang mit der Vorbereitung eines größeren Forschungsprojektes, welches das Supplikenwesen der römisch-deutschen Könige und Kaiser zu Ausgang des Mittelalters zum Gegenstand haben sollte. Anfang 2016 konnte der Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank für eine Förderung dieses Projektes gewonnen werden 16. Hauptprojektmitarbeiter wurde Daniel Luger, der in der Folge die Tagung ganz maßgeblich konzeptuell mitgestaltet und organisiert hat und auch als Mitherausgeber des aktuellen Tagungsbandes fungiert. In seinem Beitrag skizziert er hier noch einmal die Hauptziele des genannten Projektes zum Supplikenwesen am Hof Kaiser Friedrichs III. (1440 –1493) und stellt erste Ergebnisse vor. Der leitende Gedanke bei der Konzipierung der Tagung war, ausgehend von der päpstlichen Supplikenpraxis die Verhältnisse im weltlichen Bereich, bei Königen, Fürsten u. a. im späteren Mittelalter in den Blick zu nehmen, dies in einem breiten Vergleich von England bis Italien, von den Niederlanden bis Ungarn. Dementsprechend stehen am Beginn des Bandes zwei Beiträge, die das päpstliche Supplikenwesen berühren, einmal aus der Perspektive der Prokuratoren der Pönitentiarie (Ludwig Schmugge), zum anderen aus der lokalen Sicht der Petentinnen und Petenten im Florenz der Renaissance (Jasmin Hauck). Wenn es auch nicht ganz geglückt ist, das angestrebte breite europäische Panorama über das fürstliche Supplikenwesen des Spätmittelalters zu entwerfen, so bieten die Beiträge von Gian Maria Varanini zu den italienischen Signorien, von Bence Péterfi zum ungarischen und Petr Elbel zum böhmischen Hof doch wichtige Bausteine zu einer solchen gesamteuropäischen Schau des Supplikenwesens. Aus der Arbeit an dem Jubiläumsfondsprojekt erwachsen sind neben dem Beitrag von Daniel Luger auch jener von Nadja Krajicek über Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519) sowie ein erster knapper Versuch des Verfassers, die Supplikenpraxis in den burgundischen Ländern König Maximilians in den Blick zu nehmen. Liegt allen bisher genannten Beiträgen die schriftliche Bitte als Gegenstand zugrunde, so erfährt der Tagungsband durch die Untersuchung von Claudia Garnier eine wertvolle Ergänzung in Richtung der performativen Aspekte der oralen Kultur der Gnadenbitte an den Herrscher im Spätmittelalter. Thomas Schreiber präsentiert im abschließenden Beitrag unseres Bandes am Beispiel von Untertanensuppliken am Hof Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612) einige zentrale Ergebnisse der jüngeren Frühneuzeitforschung. Es ist mir ein großes Anliegen, abschließend hier an den von mir hoch geschätzten Kollegen Andreas Meyer zu erinnern. Er war der erste, der mich bei der konzeptuellen Gestaltung der Suppliken-Tagung wärmstens unterstützte, beriet und immer wieder auch bei unvermeidlichen Rückschlägen ermutigte. Als ausländischer Partner des Jubiläumsfondsprojektes hatte Andreas Meyer sich auch ohne zu zögern bereiterklärt, an der Tagung selbst mit einem Vortrag mitzuwirken. Doch dann musste er wegen einer schweren Erkrankung zu Jahresende 2016 absagen. Am 6. Februar 2017 ist Andreas Meyer seiner schweren Krankheit erlegen. Ihm sei der vorliegende Band in dankbarer Erinnerung gewidmet.

16 Jubiläumsfondsprojekt Nr. 16853: „Das spätmittelalterliche Supplikenwesen am römisch-deutschen Herrscherhof (1440 –1493)“.

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523) Ludwig Schmugge

Einleitung Die päpstliche Administration besaß im Spätmittelalter bekanntlich eine hoch entwickelte, auf Schriftlichkeit und kanonischem Recht basierende Organisationsform. Die römische Kurie übertraf in dieser Hinsicht die Höfe aller weltlichen Gewalten. Unter Leo X. (1513 –1521) stellte die päpstliche Kanzlei „monatlich ca. 4600 Urkunden“ aus 1. Die Zahl wäre noch um mehrere Hundert Litterae der Pönitentiarie zu vermehren, sodass man auf über 5.000 Schriftstücke kommt 2. In den Litterae der Pönitentiarie ging es indes nicht, wie in der Kanzlei, hauptsächlich um Pfründen und Posten, sondern um spirituelle Werte. Männer und Frauen in allen Ländern der Christenheit sahen sich gezwungen, an den Heiligen Vater in Rom zu schreiben, um sich seiner Gnade zu versichern. Ereignisse von erheblicher sozialer Relevanz zwangen sie dazu, wie Totschlag, uneheliche Geburt, verbotene Ehe. Nur der mit plenitudo potestatis ausgestattete Papst durfte zur Beseitigung des Zustands, in den der Bittsteller geraten war, seine Gnade in Form einer Absolution, Dispens oder Lizenz erteilen. Sehr treffend hat ein Engländer die Kurie deshalb als „the well of grace“ bezeichnet 3. Um den Papst zu entlasten und den Andrang dieser Bittsteller zu kanalisieren, war im 13. Jahrhundert ein eigenes Amt entstanden, die Apostolische Pönitentiarie, das

1 Thomas F, Wie viele Papsturkunden sind jemals expediert worden?, in: Sit liber gratus, quem servulus est operatus. Studi in onore di Alessandro P per il suo 90o compleanno 1, hg. von Paolo C–Giovanna N (Littera antiqua 19/1, Città del Vaticano 2012) 623 –634, hier 629. – Abkürzungen: APA = Archivio della Penitenzieria Apostolica, Rom; RAG = Repertorium Academicum Germanicum; RG = Repertorium Germanicum V –X. Verzeichnis der in den Registern und Kameralakten . . . vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, seiner Diözesen und Territorien ([Berlin–]Tübingen 1985 –2018); RPG = Repertorium Poenitentiariae Germanicum I –XI: Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie . . . vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, ed. Ludwig S et al. (Tübingen bzw. Berlin–Boston 1996 –2018). 2 In den 20 Monaten des Pontifikats Hadrians VI., ausnahmsweise sind hier fast alle Suppliken erhalten, waren es pro Monat im Schnitt 780 Litterae. Die nur teilweise erhaltenen Register der Pönitentiarie ergeben im 15. Jh. einen Durchschnitt von 3.000 bis 3.500 Suppliken pro Jahr. Ich danke Kirsi Salonen, Turku, für diese Angaben. 3 Das Bonmot stammt aus einem Brief des Engländers John Paston von 1473, zitiert bei Kirsi S, The Penitentiary as a Well of Grace in the Late Middle Ages (Annales Academiae Scientiarum Fennicae 313, Helsinki 2001) 15.

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Ludwig Schmugge

Beicht-, Buß- und Gnadenamt der Kirche. Ihm wurde die Prüfung der an den Papst zu richtenden Gesuche (Suppliken) übertragen. Wie der Kontakt eines Gesuchstellers in partibus, also aus Köln, Wiener Neustadt oder auch einem kleinen Dorf, mit der Pönitentiarie zustande kam, wird noch zu erörtern sein. Das Anliegen eines Bittstellers landete zuerst bei einem Prokurator. Die procuratores entwickelten sich im Spätmittelalter zu einer der wichtigsten funktionalen Gruppen an der päpstlichen Kurie. Sie gehörten zu den über eintausend Personen in Rom, die man als curiam sequentes zusammenzufassen pflegt. Sie bildeten bereits im 14. Jahrhundert ein consortium, eine Korporation 4. Ohne ihre Mitwirkung war eine erfolgreiche Gnadenvermittlung in Rom nicht zu erreichen. Prokuratoren gab es bei allen Dikasterien der päpstlichen Kurie. Während aber die Gruppen der römischen Kammer-, Rota- und AudientiaProkuratoren sowie die Generalprokuratoren einzelner Herrscher und Prälaten gut erforscht sind 5, gilt das nicht für die Apostolische Pönitentiarie. Die Pönitentiarie-Prokuratoren bildeten eine gut organisierte Gruppe hoch qualifizierter Männer, ihre Korporation bestellte für die religiösen Zeremonien der Gemeinschaft einen eigenen Kaplan 6. Das Amt des Prokurators setzte spezielle Fähigkeiten voraus: gute Kenntnisse des kanonischen Rechts, der einschlägigen Kanzleiregeln sowie 4

Zur Rechtsfigur des Prokurators im Kirchenrecht siehe Liber Extra 1. 38, Liber Sextus 1. 19 und Clementinen 1. 10. Grundlegend Emil G, Die päpstliche Pönitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V., 2 Bde. in vier Teilen (Bibliothek des Preussischen Historischen Instituts in Rom 3, 4, 7 und 8, Rom 1907 –1911), hier I / 1 183 –184 und II / 1 71 –74; Thomas F, Die Kanzlei der Päpste der Hochrenaissance (1471 –1527) (BDHIR 63, Tübingen 1986); Christiane S, Die Deutschen an der päpstlichen Kurie im späten Mittelalter (1378 –1447) (BDHIR 65, Tübingen 1987) 67 – 70 und 191 –201; Ludwig S, Kirche, Kinder, Karrieren: päpstliche Dispense von der unehelichen Geburt im Spätmittelalter (Zürich 1995) 100 –103; Thomas F, Art. Procurator III: Päpstliche Kurie. LMA 7 (1995) 238 (Bibliographie); Andreas S, Deutsche Prokuratoren an der römischen Kurie in der Frührenaissance (1431 –1474) (Norm und Struktur 8, Köln–Weimar–Wien 1997); Kerstin H, Veri et legitimi vicarii et procuratores: Beobachtungen zu Provisionswesen und Stellvertretung an der päpstlichen Kurie von Avignon. QFIAB 86 (2006) 208 –251. Zu den Rota-Prokuratoren Per I, Provisioner og Processer: Den romerske Rota og dens behandling af danske sager i middelalderen [Prokuratoren und Prozesse. Die römische Rota und die Behandlung dänischer Fälle im Mittelalter] (Århus 2002) 132 –135; Pierre-Marie B, Les procureurs français à la cour pontificale d’Avignon (1309 –1376) (Mémoires et Documents de l’École des chartes 96, Paris 2014). Zuletzt Brigide S, The Roman Curia (until about 1300), in: The History of Courts and Procedure in Medieval Canon Law, hg. von Winfried H–Kenneth P (History of Medieval Canon Law, Washington D. C. 2016) 160 –228, hier 218 f. mit der älteren Literatur. Für die sollicitatores camerae et cancelleriae apostolicae errichtete erst Sixtus IV. 1482 ein entsprechendes Gremium; siehe F, Kanzlei 212. 5 Zu nennen sind insbesondere die ständigen Prokuratoren, die procuratores audientie litterarum contradictarum und seit dem 14. Jh. die procuratores causarum in Romana curia, F, Kanzlei (wie Anm. 4) 143, 153. Die beste Zusammenfassung zu den Prokuratoren im Kirchenrecht jetzt bei James B, The Practice of Canon Law, in: History of Courts (wie Anm. 4) 51 –73, hier bes. 55 –57 mit der älteren Literatur in Anm. 21, und bei Charles D J., The Ecclesiastical Courts, in: ebd. 247 –299, hier 265 f., sowie Brigide S, The Roman Curia (wie Anm. 4) 218 –220, besonders zu den Generalprokuratoren. Zu den aus Zürich stammenden aktiven Prokuratoren in Rom: Andreas M, Zürich und Rom. Ordentliche Kollatur und päpstliche Provisionen am Frau- und Großmünster 1316 –1523 (BDHIR 64, Tübingen 1986) 61 –66. 6 RPG VIII S. XXX –XXXII. Sebastianus Natalis capellanus dominorum sacre Penitentiariae procuratorum (APA 43 fol. 471r). Vgl. Brigide S, Die Korporationen der Schreiberkollegien an der päpstlichen Kurie, in: „Eure Namen sind im Buch des Lebens geschrieben“. Antike und mittelalterliche Quellen als Grundlage moderner prosopographischer Forschung, hg. von Rainer B (Erudiri sapientia 11, Münster 2014) 307 –318.

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523)

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der gängigen, in der Pönitentiarie gebräuchlichen Formulare für das korrekte Abfassen von lateinischen Suppliken in den verschiedensten Materien gemäß dem stilus curiae. Ihrem Vorsteher, dem distributor, oblag es, die in der Pönitentiarie eingehenden Bittschriften gleichmäßig auf alle Mitglieder zu verteilen, unabhängig davon, aus welcher Nation der Bittsteller kam. Es verwundert nicht, dass die meisten Prokuratoren im 15. Jahrhundert einen akademischen Grad besaßen, oftmals im kanonischen Recht 7. Prokuratoren waren mobil, mussten sie doch der Kurie auf ihren Reisen folgen; alle nahmen – wie die anderen Kurialen – an den festtäglichen Prozessionen des Papstes in Rom teil. Dessen Zeremonienmeister Johannes Burckard überliefert deshalb in seinem Liber notarum zu den Jahren 1493 und 1498 zwei Listen der Prokuratoren 8. Leider existiert im Vatikanischen Archiv kein vollständiges Verzeichnis (matricula) der Mitglieder ihrer Korporation.

Pönitentiarie-Prokuratoren in den kurialen Reglementen Die Entwicklung des „Gnadenbrunnens“ der Pönitentiarie zu einer veritablen Behörde mit über 200 „Angestellten“ um 1500 ist an den Reglementen abzulesen. Pönitentiarie-Prokuratoren werden erstmals in der Konstitution Benedikts XII. In agro dominico von 1338 und in der von Heinrich Denifle edierten gleichzeitigen Taxliste erwähnt 9. Darin wurde festgelegt, dass der Großpönitentiar ein Register (matricula) der zugelassenen Amtsinhaber mit Name und Anschrift (Ort und Diözese) zu führen hatte. Die Prokuratoren erhielten für ihre Arbeit Geld, die taxa, und legten – wie alle anderen Offizialen der Kurie auch – einen Amtseid ab, in welchem sie sich verpflichteten quod nichil ultra taxam exigant 10. Die Taxliste von 1338 begrenzte ihren Salär auf maximal 6 Turnosen (für die anspruchsvollste Littera, eine littera declaratoria), während sie für einen einfachen Beichtbrief nur einen halben Turnosen berechnen durften 11. Jeder Prokurator sollte im Besitz einer Abschrift der Bulle von 1338 In agro dominico sein 12. Der um Reformen bemühte Benedikt XII. zeigte sich bald enttäuscht über die Auswirkung seiner Konstitution. Offenbar hielten sich die sollicitatores et procuratores nicht an die Vorgaben des Papstes, die ihrem Verdienst Grenzen zu setzen versuchten. So erließ er bereits zwei Jahre später weitere Regelungen in der Konstitution Decens et necessarium (1340) und wiederholte seine früheren Anordnungen 13. Im Schisma gab 7 James Brundage bestreitet, dass die Prokuratoren im 13. Jh. bereits einen akademischen Abschluss hatten, vielmehr nur ein „. . . modest learning, for their expertise was primarily pragmatic“, B, The Practice of Canon Law (wie Anm. 5) 57. 8 Johannis Burckardi Liber notarum ab anno MCCCCXXXIII usque ad annum MDVI, ed. Enrico C, 3 Bde. (RIS2 32, Città di Castello 1906 –1940), hier 1 433 f. und 2 107 f.; F, Kanzlei (wie Anm. 4) 237. Einige der Namen auch bei S, Prokuratoren (wie Anm. 4) 342 –406. Zu Burckard zuletzt Bernhard S, Art. Burckard, Johannes, in: Deutscher Humanismus 1480 –1520. Verfasserlexikon, hg. von Franz Josef W (Berlin–New York 2005) 299 –307. 9 Heinrich D, Die älteste Taxrolle der apostolischen Pönitentiarie. Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters 4 (1888) 201 –238. 10 Ebd. 209 –220, hier 217, der Eid selbst 220. 11 Ebd. 234 f. 12 Ebd. 237. 13 Michael T, Die päpstlichen Kanzleiordnungen von 1200 –1500 (Innsbruck 1894) 118 –124 Nr. XVI.

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es zwei, bald drei Beichtämter. Nach dessen Ende galt es, das durch drei Obödienzen hervorgerufene Chaos in den kurialen Ämtern zu beseitigen. Martin V. ordnete in zwei Dekreten In apostolicae dignitatis (1418) 14 und Romani pontificis providentia (1423) 15 die Organisation der Kurie neu. Darin wurde die Anzahl der Pönitentiarie-Prokuratoren wiederum auf 24 begrenzt. Dies blieb bis ins 16. Jahrhundert die Normzahl der ordentlichen Mitglieder der Korporation.

Wo werden Prokuratoren aktenkundig? Wenn kein Verzeichnis (matricula) der Mitglieder der Prokuratoren-Korporation existiert, wie kommt der Historiker ihnen auf die Spur? Da helfen vor allem drei Quellen weiter, die Litterae des Amtes, die registrierten Suppliken und das Repertorium Germanicum. 1. Die littera, ein Dokument der Pönitentiarie (den Bullen und Breven der Kanzlei vergleichbar), enthält die an den Gesuchsteller über den Prokurator von Rom aus versandte Antwort auf sein Gnadengesuch. Nach den Statuten Papst Benedikts XII. mussten die Prokuratoren Unterschrift auf den von ihnen redigierten Dokumenten leisten: Quilibet ponat nomen suum in dorso peticionum et litterarum quas procurabit 16. Leider gibt es, anders als in der Kanzlei, keine kuriale Überlieferung der litterae. Diese finden sich allerdings zu Tausenden, größtenteils noch unentdeckt, in den Archiven in partibus 17. Die litterae liefern, abgesehen von der Entscheidung über ein Gnadengesuch, wertvolle Bausteine für eine Prosopographie des Personals der Kurie und der Pönitentiarie im Besonderen. Schauen wir uns ein beliebiges Beispiel an! In dieser Littera aus dem Staatsarchiv Stockholm (1509) erteilt der Großpönitentiar Ludovico Borgia dem Minderpönitentiar und Bischof von Milopotamus, Franciscus Berthelay, den Auftrag, einem an der Kurie anwesenden Zisterzienser, Olavus Magni, Absolution und Dispens zu gewähren (Abb. 1 –3); der Mönch war in einen Streit mit Todesfolgen involviert 18. In dem Dokument sind die Namen von fünf an der Erstellung des Dokuments beteiligten Kurialen genannt. Unter der Plica der Name des Taxators und darin eingefügt die Taxe von 6 Turnosen: S. Centurio / sextur / nis, weiter Jo. Ja. de Bonisauguriis (der Komputator) und Ge(rardus) Hominis. Hominis ist unter Julius II. als Sigillator der Pönitentiarie nachgewiesen und lebte 1517 in 14

Ebd. 133 –145 Nr. XXVI. Ebd. 146 –160 Nr. XXIX. 16 D, Taxrolle (wie Anm. 9) 236. Vgl. Filippo T, Note diplomatiche intorno a suppliche e lettere di Penitenzieria (sec. XIV–XV). AHP 11 (1973) 149 –208, hier 155. Bernhard S, Zisterzienserideal und Kirchenreform: Benedikt XII. (1334 –1342) als Reformpapst (ZisterzienserStudien 3, Berlin 1976). 17 Ludwig S, Le suppliche nell’Archivio della Penitenzieria Apostolica e le fonti „in partibus“, in: La Penitenzieria Apostolica e il suo Archivio. Atti della Giornata di Studio, Roma 2011, hg. von Alessandro S (Città del Vaticano 2012) 33 –61. 18 Svenskt Diplomatarium Nr. 36592, https://sok.riksarkivet.se/sdhk [26. 8. 2018]; Auctoritate papae. The Church Province of Uppsala and the Apostolic Penitentiary 1410 –1526, ed. Sara R–Kirsi S (Diplomatarium Suecanum Appendix, Acta Pontificum Suecica II, Acta Poenitentiariae, Stockholm 2008) 414 f. Nr. 402 (31. Oktober 1509). 15

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523)

Abb. 1: Littera aus dem Staatsarchiv Stockholm, Svenskt Diplomatarium 36592 (1509).

Abb. 2: wie Abb. 1, Plica.

Abb. 3: wie Abb. 1, verso, Vermerke

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Rom im Rione Parione 19. Auf der Rückseite der Littera (gemäß der oben genannten Anordnung Benedikts XII.) stehen die Namen Ge(rardus) Gerbillon, des Distributors, und D(idacus) Valleoleti, des federführenden Prokurators. 2. Wenn man nicht auf die Litterae rekurrieren kann, wo sonst findet man Namen von Prokuratoren? Da helfen die Supplikenregister der Pönitentiarie weiter. Für die Jahre 1459/60 (bis 1510 leider nur in dieser Zeitspanne) steht bei etwa jeder zehnten von insgesamt 928 registrierten Bittschriften 20 am Rande des Registereintrags unter Datum und Ort der Name des verantwortlichen Prokurators. Ferner haben die Registerschreiber den Namen des Prokurators bisweilen am Rand vermerkt, wenn sie eine Unregelmäßigkeit oder Auslassung im Text des vom Prokurator vorgelegten Gesuchs bemerkt hatten. Ein Beispiel für die erste Quelle ist die Supplik des schwäbischen Adligen Wipert Sturmfeder um eine Matrimonialdispens (Abb. 4). Am linken Rand im Register erscheint der Name seines Prokurators: Johannes Weythas 21. Aus Archivbeständen in Rom und Köln lässt sich dessen Biogramm erstellen 22. Johannes ist als Sohn eines Priesters und einer Ledigen auf die Welt gekommen. Sein Vater könnte ein gewisser Johannes Weythase de Sijberch gewesen sein, clericus Coloniensis, illegitimer Spross einer Siegburger Bürgerfamilie. Über eine Dispens und ein Studium war der Makel der unehelichen Geburt leicht zu überwinden, beides trifft auch hier zu. Der Vater wurde im Juni 1412 an der Universität Köln immatrikuliert, promovierte am 5. Juni 1414 als Johannes de Sijberch unter Magister Petrus von Jülich zum baccalaureus artium 23.

Abb. 4: Supplik Wipert Sturmfeder, APA 7 fol. 22r (1459): Prokurator Weythas.

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RPG IX Index 121; vgl. auch unten Anm. 37. APA 7 und 8. 21 APA 7 fol. 22r, 13. 5. 1459; RPG IV 38. Eine weitere Bittschrift aus dem Hause Sturmfeder im RPG VII 2455 (1485), eine Littera in: Stuttgart, Generallandesarchiv, B 139 a I U 30. 22 Vgl. Ludwig S–Patrick H–Beatrice W, Die Supplikenregister der päpstlichen Pönitentiarie aus der Zeit Pius’ II. (1458 –1464) (BDHIR 84, Rom 1996) 45 f. Leider haben Recherchen im Stadtarchiv Köln keine Ergebnisse erbracht. Ich danke Herrn Dr. Plassmann für seine intensive Hilfe. 23 Die Daten stammen aus der Kölner Matrikel. Ich danke Rainer Schwinges für diese Auskünfte. Die Matrikel der Universität Köln 1, ed. Hermann K (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 8, Bonn 21928, Nachdr. Düsseldorf 1979) 137 Nr. 93,21. Weythase als Bürger von Siegburg: Die Regesten der Erzbischöfe von Köln 10, ed. Norbert A (Publikationen der Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde 21, Düsseldorf 1987) Nr. 20005. 20

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523)

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Abb. 5: Johannes Weythas als Kanoniker in Köln, APA 25 fol. 201v (1477).

Er machte Karriere in Rom (falls identisch mit Johannes de Sybergh, der 1436 als Abbreviator an der Kurie bezeugt ist) und starb wohl vor 1450 24. Der Name Johannes de Sijberg (oder ähnlich) taucht allerdings in vormodernen Kölner Quellen häufig auf. Auch „unser“ Johannes Weythas wird studiert haben, entweder in Rom oder im Reich, und erhielt die päpstliche Dispens vom Makel der unehelichen Geburt. Nach Auskunft des RAG hat Weythas junior aber keinen Magistergrad erreicht wie sein Vater (jedenfalls nicht in Prag, Wien, Heidelberg, Erfurt, Leipzig oder Köln). Am 17. Februar 1448 empfing er in Rom die Tonsur, seinen defectus natalium musste er später nicht mehr angeben, auch darum hatte er suppliziert 25. Nachdem er sich an der Kurie zehn Jahre lang vergeblich um eine Pfründe bemüht hatte (wie er noch am 11. März 1458 in einer Supplik beklagte), stieg er – wie viele deutsche Kleriker – unter Pius II. die Karriereleiter empor, wurde Kardinalsfamiliar, arbeitete als Prokurator für den Trierer Erzbischof, für König Christian von Dänemark und wurde Mitglied der angesehenen und einflussreichen römischen Anima-Bruderschaft. Zwischen 1459 und 1478 wirkte er als Pönitentiarie-Prokurator. Allein in dem Zeitraum 1459/60 erscheint sein Name im Register bei 256 Bittschriften, ebenso betätigte er sich als Garant für Annatenzahlungen. Er erlangte Pfründen in Deutschland und prozessierte darum vor der Rota 26. Als J. Withas, clericus Coloniensis, wird er 1461 erwähnt, 1464 als Kanoniker von Sankt Aposteln in Köln, nochmals am 13. November 1480 27. Am 13. Juni 1478 hatte er sein Prokuratorenamt an der Pönitentiarie einem Heinrich Berlenbryngen abgetreten, offenbar um im August nach Köln überzusiedeln 28. Bis zu seinem Tode 1495 lebte er in der Stadt am Rhein, wo er Kanonikate an Sankt Aposteln (Abb. 5) und an Sankt Cunibert besaß 29.

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RG V 5653 (Haupteintrag) und 2791, 4716; RG VI 1707. RG VI 3753; Ludwig S, Priesterweihen Kölner Kleriker an der Kurie im 15. und 16. Jhdt. Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 69 (1900) 91 –114, hier 96. 26 RG VII 1902; RG VIII 3788; RG IX 4009; RG X 6916. 27 Kasimir H, Aus den Annaten-Registern der Päpste Eugen IV., Pius II., Paul II. und Sixtus IV. (1431 –47; 1458 –84). Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 61 (1895) 129 –186, hier 147 Nr. 398. 28 RG X 3205. 29 RPG VI 7221 (1477). 25

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Für das Vorkommen des Namens eines Prokurators am Rand einer Supplik möge das folgende Beispiel aus dem Jahr 1493 (Abb. 6) herhalten: Abb. 6: APA 43 fol. 464v (1493): Procurator in margine.

Der Schreiber notierte: D. Cesaraugustan. fuit procurator et non posuit diocesim 30. Bei dem so Kritisierten handelt es sich um den oben erwähnten Didacus de Valleoleti, als Prokurator unter Alexander VI. und Julius II. nachweisbar; er betreute seit 1510 206 Petenten aus dem deutschen Sprachraum. Alle im Register in margine erwähnten, auch die bei Suppliken nicht deutscher Petenten auftretenden Prokuratoren, sind in der Einleitung zu den jeweiligen Bänden des RPG publiziert 31. 3. Das Repertorium Germanicum. Dieser Regestensammlung kommt durch das Erscheinen des Bandes X (Sixtus IV.) größte Bedeutung für die Erforschung des Personals der römischen Kurie zu. In den RG-Bänden V bis X der Päpste Eugen IV. bis Sixtus IV. kommen 23 Pönitentiarie-Prokuratoren mit ihren Namen und denen ihrer Kunden vor, also fast alle der 24 damals im Amte tätigen ordentlichen Amtsinhaber 32.

Wieviele Pönitentiarie-Prokuratoren waren aktiv? Obwohl die Statuten Benedikts XII. einen numerus clausus von 24 PönitentiarieProkuratoren vorschrieben, werden in den Registern der Jahre 1459/60 insgesamt deren 93 namentlich genannt. Wie war das möglich? Die Antwort ergibt sich aus dem 30

APA 43 fol. 464v. Vgl. RPG I (Eugen IV.) S. XVIII; RPG IV (Pius II.) S. XVI –XVIII; RPG V (Paul II.) S. XXI – XXII; RPG VI S. XXIX –XXX; RPG VII (Innozenz VIII.) S. XXVI –XXVII; RPG VIII (Alexander VI.) S. XXX –XXXII; RPG IX (Pius III. und Julius II.) S. XXVII–XXVIII; RPG X (Leo X.) S. XX. 32 Eugen IV.: Andreas Vincentii de Graschowicz (1433), RG V 343; Leonardus Staedler (1436), RG V 6285; Wolfgangus Schyemel (1438), RG V 9533; Martinus Lichtenwald (1438 –1445), RG V 6511; Henricus Nigeland (1440), RG V 872; Winandus Betzeler (1444), RG V 9466; Arnoldus de Lins (1445 – 1446), RG V 518, 9054; Nikolaus V.: Martin Wrolart (1450), RG VI 3598; Paulus Reichner de Muldorf (1450), RG VI 4740; Kalixt III.: Gerardus Fabri (1457), RG VII 713; Pius II.: Adam Piscatoris (1459 – 1479), RPG IV S. 381, RG IX 2051, RG X 2106 († 1479); Hermann in dem Broyele (1459 –1466), RPG IV S. 380, RG VIII 2134 (1464) serviens armorum, RG IX 3353; Paul II.: Johannes Marsilii (1469), RG IX 3405; Guillelmus Stuire (1463 –1465), RG VIII 3653, RG IX 3867; Johannes Marchionis (1465), RG IX 4516; Sixtus IV.: Johannes Berstede (1473), RG X 10089; Franciscus de Philippinis (1484), RG X 1807; Andreas Heremperger / Zirenperger? (1481), RG X 425 –426; Johannes Weythusen (i. e. Weythas) (1478), RG X 3205; Martinus Hering (1476), RG X 7617; Lazarus de la Barretta (1474), RG X 6916; Johannes Weythais (1474), RG X 6916; Paulus Manesii (1483), RG X 8611; Henricus de Ampringen (1474), RG X 3179. Alle in den Suppliken der Zeit Pius II. vorkommenden Prokuratoren sind im Index des RPG IV 380 f. aufgelistet. 31

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Status der genannten Personen: Fast alle in den Registern Pius’ II. genannten Prokuratoren lassen sich als bekannte, auch in anderen Quellen nachzuweisende Kuriale identifizieren 33. Bereits Thomas Frenz hat auf das gleiche Phänomen in Kammer und Kanzlei hingewiesen: Wer sich am päpstlichen Hof auskannte, konnte gelegentlich in jedem Dikasterium „für kurienunerfahrene Petenten“ in der Funktion eines Prokurators tätig werden, ohne dem Konsortium als ordentliches Mitglied anzugehören 34. Mit der Käuf lichkeit des Amtes wurde die Zahl 24 oft überschritten und es gab procuratores supranumerarii. Auch bei besonderem Andrang von Pilgern in Rom, etwa zu den Heiligen Jahren 1450, 1475 und 1500, waren mehr als 24 zugelassen. So hat Sixtus IV. 1474 in Erwartung des nächsten Heiligen Jahres die Zahl von 24 Prokuratoren auf 30 erhöht 35.

Wo findet ein Petent seinen Prokurator? Kam ein Bittsteller persönlich nach Rom, fand er die Prokuratoren im Zentrum der Stadt, denn sie unterhielten Büros unmittelbar vor der Peterskirche, eine apoteca in paradiso Sancti Petri. Im Archiv des Kapitels von Sankt Peter sind Mietverträge mit einzelnen Prokuratoren überliefert. In den 1460er Jahren kostete eine solche apoteca immerhin vier Golddukaten pro Jahr an Miete 36. Die bottega oder apoteca im Vorhof der Peterskirche diente als Anlaufpunkt für die Pilger. Anfang des 16. Jahrhunderts, als der Neubau von Sankt Peter begann, hatten die Prokuratoren ihre Büros in der Stadt selbst und beschäftigten nicht selten mehrere Schreiber in ihrem Haus 37. Der französische Prokurator Magister Philippus de Agnellis etwa konnte zur Betreuung seiner niederdeutsch sprechenden Kunden auf einen aus Köln stammenden Familiaren namens Adrian Godeman zurückgreifen 38. Auch für den Italiener Johannes Viacampis arbeitete ein deutscher Familiar. Die Frage, wie ein potentieller Bittsteller in partibus an einen römischen Prokurator gelangte, ohne den beschwerlichen Weg nach Rom auf sich zu nehmen, ist viel schwieriger zu beantworten. Als Vermittler für die Bittsteller in partibus entpuppen sich bei einer genauen Analyse der Kommissionsempfänger in den registrierten Suppliken der Pönitentiarie (die Kommissionsempfänger entsprechen den Mandataren bzw. Exekutoren beim Pfründengeschäft, das im RG überwiegt) ehemalige Kuriale, die nach einem jahrelangen Aufenthalt in Rom und aktiver Prokuratorentätigkeit auf eine Pfründe im Reich zurückgekehrt waren. Ich nehme an, dass die in den

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S et al., Supplikenregister (wie Anm. 22) 42 –48. Zur Vita des Prokurators Petrus Prosilt (Profilt) jetzt: Jussi H, Career Prospects of Minor Curialists in the Fifteenth Century. The Case of Petrus Profilt, in: Church and Belief in the Middle Ages. Popes, Saints, and Crusaders, hg. von Kirsi S–Sari K-P (Crossing Boundaries: Turku Medieval and Early Modern Studies, Amsterdam 2016) 63 –84, hier 66 –68. 34 F, Kanzlei (wie Anm. 4) 237 f. 35 RG X 3179. 36 S et al., Supplikenregister (wie Anm. 22) 48 mit Anm. 115. 37 Zu nennen wären unter Leo X. und Hadrian VI. Alfonsus de Villareal (im Rione Borgo), Didacus de Valleoleti (im Rione Parione), Gerardus Hominis (im Rione Parione), Johannes Viacampis (im Rione Ponte), Johannes Contreras (im Rione Parione), Ludovicus Hugonis (im Rione Parione, cum copisti sotto). 38 APA 55 fol. 161 –162 vom 9. 4. 1510.

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Suppliken genannten Kommissionäre nicht von Rom bestellt wurden, sondern von den Prokuratoren in partibus vorgeschlagen und ihre Namen mit der Supplik an die Kurie geschickt wurden. Eine detaillierte prosopographische Untersuchung dieser Frage ist ein dringendes Desiderat der Forschung. Die Überprüfung meiner These sollte auch an den Suppliken aus nicht im RPG erfassten Diözesen durchgeführt werden. Ich führe aus dem deutschen Sprachraum hier nur drei Beispiele an: Xanten, Dietkirchen und Augsburg. Die Verbindung zwischen römischer Kurie und Reichskirche ist am Beispiel des Sankt Victorstifts in Xanten besonders evident. Der Propst amtete als Offizial des niederrheinischen Kölner Archidiakonats und leitete das Offizialatsgericht, eine beachtliche Behörde mit einem Fiskal sowie mehreren Schreibern und Notaren 39. Die Benefizien (48 Kanonikerpräbenden, zwei Amtspräbenden: Dekan und Scholaster) unterlagen bereits seit dem Ende des Schismas der päpstlichen Reservation, über viele wurde an der Kurie permanent gestritten 40. Seit Enea Silvio Piccolomini als Kardinal in Rom weilte, gestalteten sich die Bande zwischen Xanten und Rom noch enger. In den Jahren von 1457 bis 1466 und von 1476 bis 1495 verfügte Kardinal Francesco Todeschini Piccolomini über die Einkünfte der Xantener Propstei, von 1466 bis 1476 Kardinal Georg Hessler. Sie bestellten auch die Prokuratoren vor Ort 41. In den uns hier interessierenden Jahren 1513 –1535 stand ein bekannter Alt-Kurialer, der aus Xanten gebürtige Johannes Ingenwinckel, der Propstei vor. Er hatte zeitweise auch das Amt des Scholasters inne, welches er 1503 zugunsten seines Bruders Heinrich Ingenwinkel resignierte 42. Heinrich Ingenwinkel war also der scolasticus eccl. s. Victoris, an den 18 Kölner Litterae kommittiert wurden, die zwischen 1507 und 1523 von Rom nach Xanten verschickt wurden. Es handelte sich um sieben Matrimonialdispense und elf Geburtsmakeldispense 43. Die 12 Pfründen der Stiftskirche des Heiligen Lubentius in Dietkirchen 44 standen dem Zugriff kurialer Interessenten seit 1309 offen. Der Propst war Archidiakon aller rechtsrheinischer Kirchen des Trierer Erzbistums und Domherr dortselbst, er und die

39 Wilhelm J, Das Erzbistum Köln im späten Mittelalter 1 (Geschichte des Erzbistums Köln 2/1, Köln 1995) 437 f.; Alfred W–Stefan B, Verzeichnis der Säkularkanonikerstifte der Reichskirche (Schriften des Zentralinstituts für fränkische Landeskunde 35, Neustadt a. d. Aisch 1997) 199 –201; Das Erzbistum Köln: Archidiakonat von Xanten 1, bearb. von Wilhelm C (Germania Sacra III / 1/1, Berlin 1938) 45 –180; dazu die Rezension von Johannes R in: Annalen des Historischen Vereins Niederrhein 137 (1940) 1 –72. Zum Archidiakonat in Xanten und seinem Gericht C, Erzbistum Köln (wie oben) 315 –332; Dieter S, Das Xantener Kapitel des 15. Jahrhunderts im Spiegel seiner Literatur und seiner Rechnungen, in: Ecclesia et regnum. Festschrift für Franz-Josef S zu seinem 65. Geburtstag, hg. von Dieter B–Hans-Werner G (Bochum 1989) 323 –337. 40 C, Erzbistum Köln (wie Anm. 39) 102. Nach S, Kapitel (wie Anm. 39) 334 Anm. 51, verdankten zwischen 1478 und 1491 22 von 45 Kanonikern als cortisani „ihre Pfründe nicht der freien Zuwahl durch das Kapitel“. 41 Ebd. 332. 42 C, Erzbistum Köln (wie Anm. 39) 13 f., 92 –94, 103; Rez. R (wie Anm. 39) 17. 43 RPG IX 255 (Matr. Köln 1507), 360 (Matr. Köln 1507), 1142 (Matr. Köln 1512); RPG X 251 (Matr. Köln 1519), 488 (Matr. Köln 1522), 1731, 1848, 1849, 1850, 1928, 1955, 1982, 1983 (alle defectus natalium Köln), 2203; RPG XI 84 (Matr. Köln 1522) 278, (Matr. Köln 1523) 807, 831 (beide defectus natalium Köln 1523). 44 W–B, Verzeichnis (wie Anm. 39) 52 f.; Wolf-Heino S, Das Erzbistum Trier 4: Das Stift St. Lubentius in Dietkirchen (Germania sacra N. F. 22, Berlin–New York 1986).

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523)

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anderen Dignitäre erscheinen seit dem 14. Jahrhundert oft als päpstliche delegierte Richter 45. Im Zeitraum von 1487 bis ca. 1520 bekleidete Heinrich Sturm das Dekanat. Er hatte 1481 aufgrund einer päpstlichen Provision ein Kanonikerbenefizium in Dietkirchen erhalten, stand dem Kapitel seit 1487 vor und starb wahrscheinlich um 1520 46. Ihm hatte die Pönitentiarie zehn Litterae anvertraut 47. Manche Kommissionsempfänger werden in den Registern mit Namen genannt, dann kann man Beziehungen zur römischen Kurie genauer untersuchen. Der Pfarrer von Ehingen im Bistum Eichstätt, Lucas Gryn, hatte eine Ehe schon sechs Tage nach der obligatorischen dreimaligen Verkündigung von der Kanzel, dem Aufgebot, aber nicht – wie von den Synodalstatuten vorgeschrieben – erst nach neun Tagen eingesegnet. Deshalb bat er unter dem Datum 15. Juni 1512 vorsorglich (ad cautelam) um Dispens und Absolution. Vermutlich hatte ihn jemand beim Offizial angezeigt! Die Supplik wurde genehmigt und die Littera dem Augsburger Kanoniker Vitus Meller kommittiert 48. Vitus Meller war ein kurienerfahrener Kleriker, bereits mehr als 30 Jahre zuvor ist er als procurator an der Kurie bezeugt. Er zahlte wiederholt Taxen und Gebühren an die Kammer, wirkte mit bei der Resignation von Pfründen, trug ab 1481 den Titel decretorum doctor und gehörte in den Kreis der Familiaren des Kardinals Raffaele Riario 49. Im Jahr 1481 hielt er sich, wie notariell ausdrücklich bewiesen, zeitweise in Augsburg auf 50. Kuriale durften sich mit Genehmigung ihres „Arbeitgebers“ für längere Zeit von Rom absentieren, um ihren Interessen in der Heimat nachzugehen. Unter Papst Innozenz VIII. war Meller weiterhin als sollicitator tätig und konnte 1485 die Propstei der Sankt Veitskirche in Freising erwerben, später auch ein Augsburger Domkanonikat 51. Der Pfarrer von Ehingen hatte ihn wegen des kleinen Fehlers beim Eheschluss offenbar um Hilfe angerufen.

Wie wurde man Pönitentiarie-Prokurator? Auf die 24 ordentlichen Stellen im Konsortium des obersten Beicht- und Gnadenamtes konnte man sich beim Papst mit einer Supplik bewerben. Filippo Tamburini hat aus der Zeit des Schismas (1410/11) die Gesuche von 18 Klerikern um Aufnahme in das Konsortium publiziert, die Hälfte davon waren Deutsche 52. Die Kandidaten

45

S, St. Lubentius 177 f.; RG X Index der Patrozinien s. v. s. Lubentii. S, St. Lubentius 328 f. 47 RPG IX 230, 375, 376, 679, 680, 777, 1043 und 2108; RPG X 1441 und 1786. 48 RPG IX 1850. 49 RG X 10519 –10520. 50 RG X 10074. 51 ASV, Reg. Vat. 685 fol. 22 ff. Weitere Tätigkeiten Mellers an der Kurie bei Josef S, Päpstliche Urkunden für die Diözese Augsburg von 1471 –1488. Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben und Neuburg 24 (1897) 45 –96 und 143 –146, hier 78 Nr. 97 (Prokurator), 86 Nr. 132 (Exspectanz), 93 Nr. 158 (Ablass) und 94 Nr. 163 (Tragaltar); und bei Theodor S, Bavarica aus dem Vatikan 1465 – 1491 (Archivalische Zeitschrift Beih. 4, München 1932) Index 128 s. v. Meller; ebenso ., Franconica aus dem Vatikan. Archivalische Zeitschrift N. F. 19 (1912) 87 –204, hier 169 Nr. 956 (Prokurator, 1485) und 170 Nr. 961 (Prokurator, 1485). 52 Filippo T, Il primo registro di suppliche dell’archivio della Penitenzieria Apostolica (1410 –1411). RSCI 23 (1969) 384 –427, hier 411 –413; S, Prokuratoren (wie Anm. 4) 307 –324, zu 46

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hatten sich zuvor einem schriftlichen und mündlichen Examen in Latein, im Kirchenrecht und der Praxis der Gnadenerteilung (betreffend die Formulare und das korrekte Abfassen einer Supplik) zu unterziehen. Ein Bremer Kleriker, Arnold de Glave, wurde als satis sufficiens in literatura, in practica modicum eingestuft 53, der Engländer Maior Parys, der angab, in Oxford und Bologna Kirchenrecht studiert zu haben, erhielt von einem der beiden Examinatoren die Note satis sufficiens . . . et bene intelligit et scribit, in practica autem nihil; der andere Prüfer bescheinigte ihm jedoch practica autem addiscet per usum 54. Zum Jahr 1467 haben sich in den Registern Pauls II. sieben Suppliken um Zulassung für einen Prokuratorposten erhalten, darunter vier von deutschen Klerikern 55. Ein päpstlicher Kursor, Petrus de Perreria, bewarb sich am 5. September 1475 um das officium procuratoris penitentiariae, welches durch die Resignation eines deutschen Prokurators namens Martin Hering frei geworden war 56. Aus dem Pontifikat des Rovere-Papstes ist ferner die Bewerbung eines Johannes Durckheym aus dem Jahr 1478 bekannt, der die Stelle eines Petrus Altissen übernehmen wollte 57. Der deutsche Kuriale Adam Piscatoris aus Mainz († 1479 in Rom) amtete gelegentlich ebenfalls an der Pönitentiarie 58. Selbstverständlich besaß auch der Papst dank seiner plenitudo potestatis das Recht, Prokuratoren zu ernennen. Sixtus IV. erhöhte wie erwähnt die Zahl der im Beichtamt tätigen Agenten um sechs 59 und erlaubte 1480 seinem Großpönitentiar Giuliano della Rovere, acht Prokuratoren für sein Dikasterium zu bestellen 60. Obwohl generell nur Zölibatäre als Kleriker an der päpstlichen Kurie, und insbesondere an der Pönitentiarie 61, zugelassen werden sollten, wie Sixtus IV. 1474 erneut verfügt hatte 62, gab es unter den Prokuratoren immer wieder clerici coniugati. Denn auch das Recht, sich zu verheiraten, konnte man kaufen. So entrichtete am 2. Juli 1506 der römische Kleriker Bernardinus Antonii de Canobio, Prokurator der Pönitentiarie, pro facultate contrahendi matrimonium dem Datar 20 Kammergulden 63. Die Gattin des (in der Supplik am Rand erwähnten) Prokurators Diego de Valleoleti trat sogar mit einer den akademischen Qualifikationen ebd. 133 –139; Arnaud F, Nuove proposte sul primo registro di suppliche (1410 –1411): Tra amministrazione papale e sociologia dei supplicanti (im Druck). 53 T, Il primo registro (wie Anm. 52) 412 und 396 Anm. 3 (Supplik). 54 Supplications from England and Wales in the Registers of the Apostolic Penitentiary 1410 – 1503, Bd. 1, ed. Peter D. C–Patrick R. N. Z (The Canterbury and York Society 103, Woodbridge 2012) 9 Nr. 6. 55 RPG V 1284, 1285, 1441 und 1476 sowie RPG V S. XXI –XXII. 56 ASV, Reg. Suppl. 726 fol. 133r, die Gnade wird sola signatura erteilt. Martinus Hering, cler. August. dioc. in decr. licent. causarum procurator et sacre penitentiarie ap. litterarum procurator, hatte kurz zuvor (1474) auch Kompositionen von 14 fl. adc. pro compositione annatarum an die Kammer entrichtet, RG X 6614, weitere Zahlungen in RG X 7617 (Haupteintrag). 57 ASV, Reg. Suppl. 719 fol. 124 –125 und 726 fol. 133r. 58 Ulrich S, Sixtus IV. und die deutschen Kurialen in Rom. QFIAB 71 (1991) 340 –395, hier 390. 59 RG X 3379. 60 RG X 7069. Unter den acht Ernannten war der Deutsche Andreas Zirenperger, vgl. auch oben Anm. 32. 61 T, Kanzleiordnungen (wie Anm. 13) 370 § 31: Nec procuratores vel auditor vel registrator vel sigillator penitentiarie assumantur, nisi sint sacerdotes vel in sacris constituti, cum secreta debeant clericorum audire peccata. 62 S, Kirche (wie Anm. 4) 101 mit Anm. 105. 63 ASV, Camera Ap., Taxae 37 fol. 63v.

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Abb. 7: Supplik der Gattin des Diego de Valleoleti, APA 47 fol. 245r (1498).

eigenen Supplik hervor, am 1. Dezember 1498 bat sie darum, Clarissenklöster in Rom besuchen zu dürfen (Abb. 7) 64. Gegen Ende des 15. Jahrhunderts wurde das Prokuratorenamt der Pönitentiarie käuf lich 65. Der Spanier Franziskus Gomiel war meiner Kenntnis nach der Erste, von dem die genaue Kaufsumme bekannt ist. Er hatte im Jahre 1492 402,5 Goldgulden für eine Prokuratorenstelle ausgegeben 66. Seine Investition lohnte sich, denn bereits gut 20 Jahre später kostete das Amt 1.200 Dukaten 67. Generell wurden selbst für die Zulassung zum Verkaufen und Tauschen kurialer Ämter Gebühren fällig, so auch beim obersten Beichtamt. Die admissio resignationis des Prokuratorenamtes bei der Pönitentiarie kostete Anfang des 16. Jahrhunderts 15 Kammergulden, die dem päpstlichen Datar als compositio zu zahlen waren 68. Für das Recht, ein Schreiberamt der Pönitentiarie zu tauschen oder zu erwerben, betrug die compositio sogar 100 Kammergulden 69.

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APA 47 fol. 245r. Dazu zusammenfassend Brigide S, Art. Ämterkäuf lichkeit. LMA 1 (1980) 561 f. 66 APA 41 fol. 190r. 67 F, Kanzlei (wie Anm. 4) 232. 68 ASV, Camera Ap., Taxae 36 fol. 66r, 1503; Taxae 37 fol. 34v, 1506: pro compositione offitii penitentiarie procuratoris vacante ex resignatione Antonii Pii et venditus Francesco della Fonte Florentin. recepit ducatus auri; ebd. Taxae 37 fol. 37v, 1506: pro compositione offitii procuratoris penitentiarie vacante ex resignatione Johannis Colardi, de quo fuit provisum Michaeli de Gentilis cler. Vulterran., recepit duc. auri 15; ebd. Taxae 37 fol. 56r, 1506: pro resignatione offitii procuratorie penitentiarie vacante ex resignatione Marci de Montilio, de quo fuit provisum Petro Suares, recepit duc. 15; ebd. Taxae 37 fol. 63v, 1506: pro signatura offitii procuratoris litt. penitentiarie vacante ex resignatione Michaelis de Geraldis, de quo fuit provisum Nicolo etiam de Geraldis cler. Vulterran., recepit duc. auri 15. 69 ASV, Camera Ap., Taxae 37 fol. 42r, 1506: pro compositione offitii scriptorie penitentiarie, de quo per resignationem Johanni Antonii de Radicibus cler. Mediolan. fuit provisum Marco de Saluciis cler. Alben., recepit duc. auri 100; ebd. Taxae 37 fol. 56r, 1506: pro signatura supplicationis offitii scriptorie litterarum penitentiarie vacante ex resignatione Leonardi Piconardi, de quo fuit provisum Juliano Paparono, recepit duc. auri 100. 65

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Warum ist der Name des Prokurators ab 1510 in den Registern zu finden? Mit dem Beginn des Jahres 1510 setzte als Folge eines langjährigen Missbrauchs in der Pönitentiarie eine völlig neue Praxis bei der Registrierung der Bittschriften ein. Von nun ab wurden der Name des verantwortlichen Prokurators und die Höhe der Taxe in grossi Turonenses am Anfang jeder Supplik notiert (Abb. 8) 70. Was hat diesen Wechsel hervorgerufen? Während des Pontifikats Alexanders VI. haben viele Prokuratoren wiederholt ihre Kunden betrogen, die an die Kurie gekommen waren, um dort rasch und an festen Terminen die geistlichen Weihen zu empfangen 71. Im Heiligen Jahr 1500 sind dafür allein 104 deutsche Kleriker nach Rom gepilgert. Sie erfüllten jedoch eine der Voraussetzungen für die Priesterweihe nicht, nämlich ein Benefiz vorweisen zu können 72. Ihr Prokurator „erfand“ daher eines, worauf der Kleriker zwar geweiht wurde, sich aber wegen des gravierenden Formfehlers, der Weihe sub ficto titulo, sofort von diesem Makel absolvieren und dispensieren lassen musste, um nicht als inhabilis et irregularis zu gelten 73. Eine Weihe sub ficto titulo wurde im Prinzip zwar als gültig angesehen, die Ausübung der geistlichen Funktionen war dem irregulär Geweihten aber verboten. Um diesen Missbrauch abzustellen, an dem die Prokuratoren ordentlich verdienten (sie erhielten 3,5 Dukaten Taxe pro Absolution von einem ad fictum titulum geweihten Kleriker) 74, ordnete Papst Julius II. an, dass auf jeder Supplik jetzt der Name des verantwortlichen Prokurators und die Taxe notiert werden mussten. Zeitweise verbot er sogar, betrügerisch Geweihte durch die Pönitentiarie zu absolvieren. Dank seiner Maßnahmen sind also von 1510 ab die Namen aller aktiven Pönitentiarieprokuratoren bekannt.

Was nahmen Pönitentiarie-Prokuratoren ein? Kann man aus der Angabe der Taxen auch die Einkünfte eines PönitentiarieProkurators berechnen 75? Durchaus, doch dabei ist zu beachten, dass an der Taxe alle an der Erstellung der Supplik beteiligten Offizialen partizipierten, also Schrei-

70

APA 57 fol. 994v, RPG IX 2816 –2820. Andreas R, Deutsche Weihekandidaten in Rom am Vorabend der Reformation, in: Kurie und Region. Festschrift für Brigide S zum 65. Geburtstag, hg. von Brigitte F–Michael M–Andreas R (Geschichtliche Landeskunde 59, Stuttgart 2005) 277 –305. 72 Ludwig S, Zum römischen „Weihetourismus“ unter Papst Alexander VI. (1492 –1503), in: Europa e Italia. Studi in onore di Giorgio C (Reti Medievali E-book 15, Firenze 2011) 417 – 436. 73 Vgl. die Berichte von zwei Betrogenen: RPG IX 3140 und 3177. 74 Wolfgang P. M, Die Gebühren der päpstlichen Pönitentiarie (1338 –1569). QFIAB 78 (1998) 189 –261, hier 256: Absolutio pro eo qui ad fictum titulum se fecit promoveri et iuravit de titulo sufficienti aut induxerit testes ita deponentes ducati 3 cum dimidio. 75 Vgl. dazu S, Prokuratoren (wie Anm. 4) 114 –120. Der Begriff „Entlohnung“ scheint mir unangemessen, Prokuratoren waren freie Unternehmer, die Kurie versuchte durch die Taxlisten deren Einkünfte zu limitieren. Die in den Supplikenregistern aufgeführten Taxwerte sind in Turoneser Groschen angegeben: M, Gebühren (wie Anm. 74) 246. Um 1455 rechnete die Kurie 10 grossi papales auf einen Kammergulden. 71

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Abb. 8: Suppliken mit Nennung des Prokurators und der Taxe, APA 57 fol. 994v (1512) (RPG IX Nr. 2816 –2820).

ber, Korrektoren, Distributoren, der Sigillator und ggf. auch der Auditor des Amtes sowie schlussendlich auch der Prokurator 76. Nach den Kanzleiordnungen sollten Prokuratoren generell nicht mehr als die halbe Skriptorentaxe einziehen 77. Die in den Pönitentiarieregistern verzeichneten Taxen bewegten sich unter Julius II. zwischen 76 Filippo T, Suppliche per casi di stregoneria diabolica nei registri della Penitenzieria e conflitti inquisitoriali (sec. XV –XVI). Critica storica XXIII / 4 (1987) 605 –659, hier 632 Anm. 1. 77 T, Kanzleiordnungen (wie Anm. 13) 276, 23 (Reformationes): sollicitatores . . . ultra mediam partem taxe, quam scriptores consequuntur, non exigant.

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einem grossus Turonensis und 101 grossi 78, unter Leo X. schwankten sie zwischen einem und 250 grossi. Diese zuletzt genannte enorm hohe Taxe wurde für einen „Butterbrief“ zugunsten der im Territorium des Alexanderstifts Aschaffenburg lebenden Gläubigen erhoben 79. In den Suppliken an Hadrian VI. belief sich die Taxe zwischen einem und 81 grossi. Diese Taxe war für die Verleihung von Pfarrrechten an eine Kapelle im Bistum Basel zu entrichten 80. Gratis vergeben wurde die Gnade für pauperes, die zuvor den Armutseid abgelegt hatten, sowie für Kuriale oder deren Familiaren 81. Die Taxen für die Ausstellung von Gnadenbriefen waren in jedem Fall in der Apostolischen Kammer in bar zu entrichten. Doch zurück zu den Einkünften der Prokuratoren, untersucht anhand der Suppliken aus deutschsprachigen Gebieten zwischen 1510 und 1523. In den Registern sind in diesem Zeitraum die Bittschriften von 5.086 Bittstellern deutscher Zunge, die über die Pönitentiarie eine Gnade vom Heiligen Vater erbeten hatten, verzeichnet. Dafür waren insgesamt 51.920 grossi Turonenses in die Kassen des Beichtamtes geflossen, also ca. 5.192 Kammergulden, im statistischen Mittel ein Kammergulden pro Bittsteller. Brechen wir die Taxzahlungen auf einige Amtsinhaber um, ergibt sich die folgende Tabelle: Taxen (in Grossi Turonenses) für Suppliken deutscher Bittsteller (1510 –1523) 82 Prokurator

Julius II.

Leo X.

Hadrian VI.

Summe

Gerardus Hominis

43 (10)

2430 (200)

1150 (90)

3623

Johannes Viacampis

135 (12)

1268 (115)

232 (29)

1635



926 (87)

1750 (177)

2676

Johannes Buren Gerardus Gerbillon Summa

5560 (624)

5560 13494

Die 1.268 Turnosen, die der Prokurator Johannes Viacampis an Taxen unter Leo X. eingezogen hat, verteilen sich wie folgt auf die Materien: 142 grossi erhielt er für Ehedispense, 630 für Dispense de diversis formis, 194 für Dispense vom defectus natalium und 302 für Weihedispense; Viacampis besorgte keine Beichtbriefe. Der Franzose Gerardus Gerbillon, Inhaber eines Kanonikats in Verdun, dessen Name auf der Stockholmer Littera zu lesen war, betreute bis 1513 die meisten deutschen Kunden, sogar weit mehr als der einzige deutsche Prokurator, Johannes Buren aus Fritzlar, Mainzer Kleriker und Anima-Mitglied, dem wir uns jetzt zuwenden wollen. Johannes Buren († 1524) arbeitete zuletzt fast nur noch für Bittsteller aus deutschen Landen. Insgesamt zeichnete er verantwortlich für 21 Ehedispense 83, vier Weihe-

78 79 80 81 82 83

211v.

RPG IX 3243: ein „Butterbrief“ für ein ganzes Dorf. RPG X 2410. RPG XI 898 (18. 7. 1523), der Prokurator war Johannes Buren. Gratis für pauperes: RPG X 894 und 648; für Kuriale RPG X 2427. In Klammern die Anzahl der Bittsteller. APA 71 fol. 15v, 30r, 65r, 68v, 98v, 99r, 117r, 127r, 142v, 143v, 146r, 151r, 160r, 175r, 195r und

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523)

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dispense 84, 27 Geburtsmakeldispense 85 und 20 Gnadenbriefe der Materien de diversis formis et de declaratoriis 86. Es fällt auf, dass kein einziger Beichtbrief mehr von Buren vermittelt wurde. Diese Gnade war jetzt überall in Deutschland viel billiger, nämlich auf gedruckten Formularen zu erwerben 87. Die letzten Suppliken, über denen sein Name als verantwortlicher Prokurator zu lesen ist, stammen aus Konstanz und Münster und datieren vom 30. Oktober 1524 88. Bald darauf erkrankte Buren schwer, ließ am 16. November sein Testament aufsetzen und starb am 17. Dezember 1524 in Rom. Burens Beitrag für das Einkommen seiner Korporation belief sich in seinem letzten Lebensjahr auf 1.073 Turnosen, also etwa 100 Kammergulden. Davon kamen 144 Turnosen für Ehedispense ein, 46 für Weihedispense, 162 für Geburtsmakeldispense und 721 für die Gnaden De diversis formis. Eine Lizenz für die Benediktinerklöster in den Kirchenprovinzen Mainz und Bamberg machte dabei fast die Hälfte aus: 450 Turnosen. Alle Mönche (einschließlich der Klöster der Bursfelder Kongregation) erhielten die Lizenz, an drei Tagen in der Woche Fleisch essen zu dürfen 89. Wolfgang Müller hat zu der Entwicklung der Taxen in der Pönitentiarie zu Recht bemerkt: „The fiscalisation of the Penitentiaria in the years after 1450 proceeded vigorously down to the beginning of the Counter-Reformation“ 90. Von dieser Entwicklung profitierten nicht zuletzt die Prokuratoren der Pönitentiarie. Für die enorme Steigerung der Taxen zwischen 1450 und dem Beginn des 16. Jahrhunderts möge ein Beispiel genügen: Nach einer Taxliste von 1431 standen einem Prokurator für einen einfachen Gnadenbrief zwei grossi Turonenses zu 91. Um 1455 lag der Betrag bereits doppelt so hoch, und nach der Liste des Cornelius Ruyff (um 1510) belief sich die Taxe für eine einfache Ehedispens (ignoranter contracto in 4. gradu) auf zwei Dukaten und 4 Carlenen, zehnmal mehr als im Jahre 1431 92. Selbst wenn man den Anteil der Prokuratoren an der Schreibergrundtaxe nur auf 20 % berechnet, bot das Amt um 1500 beträchtliche Verdienstmöglichkeiten. Wie Arnold Esch sehr treffend formulierte „Das päpstliche Rom . . . produzierte . . . Privilegien, Pfründeneinnahmen, Ernennungsgebühren, Ablässe“ 93. Alle an dieser „Produktion“ beteiligten Gruppen verdienten daran.

84 85

APA 71 fol. 252v, 289r, 291v und 316v. APA 71 fol. 334v, 346v –347v, 349r, 350r, 353r, 354r –355r, 356r –v, 360r –v, 361v, 365v, 367r und

368r. 86 APA 72 fol. 6v, 52v, 88r, 177r –v, 253r –v, 280r, 350r, 490r, 578v, 631v, 658r, 785v, 799v, 807v, 962r, 981r, 1029v und 1227r. 87 Ludwig S, Die Beichtbriefe der Pönitentiarie, in: Ablasskampagnen des Spätmittelalters. Luthers Thesen von 1517 im Kontext, hg. von Andreas R (BDHIR 132, Berlin 2017) 169 –191; Peter W, Der päpstliche Kollektor Marinus de Fregeno († 1482) und die Ablasspolitik der Wettiner. Quellen und Untersuchungen (Quellen und Materialien zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 5, Leipzig 2015). 88 APA 71 fol. 368r: eine Dispens in qua pater ad unum beneficium (Konstanz) und eine Dispens in prima forma (Münster). 89 APA 72 fol. 631v –632v vom 11. 6. 1524. 90 Wolfgang P. M, The Price of Papal Pardon. New Fifteenth-Century Evidence, in: Päpste, Pilger, Pönitentiarie. Festschrift für Ludwig S zum 65. Geburtstag, hg. von Andreas M– Constanze R–Maria W-B (Tübingen 2004) 457 –481, hier 473. 91 Ebd. 477 –479. 92 M, Gebühren (wie Anm. 74) 250. 93 Arnold E, Rom. Vom Mittelalter zur Renaissance 1378 –1484 (München 2016) 264.

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Ludwig Schmugge

Noch nicht untersucht ist das Problem, ob es auf bestimmte Gnaden spezialisierte Prokuratoren gab. Das scheint zumindest für gewisse Weihedispense bei körperlichen Mängeln zuzutreffen. Die Gebühren für eine Dispens vom defectus corporis an der Kurie, bei der drei Kurienbischöfe den Kandidaten in Augenschein nahmen, betrug ab 1510 immer 13 Turnosen 94. Gemäß der Taxliste von 1338 wäre dafür nur ein grossus Turonensis zu entrichten 95! Die geringere Summe bezahlten ab 1510 nur Bittsteller, die als pauperes peregrini qualifiziert wurden 96.

Geldgeschäfte der Prokuratoren Wenn man berücksichtigt, dass durch die Hände der Mitglieder des ProkuratorenKollegs beträchtliche Geldbeträge in bar flossen, überrascht die Feststellung nicht, dass sie auch in anderen (verglichen mit denen der Bankhäuser aber eher kleinen) Finanzgeschäften aktiv waren. Prokuratoren schossen nämlich für ihre „Kunden“ die in Rom anfallenden Kosten einer Gnadenerteilung vor, sie legten Taxen für die Bittsteller aus und bürgten für Gebühren, wie die compositiones, die bei bestimmten Matrimonialdispensen anfielen. Wenn eine compositio verfügt worden war, wurde nämlich die Littera erst ausgestellt und expediert, nachdem der Betrag beim päpstlichen Datar eingegangen war. In diesem lukrativen Geschäft tummelten sich sowohl die ordentlichen Mitglieder der Korporation wie die nur gelegentlich aktiven Prokuratoren. Auskunft darüber geben die Kammerregister des Vatikanischen Archivs, aus denen wenige Beispiele für dieses noch nicht umfassend untersuchte Phänomen genügen mögen. Der bereits genannte Prokurator Adam Piscatoris aus Mainz, nachgewiesen an der Kurie ab 1459, gestorben 1479 in Rom, bürgte wiederholt für Annaten und Kompositionen seiner Kunden 97. Nicolaus Sack, ebenfalls Mainzer Kleriker, Abbreviator der Kanzlei und bei zehn Suppliken als Gelegenheits-Prokurator in der Pönitentiarie nachweisbar, übernahm 1464 die Zahlung von 54 Kammergulden (pro compositione annatarum) für die Wormser Propstei zugunsten von Nikolaus Helmstat 98. Johannes Weythas zahlte 1469 die Kompositionsgebühr für eine Ehedispens 99. Henricus Lebenter, Würzburger Kleriker, ab 1465 in curia causarum procurator, 1468/69 Sekretär des Nuntius Laurentius Numai in Deutschland und um 1480 in Rom gestorben, war ebenfalls in derartigen Geldgeschäften tätig. Lebenter zahlte Gebühren für Ehedispense und schoss Annatenzahlungen vor 100. Der erwähnte deutsche Prokurator Johannes Buren vergab einen Kredit von 100 Kammergulden an zwei Römer, und 94 Siehe die Suppliken RPG IX 3037, 3059, 3082, 3118, 3128, 3131, 3150, 3161 (Gechasalis); RPG X 2138 (Guillieti); RPG X 2292, 2300, 2301, 2323, 2369, 2384 (C. de Turno); RPG X 2197, 2198, 2214, 2234, 2256, 2272, 2274, 2392 (Boyreau); in Klammern die Namen der Prokuratoren. 95 D, Taxrolle (wie Anm. 9) 235. 96 RPG IX 3037, 3059 und 3082. 97 RG IX 2049, 2051, 2429 (= RPG V 740), 6177 (= RPG V 724). Vgl. M, Zürich und Rom (wie Anm. 5) 298 f.; S, Sixtus IV. (wie Anm. 58) 390. 98 ASV, Camera Ap., I+E 459 fol. 52r, RG IX 4757. Zu Helmstat auch RG VIII 5663 und 4480. 99 RG IX 928 = RPG V 620. 100 Ehedispense: RG IX 237 und RG IX 3802 (= RPG V 340) je fl. 10; RG IX 4851 20 fl. Annaten: RG IX 87, 371, 742, 773, 3952. Zu Lebenter RG IX 77, 272, 2006 und RG X, Index der Zunamen s. v.;

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523)

31

der scriptor apostolicus Paulus de Sanitate lieh sich bei einem Pönitentiarieprokurator namens Christoforus 50 Goldgulden 101. Diese Liste ließe sich leicht erweitern 102. Leider wird in den vatikanischen Finanzakten der Name des zahlenden Prokurators nicht immer genannt. Im September 1502 hatte ein unbekannter Prokurator der Pönitentiarie 20 Kammergulden für seinen Klienten ausgelegt, der sich von einem homicidium absolvieren lassen wollte 103. Ein Kollege lieferte einen Monat früher 15 Dukaten bei der Kammer für eine compositio ab 104. Ein adliges Paar, Eberhard Schenk und Maria, Tochter des Grafen Michael von Wertheim, musste für eine Ehedispens 50 Kammergulden berappen, ihr Prokurator schoss das Geld vor 105. Kleine Bankgeschäfte für ihre Kunden übernahmen auch die nur gelegentlich tätigen Prokuratoren. Dabei findet man bekannte Namen: Wilhelm von Enckenvort, langgedienter Kurialer und Vertrauter Hadrians VI., den der Papst kurz vor seinem Tode noch in den Kardinalsstand erhob, zahlte in den Jahren 1502 –1503 Kompositionen sogar für englische und französische Petenten 106. Die Apostolische Kammer richtete keine Hürden auf beim Einsammeln von Gebühren, Kompositionen und Kaufpreisen für kuriale Ämter. Selbst an der Kurie tätige Personen ohne einen besonderen Status, wie der Lübecker Thomas Giese, der in den Jahren 1507 bis 1526 ein römisches Tagebuch führte, waren auch im Finanzgeschäft aktiv 107.

Christiane S, Die Rota-Notare aus den Diözesen des deutschen Sprachraums 1471 –1527. QFIAB 93 (2013) 104 –210, hier 153. 101 Christiane S–Knut S, Thomas Giese aus Lübeck und sein römisches Notizbuch der Jahre 1507 bis 1526 (Veröffentlichungen zur Geschichte der Hansestadt Lübeck 39, Lübeck 2003) 47 f. und 135. 102 Mehrere Taxzahlungen durch bekannte deutsche Kuriale stehen im Band ASV, Taxae 34 von 1481, fol. 84r: Paulus Frisinger, 20. Juni 1481; fol. 84v: Henricus Schonleben: die 22. Junii dominus Henricus Schonleben principalis juravit exposuisse pro expeditione bulle super canonicatum eccl. Argent. ut infra; fol. 98r: Henricus Schonleben sollicitator, 26. Juli 1481; fol. 85v: Johannes de Piscia, 30. Juni 1481; fol. 86r: Johannes Vendesa sollicitator, 27. Juni 1481, auch fol. 101r und 116r; fol 95r: Expense facte pro bulla pensionis d. Henrici Urdeman per dominum Albertum Cock abbreviatorem et procuratorem, videlicet scriptori duc. II, pro carta carl. I, pro officio abbreviatoris duc. I carl. V, in prima visione carl. I, in plumbo duc. I carl. II, in registro duc. II carl. I, pro registratura carl. II. Ego Albertus Cock abbreviator exposui ut supra et iuravi; fol. 107v: Johannes Haltfast, 27. 8. 1481; fol. 110v: Antonius Rode de Lippia, 1481. Zu Dr. jur. Heinrich Urdemann (1420 –1485) vgl. Hubert H, Dr. jur. Heinrich Urdemann (ca. 1420 –1485). Kurienprokurator, Offizial, Stiftsdechant und kaiserlicher Rat. Zur Karriere eines vorreformatorischen Klerikers in Bocholt, Köln und Rom. Annalen des Historischen Vereins für den Niederrhein 218 (2015) 105 –150. Gaspar Wirt († 1530) aus Sankt Gallen, der sich 1527 beim sacco di Roma von seinen Schweizer Landsleuten für 140 Gulden freikaufen musste, zahlte 1520 mehrmals Gebühren an die Kammer (ASV, Camera Ap., I+E 560 fol. 54r, 55v, 92v und 112v; 561 fol. 32v, 33r) ebenso im Jahr 1523 (I+E 561 fol. 32v und 33r). 103 ASV, Camera Ap., Taxae 36 fol. 20v. 104 Ebd. fol. 10v. 105 Ebd. fol. 71r. 106 Ebd. fol. 34v, 37r, 50r, 77v und 91v. Zu Enckenvort: Michael M, Deutschsprachige Studierende im kosmopolitischen Rom: Ulrich von Hutten und Wilhelm von Enckenvort, in: Studieren im Rom der Renaissance, hg. von .–Rainer Christoph S (im Druck); Ludwig S, The Cost of Grace, in: Church and Belief (wie Anm. 33) 39 –62, hier 57 und 59 f. 107 S–S, Thomas Giese (wie Anm. 101) 135.

32

Ludwig Schmugge

Schluss Das ausgeklügelte System der Gnadenerteilung durch den Papst in Rom hätte ohne das Institut der procuratores curiam sequentes und die vielfältigen Aktivitäten insbesondere der Pönitentiarie-Prokuratoren nicht funktioniert. Diese bewegten sich geschickt in den komplexen administrativen und finanziellen Gegebenheiten der Kurie, waren gut vernetzt sowohl in der Heimat wie im Kreis der Romanam curiam sequentes und besaßen spezielle Kenntnisse der kanonistischen und formalen Voraussetzungen der Gnadenerteilung, vielfach auch einen akademischen Abschluss. Die Verdienstmöglichkeiten der Pönitentiarie-Prokuratoren waren beträchtlich, ablesbar nicht zuletzt am Kaufpreis von 1.200 Dukaten für das Amt. So manche „Handsalbung“ aus der Tasche eines um Gnade nachsuchenden Bittstellers mag über die offizielle Taxe hinaus den procuratores noch zugesteckt worden sein. So verwundert es nicht, dass auch deutsche Pönitentiarie-Prokuratoren dank ihrer Aktivität und der guten Beziehungen zu beachtlichem Reichtum kamen. Der erwähnte Mainzer Kanoniker Johannes Buren wurde auch für Kardinal Matthäus Lang tätig 108. Aus einer im Archiv von Sankt Peter in Salzburg überlieferten Littera des Großpönitentiars an Matthäus Lang, Kardinalpriester und Erzbischof von Salzburg, datiert vom 26. April bzw. 14. Juni 1522 109, geht hervor, dass Lang um die Lizenz gebeten hatte, einen Religiosen in ein Benediktinerkloster transferieren zu dürfen, wo dieser dann zum Abt gewählt werden sollte (Abb. 9). Aus einer zeitgenössischen

Abb. 9: Littera für Erzbischof Matthäus Lang von Salzburg (1522), Prokuratoren: Jo. Buren, Jo. Galteris, C. de Enciso (Stiftsarchiv St. Peter). 108 109

RPG XI 511 und 513. Vgl. Markus W, Art. Johann von Staupitz. NDB 25 (2013) 95 f. Die Suppliken im RPG XI 511 und 513. Abb. 9 zeigt die Ausfertigung vom 14. Juni.

Die Prokuratoren der Pönitentiarie: Scharniere der Gnadenvermittlung (ca. 1450 –1523)

33

Dorsualnotiz auf dem Dokument vom 26. April geht hervor, dass das Privileg für den Augustinereremiten Johann von Staupitz (ca. 1470 –1524) gedacht war, der so (auf seinen Wunsch?) aus der Schusslinie Roms gegen Luther genommen wurde 110. Tatsächlich wurde Staupitz am 22. August 1522 zum Abt von St. Peter in Salzburg gewählt, wo er am 28. Dezember 1524 starb. Der genannte Johannes Buren vermachte in seinem Testament 1524 ein Wohnhaus im Zentrum Roms, hinterließ seiner unehelichen Tochter eine jährliche Leibrente von 20 und eine Aussteuer von 100 Dukaten, steuerte obendrein 250 Dukaten zum Bau der Kirche seiner Bruderschaft bei. Ein Kollege Burens, der Rotanotar Johannes Haltupderheide, vermachte seinen beiden unehelichen Töchtern je 200 und seinem Sohn 500 Gulden 111. Der Priestersohn Johannes Weythas stieg über eine römische Prokuratorenkarriere zum Kanoniker in geachteten Kölner Stiftskirchen auf. Im System der päpstlichen Gnadenerteilung, dem „gouverner par la grace“, hatten Prokuratoren nicht nur einen zentralen Platz. Sie wirkten wie Scharniere zwischen den Bittstellern und dem Papst. Mit ihrer Hilfe konnten Männer und Frauen, Kleriker wie Laien, in partibus vom Heiligen Vater die für ihr Seelenheil unabdingbare, aber auch für die soziale Reintegration absolut notwendige Gnade erwerben, sei es in Form von Lizenzen oder Dispensen oder Absolutionen. Und daran verdienten die Prokuratoren an der päpstlichen Kurie als „selbständige und freie Unternehmer“ nicht schlecht 112.

110 Littera Salzburg, Archiv der Erzabtei St. Peter, Urk. Nr. 1988 (fälschlich zum 22. April 1522), http://monasterium.net/mom/AT-StiASP/Urkunden/Urk_Nr_1988-1522_IV_22/charter (8. 11. 2018). Auf der Verso-Seite der Littera die Namen von drei an dem Dokument beteiligten Prokuratoren: Jo. Buren, Jo. Galteris, C. de Enciso (Abb. 9). 111 Christiane S, „Defectus natalium“ und Karriere am römischen Hof. Das Beispiel der Deutschen an der päpstlichen Kurie (1378 –1471), in: Illegitimität im Spätmittelalter, hg. von Ludwig S unter Mitarbeit von Béatrice W (Schriften des Historischen Kollegs. Kolloquien 29, München 1994) 149 –170, hier 162 f. 112 M, Zürich und Rom (wie Anm. 5) 61.

34

Ludwig Schmugge

Anhang: Prokuratoren deutscher Supplikanten (1510 –1523) Name

Julius II.

Leo X.

Bonnius

0

20

52

72

Buren, Jo.

0

87

177

264

Catia, N. de

Hadrian VI.

Σ

65

12

0

77

Cencius

0

113

14

127

Cingulo

0

74

0

74

Citadinis, P. de

0

37

54

91

Contreras

54

228

0

282

Cordellas

0

62

91

153

Enciso

0

24

39

63

Epiphaniis

166

141

0

307

Philippus

234

0

0

234

0

414

164

578

Galteris Galletus Gerbillon Gladiatoris, N.

0

0

41

41

624

0

0

624 27

0

0

27

Gomiel

40

0

0

40

Gomini

29

186

0

215

Hominis Joseph Ludovicus Piacere Piscia Remyon, H. Rosal

10

200

90

300

136

3

0

139

0

190

16

206

201

2

0

203

0

21

0

21

0

299

169

468

11

7

0

18

Valleoleti

115

91

0

206

Viacampis

12

115

29

156

139

58

0

197

Villareal

Institutionengeschichte durch „Ego-Dokumente“? Verfahrensdokumente und Selbstzeugnisse zu den Supplikationsverfahren bei Ehehindernissen im Florenz der Renaissance Jasmin Hauck

Die Geschichte der Ehedispense in der Vormoderne speist sich allen voran aus den seriellen Quellen der päpstlichen Kurie und – wenngleich in geringerem Maße – der Dokumentation der Exekutionsverfahren auf lokaler Ebene. Der Schauplatz Florenz hält mit seiner reichen Kultur autobiographischen Schreibens komplementäres Quellenmaterial bereit, das unseren Blick auf Institutionennutzung und Verfahrensverlauf um die Akteursperspektive bereichert. Anhand dreier autobiographischer Texte von Florentinern, die sich ausführlich zu den von ihnen erbetenen Ehedispensen äußern und dabei unterschiedliche Verfahrensmomente beleuchten, sollen die Möglichkeiten einer vergleichenden Lektüre von römischen Registern, lokalen Notariatsinstrumenten und autobiographischen Zeugnissen für eine Verfahrensgeschichte der Ehedispens aufgezeigt werden. Die cronaca famigliare, die ricordanze, der diario, kurzum Ego-Dokumente im klassischen Sinne, haben seit nunmehr vier Jahrzehnten einen festen Platz in der Familiengeschichte der italienischen Vormoderne. Nicht von ungefähr fiel das gesteigerte Interesse an dieser Quellengattung mit dem Aufkommen einer neuen Form der Familiengeschichte zusammen, die sich für die historische Familie in sozialwissenschaftlicher Perspektive, ihre rituellen Praktiken und mentalen Repräsentationen interessierte. Der Fundus an Schilderungen der die Familie strukturierenden Ereignisse in den Aufzeichnungen der Akteure ist reich: Geburten, Taufen, Ehen und Todesfälle werden in ihrer rituellen Begehung, individuellen Bewertung und administrativen Abwicklung mitsamt den dafür aktivierten personellen Netzwerken beschrieben. Im Besonderen zogen Berichte zur Ehe, ihrer Vorbereitung und zeremoniellen Begehung die Aufmerksamkeit der Forschung auf sich 1. 1 Aus der Fülle der Literatur zur Florentiner Familiengeschichte sei hier im Besonderen auf drei klassische Studien verwiesen, die umfangreich Gebrauch von Ricordanzen machen: David H–Christiane K-Z, Tuscans and their families. A Study of the Florentine Catasto of 1427 (New Haven–London 1985); Anthony M, Marriage Alliance in Late Medieval Florence (Harvard historical studies 114, Cambridge / Mass.–London 1994); Isabelle C, La dette des familles. Femmes, lignage et patrimoine à Florence aux XIVe et XVe siècle (Collection de l’École française de Rome 445,

36

Jasmin Hauck

Bisweilen begegnet im Umfeld der Eheschließung ein auch in der Florentiner Führungsschicht nicht ganz alltägliches Phänomen, das Einholen einer Dispens von einem durch kanonisches Recht verbotenen Verwandtschaftsgrad 2. Durch den Abgleich mit anderen Quellen wissen wir, dass Ehedispense keinesfalls durchweg von den Schreibern der Ricordanzen erwähnt wurden. Während etwa der noch genauer zu betrachtende Cino de’ Rinuccini selbst ausführlichst das rechtliche Prozedere im Umfeld seiner dispensbedürftigen Eheschließung (1461) beschreibt, vermerkt sein Schwiegervater Ugolino de’ Martelli in seinen ricordanze zwar die Ehe seiner Tochter mit Cino, die dafür notwendige Dispens jedoch mit keinem Wort 3. Auch innerhalb der Aufzeichnungen desselben Autors können Dispense einmal erwähnt und ein anderes Mal übergangen werden, wie im Falle Paolos de’ Velluti (1514 –1562) 4. Paolo berichtet zwar, seine Schwester Margherita habe ihre Ehe mit Piero di Filippo de’ Gondi (1539) 5 con dispensa geschlossen, perchè eramo parenti in terzo grado d’affinità 6, bei dem detailreichen Bericht über die Ehe seiner Schwester Baccia mit Odo de’ Niccolini (1543) fehlt jedoch jedweder Verweis auf deren Dispens vom vierten Grad der Konsanguinität 7. Diese Liste ließe sich mühelos erweitern: Luigi de’ Martelli (der 1512 eine Dispens vom vierten Grad der Konsanguinität für seine Ehe mit Margherita de’ Soderini erbeten hatte) 8, Filippo de’ Valori (der 1476 eine Dispens vom dritten Roma 2011). Zu autobiographischen Schriften in der Vormoderne im Allgemeinen vgl. u. a. I libri di famiglia in Italia, 2 Bde., hg. von Angelo C–Raul M (La memoria familiare 1, Roma 1983 – 1985) mit einer Übersicht der bis dato veröffentlichten italienischen Ricordanzen; Giovanni C, Memory, Family, and Self. Tuscan Family Books and Other European Egodocuments (14th –18th century) (Egodocuments and History Series 6, Leiden–Boston 2014); sowie die Veröffentlichungen des von JeanPierre Bardet und François-Joseph Ruggiu koordinierten Projekts „Les écrits du for privé de la fin du Moyen-Âge à 1914“, finanziert durch die ANR (Agence nationale de la recherche), darunter: Au plus près du secret des cœurs? Nouvelles lectures historiques des écrits du for privé en Europe du XVIe au XVIIIe siècle, hg. von Jean-Pierre B–François-Joseph R (Collection Roland Mousnier 22, Paris 2005). – Abkürzungen: AAF = Archivio Arcivescovile di Firenze; ASF = Archivio di Stato di Firenze; APA = Archivio della Penitenzieria Apostolica, Rom. 2 Aus der umfangreichen Literatur zu Ehedispensen im Mittelalter sei an dieser Stelle lediglich verwiesen auf David D’A, Papacy, Monarchy and Marriage, 860 –1600 (Cambridge 2015); Ludwig S, Marriage on Trial. Late Medieval German Couples at the Papal Court (Studies in Medieval and Early Modern Canon Law 10, Washington, D. C. 2012); Raul M, Il paese stretto. Strategie matrimoniali nella diocesi di Como, secoli XVI –XVIII (Einaudi Microstorie 3, Torino 1981). 3 Vgl. den entsprechenden Passus zur Eheschließung, der sich vor allem Fragen der Höhe und Zahlungsmodalitäten der Mitgift widmet: Ugolino di Niccolò Martelli, Ricordanze dal 1433 al 1483, ed. Fulvio P (La memoria familiare 3, Roma 1989) 252. 4 Lebensdaten nach: Cronaca di sua casa scritta da Paolo Velluti con notizie di detta famiglia dal 1560 sino a’ di nostri, ed. Luigi P (Firenze 1870) 32, 41. 5 Datum nach: Jean  C, Histoire généalogique de la maison de Gondi 1 (Paris 1705) 348. 6 Cronaca (wie Anm. 4) 31. 7 Ebd. 31 f. Die Akte mit der entsprechenden Dispensexekution für Baccia de’ Velluti und Odo de’ Niccolini findet sich in: AAF, Dispense matrimoniali 54 Nr. 7. Ich diskutiere diesen Fall ausführlich vor dem Hintergrund der Praxis der Wahl bestimmter Verwandter als Zeugen in Ehedispensprozessen und der rechtlichen Normen des „genealogischen Beweises“ in: Le témoignage de la parenté: la mémoire généalogique dans les dispenses matrimoniales à Florence (XVe –XVIe siècles), in: Genre et dispenses matrimoniales: représentations et pratiques juridiques et généalogiques au Moyen Âge et à l’époque moderne, hg. von Michaël G–Jasmin H (Genre et Histoire 21/Printemps 2018 [Paris 2018]), https://journals. openedition.org/genrehistoire/3512 [2. 12. 2018]. 8 Vgl. APA, Reg. matrim. et diver. 57 fol. 755r.

Institutionengeschichte durch „Ego-Dokumente“?

37

und vierten Grad der Konsanguinität für seine Ehe mit Alessandra de’ Salviati erbeten hatte) 9, Filippo de’ Rinuccini (der 1504/05 Marietta de’ Giacomini ehelichte, die mit ihm im vierten Grad der Konsanguinität verbunden war) 10 – sie alle gingen eheliche Verbindungen in einem durch kanonisches Recht untersagten Verwandtschaftsverhältnis ein, deren Schilderung in ihren ricordanze – oder, im Falle Filippos de’ Valori, denjenigen seines Vaters Bartolomeo – dieses Verhältnis und die Notwendigkeit einer Dispens schweigend übergeht 11. Die Gründe für das Auslassen des Dispensverfahrens beim Verweis auf eine Eheschließung mögen ebenso vielfältig sein wie die Motivationen, die hinter ihrer Erwähnung stehen. In einigen Fällen ist nicht auszuschließen, dass den Akteuren selbst das Hindernis nicht bekannt war, wie Anthony Molho für den Fall Filippos de’ Rinuccini zu bedenken gibt 12. Daneben stehen lakonische Einträge, die nicht nur das Dispensgesuch, sondern jedwede Umstände der Eheschließung außen vor lassen. Stilistische Eigenheiten und persönliche Interessenschwerpunkte des Schreibers erklären schließlich ebenso das Übergehen eines Dispensverfahrens 13 wie generelle Tendenzen in der Hervorhebung einzelner Bestandteile der Eheschließung, wie das ausgeprägte Interesse an der Mitgift, ihrer Höhe und Aushandlung, die vielen Florentiner Autoren als Ausweis sozialen Status und potentiell konfliktträchtiger Angelegenheit wichtiger und erinnerungswürdiger erschienen sein mag als die administrativen Verwicklungen im Umfeld einer dispensbedürftigen Allianz 14. Nichtsdestoweniger gibt es Autoren, denen an einer detaillierten Schilderung des Dispensverfahrens gelegen war. Es mag kein Zufall sein, dass diejenigen Ricordanzen, die sich eingehend zu den Dispensverfahren äußern, nähere Verwandtschaftsgrade zum Gegenstand haben und den Autoren auch deshalb als herausragendes und kommentarwürdiges Ereignis erschienen. Im Folgenden sollen drei solcher autobiographischer Texte (Cinos de’ Rinuccini [1], Biagios de’ Buonaccorsi [2] und Carlos de’ Strozzi [3]), die sich ausführlich dem Prozedere im Umfeld einer endogamen Eheschließung 9

Ebd. 24 fol. 67r. Vgl. M, Marriage Alliance (wie Anm. 1) 263 f. Molho konnte durch genealogische Rekonstruktion diese Verbindung der Eheleute im vierten Grad nachweisen, für die es bisher keinerlei Spuren eines Dispensverfahrens gibt. 11 Der Auszug aus den Ricordanzen seines Vaters (Firenze, Biblioteca Nazionale, Fondo Panciatichiano 134), der sich ausführlich der Brautschau für seinen Sohn widmete, findet sich in englischer Übersetzung bei Gene B, The Society of Renaissance Florence: A Documentary Study (New York 1971) 32. Eine Edition liegt vor bei Memorie di casa Valori, ed. Lorenzo P–Catherine K (Firenze 2007) 77 f. Die daran anschließenden Ricordanzen Filippos selbst beginnen nach dem Tod seines Vaters und gehen nicht auf seine Hochzeit und deren Vorbereitung ein. 12 M, Marriage Alliance (wie Anm. 1) 263 f. 13 Man wird dem Autor der Velluti-Ricordanzen sicher nicht Unrecht tun, wenn man ihm einen gewissen Hang zum Sensationellen attestiert. In der Tat bot die Ehe seiner Schwester Baccia mit Odo de’ Niccolini zur Genüge abenteuerlichen Erzählstoff – ein Schwager, der Florenz für Rom verließ und dort über seinen Verhältnissen lebend die Mitgift verprasste, eine Schwester, die ihrer infermità di mente wegen ins Kloster eintrat, kurzum, so der schreibende Bruder beziehungsweise Schwager: hanno avuto cattiva sorte insieme. Die Dispens des Paares mag Paolo de’ Velluti angesichts des tragischen Verlaufs dieser Ehe in der Tat weniger aufsehenerregend und damit von untergeordnetem Erzählinteresse erschienen sein. Piero Velluti, ed. P (wie Anm. 4) 31 f. 14 Dies trifft von den hier genannten auf Ugolino de’ Martelli, Bartolomeo de’ Valori und Luigi de’ Martelli (ASF, Carte Strozziane. Quinta Serie 1471 fol. 104r) gleichermaßen zu. Für Literatur zur Mitgift in Florenz vgl. Anm. 17. 10

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widmen, in Augenschein genommen werden. Ein jeder dieser Texte wählte einen eigenen Schwerpunkt in der Erinnerung bestimmter Verfahrensmomente. Die Analyse dieser Erinnerungen unter Zuhilfenahme der aus dem Verfahren erwachsenen administrativen und prozeduralen Quellen erlaubt eine Annäherung an Fragen der Wahrnehmung, Inszenierung und Praxis des Dispensverfahrens aus Akteursperspektive und damit das Offenlegen von Problematiken, die dem bloßen Blick auf die Verfahrensdokumentation verschlossen bleiben.

Cino de’ Rinuccini: Chronologie des Verfahrens Der Florentiner Cino de’ Rinuccini widmete einen umfangreichen Eintrag in seinen Ricordanzen den Geschehnissen im Umfeld seiner Heirat. Am 24. März 1460 haben Vertreter der Rinuccinifamilie (eigens genannt werden Cinos Vater Filippo und sein älterer Bruder Alamanno) unter Vermittlung von Andrea de’ Carducci und Lorenzo de’ Vettori eine Übereinkunft mit Ugolino de’ Martelli getroffen di fare insieme parentado, dass nämlich eine Ehe zwischen Cino und der ältesten Tochter des Martelli, der sechzehnjährigen Ginevra, geschlossen werden solle. Cinos Bericht hält sodann im Detail die Zahlungsmodalitäten der stattlichen Mitgift von 1.400 fiorini d’oro fest, bevor er auf das vor der Realisierung der Ehe noch zu beseitigende Hindernis zu sprechen kommt 15. Man sei sich nämlich bewusst gewesen, so Cino, dass zwischen ihm und seiner Braut alquanto di legame di parentado vorlag, genauer gesagt der dritte und vierte Grad der Blutsverwandtschaft, denn Cino und Ginevra stammten beide von Francesco de’ Rinuccini ab. Deshalb sei es nötig gewesen, che il papa dispensasse sopra ciò e desse licenzia che noi potessimo imparentare. Vor der Eheschließung wurde also eine Supplik an den Papst gerichtet, der den Fall sodann an den Florentiner Erzbischof, Orlandi de’ Bonarli, kommissionierte und diesem auftrug, er müsse avere buona informazione sopra questo caso und prüfen, ob es sich tatsächlich so verhalte, wie es ihm, dem Papst, zugetragen wurde (come gli fu porto), ob die beiden Brautleute nämlich in terzo o quarto grado miteinander verbunden waren. Der Bischof habe, nachdem er sich bestens informiert habe, die Parteien einberufen (perocchè sendosene benissimo informato, detto Arcivescovo mandò per le parti). Cino und sein künftiger Schwiegervater Ugolino de’ Martelli erschienen gemeinsam vor Gericht, die erbetene Gnade wurde konzediert und ein Notariatsinstrument über die Sache ausgefertigt. Ein gutes Jahr nach der zwischen den Familien erreichten Übereinkunft sei schließlich am 28. März 1461 in Anwesenheit von etwa zwanzig nahen Verwandten Cinos die Ehe in Santa Maria in Campo geschlossen und darüber ein Akt von dem bereits mit der Dispensexekution betrauten Notar Ser Baldovino di Domenico de’ Baldovini aufgesetzt worden 16. Über die detailreiche Schilderung der Verfahrensschritte hinaus, ist es vor 15 Ricordi storici di Filippo di Cino Rinuccini dal 1282 al 1460 colla continuazione di Alamanno e Neri suoi figli fino al 1506 seguiti da altri monumenti inediti di storia patria . . ., ed. Giuseppe A (Firenze 1840) 252. 16 E perché fra detta Ginevra e me è alquanto di legame di parentado, cioè che detta Ginevra è discesa de’ Rinuccini in quarto grado, cioè da Messer Francesco da lato di madre, e io sono in terzo del detto Messer Francesco dal lato di padre, cioè Cino di Filippo di Cino di Messer Francesco Rinuccini, e Ginevra di Madonna Betta di Mad.a Ginevra di Mad.a Filippa di Messer Francesco Rinuccini, bisognò che il papa dispensasse sopra

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allem die hohe Mitgift, neben der die Kosten des Dispensverfahrens verblassen, die es hier zu bemerken gilt 17. Spuren des von Cino geschilderten Dispensverfahrens finden sich sowohl im Florentiner Notarile als auch in den Supplikenregistern der Pönitentiarie. In letzteren begegnet das Bittgesuch des Florentiner Paares gleich zweimal: In einem ersten auf den 13. März 1461 datierten Eintrag wurde ein Hauptbrief über den vierten Grad der Affinität mit einem deklaratorischen Brief über den dritten und vierten Grad der Konsanguinität vermerkt 18. Wenig später wurde ein neuerlicher Eintrag unter dem 26. März desselben Jahres erstellt. Hier wird das Hindernis als Konsanguinität vierten Grades qualifiziert 19. Die Exekution der Gnade durch den Florentiner Bischof findet sich schließlich in den Registern des von Cino genannten Florentiner Notars Ser Baldovino di Domenico de’ Baldovini 20. Dort wird die Exekution der Dispens durch den Florentiner Erzbischof in einem auf den 24. März datierten Eintrag festgehalten. Cino und sein Schwiegervater Ugolino präsentierten, wie in den Ricordanzen geschildert, den päpstlichen Gnadenbrief. Als Zeugen traten der Florentiner Jurist Zenobio de’ Guasconi und Angelo de’ Vettori auf. Auf Grundlage der päpstlichen Briefe und in Übereinstimmung mit den durch das Gericht verifizierten Tatsachen führte Orlando ciò e desse licenzia che noi potessimo imparentare, e così si fece; perocchè commesse a Messer Orlando Bonarli arcivescovo di Firenze, che dovesse avere buona informazione sopra questo caso, e vedere se era in terzo o quarto grado come gli fu porto; e trovando esser così, detto Arcivescovo potesse dare licenzia e dispensare, e così seguì; perrochè sendosene benissimo informato, detto Arcivescovo mandò per le parti, e comparimmo dinanzi a lui Ugolino ed io, è richieggendolo di comune concordia, ci dette piena licenza che potessimo fare insieme parentado; e di tutta questa cosa fu rogato Ser Baldovino di Domenico Baldovini notaio all’arcivescovado. Ebd. 252 f. Die Aufzeichnungen Cinos de’ Rinuccini zählen zweifelsohne zu den am häufigsten zitierten Ricordanzen, im Besonderen im Kontext der Florentiner Familiengeschichte. Es sei an dieser Stelle bemerkt, dass die umfangreiche Darstellung Molhos (vgl. ., Marriage Alliance [wie Anm. 1] 182 –185), der sich auf die Edition von Aiazzi stützt, nicht ganz frei von Missverständnissen ist. In der Übersetzung Molhos ist es nicht der Papst, der den Florentiner Erzbischof mit der Untersuchung des Falls betraut, sondern Cinos Vater, Filippo de’ Rinuccini: „For this reason, my father charged Messer Orlando Bonarli, Archbishop of Florence, to inform himself well over this matter, and to determine if we were related in the third degree or as was stated to him in the fourth degree and, were he to find that it was in the fourth degree, the Archbishop could give license and issue a dispensation.“ (S. 261). Aus diesem Missverständnis folgt die Fehleinschätzung, dass „the barely unstated assumption in Cino’s description is that, had the archbishop discovered their blood relationship to have been in the third degree, the two families would have dropped the matter and not insisted on this marriage alliance.“ Ebd. Damit erledigten sich auch die daran anschließenden Überlegungen Molhos, ob dies bedeuten würde, der Bischof habe nicht das Recht vom dritten, sondern ausschließlich vom vierten Grad zu dispensieren, eine Überlegung, die fehl am Platz ist, da Orlando de’ Bonarli im vorliegenden Fall lediglich als Exekutor der Gnade fungierte und nicht eigens aus einer päpstlich delegierten Dispensvollmacht heraus für bestimmte Fälle dispensierte. Es sei angemerkt, dass es sich bei der Anordnung der päpstlichen Kommissionierung zu vedere se era in terzo o quarto grado come gli fu porto durchaus auch um eine Verschreibung von Seiten des Herausgebers oder Autors der Ricordanzen handeln könnte, die sich in berichtigter Form als terzo e quarto grado lesen müsste (so wie es der Pönitentiarie nämlich in der Supplik zugetragen wurde). Da von einer Untersuchung der Handschrift abgesehen wurde, bleibt dies eine ungeprüfte Vermutung. 17 Zur Mitgift im spätmittelalterlichen Florenz vgl. u. a. M, Marriage Alliance (wie Anm. 1); Julius K, Marriage, Dowry and Citizenship in Late Medieval and Renaissance Italy (Toronto–Buffalo–London 2015); C, Dette des familles (wie Anm. 1) 135 –175. 18 Vgl. Quellenanhang Nr. 1. 19 Ebd. 20 Vgl. ASF, Notarile Antecosimiano 1406 fol. 23v. Die Dispensexekution wurde bereits identifiziert von M, Marriage Alliance (wie Anm. 1) 183.

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de’ Bonarli die päpstliche Gnade aus, und die Ehe sowie die künftig in sie geborenen Kinder wurden für legitim erklärt. Die Gegenüberstellung von Ricordanzen und Verfahrensüberlieferung wirft in Cinos Fall mehr Fragen auf, als sie zu beantworten vermag – angefangen mit dem Registereintrag vom 13. März: Wurde hier tatsächlich fälschlicherweise ein Hauptbrief für den vierten Grad der Blutsverwandtschaft und ein deklaratorischer Brief über den dritten und vierten Grad der Affinität ausgestellt 21, oder wurden beide zur Dispens notwendigen Schreiben richtigerweise (in Übereinstimmung mit der Benennung des Hindernisses in den Ricordanzen) für ein Verhältnis der Blutsverwandtschaft erstellt und ein Fehler unterlief lediglich bei der Registrierung der Schreiben in den Registern der Pönitentiarie? Falls es sich lediglich um einen Registrierungsfehler handeln sollte, weshalb begegnet das Bittgesuch des Paares dann erneut unter dem 26. März in den Supplikenregistern, diesmal lediglich mit einem Gesuch um Dispens vom vierten Grad der Blutsverwandtschaft? Bedeutet dies, dass der erste Registereintrag richtigerweise auf einen korrekt ausgestellten deklaratorischen Brief und einen fehlerhaften Hauptbrief verweist und das Paar aus diesem Grund bei der neuerlichen Anfrage vom 26. März ausschließlich um die Ausstellung eines Hauptbriefs vom vierten Grad ersuchte, da das deklaratorische Schreiben bereits korrekt ausgestellt und ausgehändigt wurde, oder handelt es sich bei diesem zweiten Eintrag lediglich um eine Doppelregistrierung ein und desselben Gesuchs, für das zweimal Briefe ausgestellt wurden (etwa weil zwei Prokuratoren unabhängig voneinander das Gesuch in der Behörde einbrachten), so dass der zweite Eintrag keinesfalls als Beleg für einen neuerlichen Bittgang und damit Fehler in den Schreiben des zwei Wochen zurückliegenden ersten Eintrags herangezogen werden dürfte 22? Relevanz gewinnt diese Frage, ob hinter den beiden Registereinträgen nun ein oder zwei Bittgänge stehen, wegen des Datums der Florentiner Dispensexekution, dem 24. März. Wäre also tatsächlich einer der beiden am 13. März registrierten Briefe fehlerhaft ausgestellt worden, würde dies bedeuten, dass die Florentiner Exekution der Gnade ohne alle notwendigen päpstlichen Dokumente ausgeführt wurde, die vollständig erst nach dem 26. und damit mehr als zwei Tage nach der Exekution der Gnade durch den Florentiner Erzbischof und am selben Tag der notariellen Registrierung der Ehe zur Verfügung gestanden hätten 23. Oder handelt es sich um schlichte Datierungsfehler? Im vorliegenden Fall bietet auch das Notariatsinstrument keine Klärung, denn dieses verzeichnet zwar die Exekution der Ehedispens für Cino und Ginevra, benennt aber weder den Gegenstand des Briefes noch beinhaltet es eine Datierung desselben. Vor dem Hintergrund der lokalen Überlieferung erweist es sich also als wahrscheinlicher, dass ein und dieselbe Supplik in Rom doppelt registriert wurde, während allein die römische Überlieferung das Gegenteil glauben machen könnte. Andernfalls läge hier ein gravierender Bruch mit den prozeduralen Normen vor.

21 Zur Praxis der Beigabe von litterae declaratoriae bei ungeraden Verwandtschaftsgraden vgl. S, Marriage on Trial (wie Anm. 2) 17 f. 22 Zur Unterscheidung von Doppelregistratur und reformationes vgl. ebd. 18 –23. 23 Die notarielle Registrierung der Ehe identifizierte M, Marriage Alliance (wie Anm. 1) 183.

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Biagio de’ Buonaccorsi: Finanzielle Bürden und das Gewicht einflussreicher Fürsprecher Welche entscheidende Rolle der Einsatz persönlicher Beziehungen für das gute Gelingen des Dispensverfahrens – auch in der Wahrnehmung der Petenten – spielen konnte, zeigt ein Passus in den Ricordanzen (1495 –1526) Biagios de’ Buonaccorsi, der den Vorbereitungen seiner zweiten Ehe mit Maddalena, der Cousine seiner verstorbenen Gattin Lessandra di Daniello di Ficino, im Jahr 1511 gewidmet war. Wegen des Ehehindernisses der Affinität zweiten Grades, berichtet Biagio, habe man um die Rechtskraft der Ehe sicherzustellen (che il parentado havessi effecto), eine päpstliche Dispens einholen müssen. Dies sei unter Hilfe und Zutun des Gonfaloniere, Pieros de’ Soderini, und seines Bruders, des Kardinals Francesco de’ Soderini, sowie weiterer nicht näher benannter grandi homini geschehen, denn, so war sich Biagio bewusst, bei einer solchen Dispens ging es in der Tat nicht um bloßes Alltagsgeschäft, sondern um eine cosa difficilissima ad obtenere et con spesa grandissima. Die Gnade wurde sodann konzediert und in Florenz exekutiert. Die Kosten von Taxen und Komposition beliefen sich auf 100 ducati d’oro. Weitere 13, die ihm von den Soderinibrüdern zur Verfügung gestellt wurden, fielen für nicht näher bestimmte Kosten an. Eine Einordnung der Ausgaben in den Rahmen der behördlichen Normen und Praktiken liefert Biagio selbst. Das päpstliche Breve habe ihm ein piacere grandissimo bereitet, denn eine solche Dispens vom zweiten Grad würde, wenn überhaupt, eigentlich nicht unter einer Komposition in Höhe von mindestens 250 Dukaten erteilt 24. Bedauerlicherweise ist die päpstliche Dokumentation in Bezug auf die von einigen Petenten, wie hier von Biagio, entrichteten und von Fall zu Fall stark variierenden Kompositionszahlungen höchst fragmentarisch. Für das Jahr 1511 steht keine kuriale Überlieferung zur Verfügung 25. Es kann also nicht geprüft werden, ob und wie stark

24 Et perché la decta Magdalena mia donna, per essere nata come ho dicto di sopra di Mona Francesca, sorella carnale di Mona Marietta mia prima suocera, et per questo cugina carnale della Lessandra stata mia donna et congiuntami in secondo grado di affinità, fu necessario ad volere che il parentado havessi effecto havere la dispensa dalla Santità del Papa, di che si fece ogni opera et per mezo della Excellentia del Gonfaloniere e del Cardinale suo fratello, et di altri grandi homini, sendo cosa difficilissima ad obtenere et con spesa grandissima. Et finalmente con lo adiuto di Dio et della gloriosa Vergine Maria si obtenne, come per il breve della Sanctità del Papa apparisce tra lle altre mie scripture registrato qui in vescovado secondo el consueto et l’ordine di simili dispense, di che ne appare una patente alligata a dicto breve del reverendo messer Cosimo de’ Pazzi, Arcivescovo di Firenze, el quale breve costò expedito del tucto, tra la taxa et compositione, ducati cento larghi d’oro in oro, che furono quelli hebbi di contanti, come dice la scripta. Et per certe altre spese hebbi da’ sopradecti sua fratelli fiorini tredici larghi in oro, a’ quali promissono di concorrere sanza che io li havessi ad confessare o mi havessino ad essere messi in conto alcuno. Hebessi di tale expeditione del breve piacere grandissimo, perché non si concedevano simili dispense del secondo grado se non con compositione di ducati 250 el meno. Quando confesserò e’ decti ducati cento et le altre cose ne sarà facto ricordo in questo nel dì lo farò, et del notaio che ne sarà rogato et del pagamento della gabella; siehe Biagio Buonaccorsis Libro di Ricordi, ediert in: Denis F, Biagio Buonaccorsi: sa vie, son temps, son œuvre (Biblioteca di cultura 3, Bologna 1976) 185. 25 So werden in der Introitus et Exitus-Serie des ASV die geleisteten Kompositionen lediglich für den Pontifikat Pauls II. (1464 –1471) vermerkt. Die nur fragmentarisch überlieferten Taxae-Register verzeichnen sie lediglich für die Jahre 1502/1503 und 1505/1507. Vgl. Ludwig S, „Et componat cum datario“ – Norma e prassi, in: Penitenza e Penitenzieria tra Umanesimo e Rinascimento. Dottrine e prassi dal Trecento agli inizi dell’Età moderna (1300 –1517), hg. von Antonio M–Roberto R–Manlio S (Monumenta Studia Instrumenta Liturgica 75, Città del Vaticano 2014) 139 –150.

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die von Biagio gemachten Angaben von dem tatsächlich entrichteten Wert abweichen. Eine solche compositio wurde in einigen Fällen, darunter auch Ehedispense, über die üblichen Taxen der Urkundenausfertigung hinaus verhängt 26. Obwohl es Listen gibt, die Orientierungswerte bieten, waren diese Zahlungen, wie bereits angedeutet, keineswegs streng fixiert, sondern wurden von Fall zu Fall individuell festgelegt. Ludwig Schmugge hat ausgehend von normativen Texten und der Überlieferung der behördlichen Praxis sechs Momente identifiziert, die Einfluss auf die Höhe der Kompositionen ausüben konnten: der soziale Stand der Petenten, ihre geographische Herkunft, ihre Vertretung oder persönliche Anwesenheit an der Kurie, die Konsumation der Ehe, das Wissen um ein Ehehindernis bei bereits geschlossenen Ehen und schließlich die Fürsprache hochrangiger Kurialer 27. Dass Biagio völlig zu recht zufrieden mit dem Einsatz seiner Beziehungen und dem Ausgang der Verhandlungen sein konnte, legen die Arbeiten von Ludwig Schmugge zur Praxis der Kompositionszahlungen nahe. Tatsächlich wurde von Affinitäten zweiten Grades sehr selten dispensiert, und entsprechend rar sind Kompositionen von solchen Verbindungen. So finden sich unter den gut 340 nachweislich mit einer Komposition belegten Ehedispensen aus den Pontifikaten Julius’ II. und Leos X. nur elf Fälle von Affinität und Konsanguinität zweiten Grades 28. Eine um 1500 verfasste Liste zum behördeninternen Gebrauch über die Höhe der Kompositionszahlungen gibt zudem für Fälle von Affinität und Konsanguinität zweiten Grades in der Tat eine stattliche Summe von 300 bis 600 Dukaten secundum personarum qualitatem an. Solcherlei Gnaden dürften, so die Liste weiter, allein den magnates gestattet werden 29. Eine weitere, 26 Über die Kompositionen, ihr Anwendungsfeld und ihre geschichtliche Entwicklung vgl. Léonce C, Les dataires du XVe siècle et les origines de la Daterie apostolique (BEFAR 103, Paris 1910) 87 – 102; Emil G, Die päpstliche Pönitentiarie von ihrem Ursprung bis zu ihrer Umgestaltung unter Pius V., Bd. II / 1 (Bibliothek des Preussischen Historischen Instituts in Rom 8, Rom 1911) 132 –189 (zu Taxen und Kompositionen an der Pönitentiarie), 184 –187 (zu den Kompositionen für Ehedispense); in jüngerer Zeit: Götz-Rüdiger T, Die päpstliche Datarie um 1500, in: Stagnation oder Fortbildung? Aspekte des allgemeinen Kirchenrechts im 14. und 15. Jahrhundert, hg. von Martin B (BDHIR 108, Tübingen 2005) 159 –180. Für die Tax- und Kompositionslisten des Spätmittelalters mit wesentlichen Korrekturen der älteren Literatur in Bezug auf Datierung und Charakter der bekannten Listen und neuen Texteditionen vgl. Wolfgang P. M, The Price of Papal Pardon. New Fifteenth-Century Evidence, in: Päpste, Pilger, Pönitentiarie. Festschrift für Ludwig S zum 65. Geburtstag, hg. von Andreas M–Constanze R–Maria W-B (Tübingen 2004) 457 –481; ., Die Gebühren der päpstlichen Pönitentiarie (1338 –1569). QFIAB 78 (1998) 189 –261. Zu Norm und der Praxis des Kompositionswesens in gesamteuropäischer Dimension vgl. S, Et componat (wie Anm. 25) 139 – 150; ., The cost of grace. The composition fees in the Penitentiary, c. 1450 –1500, in: Church and Belief in the Middle Ages. Popes, Saints, and Crusaders, hg. von Kirsi S–Sari K-P (Crossing Boundaries: Turku Medieval and Early Modern Studies, Amsterdam 2016) 39 –62. Zu den mit Kompositionen belegten Ehedispensen aus dem deutschsprachigen Raum vgl. ., Marriage on Trial (wie Anm. 2) 45 –51. 27 Vgl. S, Cost of grace (wie Anm. 26) 54. 28 Vgl. ebd. 52 Tab. 3, 55. Wenngleich, wie der Autor anmerkt, der Abgleich mit den päpstlichen Finanzregistern zeigt, dass nicht sämtliche Einträge in den Supplikenregistern die Verfügung einer Komposition vermerken, bilden die genannten Werte doch einen hilfreichen Indikator – wenn auch nicht für die absolute Zahl der betroffenen Verwandtschaften zweiten Grades, so doch für ihr proportionales Verhältnis zu den übrigen Verwandtschaftsgraden. 29 Die Liste zu den Kompositionen (ASV, Arm. LIII, vol. 12) ist abgedruckt bei C, Dataires (wie Anm. 26) 152 –155 doc. 14, hier 152. Vgl. dazu S, Cost of grace (wie Anm. 26) 50; M, Gebühren (wie Anm. 26) 233 Anm. 70.

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private, auf 1519 datierte und für die Florentiner in Lyon (die Erben Pieros de’ Dei) aufgesetzte Liste des Sollizitators Francesco de’ Colucci zu Taxen und Kompositionen an Kanzlei und Pönitentiarie setzt die Kompositionen vom zweiten Grad der Affinität noch höher an: zwischen 300 und 400 Dukaten se fusse povero (es handelt sich hier offensichtlich um einen nur relativen Armutsbegriff ) 30; zwischen 800 und 1.000 se fusse richo et nobile und schließlich von 2000 Dukaten aufwärts si fussi di qualche sangue reale, o di barone, o di simile grande. Mehr noch müsse in einer solchen Angelegenheit mit Bedacht vorgegangen werden (in queste chose si va adagio, et si va temptando piano piano la materia), und Kontakte an der Kurie sowie ein dem Petenten wohlgesonnener Datar seien – so weiß der Kurienkenner Colucci seinen Florentiner Auftraggebern zu empfehlen – in ihrem Nutzen nicht zu unterschätzen (in palazzo havere buone amicicie et havere propicio il datario fa assai) 31. Die Festsetzung der Höhe der Komposition war also prinzipiell offen, sollte vor allem in Abhängigkeit vom sozio-ökonomischen Stand der Petenten festgelegt werden und war für solch nahe Verbindungen wie derjenigen Biagios offenbar als besonders delikate Angelegenheit bekannt. Wenngleich die Kompositionen für den zweiten Grad der Affinität um 1500 im Spiegel der von Schmugge identifizierten Fälle in der Praxis zumeist geringer ausfielen, nämlich zwischen 80 und 150 Dukaten, blieben Biagios Verhandlungen auch in diesem Rahmen – sollte der denn zehn Jahre danach noch Geltung haben – durchaus erfolgreich 32. Ob es allerdings allein dem Verhandlungsgeschick und den einflussreichen Fürsprechern Biagios geschuldet war, dass die durch den Datar verhängte Summe verhältnismäßig gering ausfiel, wie der Bericht Biagios glauben machen könnte, steht auf einem anderen Blatt geschrieben. Das jährliche Salär, das der Florentiner von der Staatskanzlei erhielt, war mit 80 fiorini d’oro eher bescheiden 33. Aus seinen Ricordanzen wissen wir, dass Biagio 1498 hoher Verschuldung wegen nicht das väterliche Erbe antreten konnte und zeitweise bei seinem Verwandten Filippo de’ Pasquini unterkommen musste, der, so Biagio, fece . . . molte spese per me 34. Die Mitgiften seiner ersten beiden Ehen blieben, wenngleich

30 Die Werte in Coluccis Liste stimmen weitgehend mit denen der im Pontifikat Julius’ II. behördenintern genutzten Liste (ASV, Arm. LIII, vol. 12; vgl. Anm. 29) überein und weichen, was die Kompositionen für Ehefälle anbelangt, lediglich für den zweiten Verwandtschaftsgrad von den dort gemachten Angaben ab. Diese Liste schließt nun tatsächliche „Arme“ im Pochen auf die allein den magnates zu gestattenden Dispense vom zweiten Grad zumindest implizit aus. Noch 1563 wurde in das Konzilsdekret Tametsi eine entsprechende Bestimmung aufgenommen: In secundo gradu numquam dispensetur nisi inter magnos principes et ob publicam causam. The Oecumenical Councils of the Roman Catholic Church. From Trent to Vatican II (1545 –1965), ed. Klaus G–Giuseppe A–Alberto M (Corpus Christianorum. Conciliorum oecumenicorum generaliumque decreta 3, Turnhout 2010) 129 (Cap. V). Vgl. dazu u. a. mit Diskussion der Forschungsliteratur Margareth L, Verwandtenheirat – ein aristokratisches Ehemodell? Debatten um die Goody-Thesen und die Dispenspraxis Ende des 18. Jahrhunderts, in: Beziehungen, Vernetzungen, Konflikte. Perspektiven Historischer Verwandtschaftsforschung, hg. von Christine F–Margareth L (Köln–Weimar–Wien 2016) 143 –166, hier 151 f. 31 C, Dataires (wie Anm. 26) 155 –164 doc. 15, hier 156 f. Zur Liste des Francesco de’ Colucci vgl. besonders T, Datarie (wie Anm. 26) 171 –175; M, Gebühren (wie Anm. 26) 207 f. 32 Die sieben hierzu von Schmugge identifizierten Fälle stammen aus den Jahren 1502/03. Die höchste von Schmugge in den Registern identifizierte Komposition für einen zweiten Grad (der Blutsverwandtschaft) beläuft sich auf 2.500 Dukaten. Vgl. S, Cost of grace (wie Anm. 26) 55. 33 Vgl. F, Biagio Buonaccorsi (wie Anm. 24) 17; Buonaccorsi, Ricordi (wie Anm. 24) 173. 34 Vgl. F, Biagio Buonaccorsi 12; Buonaccorsi, Ricordi 171.

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nicht zu vernachlässigen, für Florentiner Verhältnisse doch überschaubar (gut 850 Dukaten bei seiner ersten und 400 bei seiner zweiten Eheschließung) 35. Es mag überdies kein Zufall sein, dass der Vertrag über Biagios Ehe mit Maddalena über das Versprechen einer 400 Dukaten umfassenden Mitgift hinaus eine unmittelbar nach der Eheschließung zu zahlende Summe von 100 Dukaten festlegte, die der mit der Datarie ausgehandelten Komposition entsprach 36. Zuletzt waren Biagios finanzielle Engpässe ein immer wieder aufscheinendes Leitmotiv in seinem Briefwechsel mit Machiavelli 37. Kurzum, Biagio mag im Lichte der illustren Supplikanten, die sich unter den Bittstellern um eine Dispens vom zweiten Grad der Affinität finden konnten, eher der Kategorie der von Colucci so genannten poveri zugerechnet werden und die Kompositionshöhe den behördlichen Leitfäden entsprechend auch ein Spiegel seines sozialen Status sein. Über diese in den Ricordanzen unerwähnt gebliebene Tatsache hinaus sind Verlauf und Darstellung der Verhandlungen auch in anderer Hinsicht durch Biagios soziale Position und beruf liche Stellung beeinflusst. Bei dem im zitierten Passus zu Tage tretenden, ausgeprägten narrativen Interesse an administrativen Abläufen handelt es sich zweifelsohne nicht zuletzt um eine „déformation professionelle“ des Florentiner Sekretärs. Biagio war zum Zeitpunkt des Dispensgesuchs bereits seit über einem Jahrzehnt an der Florentiner Kanzlei tätig und mit den Widrigkeiten behördlicher Abläufe und der Notwendigkeit diplomatischen Geschicks als coadiutore des Florentiner Kanzlers Marcello Virgilio bestens vertraut 38. Mit dieser Tätigkeit einher ging ein privilegierter Zugang zu Kontakten in die kurialen und diplomatischen Sphären nicht nur von Florenz. Mit dem Gonfaloniere Piero de’ Soderini hatte Biagio im Rahmen seiner Sekretärstätigkeit naturgemäß wiederholt zu tun. In der Funktion eines Sekretärs der beiden Botschafter Francesco de’ Soderini und Lucantonio d’Albizzi bestritt er zudem 1501 einen neunmonatigen Aufenthalt am französischen Königshof. Was die übrigen nicht näher identifizierten Fürsprecher in Biagios Dispensangelegenheit, die vom Autor evozierten grandi homini, betrifft, könnte es sich um Kontakte handeln, die Biagio im Rahmen eines sechs Jahre zurückliegenden Aufenthalts an der päpstlichen Kurie an der Seite des Botschafters Alessandro de’ Nasi geknüpft hat, oder anderweitige Vermittlungen 39. Zweifelsohne zeigt Biagios Fall im Lichte der Erinnerungen dieses mit exklusivem administrativen Wissen und einflussreichen Kurienkontakten ausgestatteten Supplikanten einmal mehr, wie sehr das päpstliche Dispenswesen durch personelle Netzwerke beeinflusst werden konnte und wie hoch die in diesem Umfang keinesfalls allen potentiellen Bittstellern zur Verfügung stehenden Kosten eines solchen Gesuchs ausfallen konnten.

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Ebd. 171 und 184. Ebd. 184 f. 37 Vgl. F, Biagio Buonaccorsi (wie Anm. 24) 17, der im Besonderen neun Briefe aus dem Jahr 1506 hervorhebt, in denen Biagio Macchiavelli gegenüber finanzielle Schwierigkeiten erwähnt. 38 F, Biagio Buonaccorsi (wie Anm. 24) 13. 39 Zu diesen Ereignissen und Personen im Leben Biagios vgl. ebd. 90 –100 (Aufenthalt am französischen Hof ), 101 –105 (Aufenthalt an der päpstlichen Kurie) sowie die entsprechenden Verweise im Namensindex („Macchiavelli, Niccolò di Bernardo“, „Soderini, Francesco di Tommaso“, „Soderini, Piero di Tommaso“). 36

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Carlo de’ Strozzi: Zwei Hochzeiten und eine Dispens Die ricordi Carlos di Matteo di Lorenzo di Matteo de’ Strozzi zeichnen die Chronologie seiner Heirat mit Francesca di Alfonso di Filippo di Matteo de’ Strozzi von der Vorbereitung der Ehe bis hin zum Erhalt der für ihre Verwandtschaft im dritten Grad der Konsanguinität nötigen Dispens nach. Am 3. November 1534 notierte Carlo in seinen Erinnerungen, wie er in Begleitung Giovannis de’ Giandonati mit seinem exilierten Schwiegervater Alfonso de’ Strozzi die Mitgift ausgehandelt habe 40, die bei dem Notar Francesco de’ Franchi registriert worden sei 41. Zehn Tage darauf habe Carlo Francesca geehelicht und darüber erneut einen Akt bei dem genannten Notar aufsetzen lassen. Bald darauf folgt ein undatierter Eintrag, in dem Carlo vermerkt, wie er und Francesca ein zweites Mal die Ehe geschlossen hätten (come io detti un’altra volta l’anello alla Francesca mia donna). Grund sei die Ehedispens gewesen, die, so begründet Carlo diesen ungewöhnlichen Schritt, noch nicht mit allen erforderlichen Bestandteilen ausgestellt worden sei (perché la dispensa avuta non era sino a questo dì fatta con quelle apartene[n]ze si dovevano fare), so dass das Paar erst an diesem Tag (i. e. der zweiten Eheschließung) die durch den Florentiner Erzpriester Giovanni della Luna exekutierte und durch den Kuriennotar Rafaele de’ Baldesi registrierte Gnade erhalten hätte 42. Tatsächlich findet sich im Florentiner Diözesanarchiv ein Akt aus der Feder des genannten Notars, Rafaeles de’ Baldesi, datiert auf den 4. März 1534, der den eigentlichen Grund dieser zweiten Eheschließung erkennen lässt. Das in den Akt aufgenommene Transsumpt der von der Pönitentiarie ausgestellten und auf den 19. Februar desselben Jahres datierten Dispens gibt den von den Supplikanten Carlo und Francesca de’ Strozzi geschilderten Sachverhalt wie folgt wieder: Das Paar habe im Wissen um das Ehehindernis dritten Grades (scientes se tertio consanguinitatis gradu invicem esse coniunctos) die Ehe öffentlich, durch Austausch der präsentischen Konsensformel (per verba de presenti publice de facto contraxerunt) geschlossen und anschließend vollzogen (carnali copula consumarunt). Würde infolgedessen nun ein divortium perpetuum verfügt, so zöge dies schwerwiegende scandala nach sich. Mit der Exekution der Dispens wird direkt der Florentiner Erzpriester betraut (statt wie im gewöhnlichen Formular der Erzbischof oder sein Stellvertreter), da das Paar den Florentiner Erzbischof für voreingenommen hält (dies mag mit der in den Ricordanzen erwähnten gescheiterten ersten Supplik zusammenhängen). Der delegierte Richter solle, bei Feststellung der Wahrhaftigkeit der in der Supplik gemachten Angaben, die Exkommunikation des Paares aufheben, eine Buße verhängen und ihnen das Recht zugestehen, erneut die Ehe zu schließen, mit der Bedingung, dass ein jeder der beiden nach Verscheiden des 40 Alfonso gehörte in der Tat zu den verbittertsten Gegnern des Mediciregimes und wurde im Gegensatz zu seinem Cousin Matteo, der, als sich die Rückkehr der Familie abzeichnete, das Lager wechselte, folgerichtig 1530 in die Verbannung geschickt. Zum Verhältnis der beiden Strozzi zu Republik und Medici vgl. Melissa B, Filippo Strozzi and the Medici. Favour and Finance in Sixteenth-Century Florence and Rome (Cambridge 1980) bes. 50 –78 (mit Schwerpunkt auf der Position der Familie zur Eheverbindung zwischen Filippo de’ Strozzi, Alfonsos Bruder, und Clarice de’ Medici; vgl. dazu auch ., Marriage Politics and the Family in Florence: The Strozzi-Medici Alliance of 1508. American Historical Review 84 [1979] 668 – 687); Ingeborg W, Die Strozzi: Ein Familie im Florenz der Renaissance (München 2011) 181 –183. 41 Die Register des Notars Francesco de’ Franchi werden im Florentiner Staatsarchiv aufbewahrt (ASF, Notarile Antecosimiano 8130 –8158). 42 Der Auszug aus den ricordi Carlos de’ Strozzi wird unten abgedruckt; vgl. Quellenanhang Nr. 2.

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Partners keine zweite Ehe mehr schließen dürfe. Diese Erlaubnis zur neuerlichen und dann rechtsgültigen Eheschließung wurde in der Sentenz des Florentiner Exekutors Giovanni della Luna wiederholt 43. Wie in solchen Fällen häufiger 44, wurde also nicht die erste, wissentlich entgegen kanonischem Recht eingegangene Ehe durch Dispens legitimiert, sondern eine neuerliche Eheschließung angeordnet. Die Prozessdokumentation stellt im Fall Strozzi also alle nötigen Informationen bereit, um die Notwendigkeit der zweiten Heirat, von der Carlo in seinen ricordi berichtet, in ihrer rechtlichen Dimension und Bedingtheit zu erfassen. Die ricordi hingegen werfen Licht auf einen Aspekt des Verfahrens, der in seiner notariellen Dokumentation notgedrungen außen vor bleibt: die Umsetzung der Dispensauf lagen. Wenngleich die Florentiner des Quattro- und Cinquecento bekanntermaßen in geradezu notorischer Weise Notare frequentierten und dies auch Eheangelegenheiten mit einbegriff, braucht es für die vortridentinische Ehe doch nach kirchlichem Recht keinerlei Verschriftlichung, und die Überprüfung, ob der Bedingung der neuerlichen Eheschließung in der Praxis stets Folge geleistet wurde, steht so (vor allem für Gegenden, die nicht eine notarielle Kultur wie diejenige der toskanischen Metropole kennen) vor einem grundlegenden Problem 45. Carlos Erinnerungen erlauben hingegen nicht nur den mit den genannten Akten betrauten Notar zielsicher zu identifizieren und führen die Befolgung der Anordnung des Gerichts vor Augen, sondern legen zugleich Zeugnis davon ab, dass Carlo offensichtlich die Notwendigkeit verspürte, die einzelnen Verfahrensschritte bis hin zur zweiten Eheschließung schriftlich niederzulegen. Über die Pflege der familialen Erinnerung hinaus mag dies durchaus praktische Gründe gehabt haben. Es darf nicht vergessen werden, dass Carlos Erinnerungen im Verweis auf die implizierten Notare zugleich der rechtlichen Absicherung dienten, für den Fall, dass die Gültigkeit seiner Ehe jemals kontestiert werden sollte, da die entsprechenden Dokumente mithilfe der dortigen Verweise leicht auf findbar wären. Andere Fragen bleiben hingegen auch nach gemeinsamer Lesung der beiden Dokumente offen. Die Formulierung in den ricordi, dass die zweite Eheschließung darin begründet war, dass la dispensa avuta non era sino a questo dì fatta con quelle apartene[n]ze si dovevano fare, ist recht vage gehalten. Es mag also sein, dass erst nach der Eheschließung eine Bitte um Dispens an die päpstliche Behörde gerichtet wurde. Dass die Dispens bei der ersten Eheschließung noch nicht vollgültig zur Verfügung stand, wie Carlo es in seinen Ricordanzen formulierte, läge also schlichtweg daran, dass zu

43 AAF, Dispense matrimoniali 1, Nr. 103 (Das Transsumpt des Gnadenbriefs der Pönitentiarie wird unten abgedruckt, vgl. Quellenanhang Nr. 3). 44 Vgl. Repertorium Poenitentiariae Germanicum IX: Verzeichnis der in den Supplikenregistern der Pönitentiarie Pius’ III. und Julius’ II. vorkommenden Personen, Kirchen und Orte des Deutschen Reiches, 1503 –1513, ed. Ludwig S (Berlin–Boston 2014) XX; Erich S, Der Ursprung des Rechtsinstituts der päpstlichen Dispens von der nicht vollzogenen Ehe. Eine Interpretation der Dekretalen Alexanders III. und Urbans III. (Analecta Gregoriana, Series Facultatis Iuris Canonici B/43, Roma 1980) 107 –109. 45 Zur Rolle von Notaren für Florentiner Ehen in Praxis und Synodalgesetzgebung im Lichte der Konsenstheorie und der allgemeinen Lehre von der Eheschließung im kanonischen Recht nach Lateran IV unter Berichtigung älterer Literatur, vgl. David D’A, Marriage Ceremonies and the Church in Italy after 1215, in: Marriage in Italy, 1300 –1650, hg. von Trevor D–K[ate] J. P. L (Cambridge 1998) 107 – 115.

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diesem Zeitpunkt noch keine entsprechende Bitte formuliert worden ist. Tatsächlich finden sich von einer vor der Ehe angefragten Dispens weder Spuren in der Florentiner Dispensexekution selbst, noch in den Registern der Pönitentiarie, die einzig die genannte de contracto-Anfrage unter dem entsprechenden Datum verzeichnete 46. Das Einholen einer Dispens erst nach Eheschließung stellt für Paare aus der Florentiner Diözese eher eine Seltenheit dar (ganz im Gegensatz zu Dispensgesuchen aus den deutschen Diözesen, wo Dispensgesuche erst nach Eheschließung klar gegenüber solchen vor einer Heirat überwiegen) 47. Es darf also als wahrscheinlicher gelten, dass ein erstes Gesuch um Dispens vor der Eheschließung an formalen oder inhaltlichen Mängeln scheiterte und man die Ehe trotz fehlender Dispens zunächst eingegangen war, um erst danach eine erneute Dispensanfrage an die Pönitentiarie zu richten. Diese Möglichkeit scheint in der Tat wahrscheinlicher als die Annahme, das Paar hätte in Unwissen oder in der Hoffnung, das Hindernis bliebe unentdeckt, ohne ein Dispensgesuch de contrahendo geheiratet. Bei einer so nahen und rein agnatischen Verbindung im dritten Grad muss den Beteiligten allein der Homonymie wegen klar gewesen sein, dass ihre Verwandtschaft offenkundig war 48. Wo das Autobiographisch-Erzählerische und das Administrativ-Rechtliche gleichermaßen zur Verfügung stehen, können die beiden Quellentypen miteinander und gegeneinander gelesen werden. Das Bild, das eine solche vergleichende Lektüre von dem Supplikationsprozess zu zeichnen vermag, ermöglicht Einblicke in das Verfahren,

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Vgl. APA, Reg. matrim. et diver. 89 fol. 113v. Für die Periode von 1460 bis 1538 sind 71 % der in den Registern der Pönitentiarie verzeichneten insgesamt 455 Dispense aus der Diözese Florenz vor Eheschließung (contrahendo) erbeten worden, gegenüber 24 % nach Eheschließung (contracto). Bei den Übrigen fehlt eine entsprechende Angabe. Laut Ludwig Schmugge sind die Verhältnisse in den deutschen Diözesen (zwischen 1455 und 1500) mehr als invertiert: Dort stehen 16 % contrahendo-Gesuche 72 % contracto-Gesuchen gegenüber. Auch die Diözese mit dem höchsten Anteil an contrahendo-Anfragen, Lüttich, bleibt mit 48 % contrahendo- und 52 % contracto-Fällen noch weit von den Florentiner Verhältnissen entfernt. Vgl. Ludwig S, Warum wenden sich 6387 deutsche Paare an den Papst und welche Gnaden erwarten sie?, in: Kirchlicher und religiöser Alltag im Spätmittelalter, Akten der internationalen Tagung in Weingarten, 4. –7. Oktober 2007, hg. von Andreas M (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 69, Ostfildern 2010) 189 –203, hier 192 f. In Portugal ist es ebenfalls die Mehrzahl der Ehen, nämlich 59 %, die vor der Bitte um Dispens geschlossen wurden. Vgl. Maria  L R, Mariage et empêchements canoniques de parenté dans la société portugaise (1455 – 1520). MEFRM 108/2 (1996) 525 –608, hier 539. In England und Wales kehren sich zwar die Mehrheitsverhältnisse zwischen contracto- und contrahendo-Gesuchen um, liegen jedoch mit 45 % contracto-Fällen nach wie vor unterhalb der Florentiner Werte. Vgl. Supplications from England and Wales in the Registers of the Apostolic Penitentiary 1410 –1503, ed. Peter C–Patrick Z, 3 Bde. (The Canterbury and York Society 103 –105, Woodbridge 2012 –2015). Für Italien stehen lediglich Zahlen für die Diözese Como zur Verfügung, dort seien 45 % der Dispensgesuche (zwischen 1455 und 1487) vor Eheschließung gestellt worden. Vgl. Paolo O, Penitenzieria Apostolica. Le suppliche alla Sacra Penitenzieria Apostolica provenienti dalla diocesi di Como (1438 –1484) (Materiali di Storia Ecclesiastica Lombarda [secoli XIV– XVI] 5, Milano 2003) 136 f. Die Abweichung von den Florentiner Werten hängt hier sicherlich mit der geographischen und sozialen Struktur der Diözese zusammen, die nicht ohne Grund von Raul Merzario und seinen Quellen als paese stretto betitelt wurde. Vgl. M, Il paese stretto (wie Anm. 2). 48 Zur Frage der Homonymie und agnatischen Verbindungen im Rahmen der Ehedispense für die Frühe Neuzeit mit Diskussion der Literatur vgl. Michaël G, Reconsidering matrimonial practices and endogamy in the early modern period. The case of central Italy (San Marino, Romagna and Marche), in: Reframing the History of Family and Kinship: From the Alps towards Europe, hg. von Dionigi A–Luigi L–Jon M (Population, Famille et Société 25, Bern 2016) 1 –24, hier 16 –18. 47

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die einer nur einseitigen Betrachtung notwendigerweise verborgen bleiben. Das Erinnern der administrativen Abläufe im Modus der ricordanze ist immer zugleich auch Wahrnehmung, Deutung, und narrative Aufbereitung der Ereignisse. Die autobiographischen Zeugnisse erlauben in diesem Sinne einen Perspektivwechsel zur Akteursseite hin. Sie stellen den Kontext des Verfahrens bereit, beleuchten seine Bedeutung im Rahmen der Knüpfung familialer Bande und Allianzen und lassen mitunter nicht nur das Verfahren selbst, sondern auch die Wahl des zugrunde liegenden Partners als das Ergebnis eines langwierigen und komplexen Sondierungs- und Verhandlungsprozesses erscheinen. Zugleich legen die ricordanze informelle, aber entscheidende Bestandteile des Verfahrens wie die Aktivierung personeller Netzwerke offen, die für den Ausgang des Verfahrens maßgebend sein können (B. Buonaccorsi). Sie beinhalten bisweilen nicht in der Verfahrensdokumentation enthaltene, aber notwendige Bestandteile des Verfahrens wie die Umsetzung der Dispensauf lagen (C. Strozzi). Die behördliche Überlieferung kann auf der anderen Seite zum Korrektiv für die Inszenierung des Erinnerten werden. Sie hält Informationen bereit, die in der Erzählung der Autoren ausgelassen wurden, wie Inkonsistenzen im Lauf des Kanzleigangs und gescheiterte Dispensgesuche (C. Rinuccini, C. Strozzi). Die Verfahrensdokumentation ermöglicht so bisweilen die Identifikation rechtlich-administrativer Abläufe, denen es nicht zukam, Teil der autobiographischen Erzählung zu werden, in die die Geschehnisse überführt wurden.

Quellenanhang Nr. 1: Einträge im Supplikenregister der Pönitentiarie Cino de’ Rinuccini und Ginevra de’ Martelli betreffend.

13. März 1461: Cino di Filippo di Cino (de’ Rinuccini) * Ginevra di Ugolino de’ Martelli Rome, iii idus martii Cinus Philippi Cini laicus et Genevra Hugolini de Martellis mulier Florentini desiderantes ad invicem matrimonialiter copulari petunt secum dispensari, ut non obstante quod 3° et 4° affinitatis gradibus se actineant, eorum desiderium adimplere possint cum legitimatione prolis. Fiat de speciali, Philippus Sancti Laurentii in Lucina. Et conceduntur eisdem littere declaratorie super 3° consanguinitatis gradu. Fiat, Philippus. (APA, Reg. matrim. et diver. 9 fol. 27vs) 26. März 1461: Cino di Filippo de’ Rinuccini * Ginevra di Ugolino de’ Martelli Rome, vii kalendas aprilis Cinus Phillipi de Rinucinis laicus et Genevra Hugolini de Martellis mulier coniuges Florentini 4° consanguinitatis gradu coniuncti desiderantes copulari petunt secum dispensari, ut eorum desiderium adimplere possint, cum legitimatione prolis. Fiat de speciali, Philippus Sancti Laurentii in Lucina. (APA, Reg. matrim. et diver. 9 fol. 31r)

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Nr. 2: Auszug aus den ricordi Carlos de’ Strozzi aus dem Jahr 1534. Ricordo questo dì 3 di novembre come io andai sino a dì 23 del pasato in compagnia di Giovanni Giandonati a Lugniano a trovare Alfonso Strozi mio suocero il quale equivi confinato equivi stetti sino alla matina d’ogni santi e alli 20 del pasato mi fecie contratto della dota rogato per Ser Francesco Franchi notaio publico Pisano e alsì detti l’anello alla Francesca mia donna rogato per il detto e alli 30 udimo la mes[s]a del congiunto nella chiesa di Santo . . .a in Lugniano e la sera la menai che iddio ci conservi insieme felici e piacia liberarci da qualche sinistro ci troviamo e toglia le forze a chi desidera farci male etc. etc. Ricordo questo dì 3 detto come Alfonso Strozzi mi dette uno rubino e pui mi disse pigliassi il diamante in punta perb carati 100b, 80 di moneta per ciascuno e mettessi a conto della mia dota e che di così era contento e più mi disse che voleva che uno letuccio che hè nel palazo delli Strozzi messo nell’arco e intagliato al piedistallo fussi della Francesca che glene donava e questo disse in presenzia di più persone fra gli altri Ser Duccio parte de’ Soderini e Giovanni Giandonati pregandomi più volte fussi contento di cavarlo donde era e meterlo in luogho fussi sicuro di non lo perdere dubitando de’ fratelli e per ricordanza del vero ho fatto questo ricordo questo dì detto in Firenze. Ricordo questo dì . . .c come io detti un’altra volta l’anello alla Francesca mia donna e la causa fu perché la dispensa avuta non era sino a questo dì fatta con quelle apartene[n]ze si dovevano fare e detto dì fumo dispensati da Giovanni della Luna arciprete di Firenze ed atto fu rogato [da] Ser Rafaello Baldesi notaio et publico in vescovado. a

spat. ms. b –b fort. c spat. ms.

(Pisa, Centro archivistico Scuola Normale Superiore, Fondo Salviati, II.73 fol. 80v)

Nr. 3: Abschrift des Gnadenbriefs der Pönitentiarie zugunsten Carlos de’ Strozzi und Francescas de’ Strozzi vom 19. Februar 1535. Antonius, miseratione divina tituli Sanctorum Quattuor Coronatorum presbiter cardinalis, discreto viro archipresbitero ecclesie Florentine salutem in Domino. Ex parte Caroli Mattei de Strozis laici et Francisce Alfonsi etiam de Strozis coniugum Florentinorum nobis oblata petitio continebat, quod ipsi olim scientes se tertio consanguinitatis gradu invicem esse coniunctos, matrimonium inter se per verba de presenti publice de facto contraxerunt illudque carnali copula consumarunt. Cum autem dicti coniuges in huiusmodi matrimonio remanere non possint et, si divortium perpetuum fieret inter eos, gravia exinde scandala possent verisimiliter exoriri, supplicari fecerunt humiliter dicti coniuges eis super his per sedem apostolicam de absolutionis debite beneficio et opportune dispensationis gratia misericorditer provideri. Nos igitur cupientes ipsorum coniugum animarum providere saluti et huiusmodi scandalis, quantum cum deo possumus, obviare auctoritate domini pape, cuius penitentiarie curam gerimus, et de eius speciali et expresso mandato super hoc vive vocis oraculo nobis facto discretioni tue, cum ut asserunt dicti coniuges ordinarium suum habeant in hac parte suspectum, committimus, quatenus, si est ita, ipsis coniugibus prius ad

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tempus, de quo tibi videbitur, ab invicem separatis ipsos a generali excommunicationis sententia, quam propter hoc incurrerunt, incestus reatu et excessibus huiusmodi absolvis hac vice in forma ecclesie consueta, iniuncta inde eorum cuilibet pro modo culpe penitentia salutari, quodque eorum alteri supervivens perpetuo remaneat absque spe coniugii, demum cum eisdem, quod impedimento consanguinitatis huiusmodi non obstante licite valeant inter se de novo matrimonium contrahere et in eo postmodum licite remanere, misericorditer dispenses, dummodo dicta mulier propter hoc ab aliquo rapta non fuerit, prolem susceptam, si qua sit, et suscipiendam exinde legitimam decernentes. Datum Rome apud Sanctum Petrum sub sigillo officii penitentiarie xi kalendas martii pontificatus domini Pauli pape tertii anno primo. (AAF, Dispense matrimoniali 1, Nr. 103)

Le suppliche ai signori italiani del Trecento: ideologia, formulari, aspetti diplomatistici Qualche nota sugli studi recenti Gian Maria Varanini

Premessa: la ricerca storica sulle signorie cittadine italiane del Trecento Lo scopo di questo saggio è quello di disegnare, per un contesto comparativo costituito – nell’occasione di questo convegno – soprattutto dai principati e dai regni tardomedievali dell’Europa centrale, una panoramica storiografica aggiornata sul tema della supplica, con riferimento alle città dell’Italia centro-settentrionale nel Trecento e ai governi signorili 1, e con attenzione anche agli aspetti diplomatistici e archivistici. Si tratta di una tematica che si inserisce a buon diritto nella profonda trasformazione della cultura politica, e delle istituzioni di governo, che le città-stato italiane attraversarono a partire dal tardo Duecento e nel corso del Trecento: quella trasformazione che portò al superamento delle forme di governo tradizione comunale, e all’avvento delle signorie cittadine o sovra-cittadine (e in prospettiva, alla creazione dei cosiddetti stati regionali). Come è ben noto, in un buon numero di città e di territori ci si orientò infatti, nel corso del Trecento, verso la diffusione di un potere personale (autocratico) in grado di collocarsi al di sopra della legge cittadina: e dunque, nella prospettiva che qui ci interessa, in grado di proporsi come destinatario di suppliche ed erogatore di grazie. Prima di entrare nel merito della questione, è utile tuttavia ricostruire velocemente il quadro storiografico complessivo, che aiuta a spiegare perché, nella storiografia italiana del Novecento, molto a lungo il tema della supplica – che è come dire il sempre più frequente ricorso a una eccezione procedurale, alla „nascita di un sistema di casi riservati, risolti per via di grazia direttamente dall’autorità di governo“ 2 a seguito di una istanza del cittadino o suddito – non sia stato all’ordine del giorno. Si è al contrario

1 Per un quadro storiografico aggiornato, si veda: Signorie cittadine nell’Italia comunale, a cura di Jean-Claude M V (Italia comunale e signorile 1, Roma 2013). – Sigle: ACRH = L’Atelier du Centre de Recherches Historiques. Revue électronique du CRH; RMR = Reti Medievali Rivista; SPP = Storia del pensiero politico. 2 Massimo V, Paradigmi dell’eccezione nel tardo medioevo. SPP 2 (2012) 185 –212, citazione 185.

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affermato molto gradualmente, in un quadro nel quale la ricerca sulle signorie cittadine nel tardo medioevo ha avuto una fortuna intermittente e un andamento accidentato. Molto praticata nei primi decenni del secolo scorso anche dalla storiografia tedesca e austriaca attenta all’Italia, con prevalente attenzione alla fase genetica 3, la storia delle signorie cittadine ha poi costituito, nella storiografia italiana, un segno di contraddizione: in particolare negli anni Venti, al momento dell’affermazione del regime fascista. Una linea di studiosi (Chabod, Picotti) fu allora incline a connettere l’avvento delle signorie cittadine in Italia con la crisi morale delle classi dirigenti italiane, in un implicito paragone con quanto allora accadeva in Italia. Viceversa, altri studiosi sottolinearono positivamente il rapporto fra l’uomo forte, il „leader“ e le masse 4. Ma anche nel secondo dopoguerra l’andamento degli studi sulle signorie cittadine dell’Italia centro-settentrionale fu molto irregolare: per reazione al ventennio della dittatura, vi fu inizialmente un’eclissi del tema del governo di un singolo; e anche quando la tematica fu ripresa (a partire dagli anni Sessanta e da un celebre articolo di Ernesto Sestan 5) la chiave di lettura fu prevalentemente quella politico-territoriale, quella del tentativo fallito della creazione di una egemonia politica in funzione della creazione di uno stato nazionale. A partire dagli anni Settanta, il clima storiografico è tuttavia sicuramente molto cambiato; e rispetto al rapporto fra comune e signoria si è affermata una nuova interpretazione complessiva che ha delle ricadute importanti anche sul tema delle suppliche, almeno da due punti di vista. Innanzitutto, è stata superata quell’implicita valutazione moralmente negativa dei regimi signorili che l’esaltazione dei comuni cittadini aveva in certa misura comportato; e anzi dal punto di vista dell’evoluzione dei regimi politici le signorie e gli stati italiani sono persino stati studiati nell’ottica di un positivo superamento dei particolarismi. Ma soprattutto è prevalso un approccio gradualistico, la sottolineatura di una cesura meno netta fra comune e signoria, fra „democrazia“ o pretesa democrazia e „tirannide“. Si è proficuamente affermata una profonda consapevolezza del fatto che i due sistemi di governo sono intermittenti nell’esperienza storica di una città: si sottolinea per esempio che il comune di Firenze, per tanto tempo nella storiografia comunalistica italiana campione del governo „democratico“ e rappresentativo, attraversa nella prima metà del Trecento periodi non brevi di sospensione del funzionamento istituzionale del comune, coi vicariati angioini degli anni Dieci e Venti del Duecento e poi con il governo del duca d’Atene agli inizi degli anni Quaranta; che Treviso dopo trent’anni di signoria dei da Camino (1283 –1312) ritornò alle forme del governo comunale; che Bologna oscillò per tutto il Trecento tra le due condizioni: un regime comunale che si rifà (in qualche caso consapevolmente ed esplicitamente) ai modelli di Firenze e di Venezia, oppure attraversa esperienze di governo personale (con Taddeo Pepoli, al quale si farà ampiamente cenno più avanti, e Giovanni Visconti da Oleggio). O ancora si è sottolineato il fatto che nella

3 A parte un celebre articolo di Sickel sul vicariato visconteo, risale al 1900 una altrettanto celebre monografia di Ernst Jacob S, Über die Anfänge der Signorie in Oberitalien. Ein Beitrag zur italienischen Verfassungsgeschichte (Historische Studien 14, Berlin 1900, rist. Vaduz 1965). 4 Basti qui rinviare a quanto osserva Massimo V, La città e le sue istituzioni. Ceti dirigenti, oligarchia e politica nella medievistica italiana del Novecento. AISIGT 20 (1994) 165 –232. 5 Ernesto S, Le origini delle signorie cittadine: un problema storico esaurito? BISI 73 (1961) 41 –70.

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seconda metà del Duecento e nel primo Trecento, in regimi signorili consolidati nei quali il signore esercita pienamente e in modo incondizionato l’arbitrium sugli statuti (Bonacolsi a Mantova, Estensi a Ferrara, Scaligeri a Verona, anche alcune città angioine dell’Italia del nord), si mantenne in una certa misura vivo, almeno formalmente, il funzionamento delle istituzioni comunali. Non bisogna dimenticare infatti che i regimi signorili italiani, pur segnati profondissimamente dalla logica delle lotte di partito, del bando, dell’intolleranza per il nemico, non sono certo alieni dal tener conto di una „mission“ o di un interesse collettivo della città, che può sussistere anche a prescindere dalla forma del governo 6. Di questa vischiosità, di questa lenta e contraddittoria evoluzione bisogna tener conto: perché di conseguenza, il problema della supplica e della grazia „come prassi generalizzata“, adottata da „tutti“ o da larga parte dei governi signorili, non può essere messo a fuoco prima del Trecento inoltrato, e anzi della seconda metà del secolo. Il secondo aspetto del rinnovamento storiografico sul tema delle signorie, che ha avuto una ricaduta sulla tematica delle suppliche e delle grazie è legato all’ampliamento delle prospettive di ricerca sul concreto funzionamento della macchina statale, ben al di là della mera storia politico-„événementielle“, per lungo tempo privilegiata. Le „tecniche del potere“ 7, la pratica e l’esercizio del potere sono oggi al centro dell’interesse, si tratti dell’amministrazione della giustizia o della fiscalità.

La prima metà del secolo: il caso di Bologna (1325 c. –1347) Nel contesto istituzionale mutevole, incerto, contraddittorio, del primo Trecento italiano era ovviamente già teoricamente disponibile e aperta, per il dominus generalis di una città (anche per quello che non aveva ancora acquisito, come accade a partire dal 1311 con la spedizione in Italia di Enrico VII e poi con i vicariati papali, la legittimazione di uno dei poteri universali), la strada della forzatura e della deformazione / manipolazione delle norme di ordinario funzionamento del potere cittadino: in primo luogo sotto il profilo delle procedure giudiziarie, che nei decenni precedenti (in particolare grazie all’opera influente di Alberto da Gandino per ciò che concerne la materia penale) si erano venute consolidando e definendo. E questo riguarda evidentemente proprio il „discorso“ della supplica e della grazia. Prendiamo per esempio un regime signorile come quello dei da Camino a Treviso, rimasti al potere fra 1283 e 1312, e che ottennero il vicariato imperiale nel 1311 da Enrico VII di Lussemburgo. L’organizzazione istituzionale del loro regime è ambigua e cauta, perché praticamente per tutto l’arco temporale interessato la signoria è legittimata dal comune; è l’arengo comunale che conferisce l’arbitrium al signore. Dal punto

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Nell’impossibilità di rinviare a una bibliografia immensa, basti qui far capo a Signorie cittadine

(nota 1). 7 Tecniche di potere nel tardo medioevo. Regimi comunali e signorie in Italia, a cura di Massimo V (I libri di Viella 114, Roma 2010), che comprende due contributi specificamente orientati sui problemi che qui interessano: si veda Lorenzo T, Emergenza, eccezione, deroga: tecniche e retoriche del potere nei comuni toscani del XIV secolo, in: ibid. 149 –181, e Maria Nadia C, De gratia speciali. Sperimentazioni documentarie e pratiche di potere tra i Visconti e gli Sforza, in: ibid. 183 –206.

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di vista del meccanismo „supplica / grazia“, che pure è attestato, ciò determina innanzitutto importanti conseguenze sul piano archivistico, perché questi capitanei populi (ma anche tutti gli altri, a questa altezza cronologica) 8 non conservano documentazione in quanto signori. Sul fatto che Gherardo (signore dal 1283 al 1306) e Rizzardo da Camino (suo figlio e successore) faciebant gratias de condempnatis et condempnandis prout eis placebat, ovvero che Rizzardo ex vigore sui arbitrii generalis et ex baylia sibi data et concessa ab egregio viro domino Gerardo de Camino eius patre et per comune Tervisii precepit . . . quod cançellare debeat quandam condempnationem . . . et hoc ex gratia speciali facta domino episcopo Tervisino, siamo però informati dalle testimonianze rese a un processo svoltosi dopo la caduta della signoria, che mirava a definire la natura tirannica o non tirannica del potere dei due signori (padre e figlio) 9. Tuttavia, l’accento è posto piuttosto sulla libera iniziativa del signore, e non c’è nessun tipo di formalizzazione burocratica della supplica; i soli atti di grazia dei signori che in concreto conosciamo sono conservati nelle carte dei notai privati. Quest’ultimo punto è molto importante. Nelle città italiane rette in questi decenni a regime personale c’è uno scarto evidente fra l’elaborazione concettuale e le pratiche documentarie. A Treviso, anche sulla base delle recenti messe a punto teoriche di Egidio Romano e di Tolomeo da Lucca, i molti cittadini chiamati a testimoniare nel processo qui sopra ricordato (1314) sono in grado di definire i comportamenti „tirannici“ messo in atto dai da Camino, sulla base dei capitula loro proposti dai giuristi, e tra questi comportamenti inseriscono anche le concessioni di grazie. Anche nel lessico dei notai che operano per i Bonacolsi signori di Mantova ai primi del Trecento, oppure per i Visconti di Milano negli stessi anni, l’idea di plenitudo potestatis, che teoricamente potrebbe raccordarsi con una prassi di presentazione di suppliche, compare talvolta nella documentazione scritta, nelle arenghe delle primissime lettere patenti o dei decreti signorili 10. Ma da questo stato di cose al superare le remore di una tradizione antica, a recidere il rassicurante cordone ombelicale con il passato e con le forme documentarie del comune cittadino dal quale il signore ancora derivava la sua autorità, c’è molta differenza; c’è una soglia psicologica e culturale da superare. Le forme documentarie tipiche del governo „monarchico“ (come il documento autoritativo redatto in prima persona e sigillato) presero piede, ma molto lentamente. E come si è accennato sopra neppure la concessione del vicariato imperiale o papale, che del resto è un vicariato ad personam, concesso vita natural durante, cambiò le cose da questo punto di vista.

8 Ad esempio, l’Archivio Gonzaga di Mantova è in effetti l’archivio della „famiglia“ Gonzaga, non dei „signori di Mantova“. 9 Il processo Avogari (Treviso, 1314 –1315), a cura di Giampaolo C (Fonti per la storia della Terraferma veneta 14, Roma 1999), ad es. 470ss. (testimonianza del giudice Pietro di Arpo), 478ss. (testimonianza di Manfredino sarto). In generale per la signoria caminese si veda Giovanni Battista P, I Caminesi e la loro signoria in Treviso dal 1283 al 1312 (Livorno 1905, rist. Roma 1975 a cura di Giovanni N), che per primo valorizzò quella importante documentazione, destinata ad alimentare anche nei decenni successivi il dibattito storiografico sulla signoria cittadina (si veda Diego Q, Il Processo Avogari e la dottrina medievale della tirannide, in: C, Il processo Avogari [citato in questa nota] V – XXIX). Per l’uso dell’espressione gratia specialis, si veda P, I Caminesi [citato in questa nota] 201, 314. 10 Gian Maria V, I notai e la signoria cittadina. Appunti sulla documentazione dei Bonacolsi di Mantova fra Duecento e Trecento (rileggendo Pietro Torelli), in: Scritture e potere. Pratiche documentarie e forme di governo nell’Italia tardomedievale (XIV –XV secolo), a cura di Isabella L (RMR 9, Firenze 2008) 1 –54.

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Infatti la trasmissione ereditaria del potere restò sempre un miraggio per le famiglie signorili al potere in Italia, e l’avvicendamento da un signore all’altro resta sempre un passaggio molto delicato. Sta di fatto che nella prima metà del Trecento non è ancora pacificamente operante quel più netto distacco tra governanti e governati, tra la „corte“ e il palazzo signorile da un lato e la cittadinanza (più che i sudditi) dall’altro, che è un po’ il presupposto del meccanismo della supplica. Ed è naturalmente assente una tradizione regia, un’idea della maiestas: perché le idee elaborate nel regno meridionale circolano, certo, ma piuttosto come modelli retorici (si pensi ai formulari di Pier della Vigna); e quando l’idea monarchica del governare per gratiam viene introdotta in Italia, come accade con la dominazione angioina nell’Italia nord-occidentale, essa è bensì in grado di interferire e di introdurre nel contesto della cultura politica italiana di tradizione comunale degli elementi di turbativa, ma non è in grado di scardinare l’impianto nelle situazioni cittadine dove la tradizione comunale era solida. I signori cittadini avevano evidentemente la possibilità di alterare le procedure, del resto non uniformi. E tutto questo accade, in modo diffuso se non sistematico; ma solo dopo la metà del secolo: con una eccezione. È infatti molto significativo che un salto di qualità nella diffusione delle pratiche di supplica sia stato determinato, in una delle capitali della cultura comunale e giuridica italiana cioè a Bologna, nel terzo decennio del Trecento, dal legato papale, il cardinale Bertrando del Poggetto. Tra il 1326 e il 1334 egli, con il favore della popolazione, introdusse nella città emiliana la supplica „alla maniera della corte di Roma“. Come ha ricordato Gianfranco Orlandelli in un saggio fondamentale del 1962 11, a Bologna esisteva anche una tradizione di suppliche indirizzate al capitano e agli anziani del passato regime comunale. Ma ora „siamo nel periodo in cui la redazione della supplica, già largamente diffusa nella pratica della cancelleria pontificia, incomincia ad essere canonizzata in regole precise“, e questo spiega „la facilità del trapianto“ 12. È al rappresentante del potere che „par excellence“ dispone della plenitudo potestatis che si possono indirizzare le suppliche. La quantità sopravvissuta di suppliche a Bertrando del Poggetto, tutte del 1330, non è grande (poche decine), ma è quanto resta di filze molto più consistenti: e il fatto stesso che sia prevista una autonoma conservazione documentaria è molto significativo. La supplica è indirizzata reverendissimo et clementissimo patri domino domino Bertrando Dei gratia pro S. R. E. civitatis, comitatus et districtus Bononie domino generali, o anche Reverende paternitati vestre 13, ma può avere come destinatario anche il governo del legato, i suoi officiali, e non il legato direttamente, e in questi casi è introdotta dalla formula coram vobis (ed è più simile alla tipologia della supplica al capitano e agli anziani, che al riguardo deliberavano a maggioranza). Ma il legame è strettissimo: si precisa infatti fiat memoria domino legato, e l’approvazione di Bertrando risultava in un’altra serie documentaria, i registri dei decreti, nei quali decreti non è incorporato il testo della supplica. I verbi dispositivi sono providit et mandavit, providit decrevit atque mandavit, e simili (quest’ultima è la formula compiuta perfetta: deliberazione – nuova forma comunicativa cioè il decreto – esecutività: tre verbi, tre momenti). L’analisi

11 12 13

Gianfranco O, La supplica a Taddeo Pepoli (Bologna 1962) 73 –107. Ibid. 43. Ibid. 44, anche per quanto affermato sotto.

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contenutistica delle suppliche rinvia a una platea di supplicanti socialmente piuttosto elevata. A giudizio di Orlandelli la supplica viene interpretata dai bolognesi „più come strumento adatto a sfuggire alla giurisdizione del giudice ordinario, che come mezzo di ricorso all’autorità superiore“. In questo senso – introdotta in un ambiente in qualche modo impreparato – per certi aspetti non è „ancora“ una vera supplica, e resta in qualche modo impigliata nella documentazione comunale. Ben diverso il quadro pochi anni dopo, con la signoria di Taddeo Pepoli (1337 – 1347), che in quanto signore di Bologna compie atti che segnano una vera cesura dal punto di vista istituzionale e di conseguenza anche della produzione documentaria (si abolisce l’anzianato, cessano le riformagioni e iniziano la produzione sistematica di decreti) 14. Il Pepoli, che oltre ad essere figlio di un grande banchiere e il signore della città emiliana è anche un giurista; e nei suoi atti si intitola anche legum doctor, oltre che conservator iustitie, e all’inizio del suo mandato interviene personalmente ad affermare la valenza a tutti gli effetti dei suoi decreti, e la loro superiorità assoluta e totale sul diritto cittadino. Egli costituisce un gruppo di notai di grandi capacità, che sovraintendono a una procedura complessa. Essi „provvedono alla stesura delle suppliche su cedole cartacee“, poi conservate in filza, „assistono il signore e vergano il rescritto in calce alla supplica all’atto del suo esame“ 15, la riportano nel registro dei decreti e ne rilasciano copia autentica al supplicante su cedole pergamenacee, prive di sigillo ma sottoscritte da uno di loro in quanto notarius domini; annotano infine l’avvenuta consegna. Sulla supplica figura anche il nome dell’intercessore, presentatore dell’istanza, un sunto della supplica utile al signore perché decida, e talvolta un appunto che orienti la sua decisione. Attraverso le decine (47 in tutto) di registri di decreti di Taddeo Pepoli, passa una larga parte di un decennio di vita della città di Bologna. Il dittico supplica – decreto diventa in questi anni uno strumento ordinario di governo, in una misura che non ha riscontri in altri casi. Si apre un canale significativo di rapporto con il potere per cives che sono emarginati dalla vita pubblica, ma possono appunto chiedere al signore una grazia. In alcune ricerche fondamentali dell’ultimo decennio, che costituiscono oggi un punto di riferimento imprescindibile per la ricerca sulle suppliche nei regimi signorili italiani, Massimo Vallerani ha sviluppato a fondo la riflessione su questo caso eccezionale, utilizzando come fonte i registri dei decreti. Egli ha messo a fuoco appunto la supplica e la grazia come strumento ordinario di governo, e ha riflettuto sul loro retroterra ideologico: la „retorica della soggezione“ e della paupertas, ma soprattutto la corrispettiva „misericordia“ signorile 16. A Bologna il totale delle suppliche conservate negli anni 1338 –1347, provenienti tanto dalla città quanto dal territorio, è di oltre 4800, dunque 480 all’anno: circostanza

14 Sulla signoria di Taddeo Pepoli si veda in generale Guido A, Conservator pacis et iustitie. La signoria di Taddeo Pepoli a Bologna (1337 –1347) (Bologna medievale ieri e oggi 3, Bologna 2004). 15 O, La supplica a Taddeo Pepoli (vedi nota 11) 89. 16 Si veda in particolare Massimo V, La supplica al signore e il potere della misericordia 1337 –1347. Quaderni storici 44/131 (2009) 411 –441. Le tematiche sono poi state riprese e sviluppate in: ., La pauvreté et la citoyenneté dans les suppliques du XIVe siècle, in: Suppliques. Lois et cas dans la normativité de l’époque moderne, a cura di Simona C–Massimo V (ACRH 13, Paris 2015) 19 –46.

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che di per sé segnala appunto la supplica come uno strumento ordinario di governo. Il biennio 1337 –1339, oggetto dell’approfondimento di Vallerani, ne presenta una media lievemente maggiore, circa 500. L’analisi dello studioso torinese ha messo a fuoco soprattutto gli aspetti politicoideologici della supplica e l’immagine di sé che Pepoli vuole proporre, appunto come elargitore di misericordia; ma ha anche segnalato i principali ambiti della vita sociale e civile nei quali i bolognesi della città e del distretto rivolgono suppliche al signore. Una prima tipologia è quella delle petizioni in materia giudiziaria, particolarmente frequenti nei primi mesi di governo del signore: sospendere un bando, ridurre una condanna (anche in riferimento a reati penali gravi come omicidi, saccheggi, stupri, ferimenti, risse) o una multa. La motivazione sottostante alla supplica è frequentissimamente legata al rischio della mendicità, al topos del rischio del vagabondaggio (qualora la supplica non sia accolta, scrive – adottando una frase stereotipa – il notaio che redige per conto del supplicante il testo, oportet ipsum ire per mundum), oppure al mantenimento di un decoroso status da parte della famiglia. L’intervento del signore è discrezionale, ma si avvale di intermediari o di informatori. Oltre al penale, le suppliche giudiziarie riguardano la materia fiscale (cancellazione dal libro dei malpaghi). Sempre in materia giudiziaria, ma non più in ordine alla clemenza per un reato grave, quanto invece a fatti procedurali, non hanno meno rilievo né sono meno numerose le suppliche che richiedono al signore la procedura sommaria e una conseguente maggiore velocità di risoluzione della pratica, contro le lungaggini e gli oneri della giustizia ordinaria. Socialmente parlando, è questa la richiesta che parte dallo strato sociale più basso: spesso vedove, che pongono problemi di liti intrafamiliari per doti, eredità, mala gestione; persone che si pongono come pauperes nel senso di incapaci di autodifesa dei propri interessi. Il signore si configura come garante pubblico di una giustizia equa e misericordiosa. Una terza tipologia significativa si collega in parte a questa, ed è la supplica per l’autorizzazione a vendere beni dotali, protetti come è noto dal diritto romano; ma anche a vendere beni fondiari del contado ad acquirenti non residenti nel villaggio, in deroga a un decreto di „divieto con riserva di autorizzazione“ che vietava tali vendite allo scopo di tutelare la proprietà fondiaria contadina. Altre tipologie riguardano infine la validità di contratti non registrati nei Memoriali. In larga misura dunque le suppliche bolognesi riguardano poveri e miserabili, rispetto ai quali il signore si pone come chi esercita la misericordia. Questa appare a Vallerani la dimensione decisiva: „non è il suddito povero che conta, né tanto meno la povertà come fenomeno sociale, ma l’immagine del dominus che risponde all’appello dei sudditi e si fa carico del problema della povertà e del bisogno. Inviando la supplica in quella forma, i sudditi accettano una figura di dominus che è disegnato dalla loro stessa richiesta. In questo modo il tema della misericordia entra nel lessico politico . . . proiettando il principe in una sfera di potere non misurabile con i normali parametri della legalità istituzionale o del diritto naturale.“ 17 Il discorso della povertà è dunque reale, nel senso che c’è un oggettivo ricorso alla supplica da parte di chi è socialmente debole, ma è anche in parte una narrazione, una

17 Per tutto quanto precede vedi V, La supplica al signore e il potere (vedi nota 16), citazione 430; ., La pauvreté et la citoyenneté (vedi nota 16).

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autorappresentazione, così da „sollecitare del dominus la sua capacità più ‚sovrana‘, la protezione dei miserabili“ (Vallerani), secondo modelli molto antichi che risalivano all’alto medioevo e che avevano riproposto la protezione dei poveri come prerogativa sovrana ovviamente anche per i re del tardo medioevo, che agiscono „come un sostituto di Dio aiutando i deboli contro i potenti“ 18; i poveri sono i sudditi. Mi è sembrato utile aggiungere al quadro disegnato da Vallerani, sulla base dello spoglio completo di una sezione autonoma e specifica del dossier archivistico delle suppliche pepolesche – le 449 petizioni alle quali non corrisponde un decreto signorile, che sono spalmate irregolarmente sull’intero decennio e conservate in una busta a parte 19 –, alcune informazioni relative alle procedure di presentazione e di esame delle petizioni. Va segnalato innanzitutto che un certo numero di queste petizioni non rientrano propriamente nello schema della „supplica“ delineato da Orlandelli e Vallerani, ma si risolvono semplicemente nella richiesta al signore della assegnazione discrezionale (al richiedente o a una terza persona, per la quale si attiva un intercessore) di un ufficio pubblico (daziere, notaio, castellano, ecc.). Queste richieste sono spesso vergate su foglietti di dimensioni piccole se non microscopiche: „pizzini“, li direbbero gli esperti di mafia. Non a caso nel fascicolo del 1342 si conserva in copia il decreto di quell’anno (o giugno) col quale Taddeo Pepoli assegnò a se stesso l’autorità di subrogari facere chicchessia, eletto nel consiglio del Quattromila a qualsivoglia ufficio del comune. Per quello che riguarda invece le suppliche vere e proprie, si conferma innanzitutto che sono ben poche le suppliche autografe e in volgare; una buona parte è scritta dai notai addetti, su fogli di carta filigranata di diverso formato (talvolta si tratta di carta riciclata di un ufficio del palazzo), spesso di cm. 29 × 22 circa (ma anche di 29 × 11, dunque un foglio tagliato a metà in verticale), non di rado in scrittura trasversa. In parecchi casi i fogli tuttavia presentano segni di piegatura; in qualche caso (lo attesta l’indirizzo del „destinatario“, scritto sul foglio ripiegato) è certo che la supplica fu presentata „chiusa“, sul foglio piegato, e dunque era stata già scritta all’esterno del palazzo comunale. In genere i testi sono bene impaginati e scritti in latino eccellente, con arenghe o appellativi in qualche caso culturalmente pretenziose 20. Altre caratteristiche estrinseche del supporto testimoniano che queste suppliche subirono 18

I., La supplica al signore e il potere (vedi nota 16) 431. Bologna, Archivio di Stato, Comune-Governo, Signoria Pepoli, Suppliche al signore 1337 –1347, b. 260. Sono conservate in fascicoli per annum: 19

1337

1338

1339

1340

1341

1342

1343

1344

1345

1346

1347

Totale

10

38

42

68

20

36

167

7

46

10

5

449

Probabilmente questi fascicoli furono creati dagli archivisti otto o novecenteschi in occasione del riordino del materiale archivistico. Custoditi in camicie cartacee, i fascicoli recano annotazioni del tipo „Petizioni a Taddeo Pepoli senza rescritto“ o „Petizioni non approvate“; in un fascicolo, quello del 1339, è annotato „Cav. Giorgi“ (dovrebbe trattarsi di Ignazio Giorgi, un noto erudito attivo soprattutto a Roma, fra Otto e Novecento). Per la grandissima maggioranza, sono datate solo con l’anno, senza la data di porrectio, e non sono numerate. Pertanto, nelle citazioni fatte nel testo e nelle note di qui in avanti, si adotterà un rinvio sommario al solo anno. 20 A vobis [Taddeo Pepoli], in cuius cellebri mente fulget virtus et solida rectitudo (1337); equitatis vestre remedium, que non patitur parvulos impotentes cupidorum impiis affectibus devorari (1338); integre iustitie et equitati vestre (1337). Con l’andar del tempo il formulario tende a omogeneizzarsi e a tecnicizzarsi nella parte relativa alla semplificazione procedurale: quare suplicatur benigne dominationi vestre quatinus vobis

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ripetute manipolazioni archivistiche, a prescindere dall’esito negativo della richiesta. Due suppliche, particolarmente lise e sciupate sul verso del foglio, recano in un caso la scritta (sempre ripetuta otto volte, due per lato) examinandarum (1343) e in un altro examinandarum non ita cito (1340): costituirono la custodia esteriore delle suppliche non esaminate, conservate archivisticamente a parte. Nel fascicolo del 1343, inoltre, verosimilmente assai più completo di altri visto che contiene 167 suppliche, si conserva un talloncino in pergamena munito di spago con la scritta examinandarum M IIIc XLIII et quasi a partibus derelictarum, il che rinvia con ogni verosimiglianza a suppliche finalizzate a una funzione equitativa o arbitrale da parte del signore, delle quali poi il supplicante stesso si disinteressò. Lo provano annotazioni come non est facta pax (ad es. 1340); e spesso questa tipologia ha riscontro in una „clientela“ altolocata, trattandosi ad es. di accordi all’interno della consorteria dei Gozzadini (1338), o delle divisioni del patrimonio dei conti di Mangone (1340), o di un esponente dei Pepoli (Giovanni figlio di Romeo, 1343), o di qualche docente universitario che ricorre al collega Pepoli per questioni accademiche (Ambrogio di Bonfante lettore di medicina, 1343). Il sistema era dunque molto articolato e la tentacolare abilità di Taddeo Pepoli di far gravitare su di sé la vita sociale e politica ne viene confermata. In effetti, il fatto che queste suppliche non abbiano avuto riscontro in un decreto non significa che non avessero seguito in parte o in tutto l’iter burocratico, che Orlandelli ha ricostruito nel 1962 in tutti i suoi passaggi. In più di qualche caso, innanzitutto, il formulario (constitutus coram domino [1345]; coram vobis conqueritur [1338]; coram vobis magnifico et potenti domino domino Tadeo de Pepolis legum doctore, dignissimo conservatore pacifici status civitatis comunitatis et districtus Bononie exponitur humiliter [1338]) lascerebbe presumere la presenza fisica di Taddeo Pepoli alla presentazione delle suppliche, almeno in qualche caso. In secondo luogo, un buon numero di questi testi presenta il riassunto breve, di due / tre righe 21, che veniva poi vagliato dagli incaricati del dominus e a lui sottoposto, dopo l’istruttoria (comissum fuit vicario domini quod inquirat veritatem et referat eidem domino [1338 dic. 16]), alla quale si riferiscono ovviamente altre annotazioni (ad es. requirantur partes [1343, varie volte]). Sui margini compare poi talvolta la sigla f[acta] o r[. . .], che non sembra potersi sciogliere con r[eperitur] (reperitur registratum) come propone Orlandelli per i casi da lui esaminati, riferendosi al reperimento del decreto nell’apposito registro, e che andrà forse interpretata come r[egistrata] o r[ecepta]. Non manca in qualche caso l’esplicito reprobatur (Petitio porrecta in Mo IIIc XLIII ind. VIIII et non aprobatur; porrecta domino die VII° aprilis et reprobata [anch’esso 1343]); il testo di parecchie suppliche è cassato con righe trasversali o con croci, il che rinvia comunque a una conclusione della pratica, quale che sia stata.

placeat, amore Dei et intuitu pietatis, maliciis predictis obviare et comittere et mandare vicario d. potestatis quod summarie et de plano, sine strepitu et figura iudicii, alliquo iuris vel statuto ordine non ser vato, inquirat veritatem de predictis (1343; spaziatura mia). 21 O, La supplica a Taddeo Pepoli (vedi nota 11) 95s.

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La seconda metà del secolo La straordinarietà delle scelte di Taddeo Pepoli, che per un certo numero di anni di fatto governò una grande città e il suo distretto ricorrendo ampiamente alla concessione delle grazie, è comprovata dal fatto che il regime signorile che alla metà del secolo lo avvicendò nel governo di Bologna, cioè il governo visconteo, fece scelte radicalmente diverse, e il numero delle suppliche presentate calò drasticamente e irreversibilmente 22. Si può dire dunque che l’eccezione conferma la regola, che vede nella seconda metà del Trecento la congiuntura costituzionale e politica nella quale la prassi del supplicare e del derogare (e dunque del concedere graziosamente) tende a diffondersi e a consolidarsi. È in generale la congiuntura nella quale la pratica di governo dei signori sottolinea in modo ormai irrimediabile il distacco dai cittadini, che stanno diventando „sudditi“. La vitalità delle istituzioni comunali (i consigli cittadini, in primo luogo, sempre più ridotti ad organi consultivi e limitati numericamente) si atrofizza, sia pure senza spegnersi del tutto; si creano consigli di corte e organismi di governo ristretti; si legifera per decreto, sia pure senza obliterare gli statuti cittadini 23. Perché si assestino meccanismi regolari di presentazione e accoglimento di suppliche, è importante anche il fatto che la cerimonialità di corte nel suo complesso diventa ovunque più matura 24. Sta di fatto che si riscontri un sostanziale parallelismo cronologico nell’adozione di procedure regolari di accettazione ed analisi delle suppliche da parte delle diverse signorie cittadine italiane della seconda metà del Trecento. Le testimonianze conosciute riguardano gli Scaligeri di Verona, gli Estensi di Ferrara, i Gonzaga di Mantova 25, i Visconti di Milano: vale a dire signorie cittadine fra le più radicate e stabili dell’Italia centro-settentrionale. Sono tutte di origine duecentesca, e la circostanza ha una sua logica, perché nel caso di signorie affermatesi di recente – valga il caso dei da Carrara, il governo dei quali su Padova non inizia prima del 1340 circa, e prende consistenza solo con Francesco il Vecchio (dal 1355) – il rapporto con la legittimazione „dal basso“, con il consenso fornito dalla cittadinanza espresso dalle istituzioni del comune cittadino, è talvolta ancora vitale e non sopporta strappi troppo violenti in direzione „monarchica“. Purtroppo le sopravvivenze documentarie di queste suppliche sono residuali, numericamente modestissime, per la sorte di distruzione alla quale sono andati incontro gli archivi signorili nella conclusione sovente traumatica dei diversi regimi. Bisogna accontentarsi di pochi riferimenti, lontanissimi dalle cifre maestose della Bologna

22 Giulia L, Conquistare e governare la città. Forme di potere e istituzioni del primo anno della signoria viscontea a Bologna (ottobre 1350 –novembre 1351) (Bologna medievale ieri e oggi 9, Bologna 2009) . 23 Si veda in generale M V, Signorie cittadine (vedi nota 1). 24 Courts and Courtly Cultures in Early Modern Italy and Europe. Models and Languages, a cura di Simone A–Serena R (Études lausannoises d’histoire de l’art 20/Studi lombardi 8, Roma 2016); L’art au service du prince. La politique monumentale, artistique et culturelle des États princiers et seigneuriaux: paradigme italien, expérience européenne (vers 1250 –vers 1550), a cura di Elisabeth C P–Jean-Claude M V (Italia comunale e signorile 8, Roma 2016). 25 Per quanto segue si veda in generale, a proposito di Scaligeri, Estensi e Gonzaga: Gian Maria V, Al magnificho e possente segnoro. Suppliche ai signori trecenteschi italiani fra cancelleria e corte: l’esempio scaligero, in: Suppliche e „gravamina“. Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV – XVIII), a cura di Cecilia N–Andreas W (AISIGT. Quaderni 59, Bologna 2002) 65 –106, con rinvio a ulteriore bibliografia; studi successivi al 2002 sono segnalati di seguito. Per i Visconti si veda infra.

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degli anni Trenta e Quaranta: ma è importante e anzi cruciale avere certezza che la documentazione pertinente alle suppliche veniva conservata negli specifici depositi dell’archivio „dinastico“, trattandosi di materia che concerne direttamente il dominus. Nel caso di Verona e di Vicenza scaligere, allo stato attuale delle ricerche disponiamo di una cinquantina di suppliche, concentrate soprattutto negli anni tra il 1360 e il 1387, coincidenti con l’inizio della signoria di Cansignorio della Scala (1359 –1375, fino al 1365 col fratello Paolo Alboino) e con la fine della signoria (nel 1387 Gian Galeazzo Visconti conquistò Verona ponendo fine alla signoria di Antonio della Scala figlio di Cansignorio [1375 –1387, sino al 1381 col fratello Bartolomeo]). A causa della distruzione completa dell’archivio signorile, sono sopravvissute solo le copie autentiche, consegnate ai supplicanti dopo la conclusione dell’iter burocratico in caso di accoglimento della supplica, e conservate dunque negli archivi privati (di famiglie patrizie, di enti ecclesiastici). Ciò seleziona verso l’alto il „target“ dei supplicanti, e impedisce di fatto di percepire le dimensioni del fenomeno. Peraltro, è certo che la procedura fu definita al tempo di Cansignorio della Scala, nell’ambito della riorganizzazione del dominio scaligero (dagli anni Quaranta limitato alle sole città e territori di Verona e Vicenza) da lui coerentemente portata avanti, insieme con un coerente progetto di „magnificentia“ e di autocelebrazione che si sostanziò di progetti monumentali e di una impegnativa politica urbanistica 26. Sappiamo pertanto che la presentazione delle istanze – redatte almeno in parte dai notai signorili – seguiva un formulario preciso, coi consueti riferimenti alla misericordia. Scritte in volgare (circostanza questa che ha contribuito alla fortuna editoriale di questi testi, alcuni dei quali furono pubblicati già nell’Ottocento) 27, esse venivano indirizzate alla factoria generalis o alla factoria super bonis rebellium, uffici originariamente deputati all’amministrazione del patrimonio signorile, ma investiti in modo crescente di funzioni pubbliche; ivi avveniva l’istruttoria, si definivano le modalità di consultazione del signore, e si deliberava la ambaxata (nel lessico amministrativo che si sviluppa in questa corte è questo il termine che indica il provvedimento immediatamente esecutivo del signore, altrove detto decretum o mandatum). Almeno dal 1371 per Verona, e almeno dal 1377 per Vicenza (né manca qualche testimonianza per Riva del Garda) sono redatti e conservati nella cancelleria della signoria scaligera i libri graciarum, e i corrispettivi libri ambaxatarum. Presenta serie documentarie specifiche anche l’archivio di casa d’Este, oggi conservato a Modena. Tale documentazione è abbastanza risalente; ma il registro dell’età di Nicolò III, del 1363, riporta solo i decreti e dunque la prassi adottata nel Trecento deve essere dedotta da alcuni indizi ricavabili dalle fonti dei decenni successivi. Almeno in un certo numero di casi il decreto conclusivo ingloba, nella narrativa iniziale, il tenor supplicationis; l’istanza era forse talvolta cerimonialmente letta alla presenza fisica del signore (ma il verbo audivimus è ambiguo); per l’istruttoria di merito si ricorreva oltre che ai fattori della Camera estense anche agli organi amministrativi delle città soggette

26 Per una decisa rivalutazione della figura di questo signore, mi permetto di rinviare a Gian Maria V, Cansignorio della Scala: profilo di un signore del Trecento, in: L’intervento di conservazione, restauro e valorizzazione dell’Arca di Cansignorio della Scala a Verona, a cura di Ettore N (Verona 2011) 22 –39. 27 Si veda ora l’impeccabile edizione di molte di queste suppliche fornita da Nello B, Testi veronesi dell’età scaligera. Edizione, commento linguistico e glossario (Vocabolario storico dei dialetti veneti 6, Padova 2005) specialmente 339ss.

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(il comune di Ferrara, ma anche il regimen periferico della lontana Modena). Alcuni originali di supplica del primo Quattrocento, conservati entro i registri di decreti, ospitano sui margini le annotazioni dei vari funzionari coinvolti, permettendo di ricostruire l’intero iter del provvedimento, concluso dal referente con le parole disponat tamen celsitudo vestra prout ei magis et melius videtur, et ego referens me commendo 28. Sicuramente, la concessione del titolo ducale del 1425 sollecitò poi un nesso più stretto fra le suppliche degli indigenti e dei poveri e una giustizia principesca che si colorava di condiscendente misericordia e seguiva propri percorsi, distinti da quelli della giustizia ordinaria, che divennero via via uno dei canali usuali di „relazione“ fra il principe e le popolazioni soggette: non diversamente da quanto era accaduto nell’eccezionale esperimento di Taddeo Pepoli a Bologna, di un secolo prima. Un po’ più tarda (fine Trecento) la comparsa di registri mandatorum seu decretorum per Padova carrarese (liber in quo registrantur decreta concessa per magnificum et excelsum d.d. Franciscum de Carraria, e si tratta di Francesco Novello signore fra il 1391 e il 1405). La ricchezza delle fonti notarili padovane, non appieno esplorate, lascia pensare che documentazione di qualche consistenza possa in futuro emergere. È tuttavia sin d’ora percepibile, ancora nell’ultimo decennio del secolo, un certo coinvolgimento „collegiale“ nella procedura di esame delle suppliche. Nel 1394 due giuristi, Ottonello Descalzi e Rambaldo Capodivacca, sono infatti incaricati di videre, cognoscere et determinare . . . de commissione consilii civium et ex relatione referendarii, ove è da sottolineare che l’organismo ristretto dei collaboratori del signore è definito consilium civium domini, con un espresso ed esibito riferimento alla matrice „civica“ della signoria carrarese 29. A Mantova infine è nel 1407 che „ebbe inizio la redazione in cancelleria di una serie di registra mandatorum seu decretorum che conteneva atti assai vari“ 30. Si può ritenere forse che nella piccola città, ove il rapporto col signore poteva essere più quotidiano e frequente, sia stata meno veloce l’affermazione di meccanismi di supplica; ancora nel 1430 (solo nel 1433 Gianfrancesco Gonzaga avrebbe ottenuto il titolo di marchese) il signore indice un referendum fra i cittadini, per avere pareri sul governo della città, il che significa che le basi comunali del suo potere erano ancora percepite come vitali. Nel corso del Quattrocento comunque le suppliche indirizzate al principe da parte delle comunità del territorio mantovano appaiono via via „assolutamente standardizzate nella forma e nella veste grafica“; al di là del contenuto, osserva finemente Lazzarini, l’interesse che può presentare questa „forma documentaria rigida“ consiste „nelle fessure per così dire del dettato testuale, nella grafia e l’identità degli scriventi, nelle eventuali correzioni apposte al testo“ 31. 28

Riferimenti essenziali in V, Al magnifico e possente segnoro (vedi nota 25) 75 –77. Ibid. 78 –80. Per il periodo precedente, quello coincidente con il dominio di Francesco il Vecchio (1355 –1388), inclina a una visione un po’ moralistica dello strapotere clientelare carrarese il saggio (risalente al 1972) di Benjamin G. K, Government and Society in Renaissance Padua, in: ., Culture and politics in Early Renaissance Padua (Variorum Collected Studies Series 728, Aldershot 2001) nr. XI, che peraltro non segnala documentazione specifica; così come non la segnala lo stesso studioso nella successiva documentatissima monografia: ., Padua under the Carrara, 1318 –1405 (Baltimore–London 1998). 30 Isabella L, Fra un principe e altri stati. Relazioni di potere e forme di servizio a Mantova nell’età di Ludovico Gonzaga (Nuovi studi storici 32, Roma 1996) 23. 31 Isabella L, Cives vel subditi: modelli principeschi e linguaggio dei sudditi nei carteggi interni (Mantova, XV secolo), in: Linguaggi politici nell’Italia del Rinascimento, Atti del Convegno Pisa 9 – 29

Le suppliche ai signori italiani del Trecento: ideologia, formulari, aspetti diplomatistici

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Le suppliche milanesi dal Trecento al Quattrocento Il caso dei Visconti di Milano merita una pur veloce trattazione a parte, perché grazie agli studi di Covini è quello che, allo stato attuale degli studi, consente di osservare meglio gli esiti quattrocenteschi del fenomeno del quale abbiamo tratteggiato le origini trecentesche: anche perché talvolta i registri sforzeschi della metà del sec. XV riprendono consapevolmente il materiale antico 32. La documentazione superstite è ancora una volta piuttosto scarsa per il Trecento, ma ha tuttavia consentito di disegnare le linee fondamentali del processo. Non sorprende invero che nell’entourage e negli uffici cancellereschi viscontei i presupposti culturali della plenitudo potestatis, e di conseguenza il lessico che esprime i principi derogativi, siano precocemente disponibili: già nel 1334 Azzone Visconti usa la formula de gratia speciali in una concessione di cittadinanza. Attorno alla metà del secolo tuttavia Luchino e Giovanni Visconti sono ancora piuttosto prudenti e adottano „forme timide e sperimentali“ per le loro grazie, rinviando spesso alle magistrature locali. Nel 1388 si procedette a una „ricognizione“ delle grazie concesse, e si redasse il registro che poi fu riesumato nel 1454 33: si trattava complessivamente di „circa 1400 atti relativi a tutte le città del dominio“ (e questa è una peculiarità rilevante del caso lombardo, anche se „ancora nel Quattrocento certi uffici municipali . . . restarono ‚off limits‘ per il principe“), oltre a 400 per Milano. Questi pur numerosi provvedimenti derogativi peraltro non presuppongono di per sé un ricorso alla supplica indiscriminato e generalizzato, e la studiosa milanese è molto attenta a ricordare che nella seconda metà del secolo fu soprattutto Bernabò a ricorrervi, mentre Galeazzo II „scoraggiò severamente la pratica delle suppliche“ 34. Quanto allo sviluppo del formulario, il ricco armamentario sciorinato dai notai viscontei nelle grazie (ex certa scientia, de gratia speciali, ecc.) è frutto anche della loro confidenza con la documentazione europea (imperiale, francese), conseguente al vasto respiro della politica estera dei signori di Milano 35; ma non manca l’attenzione al modello romano-papale. Attorno al 1380, tuttavia „schemi e formule non erano completamente stabilizzati: le clausole in deroga, le formule di convalida e di sigillatura, la cura formale e grafica variavano e in qualche modo venivano proporzionate al grado rilevanza dell’atto, tanto più accurate quanto più la patente si allontanava dal dettato delle leggi statutarie e dagli stessi decreti signorili.“ 36 Nel complesso, peraltro, l’attenzione della studiosa è attratta, per il Trecento, più dalle „matrici ideologiche degli atti di grazia“ (la grazia „divina“ che ha come sfondo la „puissance royale“, la grazia autocratica in quanto concessione spontanea e non sollecitata, la grazia equitativa e arbitrale), che sono già presenti nel Trecento visconteo e sono poi recuperate nella seconda metà del Quattrocento.

11 novembre 2006, a cura di Andrea G–Giuseppe P (I libri di Viella 71, Roma 2007) 89 – 112, citazione 99s. 32 C, De gratia speciali (vedi nota 7) 190: nel 1454 i funzionari sforzeschi recuperano e regestano numerosi registri viscontei degli anni Ottanta del secolo precedente. 33 Si veda la nota precedente. 34 C, De gratia speciali (vedi nota 7) 188 –191 (e nota 27). 35 Ibid. 192. 36 Ibid. 195.

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Nell’immenso universo documentario del carteggio sforzesco (Francesco Sforza divenne duca di Milano nel 1450), molto manipolato dagli archivisti ottocenteschi 37, secondo Covini occorre innanzitutto non irrigidire troppo le distinzioni tipologiche fra documenti di varia natura che tutti rispondono all’esigenza di una comunicazione fra principe e sudditi 38. È una osservazione molto opportuna, che invita a non isolare lo studio della supplica, dei suoi formulari e delle sue caratteristiche; del resto, una serie archivistica intitolata „Suppliche“ non esiste in quell’archivio, e tutta la riflessione critica sullo stato sforzesco di questi ultimi decenni, che tanto bene ha messo a frutto il materiale ricchissimo di quell’archivio, è giocata sui toni e sui temi della negoziazione, del dialogo, della ridefinizione dei linguaggi politici, all’interno del quale anche la supplica si colloca. E tuttavia essa mantiene caratteristiche di rigidezza formale (con la bipartizione fra narratio e supplica vera e propria); segue un iter burocratico ben definito, che prevede un’istruttoria e anche un tariffario; adotta spesso un linguaggio tecnico che presuppone la penna di un giurista, notaio o cancelliere 39. Va ricordato al proposito che nella Milano del secondo Quattrocento esistettero uffici notarili ubi fiunt supplicationes nelle vicinanze della curia arengi; e si sa che Francesco Sforza delegò a un auditore ducale apposito la trattazione delle suppliche che richiedevano competenze tecnico-giuridiche (procedure giudiziarie, salvacondotti, questioni di debiti e di cittadinanza. Un diverso profilo hanno le cosiddette „suppliche di patronage“ („richieste di elemosine, prebende, aspettative di uffici, benefici e concessioni diverse, in particolare di acque“). Ludovico il Moro tuttavia modificò ancora il modus operandi e si coinvolse personalmente in maggior misura nella gestione delle suppliche; ma in buona sostanza si procedette, lungo tutto il secolo, nel solco tracciato dai Visconti, e dalle altre signorie dell’Italia centrosettentrionale, un secolo prima.

Conclusione Nel complesso, e concludendo, anche a proposito della supplica in quanto medium del rapporto fra principe e sudditi, così come in altri campi dell’organizzazione dello stato 40, le città italiane del Trecento e i loro regimi personali si configurano come un

37 Maria Nadia C, Pétitions et suppliques pendant la domination des Visconti et des Sforza au XVe siècle: exception, dérogation et formes simplifiées de justice, in: C–V, Suppliques (vedi nota 16) 47 –71, citazione 47: „le matériel documentaire témoigne bien de l’existence d’un mécanisme établi de réception et d’instruction des pétitions, mais le manque d’une quelconque classification en interdit tout traitement sériel“. 38 Maria Nadia C, Scrivere al principe. Il carteggio interno sforzesco e la storia documentaria delle istituzioni, in: Scritture e potere (vedi nota 10) 1 –32, citazione 4: „si avverte dunque l’esigenza di superare il formalismo dell’analisi di fonti ‚per categorie‘ e di guardare, più ampiamente, al complesso delle scritture prodotte da una data cultura documentaria, ossia a patenti, suppliche, lettere e instrumenti come un vasto ed eterogeneo deposito di scritture provenienti da una medesima istituzione. Considerando il ‚paesaggio‘ delle fonti scritte anziché la singola tipologia, assumono forte rilevanza anche l’aspetto il linguaggio e gli schemi discorsivi, connessi alle forme di alfabetizzazione, alle tradizioni scrittorie e alla ‚literacy‘, ovvero a tutto ciò che forma gli orizzonti di senso e di comunicazione di un’epoca“. 39 Ibid.12s. 40 Valga fra i tanti possibili l’esempio del ruolo, anch’esso crescente nella seconda metà del Trecento signorile italiano, delle consortes domini e della coppia signorile. Si veda al riguardo in generale Muriel

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laboratorio, che certo non ignora del tutto i modelli alti delle monarchie europee e i riferimenti e gli stimoli provenienti dagli ambiti del papato e dell’impero, ma che in buona sostanza elabora originalmente le proprie esperienze: esperienze comunque significative, anche se soltanto in qualche caso, come in quello sforzesco or ora accennato, maturano e si consolidano nel secolo successivo.

G-F, La Reine au Moyen Âge. Le pouvoir au féminin, XIVe –XVe siècle (Paris 2014), e per il caso specifico Gian Maria V, Donne e potere in Verona scaligera e nelle signorie trecentesche. Primi appunti, in: Donne a Verona. Una storia della città dal medioevo ad oggi, a cura di Paola L–Alison S (Caselle di Sommacampagna 2011) 46 –66.

Das Supplikenwesen am spätmittelalterlichen ungarischen Königshof Bence Péterfi

Im Rahmen meines Aufsatzes 1 biete ich einen kurzen Überblick des Supplikenwesens im spätmittelalterlichen Ungarn 2, ohne jedoch das mittelalterliche ungarische Kanzleiwesen und die verschiedenen Gerichtshöfe im Detail darstellen zu können, obwohl dies als Einstieg in das Thema mangels moderner einführender Fachliteratur in deutscher oder englischer Sprache sicherlich nützlich wäre. Nach einer Einleitung über den aktuellen Forschungsstand in Ungarn werden die sehr spezielle Quellenüberlieferung sowie zukünftige Perspektiven der Forschung präsentiert. Trotz großer Quellenverluste wird anschließend die Frage nach der Übermittlung und Behandlung von Bittschriften auf der Basis eines teilweise auf älteren Forschungen beruhenden Modells insbesondere durch die Analyse von Kanzleivermerken behandelt. Darüber hinaus sollen unter anderem der Personenkreis der Supplizierenden, deren Probleme und Misserfolge sowie die Entscheidungsfindung am königlichen Hof thematisiert werden. Dabei sollen insbesondere die bereits im Jahr 1932 von Loránd Szilágyi publizierten Ergebnisse zu diesem Thema revidiert und gegebenenfalls korrigiert werden.

Forschungslage und Quellenüberlieferung Diplomatik und Kanzleiwesen waren neben dem Gerichtswesen nicht nur in Deutschland und in Österreich, sondern auch in Ungarn ein beliebtes Forschungsfeld der Mediävistik. Hier ist insbesondere an die Arbeiten von Loránd Szilágyi (1908 – 1974), Bernát L. Kumorovitz (1900 –1992) sowie von György Bónis (1914 –1985) zu denken. Auf dem Gebiet des Kanzleiwesens am königlichen Hof ist in der älteren 1 Der Autor ist Postdoc-Wissenschaftler des Nationalen Büros für Forschung, Entwicklung und Innovation (NKFIH, Budapest, Ungarn, Nr. PD 124906) am Institut für Geschichte der Ungarischen Akademie der Wissenschaften ([email protected]) sowie Mitarbeiter der ebenda im Jahr 2015 gegründeten „Lendület“-Forschungsgruppe für die mittelalterliche Wirtschaftsgeschichte Ungarns (LP2015-4/2015). An dieser Stelle sei Bálint Lakatos und István Tringli herzlich für ihre Hinweise gedankt. – Abkürzungen: DL = Magyar Nemzeti Levéltár Országos Levéltára, Diplomatikai Levéltár [Staatsarchiv des Ungarischen Nationalarchivs, Diplomatische Urkundensammlung]; DF = ebd., Diplomatikai Fényképgy˝ujtemény [Diplomatische Fotosammlung]. 2 Als Spätmittelalter wird in der ungarischen Fachliteratur üblicherweise der Zeitraum von 1301 (Ende der Dynastie der Árpáden) bis 1526 (die Schlacht von Mohács) bezeichnet.

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ungarischen Forschung trotz ihres hohen wissenschaftlichen Niveaus zuweilen eine gewisse Mystifizierung zu bemerken, insbesondere hinsichtlich der Rolle der spätmittelalterlichen Kanzlei bzw. des Kanzlers, wobei diesen möglicherweise von der diplomatischen Forschung eine größere Bedeutung bei Hofe zugeschrieben wurde, als sie wirklich besaßen. So bleiben in diesem Bereich selbst einige grundlegende Fragen unbeantwortet, etwa wie viele Kanzleien bzw. Kanzleiabteilungen in Ungarn tatsächlich existierten (die cancellaria maior für die Regierung und Außenpolitik bzw. die cancellaria minor für die Gerichtsbarkeit) oder ob diese „Abteilungen“ über ein oder mehrere Siegel verfügten 3. An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass die Kanzlei, der selbst keinerlei Gerichtsfunktion zukam, eine wichtige Rolle bei der Ausstellung von Urkunden und beim Vermitteln von Anliegen spielte. Auf der Grundlage älterer Fachliteratur und zahlreicher bislang unpublizierter Quellen bot Loránd Szilágyi eine heute teilweise veraltete Gesamtdarstellung des ungarischen Kanzleiwesens mit dem Schwerpunkt auf der Tätigkeit des Kanzleipersonals unter Matthias Corvinus und der ungarischen Regierung der jagiellonischen Könige (1458 –1526). Szilágyi hat das im Ungarischen Staatsarchiv überlieferte Urkundenmaterial auch statistisch auszuwerten versucht, um auf diesem Weg die vermuteten Aufgabengebiete einzelner Referenten zu erschließen bzw. einen groben Überblick über die Gewichtung unterschiedlicher Materien zu gewinnen 4. Bernát Lajos Kumorovitz beschäftigte sich insbesondere mit der Siegelkunde und legte aus diesem Blickwinkel eine Studie des dafür zuständigen Amtes vor 5. György Bónis erarbeitete eine erste detaillierte prosopographische Untersuchung zum Personal der Gerichtshöfe der vier Großrichter Ungarns (Palatin [palatinus], Landesrichter [iudex curiae], Tarnackmeister [magister tavernicorum], sog. Personal [personalis presentiae regiae locumtenens; ungarisch: személynök]) sowie zu den in der Kanzlei tätigen Personen. Durch die Auswertung umfassender Quellenbestände konnte er nicht nur ein genaueres Bild über die in diesen Bereichen tätigen Juristen gewinnen, sondern darüber hinaus auch wichtige allgemeine Beiträge zu Gerichtsbarkeit und Kanzleiwesen im Spätmittelalter publizieren 6. In diesem Zusammenhang muss auch András Kubinyi (1929 –2007) genannt werden, der – die obengenannten Methoden kombinierend – einige wichtige kleinere Beiträge (z. B. zu den Sekretären König Ludwigs II. [1516 –1526]) 7 und größere Studi-

3 Zu einer Übersicht über Siegelgebrauch und Kanzleiwesen von Matthias Corvinus siehe Richárd H, Itineraria regis Matthiae Corvini et reginae Beatricis de Aragonia (1458 –[1476] –1490) (História könyvtár. Kronológiák, adattárak [Bibliothek „Historia“. Chronologien, Lexika] 12 = Subsidia ad historiam medii aevi Hungariae inquirendam 2, Budapest 2011) 21 –52 (in ungarischer Sprache). 4 Loránd S, A királyi kancellária szerepe az államkormányzatban, 1458 –1526 [Die Rolle der königlichen Kanzlei in der Regierung Ungarns, 1458 –1526]. Turul 44 (1930) 45 –83 (auch als Sonderdruck erschienen). 5 Zusammenfassend siehe Bernát Lajos K, A magyar pecséthasználat története a középkorban [Die Geschichte des mittelalterlichen Siegelgebrauchs in Ungarn] (Budapest 1944, Nachdr. Budapest 1993). 6 György B, A jogtudó értelmiség a Mohács el˝otti Magyarországon [Die gelehrte Juristenschicht vor der Schlacht von Mohács in Ungarn] (Budapest 1971). 7 András K, A királyi titkárok II. Lajos király uralkodása idejében [Die königlichen Sekretäre während der Regierung König Ludwigs II. von Ungarn-Böhmen]. Gesta 6 (2006) 3 –22. Eine vergleichbare Untersuchung für den Zeitraum von 1502 bis 1515 bietet Tamás F, Egy Jagelló-kori humanista pályaképe: Csulai Móré Fülöp (1476/1477 –1526) [Der Karriereweg eines Humanisten im Zeitalter der

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en 8 vorlegte. Das Thema „Supplikenwesen“ wurde aufgrund der erwähnten disparaten Überlieferungssituation bislang wenig berührt. Es war erneut Loránd Szilágyi, der das spätmittelalterliche Supplikenwesen am ungarischen Königshof, wohl als Fortsetzung seiner Dissertation, im Rahmen eines Aufsatzes behandelte. Er zitierte dabei zumeist Urkundenbücher bzw. einige neue Quellenfunde im Ungarischen Staatsarchiv, die er im Anhang seiner Studie auch edierte. Die Zielrichtung dieser Studie entspricht dabei wohl jener seiner Dissertation, nämlich nachzuweisen, dass den einzelnen Personen bestimmte Aufgabenbereiche (Referenzgebiete usw.) zugeordnet waren 9. Szilágyi hat nach Archivstudien in Wien und Budapest auch die ungarische Kanzlei in der frühen Neuzeit, d. h. nach der Schlacht von Mohács, untersucht, als Ungarn und Böhmen bereits Teile einer zusammengesetzten Monarchie waren. In einer umfassenden Studie schreibt er den königlichen Sekretären einen großen Einfluss auf die Kanzleiarbeit zu und bezeichnet sie – und nicht den Oberkanzler – als eigentliche Zentralfiguren 10, eine Ansicht, die nicht nur in Hinsicht auf die mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Verhältnisse überzogen erscheint 11. Obwohl Szilágyi ankündigte, das Thema der Supplikationen zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgreifen zu wollen, kam es nicht mehr dazu, da seine Notizensammlung – möglicherweise in den Wirren des zweiten Weltkriegs – verloren ging 12. Jeder Forscher, der sich mit der mittelalterlichen Geschichte Ungarns beschäftigt, ist mit dem schwerwiegenden Problem konfrontiert, dass eine große Zahl an Familien-, Gemeinde- und Kirchenarchiven und insbesondere das ehemalige königliche Archiv während der osmanischen Besetzung Ungarns im 16. und 17. Jahrhundert unwiederbringlich verloren gegangen sind. An archivalischen Quellen stehen lediglich einige Bestände in Kirchen-, Familien- und Stadtarchiven zur Verfügung. Das heißt, dass gerade das am königlichen Hof einlaufende Schriftgut vernichtet wurde. Es sind keine Registraturbücher und nur einige wenige Konzepte und Abschriften aus der königlichen Kanzlei überliefert. Zudem ist in privaten Archiven mit einem großen Quellenverlust zu rechnen, da Akten (z. B. Rechnungen, Rechnungsbücher und wohl

Jagiellonen: Philip Móré von Csula (1476/1477 –1526)]. Levéltári Közlemények 78 (2007) 35 –84, hier 55 – 58. 8 András K, Die Staatsorganisation der Matthiaszeit, in: ., Matthias Corvinus. Die Regierung eines Königreichs in Ostmitteleuropa, 1458 –1490 (Studien zur Geschichte Ungarns 2, Herne 1999) 5 –96, hier bes. 30 –45 (Kapitel „Die Kanzleien“). 9 Loránd S, Írásbeli supplicatiók a középkori magyar administratióban [Schriftliche Supplikationen in der mittelalterlichen Administration Ungarns]. Levéltári Közlemények 10 (1932) 157 –176. 10 D., A királyi secretariusok intézménye és az újkori magyar állam [Die königlichen Sekretäre und der ungarische Staat in der Neuzeit], in: Emlékkönyv D Sándor születése hatvanadik fordulójának ünnepére [Festschrift anlässlich des 60. Geburtstages von Sándor D] (Budapest 1937) 547 –561. 11 Obwohl István Fazekas das von Szilágyi entworfene Bild nicht ausdrücklich kritisiert, kommt in seiner Studie zur Ungarischen Hofkanzlei den Sekretären keine bedeutende Rolle zu; vgl. dazu die in Anm. 24 genannte Literatur. 12 Vgl. György G, A magyar krónikák adata a III. Béla-kori petíciókról [Die Erwähnung von Petitionen aus der Zeit König Bélas III. in den ungarischen Chroniken], in: Középkori kútf˝oink kritikus kérdései [Problematische Stellen der mittelalterlichen Quellen Ungarns], hg. von János H–György S (Memoria saeculorum Hungariae 1, Budapest 1974) 333 –338, hier 335.

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auch die Suppliken), denen keine rechtliche Relevanz zukam, häufig unter anderem in Papiermühlen verschwanden 13. Daraus ergibt sich eine besondere Überlieferungssituation; hinzu kommt noch die starke regionale Streuung des Materials, die aber wohl für weite Bereiche Mittelund Osteuropas (Böhmen, Polen, Serbien, Walachei, Moldau) charakteristisch ist 14. Allerdings hat sich gerade in den letzten Jahren die Ausgangssituation für die hier zu behandelnde Fragestellung wesentlich verbessert. Dies ist insbesondere den umfassenden Digitalisierungsprojekten zu verdanken, die insbesondere für das ungarische Quellenmaterial große Vorteile bieten. So ist nicht nur die Urkundensammlung des Staatsarchivs des Ungarischen Nationalarchivs (Diplomatikai Levéltár / Diplomatische Urkundensammlung), sondern auch eine umfangreiche Fotosammlung von Hungarica aus zahlreichen Archiven Europas (Diplomatikai Fényképgy˝ujtemény / Diplomatische Fotosammlung) seit einigen Jahren online verfügbar, wodurch die gesamte ungarische Mediävistik – ohne Übertreibung – revolutioniert (und nicht zuletzt revitalisiert) wurde 15. Die Datenbank beinhaltet nicht nur Urkunden im engeren Sinn, sondern auch Briefe, Rechnungsbücher, Quittungen, diplomatische Korrespondenz usw. Den Anstoß für den Aufbau der Urkunden- und Fotosammlung gab wohl die oben erwähnte Zerstörung wichtiger Archivbestände. Die Bedeutung dieser Datenbank hat die ursprünglichen Erwartungen weit übertroffen. So kann der Forscher durch deren Benützung Zeit und Energie sparen. Auch die Art und Weise der Beschäftigung mit dem Quellenmaterial hat sich verändert. So ist es nun möglich, eine gezielte Suche nach Quellen zu einem bestimmten Zeitraum, einem bestimmten Aussteller (Itinerare, Siegelgebrauch usw.) oder nach anderen Aspekten zu tätigen. Somit eröffnen sich Perspektiven (selbst für quantitative Analysen), von denen unsere wissenschaftlichen Vorgänger kaum träumen konnten. Man kann auch nach Quellentypen, etwa Suppliken, suchen, doch sollte man berücksichtigen, dass die Suche nicht zu sämtlichen möglichen Belegen führt. Im Vergleich zu den Möglichkeiten zur Zeit von Szilágyi oder den bereits verbesserten Forschungsbedingungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind wir heute somit in einer ausgesprochen günstigen Situation. Dank der Datenbank ist es kaum verwunderlich, dass nun wesentlich mehr relevante Quellen aufzufinden sind, obwohl deren Zahl etwa mit der italienischen Quellenüberlieferung keineswegs zu vergleichen ist. Während Szilágyi nur einige wenige Suppliken (zehn Stücke) in seinem Aufsatz zitierte, die überwiegend aus verschiedenen Urkundenbüchern stammen 16, konnte

13 Vgl. Pál E, The Realm of St. Stephen. A History of Medieval Hungary, 895 –1526 (International Library of Historical Studies 19, London 2001) xv –xix. 14 Für die ungewöhnlich reiche englische und die vergleichsweise schlechte französische Überlieferung siehe Gwilym D–Sophie P-R, Grace and Favour. The Petition and Its Mechanisms, in: Government and Political Life in England and France, c. 1300 –c. 1500, hg. von Christopher F–Jean-Philippe G–John W (Cambridge 2015) 240 –278, hier 241 –243. Für Norditalien und das Heilige Römische Reich deutscher Nation siehe die Beiträge im vorliegenden Band. 15 Vgl. György R, Collectio Diplomatica Hungarica. Medieval Hungary Online. The Online Portal of the National Archives of Hungary on Medieval Charters. AfD 56 (2010) 423 –444. Die OnlineDatenbank ist unter https://archives.hungaricana.hu/en/charters/ [2. 10. 2018] abrufbar. 16 Ich zitiere nur die Signaturen in chronologischer Ordnung (ohne die bei Szilágyi ggf. angeführten Zusatzinformationen): DL 81140 (1453), DF 228777 (1456), 228783 (1457), DF 256310 (ca. 1459), DL 56669 (1470 –1490), DF 207959 (nach 1490), DL 31939 (ca. 1500), DL 21153 (1503), DF 208116

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ich bisher – inklusive der bereits von Szilágyi ausgewerteten Stücke und abgesehen von den thematisch ähnlichen, nicht immer leicht abgrenzbaren Beschwerdeschriften / Gravamina 17 – schon mehr als 110 an den König gerichtete Suppliken sammeln; 14 davon sind allerdings lediglich in regestenartiger Kurzfassung und undatiert auf zwei Blättern überliefert 18. Dazu kommen noch einige Bittschriften an andere einflussreiche Hofpersonen 19 oder an die Königin 20, deren Absender diese zumeist um Vermittlung anriefen. Abgesehen von einigen Mischbeständen des Ungarischen Nationalarchives sind die wichtigsten Fundorte der Suppliken weniger die Familienarchive, sondern vielmehr die Stadtarchive: Ödenburg / Sopron, Pressburg / Bratislava 21, Bartfeld / Bardejov, Preschau / Prešov 22. In Familienarchiven findet man häufig originale, manchmal mit Kanzleivermerken versehene Bittschriften, die die Supplizierenden wahrscheinlich zurück erhielten, worauf ich weiter unten näher eingehen werde. In städtischen Archiven ist hingegen eine große Anzahl von Suppliken in Form von Konzepten überliefert. Allerdings fehlen leider zumeist andere Quellen zu den darin thematisierten Angelegenheiten, also etwa weitere Suppliken, Urkunden oder Briefwechsel zum gleichen Thema. Zudem handelt es sich bei den jeweiligen Supplizierenden – mit Ausnahme (ca. 1517), DL 24109 (1525). Die hier und im Folgenden angeführten Urkunden sind über die oben erwähnte Datenbank online einsehbar. 17 Zur empfohlenen Unterscheidung von Suppliken und Beschwerdeschriften siehe Nadja K, Frauen in Notlagen. Suppliken an Maximilian I. als Selbstzeugnisse (QIÖG 17, Wien 2018) 26 f. (mit weiterführenden Literaturangaben). 18 ˇ Prag, Národní archiv, Ceské gubernium, Guberniální listiny [Nationalarchiv, Böhmisches Gubernium, Gubernialurkunden] Nr. 4950, http://monasterium.net/mom/CZ-NA/CGL/4950/charter [3. 10. 2018]; Druck: Karel B, Když nastoupil nový král. Pˇríspˇevek k uherské diplomatice [Als der neue König auftrat. Ein Beitrag zur ungarischen Diplomatie]. Paginae historiae 1 (1993) 5 –11. Laut Tibor Neumann handelt es sich um einen zeitgenössischen Auszug aus einem heute verschollenen Formelbuch. 19 Z. B. an den Tarnackmeister: DF 240889 (zwischen 1375 und 1390) u. a. 20 Z. B. DL 2338 (ca. 1325), DL 37837 (1508), DL 82809 (ca. 1440); Sopron szabad királyi város története (Die Geschichte der königlichen Freistadt Ödenburg), hg. von Jen˝o H (Sopron 1921 –1943) II / 6 (1943) 71 –72 Nr. 80 (= DF 204813, vor 1424), 322 f. Nr. 247 (= DF 204982. ca. 1523) u. a. 21 Zum Urkundenbestand des Pressburger Stadtarchivs stehen mehrere im Druck erschienene, slowakischsprachige Regestenbände zur Verfügung: Inventár stredovekých listín, listov a iných príbuzných písomností [Inventar mittelalterlicher Dokumente, Briefe und anderer Schriftstücke], bearb. von Darina L et al. (Praha 1956); Inventár listín a listov II. [Inventar von Dokumenten und Briefen II] (1501 –1563), bearb. von Vladimír H (Bratislava 1966), bzw. Inventár listín a listov [Inventar von Dokumenten und Briefen] (1564 –1615), bearb. von Vladimír H (Inventáre a katalógy fondov okresných na Slovensku 18, Maschinenschrift s. l. 1966). Deutsche Auszüge gibt es nur von den ursprünglich auf Deutsch verfassten Stücken. Vgl. Deutschsprachige Handschriften in slowakischen Archiven. Vom Mittelalter bis zur Frühen Neuzeit 1 –3, hg. von Jörg M–Ilpo P–Klaus-Peter W et al. (Berlin–New York 2009) 1, bearb. von Juraj S 3 –537 (bis 1563). Die Urkunden des Stadtarchivs sind neuerdings auch auf der Homepage „Monasterium.net“ abrufbar: http://monasterium.net/mom/SKAMB/362/fond [3. 10. 2018]. 22 Einen guten Einblick in die Urkundenreihe bieten die Regesten in ungarischer Sprache von Béla I, Bártfa szabad királyi város levéltára (1319 –1526) (Das Archiv der königlichen Freistadt Bartfeld [1319 –1526]) 1: 1319 –1501 (Budapest 1910), bzw. ., Eperjes szabad királyi város levéltára. Archivum liberae regiaeque civitatis Eperjes, 1245 –1526 (Acta Litterarum ac Scientiarum Reg. Universitatis Hung. Francisco-Josephinae, Sectio Juridica – Politica, 2, Szeged 1931). Deutsche Auszüge sind lediglich von den ursprünglich in deutscher Sprache verfassten Quellen aus dem Stadtarchiv Bartfeld verfügbar (das Stadtarchiv Preschau fehlt hingegen). Vgl. Deutschsprachige Handschriften (wie Anm. 21) 3, bearb. von Josef P–František Ž 413 –690.

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der Städte – stets um unterschiedliche Personen, sodass eine nähere Kontextualisierung der einzelnen Fälle kaum möglich ist. Es muss zukünftigen Forschungen vorbehalten bleiben zu entscheiden, ob die mittelalterliche Kanzleipraxis, d. h. in diesem Zusammenhang insbesondere das Supplikenwesen, der von König Ferdinand I. im Jahr 1528 gegründeten ungarischen Hofkanzlei – zumindest bis zur ersten großen Umstrukturierung unter der 25 Jahre andauernden Kanzleileitung des Nicolaus Olahus (Oláh Miklós) – sowie der „anderen“ Herrscherkanzlei, d. h. derjenigen von König Johann Szapolyai (veraltet: Zápolya) 23, dem späteren Fürsten von Siebenbürgen, als Vorbild diente 24. Es ist auffallend, wieviel älteres Material in den „Ungarischen Akten“ im Haus-, Hof-, und Staatsarchiv (Österreichisches Staatsarchiv) zu finden ist, das teilweise bereits vor Jahrzehnten veröffentlicht wurde. Es ist kaum zu bezweifeln, dass sich die Vorgänge der Konzipierung und Formulierung von Schriftstücken in den neu geschaffenen Kanzleien nicht wesentlich von den älteren Gewohnheiten kurz vor der Schlacht von Mohács unterschieden haben 25.

Ursprünge und eine lange Übergangsperiode „Die Ungarn beklagten sich des Öfteren: entgegen dem Gewohnheitsrecht des Landes und zu ihrer Unterdrückung befahl der König nach seinem Willen, dass die Adeligen, welches Ansehen auch immer sie genossen, ihre Angelegenheiten am Königshof nicht erledigen oder den König persönlich sprechen konnten, sondern sie hatten den Kanzlern ihre Supplikationen vorzubringen und das gütliche Ende der Angelegenheit abzuwarten. Denn es wurden die meisten am Hof für sehr gering geachtet, so sehr, dass sie Pferde und andere Dinge als Geschenke aufwenden mussten und trotzdem oft unverrichteter Dinge heimkehrten. Denn die Kanzler benachteiligten oder bevorzugten manche nach Gutdünken, und das geschehe, wie sie sagten, deswegen, weil man erst dann mit dem König sprechen konnte, nachdem sie schon den Kanzler besucht hatten. Deswegen wurde allgemein und öffentlich davon gesprochen, dass die 23 Die Namensform „Zápolya“ wird in der älteren ungarischen und auswärtigen Fachliteratur verwendet und ist bis heute üblich, allerdings wären aufgrund der in den Quellen überlieferten Form „de Zapolya“ die Varianten „Zápolyai“ und insbesondere „Szapolyai“ zu bevorzugen. 24 Zur Zeit beschäftigt sich István Fazekas mit der Geschichte der Ungarischen Hofkanzlei im 16. und 17. Jahrhundert mit einem Ausblick auf das 18. Jahrhundert. Zu einem kurzen Überblick über den aktuellen Forschungsstand siehe ., Humanisten und Juristen. Das Personal der Ungarischen Hofkanzlei in der frühen Neuzeit (1526 –1690), in: Institutions of Legal History with Special Regard to the Legal Cul ture and History, hg. von Gábor B–Diana D –Anna F–István K–Zsuzsanna P (Pécs 2011) 321 –331, sowie ., Die Geschichte der Ungarischen Hofkanzlei (1527 –1867) und der Siebenbürgischen Hofkanzlei (1695 –1867), in: Das ungarische Botschaftsgebäude in Wien. Studien zur Amts- und Kunstgeschichte, red. Gábor Ú (Wien 2012) 49 –65, bes. 49 –51. Vgl. noch ., Ungarische Kläger in Wien. Die Tätigkeit der Ungarischen Hofkanzlei auf dem Gebiet der Gerichtsbarkeit (1526 –1727). Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 6 (2016) 207 –217. 25 Vgl. z. B. Monumenta Habsburgica regni Croatiae, Dalmatiae, Slavoniae 1: 1526 –1530, hg. von Aemilius L (Monumenta spectantia historiam Slavorum meridionalium 35, Zagrabiae 1914) passim (Diese Reihe von Urkundenbüchern basiert in erster Linie auf den sogenannten Ungarischen Akten im Haus-, Hof- und Staatsarchiv des Österreichischen Staatsarchivs, beschränkt sich jedoch auf die südlich der Drau gelegenen Gebiete Slawoniens und Kroatiens).

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Kanzler ihre eigentlichen Könige seien, und sie meinten, sie hätten gar keinen anderen König“ 26. So schrieb Magister Rogerius, als er in dem von ihm verfassten Carmen miserabile über den „vierten Grund des Hasses“ zwischen König Béla IV. (1235 –1270) und den Ungarn berichtete. Das Hauptthema seines Werkes bilden der Ablauf und die Auswirkungen des verwüstenden Mongoleneinfalls in den Jahren 1241/42, der nicht nur Ungarn, sondern den gesamten östlichen Teil Europas und insbesondere auch Polen und Russland schwer traf. Die Gegend von Großwardein / Oradea wurde dabei ebenfalls nicht verschont: Es ist somit kein Zufall, dass der in Süditalien geborene Rogerius als Domherr in Großwardein die Wirren dieser Zeit lebendig schildern konnte. Der Zusammenbruch der königlichen Macht, der allgemeine Kontrollverlust und das damit verbundene Chaos lösten einen großen Schock unter den Bewohnern des für mächtig und reich gehaltenen Landes aus, in dem der König auch der bei weitem größte Grundbesitzer und als Nachfahre des Staatsgründers und heiligen Königs Stephan I. (1000 –1038) mit nicht wenig geistlichem Charisma ausgestattet war. Die Zeitgenossen suchten daher nach „Erklärungen“ für das Geschehene, und Magister Rogerius bietet am Beginn seines Werkes ein entsprechendes Narrativ; er führt fünf Klagen der Bewohner Ungarns und fünf Antworten des Königs darauf an. Wie wir der oben zitierten Stelle entnehmen können, fand hier auch das Thema des Supplikenwesens Erwähnung, das sich bei den Ungarn offensichtlich geringer Beliebtheit erfreute, obwohl die königliche Replik auf ihre Beschwerde so lautete: „Da – infolge der vielfachen Gegensätze und durch Gewohnheiten entstandenen Privilegien – nahezu das gesamte Königreich Ungarn in Unordnung geraten war, und da der König auch den heftigen Wunsch hatte, diese Zustände mit allen Kräften zu ändern, hielt er es aufgrund einer umsichtigen Überlegung für richtig, festzusetzen, dass die Angelegenheiten der Bewohner seines Reiches nach Art des Römischen Hofes durch Bittschriften (per petitiones – B. P.) an seinem Hof vorgebracht werden. Er befand sich nämlich in einer schwierigen Lage und konnte deshalb nicht jedem einzelnen Gehör schenken. Bezüglich der Petitionen trug er seinen Kanzlern auf, die leichten und einfachen Dinge möglichst schnell selbst zu erledigen, an ihn aber nur die dringenden und schwerwiegenden heranzutragen. Und das verfügte er deshalb, damit die Schwierigkeiten – wie es sich gehört – schnell beseitigt werden. Doch die Schlechtgesinnten drehten das, was zur Linderung der Not der Unterdrückten erfunden worden war, ins

26 Quarta odii causa inter regem Belam et Hungaros. Item sepius conquerebantur, quod rex contra regni consuetudinem in depressionem eorum, prout voluit, ordinavit, quod, qualiscunque eminentie fuerint nobiles, in eius curia negotium movere aut sibi horetenus loqui nequirent, nisi supplicationes cancellariis porrigerent, et exinde finem negotii expectarent. Propter quod plerique pro minimo tantum in curia tenebantur, quod equos et res alias pro expensis expendere cogebantur et multotiens non expeditis negotiis recedebant. Nam cancellarii, ut dicebant, pro eo, quod nisi per ipsos requisitos regi loqui poterant, deprimebant et sublevabant aliquos, ut volebant, propter quod illos suos reges esse generaliter et publice fatebantur et regem alium non habere se dicebant. – Letzte Ausgabe des lateinischen Textes in: Gesta Hungarorum Anonymi Bele regis notarii / The Deeds of the Hungarians. Epistola in miserabile carmen super destructione regni Hungarie per Tartaros facta Magistri Rogerii / Epistle to the Sorrowful Lament upon the Destruction of the Kingdom of Hungary by the Tatars, übers. von Martyn R–László V–János M. B (Central European Medieval Texts 5, Budapest–New York 2010) 144 –147. Deutsche Übersetzung (mit kleineren Veränderungen im Text durch den Autor): Des Magisters Rogerius, Domherrn aus Großwardein, Carmen miserabile, übers. von Helmut Stefan M (Burgenländische Bibliothek, Eisenstadt 1979) 19.

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Gegenteil und trachteten in lügenhafter Weise danach, einen Knoten in der Schnur und ein Haar in der Suppe zu finden“ 27. Was die höchst interessanten und recht frühen Angaben zum Kanzlei- und Supplikenwesen in Ungarn betreffen, so fragt sich die Forschung seit langem, wie viel aus der Beschreibung von Magister Rogerius für „wahr“ zu halten oder – besser gesagt – wie viel davon durch andere Quellen untermauert werden kann. Wir verfügen wohl über zwei annähernd gleichlautende indirekte Angaben in der Chronik von Simon von Kéza aus den 1280er Jahren und in der aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhundert stammenden Fortsetzung der ungarischen Hofchronik, die berichten, dass das Supplikenwesen nach dem Vorbild der römischen Kurie sowie des Reiches von König Béla III. (1172 –1196) begründet worden sei 28. In der ungarischen Forschung gilt es aber seit dem Aufsatz von György Györffy für gesichert 29, dass es in dieser Textpassage nicht um König Béla III., sondern um seinen Enkel, König Béla IV., geht, den auch der erwähnte Autor des Carmen miserabile als Verantwortlichen für die Einführung des Supplikenwesens nennt. Als einziger direkter Beleg für dieses gilt ein ziemlich lakonischer Satz unter den Gesetzen des Jahres 1267. Der zehnte und somit letzte Punkt handelt nämlich von Suppliken, deren Einreichung in Fällen von nobiles als Petenten nicht gefordert werde 30. Alles spricht somit für die Glaubwürdigkeit der zitierten Passage bei Rogerius. Wenn wir vom grundsätzlichen Einfluss der römischen Kurie und des Heiligen Römischen Reichs auf den ungarischen Königshof absehen, der als selbstverständlich zu erachten ist, so kann das konkrete Bild von der Supplikationspraxis im 13. Jahrhundert ohne weitere Quellen 31 nicht einmal andeutungsweise skizziert werden. Obwohl

27 Responsio ad quartam odii causam. Cum esset propter diversitates multiplices et ritus diversos pene totum regnum Hungarie deformatum et rex ad reformationem eius totis viribus anhelaret et implicitus rebus arduis nequiret singulis audientiam benevolam exhibere, duxit deliberatione provida statuendum, quod negotia suorum regnicolarum deberent ad instar Romane curie per petitiones in sua curia expediri, suis cancellariis ita mandans, quod per se levia et simplicia negotia expedirent, quantocius possent, ad suum auditorium ardua et gravia perferentes. Hoc ideo faciebat, ut negotia finem debitum velociter sortirentur. Sed malevoli, quod ad levamen oppressorum fuerat adinventum, ad iniquum compedium retorquentes nodum in stupa et pilum in ovo invenire mendaciter satagebant. Gesta Hungarorum Anonymi (wie Anm. 26) 152 f. Für die Übersetzung siehe: Rogerius, Carmen miserabile (wie Anm. 26) 27, 29. 28 Hic quidem fures et latrones persecutus est petitionibusque loqui traxit originem, ut Romana habet curia et imperii, Simonis de Keza Gesta Hungarorum, ed. Alexander D, in: Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum, ed. Emericus S (Budapest 1937, Nachdr. ebd. 1999) 129 –194, hier 183; Postea regnavit Bela frater eius, qui fures et latrones persecutus est et petitionibus loqui traxit originem, ut Romana habet curia et imperii, Chronici Hungarici compositio saeculi XIV, ed. Alexander D, in: ebd. 217 –505, hier 462. (Hofchronik). 29 G, A magyar krónikák (wie Anm. 12). 30 Item cause nobilium sine petitionibus debeant expediri. Letzte Ausgabe: The Laws of the Medieval Kingdom of Hungary. Decreta regni mediaevalis Hungariae, 5 Bde., ed. und übers. von János M. B et al. (Idyllwild–Salt Lake City–Los Angeles–Budapest 1989 –2012) 1 43. Zur Neubewertung des Entstehungsklimas der Gesetze siehe Attila Z, Családi ügy. IV. Béla és István ifjabb király viszálya az 1260-as években [Eine Familienangelegenheit. Der Streit zwischen König Béla IV. und dem jüngeren König Stephan in den 1260er Jahren] (História könyvtár. Monográfiák 24, Budapest 2007) bes. 102 –111. Zu den nobiles siehe E, Realm (wie Anm. 13) 119 –122. 31 Györffy nennt noch eine von ihm als Supplik bewertete Urkunde aus dem Jahre 1299 (G, A magyar krónikák [wie Anm. 12] 337 f.), diese ist allerdings nach Meinung von Tibor Sz˝ocs eher als ein an den Vizelandesrichter (viceiudex curiae) adressierter Bericht zu interpretieren.

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die Zeit zwischen 1230 und 1267 für wesentliche Transformationen zu kurz gewesen sein dürfte, kann man dennoch annehmen, dass wahrscheinlich schon in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts bestimmte Entscheidungen ohne Kenntnis des Königs in der Kanzlei getroffen wurden, worauf bereits das zweite Zitat von Rogerius hinweist 32. Der Grad an Schriftlichkeit dürfte spätestens um die Jahrhundertmitte zugenommen haben, worauf nicht nur die deutlich höhere Zahl an überlieferten Urkunden aus der zweite Hälfte des 13. Jahrhundert, sondern auch die Verbreitung und endgültige Etablierung der sogenannten glaubwürdigen Orte (kirchliche Institutionen mit Beglaubigungsrechten wie öffentliche Notare 33) hinweist. Aus der Formulierung der Urkunden ergibt sich eindeutig, dass die römische Kurie schon im hochmittelalterlichen Ungarn einen großen Einfluss auf das ungarische Urkundenwesen ausgeübt hat 34. Schon Loránd Szilágyi ist der Mangel an Suppliken an den ungarischen König aufgefallen, gerade im Vergleich zum gleichzeitigen päpstlichen Supplikenwesen in Rom, wo man in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts begann, die einlaufenden Bittschriften in eigene Register einzutragen. Für die Zeit ab der Mitte des 14. Jahrhunderts liegen publizierte Regesten aus den Supplikenregistern auch für Ungarn vor, unter denen sich auch Suppliken von Ungarn, aber auch von dem in Ungarn regierenden Königshaus der Anjou befinden 35. Wir könnten auch das Geburtsland von Karl I. von Ungarn (1310 –1342) erwähnen, wo die schriftliche Administration bereits im 13. Jahrhundert ein hohes Niveau erreichte 36. Hingegen ist bis in die 1350er Jahre keine an den ungarischen König eingereichte Bittschrift überliefert 37, bis zum Jahr 1450 sind insgesamt ca. 20 Stücke bekannt. Obwohl thematisch keine großen Unterschiede zwischen den mittelalterlichen Stücken zu bemerken sind, unabhängig davon, ob eine Bittschrift aus den 1420er Jahren stammt oder 100 Jahre später verfasst wurde, so ist es trotzdem möglich, eine Zäsur zu ziehen. Hinsichtlich der Periodisierung des ungarischen Supplikenwesen ist bis heute der These Szilágyis zuzustimmen, mit der auch András Kubinyi überein-

32 Wie Anm. 27. Auch hierzu konnte ich das in der vorigen Anmerkung erwähnte Manuskript von Tibor Sz˝ocs benützen. 33 Vgl. E, Realm (wie Anm. 13) 122 f., sowie Ferenc E, Die glaubwürdigen Orte Ungarns im Mittelalter, in: MIÖG Ergbd. 9/2 (Innsbruck 1914) 395 –558 (auch als Sonderdruck erschienen). 34 László S, Der Einfluß der päpstlichen Kanzlei auf das ungarische Urkundenwesen bis 1250, in: Papsturkunde und europäisches Urkundenwesen. Studien zu ihrer formalen und rechtlichen Kohärenz vom 11. bis 15. Jahrhundert, hg. von Peter H–Hermann J (AfD Beih. 7, Köln–Weimar–Wien 1999) 87 –96. 35 Vgl. S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 163 f., bzw. Regesta supplicationum. A pápai kérvénykönyvek magyar vonatkozású okmányai. Avignoni korszak [Ungarische Bezüge in den an der römischen Kurie eingereichten Supplikationen. Das avignonesische Zeitalter], 2 Bde., hg. von Árpád B (Budapest 1916 –1918) passim. 36 Vgl. z. B. Eduard S, Beiträge zur Verfassungs- und Verwaltungsgeschichte des Königreichs Sizilien im Mittelalter, hg. von Hubert H (Aalen 1994). 37 Die beiden ältesten Stücke stehen in Zusammenhang mit Zehentrechten im siebenbürgischen Burzenland. Ungarische Regesten mit weiteren Angaben: Codex diplomaticus Transsylvaniae. Diplomata, epistolae et alia instrumenta litteraria res Transsylvanas illustrantia, hg. von Sigismundus J–Geysa H–Andreas W. K, 4 Bde. (Publicationes Archivi Hungariae Nationalis II / 26, 40, 47, 53, Budapest 1997 –2014) 3 235 f. Nr. 618 (= DF 286636) sowie 236 Nr. 619 (= DF 286637). Vgl. ebd. 293 ohne Nr. (unter der falschen Datierung „vor 9 Juli 1355“).

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stimmt 38: Die zunehmende Zahl an Suppliken sowie die Tendenz zur Vereinheitlichung formaler Aspekte sind mit der Regierungszeit von Matthias Corvinus (1458 – 1490) zu verbinden. Der Einfluss der kurialen Praxis ist – 200 Jahre nach dem Bericht des Rogerius – in den 1450er Jahren augenfällig, worauf bereits Szilágyi hingewiesen hat 39. Auch hat dieser bereits beobachtet, dass manche Suppliken von gleicher Hand oder mit einem gleichartigen Duktus geschrieben worden sein dürften. Einige der ungarischen Bittschriften scheinen somit ebenso von Notaren der Kanzlei (oder von ebendort tätigen Sekretären) verfasst worden zu sein wie jene in Rom 40. Die Verfasser der Suppliken dürften auf der Basis von Formularen gearbeitet haben. Das einzige in einem Formelbuch überlieferte Formular einer Supplik stammt wahrscheinlich aus den 1520er Jahren 41. Die Formulierung folgte den Vorlagen allerdings nicht immer in vollem Umfang: Eine Bittschrift des Marktfleckens Nyírbátor 42 entspricht zwar dem üblichen Formular, am Ende des Textes befindet sich dennoch eine Datierung, die ansonsten bei fast allen von mir bearbeiteten Suppliken fehlt. Es bleibt unklar, ob die Verwendung des Deutschen als städtische Geschäftssprache auch dazu führte, dass Suppliken auf Deutsch verfasst wurden. War es etwa den königlichen Freistädten Ödenburg oder Pressburg „erlaubt“, auch deutschsprachige Suppliken am Hof einzureichen? Die große Mehrzahl der im Stadtarchiv Pressburg überlieferten Suppliken sind jedenfalls in deutscher Sprache verfasst, allerdings handelt es sich dabei ausschließlich um Konzepte 43. Aus dem Blickwinkel des Königs könnte es der Fall gewesen sein, dass in Angelegenheiten, in denen der Herrscher auf die Zustimmung der Städte angewiesen war (z. B. bei außerordentlichen Steuern oder der Teilnahme an militärischen Unternehmungen), Deutsch als Kommunikationssprache diente, während Latein etwa bei königlichen Begnadigungen u. ä. Verwendung fand 44.

38

S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 165 f.; K, Die Staatsorganisation (wie Anm. 8)

32. 39

S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 165. Ebd. 166 mit Anm. 40. Vgl. Gwilym D, The Rise of English, the Decline of French. Supplications to the English Crown, c. 1420 –1450. Speculum 86 (2011) 117 –150, hier 119 –121. Für die englische Praxis der Abfassung von mittelalterlichen Suppliken siehe auch ., Justice and Grace. Private Petitioning and the English Parliament in the Late Middle Ages (Oxford 2007) 302 –316. 41 Diese Bittschrift befindet sich im sogenannten Jossauer oder Oláh-Formelbuch (DF 281415, fol. 94v, Bild 245), das in der Fachliteratur entweder nach dem Aufbewahrungsort (Jossau / Jászó/Jasov in der heutigen Slowakei) oder einem ehemaligen Benützer, dem als Vize- bzw. Oberkanzler tätigen Nicolaus Olahus benannt ist. Zum Thema siehe auch Kornél S, Funktion und Formen der Formelbücher im mittelalterlichen Ungarn, in: Les formulaires. Compilation et circulation des modèles d’actes dans l’Europe médiévale et moderne. XIIIe congrès de la Commission internationale de diplomatique (Paris, 3 –4 septembre 2012), hg. von Olivier G–Laurent M–Silio P. S (Éditions en ligne de l’École des chartes 29, http://elec.enc.sorbonne.fr/cid2012/) [2. 10. 2018]. 42 DL 20752 (1498). 43 Im Gegensatz dazu kann etwa auf die Entwicklung des Supplikenwesens in England hingewiesen werden, wo die englische Sprache in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts das in der Bürokratie bislang vorherrschende Französisch ersetzt hat. Vgl. D, The Rise of English (wie Anm. 40). Zur Sprachenfrage im mittelalterlichen Ungarn im Allgemeinen siehe László S, Muttersprache und rechtliche Schriftlichkeit im mittelalterlichen Königreich Ungarn. AfD 59 (2013) 133 –163. 44 Katalin S, Integration through Language: The Multilingual Character of Late Medieval Hungarian Towns, in: Segregation – Integration – Assimilation. Religious and Ethnic Groups in the Medieval Towns of Central and Eastern Europe, hg. von Derek K–Balázs N–Katalin S (Historical Urban Studies Series, Farnham 2009) 205 –233, hier 218 f. 40

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Die Supplizierenden Man könnte annehmen, dass die einflussreichsten Adeligen in den meisten Fällen ihre Angelegenheiten am königlichen Hof persönlich erledigten. Es gibt nur einige wenige Quellen aus der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, die zeigen, dass gelegentlich auch die Elite ihre Wünsche in schriftlicher Form vorgebracht hat. In dem ältesten Stück, das in die Mitte der 1460er Jahre zu datieren ist, baten Reinhard Rozgonyi und Paul Kállai um einige Dörfer, die Ladislaus Dobi wegen Majestätsbeleidigung entzogen werden und dem König anheimfallen sollten 45. Kállai war zwar keine besonders wichtige Figur auf dem Feld der hohen Politik, allerdings ist er für einige Zeit mit Sicherheit als königlicher Höf ling (aulicus) belegt 46. Der weit einflussreichere und aus einer herausragenden Familie stammende Rozgonyi dürfte in diesem Fall auch ex officio involviert gewesen sein, da einige der in dieser Bittschrift erwähnten Besitzungen sich im Komitat Zemplén befanden, dessen Gespan zwischen 1461 und 1471 mit mehreren Unterbrechungen eben Reinhard Rozgonyi war 47. (Von Paul Kállai sind noch zwei 48, von seiner Witwe und seiner Tochter eine weitere Bittschrift überliefert 49.) Eine in das Jahr 1499 zu datierende Supplik wurde von Johann Bánfi von Alsólendva, also einem Mitglied einer renommierten ungarischen Familie, betreffend die Transsumierung einer königlichen Schenkungsurkunde über drei Herrschaften und die Statution (Einführung in den Besitz) derselben eingereicht 50. Wir verfügen nicht zuletzt auch über eine Supplik eines der politisch einflussreichsten Männer des ungarischen Spätmittelalters, nämlich des Kardinals und Erzbischofs von Gran / Esztergom, Thomas Bakócz, Ober- und Geheimkanzler, betreffend eine Verbrüderungsurkunde zwischen seiner Familie und der Familie Henning. Um sich dem Vorwurf der Unvereinbarkeit mit seiner Tätigkeit als Leiter der Kanzlei zu entziehen, könnte Bakócz eine schriftliche Genehmigung seiner Bitte angestrebt haben 51. Der Sekretär Georg Szatmári, der als Kanzlist dem Ober- und Geheimkanzler Bakócz unterstellt war, hatte in diesem Fall wahrscheinlich nur eine administrative Rolle. Die Angelegenheit wurde von der Königin mittels ihres Sekretärs Johann Gosztonyi unterstützt 52.

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DL 56671 (1460er Jahre). DL 55770 (1464). 47 Persönliche Beziehungen untereinander (etwa dass Kállai ein Familiar des Rozgonyi gewesen wäre) sind mir nicht bekannt. Für die Gespanschaft Rozgonyis siehe Norbert C. T–Richárd H–Tibor N–Tamás P–András W. K, Magyarország világi archontológiája, 1458 – 1526 [Die weltliche Archontologie Ungarns, 1458 –1526] 2 (Monumenta Hungariae historica. Elenchi, Budapest 2017) 370 f. 48 DL 56668 (1464), DL 56669 (ca. 1460er Jahre). Der Text des zweiten Stückes wurde durch S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 173 Nr. 1, veröffentlicht. 49 DL 56667 (ca. 1500 –1520). 50 DF 248819 (Ich bedanke mich bei Norbert C. Tóth, der mich auf dieses Stück aufmerksam gemacht hat). Bei den intendierten Urkunden handelt es sich wahrscheinlich um DL 33453 und DL 33454. 51 Zu derartigen Praktiken unter dem Ober- und Geheimkanzler Bakócz siehe Tibor N, Királyi aláírás és pecséthasználat a Jagelló-kor elején [Königliche Unterschrift und Siegelgebrauch am Beginn des Zeitalters der Jagiellonen in Ungarn]. Turul 83 (2010) 33 –53, hier 36. 52 Wien, HHStA, Familienarchiv Erd˝ody, Urkundenreihe D 11168 (Ich bedanke mich bei Norbert C. Tóth, der mich auf diese Supplik aufmerksam gemacht hat). Die entsprechende königliche Urkunde befindet sich ebd. D 11169. 46

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Die höchstrangigen Städte Ungarns, nämlich die sogenannten königlichen Freistädte 53, dürften in Person ihrer Gesandten häufig gesehene Gäste am Königshof gewesen sein, wo sie enge Beziehungen zum König, zum Schatzmeister und zu anderen Höf lingen pflegten 54. Dies bezeugt eine große Zahl an Bittschriften de gratia bzw. de iustitia sowie umfassende Auf listungen von Beschwerden, etwa eine im Namen aller königlichen Freistädte bezüglich der gemeinsamen Freiheiten 55; und nicht zuletzt eine lange Liste von ettlich privilegia gen Ofen gefurt zu confirmiren von kunig etc. durch den burgermaister und Gailsam 56 im Stadtarchiv Pressburg. Für am Königshof besprochene Suppliken dient als schönes Beispiel der Bericht der Stadt Ödenburg an Tyrnau / Trnava, in dem von einer erfolgreichen Audienz bei König Ludwig II. in Betreff ihrer Niederlagsrechte berichtet wird: . . . wie unns die k(onigliche) m(aies)tat auf unnser diemutig suppliciren erhört und die offen, freien niderlagen in massen, die unnser vorvordern und wir in possess, geweer und brauch gehabt, genädigist confirmirt hat 57. Die Niederlagsrechte der Stadt Kaschau / Košice haben zu einem Streit innerhalb des nordungarischen Städtebundes „Pentapolis“ 58 geführt. So wurden durch die vier übrigen Mitglieder dieser Vereinung (Bartfeld, Leutschau / Levoˇca, Preschau, Zeben / Sabinov) zwei Suppliken an den König gesandt, um gegen dieses Privileg zu protestieren 59. Für die Städte waren ihre Privilegien bzw. deren Überlieferung und Bestätigung von großer Bedeutung, seien es spezielle, auf nur ein Sachgebiet beschränkte Diplome oder allgemeine Generalkonfirmationen. Dies spiegelt sich nicht nur in vielfachen Transsumierungen und Bestätigungen derselben Urkunden wider, sondern wird auch angesichts der vorangegangenen Bittschriften deutlich. Als Argumentationsstrategie wird in diesen Suppliken häufig die „Armut“ der Städte betont, die somit quasi zu einem Topos wird. So baten etwa Vertreter der Stadt Pressburg mehrmals um eine zeitweilige Befreiung vom Außenhandelszoll, dem sogenannten Dreißigsten 60, bzw. von der königlichen Steuer 61. Auch kleinere Städte dürften derartige Anliegen am königlichen Hof vorgebracht haben 62. 53 Bartfeld, Kaschau / Košice, Ödenburg, Ofen / Buda, Preschau, Pressburg, Tyrnau / Trnava, dazu kommt im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts noch Pest. 54 Wie intensiv die Kommunikation zwischen dem Königshof und den Städten Pressburg und Bartfeld in den 1480 –1490er Jahren in Steuerangelegenheiten gewesen ist, zeigt die Studie von Tibor N, „Minden id˝oben kegyelmes uratok kívánunk lenni“. A királyi városok adóztatása a 15. század végén [„Zu allen Zeiten wünschen wir Euer gnädigster Herr zu sein“. Die Besteuerung der königlichen Städte am Ende des 15. Jahrhunderts], in: Hatalom, adó, jog. Gazdaságtörténeti tanulmányok a magyar középkorról [Macht, Steuer, Recht. Aufsätze zur mittelalterlichen Wirtschaftsgeschichte Ungarns], hg. von István K–Boglárka W (Monumenta Hungarica historica. Dissertationes, Budapest 2017) 13 –106. 55 DF 240907 (ca. 1425 –1453), DF 240908 (ca. 1452 –1453) usw. Die oben zitierte gemeinsame Supplik der königlichen Freistädte (DF 243327) enthält ausnahmsweise ein Datum am Ende des Dokuments, den 24. April 1511. Das war der übliche Eröffnungstag der ungarischen Landtage; man kann also sicher annehmen, dass die Städte diese Gelegenheit zur Einreichung ergriffen haben. 56 DF 240909 (ca. 1490 –1510). Ähnlich: DF 240897 (ca. 1454 –1456) usw. 57 DF 279936. Regest: Deutschsprachige Handschriften 1 (wie Anm. 21) 962 Nr. B/T 7. 58 Vier von ihnen (Bartfeld, Kaschau, Leutschau, Preschau) waren „offiziell“ königliche Freistädte, während Zeben nur eine freie königliche Stadt war. 59 DF 215645 (ca. 1490), DF 216426 (ca. 1500 –1510, 2 Stücke). 60 DF 240899 (ca. 1453 –1457), DF 240906 (ca. 1425 –1432). 61 DF 240880 (ca. 1501 –1504), DF 240888 (ca. 1433 –1437). 62 Theben / Devín: DL 47957 (ca. 1348 –1360), Nagyoroszi: DF 248371 (= DF 278958, ca. 1500). Zur Schriftlichkeit in den Marktflecken im ungarischen Spätmittelalter siehe Bálint L, Hivatali

Das Supplikenwesen am spätmittelalterlichen ungarischen Königshof

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Der Wunsch nach temporärer Steuerfreiheit ist allerdings keineswegs eine Besonderheit städtischer Suppliken, sondern ist auch in Bittschriften von Adeligen zu finden 63. Die Mehrheit der Aristokraten, die zumeist als Einzelpersonen oder in einer kleinerer Gruppe, seltener in Form einer Körperschaft (etwa als Komitat oder als Komitatsadel) 64, Suppliken 65 und / oder Beschwerdelisten / Gravamina 66 eingereicht haben, stammt aus der mittleren oder unteren Adelsschicht. Zu den wiederkehrenden adeligen Anliegen de gratia gehörten etwa Bitten um das königliche Einverständnis bei Besitzkäufen 67 oder Ansprüche auf aus verschiedenen Gründen (z. B. nota infidelitatis, defectus seminis) ledig gewordene Besitzungen 68. Viele wandten sich darüber hinaus in Sachen de iustitia an den König von Ungarn und baten etwa um die Vertagung von Prozessen 69, um die Rückstellung ehemaliger, eingezogener bzw. eroberter Besitzungen 70 oder um die Verurteilung von Gewaltakten 71. Eine kleine Gruppe der erhaltenen Suppliken enthält die Bitten von kirchlichen Petenten niedrigeren Ranges, d. h. etwa von Kapiteln, Klöstern oder Kanonikern. Fast alle beziehen sich auf finanzielle Angelegenheiten de gratia wie die Bewilligung oder Bestätigung von einem Jahrmarkt 72 oder von Besitzrechten 73, darüber hinaus aber auch auf Fälle de iustitia wie die Rückgabe von Besitzungen 74 bzw. bestimmter Einnahmen 75 oder Eingaben im Zusammenhang mit Gerichtsprozessen 76. Thematisch stimmen diese Suppliken also großteils mit den Gesuchen von Adeligen überein. Im Falle der Propstei St. Stephan in Gran ist es auf der Basis von ingesamt fünf Suppliken möglich zu beobachten, wie sich die am Königshof vorgebrachten Bitten im Laufe von etwa 10 bis 15 Jahren verändert haben 77. Aus den Gebieten mit regionaler Autonomie (die Jazygen / Jassen, die Kumanen, die „Sachsen“ in Siebenbürgen sowie in der Zips / Spiš, nicht zuletzt die Szekler) sind mir drei Suppliken bekannt, die alle von den Siebenbürger Sachsen ausgestellt wurden. írásbeliség és ügyintézés a kés˝o középkori magyarországi mez˝ovárosokban, okleveleik tükrében [Amtliche Schriftlichkeit und Amtsführung in den spätmittelalterlichen Marktflecken Ungarns im Spiegel der von ihnen ausgestellten Urkunden] (Diss. Budapest 2013). 63 DL 31939 (ca. 1470 –1490), DL 56669 (ca. 1470 –1490). 64 Komitat Liptau / Liptov: DL 65384 (ca. 1468), Komitat Scharosch / Sáros (1457): DF 228783, Komitat Zips / Spiš: DL 65385 (ca. 1498 –1499). Die Adeligen in Belosovc (oder Gorbonok): DL 66074. (ca. 1412 –1415). 65 Komitat Liptau: DL 65384 (ca. 1468), Komitat Scharosch: DF 228783 (1457), Komitat Zips: DL 65385 (ca. 1498 –1499). Die Adeligen in Belosovc (oder Gorbonok): DL 66074 (ca. 1412 –1415). 66 Die Beschwerdelisten der Adeligen des Komitats Agram / Zagreb (Articuli nobilium comitatus Zagrabiensis): DF 267561 (ca. 1516 –1521). 67 DL 105435 (1524). 68 DL 56668 (ca. 1464), DL 56671 (ca. 1460 –1480), DL 104684 (1506 –1520), DF 209453 (1518). 69 DL 66473 (ca. 1480 –1500), DL 94054 (1500 –1512). 70 DL 35890 (1380 –1390), DL 56672 (ca. 1406), DL 104873 (kurz vor 1526). 71 DL 36719 (ca. 1490 –1493). 72 DL 36498 (ca. 1516 –1524). 73 DF 201626 (vor 1525). 74 DL 25414 (ca. 1419 –1429), DF 256310 (ca. 1459), DF 271787 (ca. 1515 –1522). 75 DF 207959 (nach 1490). 76 DL 104173 (vor 1507) – gemeinsam mit dem Adeligen Balthasar Battyányi; DL 107349 (ca. 1516 –1526), DF 208116 (vor 1517). 77 Siehe dazu weiter unten.

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Zwei stammen aus dem Hermannstädter Stuhl (Sibiu) sowie dem Burzenland, wurden um das Jahr 1351 ausgestellt und betreffen die Zehentrechte von Geistlichen im Burzenland 78, eine weitere aus dem Gebiet der „Sieben Stühle“ steht in Zusammenhang mit einem Konflikt zwischen zwei Dörfern 79. Interessanterweise kennen wir keine von Juden an den König von Ungarn adressierten Bittschriften aus dem Mittelalter. Die einzige erhaltene Supplik eines jüdischen Petenten wurde um das Jahr 1440 an die Königin Elisabeth von Luxemburg gerichtet 80. Schließlich müssen an dieser Stelle noch Bittschriften angeführt werden, die unter außergewöhnlichen Umständen entstanden sind. Dazu gehört etwa ein möglicherweise im Jahr 1456 von den Bürgern der ungarischen Stadt Ödenburg als getrew undertanen an Kaiser Friedrich III. gerichtetes Gesuch um Waffenhilfe 81, das die Situation einer an der Grenze liegenden, in Konflikten zwischen dem Kaiser und dem König von Ungarn lavierenden Stadt widerspiegelt 82. Ein ähnlicher Hintergrund ist im Falle jener an Erzherzog Ferdinand versendeten Suppliken kroatischer Adeligen aus den 1520er Jahren zu beobachten 83, in denen diese aufgrund der ernsten Bedrohung durch das Osmanische Reich immer häufiger die Habsburger um Hilfe baten. Dies wäre unter anderen Umständen wohl als Majestätsbeleidigung zu interpretieren gewesen, in diesem Fall jedoch wurde die finanzielle und militärische Beteiligung der Habsburger an der Verteidigung des kroatischen Konfiniums seit dem Jahr 1521 durch König Ludwig II. von Ungarn und Böhmen als Notlösung akzeptiert 84. Als Sonderfall gilt außerdem die Situation einiger westungarischer Herrschaften, die sich seit den 1440er Jahren beständig unter habsburgischer Regierung 85 befanden. Dementsprechend wandten sich in diesen Jahren etwa die Bürger von Eisenstadt / Kismarton auch in inneren Angelegenheiten an den habsburgischen Hof, wie eine ge-

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DF 286636, DF 286637. DF 247441 (ca. 1500). 80 A zichi és vásonke˝oi gróf Zichy-család id˝osb ágának okmánytára. Codex diplomaticus domus senioris comitum Zichy de Zich et Vasonkeo 12, ed. Paulus L (Budapest 1931) 181 f. Nr. 148 (= DL 82809). Zu formalen Aspekten siehe S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 164 Anm. 38. Aus dem Jahre 1528 stammt eine weitere, auf Deutsch verfasste (und möglicherweise in dieser Form auch eingereichte) Supplik eines gewissen Jacob Vischl judt. H, Sopron (wie Anm. 20) I / 7 (1929) 329 f. Nr. 265. 81 H, Sopron II / 6 (wie Anm. 20) 187 f. Nr. 169 (= DF 204902). 82 Siehe dazu auch Katalin S, Fidelitas és politika. Kihez és miért volt h˝uséges Sopron városa a középkorban [Fidelitas und Politik. Wem und warum Ödenburg im Mittelalter treu blieb]. Soproni Szemle 55 (2001) 343 –354. 83 Die Stücke aus 1526 sind publiziert: Monumenta Habsburgica (wie Anm. 25). 84 Vgl. Géza P, Die Türkenabwehr in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert – ein Forschungsdesiderat. Anzeiger der phil.-hist. Kl. der ÖAW 137 (2002) 99 –131, hier 107. 85 Zur Frage, ob es sich dabei tatsächlich um eine Verpfändung bestimmer Herrschaften in Westungarn an die Habsburger handelte, wie es in der österreichischen sowie in der ungarischen Fachliteratur häufig vertreten wird, siehe jetzt József C, A határon innen, mégis azon túl. Záloguradalmak NyugatMagyarországon – terminológiai kérdések és válaszok [Jenseits der Grenze und noch darüber hinaus. Pfandherrschaften in Westungarn – terminologische Fragen und Antworten], in: Micae mediaevales VII. Fiatal történészek dolgozatai a középkori Magyarországról és Európáról [Aufsätze von jungen HistorikerInnen über das europäische und ungarische Mittelalter], hg. von Csaba F–András R–Kristóf György V (ELTE BTK Történelemtudományok Doktori Iskola, Tanulmányok – Konferenciák [ELTE BTK Graduiertenschule für die Geschichtswissenschaften. Aufsätze – Konferenzen] 12, Budapest 2018) 13 –30. 79

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gen den einflussreichen Heinrich Prüschenk, der Eisenstadt eine Zeit lang pfandweise innehatte, gerichtete städtische Bittschrift belegt 86.

Der Weg zum Königshof Es kann nicht geklärt werden, wie die Übermittlung von Bittschriften am Hof des ungarischen Königs im Allgemeinen funktioniert hat. Brauchten schriftliche Bitten eine Vermittlung, d. h. musste eine einflussreiche Person gewonnen werden, um eine Supplik schneller und mit besseren Chancen beim königlichen Rat deponieren zu können? War dies ohne einen derartigen Intervenienten nicht möglich? Wurden sämtliche Angelegenheiten im königlichen Rat behandelt? Wie war das Verhältnis von mündlich artikulierten Bitten und schriftlich eingereichten Gesuchen? Galt der am Königshof vorherrschende Mechanismus (inklusive der Form der Entscheidungsfindung) für alle Untertanen in gleichem Maße oder nicht? Für diese Fragen sind vor der Mitte des 15. Jahrhunderts nur einige wenige Quellen vorhanden, von deren Analyse und Interpretation allerdings keine generalisierenden Thesen abgeleitet werden können. Es ergeben sich daraus Annahmen, die selten mit Sicherheit nachgewiesen werden können. Wir haben beispielsweise eine Supplik der königlichen Stadt Tyrnau im Namen des örtlichen Klarissenklosters, die in den Zeitraum von 1320 bis 1340 (und damit Jahrzehnte vor die erste an den ungarischen König gerichte Bittschrift) zu datieren ist und an Elisabeth, die Ehefrau König Karls I. von Ungarn, mit der Bitte um Unterstützung in den Angelegenheiten des Klosters (Hilfe zur Rückgewinnung einer Mühle) gerichtet wurde 87. Die Kommunikation zwischen dem Königspaar sollte sicherlich mündlich erfolgen, aber wir wissen leider nicht, wie breit der Kreis derart einflussreicher Personen war und wie sich dieser im Laufe der Zeit veränderte. Aus der Zeit von Maria von Anjou und Barbara von Cilli, der beiden Ehefrauen König bzw. Kaiser Sigismunds, sowie von Beatrix von Neapel, der Ehefrau von König Matthias Corvinus, finden wir zahlreiche Belege für die – im Detail noch nicht gänzlich geklärte – Teilnahme der Königinnen 88 an den Entscheidungsmechanismen bei Hofe 89. Auch in anderen Fällen dürfte eine Vermittlung häufig vorgekommen sein, wie etwa eine in die Mitte des 14. Jahrhunderts zu datierende Bittschrift des Marktfleckens Theben / Devin zeigt, derzufolge Jahrzehnte davor der Gespan von Pressburg seinen Einfluss am Königshof Karls I. geltend gemacht habe, um im Interesse des Markts die Ausstellung eines königlichen Mandats zu erreichen 90. Seit dem Jahr 1330 tragen die

86 Tiroler Landesarchiv, Innsbruck, Maximiliana 14, Prozesse Nr. 1.18 (zwischen 1493 –1508, wahrscheinlich aus den 1490er Jahren). 87 Anjoukori okmánytár. Codex diplomaticus Hungaricus Andegavensis 2, ed. Imre N (Monumenta Hungariae historica, Budapest 1881) 234 Nr. 213 (= DL 2338). 88 Maria war als Tochter von Ludwig I. („dem Großen“) Königin von Ungarn (1382 –1396) aus eigenem Recht. Anscheinend trat sie allerdings nach der Thronbesteigung Sigismunds im Jahr 1386 in den Hintergrund. 89 Ich bedanke mich bei Richárd Horváth für den wertvollen Hinweis. 90 Tandem veniens in medium nostri magister Treutel Nycolaus felicis memorie, comes Posoniensis pro tempore constitutus, requisivit a nobis, unde possessiones nostras reformare non vellemus. Respondimus in hunc

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ungarischen Königsurkunden zuweilen Kanzleivermerke wie etwa ad relationem X bzw. referente Y (Nennung des Referenten im Ablativ) oder commissio propria domini regis, die entweder einen indirekten, durch eine bestimmte Person übermittelten Auftrag oder einen direkten Befehl des Königs angeben 91. Allerdings weisen diese Vermerke wohl leider nicht auf die Behandlung von Angelegenheiten vor dem König und / oder dem königlichen Rat hin, sondern beziehen sich eher auf den jeweiligen Geschäftsgang. Wer auch immer die Bitte um die Ausstellung einer Urkunde vorbrachte, für den Inhalt des ausgestellten Schriftstückes war – nach der Meinung Kubinyis – im Zeitalter von Matthias Corvinus in erster Linie der jeweilige relator verantwortlich 92. Während der Regierung der Anjou in Ungarn fehlen derartige Vermerke auf zahlreichen Urkunden 93, weshalb eine statistische Auswertung nicht aussagekräftig erscheint. Danach scheint sich der Gebrauch dieser Kanzleivermerke rasch verbreitet zu haben, was wohl in erster Linie mit der bereits erwähnten Professionalisierung des Kanzlei- und damit auch des Supplikenwesens im Zeitalter von Matthias Corvinus zusammenhängt. Es herrscht in der ungarischen Forschung allgemeiner Konsens darüber, dass es gelegentlich direkte Verbindungen zwischen dem Empfänger einer Urkunde und dem jeweiligen Intervenienten am Königshof gab; so etwa in jenen Fällen, in denen der König eine Person, eine Familie oder eine kirchliche Institution in seinen Schutz genommen und diesen anschließend einem Angehörigen der Elite übertragen hat 94. Beispielsweise standen im Jahr 1462 vermutlich nicht nur der Marktflecken Igal in Südtransdanubien, sondern alle Besitzungen des Dominikanerinnenklosters auf der Haseninsel (der heutigen Margareteninsel in Budapest) unter dem Schutz (sub protectione) des königlichen Oberststallmeisters Kaspar Bodó. Auf dessen Bitte hin wurde den Nonnen die Abhaltung zweier Jahrmärkte in Igal gestattet, und Bodó wird auf diversen königlichen Privilegien zugunsten des Klosters als relator angeführt 95. Es handelt sich aber möglicherweise nur um eine kurze Zeitspanne, in der Bodó für das prestigereiche, in der Nähe der ungarischen „Hauptstadt“ liegende Nonnenkloster „verantwortlich“ war. Eine ähnliche Funktion übernahmen wohl auch Grundherren

modum: Domine reverende. Vineas et possessiones nostras Iudeis obligavimus et Christianis, et unde vivere et edificare debemus, non habemus. Istas responsiones nostras magister Treutel Nycolaus detulit ad dominum regem genitorem vestrum felicem et obtinuit nobis litteras domini regis . . . . Monumenta Hungariae Judaica 1, coop. Mauricio W studio Armini F (Budapest 1903) 64 Nr. 37 (= DL 47957). Die Urkunde König Karls I. hätten die Petenten durch einen Brand verloren. 91 „Es ist auffällig, daß man hinter der Erwähnung des ‚königlichen Befehls‘ sowohl die persönliche Verfügung des Königs wie die des Kanzlers finden kann.“ K, Die Staatsorganisation (wie Anm. 8) 33. 92 Vgl. Imre S, Beiträge zur Geschichte des ungarischen Urkundenwesens. AUF 16 (1939) 157 –183, bes. 169 –176; K, Die Staatsorganisation (wie Anm. 8) 32 f., 40 („ . . . obwohl die Referenten auch Ratsmitglieder waren, [zeigt] dieser Notiztyp der Kanzlei [nicht] die Tätigkeit des Rates, um so weniger, weil die überwiegende Mehrzahl der Urkunden dort nie vorgezeigt wurde.“). Vgl. D–PR, Grace and Favour (wie Anm. 14) 243. 93 Vgl. S, Beiträge (wie Anm. 92) 167. 94 Vgl. K, Die Staatsorganisation (wie Anm. 8) 9. 95 DL 15759 (1462), DL 15809, DL 15812 (beide 1463).

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für Angehörige ihrer grundherrlichen familia, insbesondere dann, wenn diese Herren über einen gewissen Einfluss am Königshof verfügten 96. Nach Kubinyi hat die Bedeutung jener königlichen Sekretäre, die ansonsten gar nicht der Kanzlei angehörten, für die Administration des Königreichs ab etwa 1470 zugenommen 97. So wurde an diese Höf linge ein Teil der bei Hof eingereichten Suppliken delegiert, wohl um die Kanzlei bei der Bearbeitung dieser Schriftstücke zu entlasten. Unter den relatores finden wir in diesem Zeitraum weiterhin Vertreter der Aristokratie, aber auch königliche Hofbeamte 98. Es dürfte auch vorgekommen sein, dass ein Teil der Suppliken nicht bei den Sekretären oder der Kanzlei, sondern z. B. auch bei dem königlichen Schatzmeister eingereicht wurde 99, obwohl die Zahl der Sekretäre mit der Zeit wahrscheinlich stark angestiegen ist. Während Tamás Fedeles für die Periode von 1502 bis 1515 lediglich zehn königliche Sekretäre verzeichnet hat 100, kann Kubinyi für die Regierung König Ludwigs II. bereits insgesamt 25 Personen mit einem Sekretärstitel nachweisen. In den Jahren 1524 bis 1526 waren es insgesamt 13 Personen, die abwechselnd, nämlich sechs bis acht pro Jahr, tätig waren. Sie fungierten nicht nur als Referenten (relatores) oder Gesandte des Königs, sondern nahmen gelegentlich auch an diplomatischen Verhandlungen teil 101. Aufgrund der zunehmenden Machtfülle dieser Sekretäre wurde bald von manchen Seiten der Ruf nach einer Beschränkung ihrer Tätigkeiten laut. So haben am Georgstag des Jahres 1518 die Prälaten und Barone mit dem 19. Punkt der in Abwesenheit des niederen Adels bewilligten Landtagsbeschlüsse die Aufgaben der königlichen Sekretäre zu regulieren versucht: So sollten die eingereichten Suppliken vor dem königlichen Rat vorgelesen und nicht privatim durch die Sekretäre behandelt werden. Allerdings wurde dieses Dekret von König Ludwig II. niemals ratifiziert 102. Ein weiterer Reformversuch stammt aus dem Jahre 1523, wodurch deutlich wurde, dass die Arbeitsbereiche bislang nicht so klar voneinander getrennt waren und einige Fehler bei der Ausstellung der Urkunden gemacht wurden 103. Somit wird das ab dem 96 Vgl. Richárd H–Tibor N, Ecsedi Bátori István. Egy katonabáró életpályája, 1458 –1493 [Stephan Bátori von Ecsed. Der Lebenslauf eines Schwertadeligen, 1458 –1493] (Monumenta Hungariae historica. Dissertationes, Budapest 2012) 137 f. 97 Stellung und Aufgabenbereiche der königlichen Sekretäre sind nicht pauschal zu definieren, da sich diese individuell entweder in Richtung des Königs oder der Kanzlei verschoben. 98 K, Die Staatsorganisation (wie Anm. 8). 99 N, Királyi aláírás (wie Anm. 51) 44. 100 F, Egy Jagelló-kori humanista (wie Anm. 7) 57. 101 K, Királyi titkárok (wie Anm. 7) 14. Noch in den 1490er Jahren können wir laut Kubinyi nur mit ein bis zwei Sekretären am königlichen Hof rechnen. 102 Ebd. 4. Vgl. Ne autem vel per aliquem errorem vel per varias secretariorum et aliorum referendariorum relationes ad supplicationes regiae maiestati porrigendas in preiudicium quorumcunque litteras sibi invicem contrarias, ut huc usque sepe factum est, emanari contingat, visum est et decretum, ut deinceps omnes supplicationes et littere, quecunque venient ad regiam maiestatem vel per dominum cancellarium vel secretarium sue maiestatis iuratos, suis temporibus coram regia maiestate presentibus dominis consiliariis perlegantur et non privatim, ut huc usque, sed illis in medium consulentibus expediantur et per eosdem consiliarios quidquid de unaquaque supplicatione et litteris huiusmodi fieri debebit, ibidem in consilio decernatur. Martinus Georgius K, Supplementum ad Vestigia Comitiorum apud Hungaros 2 (Budae 1800) 413. 103 K, Királyi titkárok (wie Anm. 7) 5. Vgl. Cancellarius videat, ne littere dentur, que damnum inferant principi, dividat negotia inter secretarios, dividat provincias et districtus sic, ut littere contrarie vel contra iuris formam nemini dentur. Krzysztof Szydłowiecki kancellár naplója 1523-ból [Das Tagebuch des Kanzlers Krzysztof Szydłowiecki aus dem Jahre 1523], ed. István Z (Budapest 2004) 127.

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Beginn des 16. Jahrhundert etablierte System sichtbar: Die königlichen Sekretäre hatten bei Fällen geringerer Bedeutung eine gewisse Entscheidungsfreiheit 104, allerdings scheint diese Tätigkeit der Sekretäre nicht immer entsprechend koordiniert gewesen zu sein 105.

Ständige (Miss-)Erfolge? Angesichts von in den königlichen Urkunden häufig auftretenden Formeln wie ad supplicationem/petitionem oder supplicatur/petitur könnte man annehmen, dass das Einreichen von Suppliken am königlichen Hof zumeist von Erfolg gekrönt war bzw. dass zumindest jene wenigen überlieferten Bittschriften auf erfolgreiche Gesuche schließen lassen. Allerdings liegt auch die Vermutung nahe, dass trotz eines großen zeitlichen und finanziellen Aufwandes nicht sämtlichen eingereichten Suppliken entsprochen wurde. Dem langen Lobbying der königlichen Freistadt Preschau um ein Privileg zum Leinenbleichen war kein Erfolg beschieden, obwohl in dieser Angelegenheit der Oberschatzmeister Johann Perényi, ein ansonsten sehr einflussreicher Mann aus dem Komitat Scharosch / Sáros in Nordostungarn, zwei Bittschriften vorlegte, die im Stadtarchiv Preschau überliefert sind 106. Beide sind ziemlich außergewöhnlich in der ungarischen Praxis, weil sie am Ende eine Datierung aufweisen. Vorbild für den Wunsch Preschaus sei ein gleichartiges Privileg der Stadt Bartfeld, worauf in beiden Suppliken hingewiesen wird. Perényi argumentiert in seiner Supplik, dass es für den König nicht schädlich, sondern hingegen überaus nützlich sei, wenn nicht nur Bartfeld, sondern auch Preschau diese Vergünstigung erhalten würde 107. Weitere Quellen zu diesem Konflikt zwischen den beiden Städten, der zumindest bis in das Jahr 1420 zurückverfolgt werden kann, befinden sich im Stadtarchiv Bartfeld 108. Im April 1456 hat der König in einem Gerichtsprozess die Wünsche Preschaus abgelehnt und ältere Privilegien für Bartfeld transsumieren lassen 109, im Mai 1456 schließlich Johann Perényi befohlen, die Bartfelder gegen die Forderungen der Preschauer hinsichtlich des Leinenbleichprivilegs zu unterstützen 110. Darauf ist im September 1456 die Bittschrift von Perényi, im März 1457 schließlich eine weitere im Namen des Komitats Scharosch ausgestellt worden, die beide allerdings für die Interessen der Stadt Preschau eintraten. Es ist vielsagend, dass der König im Mai 1457 nicht nur das erwähnte Komitat, sondern auch Perényi aufgefordert hat, die Bürger von Preschau persönlich zu 104

Siehe unten 86 f. Obwohl der königliche Sekretär Thomas Nádasdi auf einer Bittschrift von Georg Pet˝o einen Genehmigungsvermerk anbrachte (DL 93852, 1525), gelangten die in dieser Supplik angeführten und von Pet˝o gewünschten Besitzungen kurze Zeit später in die Hände des Gespans von Temesch / Temes, Emerich Cibak, wogegen Pet˝o wiederum Protest einlegte. Vgl. DL 93854. 106 I, Eperjes (wie Anm. 22) 172 f. Nr. 391 (= DF 228777), 174 Nr. 397 (= DF 228783). 107 Sive civitas Bartffa siveque Epperyes, unaqueque earum vestre celsitudinis est civitas, et quitquid usus aut utilitas vestra serenitas cuicumque earum aufert, non aliene, sed proprie vestre serenitatis civitati aufert. DF 228777. 108 I, Bártfa (wie Anm. 22) 17 Nr. 88 (= DF 212767). 109 Ebd. 138 f. Nr. 870 (= DF 214827, DF 241839). 110 Ebd. 140 Nr. 883 (= DF 213583). 105

Das Supplikenwesen am spätmittelalterlichen ungarischen Königshof

85

verwarnen sowie das Leinenbleichprivileg von Bartfeld zu verteidigen 111. Es ist daher auch wenig überraschend, dass beiden Suppliken kein Erfolg beschieden war, dennoch sind diese in das Archiv gelangt und zeigen somit, dass die Tatsache der Überlieferung von Suppliken allein keinen Beleg für eine positive Erledigung derselben darstellt 112. Ähnliches bezeugen die bereits oben erwähnten fünf Bittschriften der Propstei St. Stephan in Gran. Zwar ist das Ergebnis dieser Gesuche nicht bekannt, es wird aus ihnen jedoch deutlich, dass nicht jede Bittschrift auf offene Ohren am königlichen Hof stieß. Die Suppliken betrafen einen im Außenbereich der Stadt Ofen / Buda befindlichen Meierhof (allodium) der Propstei, der spätestens im Jahre 1477 113 an Elisabeth Szilágyi, die Mutter von Matthias Corvinus, kam. Elisabeth leistete für die Verwaltung des Hofes einen census an die Propstei, nach ihrem Tod im Jahr 1483 wurde der Hof auf königlichen Befehl an den Provisor / Burggrafen von Ofen Blasius Ráskai übergeben, der die entsprechenden Zahlungen an die Propstei jedoch einstellte. Kurze Zeit später kam der Meierhof schließlich in die Hände des Bischofs von Agram / Zagreb und Propstes von Budafelhévíz, Oswald Thuz / Szentlászlói. Während die früheste, wahrscheinlich noch zu Lebzeiten von Matthias Corvinus verfasste Supplik um Bezahlung der vorenthaltenen Summen ersucht 114, wird in den beiden folgenden, wohl kurz nach dem Tod des Corvinus zu datierenden Bittschriften bereits die Rückstellung des Meierhofes an die Propstei erbeten 115. Die beiden nächsten Schriftstücke erwähnen bereits die Übernahme des Meierhofes durch Oswald Thuz und einen damit in Zusammenhang stehenden Gerichtsprozess, der sich allerdings laut der fünften Supplik in dieser Angelegenheit verzögert hat 116. Ob es in diesem Gerichtsverfahren zu einem Urteil kam, ist unbekannt, die letzte bekannte Urkunde zu diesem Fall, in der der Landesrichter Peter Geréb die Vorlage von Urkunden durch Oswald Thuz anwies, stammt aus dem Jahr 1496 117. Darüber hinaus bietet eine undatierte Aufzeichnung des Propstes eine Auf listung von in dieser Angelegenheit ausgestellten Urkunden und ist wahrscheinlich um 1500 entstanden 118. Somit können lediglich Suppliken, die einen entsprechenden Erledigungsvermerk aufweisen, als Beleg für einen positiven Ausgang des Bittgesuches dienen, jedoch gilt dies nicht in allen Fällen 119. Derartige Vermerke scheinen im Laufe der Zeit langsam zugenommen zu haben. Die frühesten Spuren dieser Neuerung stammen aus den 1460er Jahren, als die Kanzlei von Matthias Corvinus eine bereits oben erwähnte

111

D., Bártfa (wie Anm. 22) 151 Nr. 964 (= DF 213662). Zu diesem Streit siehe zuletzt Stanisław A. S, A középkori Bártfa és kapcsolatai KisLengyelországgal [Bartfeld im Mittelalter und seine Beziehungen zu Kleinpolen] (Monumenta Hungariae historica. Dissertationes, Budapest 2016) 74 f. (Das Buch ist ursprünglich auf Polnisch erschienen: ., ´ Sredniowieczny Bardiów i jego kontakty z Małopolska˛ [Kraków 2010]). 113 Vgl. DF 238065. 114 DF 238068. 115 DF 238071, DF 238072. 116 DF 238073, DF 238077. 117 DF 238083. Zu diesem Konflikt siehe DF 238065 –238084. 118 DF 238084. 119 Die Supplik des Dominikanerinnenklosters auf der Haseninsel in der Nähe von Pest und Ofen (DL 36498, ca. 1524) ist eine gleichzeitige Kopie, ebenso die daraufhin ausgestellte Urkunde von König Ludwig II. (DL 23972, 1524). Dies könnte erklären, wieso auf der Bittschrift der Erledigungsvermerk fehlt. Vgl. auch Anm. 105. 112

86

Bence Péterfi

Umstrukturierung erfuhr 120. Derzeit kennen wir vier Suppliken 121, auf denen die abgekürzte und erweiterte Unterfertigung des Königs als Erledigungsvermerk angebracht wurde: M(atthias) r(ex) fiat. Eine auf diese Weise genehmigte Supplik dürfte allerdings keine Rechtsgültigkeit besessen haben, obwohl die Signatur des Königs die Authentizität einer königlichen Urkunde bei Fehlen eines Siegels ersetzen konnte 122. Bei einer der erwähnten vier Suppliken ist wohl die Schenkungsurkunde (1464) als Insert in der resultierenden Königsurkunde überliefert 123. In einem weiteren Fall wurde nicht nur der Vermerk M(atthias) r(ex) fiant [!] angebracht, sondern auch der Zeitpunkt der königlichen Approbation vermerkt. Darüber hinaus verfügen wir auch über die entsprechende königliche Urkunde, auf der ebenfalls die Signatur des Königs zu finden ist und deren Datierung mit dem Genehmigungsdatum der Supplik (Datum XIIII Kal. Marcii 1465) übereinstimmt. Dies ist wohl ein Hinweis auf die hohe Bedeutung der hier behandelten Angelegenheit, nämlich die Bestätigung älterer Privilegien des Erzbistums und Domkapitels von Gran auf Bitte von Johann Vitéz von Zredna, dem postulierten Erzbischof von Gran und Bischof von Großwardein 124. Die fünfte und letzte königliche Unterschrift befindet sich auf einer etwa 60 Jahre jüngeren Bittschrift (ca. 1523, Ludovicus rex manu propria) 125. Im Zeitalter der Jagiellonen in Ungarn (1490 –1526) finden wir bereits eine Reihe von Bittschriften mit Erledigungsvermerken der königlichen Sekretäre 126. Hier wird deutlich, dass die Ausstellung der betreffenden königlichen Urkunden häufig nicht gleichzeitig mit dem Genehmigungsvermerk, sondern oft bereits zwei bis drei Tage früher erfolgte. Grund dafür dürfte in dem Kanzleigebrauch liegen, den Erledigungsvermerk auf der Supplik erst nach Ausstellung (und Besiegelung) der königlichen Urkunde anzubringen. (Für die einflussreichsten Bittsteller wie den Erzbischof von Gran und Oberkanzler Thomas Bakócz lief der Prozess wohl schneller ab, das königliche Privileg und der Genehmigungsvermerk auf der Bittschrift tragen das gleiche Datum). Die Mehrzahl dieser Kanzleivermerke betreffen Angelegenheiten de gratia von geringerer Bedeutung, die Kanzlei scheint in diesen Fällen zumindest seit dem ersten Jahrzehnt des 16. Jahrhunderts die entsprechende Urkunde auf Relation des Sekretärs im Namen des Königs – gegebenenfalls auch ohne dessen Kenntnis – ausgestellt zu 120 Vgl. S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 165 und 169 – vgl. etwa die zwei älteren, nachweislich positiv beschiedenen Bittschriften von Aladár Várdai (1453, A zichi és vásonke˝oi gróf Zichycsalád [wie Anm. 80] 232 Nr. 182 [= DL 81140], die entsprechende königliche Urkunde: A zichi és vásonke˝oi gróf Zichy-család id˝osb ágának okmánytára. Codex diplomaticus domus senioris comitum Zichy de Zich et Vasonkeo 9, ed. Ernest de K (Budapest 1899) 384 ff. Nr. 298 [= DL 81118]) bzw. vom Agramer Domstift (1459, Monumenta historica liberae regiae civitatis Zagrabiae, metropolis regni Dalmatiae, Croatiae et Slavoniae 2, ed. Joannes Bapt[ista] T (Zagreb 1894) 271 f. Nr. 211 [= DF 256310], die entsprechende königliche Urkunde: ebd. 275 f. Nr. 215 [= DF 256313], Kanzleivermerk: commissio propria domini regis) ohne jeglichen Erledigungsvermerk. 121 DL 56668, DL 56669, DL 56671, DF 237330. 122 N, Királyi aláírás (wie Anm. 51). Zur königlichen Unterschrift siehe noch H, Itineraria (wie Anm. 3) 42 f. 123 DL 56668 (Supplik), DL 15025 (Urkunde). 124 DF 237330 (Supplik), DF 285450 (Urkunde). 125 DL 101641. Die daraufhin ausgestellte Schenkungsurkunde ist als frühneuzeitliche Kopie überliefert (DL 101577, p. 16 f.), deren Datum den terminus ante quem der Supplik darstellt (23. 5. 1523). Gegen diese statutio kam es offensichtlich zu einigen Widerständen (ebd. 17 f.). 126 Siehe Anhang.

Das Supplikenwesen am spätmittelalterlichen ungarischen Königshof

87

haben 127. Etwa im Fall einer Bestätigung eines Besitzverkaufes wurde die königliche Urkunde mit Sicherheit durch den Protonotar des personalis bearbeitet 128. Im Zuge von Gerichtsverfahren könnte der Sekretär die eingereichten Bittschriften de iustitia an ihre Empfänger, d. h. an den zuständigen Gerichtshof übermittelt haben 129. Allerdings kann auf der Basis königlicher Urkunden oft nicht festgestellt werden, in welcher Form eine petitio am Gerichtshof vorgebracht wurde 130. Es sind aber auch für diesen Bereich Bittschriften mit Genehmigungsvermerken überliefert. ˇ Eine gemeinsame Supplik von Balthasar Battyányi und dem Kapitel von Cazma trägt einen schriftlichen Genehmigungsvermerk zur neuerlichen Vorlage von Urkunden im Rahmen ihres Gerichtsverfahrens, um eine Fortsetzung des Prozesses gegen Graf Georg von Zagorje (einen Sohn des berühmten Söldnerführers Johann Witowec) abzuwenden 131. Vermutlich hatte der Graf größeres Interesse an einer Geldzahlung anstelle umstrittener Besitzungen und damit verbundener Gerichtsprozesse, weshalb er einem Ausgleich mit Balthasar Battyányi und einem dabei fixierten Besitzverkauf zustimmte, was der König schließlich im September 1508 – neun Monate nach der in diesem Zusammenhang eingereichten Supplik – akzeptierte 132. Ein weiteres Stück aus den Jahren 1510/20 trägt zwar keinen Genehmigungsvermerk, allerdings befinden sich rückseitig einige auf bestimmte Paragraphen in königlichen Dekreten bezogene Notizen, die auf eine positive Beurteilung der Angelegenheit am königlichen Hof hinweisen 133. Eine Supplik von Ladislaus Berki (1493) ist als Insert in einem umfangreichen Gerichtsbrief überliefert und bietet weitere Hinweise zur Behandlung von Bitten. In diesem Fall dürfte diese vor dem Rat des Königs behandelt worden sein, der diese Angelegenheit an den Bischof von Sirmien und königlichen personalis, Stephan Fodor, sowie an zwei weitere Prälaten, nämlich an Bischof Oswald Thuz / Szentlászlói von Agram und Bischof Sigmund Ernuszt von Fünfkirchen / Pécs delegierte 134. Daraus ergibt sich, dass die von Sekretären referierten Angelegenheiten nur ein Teil der Praxis waren und es daneben auch noch Fälle gab, die nicht durch sie bearbeitet wurden bzw. zu deren Behandlung sie nicht berechtigt waren. Wie András Kubinyi betont hat, war der Aufstieg der königlichen Sekretäre keineswegs mit dem Ziel verbunden, den Einfluss der alten höfischen Elite zu reduzieren bzw. eine Balance in den Machtverhältnissen bei Hofe zu schaffen. Dies wird angesichts des geringen Anteils von

127

N, Királyi aláírás (wie Anm. 51) 44 f. Siehe Anhang Nr. 7; zum personalis presentiae regiae locumtenens oben 68. 129 Ebd. Nr. 9. 130 Unde nos prefato Francisco Doczy actori ad legittimam petitionem iuris sui ad cautelam communi suadente iustitia presentes literas nostras duximus concedendas. DL 24103. 131 Siehe Anhang Nr. 4. 132 Vgl. DL 101402, DL 101405, DL 101407, DL 102310, DL 102312, DL 104198, DL 107161. 133 Feria sexta post Bartholomei; cum tamen in decreto, ut ad simplicem expositionem [= 1492: § 11 – B. P.]; item, quod bona dubiosa [= 1492: § 63 – B. P.]; ceterum, quod statui fecit; tandem ut ipse fatetur, ut una linea consanguineitatis attinet; una littera in profesto Martini [10. 11., o. J. – B. P.]. Monumenta rusticorum in Hungaria rebellium anno MDXIV, majorem partem collegit Antonius Fekete N, ed. Victor K–Ladislaus S atque in volumen redegit Geisa É (Publicationes Archivi Hungariae Nationalis II / 12, Budapest 1979) 536 Nr. 409 (= DL 104873, vor 1526). Einige in der Bittschrift erwähnte Besitzungen in Nagyk˝orös wurden dem Supplizierenden offensichtlich zurückgegeben; siehe DL 47655. 134 DL 19053 = DL 104002. 128

88

Bence Péterfi

referierten Angelegenheiten an der Gesamtzahl der ausgestellten Urkunden deutlich. Eine Statistik der unter Matthias Corvinus angebrachten Kanzleivermerke ergibt dabei folgendes Bild: 1 % der ausgestellten Urkunden trägt die königliche Unterschrift, 74 % weisen einen commissio-Vermerk auf und lediglich 25 % nennen eine relatio (bei Urkunden an Städte lautet das Verhältnis sogar 2 % – 86 % – 12 %). „Daß von den Urkunden mit relatio unvergleichbar weniger ausgestellt wurden . . . macht die sehr große Bedeutung der Rolle der Referenten fraglich“ 135. An dieser Stelle muss noch einmal auf die oben erwähnte Audienz der Stadt Ödenburg aus dem Jahre 1524 in Betreff ihrer Niederlagsrechte hingewiesen werden. Die Gesandtschaft war erfolgreich: Die königliche Kanzlei stellte schlussendlich drei Urkunden aus, die den Kanzleivermerk commissio propria domini regis tragen 136.

Zusammenfassung Trotz der im Gesamten schlechten Überlieferung erlaubt es die online-Datenbank des Ungarischen Nationalarchivs, mehr Suppliken als bisher möglich zu erfassen. Die reichen Stadtarchive (Bartfeld, Ödenburg, Pressburg, Preschau) haben sich dabei als besonders wichtige Fundorte erwiesen. Auch die Familienarchive enthalten trotz großer Verluste an Archivalien weiteres Quellenmaterial zu diesem Thema. Obwohl das Supplizieren am ungarischen Königshof möglicherweise in den 1230er Jahren eingeführt wurde, hat es wohl über einen längeren Zeitraum wenig Anklang im ungarischen Herrschaftssystem gefunden. Die Bitten wurden vorrangig mündlich – entweder persönlich oder durch einen Unterstützer – vor dem König artikuliert. Die ersten Spuren schriftlicher Supplikationen stammen aus dem zweiten Drittel des 14. Jahrhunderts. Deren Zahl nimmt offenbar mit dem Regierungsantritt von Matthias Corvinus stark zu, wobei insbesondere die kurialen Vorbilder deutlich zu erkennen sind. In dieser Zeit treten auch die königlichen Sekretäre als Helfer bei der Bearbeitung von Suppliken auf, nicht nur bei Bittschriften de gratia, sondern auch bei gerichtlichen Angelegenheiten. Sie gehörten nicht der königlichen Kanzlei an und waren nicht einmal gänzlich an den königlichen Hof gebunden. Die Zahl der Sekretäre hat sich während der Regierung der Jagiellonen stetig erhöht, dennoch ist deren Einfluss auf politischer Ebene als nicht sonderlich groß zu bewerten. Die wichtigsten Entscheidungen wurden nicht auf diesem Weg, sondern vom König selbst in Verbindung mit seinem Rat getroffen, was wohl auch für die Genehmigung von Suppliken zutraf. Im Gegensatz zu der von Loránd Szilágyi vertretenen Meinung 137 scheint sich somit spätestens um 1500 ein zunehmend bürokratisches System mit gewissen Inkonsequenzen in der Praxis etabliert zu haben.

135 K, Die Staatsorganisation (wie Anm. 8) 31, 40 –42 (Zitat: 40). Vgl. ., Királyi titkárok (wie Anm. 7) 8. 136 H, Sopron I / 7 (wie Anm. 20) 132 –135, Nr. 86 –88 (= DF 204349, DF 204350, DF 204353). 137 S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 173.

DF 248819

Supplik

Concessum est per regiam maiestatem Bude in festo Beati Ladislai regis 1499 salvo iure alieno. Gyeryk 138.

Vermerk(e)

vor 27. 6. 1499

Datierung (Bezugspunkt: Datum des Erledigungsvermerks oder der königlichen Genehmigung) [k. A.]

Signatur

Überlieferte Urkunde

[k. A.]

Vermerk(e)

[k. A.]

Datum

138 Georg Szatmári, Propst von Ofen 1498/99, später – unter anderem – Bischof von Wesprim / Veszprém (1499 –1501), von Großwardein (1501 –1505), von Fünfkirchen (1505 –1521), Erzbischof von Gran (1522 –1524), Geheimkanzler (1503 –1521), dann Ober- und Geheimer Kanzler (1522 –1524). Vgl. Norbert C. T–Richárd H–Tibor N–Tamás P, Magyarország világi archontológiája 1458 –1526 [Die weltliche Archontologie Ungarns, 1458 –1526] 1 (Monumenta Hungariae historica. Elenchi, Budapest 2016) passim. Zu Szatmári und den folgenden Personen siehe auch B, A jogtudó (wie Anm. 6), F, Egy Jagelló-kori humanista (wie Anm. 7) 55 –58, K, Királyi titkárok (wie Anm. 7).

1

Signatur

Suppliken mit Kanzleivermerken aus dem Zeitalter der Jagiellonen in Ungarn (1490 –1526) (chronologisch geordnet)

Anhang:

Das Supplikenwesen am spätmittelalterlichen ungarischen Königshof 89

DL 104173

4 vor 8. 12. 1507

vor 9. 12. 1504

vor 27. 1. 1503

[k. A.]

ÖStA HHStA FA Erd˝ody D 11169

DL 21153 (unter derselben Signatur) 141

[k. A.]

Relatio magistri Iohannis Gozthon secretarii reginalis maiestatis nomine eiusdem reginalis maiestatis referenda.

Ad relationem magnifici domini Iohannis Bornemiza thesaurarii regie maiestatis.

[k. A.]

9. 12. 1504

26. 1. 1503

142

Edition: S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 174 f. Nr. 3. Johann Gosztonyi, Sekretär der Königin, später – unter anderem – Bischof von Waitzen / Vác (1507 –1509), von Raab / Gy˝or (1509 –1524), von Siebenbürgen (1524 –1527), Kanzler (1508 –1511) und Kanzler der Königin (1524 –1527). 143 Vgl. oben Anm. 138. 144 Vgl. oben Anm. 138.

141

1527).

140

Concessum est per regiam maiestatem in festo conceptionis Beate Marie Virginis anno 1507. Georgius episcopus Q[uinqueecclesiensis] cancellarius regius etc. 144.

Concessum est per regiam maiestatem feria secunda post festum conceptionis Beate Marie virginis Bude 1504. Ad intimata reginalis maiestatis per Iohannem Gozthon secretarium suum facta 142. Georgius episcopus Waradiensis manu propria143

Concessum est per regiam maiestatem feria quinta proxima post festum conversionis Beati Pauli apostoli Bude, anno Domini 1503. [eigenhändig:] Iohannes Bornemyza thesaurarius manu propria 140.

Edition: S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 173 f. Nr. 2. Johann Bornemissza, Vizeschatzmeister (1485 –1490), Schatzmeister (1500 –1504), später Burggraf und „Provisor“ von Ofen, Gespan von Pressburg (1514 –

ÖStA HHStA FA Erd˝ody D 11168

3

139

DL 21153 139

2

90 Bence Péterfi

DF 209453

DL 105435

6

7

Concessit regia maiestas feria sexta proxima post festum Conceptionis 1524. Stephanus Brodaryth doctor secretarius 150.

Per notam infidelitatis. 1518. Nicolaus prepositus Agriensis, secretarius regie maiestatis manu propria 148. [andere Hand:] Concessit die dominico proximo ante Luci˛e in ecclesia Beati Iohanni infra celebrationem maioris a . . . .

Contulit regia maiestas suum ius suplicantibus, ut petitur, feria sexta post Stanislai episcopi et martyris 1514. Lz 145.

vor 9. 12. 1524

vor 12. 12. 1518

vor 12. 5. 1514

DF 259650

DF 209456

DL 82398

16. 10. 1518

7. 12. 1524

Coram me, magistro Belleny 151.

12. 5. 1514

Relatio magistri Nicolai prepositi Agriensis, secretarii regie maiestatis 149.

Relatio reverendissimi domini Ladislai episcopi Vaciensis, secretarii regie maiestatis 146. [Auf der Rückseite:] Folio VIC LXI, anno 1514147.

145 Die Abkürzung „Lz“ steht für den königlichen Sekretär und Bischof von Waitzen (1513 –1523) Ladislaus Szalkai, zuvor Vizeschatzmeister (1500 –1504, 1504 – 1506), später – unter anderem – Geheimkanzler (1517 –1524), Bischof von Erlau / Eger (1523/24), Erzbischof von Gran (1524 –1526), Ober- und Geheimkanzler (1524 – 1526). 146 Vgl. die vorige Anm. 147 Dies weist darauf hin, dass die Urkunde in den entsprechenden Band der heute verlorenen königlichen Register (Libri regii) eingetragen wurde. 148 Nikolaus Bácsi, königlicher Sekretär, Propst von Erlau – Hl. Jungfrau Maria auf der Burg (1516 –1524). Vgl. Norbert C. T, Az egri káptalan archontológiája 1387 –1526 [Die Archontologie des Kapitels von Erlau 1387 –1526]. Turul 88 (2015) 48 –71, hier 54. 149 Vgl. die vorige Anm. 150 Stephan Brodarich, königlicher Sekretär, Dompropst von Fünfkirchen / Pécs (1522 –1526), später Bischof von Sirmien (1526 –1535), Geheimkanzler (1526). 151 Albert Bellyéni, Protonotar des personalis (1513 –1521).

DL 82397

5

Das Supplikenwesen am spätmittelalterlichen ungarischen Königshof 91

Concessit regia maiestas Bude feria quinta proxima post dominicam Letare anno Domini 1525. Ladislaus Budensis. secretarius 157.

11 DF 201626

157

156

155

154

153

152

vor 30. 3. 1525

[k. A.]

[k. A.]

DL 24103

DF 260227

[k. A.]

[k. A.]

Lecta 155.

Relatio Stephani Broderici doctoris prepositi et secretarii regie maiestatis. [Rechts unten:] Stephanus Brodericus prepositus Quinqueecclesiensis, secretarius.

Vgl. Anm. 150. Druck: S, Írásbeli supplicatiók (wie Anm. 9) 175 f. Nr. 4. Vgl. oben Anm. 148. Dabei handelt sich um eine Urkunde des Landesrichters, die zumeist der Protonotar oder ein anderer Assistent kontrollierte. Thomas Nádasdy, königlicher Sekretär (1524/25), später – unter anderem – Palatin Ungarns (1554 –1562). Ladislaus Budai, königlicher Sekretär (1525 –1526).

k. A. = keine Angabe

Concessit maiestas regia Budae feria quarta proxima post festum anunctiationis [!] Beatissime [!] Virginis Mariae anno Domini MDXXV. Thomas Nadasdy secretarius 156.

10 DL 93852 vor 29. 3. 1525

vor 16. 3. 1525

DL 24109 153

9

Concessit regia maiestas Bude feria quinta proxima post festum Beati Gregorii pape 1525. Nicolaus prepositus Agriensis secretarius 154.

vor 21. 2. 1525

DF 260226 Concessit maiestas regia in profesto (= DF 285402) cathedrae Sancti Petri Apostoli 1525. Stephanus Brodericus secretarius 152.

8

[k. A.]

[k. A.]

13. 3. 1525

19. 2. 1525

92 Bence Péterfi

Das Supplikenwesen am böhmischen Hof im Spätmittelalter Petr Elbel

Das Supplikenwesen am königlichen böhmischen Hof im Spätmittelalter zu behandeln ist aus mehreren Gründen eine anspruchsvolle Aufgabe 1. Der böhmische Hof überschnitt sich bekanntlich zeitweise mit dem römisch-deutschen (1346 –1400, 1420 –1439) bzw. mit dem ungarischen Königshof (1420 –1439, 1453 –1457, 1490 – 1526). In diesen Perioden residierten die böhmischen Herrscher nicht nur in Böhmen, sondern auch in Nürnberg, Ofen / Buda und anderswo, und ihre Hofhaltung und ihr Kanzleiwesen waren Teil eines viel breiteren Kontextes. Wenn man also das Supplikenwesen am (unter anderem) böhmischen Königshof detailliert darstellen möchte, reicht es nicht aus, nur vom böhmischen Quellenmaterial auszugehen, da vermutlich in unzähligen Archiven Europas Bittschriften sowie mehr oder weniger detaillierte Gesandtschaftsberichte überliefert sind, die das Procedere am böhmischen Hof beleuchten. Dieses Material zu versammeln wäre jedoch eine wahre Herkulesaufgabe 2.

1 Dieser Beitrag entstand im Rahmen des durch die Czech Science Foundation geförderten Forschungsprojektes GA15-14758S „Emperor Sigismund’s Party in Hussite Bohemia“. Ich danke Dr. Alexandra Kaar (Prag) für das sprachliche Lektorat des Beitrags. – Abkürzungen: AM = Archiv mˇesta [Stadtarchiv]; CIM = Codex iuris municipalis Regni Bohemiae; CIM 1 = Privilegia civitatum Pragensium, ed. Jaromír  C (CIM 1, Praha 1886); CIM 2 = Privilegia regalium civitatum provincialium annorum 1225 –  1419, ed. Jaromír C (CIM 2, Praha 1895); CIM 3 = Privilegia regalium civitatum provin cialium annorum 1420 –1526, ed. Jaromír C –Gustav F (CIM 3, Praha 1948); CIM 4/1 = Privilegia non regalium civitatum provincialium annorum 1232 –1452, ed. Antonín H (CIM 4/1, Praha 1954); Reg. Imp. XI NB/1 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Regesten Kaiser Sigismunds (1410 –1437) nach Archiven und Bibliotheken geordnet 1. Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken Mährens und Tschechisch-Schlesiens, nach Wilhelm A neubearb. von Petr E (Wien–Köln–Weimar 2012); Reg. Imp. XI NB/2 = J. F. Böhmer, Regesta Imperii XI. Regesten Kaiser Sigismunds (1410 –1437) nach Archiven und Bibliotheken geordnet 2. Die Urkunden und Briefe aus den Archiven und Bibliotheken West-, Nord- und Ostböhmens, nach Wilhelm A neubearb. von Petr E–Stanislav B–Pˇremysl B–Lukáš R (Wien–Köln–Weimar 2015); SOA Litomˇeˇrice – SOkA Louny = Státní oblastní archiv Litomˇeˇrice [Staatliches Gebietsarchiv Leitmeritz] – Státní okresní archiv Louny [Staatliches Bezirksarchiv Laun]; SOA Litomˇeˇrice – SOkA Most = Státní oblastní archiv Litomˇeˇrice – Státní okresní archiv Most [Staatliches Bezirksarchiv Brüx]; SOA Plzeˇn – SOkA Karlovy Vary = Státní oblastní archiv Plzeˇn [Staatliches Gebietsarchiv Pilsen] – Státní okresní archiv Karlovy Vary [Staatliches Bezirksarchiv Karlsbad]. 2 Reiches Material befindet sich in den Archivbeständen der großen deutschen Reichsstädte und der italienischen Stadt- und Territorialstaaten. Im Staatsarchiv Mantua gibt es etwa zahlreiche Berichte über die Bemühungen der mantuanischen Gesandten, am Hof König Wenzels oder Kaiser Sigismunds Urkunden

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Will man sich auf Suppliken böhmischer Untertanen beschränken, steht man umgekehrt vor dem Problem, dass die vorhandene Überlieferung sehr dünn ist. Da in Böhmen mit Ausnahme des sogenannten Kronarchivs – der königlichen Urkundensammlung 3 – für die Zeit vor 1526 so gut wie nichts vom zentralen Hofarchiv erhalten ist, sind nur vereinzelte Suppliken vorwiegend in den Archiven der Empfänger überliefert 4. Wie kann man also das Supplikenwesen am böhmischen Königshof untersuchen, wenn die dafür eigentlich notwendigen Quellen größtenteils fehlen? Meines Erachtens

für die Grafen bzw. seit 1433 Markgrafen aus dem Haus Gonzaga zu erwerben. Die meisten Gesandtschaften unter Wenzel begaben sich begreif licherweise nach Prag, unter Sigismund nach Ofen bzw. an andere Orte in Ungarn, in den Jahren 1436/37 jedoch wieder nach Prag. Lange Zeit waren der Forschung nur der Gesandtschaftsbericht von Bonifacio de’ Coppi da Montefalco aus Prag bzw. jener Paolo Armaninis aus Ofen bekannt, Rudolf K, Ein mantuanischer Gesandtschaftsbericht aus Prag vom Jahre 1383. Mitteilungen des Vereines für Geschichte der Deutschen in Böhmen 37 (1899) 337 –357; Lajos T, Mantovai követjárás Budán 1395 [Die Gesandtschaft Mantuas in Ofen 1395] (Értekezések a történeti tudományok köréb˝ol 20/4, Budapest 1905). Jüngst wurden zahlreiche weitere mantuanische Gesandtschaftsberichte vom Hof der beiden luxemburgischen Herrscher publiziert bzw. neu analysiert, soweit sie bereits in älteren italienischen Arbeiten im Druck vorlagen, Ondˇrej S, Václav IV., Jošt a Prokop oˇcima italského vyslance. K situaci v lucemburském rodˇe roku 1390 [Wenzel IV., Jodok und Prokop in den Augen eines ˇ italienischen Gesandten. Zur Situation im Hause Luxemburg im Jahr 1390]. Casopis Matice moravské 137 (2018) 3 –27; ., Druhé zajetí Václava IV. z italské perspektivy [Die zweite Gesandtschaft Wenzels IV. aus italienischer Perspektive]. Studia mediaevalia Bohemica 9 (2017; im Druck); ., Wenceslaus IV and his Court through the Eyes of the Envoys of Mantua: Some New Evidence from the Gonzaga Archive, künftig in: Wenzel IV. Neue Wege zu einem verschütteten König, hg. von Klara H–Christian O (in Druckvorbereitung); ., Envoys of Mantua at the Court of Sigismund of Luxembourg and their Dispatches, künftig in: Der Hof Kaiser Sigismunds. Personelle Bühne und internationales Zentrum, hg. von Petr E–Klara H (in Druckvorbereitung); Péter E. K, Der Bericht Simone da Cremas, des Botschafters von Mantua, über den Prager Einzug Sigismunds. Studia mediaevalia Bohemica 10 (2018; in Druckvorbereitung). Die Gesandtschaftsberichte informieren zwar über diverse Angelegenheiten, fast immer jedoch auch über den Erwerb von Urkunden, welcher meist das hauptsächliche Ziel der Gesandten darstellte. 3 Siehe dazu Rudolf K, Archiv koruny cˇ eské 1. Dˇejiny archivu [Das Böhmische Kronarchiv 1. Die Geschichte des Archivs] (Praha 1939). Das Kronarchiv wurde im Spätmittelalter und zu Beginn der Neuzeit auf der Burg Karlstein, später auf der Prager Burg und von 1750 bis 1920 im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien aufbewahrt. Heute handelt es sich um den wertvollsten Bestand des Nationalarchivs in Prag. 4 Die Jagiellonen verwahrten die alte Registratur der Hofkanzlei einschließlich der böhmischen Registerbücher von 1490 bis 1526 in Ungarn, wo sie im Jahr 1526 oder eventuell auch später vernichtet wurden. Nur kleinere Teile der Registratur – vor allem die älteren Akten – verblieben auf der Prager Burg, wo sie wohl z. T. beim Brand von 1541, z. T. bei späteren Skartierungen verloren gingen, sodass aus dem Mittelalter lediglich zwei böhmische Registerbücher zufällig erhalten geblieben sind (ein Registerbuch Sigismunds aus den Jahren 1436/37 und ein Registerbuch Wladislaus’ II. aus den Jahren 1498 –1502), während das Aktenschriftgut, das für unsere Fragestellung am interessantesten wäre, vollkommen fehlt. Wie groß die Verluste zumindest für die Zeit der Jagiellonen gewesen sein dürften, kann man erahnen, wenn man die trotz aller Skartierungen verhältnismäßig dichte Aktenüberlieferung der böhmischen Hofkanzlei ab 1527 betrachtet, Josef K, Dˇejiny ústˇredního archivu cˇ eského státu. Formování státního archivu od stˇredovˇekého panovnického archivu listinného pˇres archiv cˇ eské kanceláˇre, cˇ eské komory, starého cˇ eského ˇ místodržitelství, cˇ eského gubernia a místodržitelství až po vznik Ceskoslovenské republiky [Geschichte des Zentralarchivs des böhmischen Staates. Die Entstehung des Staatlichen Archivs vom mittelalterlichen Urkundenarchiv des Herrschers über das Archiv der böhmischen Kanzlei, der böhmischen Kammer, der alten böhmischen Statthalterei, des böhmischen Guberniums und der böhmischen Statthalterei bis zur Entstehung der Tschechoslowakischen Republik] (Praha 1992) 16 –20, 25 –45.

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kommen vor allem zwei Wege in Frage, um das Thema wenigstens teilweise zu beleuchten. Den ersten, allerdings wenig aufschlussreichen Weg bildet die Analyse der Narrationes und in deren Rahmen vor allem der Petitiones der Urkunden für böhmische Empfänger. Diese sind zwar stark formalisiert, wir können aber wohl die wichtigsten Abläufe erkennen. Ivan Hlaváˇcek hat die Petitionsformeln der Urkunden König Wenzels analysiert 5. Im ersten Teil meines Beitrags werde ich die Ergebnisse Hlaváˇceks kurz zusammenfassen und diese mit eigenen Beobachtungen aus der Zeit anderer Herrscher – Johanns des Blinden und Sigismunds – zusammenstellen. Den zweiten Weg, sich dem Supplikenwesen am spätmittelalterlichen böhmischen Hof anzunähern, bilden die in den Empfängerarchiven vereinzelt überlieferten Konzepte oder Kopien von Suppliken, bzw. die noch seltener vorhandenen „Gesandtschaftsberichte“ oder Briefe, die Verhandlungen mit dem Herrscher beleuchten. Wie bereits angedeutet, finden sich Schriftstücke dieser Art nur sehr sporadisch in den böhmischen Archiven, da sich auch die spätmittelalterlichen Registraturen der städtischen, adeligen oder klösterlichen Kanzleien in den Böhmischen Ländern sehr schlecht erhalten haben 6. Aus diesen Gründen konnte ich in Böhmen nur vereinzelte Beispiele für solche Schriftstücke finden, von denen ich im zweiten und dritten Teil meines Beitrags zwei interessante Fallbeispiele präsentieren werde.

I. Zunächst jedoch zum ersten Weg: der Untersuchung der Petitionsformeln. Bereits Ivan Hlaváˇcek kam bei seiner Analyse der Petitiones der Urkunden König Wenzels grundsätzlich zum Schluss, dass diese Formeln nur sehr unregelmäßig und unzuverlässig den Anlass zur Ausstellung der betreffenden Urkunde sowie die Art und Weise, wie dieser Anlass dem König bzw. dessen Kanzlei vorgebracht wurde, verzeichnen. Hlaváˇcek versuchte nichtsdestotrotz, einige Thesen zu formulieren. Viele Narrationes enthalten gar keine Petitionsformel, was natürlich nicht heißt, dass der Impuls zur Urkundenausstellung hier automatisch immer vom König selbst ausging. Hlaváˇcek illustrierte dies durch ein interessantes Beispiel: In der Formelsammlung des Tauser öffentlichen Notars Pˇrimda ist eine schriftliche Petitio des Stadtrates von Taus / Domažlice an Wenzel überliefert, die offensichtlich zur Ausstellung eines noch heute erhaltenen Privilegs für Taus führte. In diesem Privileg werden jedoch die Bitten der Empfänger mit keinem Wort erwähnt 7.

5 Ivan H, Das Urkunden- und Kanzleiwesen des böhmischen und römischen Königs Wenzel (IV.) 1376 –1419. Ein Beitrag zur spätmittelalterlichen Diplomatik (MGH Schriften 23, Stuttgart 1970) 224 –229. 6 Ausnahmen bilden z. B. die Archive der an Böhmen verpfändeten Reichsstadt Eger / Cheb, der Herren von Rosenberg / Rožmberk oder des Prämonstratenserstiftes Tepl / Teplá, in denen jedoch die spätmittelalterlichen Akten nicht gut genug erschlossen sind, um darin gezielt nach Konzepten oder Kopien von Suppliken suchen zu können. Gründliche Recherchen in diesen und einigen weiteren Beständen könnten vermutlich besonders für die letzten Jahrzehnte des Mittelalters noch etliche Suppliken erbringen. 7 Die Petition sowie die Urkunde König Wenzels vom 1. Oktober 1382 gemeinsam abgedruckt in CIM 2 750 f. Nr. 588 (die Petition im Kommentar auf S. 751). In der Urkunde wird der Stadt eine dreijährige

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Hlaváˇcek vermutete, dass in jenen Fällen, in denen Bitten des Empfängers gar nicht oder nur ganz allgemein erwähnt wurden, dem Herrscher lediglich durch einen einfachen Boten des Bittstellers eine schriftliche Petitio übergeben wurde 8. Diese schriftliche Petitio dürfte einem Angehörigen der Kanzlei übergeben und durch diesen an den König zur Entscheidung weitergeleitet worden sein; danach erfolgte gegebenenfalls die Urkundenausstellung. Führt die Urkunde aber in der Narratio die persönliche Vorbringung der Bitten durch den Empfänger bzw. dessen Vertreter oder Gesandte an, soll die Supplik nach Hlaváˇcek bei einer feierlichen Audienz mündlich vorgetragen und persönlich übergeben worden sein 9. Bei dieser Audienz dürften dann auch jene Mitglieder des Rates anwesend gewesen sein, mit denen der König sich in der betreffenden Sache beriet. Beratung und Entscheidung über die Urkundenausstellung könnten eventuell noch während der Audienz oder unmittelbar danach erfolgt sein; die Ausfertigung der Urkunde durch die Kanzlei erfolgte selbstverständlich erst im Nachhinein. Eine dritte Möglichkeit bildet die Übermittlung der Bitte durch einen Intervenienten, meist einen dem Empfänger Nahestehenden, oder aber eine einflussreiche Persönlichkeit aus dem Umfeld des Hofes. In seltenen Fällen wurde die Supplik eines Empfängers mit einer Intervention kombiniert 10. Es stellt sich die Frage, ob die von Hlaváˇcek skizzierten Abläufe der Wirklichkeit entsprechen und evtl. allgemeine Gültigkeit beanspruchen können und ob man tatsächlich aus dem Vorhandensein und der Form der Petitionsformel auf die Art der Überbringung einer Bitte schließen darf. Auf den folgenden Seiten wird ein stichprobenartiger Vergleich zwischen dem von Hlaváˇcek ausgewerteten Material König Wenzels und den Urkunden Johanns des Blinden und Sigismunds für die böhmischen Städte durchgeführt, um Hlaváˇceks Thesen zu überprüfen. *** In den Bänden des Codex iuris municipalis Regni Bohemiae, der die Privilegien der böhmischen Städte ediert, konnten insgesamt 129 im Volltext überlieferte Urkunden

Befreiung von der königlichen Steuer gewährt, da sie bei einem Brand schwere Schäden erlitten hatte. In der Petition lesen wir zunächst eine detaillierte Narratio oder Captatio benevolentiae, die darlegt, wie die Stadt einschließlich der Vorstädte während des bayerischen Einfalls nach Böhmen in Brand gesteckt worden war (1373), eine Katastrophe, von der sie sich bisher nicht erholen konnte. Vielmehr müsse die Stadt weiterhin die Stadtsteuer an den König (Wenzel selbst) und dessen Vater (Karl IV.) abführen, wofür sie bei Juden und Christen 300 Schock Groschen ausleihen müsse. Zudem müsse Taus als Grenzstadt stets hohe Summen für die nächtlichen Wachen aufwenden, weshalb man den König um Gnade und Erleichterung bitte. Die eigentliche Petition ist sehr vage formuliert: Quam ob rem universitas incolarum civitatis vestre in Tusta, alias in Domazslicz, vestrorum fidelium oratorum, supplicat celsitudini vestre humiliter et obnixe, quatenus ipsis ad premissa consulere et graciam aliqualem facere et exhibuere dignemini graciose, quod eo facilius pondus premissi debiti possent sustinere et ipsum aliqualiter alleviare et eo fervencius Deum omnipotentem et beatam Virginem cum omnibus sanctis pro vestris prosperis successibus et sanitate longeva exorare. Man kann nur spekulieren, ob diese Petition noch vom mündlichen Vorschlag einer Steuerermäßigung begleitet wurde oder aber ob die Art und Weise der Erleichterung dem Ermessen des Königs überlassen wurde, was Hlaváˇcek meint. 8 H, Urkundenwesen (wie Anm. 5) 225 –227. 9 Ebd. 227. 10 Ebd. 228.

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Johanns des Blinden gefunden werden 11. Nur 26 dieser Urkunden enthalten eine Petitionsformel, während 103 Urkunden Bitten der Empfänger mit keinem Wort erwähnen. In jenen 26 Stücken, die sich auf eine Petition berufen, lassen sich zwei Varianten unterscheiden. In 16 Urkunden werden Bitten der Empfänger nur ganz allgemein erwähnt, wobei nicht ersichtlich ist, ob diese Bitten schriftlich oder mündlich, und in letzterem Fall, ob durch Bürgermeister und Rat oder durch deren bevollmächtigte Gesandte vorgebracht wurden 12. In den restlichen zehn Urkunden werden persönliche Bitten städtischer Repräsentanten oder Gesandter vor dem König explizit angeführt 13. Überraschenderweise kommen in den angeführten 129 Urkunden Johanns des Blinden keine Intervenienten vor. Laut der oben zitierten Thesen Ivan Hlaváˇceks wäre bei jenen 103 Urkunden, die keine Petitionsformel enthalten, ebenso wie bei jenen 16 Stücken, die nur allgemein Bitten der Empfänger erwähnen, dem Herrscher lediglich eine schriftliche Supplik zugestellt worden, während die restlichen zehn Urkunden durch eine persönlich vorgebrachte Petition erbeten wurden. Heißt das Schweigen über vorgebrachte Bitten oder deren knappe Erwähnung aber tatsächlich, dass die Petition nur schriftlich vorgelegt wurde? Gab es am böhmischen Hof unter Johann dem Blinden schon eine derart weit fortgeschrittene Verschriftlichung des Supplikenwesens? Und soll man wirklich

11 Siehe CIM 1; CIM 2; CIM 4/1. Einige dieser 129 Urkunden stellte Johann der Blinde gemeinsam mit seinem ältesten Sohn und designierten Nachfolger, Markgraf Karl von Mähren, der im Jahr 1341 de facto die Stellung eines Vizekönigs erlangte, aus. Die Urkunden, die Karl als solcher selbst ausstellte, bleiben hier unberücksichtigt. Ebenso unberücksichtigt bleiben auch jene Urkunden Johanns, die nur in Auszügen oder alten Regesten überliefert sind, da diese die Urkundenformeln üblicherweise nicht (vollständig) enthalten. 12 Die Bitten werden auf sehr unterschiedliche Art erwähnt. Auf der einen Seite begegnen sehr knappe Erwähnungen wie die folgenden: . . . civibus ipsis, qui celsitudini nostre provide humiliter supplicarunt . . ., CIM 2 165 f. Nr. 92: 1310 Dezember 31, Prag; . . . quod fideles nostri cives nostre Noue civitatis Pilznensis nostre regie maiestati humiliter supplicarunt . . ., CIM 2 192 f. Nr. 114: 1320 Oktober 8, Luxemburg; . . . ipsorumque [P. E.: civium] propterea precibus benignius inclinati . . ., CIM 2 204 Nr. 126: 1323 Oktober 8, Prag, oder ipsorum [P. E.: civium] in hac parte obnixis supplicacionibus inclinati . . ., CIM 2 239 f. Nr. 143: 1327 Januar 21, Prag; . . . ad supplices eorum instancias nobis factas . . ., CIM 2 252 –255 Nr. 149: 1327 Dezember 26, Luxemburg. Daneben finden jedoch auch etwas blumigere Formulierungen Verwendung, wie etwa: . . . nos dilectorum nobis civium civitatis nostre Gurimensis . . . supplicationibus per eos nostro culmini suppliciter exhibitis et porrectis benigniter inclinati . . ., CIM 2 315 Nr. 194: 1336 Dezember 3, Prag; . . . quod ex parte civium nostrorum civitatis Pontensis nostre est expositum maiestati, quod . . . propter quod supradicti cives nostri supplicaverunt nobis, ut ipsis et dicte civitati super hoc de benignitate regia providere dignaremur, CIM 2 194 f. Nr. 116: 1321 März 9, Prag; . . . iustis et racionabilibus peticionibus nostre oblatis celsitudini per dilectos nobis cives civitatis nostre in Tust favorabiliter annuentes . . ., CIM 2 276 –278 Nr. 163: 1331 September 13, Prag. 13 Auch hier variieren die Formulierungen. Sie enthalten jedoch stets die Information, dass die Petition dem Herrscher persönlich vorgetragen wurde. Siehe z. B.: . . . constituti in nostra presencia dilecti nobis cives nostri de Sacz nobis quoddam privilegium felicis recordacionis domini Otthakari regis Boemie . . . exhibuerunt . . ., nobis attente et devocius supplicantes . . ., CIM 2 174 f. Nr. 100: 1317 November 24, Laun / Louny; oder . . . constituti in nostra presencia fideles nostri cives maioris civitatis nostre Pragensis nobis exhibuerunt quoddam privilegium . . . cum instancia postulantes, ut privilegium ipsum et singula contenta in eodem dignaremur de innata nobis clemencia confirmare . . ., CIM 1 27 f. Nr. 12: 1319 Juli 27, Prag; . . . pro parte fidelium nostrorum civium civitatis nostre Chadanensis est expositum coram nobis . . . Quare supradicti cives a nobis cum supplicacione devota et humili petiverunt, ut eis supranotata jura dignaremur graciosius confirmare . . ., CIM 2 186 –188 Nr. 111: 1319 Dezember 24, Prag; Deutsch: . . . das unser lieben und getreuen richter und schoffen unser grosser stat zu Prag uns ir offen brieff gewiest haben, mit ir stat insigel wersigelt, das wir in den geruchten gnediclich zu bestetigen . . ., CIM 1 62 f. Nr. 39: 1341 Juni 2, Prag.

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nur bei jenen zehn Urkunden, in denen eine Audienz der städtischen Repräsentanten oder Gesandten explizit angeführt wird, eine solche voraussetzen? Hält man sich die Bedeutung der mündlichen sowie der symbolischen Kommunikation im Mittelalter vor Augen, scheint mir dies eher unwahrscheinlich. Bei der näheren Sichtung des Materials und dem Versuch, das Vorhandensein bzw. die Form der Petitionsformel mit dem Inhalt der Urkunden in Zusammenhang zu setzen, bin ich zu einem interessanten Befund gekommen, der die Thesen Ivan Hlaváˇceks teilweise korrigieren könnte. Von jenen 26 Urkunden, die Bitten der Empfänger anführen – unabhängig davon, ob eine persönliche Vorsprache erwähnt wurde oder nicht – betreffen 21 Urkunden hauptsächlich die Bestätigung von Rechten, Privilegien und Urkunden. Die restlichen fünf Urkunden gewähren zwar neue Gnaden und Rechte, es handelt sich jedoch meist um keine großzügigen Konzessionen 14. Die inhaltliche Zusammensetzung jener 103 Urkunden, die keine Bitten der Empfänger erwähnen und sich selbst als außerordentliche Gnadenakte des Herrschers präsentieren 15, ist ziemlich bunt, wir begegnen hier jedoch u. a. auch zahlreichen Urkunden, mit denen den jeweiligen Städten Landgüter abgetreten, Steuern erlassen, Jahrmärkte, Meilen- oder Stapelrechte gewährt wurden usw. Es ist anzunehmen, dass

14 Konkret handelt es sich um: (1.) eine Urkunde für Brüx / Most, in der König Johann auf Bitten der Bürger eine Entscheidung über die Wochenmärkte in Brüx und dem nahe gelegenen Kommotau / Chomutov traf, die beide montags abgehalten wurden. Während der Brüxer Wochenmarkt weiterhin montags abgehalten werden sollte, übertrug Johann den Kommotauer Markt auf Dienstag. Aus der Urkunde ergibt sich nicht, ob die Bürger diese Regelung vorgeschlagen hatten – angeblich baten sie den König um eine (zu ihren Gunsten zu treffende!) Entscheidung, CIM 2 194 f. Nr. 116: 1321 März 9, Prag; (2.) eine Schenkung von sechs Hufen Weiden außerhalb der Stadtmauer an die Stadt Kaurim / Kouˇrim, CIM 2 239 f. Nr. 143: 1327 Januar 21, Prag; (3.) eine Bestätigung des städtischen Patronats über das Spital außerhalb der Stadtmauer von Taus, das die Bürger zuvor gegründet hatten, CIM 2, 276 –278, Nr. 163: 1331 September 13, Prag. Die am weitesten gehenden Rechte und Freiheiten werden in folgenden zwei Urkunden mit Petitionsformeln gewährt: (4.) für Laun, in der der Stadt die Erhebung des Ungelds überlassen wurde, um die Straßen zu pflastern, CIM 2 300 f. Nr. 183: 1335 Dezember 19, Prag, und (5.) für Pisek, dem das Recht der Prager Altstadt sowie einige Gnaden und Freiheiten einschließlich einer Zollbefreiung in mehreren Städten und Märkten Südböhmens gewährt wurde, CIM 2 242 f. Nr. 145: 1327 März 17, Prag. Vor allem die letzte Urkunde bildet eine Ausnahme, da die vergleichsweise weitreichenden Privilegien Johanns des Blinden sich ansonsten nie auf eine Petition berufen, sondern sich stets als gnädige Verfügungen des Herrschers präsentieren. 15 Die Urkunden führen meist an, der Herrscher wolle die rechtliche oder wirtschaftliche Situation der betreffenden Stadt verbessern, eine herrschende Notlage beenden oder aber eine Kompensation für geleistete Dienste gewähren. Hier seien nur zwei signifikante Beispiele zitiert. In der Narratio einer Steuerbefreiung für die Stadt Königgrätz / Hradec Králové auf sieben Jahre, mit der dieser Stadt auch das Schlagen von Bauholz in den königlichen Wäldern und der Abbau von Steinen auf königlichen und adeligen Gütern gestattet wurde, heißt es z. B.: . . . considerantes diligenciam nostrorum fidelium, civium in Grecz super Albea, quam gerunt et habent super ipsius civitatis munimentum ac melioracionem, refeccionem murorum et turrium edificacionem, ipsos speciali prerogativa tituli dotare volendo, diligencius nichilominus pensantes, ipsos graves casus, iacturas et iniurias tollerasse, pro quibus ipsos ex regali clemencia premiare et consolari intendentes . . ., CIM 2 197 f. Nr. 120: 1321 April 24, Prag. In einer Urkunde für die Prager Altstadt, der König Johann für den Ausbau der Stadt den Abbau von Stein, Kalk, Sand und Lehm auf den Gütern beliebiger Personen bewilligte, heißt es wiederum: . . . quod nos maioris civitatis nostre Pragensis et incolarum ipsius condicionem cupientes facere et fieri meliorem, fidem et devocionis constanciam ciuium ipsorum, quam semper gesserunt hactenus et adhuc erga nostram gerunt celsitudinem, attenta mentis consideracione pensantes, ut civitas ipsa in edificiis emendari valeat, eo melius et amplius decorari . . ., CIM 1 30 f. Nr. 15: 1328 Dezember 1, Prag.

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gerade diese Urkunden, die oft bedeutende Änderungen der Besitz- und Rechtsverhältnisse mit sich brachten, persönlich durch städtische Repräsentanten oder Gesandte erbeten bzw. ausverhandelt wurden, auch wenn dies meist mit keinem Wort angedeutet wird (nur in einigen Urkunden wird – trotz Fehlens der Petitionsformel – angeführt, dass die Bürger, Ratsherren oder Gesandten den Herrscher persönlich über ihre Lage informiert hatten, was diesen dann zur Ausstellung der betreffenden Urkunde bewogen habe 16). Wie erklärt man nun das Fehlen der Petitionsformel, wenn die Existenz einer Supplik und oft sogar deren persönliche Vorbringung vorausgesetzt werden kann? Meines Erachtens bietet sich hier am ehesten folgende Hypothese an: Die Kanzlei dürfte in den betreffenden Fällen die Bitten der Empfänger absichtlich verschwiegen haben, um den Anschein zu erwecken, die Urkunde gehe aus eigener königlicher Initiative als besonderer Gnadenerweis hervor, eine Gnade, die man nicht beantragen, geschweige denn beanspruchen könne (im Unterschied zu Urkunden- und Privilegienbestätigungen, bei denen die Initiative der Petenten offensichtlich als vollkommen zulässig erachtet wurde). Trifft diese Erklärung zu, würde das Vorhandensein oder das Fehlen einer Petitionsformel vor allem aus dem Inhalt der Urkunde resultieren und nicht die Art und Weise der Übermittlung von Bitten um die Urkundenausstellung widerspiegeln, wie Ivan Hlaváˇcek vermutete. *** Wie ist es aber nun in dieser Hinsicht um die Urkunden König und Kaiser Sigismunds bestellt? Lassen sich die oben angeführten Beobachtungen aus diesem Material bestätigen? In CIM konnten 115 Urkunden Sigismunds für böhmische Städte und Bürger aus der Zeit der formalen (ab 1420) bzw. der realen (1436/37) Regierung Sigismunds in Böhmen gefunden werden 17. Das Formular dieser Urkunden ist grundsätzlich etwas komplizierter und blumiger als das der Urkunden Johanns des Blinden. Vielleicht auch 16 Eine persönliche Darlegung der Umstände durch Bürger oder Gesandte ohne explizite Erwähnung einer Petition ist in den Urkunden Johanns des Blinden ziemlich selten. Dennoch zeigen diese Fälle eindeutig, dass das Fehlen der Petitionsformel nicht zwangsläufig heißt, dass die vorauszusetzende Supplik schriftlich zugestellt wurde. In einer Urkunde für die Stadt Eger vom 16. Juni [1336], in der der König jene städtischen Freiheiten und Rechte bestätigte, die im Widerspruch zu seiner früheren Urkunde für das Kloster Waldsassen standen, beruft König Johann sich auf durch Egerer Gesandte persönlich vorgebrachte Beschwerden: Venientes ad presenciam nostram pro parte vestra et civitatis vestre concives vestri nobis quasdam literas nostras ostendere curarunt, datas et concessas contra vos et in preiudicium vestrum abbati et monasterio Waltsacensi et contra immunitates vestras . . . quibus vos gravare nituntur minus iuste . . ., CIM 2 289 f. Nr. 174. Es wird nicht explizit angeführt, dass die Bürger den König um eine Lösung dieses Zustands gebeten hatten, dies versteht sich jedoch von selbst. In einer Urkunde vom 16. Juni 1341, in der die Höhe der Steuer von den Landgütern der Bürger von Leitmeritz / Litomˇeˇrice festgelegt wurde, heißt es: quia nostri dilecti fideles cives de Lithomierycz hoc coram nobis demonstraverunt et ostenderunt evidenter . . ., CIM 2 355 –357 Nr. 229. Hierher gehört auch eine allgemeine Privilegienbestätigung mit der Befreiung von Zöllen und Ungeldern in den Böhmischen Ländern für die eben an Johann verpfändete Reichsstadt Eger vom 23. Oktober 1322, in der das Erscheinen einer Egerer Huldigungsgesandtschaft vor dem König erwähnt wird: daz wir den bescheiden luten, den burgern von Eger darvmbe, daz sie sich guetlich nach dem gebot vnd dem geheizze vnsers durchluchtiges herren, hern Ludwiges, chunig von Rome ze allen ziten merer des riches, zu vns gekart haben, mit der stat zu Eger vnd vns gehuldet haben vnd gelobent holt vnd trewe zu wesen als irem rechten herren, gelobe wir in stete ze behalden alle die rechte . . ., CIM 2 200 f. Nr. 123. 17 Siehe CIM 1; CIM 3; CIM 4/1. Beiseite gelassen wurden jene Urkunden, die Sigismund vor 1420 als ungarischer oder römischer König für die Städte in Böhmen ausstellte. Des Weiteren blieben jene

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aus diesem Grund gibt es hier viel öfter eine Petitionsformel als unter Johann dem Blinden. Das Verhältnis zwischen den Urkunden mit und jenen ohne Petitionsformel stellt sich hier jedenfalls ganz anders dar: Während 70 Urkunden eine Petition erwähnen, schweigen sich nur 45 Urkunden über eine solche aus. Innerhalb der 70 Urkunden mit Petitionsformel überwiegen Urkunden, in denen Bitten der Empfänger nur ganz allgemein erwähnt werden (40 Stück), wobei unklar bleibt, ob diese Bitten schriftlich oder mündlich, durch städtische Repräsentanten oder deren Gesandte übermittelt wurden. Zahlenmäßig folgen darauf jene Urkunden, laut denen Bürgermeister, Richter, Räte und Bürger den Herrscher persönlich um eine Urkunde baten (17 Stück), gefolgt von jenen, in denen eine Gesandtschaft erwähnt wird (12 Stück). In einer Urkunde wird explizit ein Intervenient genannt. Jene Urkunden, die nur allgemein Bitten der Empfänger anführen, enthalten meist die Formulierung, die Empfänger (Bürgermeister, Rat und Bürger; Bürger und Einwohner, usw.) hätten den Herrscher in der betreffenden Angelegenheit um dessen Handeln gebeten 18 bzw. ihm eine Supplik vorgebracht 19. Die dritte Möglichkeit ist eine lediglich knappe Erwähnung, der Herrscher nehme auf Bitten der Empfänger Bezug 20. Wie oben gezeigt, setzte Ivan Hlaváˇcek bei derartigen, wenig konkreten Petitionsformeln voraus, dass eher nur eine schriftliche Supplik durch einen einfachen Boten übermittelt wurde. Dies mag oft der Fall gewesen sein, besonders wenn die betreffende Urkunde an einem fernen Ort ausgestellt wurde (z. B. Basel, Pressburg / Bratislava oder Kaschau / Košice). Umgekehrt könnte sich hinter dieser knappen Formulierung durchaus auch manchmal die persönliche Vorbringung von Bitten verbergen, besonders dann, wenn eine Urkunde für eine Stadt genau während des Aufenthaltes des Herrschers in eben dieser Stadt ausgestellt wurde 21. Eine am 7. Juli 1422 in Wien ˇ ausgestellte Urkunde für Budweis/Ceské Budˇejovice beruft sich nur allgemein auf Urkunden unberücksichtigt, die zwar direkt oder indirekt eine oder mehrere Städte betrafen, dabei aber für adelige Empfänger bestimmt waren (typisch z. B. die Verpfändung der Stadtsteuer oder einer ganzen Stadt). Ebenfalls unberücksichtigt blieben auch jene Urkunden, die zwar für Städte oder einzelne Bürger ausgestellt wurden, heute aber nur noch in einem alten Regest oder Auszug vorliegen. Den Urkundenauslauf Sigismunds für die „katholischen“ königlichen Städte Böhmens untersuchte Alexandra K, Die Stadt (. . .) viel privilegirt, aber wenig ergötzt. Sigismunds Herrschaftspraxis und seine Urkunden für die „katholischen“ königlichen Städte Böhmens, in: Kaiser Sigismund (1368 –1437). Zur Herrschaftspraxis eines europäischen Monarchen, hg. von Karel H–Alexandra K (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 31, Wien–Köln–Weimar 2018) 267 –300. 18 Z. B.: supplicaverunt igitur nostre celsitudini prefati cives Leuthomericenses, quatenus . . ., CIM 3 20 –22 Nr. 15: 1421 Februar 17, Leitmeritz; Deutsch: wann uns die burger und inwoner unser städtels zu Schonbach, unsere lieben getreuen, demütiglich gebeten haben . . ., CIM 4/1 336 f. Nr. 229: 1422 September 12, Nürnberg; etwas ausführlicher: . . . sane pro parte civium et incolarum opidi forensis in Thyn Horssoviensi districtus [P. E.: Pilsnensis], fidelium nostrorum dilectorum, celsitudini nostrae cum humili precum instantia extitit supplicatum, quatenus . . ., CIM 4/1 339 f. Nr. 232: 1423 Mai 6, Kaschau / Košice. 19 Z. B.: . . . quod pro parte oppidanorum in Pfrymberg, fidelium nostrorum dilectorum, oblata nobis petitio continebat, quatenus . . . CIM 4/1 337 f. Nr. 230: 1422 Oktober 1, Regensburg; sane pro parte fidelium nostrorum incolarum et opidanorum opidi nostri in Hostomicz maiestati nostre supplex oblata peticio continebat, quatenus . . ., CIM 4/1 364 –366 Nr. 255: 1436 Oktober 14, Prag. 20 Z. B. . . . devotis quoque et votivis ipsorum supplicacionibus favorabiliter inclinati . . ., wie in der Privilegienbestätigung für Kaaden / Kadaˇn vom 8. Januar 1421, Leitmeritz, angeführt, CIM 3 15 –17 Nr. 12. 21 Siehe etwa zwei Urkunden für Leitmeritz, die am 16. bzw. 17. Februar 1421 in dieser Stadt ausgestellt wurden. Auch wenn keine persönlichen Bitten angeführt werden, verstehen diese sich wohl von selbst, CIM 3 19 f. Nr. 14; ebd. 20 –22 Nr. 15. Dasselbe gilt für vier Urkunden für die Prager Altstadt, die

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Bitten der Budweiser Bürger 22, eine zweite Urkunde vom selben Tag für den Budweiser Stadtrichter Sigismund Klaritz führt jedoch dessen persönliche Anwesenheit in Wien an 23. Dies ist ein deutlicher Hinweis darauf, dass auch die erste genannte Urkunde persönlich durch einen hochrangigen Repräsentanten der Stadt, den Stadtrichter, und vielleicht noch durch weitere Vertreter der Stadtregierung erbeten wurde. Die zitierten Fälle beweisen eindeutig, dass die kurze Form der Petitionsformel nicht automatisch bedeutet, dass die Supplik ausschließlich schriftlich und durch einen einfachen Boten übermittelt wurde. Ganz im Gegenteil lassen sich hinter diesen wenig konkreten Formeln verschiedene Vorgangsweisen einschließlich der persönlichen Bitten vermuten. Die restlichen Petitionsformeln führen explizit die persönliche Vorbringung der Bitten durch die städtischen Repräsentanten, Gesandten bzw. den Intervenienten an. Die Grenze zwischen den ersten zwei Gruppen ist nicht immer ganz klar. Während uns die Formulierung dass fue r uns komen sint der burgermeister, rate und burgere der statt zum Elnbogen, unsere liebe getruen, und baten uns mit demutigem fleisse eindeutig informiert, dass im Juli 1420 der Bürgermeister und (fast) der gesamte Stadtrat von Elbogen / Loket zur Prager Burg kamen, um dem neuen Herrscher zu huldigen und dabei eine allgemeine Privilegienbestätigung von ihm zu erwerben 24, lässt sich die kürzere Formel daß für uns kommen seynd die bürgere und inwohner zu Carlsbade, unsere lieben getreuen, und batten uns mit dümitigen fliße eventuell so interpretieren, dass die Stadt Karlsbad / Karlovy Vary bei derselben Gelegenheit nur eine bevollmächtigte Gesandtschaft abordnete 25. Es könnte sich jedoch auch einfach um eine kürzere Formulierung handeln, die aber ebenso die Anwesenheit einer größeren Anzahl von politischen Repräsentanten der Stadt anzeigen sollte. In weiteren zwölf Urkunden wird allerdings explizit eine städtische Gesandtschaft angeführt, die stets als „ehrbare Botschaft“ bezeichnet wird 26. In einigen Fällen werden sogar einzelne Gesandte namentlich angeführt 27. Bis auf wenige Ausnahmen dürften solche Gesandtschaften in der Regel ein- oder zweiköpfig gewesen sein, vom militärischen Gefolge abgesehen 28.

Sigismund am 26. August 1436 in Prag ausstellte, CIM 1 221 –224 Nr. 137; ebd. 224 –226 Nr. 138; ebd. 226 f. Nr. 139; ebd. 228 f. Nr. 140. 22 . . . wann wir von wegen des burgermeisters, rates und burgere gemeinlich der stat zu Budweis, unserr lieben getruen, diemieticlich gebeten sind . . ., CIM 3 27 f. Nr. 21. 23 . . . das fur uns komen ist unser lieber getrewer Sigmund Claricz, richter zum Budweis, und hat uns diemieticlich gebeten, das . . ., CIM 3 28 f. Nr. 22. 24 Siehe CIM 3 1 f. Nr. 1: 1420 Juli 16, Prag. 25 Siehe SOA Plzeˇn – SOkA Karlovy Vary, Bestand AM Karlovy Vary, Inv. Nr. 133; Regest in CIM 3 3 Nr. 2: 1420 Juli 16, Prag. Dasselbe gilt auch für die Privilegienbestätigungen für Königsberg an der Eger / Kynšperk nad Ohˇrí und Falkenau / Sokolov vom selben Tag, CIM 4/1 333 Nr. 226; ebd. 334 Nr. 227. 26 Z. B. wann uns nu unsere lieben getruen die burgermeister, rat und burgere gemeinlich der stat zu Brux durch ir erbere volmechtige botschafft demuticlich und flissiclich gebeten haben . . ., SOA Litomˇeˇrice – SOkA Most, Bestand AM Most, Inv. Nr. 29; Regest in CIM 3 92 Nr. 63: 1434 Februar 22, Basel. 27 Z. B. wann uns nu unsere liebe getruen die burgermeistere, rate und burgere gemeinlich der stat zu Eger durch ire volmechtige erbere botschaft durch den erbern Niclasen Gummerawer, unsern lieben getruen, demuticlich und flissiclich gebeten haben . . ., CIM 3 89 –92 Nr. 62: 1434 Februar 22, Basel. 28 An dieser Stelle sei z. B. auf die Rechnungen der Stadt Znaim / Znojmo aus den Jahren 1421/22 hingewiesen, in denen detailliert über die städtischen Gesandtschaften zu König Sigismund und Herzog Albrecht V. von Österreich und ihre Ausgaben abgerechnet wird. Eine Gesandtschaft umfasste üblicherweise ein bis zwei Männer, das militärische Gefolge bildeten zwei oder drei Berittene. Einmal bildeten

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Die letzte Form der Petitionsformel ist schließlich jene, die einen Intervenienten anführt. Wie oben angeführt, gibt es im untersuchten Material nur einen Fall, in dem explizit eine Intervention genannt wird: Sigismunds Privileg für den Markt Trebnitz / Tˇrebenice vom 5. Oktober 1423 wurde auf Bitten des Pfandherrn dieses Marktes, Johann Kappler von Sulewitz / Sulevice (heute Sulejovice), ausgestellt 29. Mit diesem Stück sind wohl noch einige weitere Urkunden für kleinere Städte und Märkte verwandt, die zwar keine Petitionsformel enthalten, in denen aber König Sigismund die Verdienste des Stadt- bzw. Marktherrn hervorhebt und die Urkunde als Lohn für diese Dienste bezeichnet wird 30. Weil auch diese Urkunden aufgrund von Suppliken ausgestellt worden sein dürften, deutet die Hervorhebung der Verdienste des Stadtherrn darauf hin, dass die vorauszusetzende Supplik eben von diesem Stadtherrn ausging. Damit kommen wir zu jenen 45 Urkunden Sigismunds, die keine Petitionsformel enthalten. Auch hier lassen sich – ähnlich wie bei den Urkunden Johanns des Blinden – Argumente finden, die dafür sprechen, dass einige dieser Urkunden nach einer persönlichen Audienz der Empfänger oder deren Gesandten ausgestellt worden ˇ sein könnten. So beruft sich etwa eine Urkunde für Böhmisch Brod/Ceský Brod vom 4. Januar 1437, mit der Sigismund der Stadt deren vernichtete ältere Privilegien erneuerte, auf die persönliche Mitteilung der Bürger (. . . sicuti ipsi cives coram nostra maiestate dixerunt . . .) 31. Nach der Vorstellung der verschiedenen Petitionsformeln wollen wir uns nun den Inhalt der betreffenden Urkunden ansehen, um zu überprüfen, ob auch in Sigismunds Urkunden ein Zusammenhang zwischen dem Vorhanden- bzw. Nichtvorhandensein

ausnahmsweise der Stadtrichter, zwei Mitglieder des alten und ein Mitglied des aktuellen Stadtrates eine größere, vierköpfige Gesandtschaft, die von sechs Berittenen begleitet wurde. Die Huldigungsgesandtschaft, die Anfang Jänner 1422 nach Wien aufbrach, um Herzog Albrecht als neuem Stadtherrn zu huldigen, bestand aus vier Mitgliedern des alten und sechs Mitgliedern des aktuellen Stadtrates, sowie 40 Vertretern der Bürger- und Einwohnerschaft. Siehe Petr E, Pobyty vyslanc˚u a posl˚u mˇesta Znojma na dvoˇre krále Zikmunda a rakouského vévody Albrechta V. ve svˇetle znojemských mˇestských úˇct˚u z let 1421 – 1422. Pˇríspˇevek ke dvorské každodennosti [Die Aufenthalte von Gesandten und Boten der Stadt Znaim am Hof König Sigismunds und Herzog Albrechts V. von Österreich im Licht der Znaimer Stadtrechnungen der Jahre 1421 –1422. Ein Beitrag zur höfischen Alltagsgeschichte], in: Dvory a rezidence ve stˇredovˇeku 3. Všední a sváteˇcní život na stˇredovˇekých dvorech [Höfe und Residenzen im Mittelalter 3. Fest- und Alltag an mittelalterlichen Höfen], hg. von Dana D-M–Jan Z (Mediaevalia Historica Bohemica 12, Supplementum 3, Praha 2009) 475 –502, hier 496 –500. 29 . . . ad nobilis Johannis Kappler de Sulewicz supplicem petitionis instantiam, per eum pro praefatis oppidanis tam devote porrectam . . ., CIM 4/1 340 f. Nr. 233. 30 Dies ist z. B. bei der Urkunde für den Markt Ronsperg / Pobˇežovice der Fall, die König Sigismund am 3. Februar 1424 in Blindenburg / Visegrád angeblich aus eigener Initiative ausstellte, die in der Narratio jedoch die treuen Dienste des Besitzers dieses Marktes hervorhebt: . . . quod attentis gratis et fidelibus serviciis, nobis et corone nostre Boemie per famosum Bohuslaum de Horsow, residentem in Pobiezowicz, fidelem nostrum dilectum, hactenus impensis, horum quidem serviciorum suorum intuitu, volentes eciam subditos suos singularis consolacionis antidoto respicere ac condicionem ville sue in Pobiezowicz facere meliorem . . ., CIM 4/1 346 f. Nr. 238. Ähnlich werden im Jahrmarktprivileg für Plan / Planá vom 1. Oktober 1436 die Dienste Aleš’ von Seeberg/Žeberk zu Plan hervorgehoben: . . . quod habito respectu ad grata serviciorum studia ac constantis fidei puritatem nobilis Alssonis de Zieberg, residentis in Plana, fidelis nostri dilecti, quibus serenitati nostre multa fidelitate placuit et placere debebit et poterit in futurum . . ., CIM 4/1 361 –363 Nr. 253. Siehe weiters auch die Marktprivilegien für Horní Cerekev, CIM 4/1 372 f. Nr. 261: 1437 März 1, Prag; bzw. für Buchau / Bochov, CIM 4/1 377 f. Nr. 266: 1437 August 26. 31 CIM 3 149 –152 Nr. 96.

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der Petitionsformel und dem Inhalt der entsprechenden Urkunde festgestellt werden kann. Ähnlich wie bei den Urkunden Johanns des Blinden finden sich unter den 70 Urkunden mit Petitionsformeln vorwiegend Privilegien- und Urkundenbestätigungen sowie -erneuerungen (im Fall des Verlustes von Urkunden während des Hussitenkriegs). Es handelt sich um insgesamt 59 Urkunden, die vorwiegend aus den ersten, problematischen Regierungsjahren Sigismunds und besonders aus der Zeit seiner faktischen Regierung in den Jahren 1436/37 stammen 32. Ein Teil dieser Urkunden wurde während eines Aufenthalts des Herrschers in der privilegierten Stadt ausgestellt, ein anderer Teil im Zuge einer Huldigungsgesandtschaft zum jeweils aktuellen Aufenthaltsort Sigismunds. Der Rest wurde erst später – unabhängig von der Huldigung – erbeten. Die übrigen elf Urkunden mit Petitionsformeln sind keine Privilegienbestätigungen, sondern gewähren neue Rechte und Privilegien ziemlich unterschiedlichen Charakters. In den ersten Jahren des Hussitenkriegs handelt es sich eher um kleinere Konzessionen und Gnadenerweise, wie etwa um die nachträgliche Billigung des Abrisses des Hauses des Leitmeritzer Propstes, des Magisters Zdislaus von Zweretitz / Zvíˇretice, durch die Bürger von Leitmeritz / Litomˇeˇrice wegen dessen Zugehörigkeit zur hussitischen „Häresie“ 33. Einen interessanten Fall bildet ein in Pressburg ausgestellter Brief Sigismunds an den Stadtrat von Budweis, in welchem er u. a. verspricht, nach seiner baldigen Ankunft in Böhmen der Bitte des Rates Folge zu leisten und der Stadt ihre Schulden bei den Juden zu erlassen 34. Der eigentliche Schuldenerlass ist jedoch nicht überliefert, weswegen wir nicht wissen, ob ein entsprechendes Diplom ausgestellt wurde, und wenn ja, ob darin dann die Petition der Budweiser angeführt wurde. Weitere Gnaden und Privilegien, die sich auf Bitten der Empfänger berufen,

32 In den Jahren 1420 –1422 waren dies natürlich nur Städte, die Sigismund als König anerkannten, besonders also die west- und nordböhmischen Städte sowie Budweis in Südböhmen. Einige dieser Städte ließen sich ihre Privilegien nach der Kaiserkrönung nochmals unter dem kaiserlichen Siegel bestätigen. In den Jahren 1436/37 war dann die Bestätigung oder Erneuerung von Privilegien ein wichtiger Bestandteil des Versöhnungsprozesses zwischen den hussitischen Städten und dem Herrscher. Umfangreiche Privilegienbestätigungen erhielten vor allem die Prager Altstadt (teilweise in Buchform und unter Goldbulle) und auch die Prager Neustadt. In Kuttenberg / Kutná Hora bestätigte Sigismund zusammen mit den alten Rechten und Privilegien dieser Bergstadt ein bemerkenswertes Abkommen zwischen den neuen und den vertriebenen alten Bergleuten, die auf der Basis dieses Abkommens in die Stadt zurückkehren konnten. 33 CIM 3 20 –22 Nr. 15: 1421 Februar 17, Leitmeritz. Die Bürger begründeten den Abriss des Hauses damit, dass dieses in der Vorstadt lag und den Hussiten die Möglichkeit hätte bieten können, von hier aus die Stadt zu bedrohen. Sigismunds Billigung war wohl vor allem deshalb von Nöten, weil das Kollegiatkapitel Leitmeritz eine königliche Stiftung war. Darüber hinaus suchten die Bürger aber auch den rechtlichen Schutz des Königs für den Fall, dass sie wegen der Zerstörung des Hauses gerichtlich belangt würden. Die Petitionsformel scheint in diesem Fall den Kern der Supplik der Bürger widerzuspiegeln: Supplicaverunt igitur nostre celsitudini prefati cives Leuthomericenses, quatenus ipsos de nostra benignitate regia dignaremur absolvere, si quam penam racione eversionis predicte domus erga nos incurrissent, et supportare ab aliorum questionibus, qui eos in antea premissorum occasione quovismodo impetere niterentur. 34 Der König schreibt in seinem Brief an Budweis, der am 2. Oktober 1421 in Pressburg ausgestellt wurde, Folgendes: als ir uns yczunt empoten und von uns begeret habt, das wir euch von solicher schuld, die ir den Juden, unsern camerknechten, schuldig bleibet, ledig zu machen geruchten, lassen wir euch wissen . . ., Auszug in CIM 3 25 Nr. 18; Edition siehe Urkundliche Beiträge zur Geschichte des Hussitenkrieges in Böhmen vom Jahre 1419 an, 1: Von den Jahren 1419 –1428, ed. Franz P (Prag 1873) 155 f. Nr. 145.

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betreffen z. B. die Ausweisung der Juden aus Eger / Cheb 35, die Übertragung eines Teiles der konfiszierten Güter von Mördern und Totschlägern an Frauen und Kinder der Verurteilten 36 oder das Recht, auf Landgütern ansässige Bürger zur Tilgung der städtischen Schulden heranzuziehen 37. Die beiden Privilegien, mit welchen Sigismund die hussitischen Städte Prachatitz / Prachatice und Böhmisch Brod zu königlichen Städten erhob und ihnen das Recht der Prager Altstadt verlieh, sind schließlich die großzügigsten Privilegien, die eine Petitionsformel enthalten 38. Von großer Bedeutung war zudem auch die separate Ausstellung der so genannten kaiserlichen Kompaktaten für die Prager Städte, um die laut der Petitionsformel eine große, zwölfköpfige Gesandtschaft der Prager Altstadt, der Neustadt und der Prager Geistlichkeit gebeten hatte 39. Die kaiserlichen Kompaktaten sollten allerdings ohnehin für das ganze Land gelten, weshalb die Ausstellung dieser Urkunde für die Prager Städte eigentlich auch eine Art Privilegienbestätigung war. Obwohl durch die eben besprochenen elf Urkunden mit Petitionsformeln diverse Rechte und Gnaden gewährt werden, sind jene 45 Urkunden, die keine Petitionsformeln enthalten, in der Regel noch viel großzügiger. Es gibt hier zwar auch Gnaden und Rechte, die für den Herrscher im Prinzip kostenneutral waren und denen wir auch unter den oben besprochenen elf Urkunden mit Petitionsformeln begegnet sind, wie z. B. eine Wappenverleihung 40, Markt- und Jahrmarktprivilegien 41, die Erhebung zur

35 CIM 3 75 –77 Nr. 54: 1430 Oktober 5, Nürnberg. Die Petitionsformel ist hier sehr allgemein formuliert, was wohl auch einer wenig konkreten Supplik entsprochen haben dürfte. Nach Aufzählung der umfangreichen Beschwerden über die Egerer Judengemeinde, die die Egerer Gesandten Sigismund angeblich in Nürnberg vorgebracht hatten, folgt eine knappe Bitte: und haben uns demuticlich angerufet, sy in solichen sachen zu versorgen und solichen unrat gnediclich zu understeen. Zu diesen Ereignissen detailliert Karel H, König Sigismund und seine jüdischen Kammerknechte, oder: Wer bezahlte „des Königs neue Kleider“? Mit einem Quellenanhang, in: Kaiser Sigismund, hg. H–K (wie Anm. 17) 75 –135, hier 106 –108. 36 Die Urkunde wurde am selben Tag für denselben Empfänger wie die eben genannte ausgestellt: CIM 3 77 –79 Nr. 55. 37 Das betreffende Privileg wurde am 27. Januar 1437 ebenfalls für die Stadt Eger in Prag ausgestellt: CIM 3 174 f. Nr. 103. 38 Die Urkunde für Prachatitz wurde am 18. Dezember 1436 in Prag ausgestellt und enthält neben der Erhebung der Stadt in den Rang einer königlichen Stadt auch eine Schutzerklärung für diese Stadt sowie den Handelsweg von Passau nach Prachatitz (den sogenannten Goldenen Steig), CIM 3 144 –147 Nr. 93. Die Urkunde für Böhmisch Brod folgte am 4. Februar 1437, CIM 3 181 f. Nr. 108. Interessanterweise sind die Petitionsformeln dieser Urkunden fast identisch. Auf die Behauptung, die beiden Städte entbehrten seit Jahren einer festen Herrschaft, folgt folgende Formulierung . . . nostreque maiestati accuracius supplicantes, quatenus ipsos ipsorumque [/ eorumque] civitatem una cum universis possessionibus ad ipsam spectantibus in dicionem, possessionem et proprietatem nostre regie celsitudinis assumere . . . dignaremur. 39 CIM 1 216 –219 Nr. 134: 1435 Juli 7, Brünn / Brno. In der detaillierten Petitionsformel finden wir auch die Namen aller 12 Gesandten: A protož, když pˇred naši velebnost pˇredstúpili poslové slovutní, v ta doby z svˇetských: z Starého mˇesta Pražského Jan z Velvar, Zygmund z Chotenˇcic, Václav Hedvika, Mikuláš Humpolec a z Nového Mˇesta Pavel Oldˇrichuov, Valentin Kába, Beneš Cukmanský a z duchovních: mistr Jan z Rokycan, Oldˇrich bakaláˇr ze Znojma, Martin z Chrudimˇe, knˇez Jan od sv. Štˇepána z rybniˇcky a Bohunˇek z Chocni, jménem purgmistruov obojích obcí již ˇreˇcených mˇest, uˇcení Pražského, faráˇruov, knˇeží, žákovstva všeho tudíž i svú náramnú žádostí, mnohými prozbami ustaviˇcnými nás jsú pokornˇe prosili, abychom list majestátu, kterýž celému království a margkrabství dali sme vuobec pro pokoj a ukrocení týchž mˇest, vˇeˇcnˇe držení a zachování; týž list zvláštˇe abychom jim dáti ráˇcili milostivˇe . . . . 40 Konkret der Wappenbrief für Böhmisch Brod vom 13. März 1437, CIM 3 193 f. Nr. 113. 41 Jahrmärkte wurden folgenden Städten gewährt: Crudim / Chrudim, CIM 3 121 f. Nr. 77: 1436 September 25, Prag, zusammen mit einem diesbezüglichen Mandat CIM 3 122 f. Nr. 78: 1436 Septem-

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königlichen Stadt 42, Schutzprivilegien 43 oder z. B. die Gnade, im Krieg einen eigenen Trompeter mitführen zu dürfen 44. Daneben finden sich hier aber auch – und vor allem – solche Privilegien und Begünstigungen, die mit einem Einkommensverlust für die königliche Kammer verbunden waren, wie z. B. die Abtretung des Stadtgerichts an die betreffende Stadt 45, Verpfändungen von Kirchen- bzw. Kammergütern 46, Güterschenkungen 47, die Überlassung der konfiszierten Güter geflüchteter bzw. enttarnter und verurteilter Hussi-

ber 26, Prag; Plan, CIM 4/1 361 –363 Nr. 253: 1436 Oktober 1, Prag; Oberzerekwe / Horní Cerekev, CIM 4/1 372 f. Nr. 261: 1437 März 1, Prag. Das Dorf Ronsperg wurde zu einem Markt erhoben und erhielt einen Wochenmarkt, CIM 4/1 346 f. Nr. 238: 1424 Februar 3, Blindenburg. Ein Wochenmarktprivileg erhielt auch Buchau, CIM 4/1 377 f. Nr. 266: 1437 August 26. 42 Konkret die Erhebung Tabors / Tábors zur königlichen Stadt, welcher Sigismund das Recht der Prager Altstadt und ein Wappen verlieh, CIM 3 167 –174 Nr. 102: 1437 Januar 25, Prag. Siehe dazu František Š, Vom apokalyptischen Drachen zum Städtegründer: Sigismund und Tábor, in: Sigismund von Luxemburg. Kaiser und König in Mitteleuropa 1387 –1437. Beiträge zur Herrschaft Kaiser Sigismunds und der europäischen Geschichte um 1400. Vorträge der internationalen Tagung in Budapest vom 8. – 11. Juli 1987 anläßlich der 600. Wiederkehr seiner Thronbesteigung in Ungarn und seines 550. Todestages, hg. von Josef M–Ern˝o M–Ferdinand S (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 5, Warendorf 1994) 144 –155. 43 Z. B. ein Schutzprivileg, das dem königlichen Burggrafen von Elbogen und anderen Amtleuten verbot, die Stadt Elbogen, die Märkte und die Vasallen des Landes Elbogen mit ungebührlichen Forderungen zu belasten, CIM 3 29 –33 Nr. 23: 1422 August 16, Nürnberg. 44 Konkret wurde diese ungewöhnliche Gnade der Stadt Eger erteilt, wobei es in der Urkunde ausdrücklich heißt, der König habe sie aus eygner bewegnusse ausgestellt, CIM 3 38 f. Nr. 25: 1422 August 21, Nürnberg. Siehe dazu K, Die Stadt (. . .) viel privilegirt (wie Anm. 17) 294 f. 45 Am 17. September 1420 überließ König Sigismund der Bergstadt Kuttenberg, die damals noch unter seiner Kontrolle stand und sogar seine Hauptresidenz in Böhmen bildete, das örtliche Stadtgericht, CIM 3 7 f. Nr. 6. Am 11. November 1437 verschrieb er der Stadt Klattau / Klatovy das dortige Stadtgericht, CIM 3 219 –221 Nr. 125. 46 Bei diesen Urkunden, die verhältnismäßig häufig sind, lässt sich teilweise eine Initiative König Sigismunds voraussetzen, der sich oft bei den ihm treuen Städten verschuldete und diese Schulden dann durch Verpfändungen besicherte. Siehe z. B. die Verpfändung einiger Dörfer des Klosters Sedletz / Sedlec ˇ an die damals noch königstreue Stadt Tschaslau/Cáslav am 4. Dezember 1420, CIM 3 10 f. Nr. 8, die Verschreibung der Egerer Burgpflege an die Stadt im Jahr 1429, CIM 3 66 –68 Nr. 49, oder die Verpfändung des Dorfes Tˇrebosice der Prager Kartause an die Stadt Pilsen / Plzeˇn am 24. Dezember 1436, CIM 3 147 f. Nr. 94. In den Jahren 1436/37, als Sigismund sich mit den hussitischen Städten aussöhnte, kam es jedoch nicht selten zur nachträglichen Legalisierung im Krieg erfolgter Konfiszierungen kirchlicher Güter durch diese Städte mittels einer Verpfändung. Diese Verpfändungen gingen eindeutig auf die Initiative der Städte zurück, die mit dem König oft lange verhandelten, wie z. B. im dritten Abschnitt dieses Aufsatzes nachgewiesen wird. Trotzdem finden sich in den Narrationes der betreffenden Urkunden keine Spuren dieser Verhandlungen. Siehe die Verschreibung der Güter des Klosters Launowitz / Louˇnovice und des Waldes Dobronice um 2.400 Schock Groschen an die Stadt Tabor am 30. Januar 1437, CIM 3 177 –180 Nr. 106, sowie die Verschreibung von 1.300 Schock Groschen auf dem Kloster Postelberg / Postoloprty an die Stadt Laun, CIM 3 215 –217 Nr. 122 (mehr dazu siehe unten im Abschnitt III). 47 Am 17. November 1425 schenkte König Sigismund z. B. der Stadt Pilsen die Dörfer Losina und Chvalenice, CIM 3 61 f. Nr. 44. Nach dem Hussitenkrieg erhielt auch die Stadt Tabor größere Schenkungen. Sigismund überließ ihr am 26. März 1437 die Herrschaften Hradištˇe und Sezimovo Ústí, die er zuvor von den Herren von Ustí gekauft hatte, CIM 3 200 –202 Nr. 115.

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ten 48, Genehmigungen, bestimmte Steuern an Stelle des Königs zu erheben 49, der Erlass von Schulden und Zinsen 50 sowie – oft sehr großzügige – Befreiungen und Ermäßigungen von königlichen Steuern und Zöllen 51. Konzessionen dieser Art gab es, abgesehen von zwei bescheidenen Ausnahmen, bei Urkunden mit Petitionsformeln nicht 52. Obwohl es in den Urkunden Sigismunds wesentlich mehr Petitionsformeln gibt und diese bestimmte Unterschiede zu jenen aus der Kanzlei Johanns des Blinden aufweisen, bleibt der Gesamteindruck sehr ähnlich: Auf der einen Seite zahlreiche Privilegienbestätigungen und einige für den Herrscher eher kostenneutrale Gnaden und Rechte, die Petitionsformeln enthalten, auf der anderen Seite dann diverse, oft sehr großzügige Privilegien und Begünstigungen, die mit keinem Wort Bitten der Empfänger erwähnen. Es erscheint wenig wahrscheinlich, dass in diesen Fällen lediglich eine schriftliche Supplik durch einen einfachen Boten übermittelt wurde, wie Hlaváˇcek bei Wenzel voraussetzte; es scheint vielmehr wiederum, dass der Herrscher bzw. dessen Kanzlei durch das Weglassen der Petitionsformel betonen wollten, dass die Urkunde eine besondere Gnade gewährte, die der königlichen Gewogenheit entsprang und auf die der Petent keinen Anspruch hatte. Diese Hypothese lässt sich in den Quellen noch durch einige gut dokumentierte Beispiele belegen. Neben den Fallbeispielen, die in den nächsten Abschnitten besprochen werden, ist hier besonders eine Episode zu erwähnen, auf die jüngst Alexandra Kaar hingewiesen hat 53. Als im Frühjahr 1421 starke Truppen der Stadt Eger zum bei Kladrau / Kladruby liegenden königlichen Heer stießen, kam es in der Nacht vom 5. auf den 6. Februar zu einem Gespräch zwischen den Egerer Hauptleuten und dem König, über das die Hauptleute den Stadtrat in einem Brief informierten. Der König soll sich dabei bei den Egerern für ihre Hilfe bedankt und ihnen versprochen haben, wes wir sein kunigliche 48 Teilweise schenkte Sigismund den Städten konkrete, heimgefallene Güter von angeblichen Ketzern, teilweise gewährte er den Kommunen das Recht, die Güter abtrünniger Bürger selber zu konfiszieren. Siehe z. B. die Urkunden für Pilsen, CIM 3 11 f. Nr. 9: 1420 Dezember 19, Weißwasser / Bˇelá pod Bezdˇezem; CIM 3 39 f. Nr. 27: 1422 September 6, Nürnberg, und für Budweis, CIM 3 22 Nr. 16: 1421 März 31, Znaim; CIM 3 23 –25 Nr. 17: 1421 Juni 21, Pressburg. 49 Hierher gehört die Genehmigung für die Egerer Bürger, die sogenannte Klauensteuer im Egerland weiterhin erheben zu dürfen, CIM 3 33 –38 Nr. 24: 1422 August 21, Nürnberg. 50 Der Stadt Budweis erließ Sigismund etwa eine Schuld von 300 Schock Groschen, die er an ihrer Statt an Heinrich von Plauen bezahlte, CIM 3 82 –84 Nr. 58: 1431 Juli 15, Nürnberg. Pilsen wurde dagegen von der Zahlung eines Jahrzinses von 58 Schock Prager Groschen befreit, den die Stadt an den verstorbenen Leibarzt der Könige Wenzel und Sigismund, Sigismund Albík von Mährisch-Neustadt / Uniˇcov, abgeführt hatte und der nach Albíks Tod an den König heimgefallen war, CIM 3 84 f. Nr. 59: 1431 Juli 16, Nürnberg. 51 Die großzügigste Befreiung erhielt am 19. September 1434 die Stadt Pilsen, die auf ewig von der Zahlung sämtlicher Steuern und Zölle in Böhmen und im Reich befreit wurde, CIM 3 93 –100 Nr. 64. Im Frühjahr 1437 wurde die hussitische Stadt Pisek auf 30 Jahre von der Zahlung der königlichen Steuer befreit, CIM 3 180 f. Nr. 107. Siehe auch weitere Befreiungen für Kaaden, CIM 3 152 f. Nr. 97: 1437 Januar 6, Prag; für Weißensulz / Bˇelá nad Radbuzou und Neustadtl / Stráž, CIM 4/1 375 f. Nr. 264: 1437 Mai 13, Prag; für die Prager Kleinseite: 1437 November 4, Prag; für Tschaslau, CIM 3 218 f. Nr. 124: 1437 November 11, Beneschau / Benešov. 52 Es handelt sich dabei erstens um das bereits zitierte Versprechen Sigismunds, den Bürgern von Budweis ihre Schulden bei den Juden zu erlassen, CIM 3 25 Nr. 18: 1421 Oktober 2, Pressburg, und zweitens um die Abtretung eines Zolls in Pilsen, den zuvor der verstorbene Johann von Waldeck besessen hatte, CIM 3 74 Nr. 52: 1429 September 11, Pressburg. 53 K, Die stadt (. . .) viel privilegirt (wie Anm. 17) 267, 293 –295.

Das Supplikenwesen am böhmischen Hof im Spätmittelalter

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gnade piten weren, das uns und der stat nuczlich were, darynne wolt er willig sein und wolt das gerne thun 54. Die Hauptleute sandten am nächsten Tag einen Brief an den Stadtrat, um zu erfahren, welche Privilegien für die Stadt am nützlichsten wären. Die Antwort sollte binnen einer Woche mittels Eilboten übermittelt werden, damit die günstige Gelegenheit nicht ungenützt verstreiche. Die Hauptleute unterbreiteten sogar vier Vorschläge, die ihrer Meinung nach realisierbar seien: [1] das wir frey als weren XV jare [2] und alle jar ein clostewr nemen von unsern armen lewten, [3] und das auf die pfleg furpas nymant kein gelt verschriben wurde, [4] vnd auch ob wir das salcz mochten zu uns pringen 55. Alexandra Kaar vermutete, dass diese Punkte möglicherweise bereits durch die Hauptleute rudimentär mit Sigismund vereinbart worden sein könnten 56. Es ist unbekannt, wie der Egerer Rat reagierte, und ob er mit den zitierten Vorschlägen einverstanden war oder (teilweise) andere Vorschläge machte. Es gibt auch keine Belege dafür, dass König Sigismund der Stadt Eger eine fünfzehnjährige Steuerbefreiung oder ein Stapelrecht für Salz gewährte. Am 21. August 1422 wurde jedoch in Nürnberg ein Privileg ausgefertigt, mit dem Sigismund die Punkte 2 und 3 des zitierten Verhandlungsvorschlages erfüllte und der Stadt Eger die Erhebung der Klauensteuer in Egerland (von Neuem) gewährte und sich verpflichtete, die Stadt, das Gericht und die Burgpflege zu Eger niemals zu verpfänden 57. Diese Urkunde ist für uns in mancher Hinsicht sehr aufschlussreich. Erstens enthält sie keinerlei Petitionsformel und lobt in der Narratio stattdessen die stete Treue und die zahlreichen Verdienste der Egerer Bürger 58, obwohl fast mit Sicherheit davon ausgegangen werden kann, dass die Egerer Hauptleute dem König vor Kladrau persönlich eine entsprechende Supplik vorgebracht hatten. Zweitens ist die relativ große zeitliche und räumliche Distanz von Interesse, die zwischen der ersten Supplikation und der Urkundenausstellung liegt. Obwohl es in der Zwischenzeit nachweislich zu mehreren Kontakten zwischen Sigismund und der Stadt Eger kam 59, war der König offensichtlich nicht besonders eifrig, die gewünschten Privilegien unverzüglich auszustellen. Die Sache zog sich vielmehr länger als ein Jahr hin und verlangte noch weitere Verhandlungen, bis die Urkunde schließlich tatsächlich expediert wurde. Der lange Weg zur Urkunde spiegelt sich in der Narratio in keiner Weise wider. Der erste Teil dieses Beitrages schließt also mit einem etwas skeptischen Zwischenbefund. Die Narrationes der untersuchten Urkunden Johanns des Blinden und Sigismunds gewähren nur ein sehr fragmentarisches Bild des Supplikenwesens am böhmischen Hof. Obwohl sie im Allgemeinen die unterschiedlichen Wege reflektieren, auf denen um eine Urkunde gebeten werden konnte (schriftliche Bitte, mündliche Bitte des Bürgermeisters und des Stadtrates, mündliche Bitte des / der Gesandten, 54

Urkundliche Beiträge 1 (wie Anm. 34) 61 f. Nr. 62. Ebd. 56 K, Die stadt (. . .) viel privilegirt (wie Anm. 17) 293 Anm. 121. 57 CIM 3 33 –38 Nr. 24. 58 Ebd.: . . . wann wir nu in unserm kuniglichen gemue te eigentlich und wol betracht haben stete liebe, gancze und lauttere trewe, die wir an den burgermeister, rate und burgern gemeinlich der statt zu Eger, unsern lieben getreuen, manigveldiclich befunden, und willige unverdrossene dienste, die sy uns wider die Wikleffen und auch sust zu unserm willen oft coestlich und nuczlich getan haben . . . haben wir den vorgenanten . . . von besundern gnaden dise gnad getan und tun in die in kraft disz briefs . . . . 59 Siehe z. B. den Brief Sigismunds an Eger vom 18. Oktober 1421, Brumow / Brumov, mit welchem der König auf einen Brief der Egerer antwortete, Urkundliche Beiträge 1 (wie Anm. 34) 162 f. Nr. 151. 55

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Bitte eines Intervenienten), lässt sich aus dem (Nicht-)Vorhandensein und der Form der Petitionsformel offensichtlich nicht auf die konkreten Vorgänge schließen. Die Analyse zeigte, dass die Erwähnung oder das Verschweigen der Supplik vielmehr vom Inhalt der jeweiligen Urkunde abhing. Bei Konfirmationen und Erneuerungen von Privilegien sowie bei weniger bedeutenden Gnaden und Rechten wurde die Petition des Empfängers erwähnt, bei großzügigeren Begünstigungen wurde sie jedoch absichtlich verschwiegen, um der Urkunde den Anstrich einer besonderen königlichen Gnade zu verleihen. Wenn man also das Supplikenwesen am böhmischen Königshof besser verstehen möchte, muss man nach Quellen suchen, die einen tieferen und komplexeren Einblick ermöglichen, als die Urkundenformeln. Damit komme ich zum zweiten und dritten Teil meines Beitrags – zu den angekündigten Fallbeispielen.

II. Das erste Fallbeispiel schöpft hauptsächlich aus einer bemerkenswerten Quelle: einer undatierten Petition des Znaimer Stadtrates an König Sigismund aus dem Jahr 1420 oder spätestens aus dem Frühjahr 1421. Ivan Hlaváˇcek fand diese Quelle vor etlichen Jahren im Mährischen Landesarchiv; vor einigen Jahren hat er sie ediert und diplomatisch eingeordnet 60. Hier wird dieses Schriftstück mit weiteren städtischen Quellen und vor allem mit den im Anschluss daran ausgestellten Königsurkunden konfrontiert, weshalb sein Text in der folgenden Tabelle nochmals nach der Edition Hlaváˇceks abgedruckt wird.

60 Siehe Ivan H, Znojemští a král Zikmund v poˇcátcích husitské revoluce. Skromný pˇríspˇevek k typologii mˇestských písemností pozdního stˇredovˇeku [Die Znaimer und König Sigismund in den Anfängen der hussitischen Revolution. Bescheidener Beitrag zur Typologie des städtischen Schriftgutes des Spätmittelalters], in: Per saecula ad tempora nostra. Sborník prací k šedesátým narozeninám prof. ˇ / Opera Jaroslava P 1, hg. von Jiˇrí M–Miloslav P (Práce historického ústavu av CR Instituti Historici Pragae C / 18/1, Praha 2007) 94 –99. Zwischen der Auf findung der Quelle, von der Hlaváˇcek Fotografien anfertigen ließ, und ihrer Publikation vergingen einige Jahre, in denen das Schriftstück zusammen mit weiteren „ungeordneten Fragmenten“ im Archiv in Verlust geriet. Ivan Hlaváˇcek gebührt daher Dank, dieses hochinteressante Stück für die historische Forschung gerettet zu haben!

Das Supplikenwesen am böhmischen Hof im Spätmittelalter

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Tabelle: Der Text der Znaimer Supplik an König [Sigismund] im Vergleich mit den erhaltenen Urkunden dieses Herrschers für die Stadt Znaim / Znojmo vom 25. März 61 und 5. Mai 1421 62. Znaimer Supplik an König [Sigismund] (nach der Edition Ivan Hlaváˇceks; übernommen wird nur der durch Hlaváˇcek rekonstruierte Text ohne den komplizierten textkritischen Apparat)

Auszüge aus jenen Urkunden Sigismunds für bzw. zugunsten der Stadt Znaim, die aufgrund der Supplik entstanden.

[1.] Allerdurchlewchtigster kunig und genediger liber herr, [geruch ewr gestrichen] kuniglich genad zu wissen, das wir mit sambt ewirn gemayn grosse mü und arbeÿt nu menige jar gehabt haben und sunderlich yczund von der Wiklefen wegen, do wir bey tag und nacht grosse wacht mussen haben und grosse darlegung getan haben auf der statbessrung, das wir in grosse armenmut und schuld sein [gevallen gestrichen]. Darumb biten wir ewr k. genad, das ir gerucht unser genediger herr zu sein und das ir gerucht anczusehen unser mü und arbeÿt und unsern trewn fleyzzigen dinst und gerucht uns behalden bey unsern rechten und alden loblichen gewonheiten, gewer freyhayt und besiczczung [!], dy wir und ewr stat von alders her gehabt haben, alz uns ewr k. genad des vertrost hat czu Ofen und zu Brünn und das uns ewr k. genad geruch zu bestetigen all unser brief, hantfest und maiestat, dy wir haben von ewren vorwadern, seligen kayser Karlein ewren vater und andern fursten, kunigen czu Behaim und margrafen zu Merhern.

1421 März 25, Znaim – Privileg König Sigismunds für Znaim: . . . Sane fidelium dilectorum nostrorum civium civitatis Znoyme integerrime fidei et devocionis puritatem et immotam constanciam, quibus erga regale culmen cum grata serviciorum promptitudine et indefessis laboribus assidue clarent et claruerunt, necnon gravissimas paupertatum condiciones et immensa dispendia, quas et que dudum ex gwerarum pestibus et per ignis repentinam voraginem, prout de hiis sufficienter informati sumus, durius pertulerunt, interna mentis consideracione pensantes volentesque ipsos, ut sub felici nostro regimine ab huiusmodi dispendiis respirare et continuis proficere incrementis valeant, multiplicatis favoribus prosequi graciose omnia et singula privilegia, litteras, concessiones et gracias, libertates, immunitates, iura, iurisdictiones, consuetudines, honores et consuetas observancias civibus predicte civitatis Znoyme a recolende memorie predecessoribus nostris regibus Boemie ac marchionibus Morauie et specialiter ab illustribus Iohanne avo et Karolo genitore nostris carissimis, quondam regibus Boemie, indulta seu indultas, concessa vel concessas de plenitudine regie potestatis et ex certa nostra sciencia de verbo ad verbum in omnibus suis clausulis et sentenciis, ac si predictorum privilegiorum, litterarum, concessionum, libertatum, iurium et graciarum tenores essent presentibus inserti et totaliter interclusi, innovamus, approbamus, ratificamus, laudamus ac presentis scripti patrocinio confirmamus, decernentes et volentes predicta perpetuis temporibus obtinere inviolabilis roboris firmitatem.

61 Siehe Moravský zemský archiv [Mährisches Landesarchiv], Abteilung Státní okresní archiv Znojmo [Staatliches Bezirksarchiv Znaim], Bestand Archiv mˇesta Znojma [Stadtarchiv Znaim], Urkunde Nr. 80. Ein Vollregest in Reg. Imp. XI NB/1 88 f. Nr. 31. 62 Das vollständige Mandat abgedruckt bei Petr E, Co to znamená, když „die mülen nicht in den sleiffen geen“, aneb o jednom nesrozumitelném mandátu krále Zikmunda, znojemských mlýnech v pozdním stˇredovˇeku, omylech Zikmundovy kanceláˇre a úskalích ediˇcní práce [Was bedeutet es, wenn „die mülen nicht in den sleiffen geen“, oder: Über ein unverständliches Mandat König Sigismunds, die Znaimer Mühlen im Spätmittelalter, die Irrtümer der Kanzlei Sigismunds und Schwierigkeiten bei der Editionsarbeit], in: Sborník státního okresního archivu Znojmo 2009. Historický a vlastivˇedný sborník Znojemska a Moravskokrumlovska (Znojmo 2010) 9 –27, hier 24 Anhang 1.

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[2.] Auch alz uns ewr k. genad vertrost hat, ir wold uns dy genad nicht mynnern nurt meren, so geruch ewr k. genad zu wissen, das dy guter und eriblich, dy zu der stat von alder stiftung gehorungen, ein klein ding ist, das wir von dem e weder machten wacht noch rannt noch der stat pessrung awsrichten, und dy andern eriblichen, dy wir haben, dovon dy maisten nutz zu der stat kumen, dy sein alle gelegen under der abtey, nunnen und geistlichen lewten. Darumb zu einer merung der genaden, biten wir ewr k. genad, das uns ewr genad geruch domit zu begnaden, wenn dy abt, nunnen und geistlich lewt unzwendliche gab auf den guteren wolden nemen, das wir solicher gab überhaben sein, wenn wir lozung von den erben müssen laiden und in auch dovon geren reichen iren czins, czehend und andre alle gab, dy von alder rechtlich auf den erben sein gewesen. Vnd alz wir das haben in andern unsern hantfesten und maiestaten, das man unser mitburger und mitwaner von solicher erblein wegen nicht auf den aigen schol ansprechen, sunder vor dem rat und unserm statrichter. Vnd wem der awsspruch nicht geviel, der beruf sich fur den kamrer, das uns dy genad von ewren k. angebornen genaden auch bestetigt und verbrieft werd, wenn wir von ewren vorvadern seligen sein behalden warden bey den genaden.

e

[3.] Auch genediger kunig, wenn ichtes mar entsten, es sey ynnerlands oder awssenlands, so ist unser aller groste sargen von des hawses wegen. Darumb wir allczeÿt mer sarigen und wacht mussen tragen, wenn züst wenn wir besarigen, das wir von des hawses wegen nicht verfurt werden, als uns das laider ein mal kunftig ist warden, do from lewt meniger in salich schaden sein kumen, das sy des noch nÿe haben überwunden und eczczlicher nymer mer mag uberwinden und mems umb leib und umb gut. Darumb als ewr kuniglich genad ratlich dawcht, wie wol das ist, das wir armen sein. So wolden wir, das an unsern schaden an keren und wolden ein mawr mit einem halben turm furen von sand Niklas freythof bys zu Unser Frawn und ein graben dofur auf das, ob ymner ymanczs amechtman auf dem haws anders wenn rechtlich tun wold, das wir uns möchten aufhalden auf ein rettung von ewern genaden oder ewern amechtlewten, das wir ein pessere sicherhayt möchten gehaben und das wir und unser kinder in solichen czweifel nicht sessen, wenn das gezlozz ein schild ist des ganzen landes und ein zuflucht der ganczen landschaft.

Preterea ad uberioris gracie et favoris nostri cumulum ampliandum concedimus civibus antedictis, ut bona et ville eorum, videlicet Etmycz, Gugerwicz, Schalichdorf et Walterwitzer velud necnon molendinum in Schalichdorf, molendinum in Neztahleb, molendinum in Bohmalicz, molendinum in Rorhof et molendinum sub castro nostro Znoymensi, que nunc habent et possident, ac omnia bona, que imposterum iure proprietatis possessuri sunt et habere quomodolibet quovis titulo poterunt, perpetua libertate et exempcione a solucione collecte regie seu berne et a iurisdictione quorumlibet villicorum seu iudicum provincialium, czudariorum et beneficiariorum Znoymensium ac tocius nostri marchionatus Morauie gaudere debeant et potiri ac esse libera penitus et exempta, ita quod nulli omnino hominum seu persone, cuiuscumque status, officii, preeminencie seu condicionis extiterit, preterquam dictis civibus in eisdem bonis seu villis seu in civitate ipsorum vel extra in campis, agris, ortis vel vineis spectantibus ad ipsam civitatem super quibuscumque excessibus vel culpis commissis per ipsos cives Znoymenses vel eorum homines, servitores seu incolas dicte civitatis ac villarum bonorum pertinencium ad ipsam liceat aliquando exercere iudiciariam potestatem seu iurisdictionem, quorum iudicium eisdem civibus secundum sepedicte civitatis Znoymensis consuetudinem iurium hactenus approbatorum duximus concedendum . . .

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[4.] Item alz man vor unser ist gelegen, do ist an uns meniger mal von unsern veynden darnach warnung kumen und auch von den, dy sich zu sturmen verwissen, das man uns nicht leichter ein neahent moecht angewÿnnen, wenn under den Juden des das mirt ein mawr do ist. So ist das Judenvolk gar ein wandelwartig volkl, das in gar wenik zu trawn ist. Auch ir hewser, gemach, stal und helder gar an der mawr sein, durch dy sy machten dy stat durchholen, das ewr genad umb das gezlozz qwam und wir in mü und arbeÿt und umb trew und umb er. Darumb bitten wir ewr k. genad, das ir gerucht mit in czu schaffen, das sy ein parkraben mawr doselbs vom Tarass bys an ir mawr fur Unser Frawn choer mawren und machen, das wir unser czyrker do haben, das wir durch sy nicht verwarlast worden. [5.] Item das dy geistlichen uns nicht laden, sunder das sy ein yeder dy unsern ee besuch vor unserm statrichter. Vide in altera parte. [6.] Item vom puxenmaister umb das salmten. [7.] Und alz wir dorin nu am nagsten zu Brünn bey ewren k. genaden sein gewesen und sunderlich eczczlich der unsern dy ewren genaden derczelt haben unsern stat gebrechen und nemlich von einer hantfest und maiestat, dy do verloren ist warden, alz dy stat Sakman gemacht ist warden (das und ewr k. genad dy hantfest). Darumb biten wir ewr k. genad gerech [!] genediklichen zu widerbrenngen in denselben warten alz wir dy von ewern vater de[m] seligen kayser Karlein gehabt haben [und] von dysem noch haben in unsern alden registern. [8.] Item von der sachen wegen, ob ymancz mit uns oder mit unsern mitwanern ichtes icht hyet zu schaffen, es seÿ geistlich oder werltlich, edel oder unedel, das man uns oder unser mitwaner nicht lad in geistlichs oder werktlichs recht im land oder aws dem land, sunder das man das recht vorsuch, wer dem statrichter und dem rat, do man ein awsrichtung und ein recht seinen sachen tun schol. Ob im wer ichtes darynn misviel, so schol er sich anderswohin nicht mogen beruffen nurt fur des landes kamrer als das awsweisen unser hantfest und der kamrer bayder teyl sach schol verhoren e und enden. Und ob dy sach so gross war, das er der mit nichtem moecht geenden, so brenng er beyder taÿl geschriben an ewr k. genad, wenn ettlich geistlich gar eigens willens sein. Dorvmb biten wir ewr k. genad, das uns ewr genad geruch bey den genaden behalden, wenn ewr bruder kunig Wenczlab seliger uns bey denselben genaden hat behalden.

Siehe oben die Urkunde vom 25. März 1421.

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[9.] Item alle hantwerich und dy gemaÿn der klagen sich von der mülherren und mulner wegen, das in dovon gross merklich schaden geschehen, des das dy mulner in laiffen nicht geen, das doch zu Brunn, zu Olomucz, czu Dryglaw [!] und anderswo also mit dem laiffen wirt behalden. Darumb biten wir ewr genad, das ewr k. genad geruch zu schaffen mit den mulherren und muknemern [!], das sy dy mul in laiffen und nicht anders gelassen. Und wer des nicht tun wolde, das der ewern genaden ein buss sey verballen, was ewr genad darauf gerucht zu seczczen.

1421 Mai 5, Brünn / Brno – Mandat König Sigismunds an Abt Johann von Klosterbruck / Louka und Hartneid von Liechtenstein, Hauptmann in Znaim: . . . Uns ist von der gemeyn zu Snoym unsern lieben getrewen furbracht, wie sye an dem mulwerg umb Snoym vast verkurczt werden und des grossen schaden nemen, das die mülen nicht in den sleiffen geen, als in unsern andern steten zu Olomuncz oder zu Brunn, und das in an irem mel vast abgeet und das beste davon komet, das unredlich, unczymlich und ungotlich ist. Nu haben wir den vorgenanten von Snoym dise besunder gnad getan, das alle mulen umb Snaym gelegen in den sleyffen geen sollen, als man das dann zu Brunne oder zu Olomuncz heldet. Dorumb gebieten wir euch ernstlich und vesticlich myt disem brieve, das ir ewer mulner dorczu haldet, das sy ire mulen ouch also anrichten, das sye in sleyffen furbass geen und das der gemeyn und eynem iglichen, der do malen wil, geleych und recht geschehe, und tut dorinne nicht anders . . .

Das Schriftstück führt weder Urheber bzw. Verfasser noch den königlichen Empfänger namentlich an. Die Urheber des Schriftstücks lassen sich jedoch aus den topographischen Angaben und dem Gesamtkontext eindeutig mit den politischen Repräsentanten der südmährischen Stadt Znaim identifizieren. Der König wird mehrmals als Sohn des verstorbenen Kaisers Karl IV. und einmal als Bruder des ebenfalls verstorbenen Königs Wenzel IV. bezeichnet, weshalb es sich um Sigismund handeln muss. Auch die Datierung des Stücks lässt sich näherungsweise rekonstruieren, da die Znaimer unter Punkt 1 eine mündliche Zusage des Herrschers, ihnen ihre Privilegien bestätigen zu wollen, an ihre Gesandten sowohl in Ofen als auch in Brünn erwähnen. Da Sigismund den Znaimern ihre Privilegien am 25. März 1421 während eines Aufenthaltes in ihrer Stadt bestätigte, muss die Petition jedenfalls vor diesem Datum entstanden sein. Die Znaimer Gesandten dürften daher entweder sofort nach dem Tod König Wenzels im Sommer 1419 nach Ofen aufgebrochen sein 63, wo Sigismund sich vom 4. bis zum 31. August aufhielt 64, oder aber sie trafen erst gegen Mitte Dezember 1419 in der ungarischen Residenz Sigismunds ein, als der König neuerlich kurz dort weilte 65. Danach muss eine Znaimer Gesandtschaft zur Jahreswende 1419/20 am bekannten Brünner Tag teilgenommen haben, auf dem Sigismund versuchte, die

63 Möglicherweise übermittelte die Znaimer Gesandtschaft König Sigismund sogar die Nachricht von dem am 16. August erfolgten Tod Wenzels. Aus den Stadtrechnungen der Jahre 1421/22 geht hervor, dass Znaim oft eine Vermittlerrolle für Nachrichten aus Böhmen spielte und diese an König Sigismund nach Ungarn oder Herzog Albrecht V. nach Österreich weiterleitete, E, Pobyty vyslanc˚u (wie Anm. 28). 64 Siehe Itinerar König und Kaiser Sigismunds von Luxemburg 1368 –1437, hg. von Jörg K. H unter Mitarbeit von Thomas K–Ulrich N–Petra R (Studien zu den Luxemburgern und ihrer Zeit 6, Warendorf 1995) 100; Pál E–Norbert C. T, Itineraria regum et reginarum Hungariae (1382 –1438) (Subsidia ad historiam medii aevi Hungariae inquirendam 1, Budapest 2005) 104. 65 Bei Itinerar, hg. H (wie Anm. 64) 101, fehlt dieser Aufenthalt vollkommen; bei E–T, Itineraria (wie Anm. 64) 105, Belege vom 13. bis zum 21. Dezember 1419.

Das Supplikenwesen am böhmischen Hof im Spätmittelalter

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Herrschaft in den Ländern der Böhmischen Krone zu übernehmen 66. Die Petition kann erst nach dieser Versammlung, also frühestens im Januar 1420, entstanden sein. Zum diplomatischen Charakter des Stücks lässt sich gemeinsam mit Ivan Hlaváˇcek festhalten, dass es sich der zahlreichen Streichungen und Überschreibungen wegen entweder um ein Konzept für eine formelle schriftliche Supplik oder aber um eine Unterlage für den mündlichen Vortrag bei einer Audienz handelt. Dem König dürfte jedenfalls entweder eine Reinschrift dieses Textes oder ein ähnliches Schriftstück vorgelegt und eventuell auch mündlich vorgetragen worden sein 67. Aber sehen wir uns den Text der Petition etwas näher an. Wenn im Titel unserer Tagung eine Dichotomie „zwischen herrschaftlicher Gnade und importunitas petentium“ hervorgehoben wurde, befinden wir uns mit Blick auf den langen Katalog der Znaimer Forderungen eindeutig im Bereich der importunitas. In Punkt 1 betonen die Znaimer nachdrücklich ihre Treue dem König und dem katholischen Glauben gegenüber, ebenso wie ihre angespannte finanzielle Situation angesichts der intensiven Bewachung der Stadt und der notwendigen Ausbesserungsarbeiten an den Stadtmauern. Dem Herrscher – der dies ohnehin schon zweimal versprochen habe – bleibe entsprechend gar nichts Anderes übrig, als die städtischen Privilegien unverzüglich zu bestätigen. Dieser erste Punkt, in welchem im Vergleich mit den folgenden eigentlich noch keine wirklichen Forderungen gestellt werden, dient jedoch vor allem als eine Art Captatio benevolentiae für die nächsten Punkte der Supplik, in denen es um diverse neue Rechte, Gnaden und Konzessionen geht. Der Ton ist hier deutlich demütiger als im selbstbewussten ersten Teil der Supplik; die Znaimer versuchen jedoch konsequent, ihre Bitten sorgfältig zu begründen und deren Bedeutung für die erfolgreiche Erfüllung der unter Punkt 1 herausgearbeiteten Rolle der Stadt als Bastion des rechten Glaubens gegen die hussitische Häresie zu betonen. Es ist nicht nötig, hier alle Punkte der Supplik im Detail zu behandeln; die Mehrheit davon führte ohnehin nicht zur Ausstellung einer königlichen Urkunde, oder zumindest ist keine solche überliefert (Punkte 3 –7). Es ist jedoch sehr aufschlussreich, jene zwei Urkunden Sigismunds näher zu betrachten, die aufgrund der Petition ausgestellt wurden. Dabei handelt es sich einerseits um die bereits erwähnte Privilegienbestätigung vom 25. März 1421, die mit einer Befreiung von der königlichen Steuer und der Verleihung der gerichtlichen Immunität für die städtischen Landgüter und einem Nonevokationsprivileg für die Stadt und ihre Bürger und Einwohner verbunden war. Diese Urkunde entstand während des Aufenthaltes Sigismunds in Znaim im Frühjahr 1421, nachdem der König sich nach mehreren militärischen Niederlagen aus Böhmen zurückgezogen hatte. Sigismund wurde am 9. März 1421 feierlich in der Stadt an der Thaya empfangen, wie die Znaimer Stadtrechnungen ausführlich dokumentieren 68, und sein Hof sowie die Höfe der Königinnen Barbara und Sophie, der Witwe nach Sigismunds Bruder Wenzel, verbrachten drei Wochen in der Stadt, wäh-

66 Zu diesem Tag siehe vor allem František Š, Die Hussitische Revolution 2 (Schriften der MGH 43/2, Hannover 2002) 1037 –1039. 67 Dazu siehe H, Znojemští (wie Anm. 60) 97. 68 Siehe dazu Robert A–Tomáš B, Panovnické vjezdy na stˇredovˇeké Moravˇe [Herrschereinzüge im mittelalterlichen Mähren] (Knižnice Matice moravské 25, Brno 2009) 159 f., 185 f.; Tomáš B, Adventus regis in unruhigen Zeiten. Sigismund und die Städte in Böhmen und Mähren, in: Kaiser Sigismund, hg. H–K (wie Anm. 17) 367 –384, hier 371 –375.

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rend Sigismund selbst mit seinen ungarischen Truppen einen kurzen Kriegszug nach Ostmähren in die Gegend von Ungarisch Hradisch / Uherské Hradištˇe und Ungarisch Ostra / Uherský Ostroh unternahm und erst am 20. März nach Znaim zurückkehrte 69. In der vierten Märzwoche stellte Sigismund dann in Znaim mehrere Urkunden für Städte und Klöster aus Süd- und Südwestmähren aus – darunter auch das erwähnte Privileg für Znaim. Zwischen der Rückkehr Sigismunds in die Stadt und der Ausstellung der Urkunde vergingen lediglich fünf Tage; auch unterscheidet sich die Urkunde in einigen Punkten wesentlich von der überlieferten Supplik, wie gleich noch weiter ausgeführt wird. Beides deutet darauf hin, dass die uns bekannte Supplik eher früher – vielleicht schon im Jahr 1420 – entstand 70, und dass Sigismund im März 1421 eine überarbeitete Fassung oder ein Empfängerkonzept vorgelegt wurde. Es scheint jedenfalls wahrscheinlich, dass zwischen der Vorlage der uns bekannten Supplik und der Urkundenausstellung längere Verhandlungen lagen. Die Privilegienbestätigung vom 25. März geht neben Punkt 1 zwar auch auf die Punkte 2 und 8 der Supplik ein, regelt diese aber anders als dort vorgeschlagen. In Punkt 2 der Supplik wird angeführt, dass die städtischen Eigengüter zu gering seien und deren Erträge den erhöhten Finanzbedarf der Stadt bei weitem nicht decken könnten. Daneben habe die Stadt diverse Güter der Abtei [Klosterbruck], der Nonnen [zu St. Klara] und anderer Geistlicher [zur Pacht?] inne, die zwar eine gewichtige Einnahmequelle darstellten, deren Erträge allerdings nicht nur durch Zins und Zehente an die Besitzer, sondern auch durch die Erhebung diverser außergewöhnlicher Abgaben (unzwendliche gab) gemindert würden. Die Bürger erbaten vom König eine Befreiung von solchen außerordentlichen Abgaben und darüber hinaus die Bestätigung der alten Gewohnheit, auch wegen der [verpachteten] kirchlichen Güter ausschließlich vor das Stadtgericht geladen werden zu können. Die Urkunde vom 25. März 1421 enthielt jedoch eine völlig andere, für die Stadt wahrscheinlich noch um einiges günstigere Lösung. Die kirchlichen Güter der Znaimer werden hier zwar überhaupt nicht erwähnt, aber die Stadt bekommt dafür eine Steuerbefreiung für ihre eigenen Landgüter, die hier auch aufgelistet werden. Anschließend wird das Privileg de non evocando nicht nur für diese Güter, sondern generell für die ganze Stadt und deren Bürger und Einwohner gewährt (oder eigentlich erneuert), was neben Punkt 2 vor allem Punkt 8 der Supplik aufnimmt, in dem es um die Bestätigung dieses Rechtes geht. Gemäß der im ersten Abschnitt formulierten Thesen könnte diese großzügige Steuerbefreiung der Landgüter erklären, warum die Urkunde vom 25. März 1421 keinen Hinweis auf Bitten der Empfänger enthält, die dem Herrscher doch mindestens

69 Zu dem kurzen Zug Sigismunds nach Ostmähren, der wohl gegen das dort entstandene „Neue Tabor“ bei Nedakonice zielte, siehe E, Pobyty vyslanc˚u (wie Anm. 28) 482 Anm. 19. 70 Ein weiteres Argument für die Datierung der erhaltenen Supplik bereits ins Frühjahr 1420 bietet auch Punkt 7, in dem es heißt: . . . alz wir dorin nu am nagsten zu Brünn bey ewren k. genaden sein gewesen . . . . Diese Formulierung deutet darauf hin, dass die Supplik bald nach dem letzten Aufenthalt Sigismunds in Brünn – d. h. bald nach der Jahreswende 1419/20 – verfasst worden sein dürfte. Nach Abwägung dieser Indizien komme ich heute zu einem anderen Schluss als früher, als ich vermutete, die erhaltene Supplik sei wohl erst im März 1421, kurz vor der Ausstellung der Privilegienbestätigung, entstanden und dem König vorgelegt worden, E, Pobyty vyslanc˚u (wie Anm. 28) 481.

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bei drei verschiedenen Gelegenheiten – in Ofen, Brünn und Znaim – persönlich durch die städtischen Gesandten und den Stadtrat vorgetragen worden waren. Die Steuerbefreiung wurde offensichtlich als besonderer Gnadenakt des Herrschers betrachtet, weshalb die ganze Urkunde bestrebt war, den Anschein zu erwecken, sie sei als alleinige Willensäußerung des Königs ausgestellt worden. Daher hebt auch die Narratio die ständige Treue und die große Not der Bürger sehr plastisch hervor, um so das großzügige Privileg zu begründen. Die importunitas petentium wurde hinter einer sorgfältig konstruierten „herrschaftlichen Gnade“ verborgen. Zwischen den übrigen Punkten der Znaimer Petition und den heute noch erhaltenen königlichen Urkunden für Znaim lassen sich keine inhaltlichen Verbindungen herstellen, ausgenommen allerdings ein Mandat Sigismunds vom 5. Mai 1421 an dessen Hauptmann in Znaim, Hartneid von Liechtenstein, und Johannes, den Abt des Prämonstratenserstiftes Klosterbruck 71. Das Mandat knüpft teilweise wörtlich an den letzten Punkt der Supplik an, dessen Inhalt die Kanzlei allerdings offenkundig nicht oder nicht richtig verstanden hat. Sigismund teilt den Empfängern in diesem Mandat mit, die Gemeinde der Stadt Znaim habe sich bei ihm beschwert, dass sie an dem mulwerg umb Snoym Schaden erleiden würde, weil die Mühlen nicht in den sleiffen geen, wie es in seinen anderen Städten, etwa in Olmütz / Olomouc oder Brünn, der Fall ist. Deshalb müssten die Znaimer Einbußen beim Mahlen und am Ertrag ihres Mehles hinnehmen, was ungerecht und frevelhaft sei. Deshalb bestimmt Sigismund, dass alle Mühlen um Znaim in den sleyffen geen sollten, so wie dies in Brünn oder Olmütz gehalten würde. Die Empfänger sollten ihre Müller anweisen, das sy ire mulen ouch also anrichten, das sye in sleyffen furbass geen, damit der Stadt Znaim Recht geschehe. Das Wort „Schleife“ kann im Frühneuhochdeutschen im Zusammenhang mit Getreidemühlen einen Mühlgraben, eine Rinne oder eventuell einen krummen Flussarm bezeichnen 72. Wie konkret sollten aber dann die Mühlen eingerichtet werden, damit sie „in den Schleifen gehen“ und die Znaimer keine Einbußen beim Mahlen erlitten? Des Rätsels Lösung liegt nicht im Mandat Sigismunds, sondern in der Supplik des Znaimer Stadtrates. Dort ist nämlich gar nicht die Rede von „Schleifen“, sondern von laiffen, i. e. von „Läufen“. „Lauf“ kann zwar im vorliegenden Zusammenhang ebenfalls einen Mühlgraben bezeichnen, aber auch etwas ganz Anderes, und zwar laut Grimm: „ein vom böttcher verfertigtes und um die mühlsteine gesetztes gefäsz, dasz, wenn der läufer der Mühle [i. e. der obere Mühlstein – P. E.] darin herumläuft, die gemahlene frucht nicht herausspringen oder wegfliegen kann, sondern im lauf bleiben und in den mehlkasten fallen müsse“ 73. Durch die Installation solcher Läufe in einer Mühle ging wesentlich weniger Mehl verloren. Die Znaimer wollten diese technische Innovation – die tatsächlich in den erhaltenen Mühlordnungen von Brünn und Olmütz aus dem

71 Druck mit Interpretation bei E, Co to znamená (wie Anm. 62) 24 Anhang 1. Zu einem Vollregest mit einem längeren Kommentar siehe Reg. Imp. XI NB/1 118 –121 Nr. 62. 72 Nach Georg Friedrich B–Wilhelm M–Friedrich Z, Mittelhochdeutsches Wörterbuch II / 2 (Leipzig 1866) 401, konnte „Schleife“ (slipfe) u. a. „eine rinne, ritze, wodurch eine flüssigkeit abfliesst“ bezeichnen. Zur übertragenen Bedeutung des Wortes „Schleife“ für die Bezeichnung der scharfen Windung eines Flusses vgl. Das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm 1 –33 (Leipzig 1854 –1971) hier 15 588. 73 G, Wörterbuch (wie Anm. 72) 12 311.

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14. Jahrhundert belegt ist 74 – auch in Znaim einführen, um die Verluste beim Mahlen zu minimieren. Wie entstand aber das missverständliche Mandat Sigismunds? Die wahrscheinlichste Erklärung ist, dass die Kanzlei die Supplik missverstanden hat, und ein Angehöriger der Kanzlei bei der Erledigung der schriftlichen Petition oder eines Empfängerkonzeptes das Wort „Lauf“ als „Mühlgraben“ verstand und mit dem Synonym „Schleife“ ersetzte. Ein solches Versehen kam sicher gelegentlich vor. Überraschend sind daran jedoch zwei Tatsachen: Erstens wissen wir aus den Znaimer Stadtrechnungen, dass Sigismund im April 1421 Gesandte Znaims nach Brünn einlud, um mit ihnen über die Deckung der Kosten seines Znaimer Aufenthaltes zu verhandeln. Die Gesandten reisten zu Sigismund nach Brünn, begleiteten den König an mehrere andere Orte in Mähren, kehrten mit ihm nach Brünn zurück und erhielten dort Anfang Mai eine Verschreibung über die Judensteuer 75, eine Schenkung über das Znaimer Haus des Abtes von Welehrad / Velehrad 76, sowie das Mandat über die Mühlen. Sogar die mehrwöchige Präsenz der städtischen Gesandtschaft, die ihre Sachen am Hof konsequent verfolgte, konnte also nicht verhindern, dass es bei der Ausstellung des von ihr erbetenen Mandates zu einem Missverständnis im Text kam 77. Zweitens sticht der Name des königlichen Protonotars Michael von Priest / Bˇrest im Konzeptvermerk des betreffenden Mandates ins Auge. Dieser Kanzlist kam höchstwahrscheinlich aus Znaim; zumindest sein Bruder Johann wird in den Quellen als Znaimer Bürger bezeichnet 78. Man würde also annehmen, dass Michael mit den Znaimer Gesandten in engem Kontakt stand und sich bei eventuellen Zweifeln die Sachlage hätte erklären lassen können. Vielleicht legte er jedoch angesichts der Menge auszustellender Urkunden und anderer, wichtigerer Angelegenheiten auf die technische Ausstattung der Znaimer Mühlen keinen großen Wert, was zur skizzierten Verstümmelung führte. Die Petition des Znaimer Rates an Sigismund – unabhängig davon, wann genau und in welcher Form sie dem König und der Kanzlei vorgebracht bzw. vorgelegt wurde – stellt jedenfalls ein sehr eindrückliches Beispiel einer städtischen Bittschrift an einen Herrscher dar, die in einen breiteren Prozess eingebettet werden kann und sehr plastisch die These Paul-Joachim Heinigs illustriert, dass, wenn eine Stadt beim König etwas erzielen wollte, eine schriftliche Supplik nicht ausreichte. Erfolg war erst durch fast kontinuierliche Präsenz städtischer Gesandter am Hof zu erzielen, die versuchten, die städtischen Anliegen Schritt für Schritt, in mehreren Audienzen und

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Dazu E, Co to znamená (wie Anm. 62) 16, mit Quellenhinweisen. Reg. Imp. XI NB/1 122 f. Nr. 64. 76 Ebd. 121 f. Nr. 63. 77 Zu dieser langen Gesandtschaft siehe E, Pobyty vyslanc˚u (wie Anm. 28) 483 f., 496. 78 Zu Michael, der testamentarisch eine Gemeindebibliothek in Znaim gründete, siehe Petr E, Testamentární odkazy Michala z Bˇrestu, protonotáˇre krále Zikmunda, ve Znojmˇe: fundace obecní knihovny pˇri kostele sv. Mikuláše a její vybavení knihami (Pˇríspˇevek ke knižní kultuˇre moravských katolických mˇest za husitské revoluce) [Die letztwilligen Verfügungen Michaels von Priest, des Protonotars König Sigismunds, in Znaim: Die Stiftung der Gemeindebibliothek bei der St. Nikolaus-Pfarrkirche und deren Ausstattung mit Büchern (Ein Beitrag zur Buchkultur der mährischen katholischen Städte während der Hussitenrevolution)], in: V zajetí stˇredovˇekého obrazu. Kniha studií k jubileu Karla S, hg. von Klára B–Jan C (Praha 2011) 144 –163. 75

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in kontinuierlichen Verhandlungen mit der Kanzlei umzusetzen. Selbst dann konnten oft nicht alle Ziele in der erhofften Art und Weise erreicht werden 79.

III. Die im Fokus der Tagung stehende importunitas petentium möchte ich schließlich noch durch ein zweites Fallbeispiel illustrieren: durch eine zwischen März 1458 und Mai 1459 entstandene umfangreiche Petition des Launer Stadtrates an König Georg von Podiebrad. Diese alttschechische, in einer einzigen Abschrift aus dem 16. Jahrhundert überlieferte Petition aus dem Staatsbezirksarchiv Laun wurde unlängst von Jan Mareš neu ediert und analysiert 80. Die Petition betrifft die partielle Erneuerung einer wichtigen Urkunde Kaiser Sigismunds für die Stadt Laun / Louny vom 13. August 1437, mit welcher er der Stadt um 1.300 Schock Prager Groschen das ehemalige Benediktiner-Kloster Porta apostolorum zu Postelberg / Postoloprty verpfändete, die Dörfer Priesen / Bˇrezno und Malnitz / Malnice restituierte und die Umwandlung des Magdalenerinnen-Klosters St. Anna außerhalb der Launer Stadtmauer zu einem städtischen Spital gestattete 81. Die Urkunde Sigismunds, deren Authentizität nicht unumstritten ist, ist nur abschriftlich, und zwar in demselben Akt wie die Supplik an König Georg – eigentlich unmittelbar nach dieser Supplik – überliefert 82. Die Urkunde weist einige geringfügige Abweichungen vom Formular der alttschechischen Urkunden Sigismunds und auch vom Tschechischen der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf 83. Möglicherweise

79 Paul-Joachim H, Reichsstädte, Freie Städte und Königtum 1389 –1450. Ein Beitrag zur deutschen Verfassungsgeschichte (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte 108 / Beiträge zur Sozial- und Verfassungsgeschichte des Alten Reiches 3, Wiesbaden 1983) 243 –267 (Kapitel „Städtische Gesandtschaften zum königlichen Hof“). 80 SOA Litomˇeˇrice – SOkA Louny, Bestand AM Louny, Akten, Sign. L 8. Eine erste Edition schon in CIM 3 377 –379, Kommentar zu Nr. 218; neu Jan M, Císaˇr Zikmund, lounské povˇetˇrí a pohusitské restituce [Kaiser Sigismund, die Launer Luft und die nachhussitischen Restitutionen]. Porta Bohemica. Sborník historických prací 5 (2009) 117 –134, hier 128 –133. Siehe auch den Text von Jan Mareš im kollektiven Werk Bohumír R et al., Louny. Historie / kultura / lidé [Laun. Geschichte / Kultur / Menschen] (Praha 2005) 87 –92. 81 CIM 3 215 –217 Nr. 122; M, Císaˇr Zikmund (wie Anm. 80) 133 f. 82 Die beiden in der vorigen Anm. zitierten Editionen, ebenso wie die Regesten in Zbytky register král˚uv ˇrímských a cˇ eských z let 1361 –1480 [Die Reste der ehemaligen Register der römischen und böhmischen Könige aus den Jahren 1361 –1480], ed. August S (Historický archiv 39, Praha 1914) 216 Nr. 1588b (mit falschem Tagesdatum), und Stanislav B, Zástavní listiny Zikmunda Lucemburského na církevní statky (1420 –1437) [Die Pfandbriefe Sigismunds von Luxemburg über Kirchengüter (1420 –1437)] (Opera Facultatis Philosophicae Universitatis Masarykianae 457, Brno 2016) 230 Nr. 363, zweifeln nicht an der Echtheit der Urkunde. Auf einige Unstimmigkeiten wurde in Reg. Imp. XI NB/2 224 –227, hier 225, hingewiesen, wo diese aber auf eine mutmaßliche Übersetzung aus dem Lateinischen zurückgeführt werden. 83 Es handelt sich z. B. um die Formel ne skrze omyl anebo neopatrnˇe, ale s jistým naším vˇedomím a knížat, pánóv a jiných vˇerných našich milých radú, die wie eine Übersetzung aus lateinisch non per errorem aut improvide, sed de certa nostra sciencia sanoque principum, nobilium et ceterorum fidelium nostrorum accedente consilio wirkt. In den alttschechischen Urkunden Sigismunds ist diese Formel in der Regel einfacher: s dobrým rozmyslem a radú našich knížat, pánuov a jiných vˇerných našich milých oder noch kürzer s dobrým rozmyslem a radú naší. Weitere Unstimmigkeiten finden sich auch in der Intitulatio (anstelle Sigmund, Boží milostí ˇrímský císaˇr, rozmnožitel ˇríše, uherský, ˇceský, dalmacký, charvatský etc. král sollte es vielmehr heißen: My Zikmund,

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handelt es sich um eine alttschechische Übersetzung des ursprünglich lateinischen Originals, die zudem noch durch den Kopisten des 16. Jahrhunderts sprachlich „verbessert“ wurde. Es lässt sich aber auch nicht ausschließen, dass es sich um eine zeitnahe Fälschung handelt. Dies würde die Widersprüche zu anderen bekannten Urkunden Kaiser Sigismunds erklären, der einen Teil der betroffenen Güter auch an andere Empfänger verpfändete, auch wenn solche doppelten Verpfändungen in Sigismunds Politik keinen Ausnahmefall darstellen (siehe weiter unten). Falls die Urkunde authentisch ist, wozu ich trotz alledem neige, erkannte der Kaiser durch sie die faktische Inbesitznahme der beiden geistlichen Institutionen durch die hussitische Stadt Laun während des Hussitenkriegs an, was nach Abschluss der Basler Kompaktaten Sigismunds übliche Praxis war, um utraquistische Städte und Adelige an sich zu binden 84. Hier wurde jedoch die Lage dadurch verkompliziert, dass Sigismund während des Krieges und auch noch im Jahr 1436 kleinere Schuldsummen auf den Postelberger Gütern verschrieben hatte 85. Um die Anerkennung ihres faktischen Besitzes der (meisten) Klostergüter durchzusetzen, musste die utraquistische Stadt diese älteren Verpfändungen irgendwie ungeschehen machen. Dies erforderte sehr hartnäckige Bemühungen der Stadt, die durch mehrere Gesandtschaften zum Kaiser vorbereitet und während dessen Aufenthalt in Laun (während der Rückreise vom Egerer Hoftag nach Prag) zum Abschluss gebracht wurden. Weil die Urkunde Sigismunds vom 13. August 1437 immer wieder angezweifelt wurde, sah sich der Launer Stadtrat im Jahr 1458 gezwungen, in die Supplik an König Georg nicht nur die zu bestätigende Sigismund-Urkunde zu inserieren, sondern auch die Umstände ihrer Ausstellung möglichst detailliert darzustellen, wobei sogar angebliche wörtliche Aussagen des verstorbenen Kaisers zitiert wurden. Damit ist die Supplik für uns in zweierlei Hinsicht hoch interessant: erstens als Quelle zum Supplikenwesen in Böhmen in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, zweitens aber auch als Quelle zur Petitionspraxis in der Sigismund-Zeit, wobei man sie selbstverständlich nicht wörtlich nehmen, ihr aber dennoch im Großen und Ganzen Glauben schenken kann. Im Folgenden werde ich vor allem diese Ebene, also die Schilderung der Vorgänge in den Jahren 1436 und 1437, betrachten, weil diese die importunitas petentium besonders plastisch illustriert. Der Supplik zufolge habe die hussitische Stadt Laun bereits im Sommer 1436 eine Gesandtschaft zum Landtag in Iglau / Jihlava abgeordnet, auf dem die Kompaktaten verkündet und Kaiser Sigismund zum König von Böhmen angenommen wurde. Die Launer Gesandten sollen hier dem Kaiser Treue geschworen und ihn gebeten haben, den Grundbesitz zu bestätigen, den die hussitische Stadt während des Krieges angehäuft hatte. Die Supplik zitiert hier eine erste, angeblich wörtliche Aussage Sigismunds, der die Launer gelobt habe, dass, wenn alle es ihnen gleich

z Božie milosti ˇrímský ciesaˇr, po všechny ˇcasy rozmnožitel ˇríše a . . . ), der Promulgatio (die Formel známo ˇciníme tímto listem obecnˇe všem sollte známo ˇciníme tímto listem obecnˇe pˇrede všemi, ktož jej uzˇrie a nebo ˇctúce slyšeti budú lauten) und noch in weiteren Formularteilen. Zum Formular der alttschechischen Pfandbriefe siehe B, Zástavní listiny (wie Anm. 82) 78 –84. 84 Dazu detailliert ebd. 84 –92. 85 Bárta führt in seinem Katalog der Pfandbriefe Sigismunds über Kirchengüter in Böhmen insgesamt acht ältere Verpfändungen über Postelberger Güter an, ebd. 145 Nr. 2; 193 Nr. 197; 195 Nr. 206; 198 Nr. 220; 211 Nr. 275; 212 Nr. 276; 225 Nr. 336; 230 Nr. 360.

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getan und ihm sofort den Treueid geleistet hätten, die Dinge in Böhmen viel besser stünden. Anschließend habe der Kaiser mündlich versprochen, keine der städtischen Erwerbungen an jemand anderen zu verschreiben. Sollte er dies aus Versehen doch tun, seien diese Verschreibungen ungültig 86. In der Folge habe Sigismund tatsächlich das im Besitz der Stadt befindliche Dorf Smolnice des Klosters Raudnitz / Roudnice an den ehemaligen hussitischen Feldhauptmann Matthias Louda von Chlumˇcany 87 und die Dörfer Weberschan / Bˇrvany und Skupitz / Skupice des Klosters Postelberg an Beneš Svinˇe von Kolowrat verschrieben 88, was zu in der Supplik detailliert beschriebenen Streitigkeiten zwischen der Stadt und den genannten Herren vor dem böhmischen Unterkämmerer Johann von Kunwald führte. In den Streit um Smolnice mischten sich auch noch die Ritter Plichta von Žerotín ein, die über einen noch älteren Pfandbrief Sigismunds über Smolnice verfügten 89. Sigismund habe in diesen Streitigkeiten entsprechend seines Iglauer Versprechens die Stadt Laun unterstützt, auf der Rückreise vom Egerer Hoftag die Launer Gesandten an seinen damaligen Aufenthaltsort im benachbarten Saaz/Žatec gerufen und ihnen versprochen, beide Rechtsstreitigkeiten gemeinsam mit den Landherren in Prag zu entscheiden 90. Danach sei Sigismund, der zu diesem Zeitpunkt bereits sehr krank war, von Saaz weiter nach Prag gereist, wobei er jedoch angeblich eine zwölftägige [!] Rast in Laun eingelegt habe 91. Laut der Supplik habe er sich in der Stadt sehr wohl gefühlt und die Launer Luft sowie die Treue der Bürger vielfach gelobt, die sich rührend um ihn gekümmert hätten. Dann zitiert die Supplik einen weiteren angeblich wörtlichen Ausspruch Sigismunds: „In Saaz war ich krank, hier fühle ich mich gesund! Ihr habt hier gute Luft. In Saaz haben Wir die ganze Gemeinde Uns Treue schwören lassen, von euch werden Wir aber keinen Eid verlangen!“ 92 Danach habe der gut 86 Kdyby tak všickni v této zemi uˇcinili, bylo by velmi dobˇre. Nemˇejte o to péˇce. Slibujit’ vám, že bez vašeho svolení nedám ani zapíši toho, což držíte, nikomémuž [!]. Pakli bych nˇevˇedomˇe komu co zapsal a bez svolení vašeho, nebudu jemu toho držeti, M, Císaˇr Zikmund (wie Anm. 80) 129. 87 Reg. Imp. XI NB/2 202 f. Nr. 142; B, Zástavní listiny (wie Anm. 82) 205 Nr. 247. 88 Archiv cˇ eský, cˇ ili Staré písemné památky cˇ eské i moravské, sebrané z archiv˚u domácích i cizích 1 [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren, zusammengetragen aus heimischen und ausländischen Archiven], ed. František P (Praha 1840) 495 Nr. 7; B, Zástavní listiny (wie Anm. 82) 212 Nr. 276. 89 Die Herren von Žerotín erwarben einen Pfandbrief Sigismunds, der am 28. Oktober 1420 für Parsifal und Lot von Vinaˇrice ausgestellt worden war, Archiv cˇ eský, cˇ ili Staré písemné památky cˇ eské i moravské, sebrané z archiv˚u domácích i cizích 2 [Böhmisches Archiv oder alte Schriftdenkmäler aus Böhmen und Mähren, zusammengetragen aus heimischen und ausländischen Archiven], ed. František P (Praha 1842) 177 f. Nr. 284; B, Zástavní listiny (wie Anm. 82) 154 Nr. 38. 90 Die Supplik zählt die Mitglieder der vierköpfigen Launer Gesandtschaft namentlich auf, ebd. 130. 91 Die Angabe über die Länge des Aufenthalts ist jedenfalls falsch; Sigismund muss wesentlich kürzer in Laun geblieben sein. Am 10. August 1437 war er noch in Saaz und traf wahrscheinlich am 16. August in Prag ein, obwohl beide Arbeiten zu Sigismunds Itinerar ihn bereits ab dem 12. August in Prag verzeichnen, Itinerar, hg. H (wie Anm. 64) 121; E–T, Itineraria (wie Anm. 64) 131; Korrektur bei M, Císaˇr Zikmund (wie Anm. 80) 125 Anm. 38. 92 Byl sem v Žatci nemocen, u vás jsem zdráv, máte zde dobré povˇetˇrí, a všecka obec v Žatci nám pˇrísahala, ale od vás ji nechceme vzíti, M, Císaˇr Zikmund (wie Anm. 80) 130. Dazu sei nur bemerkt, dass eine städtische Gesandtschaft Sigismund bereits in Iglau den Treueid geleistet hatte, was eine neuerliche Huldigung in Laun ohnehin obsolet machte.

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gelaunte Kaiser den Unterkämmerer Kunwald beauftragt, die in Iglau versprochene Verpfändung der Postelberger Klostergüter sowie die Zustimmung zur Umwandlung des Magdalenerinnenklosters in ein Spital umgehend ausfertigen zu lassen 93. Da der Kanzler Kaspar Schlick aber gerade bei Herzog Albrecht V. in Österreich weilte, konnte die Urkunde vorläufig nur mit dem Sekretsiegel besiegelt werden; Sigismund habe den Bürgern jedoch versprochen, nach der Rückkehr des Kanzlers in dieser Sache noch eine Majestätsurkunde ausstellen zu lassen 94. Dann sei jedoch die Launer Bürgerin Anna Škrochová vor den Kaiser getreten, die die Umwandlung des Klosters in ein Spital mit der Begründung verhindern wollte, dass sie nach ihrem Vater einen Teil des Patronatsrechtes über das Kloster besäße, weshalb ihre Zustimmung notwendig sei. Der Stadtrat habe ihre Ansprüche bestritten und dem Kaiser als Beweis die alten Urkunden des Klosters vorgelegt, die angeblich bewiesen, dass der Stifter Bero ursprünglich ein Spital gründen wollte, dann aber durch den Generalpropst des Magdalenerinnenordens zur Klostergründung überredet worden sei. Diese Tatsache, ebenso wie der Umstand, dass im Jahr 1437 nur mehr drei Schwestern noch am Leben waren, hätte Sigismund endgültig davon überzeugt, das Kloster in ein Spital umzuwandeln, wobei er jedoch dem Stadtrat mündlich befohlen habe, bis zu deren Tod für den Lebensunterhalt der Schwestern zu sorgen. Schließlich beschreibt die Supplik noch die Ereignisse nach der Ausstellung der Urkunde vom 13. August 1437. In Prag sei es nicht mehr zur Ausstellung des Majestätsbriefes gekommen, weshalb der Stadtrat nach der Abreise Sigismunds aus Prag nach Ungarn im November noch eine weitere Gesandtschaft zum Kaiser abgefertigt habe, um diese Urkunde zu erlangen. Diese habe den Herrscher jedoch nicht mehr rechtzeitig vor dessen Tod in Znaim erreicht. Während der kurzen böhmischen Regierung Albrechts II. gehörte die Stadt Laun gemeinsam mit Saaz zu seinen Gegnern; daher wird dieser Herrscher in der Supplik gar nicht erwähnt 95. Erst nach dem Regierungsantritt Ladislaus’ Postumus hätten die Launer in dieser Sache eine Gesandtschaft zu diesem Herrscher abgeordnet, um sich die Urkunde von ihm bestätigen zu lassen 96. Der damalige Landesverweser Georg von

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Der Unterkämmerer fungierte also als Relator bzw. Referent an die Hofkanzlei. Dieser Angabe der Supplik entspricht die Siegelankündigung der Urkunde Sigismunds: Svˇedomím listu tohoto, k nˇemuž peˇcet’ naši císaˇrskú pˇrivˇesiti kázali jsme. Kterýž když nám do Prahy pˇrinesen bude, peˇcetí majestátu našeho potvrditi pˇrikážeme (die vorauszusetzende lateinische Fassung wohl: harum nostrarum, quibus sigillum nostrum appensum est, testimonio litterarum, quas dum nobis in specie fuerint reportate, sigillo nostro maiori imperiali faciemus communiri). Kaspar Schlick ist am 7. August in Eger und danach wieder am 19. August in Prag durch Kanzleivermerke urkundlich am Hof Sigismunds nachgewiesen, J. F. Böhmer, Regesta Imperii 11. Die Urkunden Kaiser Sigmunds (1410 –1437) 2 (1424 –1437), ed. Wilhelm A (Innsbruck 1897 –1900) 419 Nr. 12048; Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Sigmund, 6. Abt. 1435 – 1437, ed. Gustav B (Deutsche Reichstagsakten 12, Gotha 1901) 238 f. Nr. 151. In den zwölf dazwischen liegenden Tagen könnte Schlick theoretisch von Eger nach Wien und von dort zurück nach Prag gereist sein, was zwar knapp, aber doch schaffbar war. 95 Siehe R et al., Louny (wie Anm. 80) 88 f. 96 Soweit die Supplik. In einem Launer Stadtbuch wird diese Angabe indirekt bestätigt: Die Urkunde könnte vor dem 1. Dezember 1453 durch eine städtische Gesandtschaft der zu Beginn der Regierung König Ladislaus’ eingesetzten Kommission vorgelegt worden sein, die alle Urkunden überprüfen sollte, durch die kirchliche bzw. Kammergüter veräußert worden waren. Diese Kommission dürfte die Verschreibung der Postelberger Güter nicht anerkannt haben. Siehe die Einleitung der Edition Kniha poˇct˚u královského mˇesta Loun z let 1450 –1472 a 1490 –1491. Liber rationum regalis civitatis Lunae ad annos 1450 –1472 94

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Podiebrad habe ihre Bitte zwar befürwortet, der junge König habe sich jedoch die Urkunde sowie die Postelberger Güter zurückerstatten lassen. Die restlichen Güter – die Dörfer Priesen und Malnitz sowie die Güter des Spitals – habe er der Stadt überlassen, sie habe jedoch keine Urkunde darüber mehr besessen. Aus diesem Grund bat die Stadt König Georg zu Beginn seiner Regierung um die Ausstellung einer Urkunde, die die immer noch gültigen Bestimmungen der Urkunde Sigismunds – i. e. den Besitz der städtischen Dörfer Priesen und Malnitz und der Güter des Spitals – bestätigte bzw. erneuerte. Die Bürger begründeten ihre Bitte einerseits mit ihrer Treue dem König gegenüber, andererseits auch damit, dass Georg doch bereits früher ihre Bitte an Ladislaus Postumus befürwortet habe. Die Supplik an König Georg war erfolgreich: Der König gewährte am 17. Mai 1459 (erneut) die Einverleibung der Güter des Magdalenerinnenklosters in das städtische Spital, ohne jedoch die Vorurkunde Sigismunds oder die Petition der Launer Bürger in seiner Urkunde zu erwähnen 97. Ein Jahr später, am 23. Juni 1460, bestätigte er der Stadt auch die Dörfer Priesen und Malnitz 98. Welche Aussagen erlaubt diese detaillierte Bittschrift nun für unsere Fragestellung? Meines Erachtens handelt es sich um eine besonders aufschlussreiche Quelle 99, die vollkommen bestätigt, was bereits im ersten Fallbeispiel festgestellt wurde. Wollte ein Empfänger am Königshof etwas erreichen, genügte es zumeist nicht, eine schriftliche Supplik einzureichen. Es war vielmehr erforderlich, die Sache durch Gesandtschaften systematisch und kontinuierlich zu verfolgen. Günstige Umstände mussten sofort genutzt und der Herrscher gnädig gestimmt werden. Falls wir der Launer Supplik an König Georg vertrauen dürfen, beeindruckten die Launer den Kaiser durch die sehr frühe Abordnung einer Huldigungsgesandtschaft, die bereits am Iglauer Tag die vorläufige Zustimmung zum Erwerb der erwünschten Klostergüter erhielt, und dann vor allem durch den reibungslos abgewickelten Aufenthalt in der Stadt, bei dem sie die entsprechende Urkunde tatsächlich erhielten. Mündliche Verhandlungen verbunden mit dem geschickten Einsatz symbolischer Kommunikation scheinen somit für den

at 1490 –1491 pertinens, ed. Jaroslav V (Praha 1979) 50. Von der Tätigkeit dieser Kommission ist ein umfangreiches Register überliefert, das jedoch nur in zwei Abschriften aus dem 16. Jahrhundert überlebt hat. Sigismunds Urkunde vom 13. August 1437 wird in diesem Register nicht angeführt. Siehe die Edition in Archiv cˇ eský 1 (wie Anm. 88) 493 –546; Archiv cˇ eský 2 (wie Anm. 89) 175 –208, 444 –481. Zu dieser Quelle siehe Karel B–Vˇera B, Zur Tätigkeit einer in den Jahren 1453 –1454 zur Revision von Pfandurkunden in Böhmen eingesetzten Kommission. Folia diplomatica 2 (1976) 187 –197; B, Zástavní listiny (wie Anm. 82) 17 f. 97 CIM 3 375 –379 Nr. 218. Diese lateinische Urkunde ist zweifellos echt und in SOA Litomˇeˇrice – SOkA Louny, Bestand AM Louny, Inv. Nr. 30, im Original überliefert. 98 Diese Urkunde ist heute nur mehr in Sedláˇceks Regestenwerk Zbytky register (wie Anm. 82) 257 Nr. 29 greifbar. 99 Meines Erachtens würde sich die Aussagekraft der Supplik selbst dann nicht vermindern, wenn jemand tatsächlich nachweisen könnte, dass das Stück vom 13. August 1437, das ich für eine echte, ins Alttschechische übersetzte Kaiserurkunde halte, eine Fälschung ist. Selbst wenn die Geschichte der Verhandlungen zwischen Laun und Sigismund erst in den Jahren 1458/59 frei erfunden wurde, musste die Schilderung sich zwangsläufig im Rahmen der üblichen Praxis bewegen, um überzeugen zu können. In diesem Sinne ist die Supplik auf jeden Fall aussagekräftig. Auch sollte man nicht vergessen, dass Georg von Podiebrad im Jahr 1437 zum böhmischen Hof Kaiser Sigismunds gehörte und bei vielen Verhandlungen persönlich anwesend oder darüber informiert war. Es wäre nicht einfach gewesen, ihn mit völlig frei erfundenen Geschichten aus den Jahren 1436/37 zu täuschen.

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erfolgreichen Erwerb von Urkunden entscheidend gewesen zu sein. Dies dürfte sich auch zur Zeit König Georgs nicht geändert haben, aus der zwar eine schriftliche Supplik erhalten ist, die jedoch bestimmt ebenfalls durch die persönliche Vorbringung unterstützt wurde. Auch hier dauerte es zudem längere Zeit und verlangte wohl mehrerer Gesandtschaften, bis der König auch tatsächlich beide betreffenden Urkunden ausstellte. Für die in Abschnitt I formulierte These ist es schließlich nicht unerheblich, dass weder die Urkunde Sigismunds vom August 1437 noch die Urkunde Georgs vom Mai 1459 irgendwelche Bitten der Empfänger anführen.

Conclusio Was lässt sich nach diesen eher disparaten Einblicken in das Supplikenwesen am böhmischen Hof zusammenfassend sagen? Die im Abschnitt I durchgeführte Analyse der Petitionsformeln zeigt eindeutig, dass diese zwar unterschiedliche Formen aufweisen, dass aber aus dem Fehlen oder der Knappheit der Petitionsformel keineswegs automatisch auf eine rein schriftliche Übermittlung der Supplik geschlossen werden kann. Offensichtlich wurden Bitten viel häufiger mündlich durch die politischen Repräsentanten der Stadt oder durch deren Gesandte(n) vorgebracht. Eine Petitionsformel wurde meist dann aufgenommen, wenn eine Urkunde lediglich ältere Urkunden und Privilegien bestätigte oder erneuerte oder eher weniger umfangreiche neue Rechte und Freiheiten gewährte. In Fällen, in denen bedeutende neue Rechte verliehen wurden und insbesondere dann, wenn diese Rechte mit finanziellen Verlusten für die königliche Kammer einhergingen, unterbleibt die Petitionsformel eher. Die Urkunde präsentiert sich dann eher als Ausfluss besonderer königlicher Gnade und verbirgt die importunitas petentium. Die beiden in Abschnitt II und III diskutierten Beispiele bestätigten die in Abschnitt I formulierten Thesen. Das Vorhandensein einer Supplik ist hier durch deren Überlieferung erwiesen, die entsprechenden Urkunden erwähnen sie jedoch mit keinem Wort. Die Existenz der Suppliken zeigt einerseits, dass die Kultur der Bitten zumindest im 15. Jahrhundert schon stark verschriftlicht war und die städtischen Kanzleien den Typus der Petition oder Supplik an den Herrscher gut bewältigten. Obwohl die hier besprochenen Schriftstücke formal und inhaltlich unterschiedlich sind, sind sie beide sehr logisch aufgebaut und überzeugend formuliert und verfolgen konsequent ihr Ziel, den Herrscher zu einer gewünschten Handlung zu bewegen, wozu vor allem die Captatio benevolentiae (oder sogar mehrere in den einzelnen Punkten) beitrug. Beide Suppliken und die damit zusammenhängenden Quellen beweisen jedoch ebenso klar, dass eine Supplik im 15. Jahrhundert bei komplizierteren Anliegen noch nicht ohne parallele mündliche Verhandlungen auskommen konnte, und dass symbolische Handlungen, wie z. B. ein erfolgreich inszenierter Adventus regis, solche Verhandlungen noch wesentlich befördern konnten, wie wir sowohl in Znaim als auch in Laun beobachtet haben. Das ausgehende Mittelalter war schließlich eine Zeit, in der die immer stärker zunehmende pragmatische Schriftkultur immer noch eng mit der mündlichen Kommunikation und symbolischen Handlungen verflochten war.

Suppliken und Petenten am Hof Kaiser Friedrichs III. (1440 –1493) im Spiegel literarischer und erzählender Quellen Daniel Luger

Das seit Februar 2016 vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank geförderte Forschungsprojekt „Das spätmittelalterliche Supplikenwesen am römischdeutschen Herrscherhof (1440 –1493)“ hat sich eine systematische, quellenbasierte Analyse von Bittschriften an den römisch-deutschen König bzw. Kaiser Friedrich III. zum Ziel gesetzt. Die quellenmäßige Basis dieses Forschungsprojektes bilden etwa 750 im Original überlieferte Suppliken, die zum überwiegenden Teil in mehreren archivgeschichtlich zusammenhängenden Bestandsgruppen im Wiener Haus-, Hofund Staatsarchiv sowie im Tiroler Landesarchiv in Innsbruck verwahrt werden. Im Zuge dieses Forschungsprojektes wurden sämtliche relevanten Quellen digitalisiert und im Rahmen einer Datenbank erschlossen, wobei neben der Wiedergabe des Supplikentextes in Form von Vollregesten und Teileditionen unter anderem Angaben zu Datierung, sozialer und geographischer Herkunft der Petenten, zur Beglaubigung und Erledigung der Schriftstücke aufgenommen wurden. Die Auswertung der erschlossenen Quellen erfolgt einerseits aus hilfswissenschaftlich-verwaltungsgeschichtlicher Perspektive, wobei insbesondere paläographische und diplomatische Methoden angewandt wurden, um etwa Fragen nach Niederschrift, Einreichung oder Erledigung von Suppliken am habsburgischen Hof zu untersuchen. Daneben wird im Rahmen dieses Forschungsprojektes auch eine Auswertung hinsichtlich textlicher und biographischer Aspekte vorgenommen. Für die Untersuchung von Bittschriften als „Ego-Dokumente“ ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese Schreiben stets einen funktionalen Charakter besaßen und behördlichen Anforderungen entsprechen mussten. Darüber hinaus sind in den untersuchten Quellenbeständen nur vereinzelt autographe Bittschriften überliefert, daher trat in den meisten Fällen zwischen Petent und Adressat noch ein Schreiber, der nicht nur Einfluss auf Wortwahl und Stil, sondern möglicherweise auch auf Argumentation und Aufbau des Schriftstücks nehmen konnte. Die spätmittelalterlichen Suppliken am römischdeutschen Herrscherhof enthalten somit eine Reihe stereotyper bzw. kodifizierter Formeln und zielgerichtete Argumentationsstrategien der Petenten, dennoch ermöglichen diese Quellen nach intensiver Kontextualisierung der enthaltenen Informationen einen

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Blick auf ansonsten quellenmäßig kaum greifbare biographische Aspekte sowie auf konkrete Probleme und Nöte der Supplizierenden 1. Während eine umfassende Darstellung der Projektergebnisse im Rahmen einer Monographie erfolgen wird, soll an dieser Stelle ein Teilaspekt unseres Forschungsvorhabens im Mittelpunkt stehen. Als Ergänzung zu der geplanten, umfassenden Auswertung der im Original überlieferten spätmittelalterlichen Suppliken sollen an dieser Stelle zeitgenössische literarische und erzählende Quellen in den Fokus des Interesses rücken, die aus unterschiedlichen Perspektiven Informationen zu den Möglichkeiten, Problemen und Strategien von Petenten am Kaiserhof Friedrichs III., zu Handlungsspielräumen des Reichsoberhauptes oder den Vor- und Nachteilen mündlich vorgebrachter bzw. schriftlich eingereichter Bittgesuche bieten. Im Jahr 1443 verfasste der erst seit wenigen Monaten im habsburgischen Kanzleidienst stehende Sieneser Humanist Enea Silvio Piccolomini die als Pentalogus bezeichnete Beschreibung eines zwar fiktiven, in vielen Bereichen aber sicherlich reale Züge tragenden Ratsgesprächs am königlichen Hof 2. In diesem an König Friedrich selbst sowie an dessen consiliarii gerichteten Werk werden neben aktuellen Fragen der Reichs- und Kirchenpolitik auch zahlreiche Aspekte der höfischen Lebenswelt berührt, die auch für den Bereich des Supplikenwesens relevant sind und bislang in diesem Zusammenhang zu wenig Beachtung gefunden haben, wie etwa die Regelung des Zugangs zum römisch-deutschen König, der Umgang mit auswärtigen Petenten und Gesandten am königlichen Hof oder die Vorzüge eines mündlich vorgebrachten Ansuchens gegenüber einer per Boten überbrachten Bittschrift. Am Beginn seines „Fünfergespräch“ wird der in der Ecke des Audienzsaales wartende Piccolomini mit der Aufforderung accede me vor den König gerufen, der nun in demütiger Haltung vor dem König kniende Kanzlist wird von seinem Dienstherrn jedoch sogleich getadelt. Selbst gegenüber dem Herrscher des römisch-deutschen Reiches habe Piccolomini seinen Kopf nicht zu entblößen, seinen Hals zu neigen, die Knie zu beugen oder gar die eigenen Bitten mit angsterfüllter Stimme vorzutragen. Denn nur Gott gegenüber sei ein derartiges Verhalten angebracht 3. Piccolomini repliziert auf die bescheidenen Worte des literarischen Königs Friedrich mit Verweisen auf antike Exempla sowie das in diesen Angelegenheiten stets geforderte rechte Maß (mediocritas). Ein König dürfte zwar nicht fordern, wie ein Gott angebetet zu werden, allerdings sei es auch nicht ratsam, die einem Monarchen zustehende Ehrerbietung zu verschmähen, denn allzu große Vertraulichkeit könne Verachtung erwecken 4. Auf einen weiteren von Friedrich vorgebrachten Tadel – wieso sich der Italiener trotz seiner Aufnahme als secretarius nur selten bei seinem neuen Herrn blicken lasse 1 Siehe allgemein die Projekt-Website https://suppliken.univie.ac.at/ [21. 8. 2018] mit weiteren Informationen. 2 Eneas Silvius Piccolomini, Pentalogus, ed. Christoph S (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters 8, Hannover 2009). Vgl. dazu jüngst Kristina W, Schreiben für den Hof als Weg in den Hof. Der Pentalogus des Enea Silvio Piccolomini (1443) (Frankfurt am Main 2013) mit weiterführenden Literaturangaben. 3 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 54. 4 Ebd. 56 Z. 15 f.: . . . ne contempni ex nimia familiaritate videaris. Dieses bereits bei dem Kirchenvater Augustinus überlieferte Zitat trug der junge König Friedrich eigenhändig in sein Notizbuch ein; siehe Alphons L, AEIOV. Die „Devise“ Kaiser Friedrichs III. und sein Notizbuch, in: ., Aufsätze und Vorträge 2, hg. von Hans W–Heinrich K (München 1971) 164 –222, hier 215 Nr. 56.

Suppliken und Petenten am Hof Kaiser Friedrichs III.

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und daher kaum Aufträge des Königs empfangen könne – entgegnete der Angesprochene mit Kritik an den königlichen Türhütern (ostiarii; ianitores), die Piccolomini trotz täglicher flehentlicher Klagen keinen Zutritt zum Herrscher gewähren würden. Während dem königlichen Mundschenk, Koch, Falkner oder Wirtschafter (villicus), ja selbst dem etyops, Stallmeister und Hundewärter (canum altor) Einlass gewährt werde, müsse der Poet und Sekretär Enea – vielleicht sogar auf Befehl des Herrschers – vor der Tür bleiben. Daher bekäme er den König nur bei öffentlichen Anlässen zu Gesicht, könne diesen bei derartigen Gelegenheiten jedoch nicht ansprechen 5. Friedrich habe daraufhin erklärt, dem Türhüter keinen derartigen Befehl erteilt zu haben, möglicherweise hätte dieser den Italiener einfach nicht gekannt. Denn der Zugang zum Herrscher sei von diesem eindeutig geregelt: Einigen stehe der Weg zum König immer offen, anderen nur zu bestimmten Zeiten. Zur erstgenannten Gruppe gehören Kammerdiener, Ärzte, Beichtväter und Kapläne. Hingegen seien für die königlichen Räte, Kanzler, Sekretäre und Notare, regni et fame custodes, sowie für Ritter und Herren bestimmte Stunden vorgesehen, zu denen diese gesammelt vorgelassen wurden. Als der Italiener daraufhin ersucht, als Sekretär gemeinsam mit den anderen Sekretären vor den Herrscher treten zu dürfen, wird dies von Friedrich als gerechte Bitte angesehen (iustum petis) und daher genehmigt 6. Auf das weitergehende Ansuchen Piccolominis, ob er nicht auch alleine vor dem König vorsprechen dürfe, um sich etwa für Freunde, arme Menschen oder den Nutzen des Gemeinwesens einzusetzen, erwidert der literarische Herrscher, dass sich sein Sekretär nur insoweit mit dem Gemeinwohl zu beschäftigen habe, als es die ihm übertragene Aufgabe des Verfassens von Briefen betrifft. Lediglich der König und seine Räte seien für Fragen der res publica zuständig. Nicht verboten sei es für Piccolomini jedoch, vor dem Herrscher die Angelegenheiten anderer zu vertreten 7. Nach allgemeinen Ausführungen über den Nutzen des humanistisch gebildeten Poeten rät Piccolomini seinem Dienstherren, in vertrauten Gesprächssituationen wie bei offiziellen Anlässen selbst das Wort zu ergreifen, anstatt andere für sich sprechen zu lassen, dabei auch die lateinische Sprache zu verwenden und sich nur bei stilistisch anspruchsvollen Reden von einem Sprecher vertreten zu lassen. Auch Friedrichs Vorgänger Sigismund habe gerne selbst gesprochen, und jeder Gesprächspartner habe sich

5 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 58. Zu den Türhütern am Hof Friedrichs III. sowie allgemein zu deren bereits in der literarischen Hofkritik des Hochmittelalters thematisierten, einflussreichen und einträglichen Rolle bei der Kontrolle und Beschränkung des Zugangs zum Herrscher, die für das 15. Jh. auch in dokumentarischen Quellen gut belegt ist, siehe Paul-Joachim H, Die Türhüter und Herolde Kaiser Friedrichs III. Studien zum Personal der deutschen Herrscher im 15. Jahrhundert, in: Kaiser Friedrich III. (1440 –1493) in seiner Zeit. Studien anläßlich des 500. Todestags am 19. August 1493/1993, hg. von . (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 12, Köln–Weimar–Wien 1993) 355 –375; Christian L, Hof und Herrschaft. Rat, Kanzlei und Regierung der österreichischen Herzoge (1365 –1406) (MIÖG Ergbd. 41, Wien–München 2002) 161 – 164; W, Schreiben (wie Anm. 2) 282 –284. 6 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 58 –60. Zu den „gerechten Bitten“, die einem allgemein akzeptierten Wertekanon entsprachen und den Herrscher daher zu deren Erfüllung verpflichteten, siehe Claudia G, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich (Darmstadt 2008) bes. 17. 7 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 60.

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höchst erfreut gezeigt, eine Antwort direkt aus dem Mund des redefreudigen Kaisers empfangen zu haben 8. Besondere Aufmerksamkeit wird im Pentalogus dem richtigen Umgang mit auswärtigen Gesandten und Bittstellern am königlichen Hof zuteil. Nach Piccolomini soll man diese zunächst zwei bis drei Tage lang auf eine Anhörung warten lassen, um ihnen einerseits die Möglichkeit zu geben, sich von der Reise zu erholen und zu sammeln. Andererseits aber eröffne sich dadurch für den König die Gelegenheit, einen seiner Diener in das Quartier der Neuankömmlinge zu schicken, um diese freundlich zu begrüßen und Näheres über deren Begehr zu erfahren 9. Mithilfe seiner Räte könne der König nun in Ruhe seine Antwort auf deren Ansuchen vorbereiten. Sollte allerdings im Vorfeld nichts über die Ziele der Gesandten zu erfahren sein, da sie ihr Ansuchen, ut sepe contingit, nur mit dem Herrscher selbst besprechen wollen, soll man nach sorgfältiger Überlegung auf der Basis vergangener Verhandlungen und Bitten den aktuellen Anlass ergründen. Ist der Auftraggeber bekannt, sei es nach Piccolomini ein Leichtes vorherzusehen, worauf sich die jeweilige Bitte richte, und auf dieser Grundlage solle eine entsprechende Antwort vorbereitet werden 10. Überhaupt könne man auswärtige oratores in zwei Kategorien unterteilen; sie brächten entweder Bitten oder Klagen vor 11. Im erstgenannten Fall würden diese den König im Auftrag ihres Dienstherrn, eines fürstlichen Bittstellers (impetrator), zumeist um ein Bündnis, eine Eheverbindung oder einen Friedensvertrag, zuweilen auch um die Befreiung von Gefangenen, Veränderungen bei der Grenzziehung, freien Durchzug von Waren oder die Erteilung von Privilegien ersuchen. Bittende Gesandte würden bei der Audienz zunächst versuchen, das Wohlwollen des Herrschers zu erreichen, indem sie dessen Freigebigkeit oder – etwa bei dem Wunsch nach gerichtlicher Verfolgung eines Kontrahenten – die Gerechtigkeit des Königs preisen. Auch würden sie Friedrich III. für dessen Erfolge beglückwünschen und den Nutzen betonen, den dieser aus der Gewährung der vorgebrachten Bitte ziehen könne. Weiters werde von den Gesandten insbesondere die Dankbarkeit des Bittstellers hervorgestrichen, während sämtliche Einwände, die gegen ihr Ansuchen gemacht werden könnten, bereits im Rahmen ihrer Ausführungen widerlegt werden. Zuletzt werde der König Geschenke (dona) des Impetrators empfangen, wobei dessen Gesandter sich für die Bescheidenheit dieser „kleinen Gabe“ (res parva) entschuldigen werde 12.

8 Ebd. 66 –74. Vgl. auch ebd. 262 Z. 12 f.: Miras enim vires vox principis habet et nescio quid latentis energie. Zu dieser Thematik siehe auch Christine R, Herrschaft durch Performanz? Zum Einsatz und zur Beurteilung performativer Akte im Verhältnis zwischen Fürsten und Untertanen im Spätmittelalter. HJb 126 (2006) 25 –64, hier 53 –58. 9 An anderer Stelle lässt Piccolomini den römischen Kanzler Kaspar Schlick sowie die beiden königlichen Räte Bischof Nikodemus von Freising und Bischof Silvester von Chiemsee die Aussage tätigen, dem König zu Ehren häufig auswärtige Gesandte am königlichen Hof als Gäste in ihre Unterkunft einzuladen, Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 248. 10 Ebd. 74 –78. Vgl. dazu allgemein die stark formalisierte diplomatische Kommunikation in Venedig: Christina L, Überwachen und Inszenieren. Gesandtschaftsempfänge in Venedig um 1500, in: Adventus. Studien zum herrscherlichen Einzug in die Stadt hg. von Peter J–Angelika L (Städteforschung A 75, Köln–Weimar–Wien 2009) 113 –131. 11 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 78 Z. 7 f.: Aut petere volent oratores aut conqueri. 12 Ebd. Z. 14. Zur spätmittelalterlichen Praxis des Schenkens als Element der politischen Auseinandersetzung im städtischen Bereich siehe Valentin G, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und

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Der junge König möge sich auf diese Vorgangsweise einstellen und eine passende Antwort überlegen. Auf ein Lob der Gesandten könne er etwa bescheiden erwidern, dass er die ihm zugeschriebenen Tugenden zwar nicht besitze, diese allerdings zum Wohle seiner Untertanen und des Reiches gerne aufweisen würde. Auf eine Verherrlichung eigener Taten könne Friedrich reagieren, indem er den Erfolg ganz Gott zuschreibe; auf Unwahres sei besser gar nicht zu rekurrieren. Der König möge seinen Glauben an die Aufrichtigkeit der geäußerten Glückwünsche versichern und ebenfalls seine freudige Anteilnahme an den Erfolgen des Bittstellers kundtun. Ist dieser dem Herrscher näher bekannt, solle er dessen Tugend loben und diese anhand einer kurzen Erzählung erläutern. Andernfalls könne Friedrich sagen, über den Petenten bereits viel Lobenswertes gehört zu haben und ihn wegen seiner Talente sehr zu schätzen 13. Bei der Auseinandersetzung mit dem vorgebrachten Anliegen müsse dessen Bedeutsamkeit abgewogen werden. Auf gewichtige Bitten sei mit Hinweis auf eine zuvor notwendige Beratung dilatorisch zu reagieren, während der König einem unbedeutenden Gesuch ohne weiteres sofort nachkommen könne. In diesem Fall sei es jedoch vorteilhaft, die gewährte Bitte mit eigenen Worten größer erscheinen zu lassen, als sie tatsächlich ist, und zu erklären, dass die Zustimmung Friedrichs nur der Tugendhaftigkeit des Bittstellers geschuldet sei und diesem auch in Zukunft selbst bedeutendere Zugeständnisse gewährt würden, während andere Petenten nicht mit derartigen Zugeständnissen rechnen könnten. Geschenke soll der König mit Worten der Freude annehmen, insbesondere bei Hunden, Pferden, Gewändern, Vögeln oder Edelsteinen werde er sich stets besonders erfreut zeigen und derartige Präsente nach Vermögen loben. Anspruchsvollen Gold- und Silberarbeiten sollte mehr Anerkennung entgegengebracht werden als es dem reinen Metallwert dieser Gegenstände entspricht. Problematisch sei die Situation jedoch bei Geldgeschenken, denn diese würden lediglich von Untertanen oder Personen geschickt, die Bestechungen versuchen (corruptores) 14. Nur in ersterem Fall könne eine derartige Gabe angenommen werden, wobei stets Sorge zu tragen sei, dass diese nicht in Zusammenhang mit der königlichen Gerichtsbarkeit gebracht werden könne. Ein darauf abzielendes Geldgeschenk möge der König mit gewichtigen Worten und mit Verweisen auf antike Exempel oder seine unbestechlichen Vorgänger tadeln und dabei zum Ausdruck bringen, die Herrschaft nicht angetreten zu haben, um Gerechtigkeit gegen Geld zu veräußern 15.

die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven 3, Konstanz 2000). 13 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 78. 14 Zu dieser Problematik siehe allgemein die materialreiche Studie von Rainer Scharf, der Piccolominis Ausführungen jedoch nicht behandelt: Rainer S, Fiktive Geschenke. Praktiken von erung und Bestechung am Hof Kaiser Friedrichs III. im Spiegel vornehmlich Nürnberger Quellen, in: König, Fürsten und Reich im 15. Jahrhundert, hg. von Franz F–Paul-Joachim H–Jörg S (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 29, Köln–Weimar–Wien 2009) 21 –58. 15 Wie die mehrfach belegten Aufforderungen zu Geldzahlungen an Räte Friedrichs III. gerade im Umfeld von Prozessen vor dem kaiserlichen Kammergericht belegen, entsprach die Realität am Hof Friedrichs keineswegs dem von Piccolomini entworfenen Idealbild; siehe etwa Franz F, Die Praxis des kaiserlichen Kammergerichts im Spiegel Nürnberger Gesandtschaftsberichte des 15. Jahrhunderts, in: Gerechtigkeit im gesellschaftlichen Diskurs des späteren Mittelalters, hg. von Petra S–Gabriele A–Michael R (ZHF Beih. 47, Berlin 2012) 255 –276, hier 271.

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Allerdings müsse vom Herrscher stets bedacht werden, dass aus der Annahme von Geschenken stets eine gewisse Verpflichtung gegenüber dem Schenkenden entstehe. Der König möge sich daher als freigebig (liberalis) erweisen, wobei diese Eigenschaft bei Fürsten dazu führen sollte, Gefangene aus der Unfreiheit zu entlassen, Leidenden Hilfe zu bringen oder überhaupt allen Beistand zu leisten, die Unrecht erdulden mussten. Zudem sollten auch Menschen niederen Standes Wohlstand erwerben können, wenn sie sich entsprechende Verdienste um den Monarchen erworben haben 16. Zumindest der literarische König Friedrich schenkte den Ratschlägen Enea Silvio Piccolominis gerne Gehör, als Belohnung für dessen Bemühungen wird dem Kanzlisten zukünftig ein direkter Zugang zum Ohr des Monarchen zugesichert 17. Während die Forschung den Pentalogus bislang in erster Linie als Quelle für die reichs- und kirchenpolitischen Positionen des Italieners untersucht hat, fällt die Interpretation von Piccolominis Äußerungen über die Verhältnisse am römisch-deutschen Königshof Friedrichs III. aufgrund des literarisch-humanistischen Grundcharakters seines Werkes ungleich schwerer. Das Verhältnis von literarischer Fiktion und Abbild der höfischen Realität kann vielfach nur im Vergleich mit anderen Quellenbelegen nachvollzogen werden, wobei Piccolomini selbst seinen Text unzweifelhaft an ein höfisches Publikum richtete, das problemlos im Stande war, die enthaltenen lebensnahen Schilderungen mit der Wirklichkeit des Hof lebens zu vergleichen und auch idealisierende, topische oder satirische Elemente zu erfassen. In den umfangreichen Schilderungen und Anweisungen Piccolominis findet der Umgang mit schriftlich eingereichten Bittgesuchen an den König keine Erwähnung. Dies scheint angesichts der zum Zeitpunkt der Anlage dieses Werkes sehr intensiven Bindung seines Autors an die königliche Kanzlei und damit an die Schaltstelle der schriftlichen Kommunikation am Herrscherhof überraschend, hängt aber wohl in erster Linie mit Konzeption und Programm des Pentalogus zusammen. Denn mit seinem Werk verband Piccolomini nicht zuletzt das Ziel, die Oratorik im höfischen Alltag aufzuwerten und die kunstvolle Rede als Schlüsselfunktion in der politischen Entscheidungsfindung zu etablieren 18. Im Pentalogus erläutert Piccolomini diesen von ihm vertretenen Vorrang der Mündlichkeit am Beispiel eines per Boten übermittelten schriftlichen Gesuches (petitio). Eine Bitte könne in dieser Form bei Hofe nur ein einziges Mal eingereicht werden, noch dazu in vergleichsweise kraftloser Art und Weise, und hänge überdies vom Wollen des jeweiligen Relators oder Kanzlers ab 19. Ein redegewandter Gesandter könne hingegen eher für die Gewährung einer Bitte sorgen, da er im Zuge seiner Mission an einem auswärtigen Hof zusätzliche Informationen in 16

Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 78 –98. Zur Diskussion über Intention und Rezipientenkreis des Pentalogus am königlichen Hof siehe zuletzt W, Schreiben (wie Anm. 2) 155 –249. 18 So Johannes H, Die Reichstagsreden des Enea Silvio Piccolomini 1454/1455. Studien zu Reichstag und Rhetorik (Habil. Köln 1994) 131. 19 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 120 Z. 2 –4: Unicam tantum petitionem littere faciunt eamque languidam, nec aliam quam relator seu cancellarius velit. Die vom Editor an dieser Stelle angeführte Gleichsetzung von Relator und Kanzler mit „Vorleser und Schreiber“ (ebd. 121 Z. 5) ist angesichts von Piccolominis genauer Kenntnis der jeweiligen Aufgabenbereiche sicherlich unzutreffend. Zur Tätigkeit des Relators (in der Literatur auch als Referendar bzw. Geschäftsherr bezeichnet) als Vermittler des herrscherlichen Beurkundungs- bzw. Fertigungsbefehls an die Kanzlei siehe bereits Harry B, Handbuch der Urkundenlehre für Deutschland und Italien 2 (Berlin 41968) 99 –104. 17

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dieser Angelegenheit einholen und wertvolle Unterstützer der eigenen Sache gewinnen könne 20. Zahlreiche Berichte vom Hof Friedrichs III. belegen jedoch, dass das Einreichen von Bittgesuchen in schriftlicher Form direkt an den Kaiser durchaus gängige Praxis war. So informierte etwa am 14. Oktober 1477 Ulrich Schnider, Gesandter der Städte Krems und Stein an der Donau, seine Auftraggeber, er habe die Bittschrift von wegen paider stett geantbürtt . . . dem römischen kayser yn sein selbs hanndt . . . und sein k(ayserlich) g(naden) hatt das schreiben selbs uberlesen 21. Schniders Empfang durch Friedrich III. fand in Steyr statt, wo sich der kaiserliche Hof auf der Flucht vor dem Heer des im Land unter der Enns eingefallenen Königs Matthias von Ungarn einige Wochen lang aufhielt. Die Audienz scheint in einem vergleichweise informellen Rahmen stattgefunden zu haben, lediglich der Protonotar der Österreichischen Kanzlei, Thomas von Cilli 22, sowie einer der kaiserlichen Fiskalprokuratoren 23 sollen dabei anwesend gewesen sein. Der Kaiser habe auf die vorgebrachte Bitte um die Entsendung von kaiserlichen Truppen, eines Büchsenmeisters sowie von Hakenbüchsen zur Verteidigung der beiden Städte zunächst lediglich mit einer ungläubigen Gegenfrage reagiert, und erst nach mehrmaligem Vorbringen desselben Gesuchs auch bei anderen Gelegenheiten habe der Gesandte schließlich doch eine partielle Zusicherung und den kaiserlichen Befehl an die Kanzlei zur Ausstellung eines entsprechenden Mandates erreicht. Die überwiegende Mehrzahl der Nachrichten über das Einreichen von Bittschriften am Hof Kaiser Friedrichs III. beschreibt eine Übergabe im Rahmen einer kaiserlichen Audienz (verhorung bzw. audiencia / audiencz), wobei häufig eine Unterscheidung zwischen öffentlichem und privatem Empfang begegnet 24. Auch in Piccolominis Pentalogus wird diese Dichotomie deutlich. So lässt der Italiener sein „Fünfergespräch“ zu Beginn in einer mit Türen verschlossenen und von einem Türhüter bewachten Audienzhalle (aula) beginnen, ehe sich der König und seine Räte für die Behandlung aktueller politischer Themen, die nicht für die Ohren aller bestimmt seien, in daran anschließende intimere Gemächer (in penitiorem edium) zurückziehen 25. 20 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 120. Bereits im Jahr 1440 hatte Piccolomini in seinem Libellus dialogorum seine Vorstellung eines idealen Gesandten und Redners formuliert; siehe Enea Silvio Piccolomini, Libellus dialogorum de concilii generalis auctoritate, ed. Adám Franz K (Analecta monumentorum omnis aevi Vindobonensia 2, Wien 1762) 690 –790, hier 735. 21 Krems, Stadtarchiv, Urkundenreihe, Nr. 433 (sub dato 1475 X 17). 22 Zur Person des Thomas von Cilli siehe zuletzt Daniel L, Humanismus und humanistische Schrift in der Kanzlei Kaiser Friedrichs III. (1440 –1493) (MIÖG Ergbd. 60, Wien–Köln–Weimar. 2016) 110 –119 mit weiterführenden Literaturangaben. 23 Dabei dürfte es sich um Georg Ehinger oder Johann Keller gehandelt haben: siehe Paul-Joachim H, Kaiser Friedrich III. (1440 –1493). Hof, Regierung und Politik 1 (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 17, Köln–Weimar–Wien 1997) 119 –134. 24 Siehe etwa Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. Zweite Abteilung 1441 –1442, ed. Hermann H–Ludwig Q (Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe 16, Göttingen 21957) 595 Nr. 231 Z. 22: Arelatensi vero petente dari audienciam publicam et secretam ; ebd. Z. 31 f.: Quo vero ad privatam audienciam , si illa peteretur pro ecclesie causa, necessaria non esset; Joseph C, Aktenstücke und Briefe zur Geschichte des Hauses Habsburg im Zeitalter Maximilians I., Bd. 1 (Wien 1854, Nachdr. Hildesheim 1968) 45 Nr. 11: Et ad petitionem nostram in penetrali data est audientia privata. 25 Piccolomini, Pentalogus (wie Anm. 2) 98. Zu den am Hof Friedrichs III. ab 1473 belegten „Kammertürhütern“ in Unterscheidung zu den die „äußeren“ Türen bewachenden, im 16. Jh. als „Saaltür-

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Zumindest im Falle sozial hochstehender Gesandter konnte auch im Rahmen öffentlicher Audienzen die Unterhaltung mit dem Kaiser vor den Ohren anderer Teilnehmer verborgen werden. So berichten Vertreter der Stadt Frankfurt von einem am 27. April 1475 stattgefundenen Empfang eines päpstlichen Legaten durch den Kaiser: darnach . . . by der keyserlichen majestat audiencien gehapt, dar by fürsten, herrn und von stetten verbott gewest sin, doche hat nyemants denn alleyn die jhenen, so in eynem eygen circkel die heupt zusamen gehangen, mogen horen, was der botschafft gewest sy 26. Wenige Tage später wiederholte sich dieser offenkundig als ungewöhnlich empfundene Vorgang: da ließe man von den obgemelten ridden, und gingen aber etliche by den legaten die heupter zusamen hencken, ridten gut wyle und schyde da der legatt widder abe, ginge menglich auch hienweg und hatte nyemants des legaten ridde gehort, dan alleyn die in dem circkel nahe stunden und darby geheischen wurden. Wole meynen etlich, es sy umb eyn fridden und ermanung dem Durcken widderstant zuthun 27. Am Hof Kaiser Friedrichs III. fanden öffentliche Audienzen wohl häufig im Zusammenhang mit regulären Ratssitzungen statt 28, für vertrauliche Gespräche stellte jedoch die audiencia privata bzw. secreta einen besser geeigneten Rahmen dar, über deren Ablauf zahlreiche Gesandtenberichte beredte Auskunft geben. Diese aufgrund der persönlichen Arbeitsgewohnheiten des Kaisers oft spätnachts im wenig repräsentativen Ambiente des kaiserlichen Schlafzimmers abgehaltenen Empfänge wurden von einigen Petenten als besondere Auszeichnungen empfunden, zuweilen werden in deren Berichten aber auch Irritationen über das äußerlich höchst anspruchslose Auftreten Friedrichs III. bei derartigen Gelegenheiten zum Ausdruck gebracht 29. So berichtet etwa ein Gesandter, der Kaiser habe ihn in seiner Kammer empfangen, auf einem Sessel mit weit nach hinten geklappter Lehne eher liegend als sitzend. Andere Bittsteller hätten den Monarchen im Bett angetroffen, lediglich mit einem bloßen Hemd bekleidet 30. Nicht zuletzt aufgrund derartiger Berichte hat die historische Forschung die Hofhaltung Friedrichs III. als archaisch und rückständig charakterisiert, Zeremoniell

hüter“ bezeichneten kaiserlichen Dienern siehe H, Türhüter (wie Anm. 5) 367 f., und ., Türhüter, Torwächter, in: Höfe und Residenzen im spätmittelalterlichen Reich. Bilder und Begriffe, Teilbd. 1: Begriffe, hg. von Werner P, bearb. von Jan H–Jörg W (Residenzenforschung 15/2/1, Ostfildern 2005) 188 –191, hier 189. 26 Frankfurts Reichscorrespondenz nebst andern verwandten Aktenstücken von 1376 –1519, Bd. II / 1: Aus der Zeit Kaiser Friedrichs III. bis zur Wahl König Maximilians I. 1440 –1486, ed. Johannes J (Freiburg 1866) 363. 27 Ebd. 28 Siehe etwa Karl-Friedrich K, Die Reise des Speyerer Domvikars Bernhard Ruß an den Kaiserhof in Wien (1482). Zur Praxis kaiserlicher Herrschaftsausübung im Spätmittelalter. Archiv für mittelrheinische Kirchengeschichte 38 (1986) 175 –223, hier 201 –203. 29 Siehe etwa G, Kultur (wie Anm. 6) 308; Paul-Joachim H, Verhaltensformen und zeremonielle Aspekte des deutschen Herrscherhofes am Ausgang des Mittelalters, in: Zeremoniell und Raum. 4. Symposium der Göttinger Residenzen-Kommission, Potsdam, 25. bis 27. September 1994, hg. von Werner P (Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen 4 – Residenzenforschung 6, Sigmaringen 1997) 63 –82; Karl-Friedrich K, Der Hof Friedrichs III. – von außen gesehen, in: Deutscher Königshof, Hoftag und Reichstag im späteren Mittelalter, hg. von Peter M (VuF 48, Stuttgart 2002) 163 –190; R, Herrschaft (wie Anm. 8) 35 –40. 30 K, Reise (wie Anm. 28) 188 und 220; R, Herrschaft (wie Anm. 8) 40.

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und Ritual hätten an dessen Hof nur eine geringe Rolle gespielt. Christine Reinle ortet im Auftreten des Kaisers gar entschiedene „Mängel im performativen Bereich“ 31. In den meisten Fällen scheint eine derartige audiencia privata ausdrücklich auf besonderes Betreiben des jeweiligen Petenten gewährt worden zu sein. Begründet wurde diese Bitte zumeist mit der gewünschten Geheimhaltung, denn auf diesem Weg wurde sicherlich die Gefahr minimiert, dass Widersacher des Bittstellers von dessen Anliegen und Nöten Kenntnis erlangten. Andererseits konnte durch den direkten Empfang vor dem Kaiser auch der hinderliche Einfluss missliebiger oder habgieriger Höf linge begrenzt werden 32. Im Zuge dieser informellen Privataudienzen scheint die Überreichung und Lektüre von Bittschriften die Ausnahme gewesen zu sein, üblich blieb wohl das mündliche Gespräch mit dem Kaiser, der bei derartigen Gelegenheiten häufig als durchaus redselig, zuweilen gar als fröhlich scherzend beschrieben wurde 33. Auch der Nürnberger Goldschmied Albrecht Dürer der Ältere, Vater des weltbekannten Malers, berichtet in einem Brief an seine Frau Barbara von einer kaiserlichen Privataudienz am 20. August 1492 in Linz, wo er dem greisen Kaiser nach dem Mittagessen seine Erzeugnisse präsentieren durfte. Dieser habe sich höchst erfreut gezeigt und het zu mal vil mit mir zu reden. Abschließend sei ihm der Kaiser entgegengetreten und habe Dürer mit den Worten main goldschmid, ge in die herbeg und tu dier gutlich 4 Gulden überreicht. Auf eine weitere Audienz und die Erledigung seiner Angelegenheiten müsse Dürer nun jedoch bereits vier Tage lang warten 34. Befand sich der kaiserliche Hof auf Reisen, konnte es je nach Zahl der Petenten und der jeweiligen räumlichen Situation im Reisequartier auch zu einer Mischform zwischen audiencia publica und privata kommen, nämlich zu einem öffentlichen Empfang in den kaiserlichen Gemächern. So berichtet etwa das Diario Ferrarese, der Kaiser habe im Zuge seiner Romfahrt 1468/69 mehrere Tage am Hof von Herzog Borso d’Este in Ferrara verweilt und dabei zahlreiche Privilegierungen für italienische Petenten vorgenommen, wobei er aus diesem Grund seine Kammer einen ganzen Tag lang nicht verlassen habe. Allein für den 1. Februar 1469 führt der anonyme Chronist über 80 kaiserliche Begünstigungen an, der überwiegende Teil davon Palatinatsprivilegien mit unterschiedlichen Befugnissen 35. Unter den Empfängern befand sich unter anderem Niccolò Ariosto, Vater des berühmten Humanisten Ludovico und Befehlshaber der

31 R, Herrschaft (wie Anm. 8) 39. Vgl. auch das negative Urteil in K, Reise (wie Anm. 28) 194. 32 Vgl. u. a. Reichscorrespondenz 2, ed. J (wie Anm. 26) 256 f. Nr. 412 f. 33 Siehe etwa die weitgehend wörtliche Wiedergabe von Rede und Gegenrede im Bericht des Speyerer Gesandten Bernhard Russ über eine Privataudienz in einem cleynen kemerlin des kaiserlichen Hofes: K, Reise (wie Anm. 28) 211 –220. 34 Dieses bislang wenig beachtete autographe Schreiben wurde um 1882 hinter einer Holzverschalung im alten Nürnberger Dürerhaus gefunden; Druck in: Dürer. Schriftlicher Nachlass 1: Autobiographische Schriften; Briefwechsel; Dichtungen; Beischriften, Notizen und Gutachten; Zeugnisse zum persönlichen Leben, ed. Hans R (Berlin 1956) 252. Zu Dürers Aufenthalt in Linz siehe Georg W, Albrecht Dürer in Linz, in: Stadtarchiv und Stadtgeschichte – Forschungen und Innovationen. Festschrift für Fritz M zur Vollendung seines 60. Lebensjahres (Historisches Jahrbuch der Stadt Linz 2003/04, Linz 2004) 349 –353. 35 Diario Ferrarese dall’anno 1409 sino al 1502 di autori incerti, ed. Giuseppe P (RIS2 24/7, Bologna 1928 –1933) 55 –57.

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Estensischen Garnison in Reggio Emilia 36. Am 1. Februar 1469 ernannte der Kaiser in einer Kammer des Ferrareser Hofes auch eine Reihe von Doktoren, Notaren und Rittern, wobei sich – wie Stefanino Guidoto, Gesandter der Gonzaga in Ferrara, ironisch nach Mantua berichtet – selbst einige putti darunter befunden hätten 37. In einigen der bei dieser Gelegenheit ausgestellten Urkunden wird – völlig konträr zu den Gepflogenheiten der Reichskanzlei und sicherlich auf Betreiben der italienischen Petenten – bei der Angabe der Urkundenausstellung nicht nur der jeweilige Ortsname angeführt, sondern auch eine nähere Lokalisierung hinzugefügt – besonders prestigeträchtig natürlich ein Empfang im Schlafgemach des Kaisers (in palatio in camera cubilis imperatoris) 38. Selbst bei regulären Aufenthalten des Kaisers in einer seiner präferierten „Residenzen“ ergaben sich für Petenten offenkundig auch außerhalb öffentlicher oder privater Audienzen Gelegenheiten, dem Herrscher ihre Anliegen mitzuteilen. So soll der Nürnberger Bürger Jost Haller, Gesandter seiner Heimatstadt am kaiserlichen Hof in Graz, laut einem Eintrag im Taxregister der Reichskanzlei am 26. Oktober 1472 dem Herrscher im sale der kaiserlichen Burg des nachts, alsz sin gnade wolte in Erbens husz in das bat geen, sein Anliegen muntlichen mitgeteilt haben 39. Eine weitere Möglichkeit, dem Reichsoberhaupt die eigenen Wünsche zu übermitteln, bestand für Petenten in der Übergabe einer Bittschrift durch einen Boten direkt an den Kaiser. Auf im Original überlieferten Suppliken an Friedrich III. finden sich gelegentlich vom Absender dorsal angebrachte Vermerke wie in seiner kaiserlichen gnaden aigen hand, dem . . . römischen keyser . . . in sein handt oder ad manus proprias, die sicherlich zumeist dem Wunsch nach höchstmöglicher Vertraulichkeit entsprangen 40. Bei den Absendern dieser Schreiben handelt es sich in erster Linie um sozial höhergestellte Personen wie fürstliche Petenten oder einflussreiche kaiserliche Amtsträger, die sich dadurch wohl auch eine bessere Ausgangsposition für die Gewährung ihrer Bitten erhofften. Dass derartige, direkt an den Kaiser gerichtete Schreiben jedoch auch mit einem gewissen Risiko verbunden waren, zeigt der Bericht des brandenburgischen Gesandten

36 Zu dieser Verleihung siehe den Teildruck bei: Antonio F, Memorie storiche della nobil famiglia Ariosti. Raccolta Ferrarese di opuscoli scientifici e letterari di autori italiani (Ferrara 1779) 106 f. Siehe dazu auch Michele C, Vita di Ludovico Ariosto ricostruita su nuovi documenti 1 (Genève 1930) 15 f. 37 Diario Ferrarese (wie Anm. 35) 55 –57 bzw. Mantua, Archivio di Stato, Archivio Gonzaga, busta 1228. Zur Ernennung von Doktoren im spätmittelalterlichen höfischen Umfeld siehe Alfred von W, Die Verleihung gelehrter Grade durch Kaiser seit Karl IV., in: Festschrift für Heinrich B zum 70. Geburtstag (Weimar 1910) 689 –735; Andreas R, Dottori per „vie traverse“. Qualche spunto sulle lauree conferite in ambito curiale. QFIAB 89 (2009) 183 –215. 38 Siehe etwa die in Ravenna und Pesaro ausgestellten kaiserlichen Palatinatsprivilegien für Giovanni Abbiosi di Bagnacavallo, Ostasio Rasponi und Giovanni Francesco Bracci (Ravenna, Archivio di Stato, Archivio Notarile, protocollo 138 und 198, bzw. ebd. Biblioteca Classense, Archivio storico comunale n. 72) sowie für Cristoforo Fabertinus (Rieti, Archivio di Stato, Pergamene provenienti dal restauro 3/17). 39 Der dieses Amtsbuch führende Registrator Wigand Koneke führte sich selbst als Zeuge dieser Begebenheit an: ego fui presens. Siehe Das Taxregister der römischen Kanzlei 1471 –1475 (Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Hss. „weiß 529“ und „weiss 920“), ed. Paul-Joachim H–Ines G (Regesten Kaiser Friedrichs III. Sonderbd. 2, Wien–Weimar–Köln 2001) 341 Nr. 2261. 40 Siehe beispielweise Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 1.18.2, 4a.28.3, 14.101 oder 14.704.1.

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Dr. Martin Haiden vom 9. Mai 1478 aus Graz. Darin informiert er seinen kurfürstlichen Dienstherrn Albrecht Achilles von Brandenburg, dass dessen Brief wunschgemäß dem Kaiser direkt übergeben wurde, der wiederum zugesichert habe, das Schreiben eigenhändig zu beantworten. Als nach einiger Zeit jedoch keine Reaktion Friedrichs III. in dieser Angelegenheit zu vernehmen war, ließ der Gesandte noch einmal in dieser Sache nachfragen, woraufhin er von einem Höf ling die Antwort erhalten habe, der Kaiser kenne den Inhalt des Briefes noch nicht, da er bislang keine Zeit gehabt habe, ihn sich vorlesen zu lassen. Als Friedrich den Brief schließlich Wochen später doch hören wollte und diesen suchen ließ, konnte man das Schreiben nicht mehr finden, und auch in den Kanzleien hatte keiner Kenntnis davon. Auf Nachfrage vermeinte der Protonotar der österreichischen Kanzlei, Johannes Rehwein, der kaiserliche Rat und Kardinal Heßler habe das Schriftstück möglicherweise bei seiner Abreise vom kaiserlichen Hof versehentlich mitgenommen, aber der Herrscher erinnerte sich plötzlich daran, das Schreiben persönlich entgegengenommen zu haben. Nach etlichen Tagen fieberhafter, aber vergeblicher Suche habe der brandenburgische Gesandte schließlich den Kaiser gebeten, doch auch in dessen eigenem stublein unter den briefen suchen zu lassen. Als man dies schließlich tat, fand man in der Stube des Kaisers das noch ungeöffnete Schreiben in einem secklein an der wend unter des herzogen von Burgundi und vil anderen briefen. Da diese Unordnung am kaiserliche Hof offensichtlich kein Einzelfall war, riet der Gesandte seinem kurfürstlichen Herrn, in Zukunft neben dem Brief an die kaiserliche Majestät auch eine oder zwei Kopien an seinen Gesandten am Hof des Kaisers zu übersenden, ob einer verloren würd, das man den andern hett 41. Petenten konnten zur Förderung ihrer Anliegen zudem das Ziel verfolgen, einen einflussreichen, wenn möglich dem eigenen sozialen oder landschaftlichen Umfeld entstammenden Fürsprecher am Herrscherhof zu gewinnen. Als erste Ansprechpersonen für Bittsteller am Hof begegnen in den Quellen häufig kaiserliche Räte oder Mitarbeiter der beiden Kanzleien. Deren Wohlwollen eröffnete den Petenten unter anderem die Möglichkeit, Suppliken in der Hoffnung auf eine rasche und positive Erledigung direkt an diese höfische Vertrauensperson zu senden und um Verlesung vor dem Kaiser zu ersuchen. Zahlreiche Informationen über diese Vorgänge enthält die überlieferte Korrespondenz von Kanzlisten und anderen Höf lingen Kaiser Friedrichs III. mit auswärtigen Petenten, deren umfassende Sammlung und Auswertung in diesem Zusammenhang noch aussteht. In der Frühzeit der Regierung Friedrichs III. schildert beispielsweise der wohl bekannteste Kanzlist Friedrichs III., Enea Silvio Piccolomini, im Briefwechsel mit Vertretern seiner Heimatstadt Siena ausführlich seine Tätigkeit am Herrscherhof. So habe er von diesen eine an den Kaiser gerichtete Supplik mit der Bitte um bestmögliche Förderung erhalten, woraufhin der Italiener diese Bittschrift im Zuge einer Sitzung des kaiserlichen Rates verlesen habe. Den Wünschen der Sieneser entsprechend habe er dabei jedoch den Wortlaut ihres Schreibens nach eigenem Dafürhalten abgewandelt und um weitere Argumente ergänzt, die ihm vielversprechend

41 Politische Correspondenz des Kurfürsten Albrecht Achilles 2: 1475 –1480, ed. Felix P (Publicationen aus den k. Preußischen Staatsarchiven 67, Leipzig 1897) 383 Nr. 396. Siehe dazu bereits PaulJoachim H, Der König im Brief. Herrscher und Hof als Thema aktiver und passiver Korrespondenz im Spätmittelalter, in: Kommunikationspraxis und Korrespondenzwesen im Mittelalter und in der Renaissance, hg. von Heinz-Dieter H–Ivan H (Paderborn–München–Wien 1998) 31 –49, hier 48.

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erschienen. Schließlich sei den Gesuchen der Stadt von Seiten des Reichsoberhauptes entsprochen worden 42. Aus den beiden letzten Jahrzehnten der Regierungszeit Kaiser Friedrichs III. ist etwa ein umfangreicher Briefwechsel des Salzburgers Johann Waldner überliefert, der ab 1467 als kaiserlicher Sekretär und Protonotar, später als einflussreicher Leiter der römischen Kanzlei Friedrichs III. tätig war 43. Aufschlussreich für den Bereich des Supplikenwesens ist unter anderem ein Brief Waldners an Bürgermeister, Richter und Rat der Stadt Wien vom 3. Mai 1483 als Antwort auf ein ihm zuvor übergebenes schriftliches Anbringen der Stadt an den Kaiser. Waldner versichert, er habe ihre Bittschrift von stund dem Kaiser überantwort und verlesen. Dieser habe Waldner daraufhin mit der positiven Erledigung in Form eines Mandats an landesfürstliche Amtsträger beauftragt, dessen Ausfertigung er der Stadt in diesem Schreiben ankündigt. Waldners Brief schließt mit seiner Zusicherung, der Stadt Wien zu dienen als wère ich ewer gebornner Wiener, darfur ich mich auch zelle, und ob got wil, mein zeitt bey euch besliessen wil 44. Aber auch niederrangige Kanzleimitarbeiter konnten um die Förderung von Bittschriften ersucht werden. So empfing der ab 1478 in der römischen Kanzlei als Registrator tätige Matthias Wurm zwei an den Kaiser gerichtete supplicacien Jörg Langs mit einem Begleitschreiben, in dem Wurm freuntlich gebeten wurde, fleis darinn zu haben. Der Petent sicherte im Gegenzug dem Registrator Wurm zu, sollte er die gewünschten Urkunden tatsächlich erhalten, werde er die entsprechende Kanzleigebühr selbstverständlich in voller Höhe entrichten 45. Neben den Mitarbeitern der römischen und erbländischen Kanzlei konnten natürlich auch andere einflussreiche Höf linge für die Anliegen von Petenten vor dem Kaiser eintreten. In den ersten Jahrzehnten der Regierungszeit Friedrichs III. ist insbesondere die von Piccolomini als „steirische Weisheit“ ironisierte Gruppe innerösterreichischer Räte 46 bzw. das berüchtigte Triumvirat Ulrich Sonnenberger, Hans Ungnad und Ulrich Riederer zu nennen, die von einem Nürnberger Gesandten spöttisch als „drei Wetterherren und große Propheten“ bezeichnet wurden, in deren Händen allein die

42 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. Fünfte Abteilung, zweiter Teil: Reichsversammlung zu Frankfurt 1454, ed. Johannes H–Gabriele A (Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe 19/2, München 2013) 83 f. Nr. 1,4. 43 Zur Person Waldners siehe H, Hof (wie Anm. 23) 721 –731, sowie die umfassenden Studien von Jörg S, Johann Waldner (ca. 1430 –1502). Ein kaiserlicher Rat und das Reich im ausgehenden 15. Jahrhundert (Habil. Mannheim 2007); ., Ein Salzburger Kürschnersohn am Wiener Kaiserhof. Biographische Skizzen zu Johann Waldner (ca. 1430 –1502). Salzburg Archiv 31 (2006) 45 –64; ., Der Freund Sachsens. Johann Waldner († 1502) und die Wettiner, in: König, Fürsten und Reich (wie Anm. 14) 75 –99; ., Von der Mitte an den Rand. Johann Waldner (ca. 1430 –1502) in den Netzwerken der Höfe Kaiser Friedrichs III. und Maximilians I., in: Die Grenzen des Netzwerks 1200 –1600, hg. von Kerstin H–Klara H (Ostfildern 2014) 113 –136. 44 Wien, Stadt- und Landesarchiv, HA Urkunden Nr. 4960, Regest: Quellen zur Geschichte der Stadt Wien, II. Abtheilung. Regesten aus dem Archive der Stadt Wien 3. Verzeichnis der Originalurkunden des städtischen Archives 1458 –1493, ed. Karl U (Wien 1904) 300 f. Nr. 4960. 45 Innsbruck, Tiroler Landesarchiv, Sigmundiana 14.1069.1 (mit dem Kanzleivermerk: zu fragen nach den supplicacionen). Zu Matthias Wurm siehe H, Hof (wie Anm. 23) 786 –790. 46 Ebd. bes. 177 f.

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gewalt des römischen reichs läge 47. Für die Spätzeit Friedrichs III. sei hier lediglich auf die beiden bedeutenden Kreditgeber des Kaisers, Sigmund Prüschenk und Ladislaus Prager, verwiesen. Letzterer fungierte seit den 1480er Jahren häufig als Fürsprecher für Belange der Stadt Triest am Herrscherhof, übermittelte den Beurkundungs- bzw. Fertigungsbefehl für Urkunden zugunsten der Stadt an die kaiserliche Kanzlei und spielte wohl auch bei der Beschlussfassung selbst eine gewichtige Rolle. In Ansehung dieser Fürsorge (per la sua provesio) wurden dem kaiserlichen Kämmerer nach Ausweis der Triestiner Rechnungsbücher jährlich 200 Lire von Vertretern der Stadt überreicht 48. Einflussreiche Höf linge und Würdenträger traten jedoch nicht nur als Förderer von Bittgesuchen in Erscheinung, sondern konnten auch versuchen, den Empfang missliebiger Petenten durch den Kaiser zu unterbinden. So soll etwa nach der Eidgenössischen Chronik Diebold Schillings im September 1473 während eines mehrtägigen Aufenthaltes Friedrichs III. in Basel der burgundische Landvogt im Oberelsass und der Grafschaft Pfirt, Peter von Hagenbach, zu hoff by dem keiser dahingehend interveniert haben, daz zu allen malen, wann der eitgnossen botten fur die kaiserliche maiestät wolten, er daz verhielt 49. Nach einem Bericht des kaiserlichen und markgräf lich-brandenburgischen Rats Hertnidt vom Stein soll Kaiser Friedrich III. selbst den Einfluss einiger seiner Höf linge auf die Regierung des Reiches kritisch gesehen und zumindest zeitweilig den Plan vertreten haben, seinen reten nicht [zu] gestatten, . . . als mechtig zu sein, als sie vormals gewalt gehabt haben. Als einige kaiserliche Räte ihren Herren drängten, den Bitten pfalzgräf licher und bayerischer Gesandter zu entsprechen, habe dieser geantwortet: Die Beyrn sollen mit irem gut nicht vormogen, das mich die meynen mit knütteln darzu treiben sollen zu thun, was sy wollen. Daraufhin habe ein Rat den anderen angesehen, und ist der sachen geswigen wurden 50. Auch zum Verhältnis von mündlichen und schriftlichen Bitten am Hof Friedrichs III. können auf der Basis literarischer bzw. erzählender Quellen erste Rückschlüsse gezogen werden. Die Regierungszeit dieses Kaisers scheint – wie in zahlreichen anderen Bereichen – auch auf dem Gebiet des Supplikenwesens eine Übergangsphase von der weitgehend mündlichen Verfahrensführung des Mittelalters zur überwiegend schriftlichen Verwaltungspraxis der frühen Neuzeit darzustellen 51.

47 Siehe etwa Christine R, Ulrich Riederer (ca. 1406 –1462). Gelehrter Rat im Dienste Kaiser Friedrichs III. (Mannheimer Historische Forschungen 2, Mannheim 1993) 87, mit zahlreichen Belegen für die Rolle Riederers als Intervenient am kaiserlichen Hof in diversen Angelegenheiten. 48 Siehe dazu Daniel L, Damit . . . unser statt Triest nicht gar verderb – Beiträge zur landesfürstlichen Verwaltung Kaiser Friedrichs III. aus kulturgeschichtlicher Perspektive. MIÖG 120 (2012) 285 –306, hier 304. 49 Luzern, Zentralbibliothek, Handschrift S 23 pag. 161. Zum Konflikt zwischen Peter von Hagenbach und den Eidgenossen siehe allgemein Hildburg B-G, Der Landvogt Peter von Hagenbach. Die burgundische Herrschaft am Oberrhein 1469 –1474 (Göttinger Bausteine zur Geschichtswissenschaft 27, Göttingen 1957). 50 Matthias T, Hertnidt vom Stein (ca. 1427 –1491). Bamberger Domdekan und markgräf lich-brandenburgischer Rat – Karriere zwischen Kirche und Fürstendienst (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Fränkische Geschichte Reihe 9. Darstellungen aus der Fränkischen Geschichte 38, Neustadt a. d. Aisch 1989) 200 Nr. 18. 51 Eine vergleichbare Entwicklung ist etwa auf dem Gebiet der Höchstgerichtsbarkeit des römischdeutschen Reiches zu bemerken, wo ab dem Jahr 1442 ein zunehmender Verschriftlichungsprozess am

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Nach einem Bericht des Kölner Ratsgesandten Walter von Bilsen vom 19. Juli 1471 über eine Audienz in der kaiserlichen slaiffkamere habe Friedrich III. dem rheinländischen Petenten nach Abschluss ihrer Unterredung befohlen, eine supplicacien mit sämtlichen vurbrachten punten in schriftlicher Form einzureichen. Als Walter die Bittschrift am folgenden Tag dem einflussreichen Vertrauten des Kaisers, Graf Haug von Werdenberg, übergab, soll dieser den in lateinischer Sprache verfassten Text nicht angenommen haben, sondern Walter von Bilsen aufgefordert haben, die zo duytzschen zo seitzen. Daher habe der Bittsteller auch eine deutsche Fassung der Supplik angefertigt und am übernächsten Tag schließlich beide Ausführungen dem Kaiser in Anwesenheit des päpstlichen Legaten und einiger Kurfürsten überreicht 52. Die Vorgehensweise, über eine mündlich vorgebrachte Eingabe erst nach Vorlage einer schriftlichen Fassung zu entscheiden und damit Zeit zu weiterer Beratschlagung zu gewinnen, entspricht den Bestimmungen der sogenannten tugentregel, eines in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts im bayerisch-österreichischen Raum entstandenen anonymen Fürstenspiegels, in dem es etwa heißt: und was die potschafft redett, sol der furst vordern geschriben und in nicht ze stundt antwürdten, aber er sol in geben ein tag zu antwurdten in der frist 53. Für Petenten konnte das Einreichen schriftlicher Bittgesuche Vor- und Nachteile bieten. So brachte etwa im Jahr 1482 der Speyerer Domvikar Bernhard Russ im Rahmen einer öffentlichen Audienz mündlich Bitten an den Kaiser vor, übermittelte diese zusätzlich aber auch in schriftlicher Form auf einem zettel mit den Worten: ob ich nit gar geredt oder man mich nit verstanden hette, so were doch das die meynunge . . . . Nachdem Russ daraufhin über zwei Wochen auf eine Antwort des Kaisers warten musste, vermerkte er auf einem weiteren Zettel zusätzliche Informationen und Argumente in der vorgebrachten Angelegenheit, ließ diesen Text dem kaiserlichen Kämmerer Siegmund von Niedertor 54 vorlesen und übergab das Schreiben schließlich dem Kanzleileiter Johann Waldner mit der Bitte, dass dieser den Inhalt der Supplik verbessern, obe und wie eß ine gut und verfenglich beduchte, und diese anschließend unsern herren keiser vorlesen und das beste darzu reden wolte. Nachdem Waldners Intervention in dieser Angelegenheit keinen Erfolg brachte, überreichte der Gesandte nun den beiden einflussreichen Höf lingen Haug von Werdenberg und Siegmund königlichen Kammergericht zu konstatieren ist: siehe Julia M, Das Königsgericht und sein Wirken von 1451 bis 1493, in: Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451 –1527), hg. von Bernhard D (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 45, Köln–Weimar–Wien 2003) 79 –115, hier 81 –84; Christine M, Schriftlichkeit und Aktenverwaltung am Kammergericht Kaiser Friedrichs III., in: Als die Welt in die Akten kam. Prozeßschriftgut im europäischen Mittelalter, hg. von Susanne L–Thomas W (Rechtsprechung. Materialien und Studien. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte 27, Frankfurt a. M. 2008) 349 –387, hier 352 –354; Daniel L, Eine bislang unbeachtete Quelle zur Reichsgerichtsbarkeit im 15. Jahrhundert – Prolegomena zur Edition des königlichen Gerichtsbuchs (1442 –1451), in: Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen, hg. von Alexander D–Ellen F–Britta S (Bibliothek Altes Reich 17, Berlin–Boston 2015) 31 –39. 52 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. Achte Abteilung, zweite Hälfte 1471, ed. Helmut W (Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe 22/2, Göttingen 1999) 712 Nr. 114c. 53 Annemarie B, Der tugent regel. Ein anonymer deutscher Fürstenspiegel des 15. Jahrhunderts. Untersuchung und Edition. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 111 (1989) 411 –445, hier 427 Z. 164 –166. 54 Zu seiner Person siehe H, Hof (wie Anm. 23) bes. auch 86 –95.

Suppliken und Petenten am Hof Kaiser Friedrichs III.

137

von Niedertor weitere gleichlautende Suppliken mit der Bitte um Förderung seiner Anliegen. Letzterer habe dieses Bittschreiben jedoch nicht angenommen: er wolte im rate daran manen, und eß were gnug, so der Waldener eynen zettel hette, und wollte das beste thun. Auch dieser Versuch des Speyeres blieb ohne Erfolg, weshalb der nun bereits leicht verärgerte Petent einen weiteren an den Kaiser gerichteten zettel verfasste, in dem Russ seinen Unmut über die seiner Meinung nach unzumutbare Behandlung am kaiserlichen Hof zu erkennen gibt: Allergnedigister herre, alle weltd ist und wirdet abgefertigt one ich . . . daz ich in die drytzehende woche gewartet han, und bitte mich noch mit gnadenrycher antwurt abefertigen zu lassen. Der Kanzleileiter Waldner weigerte sich nun jedoch, dem Kaiser diesen Zettel vorzulegen, denn dieser were zu hartte, woraufhin Russ eine weitere, zurückhaltendere Version verfasste, in der er lediglich an die angeborne miltickeit des Kaisers appellierte. Wochen später schrieb der noch immer auf eine Reaktion des Kaisers wartende Russ zwei weitere Suppliken, damit Waldner beschwerniß und herbietten des Speyerers nit vergesse. Die zahlreichen Bittschreiben des Bernhard Russ blieben allesamt unbeantwortet, erst der kaiserliche inheytzer Stefan Fuchs konnte schließlich eine weitere persönliche Anhörung durch den Kaiser im Rahmen einer Privataudienz vermitteln 55. Ein weiteres Problem schriftlich übermittelter Bittgesuche konnte gerade bei politisch brisanten Verhandlungen die fehlende Vertraulichkeit der Eingaben darstellen. So hielt sich im Zuge des Stettiner Erbfolgestreits der brandenburgische Gesandte Hertnidt vom Stein gegen Jahresende 1464 zu geheimen Verhandlungen am Hof Friedrichs III. auf, als er in Erfahrung bringen konnte, dass der Kaiser von Herzog Erich II. von Pommern-Wolgast, dem Kontrahenten Kurfürst Friedrichs II. von Brandenburg um das Stettiner Herzogtum, einen supplicacionzettel in dieser Angelegenheit erhalten habe. Dem brandenburgischen Gesandten sei es nun geglückt, dieses Bittschreiben und damit die Argumente der Gegenseite einzusehen, auch um eine Abschrift der Supplik habe er sich bereits bemüht 56. Darüber hinaus vermutete Hertnidt vom Stein nach Lektüre des Schreibens, dass sich unter den kaiserlichen Höf lingen ein Parteigänger Herzog Erichs befand, denn ihm sei aufgefallen, dass diese Bittschrift nicht am Hof des Konkurrenten in Pommern, sondern von der kaiserlichen Kanzlei ausgestellt worden sei, denn der pommersche Gesandte habe einen supplicacionzettel vorgelegt, der uff Osterreichisch sprach gemachet und über seine vernunfft und, als ich gemercken mocht, ein canczleysche schrift ist 57. Trotz der vergleichsweise hohen Zahl an im Original überlieferten Bittschriften scheint es am Hof Kaiser Friedrichs III. im Bereich des Supplikenwesens keinen Versuch zur Etablierung einer durchgängig schriftlichen Verfahrensform gegeben zu haben. Der Kaiser selbst soll die Verlesung langatmiger Bittschriften gerne abgebrochen und stattdessen die Petenten aufgefordert haben, ihr Ansuchen mündlich mit knappen eigenen Worten vorzutragen 58. Selbst in der Spätphase der Regierung

55

K, Reise (wie Anm. 28) 204 –211. T, Hertnidt vom Stein (wie Anm. 50) 198: Und als ich sulchen zettel verhoret hett und kein abschrift erlangen mocht, wenn die rete sagten, sie wolten erfarn an der k.m., ob man mir solt der zettel ein abschrift geben, als wolt ich die rete mit solchem zweivel nit abscheiden lassen, sunder uff kurczen berat hab ich den reten gesagt, sovil ich der zettel meynung behalten han, wolt ich in unbedechtiglich furhalten. 57 Ebd. 197 –199. 58 Siehe etwa K, Reise (wie Anm. 28) 203. 56

138

Daniel Luger

Friedrichs III. erachteten es Bittsteller offenkundig für notwendig, in ihren Suppliken Entschuldigungen dafür anzuführen, ihr Ansuchen in schriftlicher Form durch einen Boten übermittelt zu haben, da sie aus schwerwiegenden Gründen daran gehindert worden seien, in eigener Person vor den Kaiser zu treten und ihre Bitte vorzubringen, als sich wol gebürte 59. Allerdings wird ein definitives Urteil über das Verhältnis von mündlichen und schriftlichen Bitten erst auf Basis einer vollständigen Analyse der im Original überlieferten Suppliken im Rahmen der abschließenden Projekt-Monographie gefällt werden können.

59

Vgl u. a. Wien, HHStA, Allgemeine Urkundenreihe 1483 III 10.

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519) Nadja Krajicek

Hinführung zum Thema Wohl kein König oder Kaiser ist in Tirol heute noch so präsent wie Maximilian I., der seit der Abdankung Erzherzog Sigmunds 1490 Landesfürst und König, später Kaiser in Personalunion war. Er fungierte also als zwei Ebenen der Obrigkeit. Das machte die Grafschaft Tirol nicht zu einer Besonderheit, denn schließlich war er auch in anderen Gebieten des Reichs die unmittelbare Autorität, an die man sich wenden konnte, wie zum Beispiel in den restlichen Erbländern seit dem Tod seines Vaters Kaiser Friedrich III. im August 1493 oder in den freien Reichsstädten. Als Suppliken werden hier jene Schriftstücke verstanden, mit denen sich Untertanen angesichts eines Missstands um Hilfe an eine übergeordnete Stelle 1 wie den Landesfürsten wandten und um einen Gnadenerweis baten 2. In den letzten Jahren hat die Beschäftigung mit Suppliken stark zugenommen 3, auch für den Zeitraum

1 Renate B, Supplikationen und Demonstrationen. Mittel und Wege der Partizipation im bayerischen Territorialstaat, in: Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft vom Mittelalter bis zur Moderne, hg. von Werner R (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 156, Göttingen 2000) 263 –317, hier 279; Cecilia N–Andreas W, Einführung, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. –18. Jahrhundert), hg. von . (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19, Berlin 2005) 7 –16, hier 8 f. – Abkürzungen: TLA = Innsbruck, Tiroler Landesarchiv; Max. = Maximiliana; KS = Kunstsachen; RK = Reichskanzlei. 2 Martin Paul S, Gesetz und Herrschaft. Die Entstehung des Gesetzgebungsstaates am Beispiel Tirols (Forschungen zur deutschen Rechtsgeschichte 28, Köln–Weimar–Wien 2010). 3 Eine Auswahl deutschsprachiger Literatur der letzten Jahre: Sämtliche Beiträge aus: Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive, hg. von Gabriele H-M–Sabine U (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 5/2, Wien 2015); Ulrich H–Thomas S, Euer Kaiserlichen Majestät in untertänigster Demut zu Füßen. Das Kooperationsprojekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612)“, in: Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert, hg. von Alexander D–Ellen F–Britta S (bibliothek altes Reich 17, Berlin–Boston 2015) 71 –96; Birgit R, Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786 –1797) (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 35, Berlin 2008); S, Gesetz und Herrschaft (wie Anm. 2); Angela S, Probleme im Umgang mit Bittschriften und Autobiographien aus dem 18. Jahrhundert am Beispiel der Epilepsie, in: Patientendokumente. Krankheiten in Selbstzeugnissen, hg. von Philipp O (Medizin, Gesellschaft und Geschichte, Beih. 35, Stuttgart 2010) 99 –113; Alexandra-Kathrin S-K, Zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Supplikationen

140

Nadja Krajicek

des Spätmittelalters 4. Nichtsdestotrotz gibt es im Bereich des Supplikenwesens unter Maximilian noch etliche Unklarheiten, auch ist der Quellenwert für regionale Forschungen noch nicht systematisch herausgearbeitet worden. Suppliken werden in der Regel nur als Einzelbeispiele herangezogen 5, sofern sie in den Archiven über Findmittel erschlossen sind, nicht aber im regionalen Zusammenhang. Tirol, wenn auch in der Regierungszeit Maximilians geographisch wie politisch in zentraler Lage 6, nimmt im Supplikenwesen keine hervorgehobene Stellung ein, soll aber hier als Beispiel gewählt werden. Ich möchte neben quantitativen Auswertungen einige für Tirol spezielle Fälle, selbst wenn sie sich auch andernorts zugetragen haben könnten, exemplarisch vorstellen und somit versuchen, anhand einer regionalen Studie mit Beispielen aus verschiedenen Lebensbereichen und unterschiedlicher sozialer Herkunft das Supplikenwesen in einem Raum, in diesem Fall Tirol, unter Maximilian I. in Ansätzen zu skizzieren.

Suppliken aus der Grafschaft Tirol Als Quellencorpus wurden für diesen Beitrag 242 Suppliken Tiroler Provenienz herausgesucht, die sich als Einzelstücke in einem Akt oder häufiger ohne jeglichen Kontext in den einschlägigen Archivbeständen befinden. Ausgenommen bleiben hier jene Anbringen, die vom engeren Beraterkreis Maximilians verfasst worden sind, wenn die dahinter stehenden Personen nicht ursprünglich aus Tirol stammten. In den meisten Fällen dürfte es sich bei den Suppliken um die Originale handeln, die Maximilian oder den Behörden zur Bearbeitung und Entscheidung vorgelegt wurden. Lediglich von einigen wenigen Stücken dürfte sich nur eine Abschrift erhalten haben. In die Gesamtzahl der Suppliken sind auch jene einzurechnen, deren Herkunft sich nicht genau aus dem Inhalt erschließen lässt. Gar nicht einschätzbar sind Überdes 16. und 17. Jahrhunderts zur Aufnahme in das Dresdner Jakobshospital – eine linguistische Analyse, in: ebd. 81 –97. 4 Arnold E, Wahre Geschichten aus dem Mittelalter. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst (München 2010); ., Die Lebenswelt des europäischen Spätmittelalters. Kleine Schicksale selbst erzählt in Schreiben an den Papst (München 2014); ., Mitteldeutsche Schicksale aus römischen Archiven, in: Italien – Mitteldeutschland – Polen. Geschichte und Kultur im europäischen Kontext vom 10. bis zum 18. Jahrhundert, hg. von Wolfgang H–Enno B–Christian L (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 42, Leipzig 2013) 739 –759; Claudia G, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich (Darmstadt 2008); Manfred H, Unerhörte Neuerungen: Maximilians I. Bestrebungen von Land und Herrschaft zu Staat und Hoheit. Innsbrucker Historische Studien 27 (2011) 341 –356; Christian L, „Fiat (ut petitur).“ Zur Erledigung von Suppliken in der Hofkanzlei Maximilians I. in den 1490er Jahren, in: Frühneuzeitliche Supplikationspraxis (wie Anm. 3) 283 –295; Nadja K, Frauen in Notlagen. Suppliken an Maximilian I. als Selbstzeugnisse (QIÖG 17, Wien 2018), auf welcher Arbeit die folgenden Ausführungen zum Teil beruhen. 5 Beispiele aus Tirol z. B. Josef K, Von einer Haller Schulmeisterin. Forschungen und Mitteilungen zur Geschichte Tirols und Vorarlbergs 5 (1908) 317 –319; Georg M, Eine alte Metzgerei in Brixlegg. Tiroler Heimatblätter 63/2 (1988) 82 f.; Franz R, Brixlegg im Mittelalter, in: Brixlegg. Eine Tiroler Gemeinde im Wandel der Zeiten, bearb. von Sepp L (Brixlegg 1988) 105 –134. 6 Hermann W, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit 1: Jugend, burgundisches Erbe und Römisches Königtum bis zur Alleinherrschaft 1459 –1493 (Wien 1971) 264.

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

141

lieferungslücken sowie mündliche Anbringen. Das numerische Ausmaß des Supplikenwesens lässt sich somit kaum abschätzen. Abgesehen von den hier behandelten Suppliken können andere Schreiben, wie Mandate oder Weiterleitungen von Seiten Maximilians und seiner Behörden sowie diverse kopiale Überlieferungsformen, Aufschluss geben. Da jedoch die Provenienzen der Aktenstücke aus der Zeit Maximilians kaum mehr nachvollziehbar sind und die erhaltenen Suppliken heute vielfach entweder nach Themengebieten bzw. chronologischen oder quellenkundlichen Aspekten geordnet vorliegen, ist eine vollständige Erfassung aller schriftlich dokumentierten Fälle unmöglich. Eine weitere Möglichkeit, die überlieferten „tatsächlichen“ Suppliken zu ergänzen, bieten Kopial- und andere Amtsbücher. In ihnen lassen sich mitunter weitere Suppliken oder zumindest Verweise auf solche finden, wie noch im Folgenden gezeigt werden soll. Allerdings ist aus den Einträgen, sofern nicht eine Supplik als solche abgeschrieben wurde oder das Wort supplicacion explizit erwähnt wird, nur selten eindeutig ersichtlich, ob auch wirklich Bittschriften hinter ihnen standen. Maximilian weilte zwar nicht selten in Tirol, doch wurden Bittschreiben aus der Region nicht nur an ihn, sondern auch an die zentralen Behörden in Innsbruck gerichtet. Zahlreichen Bittenden muss diese Möglichkeit bekannt gewesen sein, ebenso der Umstand, dass viele Suppliken an das Regiment oder die Kammer in Innsbruck weitergeleitet wurden, wie sich an einigen Beispielen festmachen lässt. Nichtsdestotrotz richteten viele Supplikanten und Supplikantinnen ihre Anliegen an Maximilian persönlich. Es wird zwar in den allermeisten Fällen nicht mehr nachvollziehbar sein, warum sich die Hilfesuchenden für diese Variante entschieden, aber um eine Einschränkung zu treffen, konzentriere ich mich auf ebenjene Suppliken. Über die Hälfte der für diese Untersuchung herangezogenen Suppliken stammt aus dem heutigen Nordtirol, ein Viertel aus Südtirol, ca. 15 Prozent aus dem Trentino bzw. von Flüchtlingen aus Italien und gerundet vier Prozent aus Osttirol. Nur acht der 242 Suppliken lassen sich nicht eindeutig einer der genannten Regionen zuordnen. Der überwiegende Teil ist auf Deutsch, nur neun sind in Latein verfasst worden, von denen acht, wenig überraschend, von Supplikanten aus dem Trentino und anderen italienischsprachigen Gebieten stammen. Herkunftsregion Häufigkeit

Prozent

Nordtirol

127

52,5

Südtirol

61

25,2

Osttirol

9

3,7

37

15,3

Trentino (inkl. Flüchtlinge) Unbekannt Gesamt

8

3,3

242

100,0

Beinahe ebenso zahlreich wie die verschiedenen Anliegen der Bittenden scheint die Anzahl der Schreiber zu sein. Nur in wenigen Fällen kann man Eigenhändigkeit 7 oder

7 Eigenhändigkeit kann bei der Supplik der Schulmeisterin Sophia aus Hall und bei zwei Bitten des Plattners Konrad Seusenhofer angenommen werden: TLA, Max. 13.391, fol. 266; TLA, KS I 8 + 18,

142

Nadja Krajicek

eine Beteiligung in Form einer Unterzeichnung annehmen, auch wenn nicht wenige der Supplikantinnen und Supplikanten über Lese- und Schreibfähigkeiten verfügt haben werden 8. Als Schreiber dürften Advokaten, Notare, Kleriker, Prokuratoren, Schulmeister, Stadtschreiber, Vögte oder Lohnschreiber gedient haben 9. Aber auch eine Verschriftlichung am Hof beziehungsweise in den Kanzleien ist zu vermuten. Die Materien, in denen sich die Supplikanten und Supplikantinnen an die Obrigkeit wandten, sind vielfältig. Doch kristallisiert sich eine grobe Einteilung in sechs Gruppen heraus. Gegenstände Häufigkeit

Prozent

den Dienst betreffend

36

14,9

Geld

57

23,5

Hilfe, Unterstützung

85

35,1

Gerichtsverfahren

37

15,3

Besitz

15

6,2

Sonstiges Gesamt

12

5,0

242

100,0

Die zahlenmäßig stärkste davon bilden die Bitten um Hilfe und Unterstützung, doch da die unter diesem Punkt zusammengefassten Materien sehr unterschiedlichen Kategorien zuzuordnen sind, kann man die Bitte um Geld als das am häufigsten vorkommende Einzelmotiv festmachen. Bei den darum Supplizierenden handelt es sich vielfach um Personen, die für Maximilian arbeiteten und entweder um ausständige Zahlungen oder aber beispielsweise um eine „Lohnerhöhung“ ansuchten. So griffen zum Beispiel Andreas Pucher und Hans Moll, beide Wegmacher am Lueg beim Brenner, zum Mittel der Supplik, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Zölle in Tirol waren eine der wichtigsten Einnahmequellen des Landesfürsten, bei dem die Zollhoheit in Tirol lag. Die Zollstationen waren im Abstand von zwölf bis 30, teilweise auch 40 Kilometern über das Land verteilt 10. Auf Verkehrswegen außerhalb Tirols war Zoll häufiger zu entrichten. Auf der Strecke von Ulm nach Wien etwa war der durchschnittliche Abstand zwischen den Zollstationen 15 bis 20, zwischen Mainz

möglicherweise auch beim Goldschmid Hans Löff ler aus Kitzbühel, bei der Bitte des Kanzlers Jörg Winter und der Sonnenburger Schwester Eleonora Delbalbiona, TLA, Max. 14.1517-2a, fol. 156/158; TLA, Max. 14, Konzepte, Miscellanea ohne Jahr, Teil 6.230; HHStA, RK, Max. 31, Konv. 1, fol. 82/83. Zu Sophia vgl. K, Frauen in Notlagen (wie Anm. 4) 146 –148 Nr. 46. 8 S, Bittschriften (wie Anm. 3) 103. 9 S, Gesetz und Herrschaft (wie Anm. 2) 481; S-K, Anspruch und Wirklichkeit (wie Anm. 3) 83; Otto U, Supplikationen als Ego-Dokumente. Bittschriften von Leibeigenen aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts als Beispiel, in: Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, hg. von Winfried S (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte 2, Berlin 1996) 149 –174, hier 153 f. 10 Otto S, Geschichte der Verwaltung Tirols. Teilstück des 2. Bandes der Geschichte des Landes Tirol, hg. von Dietrich T (Forschungen zur Rechts und Kulturgeschichte 13, Innsbruck 1998) 165; Otto S, Geschichte des Zollwesens, Verkehrs und Handels in Tirol und Vorarlberg von den Anfängen bis ins XX. Jahrhundert (Schlern-Schriften 108, Innsbruck 1953) 110 –113.

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

143

und Köln sogar nur zehn Kilometer, wobei diese Gebiete dichter besiedelt und stärker zergliedert waren als Tirol 11. Besondere Bedeutung erlangten hier im Spätmittelalter die Stationen Bozen, Töll bei Meran, Unterrain und mit den höchsten Einnahmen Lueg am Brenner 12, wo Andreas Pucher und Hans Moll als Wegmacher ihren Dienst leisteten, über deren Anliegen sich drei Suppliken erhalten haben. Seit spätestens 1426 gab es am Lueg neben dem Zöllner auch einen Gegenschreiber 13. Die Zollstelle befand sich zwischen Brennersee und Gries, also etwa zwei Kilometer nördlich der Passschwelle 14. Mit 5. Juli 1505 hat König Maximilian I. Andreas Pucher in den Dienst als Wegmacher am Lueg gesetzt 15, war er als Landesfürst doch für die Instandhaltung der zugehörigen Straße verantwortlich 16. Bereits mit Jahresbeginn 1508 dürfte Pucher seine Funktion wieder verloren haben. Er bat nämlich noch vor dem 13. Jänner 1508 um die Auszahlung seines ausstehenden Lohns bis Weihnachten. Dabei äußerte er aber auch den Wunsch, seinen Dienst zumindest bis in den Juli hinein zu verlängern 17. Am 13. Jänner forderte die Raitkammer den Zöllner Hans Stanzl und den Richter Kaspar Schmid aus Steinach am Brenner auf, sich der beigelegten Supplik anzunehmen und samt einem Bericht wieder zurückzuschicken. Rund einen Monat später, am 16. Februar, berichteten die beiden über die freiwillige Beurlaubung des bisherigen Wegmachers und die Einsetzung von Hans Moll, den sie auch gerne für dieses Amt behalten wollten 18. Moll trat nun in der zweiten Supplik etwa zur selben Zeit auf, in der er König (!) Maximilian um die gleiche Unterstützung bat, die auch seinem Vorgänger Andreas Pucher zuteil wurde, und darüber hinaus um eine Sonderzahlung, um die Straßen zu verbessern und um sich ein Pferd sowie einen Knecht leisten zu können. Auch hier sollten die beiden vorgenannten Zöllner und Richter laut Vermerk auf der Rückseite einen Bericht schreiben 19. Dieser hat aber keinen Eingang in die Kopialbücher gefunden und hat sich augenscheinlich auch nicht im Original erhalten. Der Wunsch nach der Lohnerhöhung dürfte Moll vermutlich auch nicht gewährt worden sein. Denn bereits im Herbst desselben Jahres bat er neuerlich um ebenjene Zahlung und fügte noch hinzu, dass er bei Ausgaben von 25 Gulden nicht mehr als zehn Gulden an Weglohn eingenommen habe 20. Dieses Mal fand Hans Moll jedenfalls Gehör, denn die Raitkammer forderte mit einem Schreiben vom 9. November 1508 neuerlich Hans Stanzl und Kaspar Schmid zu einer Stellungnahme zur beigelegten

11

S, Geschichte des Zollwesens (wie Anm. 10) 113. Herbert H, Der Verkehr über Brenner und Reschen vom Ende des 13. bis in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts, in: Neue Beiträge zur geschichtlichen Landeskunde Tirols 1. Festschrift für Univ.-Prof. Dr. Franz H anläßlich der Vollendung des 70. Lebensjahres, hg. von Ernest T–Georg Z (Tiroler Wirtschaftsstudien 26/1, Innsbruck–München 1969) 137 –194, hier 174 –176; S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 166 –168. 13 S, Geschichte des Zollwesens (wie Anm. 10) 49. 14 Ebd. 121 f. 15 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Bekennen 5 (1505), fol. 93v. 16 S, Geschichte des Zollwesens (wie Anm. 10) 178. 17 TLA, Max. 13.388, fol. 240. 18 Ebd. fol. 241 –242. 19 Ebd. fol. 238. 20 Ebd. fol. 237. 12

144

Nadja Krajicek

Supplik auf 21, die dessen Bitte auch für berechtigt befanden und für die Erfüllung eintraten 22.

Die Grafschaft Tirol und ihre Verwaltungsstrukturen Tirol steckte 1489 in finanziellen Schwierigkeiten und die Landstände, denen sich Erzherzog Sigmund zumeist machtlos gegenübersah, hatten die Verwaltung des Landes weitgehend in die Hand genommen 23. An diesem Umstand hatte auch das in den beiden Jahren zuvor eingeführte Kollegium der geordneten rät oder ein Regiment für die inneren und vorderen Lande, das gemeinhin als Regiment bezeichnet wurde, nichts geändert. Dabei handelte es sich laut der 1488 erlassenen Ordnung um einen Rat, der nach geheimen Verhandlungen und mit einer gleichen Wertung der Stimmen nach dem Mehrheitsprinzip entscheiden sollte. Die Räte, die aus dem landständischen Adel rekrutiert werden sollten, hatten über Ämter und Provisionen zu entscheiden, wobei Bedienstete keine Anliegen Dritter in den Rat bringen sollten, sondern Gesuche nur über die Kanzlei einzugehen hatten 24. Nach der Übernahme des Landes durch Maximilian ließ dieser die Geordneten Räte durch seine Statthalter ersetzen, unter denen sich sowohl Anhänger des alten Erzherzogs als auch Vertreter der landständischen Opposition befanden. Mit der Zeit kehrten immer mehr Parteigänger Sigmunds in alte Machtpositionen zurück 25. Das Regiment Maximilians etablierte sich als Ländergruppenbehörde in Sachen Justiz, Kriegswesen und Politik und bestand neben dem Landhofmeister, Marschall, Kanzler, Kammermeister und ca. sechs weiteren Räten aus acht bis zwölf Mitgliedern 26. Wichtige Entscheidungen sollten aber im vereinigten Ratskollegium aus Regiment und Kammer getroffen werden 27. 1491 ersetzte Maximilian den obersten Amtmann Antoni von Ross durch vier kollegiale Räte an der Spitze der Tiroler Finanzverwaltung, eine Maßnahme, die gemeinsam mit anderen Änderungen, wie etwa der Einführung einer doppelten Buchführung, die Einnahmen des Landes steigern sollte 28. Um 1500 betrugen die Bruttoeinnahmen Tirols und der Vorlande rund 230.000 Gulden, die Nettoeinnahmen 130.000 Gulden. 1478 waren es noch ca. 104.000 Gulden 29 gewesen. Nichtsdestotrotz lief die Finanzverwaltung nicht nach Wunsch des Landesfürsten, sodass er mit 6. Februar 1496 Florian Waldauf, der zuvor schon in den Niederlanden tätig gewesen war, mit der

21

TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 12 (1508), fol. 205r. TLA, Max. 13.388, fol. 239. Stanzl wird an 15. Februar 1509 zudem aufgetragen, Moll bei seiner täglichen Arbeit zu unterstützen. TLA, OÖ. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 13 (1509), fol. 306r. 23 Hermann W, Kaiser Maximilian I. Das Reich, Österreich und Europa an der Wende zur Neuzeit 2: Reichsreform und Kaiserpolitik 1493 –1500. Entmachtung des Königs im Reich und in Europa (Wien 1975) 177 f. 24 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 24. 25 W, Kaiser Maximilian I., Bd. 1 (wie Anm. 6) 262 f. 26 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 24; Hermann W, Österreich im Zeitalter Maximilians I. Die Vereinigung der Länder zum frühmodernen Staat. Der Aufstieg zur Weltmacht (Wien–München 1999) 239. 27 Ebd. 28 D., Kaiser Maximilian I., Bd. 2 (wie Anm. 23) 184 f. 29 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 149. 22

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

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Leitung der Raitkammer beauftragte. Im Juni und Juli formte er die Innsbrucker Raitkammer schließlich zu einer österreichischen Schatzkammer um. Diese Behörde blieb aber nur ein Provisorium, denn sie wurde bereits 1498 der reichsweit fungierenden Hofkammer unterstellt und sollte in der Folge den Auszahlungs- und Kassendienst nach Weisung der neuen obersten Finanzbehörde übernehmen 30. Die Kanzlei, die aus dem Kanzler, Sekretären und Kanzleischreibern bestand, war sowohl für das Regiment als auch die Kammer tätig 31. Der Kanzler wiederum als Leiter gehörte zugleich dem Regiment an 32.

Der Zugang zum Landesfürsten, König und Kaiser Der milde Herrscher Von einer Obrigkeit wurde erwartet, die Bitten ihrer Untertanen anzuhören 33. Dieser Anspruch galt auch für Maximilian. So findet sich in seinem geheimen Jagdbuch eine Passage, der zufolge er sich auf der Jagd von mehreren Sekretären und Räten begleiten lassen sollte, um sich zwischendurch der Nöte seiner Untertanen annehmen zu können. Ähnliches liest man in der Historia Friderici IV. et Maximiliani I. von Joseph Grünpeck: Maximilian hatte dessen Ausführungen zufolge ein offenes Ohr für jeden und nahm die Bittschriften all seiner Untertanen entgegen; außerdem soll er täglich zwei bis drei Stunden Audienzen für die Anliegen seiner Leute gegeben haben, in denen er die Bittenden nur selten in unterwürfiger Pose vortragen ließ; er nahm Suppliken auch auf Reisen an, ließ Hilfsbedürftige zu sich kommen und trat sofort für sie ein 34. Bitten an Maximilian Obwohl es in der Theorie Jedem und Jeder in gleicher Weise möglich sein sollte, sich mit seinem oder ihrem Anliegen an den Landesfürsten zu wenden, dürften die Unterschichten weit weniger von diesem „Angebot“ Gebrauch gemacht haben als Adlige oder hofnahe Personen, denen das Procedere eher bekannt gewesen sein wird. Die Frage, warum sich ein Supplikant, eine Supplikantin direkt an Maximilian wandte und nicht an die Kanzlei, das Regiment oder die Raitkammer, wird, wie eingangs bereits angedeutet, nicht geklärt werden können. Das mögen persönliche Befindlichkeiten oder Erfahrungen gewesen sein oder die Ansicht, dass die Angele-

30

W, Kaiser Maximilian I., Bd. 2 (wie Anm. 23) 189 –193. S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 30. 32 Hans M, Die Kanzlei Kaiser Maximilians I. Graphematik eines Schreibusus. Teil I: Untersuchungen (Innsbrucker Beiträge zur Kulturwissenschaft. Germanistische Reihe 5/1, Innsbruck 1977) 11 f. 33 G, Kultur der Bitte (wie Anm. 4) 156. 34 Historia Friderici IV. et Maximiliani I. ab Jos. Grünbeck, ed. Joseph C, in: ., Der österreichische Geschichtsforscher 1 (Wien 1838) 64 –97, hier 93 f.; Die Geschichte Friedrichs III. und Maximilians I. von Joseph Grünpeck, übers. von Theodor I (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 90, Leipzig 21940) 61 f. 31

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genheit laut dem postulierten Bild des gnädigen und unparteiischen Landesfürsten 35 nur von ihm persönlich zu behandeln war. Eine konkrete Person konnte möglicherweise auch eine größere Identifikationsmöglichkeit bieten als eine Behörde, obwohl vielen sicher bekannt war, dass mit der Supplik an den Landesfürsten kein direkter Kontakt zu Letzterem hergestellt wurde. Außerdem trugen die Schriftstücke, die von den Behörden ausgestellt wurden, die Intitulatio Maximilians, was auf den ersten Blick eine persönliche Beteiligung und Anteilnahme suggerieren konnte. Klarer sind nur jene Sachverhalte, in denen der Supplikant mit einer der Behörden in einem Spannungsverhältnis stand und sie dann vermutlich mit einer Supplik zu umgehen versuchte. Ein solcher Fall dürfte bei Hans Wieser vorliegen. Der Haller Bürger bat um weitere Vergünstigungen für seine Schmelze in Weer im Unterinntal, die ihm das Regiment nicht so einfach gewährte. Seinen Angaben zufolge hatte er erst mit der Übernahme des Bergwerks begonnen und eine erste Unterstützung bekommen. Danach erhielt er eine Fürschrift Maximilians für eine weitere Vergünstigung, die ihm das Regiment zunächst nicht geben wollte. Nun war auch diese Unterstützung ausgelaufen, weswegen Wieser den Kaiser bat, dem Regiment zu befehlen, ihn weiter bei seinen Vergünstigungen zu belassen. Diese Supplik fand tatsächlich nicht direkt den Weg zum Regiment, dem die Supplik aber doch zur Kenntnis gekommen sein dürfte, denn auf der Rückseite ist folgender Vermerk angebracht: Der kai. mt. etc. bevelh ist, daz die herrn vom regiment hierinnen kai. mt. ir gutbedungken anzeigen, ob ir mt. dem Wis(er) die gnad, wie er in solher supplicacion anzaigt, billihen ze tun schuldig ist oder mit was antwort ir mt. im wider begegnen sol. Danach ist das Schreiben in die Raitkammer weitergeleitet worden 36. In der Kopialbuchserie „Entbieten und Befehl“ der oberösterreichischen Kammer aus dem Jahr 1513 taucht Hans Wieser immer wieder mit seinem Bergwerk und den damit in Zusammenhang stehenden Vergünstigungen auf, die ihm schlussendlich und teilweise wortwörtlich, wie in der Supplik vermerkt, gewährt werden sollten 37. Einen weiteren Grund, seine Bitte an Maximilian zu schicken, liefert Hans Walch, der in verschiedenen Funktionen in den Kopialbüchern von 1511 bis 1514 auftaucht 38. In einer Supplik vom 15. Mai 1512 bat er nämlich, wiederum mit einem Amt in einem neuen Regiment berücksichtigt zu werden, und darüber hinaus suchte er um eine Lohnerhöhung an, um seine Not und die seiner Kinder zu mindern. Seine Bitte wurde an das Regiment weitergeleitet 39, und eine Lohnerhöhung ist ihm zumindest im darauffolgenden Jahr für die Bekleidung des Waldmeisteramts gewährt worden 40.

35 Cecilia N, Supplications between Politics and Justice: The Northern and Central Italian States in the Early Modern Age, in: Petitions in Social History, hg. von Lex H  V (International Review of Social History 46. Supplement 9, Cambridge 2001) 35 –56, hier 36 f. 36 TLA, Max. 12.40, fol. 315. 37 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 17 (1513), fol. 174r, 181v, 406r, 423r, 431v. Mindestens noch eine weitere Supplik richtete Hans Wieser an Maximilian oder an dessen Behörden im Jahr 1517, auf deren Grundlage sich die Raitkammer beim Haller Salzmair Hans Zott um Bericht bezüglich der von Wieser gewünschten Bäume für seine Archen bemühte, TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 21 (1517), fol. 162. 38 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 15 (1511), fol. 432v; TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 17 (1513), fol. 442v; TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 18 (1514), fol. 90v. 39 TLA, Max. 14.1512.115. 40 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 17 (1513), fol. 442v.

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

147

Ein neues Amt erhoffte sich auch der Postbote Jakob Rot. In seiner Supplik wünschte er aufgrund seiner langen Dienste von zwölf Jahren, als Reitbote bei der Schatzkammer zu Innsbruck aufgenommen zu werden 41. Maximilian forderte in einem Schreiben vom 1. Februar 1509, das von Paul von Liechtenstein und Blasius Hölzl unterschrieben worden ist, die Innsbrucker Raitkammer auf, Jakob Rot aufzunehmen, sofern sie einen Boten benötigen würde 42. Auch die Bitte Konrad Tettenrieders schien besser bei Maximilian als beim Regiment aufgehoben zu sein. Er wollte nämlich vom Kaiser das Bergrichteramt von Kitzbühel, da sovil cklagenn uber den jetzen perckrichtter auß seiner ungschicklickaitt sein. Darüber hinaus gab er an, bereits über eine Fürbitte des Bischofs von Gurk zu verfügen 43. Was er in seinem Schreiben aus dem Jahr 1514 nicht erwähnt, ist, dass er dieses Amt 1509 bereits einmal verliehen bekommen hatte 44. Gegen Ende des Jahres waren jedoch Beschwerden gegen den neuen Bergrichter aufgetaucht, sodass er am 2. Februar 1510 wieder durch Heinrich Rigl ersetzt wurde. Dieser hatte das Amt noch zur Zeit der Supplik Tettenrieders inne. Doch schien man 1514 auch von landesfürstlicher Seite nach einem neuen Richter gesucht zu haben, wie auch Berichte der Kollegen aus Schwaz und Rattenberg andeuteten, die über ihre Unzufriedenheit mit Rigl erzählten. Schließlich wurde am 25. April 1515 der Schwazer Bergrichter aufgefordert, geeignete Kandidaten zu benennen. Sowohl die Supplik als auch die darin erwähnte Fürschrift nützten Tettenrieder jedoch nichts, wurde doch am 4. Juni 1515 Jörg Rebhan neuer Bergrichter in Kitzbühel und sollte es auch bis 1526 bleiben 45.

Der Geschäftsgang der Supplik – Theorie und Praxis Theorie: Ordnungen Normative Regelungen zum Geschäftsgang für Tirol aus der Regierungszeit Maximilians haben sich nicht erhalten, allerdings Anordnungen seines Vorgängers Erzherzog Sigmund. Dessen Weisungen stehen dem wohl doch sehr idealisierten Bild Maximilians im Umgang mit den Suppliken nachdrücklich entgegen, da Sigmund offenbar mit möglichst wenigen Bitten befasst werden wollte: 1474 ermahnte er mittels eines Mandats, sich in rechtlichen Angelegenheiten an den Instanzenzug zu halten, der anscheinend oft umgangen wurde. Klagen und Suppliken waren demnach dem zuständigen Richter vorzulegen und nicht dem Landesfürsten. Dieser sollte nur einschreiten, 41

HHStA, RK, Max. Kart. 44, Konv. VIII / 2, fol. 257. TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Geschäft von Hof 6 (1501), fol. 8v; TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Geschäft von Hof 7 (1501), fol. 7r. 43 TLA, Pestarchiv XIV 832. Bischof von Gurk war damals Maximilians Rat Matthäus Lang. Franz O, Art. Lang von Wellenburg, Matthäus, in: Die Bischöfe des Heiligen Römischen Reiches 1448 – 1648. Ein biographisches Lexikon, hg. von Erwin G–Clemens B (Berlin 1996) 406 –410, hier 406. 44 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Bekennen 9 (1509), fol. 11. Von 1500 bis 1508 hatte Hans Neithart dieses Amt inne. Ab Februar 1508 wurde es durch den Rattenberger Bergrichter Bartholomäus Fuchs mitverwaltet, bis man sich 1509 für einen eigenen Vertreter für Kitzbühel und für Konrad Tettenrieder entschied, der in der Folge auch als Bergrichter bezeichnet wurde. Manfred R, Zur Geschichte des Berg- und Hüttenwesens in der Herrschaft Kitzbühel bis ins 17. Jahrhundert (Diss. Innsbruck 1985) 36 f. 45 Ebd. 42. 42

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wenn Richter oder Pfleger einer Klage nicht nachkamen 46. Ähnliches findet sich in der Gerichtsordnung von 1481, die für das Tiroler Justizwesen auch in anderen Belangen von großer Bedeutung war. Mittels der Ordnung wurden die Gerichte angehalten, ihre Zuständigkeitsbereiche zu erfüllen, damit nicht zu viele Hilfesuchende sich mit Suppliken an den Landesfürsten wandten 47. Mit einem Mandat aus dem Jahr 1486, das speziell auf Bittschriften und deren Erledigung ausgelegt war, versuchte Sigmund das Supplikenwesen weitestgehend zu beschränken, indem er seine Amtleute aufforderte, ihre Aufgaben vollends zu erfüllen, damit möglichst wenige Bittsteller an den Hof kämen. Suppliken sollten nur dann an den Erzherzog gerichtet werden, wenn sie in seinen Zuständigkeitsbereich fielen oder seine Beamten darin verwickelt wären. In diesem Fall wäre aber nach Untersuchung jene Partei zu bestrafen, die entweder ihren Aufgaben nicht nachkam oder den Amtmann zu Unrecht beschuldigte 48: Auf das emphelhen wir ew allen und yedem insunders, daz ir menigklich zu seinen rechten furdret und kein sachen geverlich verziehet, auch sust alles das ausrichtet, das ew dann von ambts wegen gepurt, und solher sachen keine onmercklich ursach an unns schiebet, und ob uber solhs yemand weiter mit suplicacion an unns gelangen wurde, die wellen wir nit hórn noch gestatten furzunemen . . . 49. Um wieder zurück in die Zeit Maximilians zu kommen: Die Regelungen, die Maximilian auf Reichsebene treffen ließ, dürften auch einen guten Einblick in die Tätigkeiten in der Grafschaft geben. Ob sie geschaffen wurden, um der vermutlich immer größeren Menge von Bittschreiben Herr zu werden, welche die Behörden kaum mehr bewältigten, bleibt ungewiss 50. Die Hofratsordnung, die auf Ende 1497 datiert ist, beschreibt eine Aufbewahrung der eingegangenen Suppliken an einer Schnur, die vom Kanzler oder obersten Sekretär evident gehalten werden sollte. Sie sollten in das erste kestel der großen Truhe gelegt werden; ins zweite kamen jene Bittschriften, über die erst Informationen eingeholt werden mussten 51. Die Ratssekretäre Matthias Wurm und Niklas Ziegler erhielten die Anweisung, sämtliche Geschäfte, darunter auch Suppliken, in den Rat zu bringen, wobei die älteste Bittschrift zuerst zu berücksichtigen war. Ziegler sollte dabei die Suppliken vorlesen und Wurm den durch Mehrheitsbeschluss zustande gekommenen Ratschlag schriftlich festhalten 52. Auch in der Sitzung der Hofkammer am 13. Februar 1498 kam der Umgang mit Suppliken zur Sprache, als Maximilian persönlich anordnete, sich der Anliegen Aller angemessen anzunehmen, und den ganzen Tag nur Suppliken behandelt wurden 53. 46 Wilfried B, Mit Brief und Siegel. Die Gerichte Tirols und ihr älteres Schriftgut im Tiroler Landesarchiv (Tiroler Geschichtsquellen 34, Innsbruck 1994) 43. 47 Ebd. 43 f. 48 TLA, Oö. Regierung, Kopialbücher, Ältere Kopialbücher 8 (1486), fol. 184r. 49 Ebd. 184r. 50 L, „Fiat (ut petitur)“ (wie Anm. 4) 284. 51 Thomas F–Heinrich K, Die österreichische Zentralverwaltung. I. Abteilung. Von Maximilian I. zur Vereinigung der österreichischen und böhmischen Hofkanzlei (1749) 2. Aktenstücke 1491 –1681 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 6, Wien 1907) 10 Nr. 4; Quellen zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit, ed. Inge W-F (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 14, Darmstadt 1996) 89 f. Nr. 24 52 F–K, Die österreichische Zentralverwaltung 2 (wie Anm. 51) 11 f. Anm. h Nr. 4. 53 L, „Fiat (ut petitur)“ (wie Anm. 4) 285.

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

149

Die Hofkammerordnung vom 13. Februar 1498 legte auch die Vorgangsweise beim Anfall von Bittschriften fest: Item si [die Hofkammerräte] sullen auch alle tag, als oft es die nothurft der geschäft erfordert, zusamen in ain zimer komen und daselbst all suplication, geschäft und ratsleg, so in von uns oder unserm hofrat zugesent werden, handeln und beraten und die partheien darauf nach billikait settigen und wo in gehaim und steckund sachen furfieln, die sullen si an uns gelangen lassen . . . 54. In der undatierten Instruktion für den Hofkanzler, die aus den späten 1490er Jahren stammen dürfte, wird diesem aufgetragen, die Suppliken beim Rat einzubringen, vorzulesen und auf den Schriftstücken die Ratschläge zu notieren. Die Sekretäre wurden im Anschluss daran mit der Erledigung beauftragt, und mündliche Angelegenheiten und Antworten sollten über den Hofmarschall laufen 55. Darüber hinaus sollte der Kanzler in etlichen Angelegenheiten, die in den Kompetenzbereich der Innsbrucker Schatzkammer oder den der ober- bzw. auch niederösterreichischen Regierung in Innsbruck und Wien fielen, ausschließlich an die Schatzkammer schreiben: Und sunderlichen waz ime schriften suplicacion meinungen oder vordrungen furkomen, sachen halben antreffend sloess embter meut zoell aufsleg zins rent gult steurn ansleg, den gmainen pfening, todfell, haimgevallen gueter, seeweier, vischentzen und ander dergleichen sachen in obern oder nidern osterreichischen erblanden gelegen, darumb sol er nach bevel der kgl. Mt. oder der hofraet ratslag zu ainer jeden zeit allain auf die stathalter der schatzcamer zu Innsprugg, die nach ordnung der schatzcamer geburlichen darin wissen zu handlen, . . . brief ausgeen lassen . . . . Was im aber schriften suplicacion begerungen oder vordrungen furkomen sachenhalben antreffend die regierung oder ordnung der obern oder nidern osterreichischen erblande oder auch gericht oder recht, perkwerchsordnung recht oder freihaiten verleihung geistlicher oder weltlicher lehen in denselben erblanden gelegen, darumb sol er nach bevel der kgl. Mt. oder der hofrete ratslag zu ainer jeden zeit allain auf die stathalter und regenten zu Innsprugg oder die stathalter und regenten zu Wien . . ., die nach der land freihaiten, gewonhaiten, gebrauch und alten herkomen geburlichen darinn wissen zu handlen, Schreiben abfertigen 56. Mit einer neuerlichen Reform im Jahr 1518 wies Maximilian dem geschaffenen Hofratskollegium die Aufgabe zu, sich aller Beschwerden und Gnadengesuche, die das Rechtswesen betreffen, anzunehmen, es sei denn, dass der „ordentliche Instanzenzug“ über Gerichte und Regiment umgangen worden sei. In diesem Fall sollten die Hofräte nur tätig werden, wenn die Behörden selbst in die Angelegenheit verwickelt wären 57. Normativ scheint das Supplikenwesen recht klaren Regeln unterworfen gewesen zu sein, doch ist ein derartiges Vorgehen in der Praxis nur schwer nachweisbar, etwa weil nicht bekannt ist, wie die Suppliken an den Hof gelangten oder welchen Weg sie für ihre Erledigung nahmen.

54

F– K, Die österreichische Zentralverwaltung 2 (wie Anm. 51) 20 Nr. 5. Sigmund A, Die Organisation der Centralverwaltung unter Kaiser Maximilian I. Auf urkundlicher Grundlage dargestellt (Leipzig 1886) 511; F–K, Die österreichische Zentralverwaltung 2 (wie Anm. 51) 51 Nr. 8. 56 F–K ebd. 52. 57 Ebd. 85 f. 55

150

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Praxis: Umsetzung der Ordnungen? Suppliken konnten, wie bereits angeklungen, nicht nur fast jeden erdenklichen Gegenstand zum Thema haben, sondern es scheint auch in der Verwaltung der Innsbrucker Behörden kaum einen Bereich gegeben zu haben, der nicht vom Supplikenwesen betroffen war, wie sich etwa an den verschiedenen Kopialbuchserien der oberösterreichischen Regierung und Kammer zeigen lässt. Eine persönliche Übergabe an den Landesfürsten dürfte eher eine Ausnahme dargestellt haben, vielmehr sind die Suppliken wohl bei den Behörden, also Regierung und Kammer, eingebracht worden, vor den Reformen Maximilians wahrscheinlich in der Kanzlei 58. Laut der Hofratsordnung sollten die Suppliken an einer Nadelschnur zusammengebunden und evident gehalten werden. Wenn man dem Glauben schenkt, müsste man auf den Stücken Durchstechlöcher erwarten, die aber nicht zu erkennen sind. Allerdings sind viele Bittschriften im Format etwas kleiner als das von der Kanzlei üblicherweise verwendete Format. Dies kann natürlich auf eine fehlende Normierung des Papiers oder auf einen Ausdruck von Demut hindeuten. Vielfach hat man aber auch die Größe dem Inhalt angepasst und die Ansuchen auf einem kleinen Format geschrieben. Die Schreiben, die dem Kanzleiformat nahekommen, sind dabei meist kürzer, mitunter auch schmäler und wirken häufig am oberen, seltener auch am unteren Rand abgeschnitten. Das könnte bedeuten, dass die Suppliken tatsächlich am (oberen) Rand an einer Schnur befestigt und zum Zeitpunkt der Bearbeitung nicht von der Schnur gezogen, sondern vielmehr abgeschnitten wurden. Vermerke sind „nur“ bei 65 Prozent der Bittschriften in verschiedenster Form angebracht, wobei sie in der Kaiserzeit Maximilians zahlen- und anteilsmäßig häufiger vorkommen als bis zum Jahr 1508. Kreuztabelle: Zeitraum – Vermerke Vermerke vorhanden Zeitraum

König Kaiser

Gesamt

48

Keine Vermerke 39

Gesamt 87

109

46

155

157

85

242

Das kann zwar bedeuten, dass das Supplikenwesen in der späteren Verwaltung eher einer Norm entsprechend ablief, doch sind Erledigungen außerhalb derselben weiterhin nicht auszuschließen. Nicht eindeutig geklärt werden kann auch die Frage, wer die Vermerke auf die Suppliken schrieb. Sofern etwas auf einer Supplik notiert war, ist es durchaus möglich, dass dies durch den Kanzler oder Sekretär vorgenommen wurde oder aber auch von der beratschlagenden Behörde selbst. Darüber hinaus gibt es verschiedene Arten von Vermerken. Die folgende Tabelle zeigt den „höchstrangigen“ Vermerk, der auf jeder Supplik zu finden ist, wobei hier willkürlich die Entscheidung die oberste Stufe einnimmt, die am ehesten Auskunft darüber gibt, welche Maßnahme vom Hof getroffen wurde. Eventuelle weitere Vermerke werden hier nicht weiter berücksichtigt. Es kann

58

S, Gesetz und Herrschaft (wie Anm. 2) 479.

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

151

aber auch ein Ratschlag notiert sein (allein oder zusätzlich zur Entscheidung), der in vielen Fällen die Weiterleitung an eine andere Behörde oder Person, unter anderem auch an Maximilian selbst, nach sich ziehen sollte. In neun Fällen findet sich auf der Bittschrift ausschließlich ein Expeditionsvermerk, dessen Bedeutung nicht eindeutig geklärt werden kann. So ist es möglich, dass er einer Entscheidung gleichkommt, aber auch, dass er nur einen Hinweis auf die Bearbeitung der Supplik in irgendeiner Form liefert. Andere Vermerke, wie etwa die Hinzufügung eines Namens oder Betreffs, geben keinen besonderen Aufschluss über den Umgang mit der Supplik. Art des Vermerks Häufigkeit

Prozent

Entscheidung

58

24,0

Ratschlag ohne Weiterleitung

10

4,1

Ratschlag mit Weiterleitung

54

22,3

Nur Expeditionsvermerk

9

3,7

Sonstiges

26

10,7

Gesamt

157

64,9

85

35,1

242

100,0

Kein Vermerk Gesamt

Im Folgenden soll nun gefragt werden, ob sich irgendwelche Regelmäßigkeiten oder Hinweise finden lassen, wann und wo Vermerke auf Suppliken angebracht wurden. Sie finden sich eher auf Bitten aus Nord- und Osttirol als aus Südtirol und dem Trentino. Darüber hinaus kann ein Zusammenhang mit großen Themenbereichen, die in den Suppliken vorkamen, festgestellt werden. So sind über 81 Prozent der Bittschriften, deren Inhalt mit Bergwerken zu tun hat, mit Vermerken versehen worden. Befand sich der Supplikant im Dienst Maximilians, waren es immerhin 60 Prozent. Bei Suppliken anderer Bittsteller, die keinem fürstlichen Dienst nachgingen, sind es 56 Prozent. Dieser Unterschied dürfte allerdings aufgrund der Zufälligkeit der Überlieferung kaum aussagekräftig sein. Kreuztabelle: Dienst – Vermerke

Dienst

Gesamt

Vermerke vorhanden

Keine Vermerke

Gesamt

Im Dienst Maximilians

47

31

78

Bergwerkswesen

57

13

70

Kein Dienst am Hof

53

41

94

157

85

242

Diese Zuordnungen schließen nicht aus, dass sich auch Personen niedrigeren Stands an Maximilian oder seine Behörden wandten, wobei es mitunter sehr schwierig ist, den sozialen Stand der Supplikanten und Supplikantinnen zu ermitteln. Die folgende Tabelle bildet daher nur eine Annäherung und ist unterteilt in Adlige, Geistliche und „Andere“. In letztere Kategorie fallen alle, die nicht eindeutig einer der beiden ersten Gruppen zugeordnet werden können, also etwa auch Bürger. Sie ist daher sehr

152

Nadja Krajicek

heterogen. Mit über 70 Prozent sind die Bitten der Supplikanten und Supplikantinnen aus dieser Gruppe auch überdurchschnittlich häufig mit Vermerken versehen worden. Bei 50 Prozent oder knapp darunter liegt der Wert für die schriftlich vorgebrachten Anliegen von Adligen und Geistlichen. Kreuztabelle: Sozialer Stand – Vermerke Vermerke vorhanden

Keine Vermerke

Gesamt

Sozialer

Adlige

22

24

46

Stand

Geistliche

10

10

20

125

51

176

157

85

242

Andere Gesamt

Überdurchschnittlich häufig finden sich Vermerke auf Suppliken, deren Anliegen Geld oder Besitz betrafen. Bei Ansuchen um Hilfe und Unterstützung liegt der Wert nahe bei 65 Prozent. Im Bereich der Bitten aus Gerichtsverfahren oder derer, die den Dienst betreffen, ist die Zahl der Vermerke geringer. Ob das dem jeweiligen Sachverhalt oder der Zuständigkeit zu einer bestimmten Behörde geschuldet ist, kann nicht geklärt werden. Kreuztabelle: Gegenstandsgruppen – Vermerke

Gruppe

Vermerke vorhanden

Keine Vermerke

Gesamt

Den Dienst betreffend

18

18

36

Geld

48

9

57

Hilfe, Unterstützung

54

31

85

Gerichtsverfahren

18

19

37

Besitz

12

3

15

7

5

12

157

85

242

Sonstiges Gesamt

Aufbau der Suppliken Die Tiroler Suppliken sind im Aufbau ähnlich wie andere Bittschriften aus dieser, aber auch anderer Zeit 59. Die meisten sind als Einzelschreiben überliefert, ohne Datierung, Adresse oder Verschlusssiegel. Datiert sind 32 Schreiben, mit einer Adresse 59 Siehe das Briefschema des Alberich von Monte Cassino bei Reinhard M. G. N, Die Stilprinzipien in den deutschen Briefstellern des 17. und 18. Jahrhunderts. Mit einer Bibliographie zur Briefschreiblehre (1474 –1800) (Palaestra. Untersuchungen zur europäischen Literatur 254, Göttingen 1969) 22: Salutatio, Exordium, Narratio, Petitio, Conclusio; Helmut B, Persönliche Bittschriften als sozial- und mentalitätsgeschichtliche Quellen. Beobachtungen aus frühneuzeitlichen Städten Obersachsens, in: Tradition und Wandel. Beiträge zur Kirchen-, Gesellschafts- und Kulturgeschichte. Festschrift für Heinz D, hg. von Gerhard A–Christian R–Alfred Stefan W (Wien 2001) 294 –304, hier 297: Anrede, Beschreibung von Person und Sachverhalt, Gesuch mit Begründung, Hoffnung auf Gewährung, Dank /

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

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versehen 31 und ca. 41 waren besiegelt. Von den 32 datierten Schreiben haben allerdings 25 gleichzeitig eine Adresse und 22 weisen Spuren einer Besiegelung auf. All diese Bitten stammen fast ausschließlich von Adligen, Leuten, die für Maximilian oder den Hof tätig waren, sowie von Geistlichen. Untertanen, Bürger und Personen aus dem Bergwerksbereich machten davon so gut wie keinen Gebrauch. Die Suppliken beginnen immer mit einer Anrede, die standardmäßig „Allerdurchleuchtigster, großmächtigster König / Kaiser, allergnädigster Herr“ lautet und in fast zwei Dritteln von ihnen in genau demselben Wortlaut aufscheint. Bei fast 80 Prozent ist sie mittig über dem Haupttext hervorgehoben. Einen Übergang zwischen Anrede und Narratio in Form einer Dienstwilligkeitsformel 60 haben allerdings nur wenige. 41 leiten sehr knapp über, etwa durch „Hiermit gebe ich eurer königlichen / kaiserlichen Majestät zu vernehmen“, und nur 23 fügen eine Dienstversicherung an. Eine klare Unterscheidung nach sozialen Gruppen ist in diesem Zusammenhang nicht möglich. Alle anderen Suppliken beginnen direkt mit dem narrativen Teil. Wie die meisten Supplikanten versuchten auch etliche Bittsteller und Bittstellerinnen aus Tirol ihre Notlage oder ihr Anliegen sprachlich dadurch zu betonen und gleichzeitig ihre Unterwürfigkeit gegenüber Maximilian zu unterstreichen, indem sie zahlreiche Adjektive in allen Steigerungsformen verwendeten 61. Diese zeigen sich des Öfteren in Einschüben, vor allem aber in der Bittformulierung. Eine Bandbreite der sprachlichen Möglichkeiten schöpfte auch der 90-jährige Metzger Ulrich Steinberger aus Brixlegg 62 aus, der Kaiser Maximilian um Erlaubnis bat, seine Fleischbank seinem Enkel zu überlassen, da der Landrichter von Rattenberg diesem verbiete, dort zu schlachten und Fleisch zu verkaufen 63, was häufig an eine Metzgerbank gebunden war 64: Ist demnach an e. kay. mt. mein allerundertenigist pit und beger umb Gotz willen, eur kay. mt. welle auf landtrichter zu Ratnberg ernstlich gscháft, mich pei solicher

Gebete zu Gott, Datierung und Unterschrift; James D, Scripting a female voice: Women’s Epistolary Rhetoric in Sixteenth-Century Letters of Petition. Women’s Writing 13/1 (2006) 3 –22, hier 5: Exordium, Narratio / Propositio, Confirmatio, Confutatio, Peroratio, oft Salutatio mit Subscriptio; S, Gesetz und Herrschaft (wie Anm. 2) 462; ., Supplikationen, in: Quellenkunde der Habsburgermonarchie (16. –18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch, hg. von Josef P–Martin S–Thomas W (MIÖG Ergbd. 44, Wien–München 2004) 572 –584, hier 574: Titulatio, Exordium, Narratio und Petitio, Conclusio; S-K, Anspruch und Wirklichkeit (wie Anm. 3) 83: Intitulatio, Narratio, Petitio, Conclusio / Subscriptio. 60 Regine M, Privatbriefe aus dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Ein empirischer Vergleich zur Textsortengeschichte, in: Sprache und Kommunikation im Kulturkontext. Beiträge zum Ehrenkolloquium aus Anlaß des 60. Geburtstages von Gotthard L, hg. von Volker H–Irmhild B–.–Brigitte U (Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte 4, Frankfurt am Main u. a. 1996) 359 –381, hier 372. 61 Robert J, Sprachliches Handeln und kommunikative Situation. Der Diskurs zwischen Obrigkeit und Untertanen am Beginn der Neuzeit, in: Kommunikation und Alltag in Spätmittelalter und früher Neuzeit. Internationaler Kongress Krems an der Donau 9. bis 12. Oktober 1990, hg. von Harry K (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit 15 = ÖAW, SB der phil.-hist. Kl. 596, Wien 1992) 159 –181, hier 177 f.; S-K, Anspruch und Wirklichkeit (wie Anm. 3) 88. 62 Brixlegg gehörte seit 1504 zu Tirol: R, Brixlegg im Mittelalter (wie Anm. 5) 133. 63 TLA, Max. 13.378, fol. 161. 64 Nikolaus G–Hermann H, Geschichte des Tiroler Metzgerhandwerks und der Fleischversorgung des Landes (Tiroler Wirtschaftsstudien 35, Innsbruck 1982) 55.

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geruebiger gewer und possession handtzehaben, ausgen lassen 65. Eine Beschreibung der eigenen Notlage fehlt – in der Narratio nannte sich Ulrich Steinberger aber sehr wohl als ain alter kranckher man ob newntzigkh jaren –, aber er steigerte seine Unterwürfigkeit mit der Superlativform allerundertenigist 66. Dazu nutzte er, ähnlich zu finden in zahlreichen Urkunden, eine Doppelform des dispositiven Verbs mit pit und beger, wenn auch hier in substantivierter Form gebraucht 67. Schließlich stellte er noch einen Bezug zu Gott her, mit dem wiederum an die Milde und Gnade des Kaisers appelliert wurde, den er am Schluss des Schreibens schließlich mit einer weiteren Gebetsformel für seinen Landesfürsten und einer neuerlichen Dienstversicherung bzw. einem Abgeltungsversprechen ergänzte 68: Das wil ich umb e. kay. mt., die der almechtig Got dem Heilig(en) Reich, mir und desselben verwonten zu sonderm trost geruche fristen, mit aller untertánigkhait gegen Got ze biten nymermer vergessen. Bevilch mich darauff e. k. mt. allergnedigist zu bedencken 69. Gebete vor oder innerhalb der Schlussformulierung kommen bei 32 Suppliken vor. Bei 24 weiteren gibt es zumindest einen Gottesbezug, der auch an anderer Stelle eingeflochten sein kann. Von diesem Stilmittel machten aber eher Frauen Gebrauch 70. Die Hälfte der 22 weiblichen Bittsteller versprach, für Maximilian zu beten, zwei weitere stellten den weitläufigeren Bezug zu Gott her. Bei den Männern betrug der Anteil weniger als zehn Prozent. Ulrich Steinberger dürfte den Ausgang des Streits um seine Fleischbank nicht mehr erlebt haben. Zwar ist die Supplik am 22. April 1516 vom Regiment an den Stadtund Landrichter Bartholomäus Angst in Rattenberg mit der Aufforderung um Bericht gesandt worden, jedoch sind dieser und die unmittelbare Handlung nicht überliefert. Auch Maximilian erlebte den Ausgang des Rechtsstreits nicht mehr. 1519 kam das Verfahren wieder ins Rollen. Der Enkel Ulrich Steinbergers musste zwar mit Urteil das Metzgerhandwerk in Brixlegg aufgeben, sollte dieses aber in Rattenberg weiterführen dürfen und zudem als Bürger aufgenommen werden 71. Nicht alle Bittformulierungen sind derart wortreich wie die eben vorgestellte. Das andere Extrem zeigt sich etwa bei der Bitte des Trentiner Hauptmanns Leopold von Trautmannsdorf, der auf jegliche Ausschmückung verzichtete: Ich fueg e. k. mt. zu vernemen, sover unnd e. k. mt. das schloße Yfan selbs behallten wurd, so bitt ich e. k. mt., well 65

TLA, Max. 13.378, fol. 161. Helmut E, Bemerkungen zur Syntax frühneuhochdeutscher Bittbriefe, in: Neuere Forschungen zur historischen Syntax des Deutschen. Referate der Internationalen Fachkonferenz Eichstätt 1989, hg. von Anne B (Reihe Germanistische Linguistik 103, Tübingen 1990) 224 –238, hier 227. 67 J, Sprachliches Handeln (wie Anm. 61) 177. 68 E, Bemerkungen zur Syntax (wie Anm. 66) 231 f.; S-K, Anspruch und Wirklichkeit (wie Anm. 3) 88 f. 69 TLA, Max. 13.378, fol. 161. 70 Zu dieser Thematik Renate B, Interzession. Die Fürbitte auf Erden und im Himmel als Element der Herrschaftsbeziehungen, in: Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 1) 293 –322, hier 314; D, Scripting (wie Anm. 59) 14; Alison T, Women’s Petitionary Letters and Early SeventeenthCentury Treason Trials. Women’s Writing 13/1 (2006) 23 –43, hier 30 –32; K, Frauen in Notlagen (wie Anm. 4) bes. 36, 38. 71 TLA, Max. 13.378, fol. 162, 164. Diesen Fall beschreibt zweimal auch Georg M: D., Die Markt- und Handwerksordnung von 1474, in: Brixlegg (wie Anm. 5) 453 –459, hier 458; ., Metzgerei (wie Anm. 5). Unter falscher Signatur wird Steinberger auch genannt bei G–H, Geschichte des Tiroler Metzgerhandwerks (wie Anm. 64) 33. 66

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mich lassen verr ainem andern 72. Wie relevant die textliche Gestaltung der Suppliken überhaupt war, lässt sich allerdings nicht abschätzen. Wenn Ulrich Steinberger seine Bitte, sofern die Angaben stimmten, gewährt worden sein sollte 73 und Leopold von Trautmannsdorf die Burg Ivano trotz seiner Supplik nicht erhielt 74, wird dafür nicht die Art der Bittformulierung ausschlaggebend gewesen sein. Bis auf zwei Ausnahmen gaben alle Supplikanten und Supplikantinnen am Ende ihrer Supplik, also bevor in der Regel der Name, vielfach auch mit weiteren Adjektiven der Demut, genannt wird, ein Abgeltungsversprechen, mit dem sie sich der Gnade des Landesfürsten noch einmal vergewisserten 75. Interaktionen mit dem Hof – am Beispiel von Veit Jakob Tänzl Nachdem bereits von Leuten, die im direkten Dienst von Maximilian standen, die Rede war, gab es auch zahlreiche Personen, die etwa durch ihre Arbeit in häufigen Kontakt mit dem Hof kamen und in diesem Zusammenhang auch an den Landesfürsten supplizierten. Es kam immer wieder vor, dass ein Supplikant oder eine Supplikantin mehrfach eine Bitte an Maximilian richtete. Dabei kann es sich um eine Wiederholung der Bitte handeln, um einen weiteren Verfahrensschritt oder aber um ein völlig anderes Anliegen. Wenn man das Quellencorpus der Tiroler Suppliken näher betrachtet, kommt man an der Person des Veit Jakob Tänzl nur schwer vorbei. Nicht weniger als sieben an Maximilian gerichtete Bittschriften haben sich erhalten. Den kopialen Überlieferungen zufolge dürfte die tatsächliche Zahl sogar noch höher gewesen sein. In den Kopialbüchern der Raitkammer lassen sich zu ihm mindestens 73 Eintragungen allein im Zeitraum von 1497 bis 1518 finden, die hier nur auszugsweise ausgewertet werden können. Mitglieder der Familie Tänzl sind seit etwa 1350 als Kauf leute, Ratsmitglieder und Richter in Innsbruck nachweisbar 76. 1441 wurde Jakob Tänzl Gewerke im Bergwerk Schwaz und war ähnlich erfolgreich wie sein Sohn Christian, dessen Söhne Simon und Veit Jakob nicht nur die Geschäfte in Schwaz mit wechselndem Erfolg weiterführten, sondern sich im Laufe ihres Lebens zudem einen prunkvollen Lebensstil angeeignet hatten 77. Am 7. März 1497 stellte Maximilian den Brüdern Veit Jakob und Simon Tänzl einen Pfandbrief über die Herrschaft Imst aus, nachdem die beiden dem König 22.000 Gulden geliehen hatten 78. Gemeinsam mit seinem Bruder hatte Veit Jakob auch Pfandrechte in der Herrschaft Kaltern in Südtirol, 72

TLA, KS I 935.18. Ebd. Max. 13.378, fol. 161v. 74 Ebd. KS I 935.18. 75 J, Sprachliches Handeln (wie Anm. 61) 177 f. 76 Erich E–Wolfgang P, Kaiser Maximilian I. und Tirol (Innsbruck 21992) 134; Christoph H, Zur Bevölkerungsgeschichte von Innsbruck im Mittelalter und in der beginnenden Neuzeit (Veröffentlichungen des Innsbrucker Stadtarchivs N. F. 15, Innsbruck 1984) 196 f.; Gertrud P, Tirol Lexikon (Innsbruck 2005) 606. 77 E–P, Maximilian (wie Anm. 76) 134; H, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 76) 197. 78 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Bekennen 1 (1496 –1497), fol. 42r –44v; dazu auch Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493 –1519, Bd. 2/1: Maximilian I. 1496 –1498, ed. Hermann W et al. (Reg. Imp. XIV / 2/1, Wien–Köln–Weimar 1993) Nr. 6080, ebd. Bd. 2/2: 73

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zu denen sie auf Anordnung der Raitkammer vom 6. Juli 1500 einige Schriftstücke vorlegen sollten 79. Darauf folgte zwei Jahre später ein Schreiben bezüglich der dort zinspflichtigen Bauern 80, 1510 hinsichtlich der Gülten 81 sowie ein weiterer Eintrag zu diesem Amt am 27. März 1512 nach Beschwerde der beiden Brüder 82. Veit Jakob und Simon traten auch in einem weiteren Fall gemeinsam auf. Sie verkauften spätestens im Mai 1498 ein Haus an der Innbrücke zu Innsbruck an Maximilian und erhielten dafür Schloss Tratzberg bei Stans im Tiroler Unterland, wobei man von Seiten Maximilians bzw. seiner Behörden den Tausch immer mehr in Zweifel zog und sich fragte, ob man bei dem Geschäft nicht schlecht ausgestiegen sei 83. 1502 erhielten die Brüder Tratzberg im Tausch gegen Schloss Berneck bei Imst zu freiem Eigen 84. Die beiden wurden von Maximilian in den Adelsstand erhoben und nannten sich daher auch von Tratzberg 85. Nachdem Veit Jakob bereits 1498 weitere 3.000 Gulden an Maximilian geliehen hatte 86, verpfändete dieser 1502 seinem Geldgeber auch noch die Pflege Rottenburg, die er nach langen Verhandlungen und einer Zahlung von 8.000 Gulden erst 1517 wieder zurückgeben musste 87. Tänzl lieh seinem Landesfürsten laut Aufzeichnungen der Raitkammer immer wieder Geld, wofür er spätestens ab dem Jahr 1505 neben den bereits genannten Pfandschaften nicht selten Erleichterungen für die Abgaben seiner Bergwerke erhielt 88. Den Bergbau behandeln sechs Suppliken Tänzls, die allesamt nicht nur undatiert, sondern auch mit keinerlei Vermerken versehen worden sind 89. Die letzte Bitte bezieht

Österreich, Reich und Europa 1496 –1498, ed. . et al. (Reg. Imp. XIV / 2/2, Wien–Köln–Weimar 1993) Nr. 8559 und 8566. 79 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 4 (1500), fol. 127. 80 Ebd. 6 (1502), fol. 207. 81 Ebd. 14 (1510), fol. 327v. 82 Ebd. 16 (1512), fol. 106v –107r. 83 Reg. Imp. XIV / 2/1 (wie Anm. 78) Nr. 6100, 6251; TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Geschäft von Hof 3 (1498), fol. 84; ebd., Entbieten 3 (1499), fol. 21v –22r; ebd., Geschäft von Hof 5 (1500), fol. 117; ebd., Geschäft von Hof 6 (1501), fol. 90v –91r; ebd., Entbieten 4 (1500), fol. 149r, 180v. 84 Ausgewählte Regesten des Kaiserreiches unter Maximilian I. 1493 –1519, Bd. 4/1: Maximilian I. 1502 –1504, ed. Hermann W et al. (Reg. Imp. XIV / 4/1, Wien–Köln–Weimar 2002) Nr. 16998. 85 H, Bevölkerungsgeschichte (wie Anm. 76) 197; Otto S, Schloß und Gericht Rottenburg und Rotholz, in: Jenbacher Buch. Beiträge zur Heimatkunde von Jenbach und Umgebung, hg. von Raimund von K (Schlern-Schriften 101, Innsbruck 1953) 137 –143, hier 145. 86 Reg. Imp. XIV / 2/1 (wie Anm. 78) Nr. 6007. 87 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Missiven 2 (1502), fol. 26r; ebd., Geschäft 10 (1505), fol. 24r – 25r; ebd., Entbieten 20 (1516), fol. 135v, 298, 458v; ebd., Missiven 15 (1517), fol. 93v, 110; ebd., Entbieten 21 (1517), fol. 433. 88 Ebd., Bekennen 5 (1505), fol. 2v –3r; ebd., Entbieten 9 (1505), fol. 339; ebd., Geschäft von Hof 10 (1505), fol. 24r –25r, 81v, 86r; ebd., Missiven 4 (1505), fol. 199v; ebd., Entbieten 11 (1507), fol. 49, 285r; ebd. 17 (1513), fol. 239r –240r; ebd., Missiven 14 (1515 –1516), fol. 230r –231r, 237v, 239v, 242v; ebd., Entbieten 20 (1516), fol. 135v, 298; ebd., Bekennen 16 (1518), fol. 136r –137r. Es finden sich auch weitere Einträge zu seinen Tätigkeiten im Bergbau, z. B. ebd., Entbieten 10 (1506), fol. 298r, 328v –329r; ebd. 11 (1507), fol. 4v; ebd. 12 (1508), fol. 285r, 343r, 383v; ebd., Geschäft von Hof 13 (1508), fol. 264r; ebd., Entbieten 13 (1509), fol. 340v, 343v, 358r; ebd., Missiven 12 (1513), fol. 16r –17v, 52r –53v, 66, 80v – 81r, 102v –103r, 111v –112r. 89 TLA, Pestarchiv XIV 3; ebd. 465-4; TLA, Max. 12.40, fol. 321, 327; TLA, Max. 14, Konzepte, Miscellanea ohne Jahr, Teil 6.46; HHStA, RK, Max. Kart. 44, Konv. VIII / 3, fol. 314.

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sich auf seine Tätigkeiten als Pfleger von Rottenburg 90. Aus dem Inhalt lassen sich kaum stichhaltige Rückschlüsse auf die Datierung ziehen. Eine ist an Maximilian als König gerichtet, stammt also aus der Zeit bis 1508, die anderen sind aufgrund der verwendeten Anrede in die Jahre 1508 bis 1519 zu datieren. Überraschenderweise lässt sich keine dieser Suppliken eindeutig mit den Aufzeichnungen in den Kopialbüchern in Verbindung bringen. Vielmehr ist dort von vier weiteren Bitten Tänzls in Bezug auf Freiheiten die Rede, die aber auch an die Zentralbehörden adressiert gewesen sein konnten 91. Bergwerkswesen Der Bergwerksbereich, der nicht nur Veit Jakob Tänzl, sondern auch viele andere zum Supplizieren an Maximilian bewegte, spielte im Tirol dieser Zeit eine überragende Rolle. Die rund 70 an Maximilian gerichteten dürften aber nur einen Teil der „Bergwerks-Suppliken“ ausmachen. Die Behandlung all jener zahlreichen Bitten, die in diesem Zusammenhang an Regiment und Raitkammer gerichtet waren und vielfach in den Beständen „Maximiliana“ und „Pestarchiv“ des Tiroler Landesarchivs überliefert sind, würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Das Bergregal lag ohne bekannte Verleihung seit dem späten 13. Jahrhundert bei den Grafen von Tirol. Im 15. Jahrhundert kam es vor allem beim Abbau von Kupfer und Silber zu einem massiven Aufschwung 92. Schon zu Zeiten Erzherzog Sigmunds verlieh dieser zahlreiche Gruben und hoffte auf deren Gewinne 93. Waren es in Schwaz, dem größten „Bergwerk“ Tirols, im Jahr 1442 um die 400 Bergleute, verzehnfachte sich deren Zahl bis zum Regierungsantritt Maximilians auf etwa 4.000. Bis 1556 stieg der Anteil noch bis auf etwa 11.500, wobei die Einwohnerzahl von Schwaz (und Umgebung) im Jahr 1515 bei ca. 20.000 lag. Auch in den Bergbaugebieten Sterzing, Rattenberg und Kitzbühel arbeiteten jeweils etwa 1.000 Knappen 94. Als Hauptbergbaugebiete kristallisierten sich neben Schwaz, Sterzing samt Schneeberg, Rattenberg und Kitzbühel noch Gossensaß, Imst, Klausen, Terlan und Taufers heraus 95. Um diesen regelrechten Bergbauboom zu reglementieren, wurden seit der Mitte des 15. Jahrhunderts vermehrt Sondergerichte geschaffen 96. Auch weil alle im Bergbau Tätigen aufgrund der Bergbaufreiheit nicht vor die Landgerichte gezogen werden

90 HHStA, Länderabteilungen, Österreichische Akten, Salzburg K. 4, Salzburg (1427 –1793), Fasz. 5, fol. 117/118. 91 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 18 (1514), fol. 76, 82; ebd., Geschäft von Hof 19 (1518), fol. 15; ebd., Entbieten 22 (1518), fol. 154v. 92 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 172 –174. 93 Armin H–Heinrich S, Geschichte des Bergbaus in Schwaz und Brixlegg. Lapis 19 (1994) 13 –21, hier 14. 94 Erich E, Der Tiroler Metallbergbau und seine Weltgeltung 1450 –1550. Res montanarum 4 (1992) 36 –39, hier 37. 95 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 173 f. 96 Wolfgang T, Struktur und Aufgabenbereiche der Tiroler Berggerichte und des landesfürstlichen Beamtenapparates im Schwazer Bergbau an der Wende vom Mittelalter zur frühen Neuzeit. Tiroler Heimat 67 (2003) 123 –140, hier 123.

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konnten, war die Einrichtung von Berggerichten eine logische Maßnahme 97. Eine größere Menge von Personen im Bergbau hatte auch eine größere Anzahl von Delikten zur Folge, und die Landrichter verfügten bei Streitfällen im Bergbau nicht immer über die notwendige Sachkenntnis 98. Die Bergrichter unterstanden gemeinsam mit ihrem teilweise zahlreichen Hilfspersonal, wie etwa den Berggerichtsschreibern, die als Gegenschreiber des Bergrichters fungierten 99, als Beamte den Zentralbehörden 100. Die Regierung war in politischen, die Kammer in wirtschaftlichen und finanziellen Fragen die übergeordnete Instanz. In Besitzangelegenheiten hatten sich beide Behörden der Sache anzunehmen 101. Im Gegensatz zu den Landgerichten, von denen etwa im Jahr 1502 nur 15 von über 150 in Tirol unter landesfürstlicher Kontrolle standen – die meisten waren verpfändet –, standen die Berggerichte somit unter stärkerer Kontrolle Maximilians und des Regiments 102 und wurden je nach Bedarf installiert und auch wieder aufgelassen 103. 1490 wurde von Seiten Maximilians zusätzlich das Bergmeisteramt als Mittelbehörde geschaffen. Der Bergmeister – von 1490 bis 1500 hatte Lienhard Gebel als ehemaliger Bergrichter dieses Amt inne und wurde dann von Hans Maltis (auch Maltitz) abgelöst – hatte als eine Art Zwischeninstanz die Zentralbehörden in Bergwerksfragen zu beraten, sich um personelle Besetzungen zu kümmern sowie Fron und Wechsel zu überwachen 104. Daraus dürfte sich die hohe Zahl der Suppliken aus diesem Bereich, vor allem auch an die Zentralbehörden, erklären. Die Kammer scheint die Bitten der Gewerken um wirtschaftliche Erleichterungen in Bezug auf Abgaben relativ häufig gewährt zu haben, da sie auf spätere Erträge und Gewinne hoffte 105. Die im Frühjahr 1513 an Kaiser Maximilian I. gerichtete Supplik von Katharina Ahorner, einer Witwe aus Schwaz, lässt sich quellenmäßig gut kontextualisieren und auch durch die heute noch gemeinsame Ablage in einem Akt im Archiv mit einer Bitte an das Regiment und darüber hinaus mit den Kopialbüchern verknüpfen. Die Witwe Andreas Ahorners bat den Kaiser, den landesfürstlichen Beamten Lienhard Harrer anzuweisen, ihr 109 Gulden zu bezahlen. Ihren Angaben zufolge war sie erst nach den Lidlöhnern 106 als Erbin für ein Flöz oder Haus (fletz) und ein Waschwerk des verstorbenen Antoni von Ross in Jenbach zugelassen worden. Sie benötigte das Geld aber rasch, da sie befürchtete, dass ihre Gläubiger sie vor Gericht brächten 107. Die Supplikantin war bereits vor dieser Bitte mehrfach in den Kopialbüchern der oberösterreichischen Kammer in Erscheinung getreten. Dabei ging es vornehmlich um 97 Ebd. 124; Hans-Wolfgang S, Bergmännisches Arbeitsrecht im 15. und 16. Jahrhundert, in: Festschrift Nikolaus G zum 60. Geburtstag dargebracht von Fachgenossen, Freunden und Schülern 1, hg. von Louis C–Fritz S (Innsbruck–München 1974) 533 –558, hier 557. 98 Georg M, Die Kompetenz der Berg- und Landgerichte in Tirol, in: ebd. 499 – 520, hier 501 f. 99 Ebd. 127. 100 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 177. 101 T, Struktur und Aufgabenbereiche (wie Anm. 96) 127. 102 Ebd. 126. 103 Robert von S, Überblick des Bergbaues von Tirol und Vorarlberg in Vergangenheit und Gegenwart. Berichte des Naturwissenschaftlich-medizinischen Vereines Innsbruck 41 (1929) 118 –277, hier 144. 104 Ebd. 142; v. a. T, Struktur und Aufgabenbereiche (wie Anm. 96) 127. 105 S, Überblick des Bergbaues (wie Anm. 103) 150. 106 Arbeiter / Dienstnehmer auch im Bergwesen, deren Ansprüche im Fall eines Konkurses bevorzugt zu befriedigen sind, vgl. Ulrich-Dieter O, Art. Lidlohn. HRG 3 (22016) 979 –981. 107 TLA, Max. 12.40, fol. 71; K, Frauen in Notlagen (wie Anm. 4) 114 –116 Nr. 27.

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Kredite für ihr Bergwerk, das sie gemeinsam mit ihrem Sohn Hans und dessen Frau Barbara betrieb 108. Im Jahr 1500 hatte bereits der genannte Andreas Ahorner mittels einer Bittschrift an König Maximilian I. oder eine der Behörden 109 suppliziert; er starb vermutlich nicht vor dem Jahr 1504, spätestens jedoch 1511 110. Chronologisch folgte nun die bereits erwähnte Supplik. Auf der Rückseite ist vermerkt, dass Dr. Johann Götzner, ein Rat Maximilians, in der Kammer darüber hanndlen sollte. In einem zweiten Vermerk, datiert auf den 9. April 1513, wurden Bergrichter und Erzkäufer aufgefordert, über die Sachlage zu referieren 111. Am 15. April ließ Maximilian nach erhaltenem Bericht des Erzkäufers Georg Weinachter sowie des Bergrichters nach Beratung des Regiments und der Raitkammer zu Innsbruck den genannten Erzkäufer anweisen, Katharina Ahorner die 109 Gulden auszuzahlen 112. Von ihr hat sich dann eine weitere Supplik – dieses Mal an das Regiment in Innsbruck – erhalten, in der sie sich zu Beginn für das positive Urteil bezüglich ihrer vorherigen Bitte, das Flöz / Haus und Waschwerk in Jenbach betreffend, bedankte, aber nun um weitere Unterstützung bat 113, woraufhin von Bergrichter Lienhard Möltl und Erzkäufer Georg Weinachter ein neuerlicher Bericht angefordert 114 und ihr schließlich zweimal ein Zahlungsaufschub gewährt wurde 115. Eine weitere Supplik wird in einem Schreiben an Hans Kaspar von Laubenberg und Johann Götzner erwähnt, die sich über die finanzielle Lage und den Wert des Bergwerks von Katharina Ahorner erkundigen sollten 116. Auch im Jahr 1514 dürften sich die finanziellen Probleme der Frau nicht gelöst haben, da sie, wie aus einem Briefwechsel zwischen den Behörden zu Innsbruck und Bergrichter Lienhard Möltl sowie anderen Amtleuten des Bergwerks Schwaz hervorgeht, ihr Bergwerk scheinbar verkaufen wollte 117. Eine weitere Supplik ihrerseits wird in einem Schreiben des Regiments an Bergrichter und Erzkäufer vom 27. März 1515 bezüglich ihrer Schulden genannt 118. Sie starb spätestens 1523 119. Das Tiroler Gerichtswesen In Tirol gab es zur Zeit Maximilians zahlreiche Landgerichte 120, in denen meist Pfleger für die Verwaltung zuständig waren und über den Landrichtern standen 121. Mit der Gerichtsordnung von 1404 durften die Geschworenen nur mehr aus dem eigenen

108 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 12 (1508), fol. 298r, 387v; ebd. 14 (1510), fol. 259v –260r; ebd. 16 (1512), fol. 274, 290r, 292v. 109 Ebd. 13 (1500), fol. 31r. 110 TLA, Oö. Kammer, Raitbuch 49 (1504), fol. 138v; ebd. 56 (1511), fol. 26v. 111 TLA, Max. 12.40, fol. 71v. 112 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 17 (1513), fol. 180v, 407r. 113 TLA, Max. 12.40, fol. 341. 114 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 17 (1513), fol. 86v. 115 Ebd. 14 (1510), fol. 305r, 348v. 116 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Missiven 12 (1513), fol. 89r. 117 TLA, Max. 12.40, fol. 125 –127; TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 18 (1514), fol. 75, 112r, 273r, 289v, 369r. 118 Ebd. Missiven 14 (1515 –1516), fol. 75v. 119 Ebd. Entbieten 25 (1523), fol. 111v. 120 T, Struktur und Aufgabenbereiche (wie Anm. 96) 126. 121 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 119.

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Gerichtssprengel stammen und die geistlichen Gerichte wurden auf die Judikatur in Zehent-, Ehe- und Seelgerätsachen beschränkt. Mit einer weiteren Ordnung aus dem Jahr 1420 sollte die Selbstjustiz wie die Fehde beschränkt werden, da sich nun jeder an das oberste Gericht der Grafschaft wenden durfte 122. Die Fehde wurde schließlich auch mit den Ordnungen von 1489 und 1496 unter Todesstrafe gestellt, wobei sie mehr von Bauern und Handwerkern als von Adligen betrieben wurde. Ausgenommen blieb aber die Herausforderung zum Zweikampf, der in der Bauernschaft häufiger vorkam 123. Im Spätmittelalter hatten sich höhere Gerichtsinstanzen institutionalisiert, wie etwa das adlige Hofrecht in Bozen bzw. Meran sowie die oberösterreichische Regierung in Innsbruck. Eine Berufung an eine dieser höheren Stellen war aber nur in zivilrechtlichen Fragen möglich, nicht aber im Strafrecht. Hier blieb den Betroffenen lediglich die Bitte um Gnade beim Landesfürsten 124. Auch war eine Berufung an das Königliche Kammergericht aufgrund einer Verordnung aus dem Jahr 1453 nicht erlaubt 125. Streitigkeiten konnten nicht nur zwischen Untertanen entstehen, sondern auch zwischen den einzelnen Gerichten. In der Praxis scheinen die Kompetenzen zwischen den Landgerichten und den jüngeren Berggerichten nicht klar aufgeteilt gewesen zu sein. In den Berggerichten war seit 1494 normativ der Bergrichter für zivilrechtliche Angelegenheiten mit Ausnahme von Grunderwerb, Eigentumsfragen und Erbschaften, die weiterhin den Landgerichten vorbehalten blieben, zuständig 126; dennoch musste der Landesfürst regelmäßig bei Kompetenzstreitigkeiten eingreifen 127. Hildebrand von Spaur, unter anderem von 1506/1507 bis 1512 Pfleger von Freundsberg 128, zeigte bald nach seiner Ernennung 129 etliche Bereiche auf, in denen er mit dem Schwazer Bergrichter Kaspar Pirchner in Konflikt geraten war, da dieser den ihm zugewiesenen Kompetenzbereich nicht ausfüllte und ihn in anderen Fällen überschritt: Sich haben zwischn e. ku. mt. perckhrichter zu Swats Casparn Pirchner ains-, auch mein und des lanndtrichters daselbs annderstails der pennen unnd straffn, gerhaben zu seczen, wittiben zu enntrichten, vermácht, kawff, verczeichnussen und anndrer gutlicher unnd rechtlicher hanndlung halb ettliche jar spán, zwayung und irrungen gehalten. Das Regiment hätte aber bisher die schriftlich vorgebrachten Beschwerden Spaurs ignoriert, und der Bergrichter griff nach wie vor in das Landgericht ein: das sich obgemelter perckhrichter selbs unnderstannden unnd nachmals awf sein anbrynngen mir und den gerichczlewtn unverkunndet bei e. ku. mt. regiment erlanngt hat, der árczknappen gelassen wittiben unnd kynnden zu begerhaben unnd voneinannder zu enntrichtn laut ains schriftlichn bevelhs, unnd doch all hewratn und erbschaftn nach lanndes- und nicht nach perckwerchsrechtn beschehn unnd ersuecht werdn. Unnd obgleich ain árczknapp perckwerch hynnder ime verlasst, sóllen nichtdestmynnder, dieweil ain yede erbschaft nach lanndsrecht ersuecht sol

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B, Mit Brief und Siegel (wie Anm. 46) 42 f. S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 113 f. 124 B, Mit Brief und Siegel (wie Anm. 46) 68. 125 S, Geschichte der Verwaltung (wie Anm. 10) 121. 126 T, Struktur und Aufgabenbereiche (wie Anm. 96) 132. 127 M, Kompetenz (wie Anm. 98) 503 f. 128 Nach seiner Bestätigung im Jahr 1507 musste er die Pflege 1512 an Antoni Rumel abtreten. TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 10 (1506), fol. 15r; ebd. 11 (1507), fol. 15v; ebd. 13 (1509), fol. 6r; ebd. 16 (1512), fol. 120r. 129 Die Supplik ist noch an Maximilian als König (1486 –1508) gerichtet. 123

Suppliken aus Tirol an Maximilian I. (1490 –1519)

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werden, die gerhaben nach lanndsrecht, als dann all gerhabbrief stehen, geseczt werden und darnach nichtdestmynnder, wo des perckhwerchs halb irrung wár, sich sólher irrung vor perckhrichter gutlich oder rechtlich entschaydn lassn. . . . Item er unnd sein geschworen unndersteen sich auch, grunnt unnd podn, wisen unnd áckher zu scháczn unnd in anndern sachen das lanndsrecht berrurenndt zu hanndlen, das sich doch in kain weys gepuren wil 130. Aufgrund dieser Übergriffe und der aus seiner Sicht unzureichenden Arbeit des Regiments bat der Pfleger den König um Klärung der Angelegenheit. Insgesamt haben 37 Suppliken im weiteren Sinne mit Gerichtsverfahren zu tun. Eine nicht nur in Tirol häufig auftretende Bitte ist jene um Geleit, also einen zeitlich befristeten Schutz, eine Art Garantie von Sicherheit. Auch Leonhard Schneider bat um derartigen Schutz, da er mit Bann und Acht belegt wurde, nachdem er Heinrich Tischler aus Eppan in Südtirol, seinen Angaben zufolge aus Notwehr, getötet hatte und im Anschluss daran geflohen war. Nun benötigte er ein Geleit, da die Verwandten des Getöteten mit ihm verhandeln wollten, aus ursach, das sy bericht sein, das in dermassen laut meiner kuntschaften dartzu geraitzt und bewegt bin und das ich mich meins leibs und lebens hab wóren mussen. Bit ich umb Gotts willen e. kn. mt., die welle so gnedig sein und aus bemelten ursachen mich begnaden und mir ein frey, sicher glait mir allain für e. kn. mt. zwischen hye und sant Anndres tag schirst geben 131. Schlimm erging es Gabriel Roßholczer aus Gagering im Zillertal, wo die gerichtlichen Zuständigkeiten unklar waren, da im Tal eine Grenze zwischen Tirol und Salzburg verlief und die Zugehörigkeit Gagerings nicht eindeutig festgelegt war. Laut Vertrag von 1699, der die alten Grenzen lediglich erneuerte, gehörten die sieben Höfe des Dorfes im Salzburger Gericht Fügen in der Reichweite ihrer Dachtraufen oder ihres Tropfstalles zum Tiroler Gericht Rottenburg, die Felder unterstanden jedoch Fügen und damit Salzburg 132. Die Blutgerichtsbarkeit lag westlich des Zillers wiederum bei Rottenburg 133. In der Tiroler Malefizordnung aus dem Jahr 1499 war die Folter als probates Mittel zur Erreichung eines Geständnisses erlaubt 134. Dass sie zu Aussagen führen konnte, die nicht der Wahrheit entsprachen, liegt auf der Hand. Das widerfuhr auch dem Supplikanten aus dem Zillertal, allerdings im Salzburgischen. Ihm war in verschiedenen Streitigkeiten, an denen er seinen Widersachern die Schuld zuschrieb, von den lokalen Instanzen wiederholt das Recht verweigert worden, und auch in Salzburg ließ man seine Beschwerden im Sand verlaufen. Er wurde an seinem Besitz geschädigt und zahlungsunfähig, was zu neuen Anklagen führte, und zeitweise wurde, wohl als Druckmittel, seine Frau gefangen gesetzt. Mit Hilfe der Regenten und Räte in Innsbruck erwirkte er vom Erzbischof von Salzburg Geleit, das wirkungslos blieb, und Kommissäre, die nicht aktiv wurden. Vielmehr wurde er gefangen genommen und in der Salzburger Burg Kropfsberg am Eingang des Zillertals wiederholt und schwer gefoltert und mit dem Tod bedroht, bis er – nach seiner mehrfachen Beteuerung unwahre – Geständnisse ablegte, Geld von einem Pfarrer bzw. Pferde in Tirol und in Schwaben gestohlen zu haben. Aufgrund dessen vor Gericht (ain erbers frums 130 131 132 133 134

TLA, Max. 12.112, fol. 160. TLA, Max. 14.1490.34. Otto S, Geschichtskunde des Zillertales (Schlern-Schriften 63, Innsbruck 1949) 49. S, Schloß und Gericht (wie Anm. 85) 138. B, Mit Brief und Siegel (wie Anm. 46) 45 –47.

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geding) gestellt, stritt er den Diebstahl ab und wurde auch nicht zum Tod verurteilt, sondern aus dem Land Salzburg und der Grafschaft Tirol verbannt. In seiner Supplik kündigte er Klagen gegen seine namentlich genannten Verfolger an, aber auch gegen den Erzbischof, der es verabsäumt hatte, ihm eine Klage im ordentlichen Verfahren zu ermöglichen. Die Drohungen mögen ihn erleichert haben, aber seine Bitte an Maximilian war letzlich bescheidener: Er bat den Herrscher, ihn in Schutz zu nehmen und zu versorgen, da er als armer, ellender, prestenhaffter man aufgrund der Folgen der Streckfolter arbeitsunfähig war und sich nicht mehr ernähren konnte 135.

Die Kriege Maximilians und Auswirkungen auf Tirol Der Krieg gegen Venedig Nach der Kaiserproklamation Maximilians zu Jahresbeginn 1508 zog dieser in den Krieg gegen Venedig, doch bereits am 6. Juni konnte Bischof Georg von Trient einen Waffenstillstand erwirken. Durch die Bildung der Liga von Cambrai, bestehend aus Maximilian I., Frankreich, Spanien und dem Papst, erhielt der Krieg neuen Schwung. Am 1. Juni 1509 brachen 15.000 Mann von Trient auf und eroberten unter anderem Rovereto, Riva, Verona, Belluno, Feltre und Padua. Nach ersten Rückeroberungen und schließlich dem Zerfall der Liga wurden die Kriegshandlungen zwar weitgehend eingestellt, für Tirol bedeutete das aber kein Ende der außerordentlichen Belastungen, die sich bis zum Ende des Krieges 1516 hinzogen 136. Sowohl aufgrund seiner geografischen Lage mit der Grenze zu Venedig als auch wegen der landesfürstlichen Position Maximilians, der seine Kriege finanziert haben wollte, trug Tirol in diesem Fall eine nicht unerhebliche Last. Zwar durfte der Kaiser die Führung eines Krieges bestimmen, doch die Mittel dazu mussten die Stände bewilligen, die in Tirol keine sonderlich große Macht mehr besaßen 137. Wenig überraschend ist es daher, dass der Krieg gegen Venedig auch in den Suppliken seinen Niederschlag fand. Einerseits war es die Tiroler Bevölkerung, die durch den Krieg Schaden nahm, zum anderen waren es Verfolgte, die auf der Flucht den Schutz des Kaisers suchten. Auf der Seite Tirols waren es meist Bitten um Geld bzw. die Bezahlung von Knechten, Wirten etc., die nur selten von den Betroffenen selbst vorgebracht wurden, sondern vielmehr von den verantwortlichen Adligen sowie auch von Geistlichen. Eine Ausnahme stellt Paul Weinberger aus Toblach im Pustertal dar, der im Krieg gegen Venedig nicht nur einige Monate gedient hatte und nur unzureichend entlohnt wurde 138,

135

TLA, Max. 14, Konzepte, Miscellanea ohne Jahr, Teil 7.161. E–P, Maximilian und Tirol (wie Anm. 76) 42 –48. 137 Gerhard K, Kaiser Maximilian I. und das Kriegswesen der österreichischen Länder und des Reiches (Militärgeschichtliche Dissertationen österreichischer Universitäten 5, Wien 1985) 37 –41. Speziell zum Kriegsjahr 1510: Franz B, Der Krieg Maximilians I. mit Venedig 1510 (Separatdruck aus den Jahresberichten 1903/04 –1904/05 des bischöf lichen Privatgymnasiums Kollegium Petrinum in Urfahr, Linz 1905). 138 Als ewr kay. mt. mich in nagstverganngen Venedigischen Krieg verornet hat auf den Blasy Holtzl und Sigmund Pranndiser mich auftzunemen und mir mein sold bestimben als zehen guldin r. auf ain monet, hab ich mich demnach gehorsamiglclich und willigclich prauchen lassen gen Venedig schicken und auch in Vorjaul [Friaul], des dann kainer herfur hat wollen in der gestalt, als ich auch in das Gadober [Cadore] geschickt worden 136

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sondern auch noch seinem Herrn von Braunschweig 139 14 Gulden geliehen hatte, der aber nun, ohne seine Schulden beglichen zu haben, abgezogen sei. Üblicherweise war der Hauptmann oder der Rottmeister für die Bezahlung seiner Knechte zuständig 140. Nachdem der Raitkammer dieser Fall zugeteilt worden war, forderten die Räte vom genannten Sigmund Brandisser einen Bericht, der den Supplikanten als gehorsam beschrieb und empfahl, ihm sein ausständiges Geld zu bezahlen 141. Zwei sehr ausführliche Suppliken des Gewerken Leonhard Feierabend 142 beschreiben die Kriegshandlungen in Primiero (Primör), direkt an der Grenze zwischen der Grafschaft Tirol und Venedig, die aber durch die zahlreichen Handelsbeziehungen und die damit zusammenhängenden Grenzübertritte im Leben der Menschen nicht immer als solche wahrgenommen wurde 143. Die meisten Suppliken beschränkten sich auf ein bis zwei Seiten, die erste des Leonhard Feierabend umfasste jedoch nicht weniger als zwölf Seiten, deren Hauptanliegen nicht der Krieg gegen Venedig war, sondern das angeblich ungerechte Verhalten des damaligen Bergmeisters Max Metzenleiter gegen ihn 144. Bis ins 17. Jahrhundert hinein war der Großteil der Gewerken in diesem Raum deutschsprachig bzw. stammte aus deutschsprachigen Teilen Tirols 145. Durch den Krieg gegen Venedig wurde auch der Bergbau in der Region stark beeinträchtigt. Aus dem gewonnenen Erz sollte das Blei sogleich ausgeschmolzen werden, damit man es durch Vergraben vor einem möglichen Einfall der Feinde besser schützen konnte 146. In diesem Zusammenhang beschrieb Feierabend, dass die Gewerken ihr Silber zur Abnahme nach Hall bringen mussten, und berichtete von einem bevorstehenden Angriff Venedigs, der dann aber doch nicht stattgefunden haben dürfte: Darnach am

bin, in dem groszisten geschray, das ich nur am tag vor dem zug, als man gen Pleyff [Pieve (di Cadore)] zogen, heraus bin komen, und hab also auf funf monat gedient. Ist mir fur meine getrewe dienst nit mer worden dann xxii guldin r. von ewr kay. mt. phleger und ambtman zu Toblach Sigmunden Pranndiser. HHStA, RK, Max. Kart. 21, Konv. 3, fol. 139. Paul Weinberger dürfte demnach kein einfacher Landsknecht gewesen sein, der zu dieser Zeit durchschnittlich vier Rheinische Gulden als Sold erhielt. K, Maximilian 83. 139 Damit dürfte Herzog Erich von Braunschweig-Calenberg gemeint sein, der seit 1508 oberster Feldhauptmann im Pustertal und im Cadore war und bis 1510 im Dienst Maximilians stand. K, Maximilian 181 –183. 140 Ebd. 141 HHStA, RK, Max. Kart. 21, Konv. 3, fol. 139. 142 Leonhard Feierabend war ein bedeutender Bergwerksunternehmer in Primiero (Primör). TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Missiven 7 (1508), fol. 114r; ebd., Entbieten 17 (1513), fol. 97v (hier wird eine Supplik des Feierabend genannt) und fol. 336v; ebd., Geschäft von Hof 17 (1515 –1516), fol. 194v. 143 Ugo P, Ein Vorposten der Tiroler Grafen gegen die venezianische Ebene: Primiero im 14. und 15. Jahrhundert, in: Federico IV d’Asburgo e la contea vescovile di Feltre. Atti del Convegno „La Penetrazione Tirolese in Italia. Federico IV d’Asburgo e la contea vescovile di Feltre“. Friedrich IV. von Habsburg und die bischöf liche Grafschaft von Feltre. Tagungsberichte „Das Vordringen Tirols nach Italien. Friedrich IV. von Habsburg und die bischöf liche Grafschaft von Feltre“, hg. von Gianfranco G (Feltre 2001) 205 –214, hier 213 f. 144 Nicht ganz eindeutig ist, ob ihm im Zuge dieses Streits auch Güter genommen wurden, die ihm auf sein Bitten und anschließend auf etliche Befehle an die verschiedenen Bergrichter von Primiero zurückgegeben werden sollten. TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Missiven 14 (1515 –1516), fol. 367; ebd., Entbieten 20 (1516), fol. 362v, 372v –373r, 383r; ebd. 22 (1518), 219r, 221v, 222v, 405. 145 Herbert K, Bergbau an der Reichsgrenze: Zinnober-Bergbau und Quecksilber-Verhüttung in Vallalta (ehemals Venetien, Italien) und Sagron-Mis (ehemals Tirol, Österreich). Res montanarum 23 (2000) 7 –14, hier 7. 146 S, Überblick der Bergbaues (wie Anm. 103) 240.

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Weichen Pfinztag in der karwochen kam mir kuntschaft, dz die veind im willen hetten, in Primer zu vallen und warn in Egart kumen 600 stradioten unnd etlich fueszknecht, dergleichen lagen zu Alman, dz negst dorff bey Primer, 800 Venedig(er) unnd zu Veldters 4000 knecht, wolten in Primer vallen unnd wider auf die Laitter hinaus. An demselben tag zu abenntz kamen zwen Nóser von Velthers hinein unnd prachten kuntschaftn, dz sy unns gewislich an dreyen ortten wolten angreiffen. Also wart yederman vast erschrockhen, hielt wir ain ratschlag, wir wolten die vier allennthalben verschrannckhen, so wolt ich all pruckhen auf mein costung mit ygln verschrannckhen, alls ich an den schrannckhen machen ließ. . . . Will der erst man sein, der die veindt an will greiffen, verdruckht mir waidlich auf mich, das lobten sy mir zu thun. Alls wir aber stuennden bis auf newne auf den tag, kam mir kuntschaft, sy wárn wider hinder sich geruckht. Da zoch ich ab mit der ordnung 147. Mit dieser Beschreibung wollte Feierabend seine vorbildliche Rolle im Gegensatz zum vorhin genannten Bergmeister unterstreichen. Die zweite Supplik ist mit fünf Seiten vergleichsweise kurz, hier waren die im Krieg erlittenen Schäden das Hauptthema 148. Aufgrund der „günstigen Lage“ waren die Bergwerke in Primiero nicht nur besonders gefährdet, sondern auch bei den durchziehenden Truppen durchaus beliebt 149. Die Soldaten nahmen nicht nur Waffen, sondern die Hauptleute, die mit angeblich 500 Knechten unterwegs waren, hatten sich, wie Feierabend beschrieb, auch den ganzen Krieg über in seinem Hof einquartiert. Doch nicht genug, hatten die Anführer ihm auch noch allerlei Geld und andere Dinge genommen: Auch wann die fueßknecht manngl an wein unnd speis hetenn, so gabenns di hauptleut aus unnserm haus hinaus. Auch so manngl an gelt war, griffenn unns die haubtleut in unnser gellt, das wir den knappenn solltenn gebenn, unnd zaltenn die knecht darmit. Auch so nit gellt verhannden war, habenn sy unns ab den plicksilbern stuckh geschlagenn unnd den knechtn gebenn. Da er und seine Familie für diese Dienste keinerlei Bezahlung oder anderweitige Entschädigung erhalten hätten, hoffte Feierabend, diesbezüglich beim Kaiser Gehör zu finden 150. Flüchtlinge Den ansässigen Tirolern standen Personen gegenüber, die durch den Krieg aus ihren Wohnorten vertrieben worden waren und im Herrschaftsbereich Maximilians Zuflucht suchten. Ihre Suppliken berichten von unterschiedlichen Schicksalen. Die Familie Pasolt aus Feltre musste aufgrund der Kaisertreue des Vaters Hieronymus flüchten. Dieser starb aber auf der Reise und hinterließ fünf Kinder, drei Söhne und zwei Töchter. Nachdem sie mit Paul von Liechtenstein und Zyprian von Serntein in Kontakt getreten waren, baten sie auch um die Unterstützung Maximilians, damit sie nicht betteln gehen müssten 151. Auch zwei Brüder mit Namen Paulus und Bartholomäus aus Padua wurden von den Venezianern vertrieben und laut ihrer Aussage zum 147 TLA, Max. 12.33, fol. 179 –186. Die hier genannten Orte konnte ich bis auf Feltre auch nicht mittels einiger Urbare und älterer Landesbeschreibungen genauer identifizieren. 148 Ein weiteres Schreiben des Lienhard Feierabend zu den Schäden an das Regiment: TLA, Max. 12.33, fol. 191/194. 149 S, Überblick des Bergbaues (wie Anm. 103) 240. 150 TLA, Max. 12.33, fol. 187 –190. 151 Ebd. 14, Konzepte, Miscellanea ohne Jahr, Teil 6.163.

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Betteln gezwungen. Sie erhofften sich ebenfalls von Maximilian die nötige Unterstützung, insbesondere, da sie noch ihre Mutter und ihre Schwester aus der Gefangenschaft befreien wollten. Vollkommen mittellos dürften die beiden wohl noch nicht gewesen sein, boten sie dem Kaiser doch im Gegenzug für die Unterstützung zwei Pferde an 152. Auch der Jude Wolf Behaim aus Riva del Garda musste fliehen. Zwar hatte er es mit seiner Familie bis nach Trient geschafft – die anderen Verwandten hatte er zurücklassen müssen –, doch wollte ihm der dortige Bischof kein Asyl gewähren. Daraufhin bat der Flüchtling, ihm und seiner Familie einen Ort zu nennen, an dem sie sich niederlassen könnten. Wolf Behaim bekundete hierfür auch seine Bereitschaft, in den Dienst Maximilians zu treten 153.

Die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten: Adel, Geistlichkeit, Bürger und Bauern Adel Die Stellung des Landesfürsten war in Tirol vergleichsweise einflussreich, da der Adel mit weit weniger Grundherrschaften ausgestattet war als in anderen Ländern 154. Einige Adlige machten von der schriftlichen Form der Bitte Gebrauch, selbst wenn sie persönlichen Zugang zum Landesfürsten hatten. Die Adligen der Grafschaft Tirol supplizierten meist in Geldangelegenheiten und Rechtsstreitigkeiten an Maximilian. Gleich mehrere Wünsche äußerte Ritter Sixt Trautson 155 in zwei undatierten Suppliken. In einer bat er um eine Schaube aus Samt, die ihm Maximilian bei einer gemeinsamen Jagd versprochen hatte. Darüber hinaus suchte er um eine Erhöhung seiner Provision an und begehrte gleichzeitig Einnahmen aus dem Landmarschallamt, nachdem annder e. kn. mt. ambtleut inn der graffschaft Tyrol von iren ämbtern ettwas haben, allain ich nicht 156. In der zweiten Bittschrift suchte er um die Verleihung der Lehen seiner Vorfahren Balthasar und Kaspar Trautson sowie um die Lehen des Landmarschallamts und um eine Erweiterung derselben an. Außerdem hoffte er, vom König eine Entschädigung für die Schäden an seinem Schloss zu erhalten, zu deren Schätzung Maximilian jemanden schicken sollte. Ein entsprechendes Schreiben dürfte laut Vermerken auf der Rückseite tatsächlich ausgegangen sein 157. Geistliche Die Zahl von Personen aus dem kirchlichen Bereich, die an Maximilian supplizierten, ist mit 20 nicht sonderlich hoch, allerdings sind hier die Bitten der Klöster

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Ebd. HHStA, RK, Max. Kart. 44, Konv. VIII / 1, fol. 14. 154 E–P, Maximilian und Tirol (wie Anm. 76) 18. 155 Sixt Trautson starb im Krieg gegen Venedig in der Schlacht von Pleif / Pieve di Cadore am 2. März 1508: E–P, Maximilian und Tirol (wie Anm. 76) 42. 156 TLA, Pestarchiv XV 110. 157 HHStA, RK, Max. Kart. 43, Ohne Datum, VI. Briefe und Berichte an den Kaiser von Verschiedenen, fol. 26. 153

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nicht berücksichtigt, sofern nicht ein Geistlicher, eine Geistliche besonders hervortrat. Die Geistlichen ersuchten meist um Hilfe in verschiedenen Lebensbereichen sowie um Unterstützung in rechtlichen Angelegenheiten. Eine Besonderheit stellt hier die Bitte des Pfarrers Peter Ruepp aus Pfunds dar, der sich aufgrund der Zustände in seiner Pfarre an den König persönlich wandte, da sich der zuständige weltliche Richter nicht um die Missstände kümmerte. Zum einen hätten sich einige Männer nach dem Gottesdienst an Sonn- und Feiertagen zusammengesetzt, um Karten und andere Glücksspiele zu spielen. Zum anderen gäbe es Männer, die ihre Frauen schlecht behandelten, also ire eeliche weib gar unzimlich und groblich haltend, als ich vernym, unverschuld, und nit ansechend weder die gepurdt, so ire weib swanger sind oder irer kind noch an der brust sagend, daz zu besorgen sein mócht durch sólich fravel, mishandlung etwan ain gros ubel beschechen mócht. Nicht ohne mehrfach auf die durch dieses frevelhafte Verhalten angegriffene Ehre Gottes und das heilige Sakrament der Ehe hinzuweisen, bat er Maximilian, dem Richter von Pfunds zu befehlen, seinen vernachlässigten Pflichten nachzukommen 158. Bürger Ähnlich groß wie die Gruppe der Geistlichen ist die der identifizierbaren Bürger und Bürgerinnen, die eine Supplik an Maximilian richteten. Sie suchten in über der Hälfte der Fälle um Hilfe und Unterstützung an, wie schon bei der Bitte des Metzgers Ulrich Steinberger aus Brixlegg angeklungen ist. Ebenfalls um sein Handwerk ging es dem Goldschmied Urban Krammer 159 aus Bozen. Er bat, sein in Nals geschmolzenes Silber in Bozen anstatt in Meran wiegen zu lassen und mittels einer in Bozen ausgestellten Urkunde den Wechsel zu Meran zu zahlen. Darüber hinaus wünschte er von Maximilian, dass dieser dem Meraner Bergrichter anordne, eine geeignete Waage für Bozen fertigen zu lassen 160. Bauern Bäuerliche Untertanen sind nur in fünf Suppliken mit Sicherheit auszumachen. Die Ansuchen von Benedikt und Thomas Maurer, von Hans Weber aus Pill in Passeier sowie von Hans Pädn aus Aschl im Landgericht Meran werden heute gemeinsam aufbewahrt. Sie sind einander in mehrfacher Hinsicht ähnlich. Die beiden letztgenannten sind eindeutig vom selben Schreiber zu Papier gebracht worden, ähneln einander auch inhaltlich stark und erlauben Rückschlüsse auf bestehende Rechtsverhältnisse. Zu dieser Zeit kamen in Tirol vorwiegend vier Besitzformen vor: erstens das freie Eigen, das vor allem in den westlichen Hochtälern verbreitet war, wohl aufgrund der mangelnden wirtschaftlichen Rentabilität für die Grundherren; zweitens ein Lehen ohne Zinspflicht, drittens eine Leihe gegen Zins zu Erbrecht und viertens dasselbe,

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TLA, Max. 14, Geistliche Sachen ohne Jahr 160. Er war auch Lehenträger für die Kinder des verstorbenen Goldschmieds Lorenz Scheitl von Bozen: TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Bekennen 9 (1509), fol. 55. 160 TLA, Max. 12.48, fol. 28. 159

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doch ohne das Recht auf Vererbung (Freistift) 161. In den drei Suppliken ging es um den Nachlass von Zinszahlungen für die kommenden Jahre, da die Höfe der Supplikanten durch Feuer – bei Hans Weber wird die Ursache des Schadens nicht genannt – zerstört worden waren 162. Sie hatten sie demnach zu Erbrecht oder Freistift inne. Auch Thomas Butzentaler, der einen Hof im Gebiet der Pfarre Naturns im Vinschgau bewirtschaftete, suchte um Minderung seines Zinses von 17 Pfund Berner, zwölf Mutt Korn und einer murle Bohnen an, den er jährlich an das Kellenamt an Meran zahlte, da es ihm sonst fast unmöglich wäre, seine sieben Kinder zu ernähren 163. Diese Supplik ist zunächst an die Innsbrucker Raitkammer 164 und dann an den Kellner von Tirol geschickt worden, der sie gemeinsam mit einem Bericht an das Regiment bzw. die Raitkammer zurückstellte. Daraus wird deutlich, dass auch Bitten von relativ geringem Umfang geprüft und nicht immer aus Gnade gewährt wurden. Der Kellner berichtete nun, dass der Hof des Supplikanten ziemlich hoch oben am Berg lag und daher wenig Ernte einbrachte. Darüber hätte er auch mit anderen Bauern der Gegend gesprochen. Er gab aber zu bedenken, dass Butzentaler den Hof für über 100 Gulden gekauft hätte, und sprach über weitere Handlungen des Bauern bezüglich einiger Gütertransaktionen. Daraufhin ersuchte er von den kaiserlichen Räten zu erfahren, ob er ihm nun den Zins mindern solle oder nicht. Auf der Rückseite dieses Stückes wurde dann mit Fiat eine Entscheidung notiert, nämlich dass man Butzentaler einen Jahreszins erlassen möge 165. Ein anderes Anliegen hatten die Eheleute Hans und Anna Stuyxner aus Navis. Sie baten Kaiser Maximilian I., dass er seinem Pfleger von Steinach, Hildebrand Spaur 166, anordne, ihnen eine Teilung ihres Anteils von drei Vierteln eines Hofes, der früher wohl schon für zwei Familien ausreichend war und über zwei gute Behausungen verfügte, und damit die Übergabe an ihre beiden Kinder zu erlauben 167. Die Bauern unterstanden zu einem Großteil der Schutzherrschaft des Landesfürsten 168 und mit Ausnahme der Hofmarken dem Landrichter 169. Der Pfleger meinte aber in jenem Fall gegenüber dem Ehepaar, ohne kaiserlichen Befehl dem Anliegen nicht zustimmen

161 Otto S, Bauern und Landesfürst in Tirol und Vorarlberg, in: Adel und Bauern im deutschen Staat des Mittelalters, hg. von Theodor M (Leipzig 1943) 170 –212, hier 176 –183; Otto S, Rechtsgeschichte des Bauernstandes und der Landwirtschaft in Tirol und Vorarlberg (Bozen 1949) 214 – 224. 162 TLA, Pestarchiv XXX 7-1, 7-3, 7-4. 163 TLA, Max. 14.1510.26. 164 TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 14 (1510), fol. 58r, 157r. Bereits einige Wochen zuvor wird eine Supplik von Thomas Butzentaler erwähnt, bei der es sich der inhaltlichen Beschreibung nach aber nicht um die hier genannte handelte, ebd., Geschäft von Hof 14 (1509), fol. 58r. 165 TLA, Max. 14.1510.26. Das zugehörige Schriftstück findet sich bei TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Entbieten 14 (1510), fol. 325. 166 Hildebrand Spaur war nicht nur Pfleger von Freundsberg, sondern auch ab 1507/1508 als Nachfolger von Kaspar Schmid Pfleger von Steinach, obwohl er das Amt zumindest anfangs nicht haben wollte; er erhielt dafür unter anderem Schloss Matrei. TLA, Oö. Kammer, Kopialbücher, Missiven 6 (1507), fol. 32v, 100r; ebd., Bekennen 8 (1508), fol. 154; ebd., Entbieten 12 (1508), fol. 147r, 159v, 175v. 167 TLA, Max. 14.1516/2c, fol. 129r. 168 Adelina W, Die politische Repräsentation des gemeinen Mannes in Tirol. Die Gerichte und ihre Vertreter auf den Landtagen vor 1500 (Veröffentlichungen des Südtiroler Landesarchivs 41, Innsbruck 2017) 33. 169 S, Bauern und Landesfürst (wie Anm. 162) 195.

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Nadja Krajicek

zu können 170. Nachdem die Petenten in der Narratio alle rechtlichen Dinge wie Besitzurkunden sowie die Größe des Hofs kundgetan hatten, unterstrichen sie in der Petitio die existenzielle Notwendigkeit ihres Anliegens: Ist demnach, e. kay. mt., unnser allerundertánigist pit, die welle so genedig sein, unns solch tailung den gruntrechten unvergriffen g. vergunnen unndt deshalb bevelch an den von Spawr geben, inangesehenn dz vor getailt gewesenn unnd wirs khainem frómbden, sonnder unsern kynnden zu geben, damit dannocht di tailung in der freundtschaft beleibt, dann wo wir solhs nit thun móchten, muessten wirs gar verkhauffen, davon wir unnd unnser kynnden khámen 171. Die Bitte wurde an die Kammer weitergeleitet, die wiederum von Pfleger oder Richter einen Bericht zu dieser Sache forderte 172.

Resümee Dieser Beitrag konnte nur einen kleinen Einblick in das Supplikenwesen unter Maximilian I. in Tirol gewähren. Bereits bei der Beschreibung des Geschäftsgangs ist deutlich geworden, dass klare Antworten in Bezug auf die Verwaltung schwer zu finden und auch nicht ohne Weiteres mit den normativen Vorgaben in Verbindung zu bringen sind. Die Suppliken waren auch nicht speziell für Tirol ausgelegt, und die Handhabung wird kaum in der gesamten Regierungszeit Maximilians einheitlich erfolgt sein. Die beträchtliche Zahl an Suppliken und die gezeigten Beispiele lassen die Erwartungshaltung der Tiroler und Tirolerinnen gegenüber ihrem Landesfürsten als Helfer, der sie in ihrer (Not-)Situation unterstützen sollte, deutlich werden. Zwar scheint sich theoretisch jedem die gleiche Möglichkeit geboten zu haben, sich an Maximilian zu wenden, letztlich machten das hofnahe Umfeld, Adlige oder reiche Gewerken häufiger davon Gebrauch als der einfache Bergmann oder Bauer. Doch gibt es auch vereinzelte Suppliken der letztgenannten Gesellschaftsgruppen, über die ansonsten kaum bis gar keine weiteren Quellen existieren dürften. Auf diese Weise können die Auswirkungen einiger Entwicklungen, seien es wirtschaftliche Schwankungen, der Aufschwung im Bergbau, Kriegszeiten oder Änderungen in der Verwaltung ergänzend zu den normativen Quellen beleuchtet werden. Für eine Analyse gesellschaftlicher Umbrüche sind 242 Suppliken mit Sicherheit zu wenig, aber die Suppliken und die darin enthaltenen Schilderungen erlauben doch ihre Verdichtung an der einen oder anderen Stelle.

170 Nun will etwaz in unnserm vermugen nit mer wol sein, sollichs guetl allain zu arbaitten, unnd wáren des willens, zwayen unnsern elich kynnden yedem halbs zuczustellenn unndt uberczuanntwurtten, damit wir unns unnd sy sich auch destpas ennthalten unnd erneren kundten. Unnd dieweil solh guetl e. k. mt. geen Stainach zinsper ist, vermaint herr Hilprannt von Spawr alls phleger an sonnder bevelch e. mt. dise tailung nit zueczugeben. TLA, Max. 14.1516/2c, fol. 129r. 171 Ebd. 172 Ebd. 129.

Bitten an den ungeliebten Herrn Erzherzog / König Maximilian in den Burgundischen Ländern Christian Lackner

„Le gouvernement des premiers Habsbourg, Maximilien d’Autriche et Philippe le Beau, demeure un des épisodes les moins bien connus de l’histoire des Pays-Bas. La connaissance de cette zone frontalière a en effet payé un lourd tribut au découpage chronologique de l’histoire.“ So formulierte vor knapp zehn Jahren einer der besten Kenner der mittelalterlichen Geschichte der burgundischen Niederlande, Marc Boone 1. Erst langsam würde diese Periode stärker in den Blick gerückt und erforscht, und Boone verwies zuerst auf seinen Historikerkollegen Jean-Marie Cauchies und dessen Buch „Philippe le Beau. Le dernier duc de Bourgogne“ 2, dann auf seine eigenen Forschungen zu Peter Lanchals (1441/42 –1488) 3 sowie die Arbeiten von Jelle Haemers. Insbesondere letzterer hat in jüngster Zeit zwei grundlegende Studien zur Geschichte Flanderns im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts vorgelegt 4, so dass das eingangs zitierte Diktum Marc Boones aus dem Jahre 2007 heute wohl nicht mehr im gleichen Umfang Geltung besitzt, wie dies noch vor zehn Jahren der Fall war. Ziemlich einig ist sich die historische Forschung hinsichtlich der allgemeinen Charakteristik der letzten zwei Jahrzehnte des 15. Jahrhunderts in den burgundischen Niederlanden. Diese gelten weithin als eine von politischer Gewalt, Auseinandersetzungen und Konflikten geprägte Epoche, als eine ausgesprochene Krisenzeit. In den 1 Marc B, La Justice politique dans les grandes villes flamandes, in: Les procès politiques (XIVe –XVIIe siècle), hg. von Yves-Marie B (Collection de l’École française de Rome 375, Rome 2007) 183 –218, hier 206. 2 Jean-Marie C, Philippe le Beau. Le dernier duc de Bourgogne (Burgundica 6, Turnhout 2003). 3 Vgl. Marc B, Art. Lanchals (Pieter). Nationaal Biografisch Woordenboek 13 (1990) 471 – 480; ., Un grand commis de l’État burgundo-habsburgeois face à la mort: le testament et la sépulture de Pierre Lanchals, Bruges, 1488, in: Miscellanea in memoriam Pierre C (1938 –2008). Aspects de la vie culturelle dans les Pays-Bas Méridionaux (XIVe –XVIIIe siècle), hg. von Frank D–Ann K (Bruxelles 2009) 63 –88; ., La Hollande, source de capital social pour un Flamand ambitieux? Les intérêts et les aventures de Pierre Lanchals, grand commis de l’Etat Burgundo-Habsbourgeois (vers 1441/42 – 1488), in: Power and Persuasion. Essays on the Art of State Building in honour of W. P. B, hg. von Peter C. M. H–Antheun J–Robert S (Turnhout 2010) 197 –223. 4 Jelle H, For the Common Good. State Power and Urban Revolts in the Reign of Mary of Burgundy (1477 –1482) (Studies in European Urban History 17, Turnhout 2009); ., De strijd om het regentschap over Filips de Schone. Opstand, facties en geweld in Brugge, Gent en Ieper (1482 –1488) (Ghent 2014).

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Worten von Jean Marie Cauchies klingt dies wie folgt: „Par les dévastations engendrées [. . .], par les coupes sombres opérées dans la population – victimes et migrants –, par les dégâts causés aux cultures et aux biens, par l’instabilité monétaire, par le climat permanent d’insécurité résultant de tous ces maux, les années séparant la tragédie de Nancy de la paix de Cadzand figurent parmi les plus noires de l’histoire des Pays-Bas à la fin du moyen âge.“ 5 Marc Boone hat dieses düstere Szenario in eine blutige Statistik gefasst: In den beiden flandrischen Metropolen Gent und Brügge zählt er für den Zeitraum von 1482 bis 1492 nicht weniger als 81 politisch motivierte Todesurteile. Die beiden feindlichen Lager, Maximilian und die drei Glieder von Flandern (Drie Leden van Vlaanderen), Gent, Brügge und Ypern, blieben einander nichts schuldig, haben sich gleichermaßen der Todesstrafe bedient, um missliebige Personen aus dem Weg zu räumen. 38 Gegner Maximilians traten den Weg aufs Schafott an (9 in Gent, 29 in Brügge). Dem stehen 43 Anhänger Maximilians gegenüber, die auf Befehl städtischer Magistrate hingerichtet wurden, 31 in Gent und 12 in Brügge 6. Das Urteil der belgischen und niederländischen Historiographie über Maximilians Regierungshandeln fällt seit jeher denkbar schlecht aus. Man muss da nicht auf die Antrittsrede des berühmten belgischen Historikers Henri Pirenne als Rektor der Universität Gent zurückgreifen, wo er über die österreichische Geschichte insgesamt ein vernichtendes Urteil abgab: „Cette histoire [i. e. l’histoire de l’Autriche], qu’estce autre chose, en effet, sinon celle de la dynastie la plus rapace et la plus intrigante qui ait jamais existé? Depuis qu’avec cet heureux parvenu de Rodolphe de Habsbourg elle a pris pied dans la vallée du Danube, elle ne cherche plus qu’à pousser ‚plus outre‘ les bornes de ses domaines. Tout lui est bon, pourvu qu’elle s’étende, et ses mains avides s’agrippent, au gré des circonstances, à la Bohème, à la Pologne, à l’Hongrie, à l’Allemagne, à l’Italie et jusqu’aux Pays-Bas.“ Das war 1919 gesprochen, zu Beginn des neuen akademischen Jahres, die erste Rede des neuen Rektors, nachdem das Land von der deutschen Besetzung befreit und Pirenne selbst aus dem Gefängnis entlassen worden war 7. Indes auch die gegenwärtigen belgischen und niederländischen Historiker lassen keinen Zweifel an ihrer sehr kritischen Bewertung der Anfänge der habsburgischen Dynastie in den burgundischen Niederlanden. Als erster sei hier erneut Marc Boone zitiert: Für ihn ist der zentrale Punkt und Schlüssel zum Verständnis, „l’incapacité de Maximilien d’Autriche à se conformer à la culture politique des PaysBas bourguignons et à entamer la voie longue, mais finalement moins coûteuse, des négociations“ 8. Zwischen dem neuen Landesherrn Maximilian, umgeben von einer aus dem Osten mitgebrachten und der politischen Kultur Burgunds fernstehenden Entourage, und den heimischen Eliten, den eigentlichen Stützen des burgundischen Staatsgebildes („construction politique bourguignonne“), sei, so Marc Boone, die Entfremdung denkbar groß gewesen. Und erst Maximilians Sohn Philipp habe schrittweise

5

C, Philippe le Beau (wie Anm. 2) 20. B, Justice politique (wie Anm. 1) 206 f. 7 Das Zitat aus der Rektoratsrede Pirennes nach Jelle H, Faire son prouffit. Die Finanzpolitik Maximilians I. und die städtischen Aufstände in den Niederlanden (1477 –1488), in: Habsburger Herrschaft vor Ort – weltweit (1300 –1600). Beiträge einer Tagung auf Schloss Lenzburg bei Zürich 9. bis 11. Oktober 2008, hg. von Jeannette R–Simon T–Thomas Z (Ostfildern 2013) 187 – 209, hier 187. 8 B, Justice politique (wie Anm. 1) 216. 6

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einen vorsichtigen Ausgleich herbeizuführen vermocht 9. Wim Blockmans sieht es ganz ähnlich: „Mit der Autonomie der großen Städte und insbesondere der weitgehenden Mitbestimmung der Zünfte in Flandern und Brabant konnte er [Maximilian] nicht wirklich umgehen und in diesem Punkt paßte er sich auch im Lauf der Zeit nicht an. Sein persönliches Auftreten – im Gegensatz zu dem Albrechts von Sachsen und dem seines Sohnes Philipp – trug dann auch wiederholt zu einer Verschärfung der Gegensätze bei.“ 10 Auch Blockmans ortete beim Habsburger „Unverständnis“ für die politische Kultur der burgundischen Niederlande. Jelle Haemers schließlich titelte unlängst „Maximilian von Habsburg und die Niederlande: eine stürmische Ehe“ 11. Und doch scheint Haemers bemüht, um Verständnis für Maximilians niederländische Politik zu werben, indem er einräumte: „Die Auf lagen, denen er [Maximilian] sich 1477 beugen musste, hätten jeden Nachfolger von Karl dem Kühnen und Maria von Burgund behindert“; jeder hätte diese zu umgehen versucht, ja versuchen müssen. Dann fährt Haemers aber zunehmend kritisch fort: „Beim Lösen des politischen Korsetts“ sei Maximilian doch „etwas zu ungestüm ans Werk“ gegangen. Und: „Vielleicht war Maximilian einfach nicht der rechte Mann in der rechten Position zur rechten Zeit, was man auch von seinem Urenkel Philipp II., König von Spanien, sagen könnte.“ 12 Das Thema, dem dieser Beitrag gelten soll, „Suppliken an Erzherzog / König Maximilian in den burgundischen Niederlanden“, hat bisher, soweit ich sehe, kaum nennenswerte Aufmerksamkeit gefunden. Eine einschlägige Untersuchung fehlt jedenfalls. Überhaupt sind Bittschriften erst in allerjüngster Zeit in den Blick der belgischen bzw. niederländischen Mediävistik gekommen. Es ist der schon mehrfach zitierte Jelle Haemers gewesen, der das Thema zuletzt 2014 13 und 2016 14 in zwei Aufsätzen aufgegriffen hat. Sein Untersuchungsfeld bildete vor allem die Grafschaft Flandern im 13., 14. und 15. Jahrhundert. Ausgehend von der Stadtgeschichtsforschung, welche für die flandrische Städtelandschaft gemeinhin eine lebhafte Tradition des bürgerlichen Widerstandes mit sehr hohem Gewaltpotential konstatiert, versuchte Haemers durch ein „close reading“ bisher wenig beachteter Quellentypen, namentlich der Bittschriften, das Element des gewaltfreien städtischen Widerstandes („use of peaceful resistance“) stärker hervorzuheben. „Historians have shown that petitions were one of the most frequently used collective means of the citizens’ ‚repertoire‘ to influence urban politics. They were presented ‚as peaceful munitions‘ to regional lords and territorial princes, urban rulers and sovereign monarchs.“ 15 Wolle man die städtischen Erhebungen in den 9

Ebd. 217. Wim B, Maximilian und die burgundischen Niederlande, in: Kaiser Maximilian I. Bewahrer und Reformer, hg. von Georg S- R (Ramstein 2002) 51 –67, hier 65. 11 H, Faire son prouffit (wie Anm. 7) 189. 12 Ebd. 209. 13 Jelle H, Ad petitionem burgensium. Petitions and peaceful resistance of craftsmen in Flanders and Mechelen (13th –16th centuries), in: Los grupos populares en la ciudad medieval Europea, hg. von Jesús Ángel S T–Beatriz A B–Jelle H (Logroño 2014) 371 –394. Vorausgegangen war schon mit ähnlicher Thematik: Jelle H–Christian D. L, Popular Politics in the Late Medieval City: York and Bruges. EHR 128 (2013) 771 –805. 14 Jelle H, Révolte et requête. Les gens de métiers et les conflits sociaux dans les villes de Flandre (XIIIe –XVe siècle). RH [318]/1 = 677 (2016) 27 –56. 15 D., Ad petitionem burgensium (wie Anm. 13) 378. – Ganz ähnlich ., Révolte (wie Anm. 14) 35: „Composer des suppliques était donc la concrétisation de la participation politique des gens de métiers en ville.“ 10

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Niederlanden wirklich verstehen, so Haemers, tue man gut daran, den Bittschriften der Rebellen in den Archiven nachzuspüren. Diese würden mehr verraten als die vielen zeitgenössischen Berichte über blutige Konflikte 16. In diesem Sinne ist der Titel von Haemers zweitem 2016 erschienenen Beitrag „Révolte et requête“ durchaus programmatisch zu verstehen. Vom forschungsleitenden Interesse bestimmt, konzentrierte Haemers sich in den beiden Aufsätzen auf Kollektivpetitionen jener Personengruppen, die als Akteure auch zentral im Mittelpunkt der städtischen Revolten in den burgundischen Niederlanden standen. Das sind in erster Linie die städtischen Handwerker und Mittelschichten 17. Adressiert waren die Bittschriften nicht immer, ja im Grunde eher nur in Ausnahmefällen, an den Grafen von Flandern, oftmals dagegen an die städtischen Magistrate oder die Gildenführung 18. Solchen Bittschriften als zentralem Kommunikationskanal eines Bottom-up-Prozesses ging Haemers nach, beginnend mit den ersten überlieferten Suppliken aus dem späten 13. Jahrhundert. Auch einige ganz vereinzelte Beispiele aus den Regierungsjahren Maximilians (1477 –1493) kann er beibringen 19. Es gibt aber noch einen zweiten Forschungsdiskurs, bei dem Bittschriften zumindest am Rande eine Rolle spielen. Die Rede ist vom Gnadenrecht der burgundischen Herzöge, mit dem sich zuletzt mehrere Arbeiten vor allem von Walter Prevenier beschäftigten 20. Den ersten Schritt im Begnadigungsverfahren bildete nämlich eine Bittschrift des bzw. der Verurteilten, die freilich nur noch in den seltensten Fällen erhalten ist. Nach Prüfung des Sachverhalts durch den herzoglichen Rat konnte der Fürst von seinem Recht zur Begnadigung Gebrauch machen. Zur vollen Wirksamkeit gelangte der fürstliche Gnadenakt allerdings erst, wenn der Gnadenbrief nach neuerlicher Prüfung des Prozessverfahrens von einem der regionalen Gerichtshöfe, sei es in Flandern, Brabant oder Holland, registriert wurde (intérinement) 21. Einen hochpolitischen Fall aus der Zeit der Regierung Maximilians in den Niederlanden, jenen des Adriaan Vilain, Herrn von Liedekerke, hat Prevenier im Detail analysiert. 16 Ebd. 30: „. . . si les historiens veulent vraiment comprendre les révoltes urbaines, il vaut mieux étudier les traces d’encre que les rebelles ont laissées dans les archives, que celle du sang qu’on retrouve dans les récits de l’époque“. 17 Jan D, „Our land is only founded on trade and industry.“ Economic discourses in fif teenth-century Bruges. JmedHist 36 (2010) 374 –389, hier 375: „In some cases, it was the artisan middle classes, leading the lower strata of unskilled workers, who rebelled against the commercial and patrician elites within the towns. In other cases, politically frustrated factions of the elites joined with the guild-masters to gain power for themselves and their networks.“ 18 Das gilt u. a. für die beiden von Haemers untersuchten Petitionen aus dem Jahre 1488 (Februar und Juni): In beiden Fällen erscheinen die städtischen Magistrate formal als Adressat: die Rede ist jeweils von wet (Gesetz), worunter der Bürgermeister und die Schöffen („bench of aldermen“) zu verstehen sind. Vgl. D, Our land (wie Anm. 17) 378; H, Révolte (wie Anm. 14) 32 f. 19 Ebd. 32 f., 40 f., 45 f. 20 Walter P, The Two Faces of Pardon Jurisdiction in the Burgundian Netherlands. A Royal Road to Social Cohesion and an Effectual Instrument of Princely Clientelism, in: Power and Persuasion (wie Anm. 3) 177 –195; ., Vorstelijke genade in de praktijk. Remissiebrief voor Matthieu Cricke en diens mede-acteurs voor vermeende vrouwenroof in oktober 1476, slechts geïnterineerd na kritische verificatie door de raadsheren van het Parlement van Mechelen. Bulletin de la commission royale 175 (2009) 225 –258; zuletzt Peter A–Walter P, Honor, Vengeance, and Social Trouble. Pardon Letters in the Burgundian Low Countries (Ithaca 2015). 21 P, The Two Faces (wie Anm. 20) 178; A–P, Honor (wie Anm. 20) 4 – 12.

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Dieser Adriaan Vilain hatte mit einigen Helfern am 13. Dezember 1477 Antonia von Rambures, die Witwe des Guy de Brimeu, Herrn von Humbercourt, der als der bedeutendste Berater des Herzogs Karl des Kühnen gemeinsam mit Kanzler Hugonet acht Monate zuvor in Gent auf Betreiben der rebellierenden Stände Flanderns hingerichtet worden war, vor den Toren von Mecheln entführt. Herzogin Maria und ihr Ehemann Maximilian setzten alle Hebel in Bewegung, um die Witwe Guy de Brimeus wieder frei zu bekommen, was auch gelang 22. Der Entführer kam in Rupelmonde ins Gefängnis, aus dem er freilich im September 1478 entweichen und zunächst in der englischen Enklave Calais, in weiterer Folge bei Jakob, Grafen von Romont, einem der Heerführer Maximilians, Schutz finden konnte. Des Letzteren Patronage dürfte Vilain dann auch 1481 die Begnadigung durch Maximilian eingetragen haben 23. Bis der maximilianeische Gnadenbrief (lettres de rémission) im Rat von Flandern registriert wurde, sollten indes noch zehn Jahre vergehen (26. August 1491) 24. Insgesamt scheint die Erforschung des Supplikenwesens in den spätmittelalterlichen burgundischen Niederlanden erst ziemlich am Anfang zu stehen. Und dies dürfte nicht zuletzt der problematischen Quellenlage geschuldet sein. Jelle Haemers hat zuletzt ganz unmissverständlich klar gemacht, dass im Unterschied etwa zu England keine größeren Bestände bzw. Archivserien von Suppliken aus dem Gebiet der burgundischen Niederlande bekannt sind 25. Dass ich mich an dieses Thema gewagt habe, hat mit meiner bisherigen Beschäftigung mit dem Supplikenwesen Maximilians I. zu tun. Dabei fiel mir eine von Joseph Chmel schon 1855 in den Monumenta Habsburgica im Druck bekannt gemachte kleinere Gruppe von einem halben Dutzend Suppliken aus der Regierungszeit des Habsburgers in den burgundischen Niederlanden (1477 – 1492) auf, die bisher, wie mir scheint, von der Forschung nahezu unbeachtet geblieben ist 26. Es versteht sich von selbst, dass von einem derart schmalen Quellencorpus keine repräsentativen Ergebnisse bezüglich der Supplikationspraxis in den burgundischen Niederlanden zur Zeit Maximilians erwartet werden können. Was freilich möglich erscheint, ist der Versuch einer Einordnung dieser Stücke in das bisher Bekannte, sei es hinsichtlich der Form der Bittschriften, sei es auch in Bezug auf den Geschäftsgang und die Erledigung derselben. Und dies will ich im Folgenden versuchen. Zunächst zum bisher Bekannten: Aus den wenigen erhaltenen Originalbittschriften lässt sich tatsächlich kein klares Bild vom Supplikenwesen in den burgundischen Niederlanden zu Ausgang des Mittelalters zeichnen. Abgewiesene Bittschriften seien, so

22 P, The Two Faces (wie Anm. 20) 183 f.; A–P, Honor (wie Anm. 20) 138 –146. – Eine etwas abweichende Darstellung des Geschehens findet sich bei Werner P, Guy de Brimeu (Pariser Historische Studien 12, Bonn 1975) 502 –504; zur Sache vgl. auch H, For the Common Good (wie Anm. 4) 125 f. 23 P, The Two Faces (wie Anm. 20) 183 f. Vgl. A–P, Honor (wie Anm. 20) 143 f., 165 –167 (Letter no. 14). 24 A–P, Honor (wie Anm. 20) 167 f. (Letter no. 15). 25 H, Révolte (wie Anm. 14) 32: „. . . on ne dispose pas des collections bien conservées des ordonnances urbaines pour la Flandre médiévale, ni des séries d’enregistrement systématique des pétitions (comme en Angleterre)“. 26 Joseph C, Monumenta Habsburgica I / 2: Actenstücke und Briefe zur Geschichte des Hauses Habsburg im Zeitalter Maximilian’s I. (Wien 1855) 422 –426 Nr. CXI –CXV. – Die Stücke erliegen heute überwiegend im HHStA Maximiliana Kt. 43/VII / 1 fol. 55 (C Nr. CXIII), fol. 57 (C Nr. CXIV); Kt. 44 fol. 52 (C Nr. CXV), fol. 82 (C Nr. CXII), fol. 145 (C Nr. CXI).

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Haemers, durchwegs vernichtet worden, aber auch die erfolgreichen Suppliken hätten eine kaum höhere Überlieferungschance gehabt – denn wozu diese archivieren, wo sie doch als „Konzept“ für die endgültige Ausfertigung ihren Zweck erfüllt hätten 27. Was Haemers damit meint, vermag ein Beispiel aus der Zeit Herzog Philipps des Guten, nämlich aus dem Jahr 1454, zu illustrieren. Damals war vom Kloster St. Peter (Gent) dem Herzog eine Bittschrift übergeben worden, die noch heute in den Archives Départementales du Nord unter den Beständen der Chambre des Comptes von Lille erliegt. Der herzogliche Sekretär, der die von St. Peter impetrierte Urkunde vorbereitete, verwendete die Supplik gleich als Konzept, fügte die entsprechenden Formularteile hinzu, ließ aber den Hauptteil der Bittschrift bis auf die erforderlichen grammatikalischen Anpassungen und Retuschen unberührt 28. Dies der seltene Fall einer Originalsupplik, die sich in einem Behördenarchiv, jenem der Chambre des Comptes von Lille erhalten hat. Etwas häufiger dürfte Überlieferung im Archiv des Petenten sein. Die in der Literatur bisher am meisten diskutierte Bittschrift aus der Regierungszeit Maximilians in den burgundischen Niederlanden stammt aus dem annus horribilis 1488, dem Jahr der Gefangenschaft Maximilians, und ist nicht an diesen, den ungeliebten Fürsten, gerichtet, sondern an die städtischen Magistrate von Brügge, indirekt dann wohl auch, so darf man annehmen, an die membra von Flandern, die die Grafschaft im Namen Philipps des Schönen regierten. Es ist ein kleines Papierheft mit 78 Beschwerdepunkten, das wohl nach Notizen bei der Versammlung des großen Rates von Brügge im Februar des Jahres durch einen Schreiber der städtischen Administration redigiert und in Form gebracht wurde 29 und von dem Jelle Haemers meint, die Erhaltung des Stücks verdanke sich dem Umstand, dass Kopien der Schrift an die Zünfte als Petenten verteilt wurden; das erhaltene Exemplar trägt die Aufschrift corduwaniers 30. Dass die allermeisten Herzogsurkunden auf Bittschriften zurückgingen, wiewohl solche sich kaum erhalten haben, scheint in der Forschung unbestritten. Für die Zeit Herzog Philipps des Guten liegen dazu valide, belastbare Zahlen vor. Jonas Braekevelt hat 974 Ordonnances 31 Herzog Philipps für flandrische Empfänger aus dem Zeitraum 1419 bis 1467 diesbezüglich analysiert und kommt zum Ergebnis, dass die auf Suppliken zurückgehenden Ausfertigungen klar überwogen; ja einmal formuliert er sogar: „Motu proprio legislation remained extremely rare“ 32. Aussagen dieser Art für die 27 H, Révolte (wie Anm. 14) 32: „Mais même approuvées, les requêtes dans leur forme originale étaient détruites après qu’elles furent mises sur la table des autorités – devenu superflu, il était inutile de conserver le ‚brouillon‘ de l’ordonnance finale.“ 28 Vgl. dazu Jonas B, Popular Voices within Princely Legislation: Assessing the Discourse of Flemish Petitions and Burgundian Narrationes. Communication and Popular Politics, in: The Voices of the People in Late Medieval Europe, hg. von Jan D–Jelle H–Hipólito Rafael O H–Vincent C (Studies in European Urban History 33, Turnhout 2014) 149 –165, hier 152. 29 D, Our land (wie Anm. 17) 378; H, Révolte (wie Anm. 14) 33, 40 f. 30 H, Révolte (wie Anm. 14) 33. 31 Zum Begriff „ordonnance“ vgl. Jonas B–Jan D, Diplomatique et discours politiques. Une analyse lexicographique qualitative et quantitative des ordonnances de Philippe le Bon pour la Flandre (1419 –1467). RH 314/2 = 662 (2012) 323 –356, hier 326: „Pour la Commission royale, une ordonnance est un type de charte défini come suit: il doit s’agir d’un acte qui concerne ‚un objet d’intérêt général, ou un objet d’intérêt particulier dans ses rapports avec l’intérêt genéral‘“. 32 B, Popular voices (wie Anm. 28) 165. Vgl. auch B–D, Diplomatique (wie Anm. 31) 330 f.; H, Révolte (wie Anm. 14) 32.

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Regierung Maximilians in den burgundischen Niederlanden sind bedauerlicherweise derzeit noch nicht möglich. Bleiben noch normative Texte, namentlich Hofordnungen, als mögliche Quelle für das Supplikenwesen. Die Überlieferung dieses Quellengenus ist reichhaltig, der Editionsstand dank der Initiative von Werner Paravicini zumindest für die ältere Zeit exzellent 33. Nun liegt es durchaus nahe anzunehmen, dass das französische Königtum dem burgundischen Herzogshaus auch im Falle des Supplikenwesens als Vorbild gedient haben könnte. In Frankreich sind es die maîtres des requêtes, die seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert eine Schlüsselstellung im Umgang mit Petenten und deren Bittschriften innehatten 34. Und tatsächlich begegnet diese Funktion auch in den burgundischen Hofordnungen des 15. Jahrhunderts, zuletzt in jener Herzog Philipps des Guten aus dem Jahre 1458, ohne dass freilich Näheres über deren Aufgaben erkennbar wäre. Es wird hier lediglich bestimmt, der Herzog solle zwei maistres des requestes, die dauernd Dienst versehen, und neun weitere Amtsträger dieses Titels, die sich im vier Monatsrhythmus abwechseln sollten, bestellen 35. Als durch die Ordonnance von Thionville Herzog Karl der Kühne im Dezember 1473 den obersten Gerichtshof in Mecheln einrichtete, begegnen dort als Mitglieder wiederum u. a. sechs maistres des requestes 36, wobei angeordnet wurde, dass Klagsschriften (requestes) in deren Anwesenheit vom Vorsitzenden des Justizrates bzw. bei Abwesenheit des Präsidenten von den maistres des requestes selbst zu bearbeiten seien 37. Es ging hier entsprechend der Zuständigkeit des Parlement von Mecheln um Justiz-, nicht Gratialsachen, aber das Verfahren wird wohl auch bei Letzteren kaum entscheidend anders ausgesehen haben. Aus der Zeit von 1477 bis 1494 haben sich dann keine Rats- oder Hofordnungen erhalten. Soviel wird man aber sagen können, das Institut der maistres des requestes bestand auch über wechselnde Ratskonstellationen und -konfigurationen hinweg fort. Die erste, noch stark von Maximilian bestimmte Hofordnung seines Sohnes Philipp, die Cauchies entgegen der älteren Literatur frühestens im Herbst 1494 entstanden

33 Zu den burgundischen Hofordnungen vgl. zuletzt Holger K, Die Hofordnungen Herzog Philipps des Guten von Burgund, in: Höfe und Hofordnungen 1200 –1600. 5. Symposium der Residenzen-Kommission der Akademie der Wissenschaften in Göttingen, veranstaltet mit dem Deutschen Historischen Institut Paris und dem Staatsarchiv Sigmaringen, Sigmaringen 5. bis 8. Oktober 1996, ed. Holger K–Werner P (Residenzenforschung 10, Sigmaringen 1999) 141 –165. – Editionen: Die Hofordnungen der Herzöge von Burgund 1: Herzog Philipp der Gute 1407 –1467, hg. von Holger K–Werner P (Instrumenta 15/1, Ostfildern 2005). 34 Zu Stellung und Aufgaben der maîtres des requêtes in Frankreich zuletzt zusammenfassend Gwilym D–Sophie P-R, Grace and favour: the petition and its mechanisms, in: Government and Political Life in England and France c. 1300 –c. 1500, hg. von Christopher F–Jean-Philippe G–John W (Cambridge 2015) 240 –278, hier 254 f. 35 Hofordnungen (wie Anm. 33) 410 f. 36 Jan V R, De Grote Raad van de Hertogen van Boergondie en het Parlement van Mechelen (Brussel 1973) 505: . . . pour maistres des requestes maistre Guillaume de Clugny, messire Artus de Bourbon, maistre Jehan Jacquelin, messire Guillaume de Rochefort, maistre Lienart d’Espotes et maitre Thomas de Pleine. 37 V R, De Grote Raad (wie Anm. 36) 503: [32] Et les requestes pour obtenir lesdites provisions . . . seront baillez et presentez audit chief de conseil, lui estant audit Malines, ou lui absent, ausdiz maistres des requestes, et seront lesdits requestes et mandemens par icellui chief de conseil, presens lesdits maistres des requestes, et lui absent, par iceulx maistres des requestes delibereez et appointez . . . en ladite chambre.

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Abb. 1: Wien, HHStA, Maximiliana Kt. 43/VII / 1, fol. 52, 55 und 82.

sieht 38, zählt u. a. auf: Die ander raeden, meesters van den requesten ende secretarysen, ende anderen dienende in den raede van dem justicie . . . 39. Und nochmals zwei Jahrzehnte später heißt es in der Rats- und Kanzleiordnung Margaretes, der Tochter Maximilians, vom 17. Dezember 1516: Auquel conseil seront leutes tout au long les requestes qui auront esté présentées à madite dame; et après les matières seront proposées par ledit président, et les opinions par luy recuillies, quant il sera pardeçà, et en son absence par le premier maistre aux requestes 40. Doch nun zu dem kleinen Bestand von Suppliken aus dem Wiener Haus-, Hofund Staatsarchiv, den ich hier vorstellen möchte. Sämtliche von Joseph Chmel abgedruckten Stücke sind an Maximilian als Herzog gerichtet, müssen also in die Zeit vor der Königswahl (1477 –1486) datiert werden. Das Erscheinungsbild der Suppliken darf als relativ homogen gelten. Eine gewisse Regelmäßigkeit in Bezug sowohl auf die Abfassung als auch die bürokratische Bearbeitung der Suppliken lässt sich eindeutig feststellen. Allen Suppliken gemeinsam ist der Beschreibstoff Papier, in Format und Layout folgen diese sichtlich einer gewissen bürokratischen Routine. Die meisten

38 Andreas W, Die burgundischen Zentralbehörden unter Maximilian I. und Karl V. (Leipzig 1909) 19 und 137, hat diese Hofordnung (Ordonnanz) zu 1493 gestellt; vgl. dagegen C, Philippe le Beau (wie Anm. 2) 85: „Cette solution est inacceptable. Nous ‚rajeunirons‘ l’acte d’un an et préciserons même qu’il ne peut être antérieur au 7 septembre 1494.“ 39 Joseph C, Urkunden, Briefe und Actenstücke zur Geschichte Maximilians I. und seiner Zeit (Bibliothek des literarischen Vereins in Stuttgart 10, Stuttgart 1845) 539. 40 W, Die burgundischen Zentralbehörden (wie Anm. 38) 200.

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Suppliken sind mehr oder weniger ausgeprägt querformatig. Sie weisen Spuren einer mehrfachen Faltung, gleichsam zu einem kleinen Päckchen, auf und tragen auf der Rückseite einen Vermerk, der den Namen des Petenten nennt und zwar jeweils in der Sprache der Supplik, Latein, französisch oder mittelniederländisch, z. B.: pro domino Ioh(ann)e de Maure milite oder: pour Nicolas de Lucy escuier (vgl. Abb. 1). Einheitlich gestaltet ist auch die Textseite mit der Adressierung des Fürsten, mittig über den Textblock gesetzt. In der lateinischen Variante lautet die Adresse etwa: Serenissimo domino duci Austrie 41. Es gibt aber auch Steigerungsmöglichkeiten der Humilität wie Serenissimo ac illustrissimo principi ac domino duci Austrie, Bourgondie, Brabantie etc. 42 oder gar Excellentissimo ac metuendissimo principi domino duci Austrie, Burgundie etc. 43. Das französische Pendant fällt demgegenüber eher schmucklos aus: A mons(ieur) le duc 44. Hinsichtlich der Textgestaltung lassen sich zwei verschiedene Formulare unterscheiden. Variante 1 beginnt mit Exponit humiliter (bzw. frz. Remonstre humblement). Es folgt der Name des oder der Bittsteller(s) und die Narratio der Supplik. Das eigentliche Gesuch, das mit placeat (bzw. frz. plaise) eingeleitet wird, enthält dann nochmals eine direkte Apostrophe des Fürsten im Vokativ (lat.: serenissime et illustrissime princeps et domine; frz. mon tres redoubte seigneur). Variante 2 stellt das zentrale Verbum supplicat bzw. supplicant an die Spitze des Kontextes. Bei diesem Formulartyp kommt man an der Stelle, wo die konkrete Bitte ausgedrückt wird, ohne neuerliche direkte vokativische Anrede des Fürsten aus 45. Häufig aber nicht immer schließen die Suppliken mit einer Versicherung zukünftiger Dienstbereitschaft (supplicans serviet de bene in melius 46, oder frz. servira de bien en mieulx 47) und / oder einer Fürbitte, einem Gebet, der Petenten für den Fürsten und dessen Familie (orabit Deum pro vobis et vestris 48 frz.: il priera Dieu pour vous 49). Eine Datierung gibt es bei diesen Suppliken nicht. Hinweise auf ihre Bearbeitung bzw. Erledigung bieten uns die hier analysierten Bittschriften kaum. Allenfalls könnten die schon erwähnten, gleichförmig gestalteten Rückvermerke Spuren einer solchen bürokratischen Arbeit an den Suppliken sein. Dass diese Vermerke von einem maistre des requestes herrühren, wie durch Rats- und Hofordnungen nahegelegt, bleibt letztlich spekulativ. Ich möchte dem hier nicht weiter nachgehen, vielmehr sei auf eines der Wiener Stücke, das markant gegenüber allen anderen heraussticht, nachdrücklich hingewiesen. Es ist eine Supplik, die links unter dem Text die Unterschrift Maximilians – später wird man vom großen Handzeichen sprechen – aufweist (siehe Abb. 2). Schon Chmel hat den Befund so gedeutet, dass mit der Unterfertigung des Herzogs die Supplik als genehmigt gelten konnte 50, ein Prozedere, das von ferne an die päpstliche Sola signatura-Praxis erinnert. Nun verdient dieses 41

C, Monumenta Habsburgica I / 2 (wie Anm. 26) 423 Nr. CXII. Ebd. 425 Nr. CXV. 43 Ebd. 422 Nr. CXI. 44 Ebd. 425 Nr. CXV. 45 Z. B.: Celsitudini vestre placeat dictis supplicantibus . . . (ebd. 422 Nr. CXI) oder: Istis consideratis placeat vestre illustrissime serenitati . . . (ebd. 423 Nr. CXII). 46 Ebd. 426 Nr. CXV. 47 Ebd. 425 Nr. CXIV. 48 Ebd. 426 Nr. CXV. 49 Ebd. 425 Nr. CXIV. 50 Ebd. 423 Nr. CXII. 42

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Abb. 2: Wien, HHStA, Maximiliana Kt. 43/VII / 1, fol. 82.

exzeptionelle Stück wohl eine nähere Beleuchtung. Angesprochen ist darin eine der Schlüsselfiguren in den Niederlanden der späten 1470er und frühen 1480er Jahre, der dominus de Gruthuse, Ludwig von Brügge, Herr von Gruuthuse (1427 –1492), VliesOrdensritter seit 1461 – in seinem prächtigen Palast in Brügge beherbergte er 1471 den exilierten englischen König Eduard IV., wofür dieser ihm mit der Verleihung des Titels eines Earl of Winchester und einer jährlichen Pension von 200 Pfund dankte 51. Der Bittsteller Johann von Houdempnil, Herr der Baronie von Haemste (Haamstede), ersucht, nachdem der Rat von Holland auf Klage des Herrn von Gruuthuse über ihn zu Unrecht, wie er meint, den Bann verhängt habe, die Gewährung sicheren Geleites

51

Aus der umfangreichen Literatur zu Ludwig von Brügge: Lodewijk van Gruuthuse. Mecenas en Europees Diplomaat c. 1427 –1492, hg. von Maximiliaan M (Brugge 1992); Malcolm V, An Anglo-Burgundian Nobleman and Art Patron: Louis de Bruges, Lord of la Gruthuyse and Earl of Winchester, in: England and the Low Countries in the Late Middle Ages, hg. von Caroline B–Nigel S (New York 1995) 115 –131; Hans C, Mannen met macht. Edellieden en de Moderne Staat in de Bourgondisch-Habsburgse landen (1475 –1530) (Zutphen 2001) 180 –182; Hanno W, Politique et bibliophilie pendant la révolte des villes flamandes des années 1482 –1492: Relations entre les bibliothèques de Philippe de Clèves et de Louis de Bruges et la Librairie des ducs de Bourgogne, in: Entre la ville, la noblesse et l’état: Philippe de Clèves (1456 –1528), homme politique et bibliophile, hg. von Jelle H–Céline V H–Hanno W (Burgundica 13, Turnhout 2007) 245 –278; H, For the Common Good (wie Anm. 4) 109 –112; Manuscrits enluminés des anciens Pays-Bas méridionaux I. Manuscrits de Louis de Bruges, hg. von Ilona H-C–Pascal S–Hanno W (Paris 2009).

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befristet auf vier Monate, damit er sich vor dem Herzog in der Sache verteidigen und seine Rechtsansicht darlegen könne. Er bedürfe, so der Petent, dieser Sicherheiten angesichts der hohen Gunst und Förderung, derer sich sein Prozesskontrahent Gruuthuse überall erfreue (obstantibus antiquis favoribus quos dictus de Gruthuse ubique habet) 52. Gruuthuse war zuletzt lange Jahre Statthalter Herzog Karls des Kühnen in der Grafschaft Holland-Zeeland gewesen, wo er auch umfangreichen Besitz erwarb, hatte Holland aber nach dem Schlachtentod des Fürsten überstürzt verlassen, um bei Herzogin Maria in seiner flandrischen Heimat Zuflucht zu suchen 53. Hier übernahm er höfische Schlüsselpositionen und blieb, solange Maria lebte, ein loyaler Berater 54. In diese Anfangszeit Maximilians in den Niederlanden dürfte auch das außergewöhnliche, hier diskutierte Stück einzuordnen sein. Von dem Petenten Johann von Houdempnil wissen wir, dass er das Gruuthuse gehörende zeeländische Haamstede im Mai 1477 in seine Hand gebracht hatte, der große Rat die Ansprüche Ludwigs von Brügge aber im November 1478 bestätigte 55. Dazwischen ist wohl die Supplik einzureihen. Zuletzt sei hier noch auf einige im HHStA verwahrte Suppliken aus den 1490er Jahren mit Bezug zu den burgundischen Ländern hingewiesen. Es sind Stücke, die zumeist die Franche Comté betreffen, welche bekanntlich durch den Vertrag von Senlis 1493 in habsburgische Hände kam, zunächst von Maximilian selbst verwaltet und erst 1499 an den Sohn und natürlichen burgundischen Erben Philipp übergeben wurde 56. Vereinzelt kommt hier neben Französisch auch Deutsch als Sprache der Bittschrift vor, so z. B. im Falle der Supplik des Niclas Pirckh, der eine Schaffnerei (herzogliche Domänenverwaltung) in der Franche Comté übertragen erhalten hatte. Weil die Regenten der Grafschaft Burgund ihm aber die Einantwortung des Amtes verweigerten, solange er nicht vom Kanzler in Flandern vereidigt worden sei, ersuchte er König Maximilian, dieser möge ihn von der Pflicht zur kostspieligen und beschwerlichen Reise nach Flandern entbinden 57. Die Hand, die diese Supplik ganz den Gewohnheiten der maximilianeischen Hofkanzlei gemäß mundierte, ist auch sonst in Suppliken unterschiedlichster erbländisch-österreichischer Petenten im Jahr 1498 nachweisbar 58. Der Blick auf die Rückseite bestätigt den Eindruck: auch hier das typische Bild. So erfolgte zu Ausgang des 15. Jahrhunderts die Erledigung von Suppliken im Geschäftsgang der maximilianeischen Hofkanzlei.

52

C, Monumenta Habsburgica I / 2 (wie Anm. 26) 423 Nr. CXII. B, La Hollande (wie Anm. 3) 208. 54 Allerdings war die Position Ludwigs am Hof Marias seit Mitte 1479 massiv geschwächt. Vgl. H, For the Common Good (wie Anm. 4) 118: „Although Louis of Bruges remained the first knight of honour to Mary of Burgundy until her death, his political position at court was seriously damaged after the 1479 trial before the Great Council.“ 55 H, For the Common Good (wie Anm. 4) 112 Anm. 45. 56 Jean-Marie C, Philippe le Beau, comte de Bourgogne: une esquisse, in: La FrancheComté à la charnière du Moyen Âge et de la Renaissance 1450 –1550. Actes du colloque de Besançon 10 –11 octobre 2002, hg. von Paul D–Laurence D (Annales littéraires de l’Université de FrancheComté 759 / Cahiers d’études comtoises et jurassiennes 67, Besançon 2003) 107 –114, hier bes. 108 f. 57 HHStA Maximiliana Kt. 44 fol. 235. 58 Vgl. dazu Christian L, „Fiat (ut petitur).“ Zur Erledigung von Suppliken in der Hofkanzlei König Maximilians I. in den 1490er Jahren, in: Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive, hg. von Gabriele H-M–Sabine U (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 5/2, Wien 2015) 283 –295, hier bes. 288 f. 53

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Dies eine vorläufige Bilanz. Endgültige Ergebnisse zu präsentieren, konnte hier nicht das Ziel sein. Es ist noch viel zu tun, insbesondere in belgischen, französischen und niederländischen Archiven. So bleibt das von mir skizzierte Bild notwendigerweise ein sehr bruchstückhaftes. Wann immer sich die historische Forschung in der Vergangenheit mit Maximilians niederländischer Regierung beschäftigte, wurde die Frage nach einem möglichen Kulturtransfer, nach burgundischen Einflüssen auf die österreichischen Erblande und andere Herrschaftsgebiete des Habsburgers gestellt 59. Natürlich stellt sich diese Frage auch für den Umgang mit Suppliken und Petenten, ohne dass ich freilich hier eine Antwort geben könnte. Zu vielfältig und vielschichtig ist die Fragestellung, deren Beantwortung die „Kultur der Bitte“ im weitesten Sinne ganz ebenso umfassen müsste wie die ganz konkrete Verwaltungspraxis, den modus supplicandi.

59 Zu diesem Fragenkomplex siehe Heinz N, Räte und Herrscher. Politische Eliten an den Habsburgerhöfen der Österreichischen Länder 1480 –1530 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Abt. Universalgeschichte 161, Mainz 1999) 333 –344; Malte P, Imitation, Inspiration und Desinteresse. Die Auseinandersetzung Maximilians I. mit den politischen Traditionen Burgunds, in: „Das kommt mir spanisch vor“. Eigenes und Fremdes in den deutsch-spanischen Beziehungen des späten Mittelalters, hg. von Klaus H–Nikolas J (Geschichte und Kultur der Iberischen Welt 1, Münster 2004) 87 –106; Manfred H, Burgundische Regierungs-, Verwaltungs- und Finanztechniken in Österreich? Zum Institutionentransfer um 1500, in: Pays bourguignons et autrichiens (XVe –XVIe siècles): une confrontation institutionelle et culturelle, hg. von Jean-Marie C–Heinz N (Publication du Centre Européen d’Études Bourguignonnes [XIVe –XVIe s.] 46, Neuchâtel 2006) 91 –103.

In . . . dingen, die zimlich sind zu piten Gnadenbitten im Kontext der Königsherrschaft im römisch-deutschen Reich des Spätmittelalters Claudia Garnier

Als der habsburgische Gesandte Siegmund von Herberstein im Auftrag seines Kaisers am Hof des Moskauer Großfürsten weilte, wurde er mit einer ihm offensichtlich unbekannten Handlung konfrontiert – dem Stirn- bzw. Hirnschlagen (ˇcelobit’e). Dies erschien ihm so fremd und erklärungswürdig, dass er die Ausführung und Bedeutung des Vorgangs detailliert notierte: Dan hiernschlahen ist ain gmain wort ehrerpieten / dancksagen / zubitten und zu vil deutungen brauchen sy das wort / wann ainer gegen ainem merern oder höhern was bit oder danckhsagt / so naigt er sich so tieff mit dem Khopf und leib / das er mit der hand die erdt berürt / Ist es dan so hart zuerbiten / oder vom Grosfürsten jchtes zuerwerben ist / felt ainer auf die hendt nider / und rürt oder schlecht das hiern an die Erden / da heer khumbt das man spricht mit dem hirn schlahen 1. Siegmund von Herberstein besuchte den Hof des russischen Großfürsten Vasilij III. in den Jahren 1517/18 und 1526/27. Aus seiner Feder stammt zwar nicht der erste, jedoch der am breitesten rezipierte Bericht eines Ausländers über das vormoderne Russland 2. Denn durch die Erstarkung des Großfürstentums Moskau entwickelte sich ein zunehmendes Interesse an diesem Herrschaftsbereich, das durch die bisher zur Verfügung stehenden Informationen kaum befriedigt werden konnte. Herbersteins 1 Sigismund von Herberstein, Rerum Moscoviticarum Commentarii. Synoptische Edition der lateinischen und der deutschen Fassung letzter Hand. Basel 1556 und Wien 1557, ed. Frank K–Eva M–Andreas F (München 2007) 406. Vgl. zu dieser Form der Ehrerbietung am Moskauer ˇ Hof den Art. Celobite, in: Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen, hg. von Karla G-H–Victor G–Wilhelm S (Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa 20, Wiesbaden 21995) 40 f. 2 Zu Herberstein und seinen Rerum Moscoviticarum Commentarii die Beiträge in den folgenden Sammelbänden: Siegmund von Herberstein. Kaiserlicher Gesandter und Begründer der Rußlandkunde und die europäische Diplomatie, hg. von Gerhard P (Veröffentlichungen des Steiermärkischen Landesarchives 17, Graz 1989); Frank K, Das Rußlandbuch Sigismunds von Herberstein. Rerum Moscoviticarum commentarii. 1549 –1999 (Hamburg 1999); 450 Jahre Sigismund von Herbersteins „Rerum Moscoviticarum Commentarii“ 1549 –1999, hg. von Frank K–Reinhard F (Schriften zur Geistesgeschichte des östlichen Europa 24, Wiesbaden 2002); Wolfgang G, Russische Kulturgeschichte in diplomatischen Reiseberichten aus vier Jahrhunderten: Sigmund von Herberstein, Adam Olearius, Friedrich Christian Weber, August von Haxthausen (Studien der Forschungsstelle Ostmitteleuropa an der Universität Dortmund 37, Wiesbaden 2004) 27 –62.

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Claudia Garnier

Rerum Moscowiticarum Commentarii nehmen daher zahlreiche Aspekte des für Westund Mitteleuropa vergleichsweise fremden Reichs in den Blick. Es ist zumeist die Andersartigkeit, die Herberstein fesselte und zu ausführlichen Beschreibungen veranlasste. Besondere Aufmerksamkeit widmet er den Sitten, die er nicht kannte und die er mit seiner eigenen Lebenswelt verglich. Es erstaunt kaum, dass er als Gesandter im Auftrag des Hauses Habsburg den Formen der Interaktion, die die Herrschaftsrepräsentation des Moskauer Hofs im Allgemeinen und den Empfang auswärtiger Botschafter im Besonderen betreffen, ein ausgeprägtes Interesse entgegenbrachte. Im vorliegenden Beispiel wurde Siegmund von Herberstein in Moskau offensichtlich mit Formen der Bitte an den Herrscher konfrontiert, die ihm völlig fremd und somit erklärungsbedürftig erschienen 3. Herbersteins Ausführungen sind als Einführung in die Thematik des folgenden Beitrags aus dem Grunde in besonderer Weise geeignet, da sie zeigen, dass in der direkten Begegnung nicht nur die verbale Formulierung der Bitte eine Rolle spielte. Von ebenso großer Bedeutung war auch die Frage, in welcher Form, in welcher Körperhaltung und mit welchen Gesten ein Anliegen vorgetragen wurde 4. Der folgende Beitrag hebt sich insofern von den übrigen Aufsätzen dieses Bandes ab, da er weniger die schriftlichen, stark formalisierten Bitten an den Herrscher in den Blick nimmt, sondern ihre mündlichen Formen 5. Die Bestandsaufnahme wendet sich einem Kommunikationsmuster zu, das von der direkten Interaktion der Beteiligten geprägt war und daher anderen Regeln folgte als ein Anliegen, das über die räumliche Distanz hinweg schriftlich vorgetragen wurde 6. Da in einem einzelnen Beitrag selbstverständlich nicht das gesamte Panorama spätmittelalterlicher Bitten an den Herrscher in den Blick genommen werden kann, werden sich die folgenden Ausführungen auf

3 Dazu ausführlich Claudia G, How to Petition the Ruler: Communication and Ritual at the Moscow Court in the Sixteenth and Seventeenth Centuries from the Perspective of Religious Preconditions, in: Religion und Integration im Moskauer Russland. Konzepte und Praktiken, Potentiale und Grenzen. 14. –17. Jahrhundert, hg. von Ludwig S (Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 76, Wiesbaden 2010) 227 –245. 4 Zur Bedeutung symbolischer Kommunikationsformen vgl. Edward M, Ritual in Early Modern Europe (New Approaches to European History, Cambridge 1997); Formen und Funktionen symbolischer Kommunikation im Mittelalter, hg. von Gerd A (VuF 51, Stuttgart 2001); Gerd A, Die Macht der Rituale. Symbolik und Herrschaft im Mittelalter (Darmstadt 2003); Geschichtswissenschaft und „Performative Turn“. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, hg. von Jürgen M–Steffen P (Norm und Struktur 19, Köln–Weimar–Wien 2003); Barbara SR, Rituale (Historische Einführungen 16, Frankfurt am Main 2013); ., Alles nur symbolisch? Bilanz und Perspektiven der Erforschung symbolischer Kommunikation (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne, Köln–Weimar–Wien 2013); Grenzen des Rituals. Wirkreichweiten – Geltungsbereiche – Forschungsperspektiven, hg. von Andreas B–Andreas S–Paul T (Norm und Struktur 42, Köln–Weimar–Wien 2014). 5 Zum spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Supplikenwesen vgl. Suppliques et requêtes. Le gouvernement par la grâce en Occident (XIIe –XVe siècle), hg. von Hélène M (Collection de l’École française de Rome 310, Roma 2003); Suppliche e „gravamina“. Politica, amministrazione, giustizia in Europa (secoli XIV–XVIII), hg. von Cecilia N–Andreas W (AISIGT. Quaderni 59, Bologna 2002); Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. –18. Jahrhundert), hg. von Cecilia N–Andreas W (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19, Berlin 2005). 6 André K, Kommunikation unter Anwesenden. Studien über Interaktionssysteme (Frankfurt am Main 1999).

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einen spezifischen – wie ich meine nicht ganz unwichtigen – Bereich beziehen: die Gnadenbitten. Es geht vorrangig um die Fälle, in denen die Betroffenen nach Konflikten oder in Folge einer Strafe und Sanktion den König um Gnade und Vergebung angingen. Dieser Fokus erscheint insofern sinnvoll, da er einerseits einen systematisch abzugrenzenden Bereich des Phänomens bildet und andererseits vertiefte Einsichten in Konzepte und Praktiken spätmittelalterlicher Herrschaft freilegt. Denn die Frage, wie inständige Anliegen in diesen Fällen formuliert wurden, stellt keineswegs einen unbedeutenden Aspekt des mittelalterlichen Herrschaftshandelns dar. Vielmehr legen die in diesem Bereich angewandten Strategien grundlegende Funktionsmechanismen der politischen Ordnung offen und können als Abbild ihrer spezifischen Strukturen gesehen werden. Aus arbeitsökonomischen Gründen beschränken sich die Ausführungen auf die Fälle, die auf Reichsebene zu rekonstruieren sind, wenngleich auch auf der Ebene der Territorien ähnliche Handlungsmuster begegnen. Dabei werden zwei Aspekte in besonderer Weise berücksichtigt: Erstens werden Fälle in den Blick genommen, in denen der Herrscher selbst Adressat der Gnadenbitte war; zweitens rücken Beispiele in den Fokus, in denen der Herrscher gewissermaßen als „Vermittler“ der Gnadenbitten fungierte und gleichermaßen als Gebetener und Bittender auftrat.

Der Herrscher als Adressat der Gnadenbitten Um die besondere Funktion der Gnadenbitten angemessen würdigen zu können, sind den Ausführungen zunächst einige allgemeine Bemerkungen zur Bedeutung der Bitten im Kommunikationsverhalten vorangestellt. In der direkten Interaktion des Herrschers mit seinen Reichsangehörigen orientierten sich Anliegen, die dem König persönlich vorgetragen wurden, an bestimmten äußeren Formen. Sie waren zwar an keiner Stelle kodifiziert, dennoch zeigt die soziale Praxis, dass sich im Verlaufe des ausgehenden Mittelalters bestimmte Standards entwickelten. Vor allem in Fällen, in denen der Rechtsstatus des Bittenden verändert und so sein Verhältnis zum Reichsoberhaupt neu definiert wurde, existierte im späten Mittelalter ein festes Schema, dem der Kommunikationsablauf zu folgen hatte. Zu nennen ist in diesem Zusammenhang exemplarisch die Lehnsmutung der Reichsfürsten, also die förmliche Bitte um Belehnung, die Bestandteil eines immer prunkvoller ausgestalteten Lehnszeremoniells war 7. Hier handelte es sich nicht um alltägliche Regierungshandlungen, sondern um Großereignisse, die sich vom politischen Alltag abhoben. Bereits der Sachsenspiegel 7

Auf Reichsebene handelte es sich bei der Mutung „um das förmliche Gesuch an den König, das durch Thron- oder Mannfall unterbrochene Lehnsverhältnis zu erneuern. Die Vornahme dieser Rechtshandlung erfolgte regelmäßig in der Form, daß sich der Lehnsinhaber persönlich am königlichen Hof einfand und unter gleichzeitiger Benennung seiner Reichslehen den König um die Belehnung bat.“ Karl-Friedrich K, Die Lehnshoheit der deutschen Könige im Spätmittelalter (Untersuchungen zur deutschen Staatsund Rechtsgeschichte N. F. 23, Aalen 1979) 428. Zur Ausgestaltung der Lehnsinvestitur vor allem KarlHeinz S, Das Lehnswesen in Deutschland im hohen und späten Mittelalter (Stuttgart 22009) 44 –46; ., Kommunikationsformen im Hochadel am Königshof im Spätmittelalter, in: Formen und Funktionen (wie Anm. 4) 261 –290, bes. 280 f.; Claudia G, Die Kultur der Bitte. Herrschaft und Kommunikation im mittelalterlichen Reich (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst, Darmstadt 2008) 205 –226, 309 –324. Vgl. auch noch die älteren Studien von Robert B, Die Belehnungen der deutschen geistlichen Fürsten (Leipziger Studien aus dem Gebiet der

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macht detaillierte Angaben über den Verlauf der Mutung: Zunächst hatte der Vasall bei seinem künftigen Herrn zu erscheinen und ihm seine Mannschaft anzubieten; falls sein Herr sitzen sollte, hatte er vor ihm niederzuknien, ansonsten konnte er stehen bleiben 8. Die kniende Haltung des Reichsvasallen vor dem König war auch im ausgehenden Mittelalter elementarer Bestandteil des Vorgangs. Eine ausführliche Dokumentation findet sich etwa über die Belehnung des Burggrafen Friedrich von Nürnberg mit der Mark Brandenburg im Rahmen des Konstanzer Konzils im Jahr 1417 9. Der Chronist Ulrich Richental widmet der prachtvollen Lehnsinvestitur eine überaus detailfreudige Beschreibung, in der er minutiös den Verlauf der Lehnsnahme dokumentiert 10. Friedrich von Nürnberg erschien vor König Sigismund, der auf einem prunkvoll ausgestatteten Stuhl auf der eigens errichteten Bühne Platz nahm. Nachdem sich die Kurfürsten um den Herrscher postiert hatten, wurde auch der zu Belehnende auf die Empore gerufen. Er wurde von zwei Rittern begleitet, die die Banner der Territorien mit sich führten, mit denen Friedrich von Nürnberg belehnt werden sollte. Vor dem König kniete er nieder 11. Aus späteren Überlieferungen ist bekannt, dass sich daran die verbale Bitte um Belehnung anschloss, von der Ulrich Richental jedoch nicht explizit berichtet. Nach der Verlesung des Lehnseides durch den Kanzler schwor Friedrich dem König Treue und erhielt von Sigismund die Banner, die die beiden Ritter mitgeführt hatten 12. Ausführlich auf die Bitte um das Lehen gehen später beispielsweise die Berichte ein, in denen die Belehnung des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg im Jahr 1486 dokumentiert ist. Sie wurde von Kaiser Friedrich III. am Tag vor der Königswahl seines Sohnes Maximilian in Frankfurt vorgenommen. Friedrich nahm zunächst auf einer Art Bühne Platz, die der Stadtrat auf dem Römer speziell hatte errichten lassen. Zu Friedrichs Rechten standen der Pfalzgraf, Maximilian und einige geistliche Große, zu seiner Linken der Erzbischof von Köln, der Markgraf von Brandenburg und der Herzog von Sachsen gemeinsam mit den anwesenden weltlichen Großen. Nachdem sich die Herrschaftsträger in dieser Aufstellung postiert hatten, erfolgte die Belehnung des Mainzer Erzbischofs Berthold von Henneberg. Als der Metropolit das Bühnengerüst bestiegen hatte, leistete er einen dreimaligen Fußfall vor dem König und verblieb Geschichte VIII / 1, Leipzig 1901); Julius B, Fahnlehn und Fahnenbelehnung im alten deutschen Reiche (Leipziger historische Abhandlungen 3, Leipzig 1907). 8 Sachsenspiegel Lehnrecht 22 § 1 f., ed. Karl August E (MGH Fontes iuris N. S. 1/2, Göttingen 1956) 39 f. In diesem Kontext hatte der Vasall dem König seine Mannschaft anzubieten: Herre, ek sinne an juk so gedanes gudes, als ek mit rechte an juk bracht hebbe, unde bede juk dar umme mine manscap enewarve, anderwarve, driddewarve, unde sette des juwe man to tuge (ebd. § 2 S. 40). 9 Manfred J, Die Belehnung des Nürnberger Burggrafen Friedrich VI. mit der Markgrafschaft Brandenburg durch König Sigmund, in: Das Zeitalter König Sigmunds in Ungarn und im Deutschen Reich, hg. von Tilmann S–Péter G (Történelmi Figyel˝o Könyvek 8, Debrecen 2000) 161 – 172; Joachim S, Beratung, Belehnung, Beziehungspflege. Das Konzil als Reichsversammlung. in: Das Konstanzer Konzil. 1414 –1418. Weltereignis des Mittelalters. Katalog, red. von Karen E et al. (Darmstadt 2014) 280 f. 10 Chronik des Konstanzer Konzils 1414 –1418 von Ulrich Richental, c. 219 –224, ed. Thomas Martin B (Konstanzer Geschichts- und Rechtsquellen 41, Ostfildern 2010) 88 –90. 11 Ebd. c. 223 S. 90: In der stille r˚uft man burggraf Fridrichen. Der st˚und ab sinem rosse und ging uff hin und tr˚ug man nebend im die zway baner. Und do er uffhin kam und knüwet nider für den küng und nam ieglich baner in sin hand . . . . 12 Ebd.

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bei der letzten Ehrerweisung kniend auf dem Boden. In dieser Position richtete er die wörtliche Bitte um Belehnung an den Herrscher: . . . und also knuwend bat er sin Mt., ime sine regalia gnediglich zu lyhen, als die sinen vorfarn, Bff. zu Menz, waren gelichen worden 13. Darauf erfolgten die Verlesung des Treueides und die Verleihung der Lehen durch die Übergabe einer Fahne mit dem Mainzer Wappen und einer roten Fahne, die die übertragene Blutgerichtsbarkeit symbolisierte. Schließlich erhielt Berthold von Henneberg als Erzkanzler die entsprechenden Siegel und nahm zur Rechten des Kaisers Platz, um der darauf folgenden Belehnung des Pfalzgrafen Philipp beizuwohnen 14. Einer Belehnung musste also nicht nur eine Bitte um das Lehen vorangehen, sondern das Ersuchen erfolgte in einer bestimmten äußeren Form: Vor einer möglichst großen Öffentlichkeit hatte der zu Belehnende vor dem Reichsoberhaupt niederzuknien, um auf diese Weise die Dringlichkeit seines Anliegens und seine Ehrerbietung vor dem Kaiser zu präsentieren. Wendet man sich indes von den feierlichen Belehnungen dem alltäglichen Regierungshandeln zu, so galt der König als besonders vorbildlich, vor dem sich Bittsteller nicht über Gebühr erniedrigen mussten. Ein beredtes Zeugnis legt davon Joseph Grünpeck ab, der in seiner Historia Friderici et Maximiliani die aus seiner Sicht mustergültige Regierungspraxis der beiden Habsburger beschrieb. Das für Maximilians Enkel Karl bestimmte „hausgeschichtliche Lehrbuch“ konfrontierte den jungen Erzherzog mit den Tugenden seiner Vorgänger, die auch in den Audienzen zum Vorschein kamen: „Niemand hat ihn jemals mit offenkundigen Belegen aus seinen Reden oder Handlungen des Fehlers der Überhebung zeihen können, so wohlwollende Worte richtete er an alle . . . . Allergnädigst nahm er auch deren Bittschriften und Klagen über Unrecht, das ihnen von anderen widerfahren, entgegen. . . . Und niemals oder wenigstens höchst selten, wollte er die Bittsteller, welche sich vor ihm auf die Erde geworfen hatten, in einer so unterwürfigen Stellung anhören, sondern er hob sie mit eigenen Händen auf und hörte die Aufgerichteten solange an, bis sie ihre Sache vollständig vorgebracht hatten“ 15. Im Autograph der Historia Joseph Grünpecks finden sich Federzeichnungen, die ausgewählte Kapitel illustrieren – darunter auch die Audienzen und die Tatsache, dass sich Maximilian Bittstellern wohlwollend zuwandte. Während hinter dem Kaiser geistliche und weltliche Große in Gespräche vertieft stehen, wendet er selbst sich den beiden vor ihm knienden Petenten zu. Sie überreichen ihm Bittschriften, während der Kaiser sie vom Boden erhebt 16. Die zugewandte Haltung findet sich hier eindrücklich

13 Deutsche Reichstagsakten unter Maximilian I., Bd. 1: Reichstag zu Frankfurt 1486, 2 Teile, ed. Heinz A (Deutsche Reichstagsakten, Mittlere Reihe 1/1 –2, Göttingen 1989) 2 924 Nr. 915b. 14 Ebd. 15 Historia Friderici IV. et Maximiliani I. ab Jos. Grünbeck, ed. Joseph C, in: ., Der österreichische Geschichtsforscher 1 (Wien 1838) 64 –97, hier 93: Nemo eum vnquam manifestis signis aut verborum aut factorum insolencie crimine arguere potuit, tam humana verba in omnes . . . largissime effudit, clementissime etiam eorum supplicationes querimoniasque de aliorum iniuriis excepit. . . . nec vnquam vel admodum raro supplices in terram prostratos tam deiecte audire voluit, propriis subleuauit manibus, atque erectos ad sacietatem audiuit . . . . Übersetzung nach: Die Geschichte Friedrichs III. und Maximilians I. von Joseph Grünpeck, übers. von Theodor I (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 90, Leipzig 21940) 61 f. 16 Dazu die Bildbeschreibung bei Otto B–Erwin M. A, Die Historia Friderici et Maximiliani (Jahresgabe des Deutschen Vereins für Kunstwissenschaft 1956, Berlin 1957) 126. Vgl. die Abbildung am Umschlag des vorliegenden Bandes.

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ins Bild gesetzt, und sie erscheint in Form der Eigenschaft der affabilitas auch in anderen Texten. So formulierte etwa der päpstliche Berater und Nuntius Domenico de Domenichi, der zur Regierungszeit Friedrichs III. am Habsburgerhof weilte und im Jahr 1472 einen als Brief konzipierten Prinzenspiegel an den damals 13 Jahre alten Maximilian sandte, ähnliche Verhaltensmaximen. Auch hier erscheint die affabilitas als wichtige Tugend 17. Ob diese Beschreibungen tatsächlich dem praktischen Regierungshandeln entsprechen oder ob sie nicht eher der Diskursebene idealer Herrschaft zuzuordnen sind, ist durchaus zu diskutieren. Denn die affabilitas ist seit dem frühen Mittelalter ein zentraler Bestandteil des Herrscherideals, vor allem dann, wenn die aufgeschlossene Haltung gegenüber den Bitten und Anliegen der Reichsangehörigen zum Ausdruck gebracht werden sollte 18. Karl der Große soll seinem Biographen Einhard zufolge sogar während des Ankleidens, manchmal auch in der Nacht, diejenigen persönlich angehört haben, die in Streitfällen seine Entscheidung suchten 19. Ob dies tatsächlich den Regierungsalltag Karls des Großen abbildete, muss ebenso angezweifelt werden wie die Aufgeschlossenheit der Habsburger gegenüber den Bittstellern am Wiener Hof. Doch im Kontext mittelalterlicher Herrscherparänese und -panegyrik zeichnete sich der ideale König dadurch aus, dass er grundsätzlich für die Anliegen seiner Untergebenen ein offenes Ohr hatte. Aus der anderen Perspektive betrachtet, dienten die Unnahbarkeit oder der schwierige Zugang als Vorwurf, der gegen Herrschaftsträger erhoben werden konnte. Wer sich den Anliegen der Bittsteller nicht zugänglich zeigte, war stets harscher Kritik ausgesetzt. Wie zentral diese Eigenschaft war, belegt vor allem die Tatsache, dass sie bei Herrscherabsetzungen als willkommenes Argument thematisiert wurde. Nicht nur der König, der aus Sicht der Großen Recht und Frieden gefährdete, sondern auch der König, der sich den Bitten und Anliegen seiner Großen verweigerte, sah sich massiven Vorwürfen ausgesetzt. In Verbindung mit anderen vermeintlichen Fehlleistungen im Regierungshandeln entwickelte sich daraus ein entsprechendes Vorwurfstereotyp. So tadelten die Kurfürsten Adolf von Nassau bei seiner Absetzung im Jahr 1298, er habe sich ihren „heilsamen Ermahnungen und Bitten“, die sie mehrfach „in schuldiger Ergebenheit und Sanftmut“ vorgetragen hätten, verschlossen. Ja mehr noch: Der König ahmte „die Herzenshärte des Pharaos nach und verstopfte seine Ohren wie die Ottern, und in seiner stolzen Verstocktheit und seinem verstockten Stolz missachtete er solche

17 Hubert J, Ein Prinzenspiegel für den jungen Maximilian I. AfK 43 (1961) 52 –61, hier 58: Quis enim illo principe humanior, quis mitior, quis religiosior: gaude ergo et letare tali parente, qualem natura vix posset alium effingere, piissimo iusticie cultore, affabili, facilimo, cujus aspectu benignissimo atque iocundo affatu frui posse. Dazu auch Bruno S, Die Fürstenspiegel in Deutschland im Zeitalter des Humanismus und der Reformation. Bibliographische Grundlagen und ausgewählte Interpretationen: Jakob Wimpfeling, Wolfgang Seidel, Johann Sturm, Urban Rieger (Humanistische Bibliothek. Abhandlungen, Texte, Skripten I / 34, München 1981) 71 f. Nr. 13. 18 Kevin W, The Virtues of Man in the „Animal Sociale“: „Affabilitas“ and „Veritas“ in Aquinas. The Thomist 57 (1993) 641 –653. 19 Einhardi Vita Karoli magni c. 24, ed. Georg W (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [25], Hannover–Leipzig 61911) 29: Noctibus sic dormiebat, ut somnum quater aut quinquies non solum expergescendo, sed etiam desurgendo interrumperet. Cum calciaretur et amiciretur, non tantum amicos admittebat, verum etiam, si comes palatii litem aliquam esse diceret, quae sine eius iussu definiri non posset, statim litigantes introducere iussit et, velut pro tribunali sederet, lite cognita sententiam dixit.

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Bitten und heilsamen Ermahnungen“ 20. Hier bedienten sich die Reichsfürsten im Übrigen einer Beweisführung, die bereits Innozenz IV. bei der Absetzung Friedrichs II. neben den kirchenrechtlichen Argumenten ins Feld führte; teilweise übernahmen sie ebenfalls die entsprechenden Formulierungen und Analogiebildungen 21. Nicht nur der Herrscher selbst, sondern auch nachgeordnete Funktionsträger sahen sich entsprechenden Vorhaltungen ausgesetzt. So musste sich etwa der Kammermeister Friedrichs III., Johann Ungnad von Sonnegg, nach Auskunft des Aeneas Silvius de Piccolomini die Kritik gefallen lassen, dass man selbst den Kaiser besser erreichen könne als seinen Kammermeister. Zudem verlange dieser übermäßige Gesten der Ehrerbietung: „Niemand konnte dich anreden anders als mit bloßem Haupt, keinem stand deine Tür offen, außer dem, der Geschenke brachte, mit dem Fuß, nicht mit den Händen, musste man bei dir an die Türe klopfen. . . . Den Kaiser konnten wir leichter ansprechen als dich, der du uns nicht einmal zu antworten geruhtest“ 22. Die Gratwanderung zwischen angemessenen Zeichen der Ehrerbietung einerseits und der Vermeidung übermäßiger Demütigung des Bittstellers andererseits erwies sich als eine recht schwierige. Dieser Befund gilt jedoch ausschließlich für alltägliche Regierungshandlungen. Davon zu unterscheiden sind Fälle, in denen sich ein Reichsangehöriger nach einem Vergehen und verhängten Sanktionen um Gnade flehend an den Herrscher wandte. Hier wurde die inständige Bitte um Vergebung oder wenigstens um Milderung der Strafe umso eindringlicher formuliert und durch entsprechende performative Akte ergänzt. Ihre Ursprünge entstammen religiösen Ausdrucksformen, mit denen ein dringendes Anliegen formuliert wurde. Denn in vielen vormodernen

20 Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 3. Inde ab a. MCCLXXIII. usque ad a. MCCCVIII, ed. Jakob S (MGH LL 4/3, Hannover–Leipzig 1904 –1906) 549 –552, hier 550 Nr. 589: Sane cum nos apud serenissimum dominum Adolfum precipuum principem secularem pro communis pacis observatione, pro suorum defectuum emendacione, delictorum correccione necnon suorum excessuum condigna satisfaccione, monitis salutaribus et precum curaremus cum devocione debita insistere lenitate, idem princeps a nobis non semel tantum, sed sepius humiliter conmonitus et devote, Pharaonis duriciam imitans et obturans more aspidis aures suas, preces huiusmodi et salubria monita elata obstinacione ac obstinata elacione despexit. Zur Absetzungsurkunde Ernst S, Königsabsetzung im deutschen Mittelalter. Eine Studie zum Werden der Reichsverfassung (Abh. d. Akad. d. Wiss. zu Göttingen, phil.-hist. Kl. III / 267, Göttingen 2005) 261 – 264; vgl. auch Frank R, Tyrannen und Taugenichtse. Beobachtungen zur Ritualität europäischer Königsabsetzungen im späten Mittelalter. HZ 278 (2004) 27 –53; ., Die Absetzung König Adolfs von Nassau in einer europäischen Perspektive – und im Spiegel der Colmarer Dominikanerchronik, in: Herrschaftspraxis und soziale Ordnungen im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Ernst S zum Gedenken, hg. von Peter A–Christine   H (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen 232, Hannover 2006) 35 –49. 21 Kaiser und Papst im Konflikt. Zum Verhältnis von Staat und Kirche im späten Mittelalter, hg. von Jürgen M–Arnold B (Historisches Seminar 8, Düsseldorf 1988) 105 –111, hier 105 f. Nr. 4: Sed licet sic apud eum pro pace paternis monitis et precum insistere curaverimus lenitate, idem tamen, Pharaonis imitatus duritiam et obturans more aspidis aures suas, huiusmodi preces et monita elata obstinatione ac obstinata elatione despexit. Zur Absetzung und ihrer Legitimation S, Königsabsetzung (wie Anm. 20) 217 –228. Zur Metapher der „tauben Otter“ vgl. Ps. 57 (58), 5. 22 Eneas Silvius Piccolomini, Historia Austrialis, Teil 2: 2./3. Redaktion, ed. Martin W (MGH SS rer. Germ. N. S. 24/2, Hannover 2009) 689: Nemo te alloqui potuit nisi detecto capite, nulli hostium tuum patuit nisi munera deferenti, pede pulsanda apud te ianua, non manibus fuit. . . . Facilius cæsarem quam te alloqui potuimus, qui neque nobis respondere dignabare. Übersetzung: Aeneas Silvius de Piccolomini, Historia Austrialis. Österreichische Geschichte lib. 6 c. 5, ed. Jürgen S (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 44, Darmstadt 2005) 465.

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Gesellschaften dienten liturgische Handlungen als Vorbild zur Ausformung profaner Herrschaftsrituale. Besonders deutlich wird dies etwa bei den Bitten an den Herrscher im Allgemeinen und bei Bitten um Gnade und Vergebung im Speziellen 23. In diesem Zusammenhang nahm die Symbolsprache der Unterwerfungen im weltlichen Bereich oftmals das christliche Bußritual zum Vorbild, indem sich der Unterlegene im Habitus eines Sünders demütigen musste. Mit einem Büßergewand, barfüßig und ohne Kopfbedeckung, teilweise auch durch einen Kniefall oder gar eine Prostration hatten sich die Untergebenen dem Sieger zu präsentieren. Derartige Ausdrucksformen weltlicher Unterwerfungen existieren vom 9. bis weit ins 16. Jahrhundert und begegnen im mittelalterlichen Reich ebenso wie in Italien und Frankreich 24. Zum Teil sind sie ikonographisch festgehalten, wie etwa in der Bilderchronik zu „Kaiser Heinrichs Romfahrt“, die dessen Bruder Balduin, Erzbischof von Trier, in Auftrag gegeben hatte und deren Höhepunkt die Kaiserkrönung des Luxemburgers bildete 25. Die Chronik illustriert zahlreiche Unterwerfungen der Kommunen Ober- und Mittelitaliens unter Heinrich VII., wie etwa die der Bürger von Brescia im Jahr 1311: Dem zu Pferde einziehenden Herrscher schreiten die Bewohner der bezwungenen Stadt entgegen, gekleidet in härene Gewänder und mit Stricken um den Hals, die auf die eigentlich verdiente Todesstrafe hinweisen sollten 26. Doch der Übertragbarkeit religiöser Handlungsmuster in den profanen Bereich waren trotz zahlreicher struktureller Konvergenzen enge Grenzen gesetzt. Derartige Erniedrigungen im weltlichen Bereich erfolgten nur, wenn der Unterlegene durch eine entsprechend unterwürfig präsentierte Gnadenbitte Leib und Leben retten musste. Daher finden sich derartige Gesten ausschließlich in Situationen der äußersten Bedrängnis.

23 Ausführlich zu diesem Verhältnis G, Kultur der Bitte (wie Anm. 7) 35 –61, 169 –187, 226 –257, 324 –364. 24 Geoffrey K, Begging Pardon and Favor. Ritual and Political Order in Early Medieval France (Ithaca, NY–London 1992); Gerd A, Das Privileg der deditio. Formen gütlicher Konfliktbeendigung in der mittelalterlichen Adelsgesellschaft, in: ., Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde (Darmstadt 1997) 99 –125; Jean-Marie M, Harmiscara, Harmschar, Hachée. Le dossier des rituels d’humiliation et de soumission au Moyen Âge. Archivium latinitatis medii aevi – Bulletin du Cange 54 (1996) 11 –65; ., Pénitence publique et amende honorable au Moyen Age. RH 298 (1997) 225 –269; Stefan W, Tränen, Unterwerfung und Hundetragen. Rituale des Mittelalters im dynamischen Prozess gesellschaftlicher Ordnung, in: Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, hg. von Dietrich H–Gerrit Jasper S (Heidelberg 2004) 117 –137; ., Mit nackten Füßen und härenem Büßergewand. Die Unterwerfung (deditio) Herzog Heinrichs von Kärnten 1122, in: Die Welt der Rituale. Von der Antike bis heute, hg. von Claus A–Stephan H–Gerald S–. (Darmstadt 2005) 66 –70. 25 Kaiser Heinrichs Romfahrt. Die Bilderchronik von Kaiser Heinrich VII. und Kurfürst Balduin von Luxemburg (1308 –1313), hg. von Franz-Josef H (Boppard 1965); dazu auch Wolfgang S, Kaiser Heinrichs Romfahrt. Zur Inszenierung von Politik in einer Trierer Bilderhandschrift des 14. Jahrhunderts. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung im Landeshauptarchiv Koblenz (Mittelrheinisches Heft 21, Koblenz 2000); zu Balduin vgl. Balduin aus dem Hause Luxemburg. Erzbischof und Kurfürst von Trier. 1285 –1354, hg. von Valentin W–Bernhard S (Luxemburg 2009); Balduin von Luxemburg. Erzbischof und Kurfürst von Trier (1308 –1354). Vorträge eines Kolloquiums in Trier im Juni 2008, hg. von Reiner N (Trier 2010). 26 Kaiser Heinrichs Romfahrt (wie Anm. 25) 82 f. fol. 15b; zum Italienzug Heinrichs VII. vgl. Jörg K. H, Die Luxemburger. Eine spätmittelalterliche Dynastie gesamteuropäischer Bedeutung. 1308 – 1437 (Urban-Taschenbücher 407, Stuttgart 2000) 40 –50; Roland P, Die deutschen Könige und Italien im 14. Jahrhundert. Von Heinrich VII. bis Karl IV. (Darmstadt 1997) 43 –114.

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Ein bekannter Fall aus dem Hause Habsburg mag dies dokumentieren: Es handelt sich um Johann von Österreich und Steier, den postumen Sohn Rudolfs II., der später mit dem Beinamen „Parricida“ belegt wurde. Zwar war Johann seit 1307 als Mitregent anerkannt, er besaß jedoch keinerlei nennenswerten Einfluss auf die Herrschaft. Ebenso bemühte er sich erfolglos um das Erbe seiner verstorbenen Eltern oder doch zumindest um eine Entschädigung. Obwohl Johann wiederholt eine angemessene Beteiligung einforderte, stieß er bei seinem Onkel – König Albrecht von Habsburg – immer wieder auf taube Ohren. Die Fronten waren am Ende so verhärtet, dass sich Johann schließlich zur Ermordung seines Verwandten hinreißen ließ. Gemeinsam mit Rudolf von Wart, Rudolf von Balm, Walter von Eschenbach und Konrad von Tegerfeld überfiel er am 5. Mai 1308 beim Übergang über die Reuß den König, der noch an Ort und Stelle seinen Verletzungen erlag. In das habsburgische Gedächtnis ging Johann daher mit dem Cognomen „Parricida“ (Verwandtenmörder) ein 27. Rund ein Jahr nach der Tat verhängte der neue König – Heinrich VII. von Luxemburg – über ihn und seine Helfer die Reichsacht 28. Ihr integraler Bestandteil war stets die Rechts- und Friedlosigkeit, die dem Missetäter drohte und mit der auch Johann Parricida konfrontiert wurde. So zählt die überlieferte Achturkunde die konventionellen Folgen dieser Maßnahme auf. Johann und seinen Helfern wurden Ehre und Recht genommen, die Gemahlinnen wurden zur Witwe, die Kinder zu Waisen erklärt: Wir haben in ê und reht genomen, ir lehen den herren ledig geseit, ir eliche wirtin witwen alles ir rechtes, ir eliche kint weisen alles ir rechtes 29. Der Verweis auf den Witwen- und Waisenstatus der Angehörigen impliziert nicht die Todesstrafe; gemeint war hier nicht der physische, sondern der rechtliche und damit auch soziale Tod. Wer mit der Acht belegt sei, der gelte vor dem Recht als Toter – so formuliert es kurz und prägnant um 1390 die sogenannte Blume von Magdeburg aus der Feder

27 Zu den Auslösern und dem Verlauf des Konflikts vgl. Alphons L, Geschichte Österreichs seit der Mitte des 13. Jahrhunderts (1281 –1358) (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichte Österreichs 1, Wien 1967) 154 –164; Karl-Friedrich K, Die Habsburger im Mittelalter. Von Rudolf I. bis Friedrich III. (Urban-Taschenbücher 452, Stuttgart 1994) 107 f.; ausführlich zum Königsmord von 1308 Bruno M, Studien zum habsburgischen Hausrecht. Zeitschrift für schweizerische Geschichte 25 (1945) 153 –176; zur späteren Verarbeitung vgl. Heinz-Dieter H, Mord – Memoria – Repräsentation. Dynastische Gedächtniskultur und franziskanische Religiosität am Beispiel der habsburgischen Grablege Königsfelden im späten Mittelalter, in: Imperios sacros, monarquías divinas / Heilige Herrscher, göttliche Monarchien, hg. von Carles R (Collecciò Humanitats 10, Castelló de la Plana 2002) 269 –290; Jana Madlen S, Königsmord und Memoria. Liturgisches und historiographisches Erinnern an Albrecht von Habsburg. Concilium medii aevi 15 (2012) 77 –115, 223 –306. 28 Zum spätmittelalterlichen Achtverfahren vgl. Friedrich B, Reichsacht und Anleite im Spätmittelalter. Ein Beitrag zur Geschichte der höchsten königlichen Gerichtsbarkeit im Alten Reich, besonders im 14. und 15. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 18, Köln–Wien 1986); ., Das Achtbuch der Könige Sigmund und Friedrich III. Einführung, Edition und Register (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 19, Köln – Wien 1986); Joseph P, Die Reichsacht im Mittelalter und besonders in der neueren Zeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte 105, Breslau 1911); Eduard E, Acht und Bann im Reichsrecht des Mittelalters (Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft im katholischen Deutschland. Veröffentlichungen der Sektion für Rechts- und Sozialwissenschaft 6, Paderborn 1909). 29 Constitutiones et acta publica imperatorum et regum 4. Inde ab a. MCCXCVIII usque ad a. MCCCXIII, pars 1, ed. Jakob S (MGH LL 4/4/1, Hannover–Leipzig 1906) 282 Nr. 323.

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des Juristen Nikolaus Wurm 30. Die Geächteten wurden „ihren Freunden verboten und ihren Feinden erlaubt“, so dass sie zwar straf los angegriffen werden, jedoch keinerlei Unterstützung von ihren Verwandten, Bündnispartnern oder Lehnsleuten in Anspruch nehmen durften 31. Das Kontaktverbot mit den Geächteten erstreckte sich nicht nur auf militärische Hilfe, sondern auf jegliche Form der Gemeinschaft und der damit verbundenen Unterstützung. Wer gegen diese Auf lagen der Acht verstieß – indem er etwa die Geächteten beherbergte oder unterstützte –, machte sich desselben Deliktes schuldig wie der Bestrafte und hatte mit denselben Sanktionen zu rechnen 32. Aus dieser Perspektive erwies sich das spätmittelalterliche Achtverfahren als probate Maßnahme, um politischen und sozialen Handlungsdruck aufzubauen und den Betroffenen zum Einlenken oder zur Unterwerfung zu zwingen. Obgleich in anderen Fällen der Erfolg ausblieb, so erzielte die Reichsacht im vorliegenden Fall durchaus die beabsichtigte Wirkung. Für Johann wog die Verhängung der Reichsacht umso schwerer, da bereits kurz nach der Ermordung Albrechts dessen Söhne Leopold und Friedrich gegen den Mörder zu Felde zogen. Da der neue König den Verwandtenmörder den Feinden preisgab und gleichzeitig Unterstützungsleistungen verbot, wäre der Konflikt mit überaus ungleich verteilten Mitteln verlaufen. Dass Johann von Österreich mit ernsthaften Gefahren für Leib und Leben rechnete, belegt die Tatsache, dass er nach der Verkündung der Achtsentenz flüchtete. Mathias von Neuenburg berichtet von multae occultaciones, Johann von Viktring bezeichnet den Habsburger als vagus et profugus 33. Nach erfolglosen Bemühungen um Begnadigung an der Kurie in Avignon begab sich Johann Parricida schließlich nach Italien. Im Jahr 1312 bat er den König, der auf seinem Italienzug weilte, um Gnade: Ins Gewand eines Augustinermönchs gekleidet, warf er sich Heinrich VII. in Pisa zu Füßen. Er verwies dabei auf die Entscheidung des Papstes, der beschlossen habe, die Angelegenheit solle nicht nach Kirchen-, sondern nach weltlichem Recht entschieden werden 34. Dieser Fall ist insofern bemerkenswert, da Johann von Viktring in diesem Zusammenhang vergleichsweise ausführliche Reflexionen anstellt: „Der Kaiser wurde nicht wenig bewegt und wußte nicht, was er thun solle. Er hielt es für hart, dem Flehenden Erhörung zu verweigern; aber ein so unerhörtes Verbrechen ungestraft zu lassen, erschien ihm ungerecht und gottlos. Im 30 Die Blume von Magdeburg, particula II. 1 c. 88, ed. Hugo B (Weimar 1868) 103: . . . dy weile ein man in dy ochte ist, so hot man in dem gerichte uor tot. Friedrich E, Art. Blume von Magdeburg. HRG2 2 (2014) 619 f. 31 MGH Const. 4/1 (wie Anm. 29) 282 Nr. 323: Wir verbieten si iren frue nden und erlouben si iren vienden. 32 Ebd.: Swer die vorgesriben verzalten lue te geh˚uset unde gehovet unde bi im behalten hat, do er den selben mort vor weste, sit der zit daz si den mort taten an dem Roemischen kunge Albreht seligen unserm vorvar des riches, daz die in die selben schult gevallen sint, alse die die umbe den selben mort verzalt sint. 33 Die Chronik des Mathias von Neuenburg, c. 36 (rec. B), ed. Adolf H (MGH SS rer. Germ. N. S. 4, Berlin 21955) 75: Iohannes vero dux post multas occultaciones tandem in forma beghardi veniens Pisas ab imperatore Heinrico inibi captus et post imperatoris mortem pluribus annis tentus tandem inibi honorifice est sepultus. Zum Bericht Johann von Viktrings vgl. unten Anm. 34. 34 Iohannis abbatis Victoriensis Liber certarum historiarum lib. 4 c. 9, ed. Fedor S (MGH SS rer. Germ. in us. schol. [36/2], Hannover–Leipzig 1910) 50: Et dum consisteret, ecce vagus et profugus dux Iohannes, Alberti regis interfector, in habitu religiosorum Augustinensium prostratus veniam postulavit, dicens se a papa directum, qui magis hoc facinus iudicandum iuxta leges civiles quam secundum sanctiones ecclesiasticas diffinivit. Vgl. zu Johann von Viktring Urban B–Margit K, Studien zur Geschichtsschreibung Johanns von Viktring (Das Kärntner Landesarchiv 22, Klagenfurt 1997).

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Streit der pietas und der equitas machte sich schließlich ein Mittelweg ausfindig, derart, dass der Verbrecher sein Leben nicht verlieren, sonst aber strenge bestraft werden sollte. So ordnete der Kaiser an, ihn in einen Turm zu legen und dort bis zu seinem Tod in strengster Haft zu halten, auf daß er wenigstens so bereue und die Verzeihung Gottes erlange“ 35. Der Kaiser entband Johann zwar nicht von seiner Strafe, hob jedoch die Acht auf und wandelte sie in Haft um. Im Benediktinerkloster S. Niccolò in Pisa erhielt Johann Parricida nach seinem Tod – am 13. Dezember 1312 oder 1313 – ein würdiges Begräbnis 36. Der Fall des Johann Parricida ist aus dem Grunde von zentraler Bedeutung, als der Zisterzienserabt Johann von Viktring die Funktionsweisen einer demütigen Gnadenbitte deutlich auf den Punkt bringt. Der inständig Flehende setzte durch seinen Unterwerfungsgestus den Adressaten so sehr unter Druck, dass Härte und Strenge in dieser Situation den Gebetenen in das Licht unnachgiebiger Herrschaftspraxis gerückt hätten. Indem Heinrich VII. den Verwandten- und Königsmörder zwar hart bestrafen, aber nicht völlig vernichten ließ, fand er schließlich einen Ausgleich. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass auch in den Fürstenspiegeln dieser Zeit entsprechende Überlegungen zum Verhältnis von Strafe und Vergebung angestellt wurden. Für Engelbert von Admont war es eine der größten Herausforderungen an den Fürsten, die „wahre Mitte“ (verum medium) zwischen angemessener Strenge und Nachsicht zu finden 37. Ganz ähnlich äußerte sich auch Johann von Viktring selbst in seinem Speculum militare – einem Fürstenspiegel, den er Herzog Otto dem Fröhlichen widmete 38. Je nach Situation sei vom Fürsten der severitas oder der clementia der Vorzug zu geben 39. Über die Gnadenbitte des Johann Parricida existiert jedoch ein zweiter ausführlicher Bericht, dessen Akzentsetzung deutlich von den Überlegungen des Zisterzienserabts abweicht. Es handelt sich um die Darstellung des Ferreto de’ Ferreti, der als 35 Iohannis abbatis Victoriensis Liber certarum historiarum (wie Anm. 34) lib. 4 c. 9 S. 50: Imperator anxius, quid ageret, non modicum turbabatur, petenti veniam denegare impium arbitrans; inultum tantum facinus dimittere minus iustum et temerarium videbatur. Inter molicionem tamen pietatis et equitatis medium adinvenit, ut reus non occideretur, nichilominus artissime puniretur. In turri eum concludi mandavit et usque in diem mortis sue arcius conservari, ut saltem sic peniteret et Dei indulgenciam obtineret. Übersetzung nach: Das Buch gewisser Geschichten von Abt Johann von Victring, übers. von Walter F (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 86, Leipzig 1888) 174 f.; vgl. Maria Elisabeth F, Kaiser Heinrich VII. im Spiegel der Historiographie. Eine faktenkritische und quellenkundliche Untersuchung ausgewählter Geschichtsschreiber der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte. Beihefte zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 9, Köln–Weimar–Wien 1992) 270. 36 Vgl. dazu oben Anm. 33 mit dem Verweis, dass Johann Parricida ein ehrenvolles Begräbnis erhielt, sowie L, Geschichte Österreichs (wie Anm. 27) 163 f. 37 Engelbert von Admont, Speculum virtutum lib. 11 c. 24, ed. Karl U (MGH Staatsschriften des späteren Mittelalters I / 2, Hannover 2004) 407: . . . multo plures principes et potentes legimus vel excessisse multum vel remissos fuisse propter difficultatem medii observandi quam verum medium tenuisse. Dazu Karl U, Clementia oder severitas. Historische Exempla über eine Paradoxie der Tugendlehre in den Fürstenspiegeln Engelberts von Admont und seiner Zeitgenossen, in: Historische Exempla in Fürstenspiegeln und Fürstenlehren, hg. von Christine R–Harald W (Kulturgeschichtliche Beiträge zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit 4, Frankfurt am Main u. a. 2011) 21 –41, hier 36; zu Engelbert von Admont vgl. Karl U, Engelbert von Admont. Ein Geistlicher im Spannungsfeld von Aristotelismus und christlicher Überlieferung (MIÖG Ergbd. 37, Wien–München 2000). 38 Karl U–Alexander S, Johann von Viktring als Autor des Speculum militare. DA 57 (2001) 515 –553, hier 544 –548. 39 U, Clementia oder severitas (wie Anm. 37) 37 –39.

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Notar in Vicenza tätig war. Seine um 1330 in Angriff genommene Historia widmet sich der Geschichte Italiens vom Tode Friedrichs II. bis zum Jahr 1318. Besonderes Gewicht kommt in seiner Darstellung dem Italienzug Heinrichs VII. zu, so dass er unter den italienischen Historiographen seiner Zeit als derjenige gilt, der sich am intensivsten und ausführlichsten mit diesen Ereignissen befasste 40. Den Luxemburger beschreibt er in einer Art und Weise, „die weit entfernt ist von jeder Stilisierung . . . nach einem bestimmten Ideal und die sein Verhalten in jeder Situation erneut prüft und beurteilt, so daß der König einmal als mild, gerecht und unparteiisch beschrieben werden kann, wenige Seiten weiter aber als treulos, räuberisch und bestechlich“ 41. Diese changierende Bewertung wird im Bericht über die Gnadenbitte Johann Parricidas besonders deutlich. Denn anders als bei Johann von Viktring fällte der Luxemburger seine Entscheidung nach Auskunft des Vicentiner Notars nicht aufgrund moralischer Erwägungen, sondern aus rein pragmatischen Überlegungen, den Nutzen für die eigene Herrschaftssicherung stets im Blick behaltend. Nach Ferreto de’ Ferreti habe sich Johann an den König mit dem Vorhaben gewandt, diesen durch Geldzahlungen zur Milde und Versöhnung zu bewegen. Daher habe sich der Habsburger mehrere Tage in der Nähe des königlichen Lagers in Genua aufgehalten, um zu einem geeigneten Zeitpunkt die Gunst des Augenblicks zu nutzen. Dieser schien gekommen, als sich Heinrich VII. beim Mahl befand und sich Johann ihm um Gnade bittend zu Füßen warf. Er habe sich zu seiner Schuld bekannt und dem Luxemburger Unterstützung für seinen Romzug angeboten. Obwohl Heinrich VII. – so unvermittelt mit dem Anliegen konfrontiert – nicht sofort eine Entscheidung treffen wollte, verwies er den Bittenden auf einen späteren Zeitpunkt nach dem Mahl. Hier stellt der Notar aus Vicenza nun umfangreiche Überlegungen über Heinrichs Urteil an. Einerseits habe den Herrscher das Unterstützungsangebot des jungen Habsburgers gelockt; andererseits hätte seine Begnadigung die Söhne des ermordeten Albrecht düpiert, von denen er ebenfalls ein militärisches Aufgebot erwartete. Über das Verhältnis von Gnade und Recht lässt Ferreti den Luxemburger nun folgende Gedanken anstellen: „. . . der zähe unversöhnliche Haß der Vettern Johanns ließ ihn mit Recht befürchten, daß er kleinmüthig erscheinen würde, wenn er das Richtschwert zu ergreifen zögere, und zwang ihn zu energischem Vorgehen. Denn abgesehen von dem Urtheil der allgemeinen Meinung besorgte der König, den Stolz des mächtigen Österreichers Friedrich und seiner vier Brüder zu verletzen, die . . . bereits rüsteten, den zweiten der Brüder Heinrich mit einer stattlichen Schaar Reisiger dem König zu senden. In solcher Verlegenheit zog es dieser vor gerecht statt milde zu handeln“ 42. Daher habe Heinrich VII. Johann bestrafen und in Fesseln legen lassen. Auf diese Weise, so schließt 40

Zu Ferreto de’ Ferreti vgl. F, Kaiser Heinrich VII. (wie Anm. 35) 108 –132. Ebd. 116 f. 42 Ferreti Vicentini Historia rerum in Italia gestarum ab anno MCCL ad annum MCCCXVIII, lib. 5 c. 3, ed. Carlo C (Le opere di Ferreto de’ Ferreti Vicentino 2. FSI 43, Roma 1914) 27: . . . sed intro agnatorum suorum pertinax odium, nulla pietate placandum, iustos Cesaris metus, ne forte differens iudicii gladium summere, pusilanimis censeatur, forti rerum actione, suggerebat. Verebatur nempe, preter fame vulgaris arbitratum, Friderici de Austria germanorumque quatuor fastus potentes elidere, qui . . . Henricum tamen, ex primogenitis duobus alterum, ad Cesarem, cum magna virorum hala, mittere frequentabant. His Cesar circumventus, iustus maluit esse, quam pius. Übersetzung nach: Aus der Geschichte des Ferreto von Vicenza, in: Das Leben Kaiser Heinrich des Siebenten, übers. von Walter F (Die Geschichtsschreiber der deutschen Vorzeit 79, Leipzig 1898) 375 –443, hier 403 f. 41

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Ferreto de’ Ferreti, habe er den Mittelweg zwischen besagten Tugenden gefunden: . . . hocque medium inter utrasque virtutes invenit 43. Später sollen die Anhänger seiner geschädigten Verwandten den Königsmörder vergiftet haben. Es geht an dieser Stelle nicht um eine Prüfung des Wahrheitsgehalts dieses Berichts, der das Ereignis nicht nur fälschlicherweise nach Genua verlegt, sondern den Habsburger später auch eines gewaltsamen Todes sterben lässt. Von Interesse ist vielmehr das Spannungsfeld zwischen Milde und Gerechtigkeit, das dem König eine Entscheidung abverlangt, die mit Blick auf die innerdynastische Situation im Hause Habsburg umso schwieriger zu treffen ist. Milde gegenüber dem um Gnade Bittenden hätte unweigerlich die Feindschaft der Söhne des ermordeten Königs nach sich gezogen, und der König hoffte auf Unterstützung beider Parteien. Die Abwägung zwischen Gnade und Recht gerät daher bei Ferreto de’ Ferreti zu einer Entscheidung, die in erster Linie von nüchternem Kalkül bestimmt ist. Die militärische Hilfe durch Albrechts Söhne erschien dem König wertvoller als die durch den Königsmörder, so dass diese Überlegung schließlich den Entschluss des Königs bestimmte. Abgesehen vom Kern des Ereignisses – Johann Parricidas Gnadenbitte vor Heinrich VII. und seiner anschließenden Inhaftierung – unterscheiden sich beide Berichte fundamental: auf der einen Seite der mit Bedacht den Mittelweg zwischen Gnade und Gerechtigkeit wählende Herrscher; auf der anderen Seite der König, der ausschließlich den eigenen Vorteil zum Maß seines Handelns macht. Doch gerade wegen dieser Widersprüche sind beide Überlieferungstraditionen für die Fragestellung des Beitrags umso wertvoller, da sie wichtige Einsichten in das Verhältnis idealtypischen Handelns einerseits und den Herausforderungen des politischen Alltagsgeschäfts andererseits liefern. Das Wechselverhältnis von Strafe und Gnade bzw. Strafverzicht oder Strafmilderung soll in den abschließenden Bemerkungen dieses Beitrags noch einmal systematisch in den Blick genommen werden.

Der Herrscher als Vermittler der Gnadenbitten In den bisher diskutierten Fällen fungierte der Herrscher als direkter Adressat der Gnadenbitten. Daneben etablierte sich im ausgehenden Mittelalter ebenfalls eine Rechtspraxis, in deren Rahmen dem Reichsoberhaupt die Rolle eines Vermittlers zukam. Während ihres Einritts in eine Stadt konnten Herrschaftsträger bei den dortigen Obrigkeiten um Gnade für diejenigen bitten, die der Stadt verwiesen waren. Beim Adventus spätmittelalterlicher Herrscher in ihre Reichsstädte entwickelte es sich zur geläufigen Praxis, dass der König als oberster Herr über Gericht und Gnade Ausgewiesene in die Stadt zurückführte. In dieser Rolle agierte der Herrscher gewissermaßen in einer doppelten Funktion: Zum einen wandten sich die der Stadt Verwiesenen um Erlass ihrer Strafe bittend an ihn, so dass der König aus dieser Perspektive der Adressat der Gnadenbitte war; zum anderen setzte er sich anschließend für die Begnadigung der Verbannten bei der städtischen Obrigkeit ein, so dass er nicht nur als Gebetener, sondern auch als Bittender erschien. Diese Rechtspraxis soll aus dem Grunde einer Analyse

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Ferreti Vicentini Historia (wie Anm. 42) lib. 5 c. 3 S. 27.

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unterzogen werden, weil sie das eben bereits angesprochene Spannungsverhältnis von Recht, Strafe und Gnade in besonderer Weise zum Ausdruck bringt. Personen, die gegen das Stadtrecht spätmittelalterlicher Kommunen verstoßen hatten, wurden in einigen Fällen mit einer temporären oder dauerhaften Ausweisung aus der Stadt bestraft. Neben schweren Verbrechen wie Mord wurden auch leichtere Verstöße mit der Ausweisung belegt 44. So enthält etwa das „Verzählbuch“ der sächsischen Stadt Freiberg aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in seinen knapp 1.900 Einträgen neben Gewaltverbrechen, schweren Eigentumsdelikten oder Meineid auch weniger gravierende Taten. Darunter finden sich etwa nächtliche Ruhestörung, Verbalinjurien, Zechprellerei, Verstöße gegen die Markt- und Gewerbeordnung und Verfehlungen gegen die moralische Ordnung 45. Zumeist konnte der Stadtverweis anstelle von peinlichen Strafen oder gar der Todesstrafe verhängt werden. Mit der städtischen Acht verbunden war stets die Rechtspraxis der Begnadigung. Als Vermittler des Gnadenersuchs fungierte entweder der König 46 oder der jeweilige Territorialherr 47. Die Bitte um Gnade an den Herrscher wurde in der Regel im Rahmen des Adventus ostentativ zum Ausdruck gebracht, indem sich die Verbannten am Pferd des Königs, den Steigbügeln oder der Kleidung festhielten und auf diese Weise in die Stadt zurückkehrten. In Frankfurt erreichte dies im Jahr 1442 wohl so tumultuarische Ausmaße, dass die Stadt Friedrich III. bei seinem Einzug zwölf Knechte an die Seite

44 Ahasver von B, Proscriptio. Zur Überlieferung und Praxis der Verfestung (Friedloslegung) im mittelalterlichen Lübeck. Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 48 (1968) 7 –16; Karin S-F, Das Achtbuch als Spiegel für städtische Konfliktsituationen? Kriminalität in Augsburg (ca. 1348 –1378). Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben 86 (1993) 45 –114; Gerd S, Falsches Spiel. Zur kriminalhistorischen Auswertung der spätmittelalterlichen Nürnberger Achtbücher. Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 82 (1995) 23 –35; Jörg R, Das Werder- und Achtbuch der Stadt Eisleben als rechts- und sozialgeschichtliche Quelle, in: Protokollband zum Kolloquium anlässlich der ersten urkundlichen Erwähnung Eislebens am 23. November 994, hg. von Gerlinde S (Veröffentlichungen der Lutherstätten Eisleben 1, Halle / Saale 1995) 115 –125; Martin S, „Vagati“ und „vagatae“ als Täter und Opfer in spätmittelalterlichen deutschen Achtbüchern, aufgezeigt am „Kulmer Gerichtsbuch“ von 1340 –1428, mit einem Vergleich des Augsburger Achtbuches von 1338 –1528 und der Nürnberger Acht-, Verbots- und Fehdebücher von 1285 –1403. ZRG Germ. Abt. 124 (2007) 301 –310; Felicitas S-G, Das Augsburger Achtbuch – ein Herrschaftsmedium der spätmittelalterlichen Stadt? (Phil. Diss. Augsburg 2009); Eberhard I, Die deutsche Stadt im Mittelalter. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft (Wien–Köln– Weimar 2012) 514 f. 45 Das Verzählbuch der Stadt Freiberg, in: Urkundenbuch der Stadt Freiberg in Sachsen 3, ed. Hubert E (Codex diplomaticus Saxoniae regiae II / 14, Leipzig 1891) 177 –265. 46 André H, Die Huldigung der Untertanen. Rechtskultur und Herrschaftsordnung (800 –1800) (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte 36, Stuttgart–New York 1991) 467 f.; Andreas B, Das Gnadenbitten in der Strafrechtspflege des 15. und 16. Jahrhunderts. Dargestellt unter besonderer Berücksichtigung von Quellen der Vorarlberger Gerichtsbezirke Feldkirch und des Hinteren Bregenzerwaldes (Rechtshistorische Reihe 143, Frankfurt am Main u. a. 1996) 43; Peter S, Eine Stadt vor Gericht. Recht und Alltag im spätmittelalterlichen Konstanz (Paderborn u. a. 2000) 278 –285; Gerrit Jasper S, Zeremoniell und Politik. Herrschereinzüge im spätmittelalterlichen Reich (Forschungen zur Kaiser- und Papstgeschichte des Mittelalters. Beih. zu J. F. Böhmer, Regesta Imperii 21, Köln–Weimar–Wien 2003) 350 –359. 47 Andrea B, Urfehde und ewige Gefangenschaft im mittelalterlichen Göttingen (Studien zur Geschichte der Stadt Göttingen 13, Göttingen 1980) 85 –94.

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stellte. Sie sollten Stangen tragen, an denen sich die Verbannten festhalten konnten 48. Dass sich zwischen König und Kommunen oftmals Konflikte um die Rückführung der Delinquenten entfachten, ist kaum verwunderlich. Denn für den König stellte der Gnadenakt ein unbestrittenes Herrschaftsrecht dar; für die Städte bedeutete die Rückkehr der Missetäter einen lästigen und bisweilen unzumutbaren Eingriff in ihre Gerichtsgewalt und Rechtsordnung 49. Als Friedrich III. im Jahr 1485 in die Reichstadt Nürnberg einritt, forderte er von den Vertretern der Stadt Vergebung für Verbannte, die der Stadt verwiesen worden waren. Diese hatten sich ihm auf dem Feld genähert und sollten mit ihm wieder in die Stadt zurückkehren dürfen. Der Nürnberger Rat erklärte, dass sich die Delinquenten schwerer Vergehen schuldig gemacht hätten und man einem derartigen Anliegen daher nicht ohne weiteres stattgeben könne. Die Nürnberger sicherten dem Kaiser zwar den Einlass der Verbannten zu, forderten jedoch, dass danach eine eingehende Prüfung durch den Rat stattfinden müsse. Grundsätzlich wolle man sich dem Habsburger aber in den Fällen gefügig zeigen, die zimlich sind zu piten . . . 50. Mit anderen Worten: Es oblag der Entscheidung der kommunalen Gremien, in welchen Fällen das Anliegen des Reichsoberhaupts gerechtfertigt war und in welchen Fällen nicht. Die Regel waren zähe Verhandlungen im Vorfeld des herrscherlichen Einzugs, in denen die genaue Anzahl der Verbannten festgelegt wurde. Beim eben angesprochen Nürnberger Adventus Friedrichs III. von 1485 waren es am Ende 21 Begnadigte – und zwar als Demonstration des guten Willens des Stadtrats und zu Ehren des Kaisers 51. Ruprecht von der Pfalz durfte bei seinem Adventus in Straßburg im Jahr 1400 nur einen Verbannten mit sich in die Stadt führen, der danach aber unverzüglich wieder ausgewiesen wurde 52. Ähnlich verfuhren die Kölner mit den Verbannten, die Friedrich III. im Anschluss an seine Aachener Krönung im Juni 1442 in die Rheinmetropole zurückgeführt hatte. Es handelte sich um mehrere des Totschlags verurteilte Missetäter, die sich an das Pferd des Königs gehängt und auf diese Weise Einlass in die Stadt erhalten hatten. Die so erteilte Amnestie währte jedoch nicht lange, denn am vierten Tag mussten die Delinquenten die Stadt wieder verlas-

48 Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Friedrich III. Zweite Abtheilung 1441 –1442, ed. Hermann –Ludwig Q (Deutsche Reichstagsakten. Ältere Reihe 16, Gotha 1921) 321 Nr. 144 § 5: Item man sal auch 12 starker knechte und zwen richter bestellen mit stangen, die hinder und umb den konig und die scheffen geen, zu halden und zu verwaren, das sie nit ubertrongen werden. an denselben stangen mogen hangen diejhenen, die der stadt verwiset sin und mit ime wider inne meinen zu kommen. 49 Dazu ausführlich G, Kultur der Bitte (wie Anm. 7) 324 –338. 50 Tucher’sche Fortsetzung der Jahrbücher bis 1469, ed. Carl H, in: Die Chroniken der fränkischen Städte. Nürnberg 5 (Die Chroniken der deutschen Städte 11, Leipzig 1874) 441 –507, hier 483 f.: Item die k. mt. sant im feld her Sigmund Prwschenck zu den herrn des rats pegerende, wie etwe vil frawen und mann wern, die der k. mt. an lüffen, den die stat versagt wer, den sicherhait zugeben, mit seiner k. mt. ein zekumen. Darauf im geantwort wart, der k. mt. zu sagen, das wern leut, die sich schwerlich vergessen heten, darumb sie gestraft sein, die sein gnaden zu begeben heten sie keinen befelhe von einem rat, aber des wolten sie sich mechtigen, das sie mit seinen gnaden ein kumen, so werd ein rat ir handlung verhörn und setzten in kainen zweifel, ein rat würd der k. mt. in etlichen dingen, die zimlich sind zu piten, seinen gnaden darinnen wildfarn. 51 Tucher’sche Fortsetzung (wie Anm. 50) 485. 52 Deutsche Reichstagsakten unter König Ruprecht. Erste Abtheilung 1400 –1401, ed. Julius W (Deutsche Reichstagsakten, Ältere Reihe 4, Gotha 1882) 199 Nr. 173: danne er meinde, keme dehein echter ungeverliche mit ime hinin, den solte man zu stunt heissen wider hinweggon.

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sen 53. Andere Verbannte, die nicht näher erläuterte Taten begangen hatten, kamen ebenfalls auf diese Weise in die Stadt und durften während des gesamten Aufenthalts des Königs in Köln bleiben 54. Die Verweildauer richtete sich also nach dem Ausmaß der begangenen Straftat, und in keinem Fall erhielten die Verbannten die Erlaubnis einer dauerhaften Rückkehr in ihre Heimatstadt. Diese Fälle zeigen deutlich, dass es in letzter Konsequenz weniger um die tatsächliche Begnadigung der Delinquenten ging. Denn das Schicksal der Verbannten änderte sich durch die kurzzeitige Rückführung in die Stadt nicht nennenswert; eine wirkliche Reintegration der Verbannten war weder von Seiten des Königs noch von Seiten der Stadt beabsichtigt. Von einem Rechtsbrauch, der nachhaltig in die kommunale Gerichtspraxis eingriff oder gar den Stadtfrieden durch die massenhafte Rückführung von Verbrechern gefährdete, kann also kaum die Rede sein. Im Übrigen erwiesen sich die Kommunen als höchst erfinderisch, wenn es darum ging, sich vor den königlichen Gnadenbitten zu schützen. In Basel etwa verlangte man von den Missetätern bereits bei ihrer Ausweisung die eidliche Zusage, dass sie künftig weder mit dem Kaiser, König oder einem Fürsten in die Stadt zurückkehren und um Gnade bitten wollten 55. Die Augsburger ergriffen beim Aufenthalt Maximilians im Jahr 1516 eine ähnliche Vorsorgemaßnahme. Als während des Herrscherbesuchs verschiedene Missetäter der Stadt verwiesen wurden, entschied der Stadtrat, deren Namen bis zur Abreise des Königs geheim zu halten, so dass ir m[ayestät] und ain rat unangefochten beleiben der furbet halben 56. Dies schien den Augsburgern offensichtlich der sicherste Schutz vor den herrscherlichen Fürbitten. Interpretiert man die königliche Vermittlung der Gnade jedoch nicht als Mittel der Amnestie, sondern rückt man die Verbindung von Herrschaftsanspruch und Gnadenerweis in den Fokus der Überlegungen, gewinnt der Brauch eine andere Aussage. Es ging vielmehr um die Präsentation der königlichen Verfügungsgewalt über Recht und Gericht in den Reichsstädten und damit um ein elementares Herrschaftsrecht. Da die Gewährung von Strafmilderung oder gar -erlass als Ausweis von Herrschaft galt,

53 Memoriale des 15. Jahrhunderts, ed. Carl H, in: Die Chroniken der niederrheinischen Städte. Cöln 1 (Die Chroniken der deutschen Städte 12, Leipzig 1875) 325 –387, hier 365: . . . ind irre waile 5 of 6 hiengen an des koeninks henxt, die doitslege gedaen hadden, ind die quaemen mit in die stat. Ind as der dirde dach umb is, so moissent si weder uis der stat. 54 Ebd. 367: Item die ghene, die van misdaet uisser der stat waren ind mit dem koeninghe in die stat quaemen, die waren vri in der stat, bis dat der koenink weder enwech zoich. 55 Sie mussten versprechen, weder mit keysern kunigen fúrsten legaten herren noch fröwen . . . noch sust durch einicherley bitt oder ursach willen in die statt Basel in einich wise noch wege ze kommen . . . . Zitiert nach Karl M, Die Verbrechen und ihre Straffolgen im Basler Recht des späteren Mittelalters, 1. Teil: Die Verbrechen und ihre Straffolgen im allgemeinen (Basel 1931) 138. 56 Zitiert nach Adolf B, Verbrechen und Verbrecher zu Augsburg in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Zeitschrift des historischen Vereins für Schwaben und Neuenburg 4 (1877) 160 –231, hier 181 Anm. 1: Anno 1516 auf Sambstag nach Galli hat der gros rat den nachbenanten die stat verpoten, doch sol daryn still gestanden werden bis auf Kaiserl. Maj. weckziehen, damit ir M. und ein rat unangefochten beleiben der furbet halben. Danach folgen die Namen der Verurteilten. Dazu Carl A. H, Die gesellschaftliche und rechtliche Bedeutung von Suppliken im städtischen Strafverfahren des 16. Jahrhunderts. Das Beispiel Augsburg, in: Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV –XVIII. Suppliche, gravamina, lettere / Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert. Bitten, Beschwerden, Briefe, hg. von Cecilia N–Andreas W (AISIGT. Contributi 14, Bologna–Berlin 2004) 73 –93, hier 86.

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standen sich in dieser Situation städtische Autonomie- und königliche Machtansprüche gegenüber. Deutlich zeigt sich dieser kommunale Anspruch etwa im Hinweis der Nürnberger gegenüber Friedrich III., die betonten, dass die Strafgewalt schließlich die Grundlage erfolgreicher Herrschaft sei: dann wo das nicht wer, so verstünd sein k. mt., das man an straf nit wol regirn möcht 57. In der Begnadigung hingegen – auch wenn sie nur temporär war – manifestierte sich der Vorrang der herrscherlichen Verfügungsgewalt über pax und iustitia. Die Kommunen werteten die Fürsprache des Herrschers für die Verbannten wohl eher als Zwang und weniger als Bitte. Dies zeigt die Tatsache, dass man dem Gnadenersuchen, wenn auch nur partiell, stattgab. Auf diese Weise zeigte man Entgegenkommen, und der König honorierte diese Bereitschaft dadurch, dass er sich mit dem Erreichten zufrieden gab. In diesem Kontext spricht eine Aufforderung für sich, die die Nürnberger im Rahmen der Begnadigungen von 1485 an Friedrich III. richteten: und peten sein k. mt. unterteniglich wölle sich solicher person genügen lassen und uns fue rter mit pet nit weiter beschwern . . . 58. Die Vermittlung der Gnadenbitten durch den König erwies sich als konstituierender Faktor in einem Geflecht wechselseitiger Ansprüche zwischen König und Kommunen. Aus dieser Perspektive waren die Delinquenten weniger aktive Subjekte der Handlung, sondern sie spielten vielmehr eine Art Statistenrolle in der Beziehung von König und Reichsstädten. In der königlichen Vermittlung um Gnade manifestierten sich der Herrschaftsanspruch des Reichsoberhaupts und der von den Städten erwartete Gehorsam gleichermaßen. Dies führt zu einigen abschließenden Überlegungen, die das Wechselverhältnis von Recht und Gnade und die Bedeutung für die spätmittelalterliche Herrschaftsordnung in den Blick nehmen.

Das Verhältnis von Gnade und Recht Die mittelalterliche Gnadenpraxis war grundsätzlich durch zwei Traditionslinien bestimmt: zum Ersten durch die christliche Vorstellung, die einen Kausalzusammenhang von Sünde, Genugtuung und Versöhnung herstellte; zum Zweiten durch einen eher machtpolitischen Zugriff, der die Fähigkeit zu Gnade und Vergebung mit einem starken und durchsetzungsfähigen Herrscher verband. Ohne Zweifel bewegte sich die mittelalterliche Regierungspraxis im Spannungsfeld beider Bereiche, und im Einzelfall sind religiöse und weltliche Aspekte kaum voneinander zu trennen. So galten die Gewährung von Milde und Verzeihung einerseits und die Durchsetzung der Strafgewalt andererseits seit jeher als zentrale Elemente von Herrschaft 59. Als Leitgedanke fungiert stets die Vorstellung, dass ein Herrschaftsträger nicht nur das Recht der Strafverhängung besaß, sondern auch die Möglichkeit, von den eigentlich verdienten Sanktionen

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Tucher’sche Fortsetzung (wie Anm. 50) 485. Ebd. 59 Hans-Jürgen B, Recht, Billigkeit und Gnade in der europäischen Rechtsgeschichte, in: Recht und Gerechtigkeit. Vorträge und Beiträge als Grundlage für Deutung und Bewältigung heutiger Probleme, hg. von Eckart O (Humanistische Bildung 13, Stuttgart 1989) 45 –64; Michael H, Clemens princeps. Clementia as a Princely Virtue in Michael of Prague’s De regimine principum, in: Princely Virtutes in the Middle Ages. 1200 –1500, hg. von István Pieter B–Cary J. N (Disputatio 9, Turnhout 2007) 201 –217. 58

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loszusprechen oder diese zumindest zu mildern. Nur wer die Möglichkeit der Härte und Strafe besitze, konnte den Unterlegenen gegenüber Milde zeigen. Zu erinnern ist in diesem Zusammenhang zunächst an die (spät)mittelalterliche Herrscherethik und an die idealtypischen Formen des Regierungshandelns. Die Gewährung von pax et iustitia stand seit jeher im Zentrum der Herrschaftspraxis 60; diesen Anforderungen begegnete das Reichoberhaupt durch die Herrschaftsgewalt (potestas). Die potestas war eine an Recht und Herrschaft geknüpfte und somit sozial lizenzierte Form der Gewalt. Sie war unabdingbar für die Durchsetzung von Herrschaft, sie legitimierte Sanktionen und Strafen, die durchaus auch mit der Anwendung physischer Gewalt oder mit dem Ausschluss aus der Rechts- und Friedensgemeinschaft verbunden sein konnten 61. Doch die Rechtsordnung basierte nicht nur auf Strafe und Gewalt, sondern auch auf dem Verzicht darauf. Insbesondere in Fällen, in denen den Delinquenten peinliche Strafen oder Todesstrafen drohten, erwiesen sich eine Milderung oder gar die Aufhebung der Sanktionen als wichtiges Korrektiv. Die Möglichkeit, nach verhängten Strafen Gnade walten zu lassen, wird seit jeher als genuines Herrschaftsrecht begriffen. Einschlägige spätmittelalterliche Rechtssprichwörter etwa thematisieren deutlich die Verbindung von Herrschaft und Recht einerseits und Gnade und Vergebung andererseits: Wer die That richtet, hat Gewalt Gnade zu tun 62. Gnade erscheint in diesem Zusammenhang als integraler Bestandteil mittelalterlicher Herrschaftsgewalt. Erst in der Summe von Strafe und Strafverzicht konnte spätmittelalterliche Herrschaft eine das Gemeinwesen stabilisierende Wirkung entfalten. Aus dieser Perspektive präsentierte der Gnade gewährende Herrscher keine Schwäche oder mangelnde Durchsetzungsfähigkeit, sondern er übte ein elementares Herrschaftsrecht aus. Nicht zuletzt aus diesem Grund entwickelte sich die Frage um die Begnadigung der städtischen Delinquenten als Projektionsfläche königlicher und kommunaler Verfügungsgewalt. In der direkten Begegnung zwischen dem Reichsoberhaupt und den um Gnade Bittenden spielte die Art und Weise, wie um Gnade gebeten wurde, eine ungleich größere Rolle als auf der Ebene der schriftlichen Kommunikation. Denn in der faceto-face-Kommunikation konnte die Dringlichkeit des Anliegens durch Gesten und eine entsprechende Körperhaltung umso deutlicher zum Ausdruck gebracht werden. 60 Hans H, Pax et iustita (Berichte aus der Sitzung der Joachim Jungius-Gesellschaft der Wissenschaften Hamburg I / 3, Göttingen 21987); Gerhard D, Friede durch Recht, in: Träger und Instrumentarien des Friedens im Mittelalter, hg. von Johannes F (VuF 43, Sigmaringen 1996) 203 – 227; Gerhard D, Zum Verhältnis von Friede, Recht und Gerechtigkeit in Theorie und Praxis des Mittelalters, in: „Panta rei“. Studi dedicati a Manlio B 2, hg. von Orazio C (Roma 2004) 43 –62; Justice et miséricorde. Discours et pratiques dans l’Occident médiéval, hg. von Catherine V (Cahiers de l’Institut d’anthropologie juridique 43, Limoges 2015). 61 Hans-Werner G, Potestas. Staatsgewalt und Legitimität im Spiegel der Terminologie frühund hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber, in: ., Vorstellungsgeschichte. Gesammelte Schriften zu Wahrnehmungen, Deutungen und Vorstellungen im Mittelalter, hg. von Anna A et al. (Bochum 2007) 273 –286. Zum Spannungsverhältnis von potestas und violentia vgl. Claude G, Violence et ordre public au Moyen Âge (Les médiévistes français 5. Paris 2005); Manuel B, Violentia und potestas. Mediävistische Gewaltforschung im interdisziplinären Feld. Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 127 (2005) 436 –458; Gewalt und ihre Legitimation im Mittelalter. Symposium des Philosophischen Seminars der Universität Hannover vom 26. bis 28. Februar 2002, hg. von Günther M (Contradictio 1, Würzburg 2003). 62 Eduard G–Mathias D, Deutsche Rechtssprichwörter (Nördlingen 1864) 397.

In . . . dingen, die zimlich sind zu piten

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Und hier galten – je nach Inhalt des Anliegens – unterschiedliche Regeln. Im alltäglichen Regierungshandeln galt die fußfällige Bitte als übermäßige Erniedrigung, wie die Anweisungen Joseph Grünpecks in seiner Historia Friderici et Maximiliani dokumentieren. In Situationen, die den Rechtsstatus des Bittenden veränderten und seine Beziehung zum König neu konfigurierten, war die Bitte an den Herrscher eine Projektionsfläche, die das künftige Verhältnis zum Ausdruck brachte. Das Beispiel der Bitte um das Lehen zeigt etwa, dass der um das Lehen ersuchende Reichsvasall durch das im Knien vorgetragene Anliegen künftige Treue und künftigen Gehorsam präfigurierte. Andere Regeln galten indes, wenn ein Reichsangehöriger nach einem schwerwiegenden Vergehen den Herrscher um Straferlass anflehte – hier war die Prostration die angemessene Form, die Gnadenbitte zum Ausdruck zu bringen. Es wäre nun ein reizvolles Unterfangen zu überprüfen, ob und inwieweit sich die Formen der direkten, persönlichen Interaktion auf die Formen der schriftlichen Kommunikation auswirkten. So fand etwa die Tatsache, dass die Bitten um Lehen in demütiger Form vorgetragen wurden, seit der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts Niederschlag in den Lehnsurkunden. Der Verweis auf die demütige Bitte des Vasallen zählte seitdem zum integralen Bestandteil der Diplome. Sie wurden etwa am Wiener Hof Albrechts II. von Habsburg mit der Erwähnung ausgestellt, dass der Lehnsmann diemuticlich oder mit flissz gebeten habe 63, oder Albrecht erläuterte, dass er eine redliche und zimliche bete wohlwollend behandelt habe 64. Auf dieser Fährte könnten weitere Untersuchungen sicherlich hilfreiche Befunde zutage fördern. Dass die Formen der in der direkten Interaktion vorgetragenen Bitte durchaus auch Einfluss auf deren spätere Schriftform nehmen konnten, belegt das zu Beginn dieses Beitrags beschriebene „Stirn-“oder „Hirnschlagen“, das durch den habsburgischen Gesandten Siegmund von Herberstein ausführlich dokumentiert wurde. Denn dieser Gestus fand nicht nur im höfischen Zeremoniell in der face-to-face-Situation Anwendung, sondern auch als Metapher einer inständigen Bitte in Briefform. Das ˇcelobit’e entwickelte sich zu einem so verbreiteten Bittgestus, dass der Terminus seit dem 17. Jahrhundert auch für schriftliche Gesuche an den Moskauer Herrscher verwendet wurde, ohne dass dabei der eigentliche Akt überhaupt noch vollzogen werden musste 65.

63 Das Reichsregister König Albrechts II., bearb. von Heinrich K (MÖStA Ergbd. 4, Wien 1955) 34 f. Nr. 16; 68 f. Nr. 70; 73 f. Nr. 76; 83 f. Nr. 93; 94 Nr. 118 f.; 97 Nr. 121; 152 Nr. 213; 154 f. Nr. 219; 159 f. Nr. 226; 160 f. Nr. 227 f.; 165 f. Nr. 234 f.; 187 f. Nr. 264; 194 f. Nr. 275; 205 ff. Nr. 302; 208 f. Nr. 304 f.; 224 Nr. 339; 226 f. Nr. 343; 250 f. Nr. 386. In anderen Stücken findet sich der vergleichbare Hinweis auf die fleissige bete (42 f. Nr. 27; 68 f. Nr. 70; 73 f. Nr. 76) bzw. die diemutige bete (ebd. 153 f. Nr. 217). 64 Ebd. 229 Nr. 345. 65 Vgl. Svjatoslav C. V, Leksika russkich cˇ elobit’nych XVII veka [Der Wortschatz der russischen Bittschriften des 17. Jahrhunderts] (Leningrad 1974) sowie die Angaben in Anm. 1. In Frank Kämpfers Studie zum russischen Herrscherbild findet sich die Darstellung einer Bittschrift aus dem 17. Jahrhundert, in der die beschriebene Haltung illustriert ist. Dazu Frank K, Das russische Herrscherbild. Von den Anfängen bis zu Peter dem Großen. Studien zur Entwicklung politischer Ikonographie im byzantinischen Kulturkreis (Beiträge zur Kunst des christlichen Ostens 8, Recklinghausen 1978) 228 Abb. 137, zur Interpretation vgl. ebd. 225 f.

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Zusammenfassung Der Beitrag nimmt nicht die schriftlichen Bitten an den Herrscher in den Blick, sondern ihre mündlichen Formen. Sie wurden in der direkten Begegnung der Interaktionspartner artikuliert, so dass ihre Ausdrucksformen teilweise erheblich von den stark formalisierten schriftlichen Versionen abwichen. Diese Art des Bittens wird am Beispiel der Gnadenbitten auf Reichsebene untersucht. Zwei Aspekte sind in besonderer Weise berücksichtigt: Im ersten Teil sind Anliegen diskutiert, die an den Herrscher selbst gerichtet waren. Der zweite Teil widmet sich Aufforderungen, in denen der König in doppelter Funktion agierte, indem er für Dritte Gnadenbitten formulierte und auf diese Weise gleichzeitig als Gebetender und Bittender handelte. Von zentraler Bedeutung war stets die Art und Weise, w i e Bitten in der direkten Begegnung vorgetragen wurden. Anders als in schriftlich formulierten Anliegen konnte die Dringlichkeit eines Ersuchens in diesen Fällen durch nonverbale Kommunikationsformen akzentuiert werden. Zu nennen sind etwa Zeichen und Gesten oder eine bestimmte Köperhaltung, die entsprechende verbale Ausführungen begleiteten. Sie variierten je nach Situation und Inhalt des Anliegens. Während im alltäglichen Regierungshandeln die fußfällige Bitte als übermäßige Erniedrigung galt, erwies sie sich in Situationen, die den Rechtsstatus des Bittenden veränderten, oder in Fällen, in denen ein Reichsangehöriger nach einem schwerwiegenden Vergehen den Herrscher um Straferlass anflehte, als die adäquate Kommunikationsform.

Das Votum ad imperatorem für den Schneider Niklas Huber Ein Fallbeispiel aus der Onlinedatenbank „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612)“ Thomas Schreiber

Im Sommer des Jahres 1594 brachte der Schneidergeselle Niklas Huber aus Regensburg seine Verzweif lung mit den folgenden Worten zum Ausdruck: Habe derowegen nirgents mehr zueflucht zue suchen gewist allein bey Euer Röm(isch) Kay(serlichen) May(es)t(ät) 1. Bei diesen Zeilen handelt es sich um einen Auszug aus der Bittschrift, mit der sich Niklas Huber direkt an den Kaiser, das Oberhaupt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, wandte. Das Einreichen von Bittschriften war in der Frühen Neuzeit und auch schon früher eine übliche Praxis der Untertanen 2. Frauen wie Männer richteten regelmäßig ihre supplicationes 3, so der zeitgenössische Terminus,

1 Supplikation Niklas Hubers an Kaiser, undat. (1594): Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 491 –492, hier 491v; http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/727 [14. 3. 2018]. – Abkürzungen: APA = Alte Prager Akten; GAMS = Geisteswissenschaftliches Asset Management System; RHR = Reichshofrat. 2 Ausführlicher Forschungsbericht bei Cecilia N–Andreas W, Einführung, in: Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14. –18. Jahrhundert), hg. von . (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient 19, Berlin 2005) 7 –16; seitdem v. a. folgende größere Arbeiten: Ulrike L, Das Herz der Justitia. Gestaltungspotentiale territorialer Herrschaft in der Strafrechts- und Gnadenpraxis am Beispiel Kursachsens 1548 –1648 (Konflikte und Kultur – historische Perspektiven 16, Konstanz 2008) (zugleich Diss. Dresden 2006 unter dem Titel: „Justitienfürst“ und gnädiger Herrscher); Birgit R, Die Supplikations- und Gnadenpraxis in Brandenburg-Preußen. Eine Untersuchung am Beispiel der Kurmark unter Friedrich Wilhelm II. (1786 –1797) (Quellen und Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte 35, Berlin 2008). 3 Am Reichshofrat trugen die Bittschriften unterschiedlichste Bezeichnungen, wie etwa: Supplicieren, Supplication, Bitten, Anrueffen, Anlangen, Begeren: Supplikation Martin Tangels an Kaiser, undat. (1582): Wien, HHStA, RHR, Geleitbriefe, K. 8, Konv. 2, fol. 3 –5, hier 5v, http://www-gewi.uni-graz.at/ suppliken/de/verfahren/4 [14. 3. 2018]; Supplikation Leonhard Wörlins an Kaiser, undat. (1582): Ebd., Konv. 5, fol. 130 –131, hier 131v, http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/5 [14. 3. 2018]; Supplikation Balthasar Tetschers an Kaiser, undat. (1597): Ebd., Konv. 1, fol. 52 –55, hier 55v, http:// www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/7 [14. 3. 2018]; Supplikation Lorenz Krennhubers an Kaiser, undat. (1583): Wien, HHStA, RHR, APA, K. 89, fol. 342 –344, hier 344v, http://www-gewi.uni-graz. at/suppliken/de/verfahren/25 [14. 3. 2018]; Supplikation Hans Nussers an Kaiser, undat. (1593): Wien, HHStA, RHR, Passbriefe, K. 12, Konv. 1, unfol., http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/32 [14. 3. 2018]; Supplikation Anna Eberlings an Kaiser, undat. (1594): Wien, HHStA, RHR, APA, K. 49, Konv. 2, fol. 211 –212, hier 212r, http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/419 [14. 3. 2018].

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aufgrund unterschiedlichster Belange an ihre Herrschaften 4. Niklas Huber dagegen wandte sich nicht an seine unmittelbare Herrschaft, die Stadt Regensburg, sondern an die höchste Obrigkeit im Reich. Damit durchbrach ein „einfacher“ reichsstädtischer Bürger alle Ebenen der Reichshierarchie 5, um seine persönliche Situation dem Kaiser zu unterbreiten. Was veranlasste nun diesen Regensburger Bürger, beim Reichsoberhaupt um Hilfe zu bitten? Der Schneidergeselle begründete seinen Supplikationsgang an den Kaiser in seiner Bittschrift ausführlich.

Auftakt zur Via supplicationis ad imperatorem Einige Monate zuvor war Huber mit einem Schreinergesellen in Streit geraten. Dieser habe ihn aufgrund seiner Konversion zum Katholizismus verbal attackiert und unverursacht geschmehet, wie ich ein abdrinniger ketzer undt von den evangelischen glauben (wie sie es nennen) abgetrunnen, undt mich zue den Jesuwietischen teuffelsgeschmeiß begeben 6. Derart beleidigt, herrschte der in Rage geratene Supplikant den Schreinergesellen seinerseits an und bezeichnete diesen als Schelm 7. Der Schreiner beschwerte sich daraufhin umgehend bei Kämmerer und Rat der Stadt Regensburg. Huber wurde einbestellt und musste sich mehrfach vor seiner Obrigkeit rechtfertigen. Er leistete dem Beleidigten zwar Schadensersatz, wurde aber trotzdem aus der Handwerkszunft ausgeschlossen und der Stadt verwiesen 8. Damit waren die ökonomischen Grundlagen Niklas Hubers, aber auch seiner Angehörigen, in höchstem Maße gefährdet. Es drohte das unmittelbare Abgleiten der Familie in die Vagabondage 9. Hubers Ehefrau supplizierte in der Folge mehrfach an den Rat der Stadt Regensburg und bat um Begnadigung ihres Gatten 10. Ihre Bemühungen blieben jedoch

Supplikationen an den Kaiser sind zumeist nicht datiert, lassen sich aber anhand der Bearbeitungsvermerke oder beigelegter kaiserlicher Konzepte zeitlich einordnen; zur Begriffsgeschichte siehe Helmut N, Reichstag und Supplikationsausschuß. Ein Beitrag zur Reichsverfassungsgeschichte der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Schriften zur Verfassungsgeschichte 24, Berlin 1976) 74 –98; R, Gnadenpraxis (wie Anm. 2) 84. 4 Die Kurmainzische Administration versuchte beispielsweise das exponentiell ansteigende Supplikenwesen durch Normsetzungen einzudämmen. Die Legitimität des Supplizierens zogen aber weder Landesfürst noch kurfürstliche Regierung in Zweifel: Karl H, Das Aushandeln von Sanktionen und Normen. Zu Funktion und Bedeutung von Supplikationen in der frühneuzeitlichen Strafjustiz, in: Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 2) 243 –274, hier 249. 5 Sabine U, Um der Barmherzigkeit Gottes willen: Gnadengesuche an den Kaiser in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Das Reich in der Region während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, hg. von Rolf K–Sabine U (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Oberschwabens und der benachbarten Regionen 6, Konstanz 2005) 161 –184, hier 162. 6 Supplikation Niklas Hubers an Kaiser, undat. (1594) (wie Anm. 1) fol. 491r. 7 Ebd. 8 Ebd. 9 Ebd fol. 491r –v; vgl. auch U, Barmherzigkeit (wie Anm. 5) 163. 10 Supplikationen als Mittel der Verhandlung über Sanktionen (Begnadigungspraxis) spielten in der Kommunikation zwischen Untertanen und ihren direkten Obrigkeiten eine hervorgehobene Rolle. Frauen traten in diesem Kontext häufig als Supplikantinnen für ihre straffällig gewordenen Ehemänner auf (oder zeigten diese auch an): H, Aushandeln (wie Anm. 4) 258 –264.

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erfolglos 11. Huber erkannte nun offensichtlich, dass die Möglichkeiten, den drohenden gesellschaftlichen wie ökonomischen Ruin noch abzuwenden, vor seiner Obrigkeit ausgeschöpft waren. Der städtische Rat hatte das Maß an Herrschaftsakzeptanz Hubers überschritten 12, und dieser fühlte sich nun berechtigt, vor dem Kaiser über seine Obrigkeit Beschwerde zu führen. Dies zeigt, dass Niklas Huber eine sehr konkrete Auffassung von den Grenzen akzeptabler Herrschaftsausübung hatte und im Falle der Überschreitung Handlungsoptionen kannte, sich gegen seine Obrigkeit zur Wehr zu setzen. Deutlich wird hier die Schlüsselfunktion des Kaisers für die Kanalisierung von Konflikten zwischen Untertanen und ihren Herrschaften 13. Allerdings handelt es sich um keinen Untertanenkonflikt im Sinne der Revoltenforschung, d. h. im Kontext größerer sozialer Erhebungen 14, sondern um einen individuellen Untertanenkonflikt 15. Tatsächlich waren am Reichshofrat Untertanenkollektive, die sich über ihre Herren

11 Ob ich nun wol etlich mal bei einem erbarn rath durch mein weib und kinderlein umb gnade angelanget, habe doch nichts erlangen konnen: Supplikation Niklas Hubers an Kaiser, undat. (1594) (wie Anm. 1) fol. 491r. 12 Verständnisfördernd in diesem Kontext ist der von Stefan Brakensiek vorgeschlagene Begriff der akzeptanzorientierten Herrschaft, demnach herrschaftliche Anordnungen „religiösen, ethischen beziehungsweise juristischen Normen entsprechen“ mussten. Nur jene Herrschaften galten als rechte christliche Obrigkeiten, die ihren Untertanen das Fundamentalrecht des Gehör-Findens nicht verweigerten. Siehe Stefan B, Akzeptanzorientierte Herrschaft. Überlegungen zur politischen Kultur der Frühen Neuzeit, in: Die Frühe Neuzeit als Epoche, hg. von Helmut N (HZ Beih. N. F. 49, München 2009) 395 –406, hier 400 f.; Brakensiek bezieht sich hier zwar auf den frühneuzeitlichen Fürstenstaat, doch ist seine Definition von Herrschaftsakzeptanz in diesem speziellen Kontext m. E. ebenso auf die städtische Obrigkeit anwendbar. 13 Diese Funktion des Kaisers wurde von Sabine Ullmann im Hinblick auf die eingesetzten Kommissionen besonders deutlich herausgearbeitet. Zusammenfassend und diesem Gedankengang zugrunde liegend: Sabine U, Kommissionen. Zeitenblicke 3/3 (13. 12. 2004) 6 –8, http://www. zeitenblicke .de/2004/03/ullmann/index.html [15. 3. 2018]; ausführlich hierzu: ., Friedenssicherung als Kommunikationsereignis: Zur Arbeitsweise des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II., in: Kommunikation und Region, hg. von Carl A. H–Rolf K (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Oberschwabens und der benachbarten Regionen 4, Konstanz 2001) 203 –228; wichtig auch Stefan Brakensieks Hinweis, dass die Akzeptanz von Herrschaft auch maßgeblich davon abhing, ob eine Gerichtsbarkeit bereitgestellt wurde, die man zur Konfliktschlichtung anrufen konnte: B, Akzeptanzorientierte Herrschaft (wie Anm. 12) 401. 14 Maßgeblich hier Winfried S, Die veränderte Bedeutung sozialer Konflikte im 16. und 17. Jahrhundert, in: Der Deutsche Bauernkrieg 1524 –1526, hg. von Hans-Ulrich W (Geschichte und Gesellschaft. Sonderh. 1, Göttingen 1975) 277 –302; ., Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit (Neuzeit im Aufbau 6, Stuttgart–Bad Cannstatt 1980); ., Europäische Bauernrevolten in der frühen Neuzeit (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft 393, Frankfurt a. M. 1982); ., Oberdeutsche Untertanenrevolten zwischen 1580 und 1620, in: Bauer, Reich und Reformation. Festschrift für Günther F zum 80. Geburtstag, hg. von Peter B (Stuttgart 1982) 120 –147; Werner T, Untertanenprozesse am Reichshofrat. Zeitenblicke 3/3 (13. 12. 2004), http://www.zeitenblicke. de/2004/03/trossbach/trossbach.pdf [16. 3. 2018]; Werner T, „Widerständige Leute“? ‚Protest‘ und ‚Abwehrverhalten‘ in Territorien zwischen Elbe und Oder 1550 –1789, in: Untertanen, Herrschaft und Staat in Böhmen und im „Alten Reich“. Sozialgeschichtliche Studien zur Frühen Neuzeit, hg. von Markus C–Robert L (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 99, München 2005) 203 –234. 15 Ein individueller Untertanenkonflikt in dem von Siegrid Westphal definierten Sinne: Siegrid W, Weshalber wir mit diesem ganz unerträglich gewordenen Weibe mancherlei unangenehme Beschäftigung haben müssen. Ein individueller Untertanenkonflikt zwischen Herzogin Anna Amalia und ihrer Untertanin Maria Elisabeth Döpelin. Zeitschrift des Vereins für thüringische Geschichte 50 (1996) 163 –200.

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beschwerten, sehr selten 16. Über Supplikationen im Kontext individueller Untertanenkonflikte, wie den vorgestellten Fall des Niklas Huber, beratschlagten die Reichshofräte um 1600 hingegen regelmäßig 17. Dem reichsstädtischen Bürger war der Kaiser als Bezugsgröße von praktischer Bedeutung im Falle eines Konfliktes mit seiner Obrigkeit durchaus geläufig. Das von der Reichsforschung gezeichnete Bild einer rein ideellen Verbindung zwischen Reichsoberhaupt und reichsmittelbarer Bevölkerung sowie der Vorstellung, der Kaiser habe „für den Untertan in einer mehr mystischen Vorstellung“ 18 existiert, erweist sich damit als historiographisches Konstrukt 19. Der Kaiser erscheint vielmehr als eine den reichsmittelbaren Untertanen des Reiches wohlbekannte und auch in der alltäglichen Lebenspraxis wirksame Institution, als Aufsichtsorgan über die Herrschaftspraktiken im Reich und als Garant konsensfähiger Ordnung 20. Eine faktische Wahrnehmung der kaiserlichen Aufsichtsfunktion über die Herrschaftspraktiken im Reich ließ sich allerdings nur im Bündnis zwischen Kaiser und Untertanen realisieren. Denn Informationen über Missstände konnten nur von den Betroffenen selbst kommen. Kommuniziert wurden diese vor allem mittels Einreichens von Bittschriften 21. Die Supplikation bildete damit – so die Annahme – in der Zeit um 1600 ein wichtiges kaiserliches Instrument zur Kontrolle reichsständischer Herrschaftspraktiken.

16 Ulrich H–Thomas S, Euer Kaiserlichen Majestät in untertänigster Demut zu Füßen. Das Kooperationsprojekt „Untertanensuppliken am Reichshofrat in der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612)“, in: Prozessakten, Parteien, Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis zum 19. Jahrhundert, hg. von Alexander D–Ellen F–Britta S (bibliothek altes Reich 17, Berlin–Boston 2015) 71 –96, hier 88; Thomas S, Die Ausübung kaiserlicher Gnadengewalt durch den Reichshofrat. Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612), in: Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive, hg. von Gabriele H-M–Sabine U (Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 5/2, Wien 2015) 215 –230, hier 222. 17 In der Online-Datenbank „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 – 1612)“ ist eine Vielzahl an Vorgängen dokumentiert, in denen die Supplikantinnen und Supplikanten in ihren Bittschriften behaupten, vor ihrer Obrigkeit nicht zu ihrem Recht kommen zu können, oder zumindest eine derartige Befürchtung äußern. Diese Verfahren finden sich insbesondere in den Beständen Geleitbriefe, Alte Prager Akten, Antiqua, Decisa, Denegata antiqua, Judicialia miscellanea. Um eine gute Übersicht über solche Vorgänge zu erhalten, ist ein Zugriff über die Rubrik Archivtektonik (http://www-gewi.uni-graz.at/ suppliken/de/akten/tektonik) oder über die Tabellenansicht (http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/ akten/tabelle) [16. 3. 2018] ideal. 18 Karl Othmar von A, Das Alte Reich 1648 –1806. Band 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648 –1684) (Stuttgart 1993) 13. 19 Gabriele H-M–Sabine U, Frühneuzeitliche Supplikationspraxis und monarchische Herrschaft in europäischer Perspektive. Einleitung, in: Supplikationspraxis (wie Anm. 16) 177 –189, hier 182 f.; H–S, Demut (wie Anm. 16) 73 f.; S, Gnadengewalt (wie Anm. 16) 215 –217, 227 f. 20 Untertanen zeigten laut der Studie von Jan Peters zwar ein breites Maß an Herrschaftsakzeptanz, kannten aber auch klare Grenzen konsensfähiger Ordnung und ahndeten „lästige obrigkeitliche Zugriffe“ mit „eigensinnige[r] Selbstbehauptung“: Jan P, Zur Auskunftsfähigkeit von Selbstsichtzeugnissen schreibender Bauern, in: Ego-Dokumente. Annäherungen an den Menschen in der Geschichte, hg. von Winfried S (Selbstzeugnisse der Neuzeit. Quellen und Darstellungen zur Sozial- und Erfahrungsgeschichte 2, Berlin 1996) 175 –190, hier 182. 21 Hierzu erhellend: „Im Grunde vollzog sich die formalisierte schriftliche Kommunikation zwischen Obrigkeit und Untertanen vor allem auf dem Weg der Supplikation“: H, Aushandeln (wie Anm. 4) 244.

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Unzweifelhaft ist, dass der Supplikant Niklas Huber den Kaiser als Garant gerechter Herrschaftsausübung verstand. Wie sich das Supplikationsverfahren des Niklas Huber im Detail vollzog und auf welche Weise der Kaiser (beziehungsweise der Reichshofrat als für die Bearbeitung von Bittschriften zuständige kaiserliche Behörde) 22 auf die Bitte des Schneidergesellen reagierte, sollen die nun folgenden Ausführungen klären.

Die drei Varianten der Via supplicationis auf Reichsebene Am Beispiel der Bittschrift Niklas Hubers ist der Supplikationsweg zum Kaiser als Modus operandi von Untertanen, die in Konflikt mit ihrer Obrigkeit geraten waren, deutlich erkennbar. Wie aber konnten Untertanen mit dem Kaiser Kontakt aufnehmen? Auf Reichsebene waren um 1600 für das Einreichen von Bittschriften drei Möglichkeiten vorhanden. Erstens konnten Untertanen an den Prager Hof reisen und ihre Bittschriften am Kaiserhof einreichen. Diese Bittschriften wurden im Regelfall vom Reichshofrat bearbeitet 23. Zweitens gab es die Möglichkeit, Bittschriften am Reichstag einzubringen und an die Gesamtheit der Reichsstände zu richten. Außerdem adressierten Untertanen ihre Supplikationen auch zum Zeitpunkt des Reichstags an den vor Ort anwesenden Kaiser 24. Anders, als Helmut Neuhaus vermutet, wurden die während des Reichstages an den Kaiser gerichteten Anträge jedoch nicht an den Supplikationsausschuss des Reichstags weitergeleitet, sondern ebenso wie die am Hof eingereichten Supplikationen im Reichshofrat beraten und entschieden 25. Die Anzahl der behandelten Vorgänge am Reichshofrat stieg während der Reichstage deutlich. Ein erhöhtes Verfahrensaufkommen am Reichshofrat zum Zeitpunkt der Reichstage 26 ist mittlerweile sowohl für die Zeit Kaiser Karls V. als auch für die Regierungsspanne Kaiser Rudolfs II. belegt 27. Eva Ortlieb wies zudem nach, dass der Reichshofrat an den Reichstagen von 1544, 1559 und 1582 deutlich mehr Supplikationen zu behandeln

22 Eva O, Gnadensachen vor dem Reichshofrat (1519 –1564), in: Höchstgerichte in Europa. Bausteine frühneuzeitlicher Rechtsordnungen, hg. von Leopold A–Werner O–Eva O (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 53, Köln–Weimar 2007) 177 – 202; ., Art. Reichshofrat. EdN 10 (2009) 914 –922, bes. 915 f.; Wolfgang S, Der Reichshofrat: Begriff, Quellen und Erschließung, Forschung, institutionelle Rahmenbedingungen und die wichtigste Literatur. Zeitenblicke 3/3 (13. 12. 2004) 1 –16, hier 10, http://www.zeitenblicke.de/2004/03/sellert/sellert. pdf [16. 3. 2018]. 23 O, Gnadensachen (wie Anm. 22) 914; U, Barmherzigkeit (wie Anm. 5) 175 –180. 24 Es gab auch die Möglichkeit, die Bittschriften an die Gesamtheit der Reichsstände und den Kaiser gemeinsam zu richten. 25 Dieser begleitete den Kaiser auf Reisen und ebenso zum Reichstag. Der Reichshofrat leitete allerdings mitunter Anträge an die Reichsstände beziehungsweise den Supplikationsausschuss weiter, und vice versa. Siehe Eva O, Reichshofrat und Reichstage, in: Grundlagen der österreichischen Rechtskultur. Festschrift für Werner O zum 75. Geburtstag, hg. von Thomas O–Christian N–Alina L (Wien–Köln–Weimar 2010) 343 –363, hier 358 f.; ., Reichstag und Reichshofrat als Empfänger von Supplikationen im 16. Jahrhundert. Beiträge zur Rechtsgeschichte Österreichs 5/1 (2015) 76 –90. 26 Dies betrifft freilich nur jener Reichstage, bei denen Kaiser und Reichshofrat auch anwesend waren. 27 O, Reichshofrat und Reichstage (wie Anm. 25); ., Reichstag (wie Anm. 25) 77; .–Gert P, Die Prozessfrequenz am Reichshofrat (1519 –1806). ZNR 26/3 (2004) 189 –211.

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hatte als der Reichstag 28. Die persönliche Anwesenheit des Kaisers am Reichstag begünstigte es augenscheinlich, dass Untertanen an das Reichsoberhaupt direkt supplizierten. Im Jahr 1594 tagte der Reichstag in Regensburg. Wie viele andere Untertanen nutzte auch Niklas Huber eben diese Gelegenheit, um sein Anliegen vor den Kaiser zu bringen. In einer späteren Bittschrift an den Kaiser nahm Huber nochmals explizit auf die erste vom Reichshofrat behandelte Supplikation und die Form des Einreichens Bezug: E(uer) Röm(isch) Khay(serliche) M(ayestä)t, hab ich armer betriebter handtwerkhßman im jungst gehaltnen reichstag zu Regenspurg allerunderthenigist diemuetigist supplicando nach lengs zu erkhennen geben, wellichermassen vonn dem camerer unnd rath gemelter statt Regenspurg wegen einer schmach und inurij handlung, so sich zwischen mir und einem schreinergesellen zugetragen, ich nit allein wider alle billigkhait der handtwerchszunfft entsezt, sonder auch gar auß der statt von weib und kindern, in das ellendt geschafft worden 29. Zu beachten ist in diesem Kontext, dass die weite Reise nach Prag auch mit Kosten verbunden war, Huber hingegen, so man seinen Angaben glauben will, der finanzielle Ruin drohte. Der in Regensburg samt seines Reichshofrats anwesende Kaiser stellte insofern für den Schneidergesellen einen Glücksfall dar und war zu diesem Zeitpunkt vielleicht die einzige Möglichkeit, in seiner schwierigen Lage noch etwas zu unternehmen.

Die Supplikation des Niklas Huber Die Bittschrift Niklas Hubers folgt im Wesentlichen dem bei Supplikationen an den Kaiser üblicherweise anzutreffenden Formenapparat 30. Der Supplikant präsentierte sich als in einer Notlage befindlich. Das Exordium, die zu Beginn von Supplikationen gängige und das Anliegen legitimierende Formel 31, in der Bittschrift Hubers lautet: Ich armer ainfeltiger betrubter handtwergeß man khan auß höchster bedringter noth nicht undergehen, Eure Röm(isch) Kay(serliche) Ma(yestä)t ihn aller underthenigkheit demuetigst anzuezeigen . . . 32. Von Bedeutung ist an dieser Stelle das Attribut „bedrängt“ (bedringter Noth). Ein Kernziel des Supplikanten war also die Inanspruchnahme kaiserlichen Schutzes in einer akuten Bedrohungssituation 33. Formeln wie diese treten in

28 Am Reichstag von 1544 behandelte der Reichshofrat beinahe die vierfache Menge an Supplikationen, am Reichstag von 1559 rund dreimal und am Reichstag von 1582 immer noch mehr als doppelt so viele Bittschriften wie der Reichstag: O, Reichstag (wie Anm. 25) 80 f. 29 Zweite Supplikation Niklas Hubers an Kaiser (1594): Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 456 –457, hier fol. 456r. 30 H–S, Demut (wie Anm. 16) 94. 31 Ebd. 32 Supplikation Niklas Hubers an Kaiser (1594) (wie Anm. 1) fol. 491r. 33 Ausführlich zum Begriff der Bedrohung siehe: Werner S, Addresses in World Societal Conflicts. A Systems Theoretical Contribution to the Theory of the State in International Relations, in: Territorial Conflicts in World Society. Modern Systems Theory, International Relations and Conflict Studies, hg. von Stefan S (London–New York 2007) 125 –148; ., Bedrohungskommunikation. Eine gesellschaftstheoretische Studie zur Sicherheit und Unsicherheit (Wiesbaden 2008); .–Claus H, Steering as Paradox. The Ambiguous Role of the Political System in Modern Society. Cybernetics and Human Knowing 14 (2007) 133 –150.

Das Votum ad imperatorem für den Schneider Niklas Huber

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den Supplikationen (nicht nur) an den Kaiser als regelmäßige Stereotype auf 34. Auf diese Passage folgt die Narratio, die Schilderung der Umstände und Ereignisse, die schließlich zur Supplikation an den Kaiser führten (im vorangegangenen Abschnitt inhaltlich bereits beschrieben: Injuriendelikt, Handwerksverbot und Ausweisung des Supplikanten). Ein weiteres zentrales Argument des Supplikanten ist seine schwierige ökonomische Situation. So berichtete der Schneidergeselle über die auferlegte Geldstrafe: ich sollte dem schreinergesellen der geredten wordt einen genuglichen abtrag thuen, ich armer man betrachtende meine bedürftigkeit undt weitere unkosten, habe wider den strom nicht schwimmen können, sondern solchem gebodt nachkhommen mussen 35. Solche Sprachmuster der Armut finden sich in den Bittschriften regelmäßig wiederkehrend und sind als Teil des üblichen Sprachduktus von Supplikationen zu begreifen. Der Wahrheitsgehalt der Schilderung Hubers ist deshalb aber keineswegs zwingend zurückzuweisen. Dennoch, die häufige Verwendung solcher sprachlichen Muster spricht auch für das Vorliegen einer feststehenden Argumentationsstrategie, deren sich die Advokaten und Schreiber der Supplikationen regelmäßig bedienten 36. Sabine Ullmann hält in diesem Kontext fest: „[es] wird sogleich ersichtlich, dass das ‚Armenargument‘, ähnlich wie das ‚Witwenargument‘, Teil der Erzählstrategie wurde. . . . Das Attribut ‚arm‘ scheint Teil einer Sprachkonvention gewesen zu sein, die als strategisches Muster wohlbekannt und erfolgreich erprobt war, da sich die Supplikanten dabei selbst dem Kreis der ‚personae miserabiles‘ zuordneten, die als Arme, Waisen oder Witwen besonders auf Gunsterweise hoffen konnten.“ 37 Mehrfach betonte Niklas Huber, dass nicht nur er selbst, sondern auch seine Frau und Kinder von Armut und Elend bedroht seien. Er machte damit nicht nur sein eigenes Schicksal, sondern den Fortbestand seiner ganzen Familie und damit das Schicksal unschuldiger Personen zum Gegenstand seiner Bitte 38. In der Petitio, der eigentlichen Bitte und Kernstück der Supplikation, manifestiert sich das Machtgefälle zwischen Sender und Adressaten besonders deutlich. Der Supplikant strich in diesem Abschnitt seine eigene Ohnmacht sowie die Machtfülle

34 So argumentierte im Jahr 1582 der Bauer Martin Seitz aus Höf les bei Nürnberg: khann ich armer, in das eusserste ellend veriagter mann unnderthänigist clagende anzubringen nit umbgeen: Supplikation Martin Seiz’ an Kaiser, undat. (1582): Wien, HHStA, RHR, APA, K. 177, Konv. 1, fol. 147 –149, hier 147r, http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/1063 [19. 3. 2018]; Leonhard Wörlin schrieb 1582: gib ich armer betrüebter mann allerunderthenigist zuerkennen: Supplikation Leonhard Wörlins an Kaiser, undat. (1582): Wien, HHStA, RHR, Geleitbriefe, K. 8, Konv. 5, fol. 130 –131, hier fol. 130r, http://wwwgewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/5 [19. 3. 2018]; Hans Mosgruber begann seine Supplikation mit dem Exordium: kan ich armer verlaßener und hochbetrübter elender man abermals in höchst difister demut zuflüchtigen nit bergen: Supplikation Hans Mosgrubers an Kaiser, undat. (1589): Wien, HHStA, RHR, APA, K. 116, Konv. 1, fol. 43 –49, hier 43r, http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de/verfahren/1207 [19. 3. 2018]; vgl. auch U, Barmherzigkeit (wie Anm. 5) 167 f. 35 Supplikation Niklas Hubers an Kaiser, undat. (1594) (wie Anm. 1) fol. 491r. 36 U, Barmherzigkeit (wie Anm. 5). 37 Ebd. 168. 38 Niklas Huber erwähnt seine Frau und Kinder mehrfach, so auch in der am Ende der Supplikationen üblichen Gnadenversicherung: Solches bin ich armer man sambt meinem weib undt kinderlein vor Ihre Kay(serliche) M(ayestä)t bey dem Almechtigen Gott umb leibes gesundheit, glückseeliege regierung undt endtlich die ewige seeligkeit zu erlangen, tag undt nacht zue bitten underthenigst gewogen und erbotig: Supplikation Niklas Hubers an Kaiser, undat. (1594) (wie Anm. 1) fol. 491v.

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des gnädigen und gerechten Kaisers deutlich heraus. Die eigentliche Bitte an den Kaiser trug er betont unterwürfig und in einer religiös wie emotional aufgeladenen Sprache vor: thue solches Euer Kay(serlichen) M(a)y(estä)t midt weinenden augen klagen allerunderthenigst umb Gottes willen bittend Ihre Kay(serliche) M(a)y(estä)t wollen ihn betrachtung meine grosse undt indem fal unverdiente straffe auch der gerechtigkeit sowol auch zuer beschutzung des catholischen waren glaubens zuem besten mich wiederum gnedigst begnaden 39. Von Bedeutung ist hier Hubers Ausführung, die Bitte sollte zwar auch deswegen bewilligt werden, weil er eine solche Strafe nicht verdient habe, die Befürwortung des Ansinnens sei aber auch fundamental für den Schutz des katholischen Glaubens in Regensburg. Niklas Huber hatte bereits in der Narratio ausgeführt, ausschließlich aufgrund seines konfessionellen Bekenntnisses unverhältnismäßig hart bestraft worden zu sein 40. Zudem habe der Stadtrat ihn trotz seiner bewiesenen Unterwerfung (Gnadenansuchen mittels Supplikation an Kämmerer und Rat der Stadt Regensburg) nicht begnadigt. Seine Obrigkeit habe sich demnach nicht nur als ungerecht und unverhältnismäßig strafend, sondern auch als ungnädig erwiesen. Allein aufgrund seines katholischen Bekenntnisses könne Huber, so der schwerwiegende Vorwurf, vor seiner Obrigkeit nicht zu seinem Recht kommen. Damit hob Huber sein persönliches Anliegen auf eine höhere Ebene. Indem er der Stadtobrigkeit von Regensburg grundsätzlich repressives Agieren gegenüber Katholiken unterstellte, transformierte sich sein individuelles Bedürfnis in ein Anliegen von allgemeiner Relevanz, welches das Verhältnis von Obrigkeit und Untertanen in der Stadt Regensburg prinzipiell tangierte. Damit verlieh Huber seinem Antrag die nötige Brisanz. Die Bewilligung der Bitte Hubers diene dem Schutz der in der Stadt Regensburg grundsätzlich bedrohten und verfolgten katholischen Bürger und Einwohner. Die Repressionen gegenüber Niklas Huber wurden mit einer generellen Bedrohung für die Katholiken der Stadt sowie für die allgemeine Ordnung in Regensburg in Verbindung gebracht. In Untertanensupplikationen an Kaiser Rudolf II. findet sich eine solche narrative Strategie recht selten 41. Im Gegenteil, die meisten Supplikanten führten in den Bittschriften an den Kaiser ihre Konfession nicht einmal an 42. Es ist schon erstaunlich, dass Untertanen im konfessionellen Zeitalter den Kaiser nur selten als Schutzherrn der Katholiken anriefen und das konfessionelle Argument vor dem Reichshofrat sehr zurückhaltend verwendeten – und das ausgerechnet auf dem „Höhepunkt der

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Ebd. Weil aber ein erbar rath alhier einen langwirigien haß undt neidt wegen des catholischen allein seeligmachenden glaubens wieder mich gehabt, so Huber, weßwegen mich den auch ein erbar rath meiner burgerrecht undt handtwergkhszunfft . . . beraubt, undt von meinem weib undt kinderlein ihn das elendt gesendt: ebd. fol. 491r. 41 Einige Beispiele besprochen in: Ulrich H, Sie gehorchen dem Kaiser, wenn es ihnen beliebt. Zum Verhältnis zwischen Reichsoberhaupt und Reichsstädten anhand von Untertanensuppliken am Reichshofrat im späten 16. Jahrhundert, in: Kaiser, Reich und Reichsstadt in der Interaktion. 3. Tagung des Mühlhäuser Arbeitskreises für Reichsstadtgeschichte, Mühlhausen 16. bis 18. Februar 2015, hg. von Thomas L–Helge W (Studien zur Reichsstadtgeschichte 3, Petersberg 2016) 207 –234. 42 H–S, Demut (wie Anm. 16) 89; Ulrich H, Sich ahn höhern Orten beclagen unnd das kayserliche Recht darüber ahnrueffen. Herkunft, Zielsetzung und Handlungsstrategie supplizierender Untertanen am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612) unter Einbeziehung der Überlieferung süddeutscher Archive, in: Supplikationspraxis (wie Anm. 16) 191 –213, hier 194 f. 40

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Konfessionalisierung“ 43. Angesichts dieses „gesellschaftlichen Fundamentalvorganges, der das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte“ 44, sollte man eine Vielzahl an konfessionell begründeten Konflikten zwischen Untertanen und Obrigkeiten vor den Reichsinstitutionen erwarten können. Am Reichshofrat waren diese jedoch Ausnahmen. Dieser Befund erheischt weitere Erklärungen, und es ist an dieser Stelle ein Forschungsdesiderat zu markieren, dass vor dem Hintergrund der Konfessionalisierungsdebatte zu führen ist 45. Womöglich war es gerade die Brisanz des konfessionellen Arguments, die die Untertanen beziehungsweise Schreiber und Advokaten vor einer zu leichtfertigen Einbettung in ein sehr konfliktbeladenes Spannungsfeld zurückschrecken ließ. Es erscheint durchaus vorstellbar, dass der Reichshofrat gerade in solchen Fragen eine besondere Achtsamkeit an den Tag legte, die nicht unbedingt zu einer Entscheidung im Sinne der Bittsteller führen mochte. Denn der Reichshofrat stand bei den Zeitgenossen ohnehin schon in Verruf, ein katholisches Machtinstrument zu sein, das Katholiken bevorzugte 46. Vielleicht ließen diese Vorwürfe die kundigen Schreiber ein bewusstes Gegensteuern des Reichshofrats befürchten. Gerade weil das konfessionelle Element in den Supplikationen an den Kaiser nicht als stereotypischer Bestandteil aufscheint, gewinnt der Fall Huber an Interesse. Denn der Reichshofrat sah sich nun mit einer in seiner Geschäftspraxis recht unüblichen Situation konfrontiert, die aufgrund ihres hohen Konfliktpotentials besonders umsichtig behandelt werden musste 47. Der Fall Huber erlaubt damit Einblicke in das Vorgehen des Reichshofrats mit Verfahren von erhöhter Relevanz. Zudem veranschaulicht dieses Verfahren aufgrund seiner recht umfänglichen Überlieferung den innerbehördlichen Ablauf am Reichshofrat im Umgang mit Untertanenbittschriften und zeigt zugleich die Funktionalität von Supplikationen auf Reichsebene auf.

Das Supplikationsverfahren am Reichshofrat Die Argumentationsstrategien des Supplikanten zeigten Wirkung. Der Reichshofrat behandelte diesen Fall nicht als Routineangelegenheit 48. Dies ist insofern auch

43 Heinz S, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620. HZ 246 (1988) 1 –45, hier 24. 44 Ebd. 6. 45 Thomas K, Art. Konfessionalisierung. EdN 6 (2007) 1053 –1070; ausführliche Diskussion bei: Heinrich Richard S, Perspektiven der Konfessionalisierungsforschung, in: Staatsmacht und Seelenheil. Gegenreformation und Geheimprotestantismus in der Habsburgermonarchie, hg. von Rudolf L–Susanne Claudine P–Thomas W (VIÖG 47, Wien–München 2007) 29 –42. 46 Stefan E, Die Tätigkeit des Reichshofrats um 1600 in der protestantischen Kritik, in: Reichshofrat und Reichskammergericht: ein Konkurrenzverhältnis, hg. von Wolfgang S (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich 34, Köln–Weimar–Wien 1999) 27 –46, hier 35. 47 S, Konfessionalisierung (wie Anm. 43) bes. 11, 19 und 23 –28. 48 Die meisten Supplikationen wurden entweder ohne weitere Gegenprüfungen bewilligt, ein kleiner Teil auch abgeschlagen. Allerdings handelte es sich bei den bewilligten kaiserlichen Verfügungen, die im Kontext eines Konflikts mit der Obrigkeit standen, überwiegend um kaiserliche Fürbittschreiben, die ohnehin kein direktes Eingreifen in das betroffene Territorium bedeuteten: S, Gnadengewalt (wie Anm. 16) 225 –227.

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wenig überraschend, als der Vorwurf konfessioneller Repressalien durch den Stadtrat natürlich schwer wog und im konfessionellen Zeitalter entsprechendes Gewicht haben musste. Die Supplikation Hubers veranlasste die Reichshofräte, am 4. Juli 1594 ein kaiserliches Dekret an die Administratoren des Hochstifts Regensburg zu verfügen. Der kaiserliche Auftrag an das Hochstift lautete: wie es dießfals mit des supplicanten angaben beschaffen, aigentliche erkundigung einziehen und darauf seinen bericht in schrifft sambt bewertung des Hubers supplicieren zu ire M(ayestä)t Reichshofcanzlei wiederumb übergeben 49. Sehr zeitnah, bereits am 20. Juli fertigte das Hochstift Regensburg seinen Bericht an den Kaiser aus, nachdem es offensichtlich unverzüglich in der still aigentliche erkhundigungen 50 eingezogen hatte. Die Antwort des Hochstifts fiel eindeutig aus. Die Administratoren bestätigten darin nicht nur den Inhalt der Supplikation Niklas Hubers 51, sondern weitere massive Repressionen gegen Katholiken durch die Stadt Regensburg 52. Die Stadtobrigkeit bedrohe regelmäßig die Bewohner der Stadt, damit diese nicht zum Katholizismus überträten, und verfolge katholische Bürger, indem sie ihnen fälschlicherweise deviantes Verhalten unterstelle und sanktioniere. Im grundt aber geschicht es umb khainer andern ursachen willen, alls allain in odium religionis catholicae 53, so im Bericht. Die Administratoren des Hochstifts Regensburg drängten daher darauf, im Fall Huber ein Exempel zu statuieren, und baten den Kaiser, den Supplikanten vollständig zu restituieren 54. Freilich ist dieser Bericht aus katholischer Feder vor dem Hintergrund der konfessionellen Spannungen mit quellenkritischem Auge zu betrachten. Ungeachtet des Wahrheitsgehalts dieses Berichts, der Fall Huber erreichte nun am Reichshofrat endgültig eine Dimension größerer Tragweite. Für die Reichshofräte hätte zudem jegliche Entscheidung, ob Befürwortung oder Abweisung, bedeutet, auch innerhalb des Gremiums in konfessioneller Hinsicht Farbe bekennen zu müssen. Anders, als die Literatur teilweise annimmt, waren im Reichshofrat auch im konfessionellen Zeitalter sehr wohl protestantische Räte vertreten 55. Stefan Ehrenpreis hat zwar nachgewiesen, dass auch diese in ihrem Handeln prin-

49 Kaiserliches Dekret an Hochstift Regensburg, dat. 4. Juli 1594: Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 490r–v, hier fol. 490r. 50 Ebd. 51 So berichten die Administratoren der Stadt Regensburg dem Kaiser: nit allain bey seiner burgerlichen obrigkheit, sonnder auch bey einem handtwerck der schneider, so ine nit mehr für ein handtwerkhsgenossen erkhennen, oder gedulden wollen, ja auch bey seiner aigenen befreundten, die er alhie hatt, verfolgung, neidt und haß, verursacht, unnd gebracht hat, allso das vermuettlich wol zu glauben, das diese außschaffung und verweißung der stadt, oder aber auch das auferlegt abbitt der schmach, mehred auß affection und ungunst der religion, alls aus billichen rechtmeßigen ursachen erfolgt unnd hergeflossen sein mecht: Bericht des Hochstifts Regensburg an Kaiser, dat. 20. Juli 1594: Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 486 –489, hier 486v –487r. 52 Auch über allgemeine Repressionen gegen Katholiken wissen die Administratoren des Hochstifts Regensburg zu berichten: Dan wir wol wissen, unnd erfahren es täglich, daß camerer und rath, und ihr nachgesetzte burgerliche obrigkheit, mehrerley terriculamenta und handtgriff, dadurch sy ihre burger, das sy nit catholisch werden, abschrecken unnd verhindern, oder aber diejenigen, so alberaith catholisch sein, verfolgen im gebrauch haben: ebd. fol. 487r. 53 Ebd. fol. 487r –v. 54 Ebd. fol. 488r. 55 Stefan E, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. (1576 –1612) (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 72, Göttingen 2006) 111.

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zipiell die kaiserliche Linie verfolgten 56, trotzdem erscheint es vorstellbar, dass in einem solchen Falle eine Entscheidungsfindung im Reichshofrat sich als schwierig erweisen konnte. Ob dies tatsächlich der Fall war oder ob schlichtweg die allgemeine Bedeutsamkeit, die hohe Konfliktträchtigkeit dieser Angelegenheit den Ausschlag für das weitere Vorgehen des Reichshofrats gab, sei dahingestellt. Jedenfalls beschloss der Reichshofrat, im vorliegenden Fall nicht selbstständig zu entscheiden. Er leitete die Supplikation weiter. Und zwar an den Kaiser persönlich. Die Reichshofratsordnung von 1559 sah vor, dass alle Angelegenheiten, in denen sich die Reichshofräte nicht auf eine Entscheidung einigen konnten, dem Kaiser mittels reichshofrätlichem Gutachten, dem sogenannten Votum ad imperatorem, vorgelegt werden mussten 57. Es ist in der Überlieferung des Verfahrens Huber nicht eindeutig erkennbar, ob die Sache Huber tatsächlich vor Rudolf II. verlesen wurde 58. Ehrenpreis etwa weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass die meisten Fälle, die mittels Votum an den Kaiser weitergeleitet worden waren, in der Praxis der Geheime Rat entschied 59. Kaiser Rudolf II. hatte sich seit 1585 immer mehr aus den Sitzungen des Geheimen Rats zurückgezogen. Wichtige Entscheidungen mussten dem Kaiser allerdings in einer mündlichen Audienz vorgetragen werden. Es ist belegt, dass Rudolf II. sich zwar aus den Sitzungen des Geheimen Rats zurückzog, aber bis zu seinem Tode regelmäßig in Entscheidungen des Reichshofrats eingriff und Maßnahmen abänderte 60. Das Beispiel Niklas Hubers zeigt somit eindrücklich, dass auch Supplikationen „einfacher“ Stadtbürger – zumindest theoretisch – auf die Tagesordnung des Kaisers höchstpersönlich gelangen konnten 61. Das Votum ad imperatorem des Reichshofrats vom 17. August 1594 enthielt nicht nur die Empfehlung, der Bitte Niklas Hubers stattzugeben. Die Reichshofräte be-

56 „Für keine der genannten Protestanten kann aber eine aus dieser Konfessionszugehörigkeit resultierende, von der kaiserlichen Linie abweichende politische Haltung konstatiert werden. Vielmehr war wohl schon bei der Zustimmung zur Berufung in den RHR für diese Personengruppe klar, dass man sich der Leitlinie des Kaisers und des Geheimen Rates zu unterwerfen hatte. Bei der Rekrutierung durch den Kaiserhof dürfte auch für diese Personengruppe die unzweifelhafte kaisertreue Haltung bestimmend gewesen sein“: E, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 55) 111 f. 57 Die Reichshofratsordnung von 1559, § 11 sieht vor: Auf beschehene umbfrag soll unser president beschliessen und die mehrer stim iren fürgang haben; yedoch wo die stimmen in zimblicher anzahl zerthailt und unser president vermercken wirdt, daß beider oder mehrer thail mainung mit stattlichen ursachen besterckt, so soll er außerhalb unsers vorwissen nit beschlissen, sonder die sach mit kurzer erzehlung yedes thails bedenken, zuvor an uns gelangen lassen und sonst gemeini(g)lich in allen handlungen, meniglichen gleichs göttlichs rechtens und abschiedts auch fürderlicher abferttigung aus unserm hofrath oder wo noth, bei uns trewlich verhelffen, alles nach seinem pesten verstandt und vermögen; siehe Die Ordnungen des Reichshofrates 1550 –1766. 1. Halbband bis 1626, ed. Wolfgang S (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im alten Reich 8/1, Köln–Wien 1980) 22 –37, hier 31. Zum Votum ad imperatorem und zur persönlichen Beteiligung des Kaisers an Reichshofratsverfahren siehe: O, Gnadensachen (wie Anm. 22) 915; Stefan E, Der Reichshofrat im System der Hofbehörden Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612). Organisation, Arbeitsabläufe, Entscheidungsprozesse. MÖStA 45 (1997) 187 –205, hier 192; E, Gerichtsbarkeit (wie Anm. 55) 88 –94; Wolfgang S, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte N. F. 18, Aalen 1973) 346 –352. 58 E, Reichshofrat (wie Anm. 57) 192. 59 Ebd. 60 D., Tätigkeit (wie Anm. 46) 31. 61 Vgl. auch ., Gerichtsbarkeit (wie Anm. 55) 92.

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fürworteten zudem ein prinzipielles Verbot von Repressionen gegen Katholiken in Regensburg sowie den Anschlag der kaiserlichen Anordnung am Stadttor und an den Kirchentüren, zumindest aber deren öffentliche Verlesung: So wer Hofrath der mainung, das solche im religionsfriden verbottene widerrechtliche, und ye lenger ye mehr hinemende newerung und verdrückung der catholischen, Ire Kay(serliche) M(ayestä)t nit nachstehen, sondern noch vor ihrem abraisen ersprießliche remedia fürnemmen, und nit allein dem rath ernstlich solchs inhibirn lassen, sondern, damit auch dessen meniglich wissens habe, mehrbemelten herrn administratoren wolmainung gemeß aine offentliche notification und verkundung thuen, unnd entweder an die stattthor und kirchenthuren anschlagen, oder doch zuwenigsten ain exemplar der selben dem rath . . . und allgemeiner burgerschafft vorzulesen und zu publicieren 62. Dem Gutachten wurde entsprochen und ein kaiserliches Dekret konzipiert. Dieses wurde sowohl im Reichshofrat als auch im Geheimen Rat 63 verlesen und in beiden Gremien befürwortet 64. Die Ausfertigung dieses Dekrets erfolgte mit Signatum am 6. September 1594 in Regensburg. Die kaiserliche Verfügung sah einerseits vor, Niklas Huber vollständig zu restituieren (Restitutio in integrum), ihn also sowohl in die Handwerkszunft als auch als Bürger der Stadt wiederaufzunehmen, da die maß [der Bestrafung] in dem maß überschritten . . . das er darinnen umb seinen gesundt, ja vast das leben komen 65. Zum anderen verbot das Dekret ausdrücklich jegliche Repressionen gegen Personen katholischer Konfession 66. Um den 10. September supplizierte Niklas Huber erneut an den Kaiser, da ihm nach wie vor die Aufnahme in die Handwerkszunft und das Bürgerrecht durch den Stadtrat verweigert werde 67. Die Stadtobrigkeit ignorierte ganz offensichtlich das kaiserliche Dekret einfach. Am 13. September gelangte diese zweite Supplikation Niklas Hubers in die reichshofrätliche Sitzung. Das Gremium entschied, den Abgesandten der Stadt Regensburg am Reichstag Hubers zweite Bittschrift zuzustellen und die Gesandten mündlich abzumahnen und aufzufordern, unverzüglich für die Restituierung Hubers zu sorgen 68. Auch diese Maßnahme zeigte zunächst keinerlei Wirkung. Daher wurde das kaiserliche Dekret an die Stadt Regensburg vom 6. September 1594 am 20. September dieses Jahres wiederholt. Bis dahin hatte die Stadt dem Kaiser durch Passivität den Gehorsam schlicht verweigert. Nun änderte Regensburg die Vorgehensweise 69. Der Gehorsamserweis der Stadt fiel jedoch in einer für den Supplikanten ungünstigen Weise aus. Eine Restitution Hubers wäre einem Schuldeingeständnis gleichgekommen und hätte einen Gesichtsverlust der Stadtobrigkeit vor dem Kaiser

62 Reichshofrätliches Gutachten an Kaiser, dat. 17. August 1594: Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 478 –480, hier fol. 478v. 63 Ob der Kaiser in dieser Sitzung des Geheimen Rates anwesend war, ist in den Quellen nicht ersichtlich. 64 Vermerk auf dem Konzept des Dekretes: Dis Concept ist im Geheimen und Reichshofrat verlesen und letzlich dergestalt zuvertigen bevolen worden: Kaiserliches Dekret an Stadt Regensburg, dat. 6. September 1594 (Konzept): Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 470 –471, hier fol. 471v. 65 Ebd. 471r. 66 Ebd. fol. 470 –471. 67 Ebd. fol. 456 –457. 68 Ebd. fol. 455r. 69 Ausführlich zur Thematik des Gehorsams der Reichsstädte gegenüber dem Kaiser: H, Verhältnis (wie Anm. 41).

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bedeutet. Stattdessen reichte die Stadt am Reichshofrat eine Gegendarstellung ein und argumentierte, das kaiserliche Dekret sei durch Vorbringung unwahrer Tatsachen erschlichen worden (sub- et obreptitie außgebrachtes dekret 70). Huber habe den Schreinergesellen mit groben unbescheidenen worten greulichem fluchen und Gotlestern . . . angefahren 71 und sei völlig zu Recht derart bestraft worden. Den Vorwurf repressiven Vorgehens gegenüber Katholiken wies die Stadt zurück 72. Der Reichshofrat ließ diesen Gegenbericht Niklas Huber zustellen. Damit endet die Überlieferung. Ob Niklas Huber sein Bürgerrecht wiedererlangen oder zumindest einen Abzugsbrief erhalten konnte, lässt sich anhand der Aktenlage nicht klären. Die Reichshofräte übernahmen jedoch nach Erhalt eines Gegenberichts oft die Sichtweise der Obrigkeit 73. Wie Hausmann festhält, galt es vor allem, „die Wahrung der politischen Ordnung und die Einheit zwischen Haupt und seinen Gliedern zu garantieren . . . . Dementsprechend stand der Kaiser . . . tendenziell auf Seiten der Obrigkeiten, selbst wenn die Interessen kaisertreuer oder katholischer Minderheiten entgegenstanden“ 74. Vor diesem Befund klärt sich vielleicht das Ausbleiben des konfessionellen Arguments in den Supplikationen an den Kaiser. Hinsichtlich der Konfessionsthematik ist das Verfahren Huber freilich eine Besonderheit innerhalb des reichshofrätlichen Geschäftsanfalls. Auf der anderen Seite zeigt sich dieses Supplikationsverfahren repräsentativ für die hohe Nachfrage nach Konfliktlösung durch den Kaiser. Brachten Untertanen Streitigkeiten vor dem Hintergrund konfessioneller Spannungen eher selten vor den Kaiser, so waren Supplikationen, in denen es um Konflikte von Untertanen mit ihrer Obrigkeit ging, wenn auch aus anderen Gründen, die Regel 75. Sinnvoll erscheint in diesem Zusammenhang die qualitative Einordnung von Supplikationen in den Bereich herrschaftlicher Kontrollbemühungen. André Holenstein weist in diesem Kontext auf die zentrale Rolle der Supplikation im Bereich der Verwaltungskontrolle auf Landesebene im 18. Jahrhundert hin und bezeichnet „Bittgesuche als Medien der Information und Inspektion“ 76. Diese Funktion von Bittschriften kann 70

Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 455 –492, hier fol. 458r. Ebd. fol. 458r –v. 72 Das aber in gemelten kayserlichen decreto ferner angehengt wird . . ., das wir uns unterstehen sollen, nicht allein disen Huber sonder insgemain alle die ienigen, so catholisch sein . . ., auf allerley weg zu verfolgen, unß demnach gnediglich bevelhen, hinfüro niemand deß catholischen glaubens halben zu beschweren . . . Mögen wir mit höchster warheit wol schreiben und bezeugen, das uns von den ienigen so E(uer) Kay(serliche) Ma(yestä)t angeben und fürgetragen, hierin ganz unguetlich und unrecht geschicht, sintemahl wir unß kheines einigen fals zuerinnern, daß dergleichen iemals von unß geschehen were, wie sie uns den nicht ein einige person werden stellen oder namhafft machen khunnen, die sich mit fueg oder wahrheit dessen iemals über unß beclaget hett: Bericht der Stadt Regensburg an Kaiser, dat. 20. September 1594: Wien, HHStA, RHR, APA, K. 76, fol. 458 –460, hier fol. 458v –459r. 73 O, Gnadensachen (wie Anm. 22) 197. 74 H, Verhältnis (wie Anm. 41) 223. 75 Im Kontext von Konflikten zwischen Untertanen und Obrigkeiten handelte es sich um Beschwerden über Obrigkeiten im Kontext des Vorgehens gegen Schuldner, da Supplikanten befürchteten, vor ihrer Obrigkeit nicht zu ihrem Recht kommen zu können, sowie um Bitten um kaiserliche Hilfe aufgrund strafrechtlicher Verfolgung. Insofern lassen sich die in der Supplikation Niklas Hubers vorgebrachten Inhalte als eine ganz typische Situation beschreiben, aus der heraus Untertanen sich an den Kaiser wandten: S, Gnadengewalt (wie Anm. 16) 220 –225. 76 André H, „Gute Policey“ und lokale Gesellschaft im Staat des Ancien Régime: das Fallbeispiel der Markgrafschaft Baden(-Durlach) 1 (Frühneuzeit-Forschungen 9, Tübingen 2003) 282. 71

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nicht genug betont werden, sind Informationen doch eine fundamentale Grundlage jeglichen Regierungs- und Verwaltungshandelns 77. Supplikationen wurden – so das Ergebnis der Frühneuzeitforschung – auf territorialstaatlicher Ebene intensiv als Informationsquelle über lokale Verhältnisse oder Missstände genutzt und beeinflussten insofern obrigkeitliches Regierungs- und Verwaltungshandeln (Gesetzgebungsebene, Polizeyordnungen, Überwachung des Gesetzesvollzuges, Überwachung untergeordneter Verwaltungsstellen) 78. Der Fall Niklas Huber zeigt, dass die Inanspruchnahme von Supplikationen als Informationsquelle nicht auf die Ebene der lokalen Obrigkeiten beschränkt war und bereits im 16. Jahrhundert ebenso auf Reichsebene als solche genutzt wurde. Auch der Kaiser bediente sich der Supplikation, um Informationen über lokale Zustände zu erhalten. Untertanensupplikationen an den Kaiser waren demnach ein Instrument der Kontrolle über die Herrschaftspraktiken der Reichsstände. Auch die kaiserliche Administration nutzte Supplikationen als Informationsquelle über die Herrschaftsausübung im Reich und über Missstände im Reich. Damit zeigt sich am Supplikationswesen des Reichshofrats, dass der Arm des Kaisers sehr weit reichen konnte. Im Falle Hubers wirkte der Kaiser direkt auf lokale Verhältnisse ein und griff auf jene Ebene zu, „von der aus das Leben der Einzelnen bestimmt wurde“ 79. Das Reich weist damit zumindest punktuell institutionalisierte Formen frühmoderner Staatlichkeit auf, wie sie die Forschung bislang nur den sich in der Frühneuzeit verfestigenden Territorialstaaten zubilligte. Härters Feststellung, Suppliken auf Landesebene seien „ein wichtiges Instrument sozialer Kontrolle, die sich vor allem im ‚Bündnis‘ zwischen Obrigkeit und Untertanen . . . realisieren ließ“ 80, kann insofern modifiziert auch auf die Reichsebene übertragen werden. Supplikationen an das Reichsoberhaupt waren demnach ein wichtiges Instrument kaiserlicher Herrschaftspraxis. Als Informationsträger gaben sie über die Herrschaftspraxis der Reichsstände und über lokale Missstände Auskunft. Durch die Supplikationen von Untertanen, die sich über ihre Obrigkeit beschwerten, erhielt der Kaiser regelmäßig Gelegenheit, seine Autorität gegenüber den Reichsständen zur Geltung zu bringen 81. Vor diesem Hintergrund wird umso mehr verständlich, warum

77 D., Gute Policey und die Information des Staates im Ancien Régime, in: Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien, hg. von Arndt B–Markus F–Susanne F (Pluralisierung & Autorität 16, Berlin 2008) 201 –213, hier 203. 78 Stefan B, Einleitung: Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, in: Herrschaft und Verwaltung in der Frühen Neuzeit, hg. von .–Corinna von B–Birgit N (Historische Forschungen 101, Berlin 2014) 9 –24, hier 12; André H, „Ad supplicandum verweisen“. Supplikationen, Dispensationen und die Policeygesetzgebung im Staat des Ancien Régime, in: Bittschriften und Gravamina (wie Anm. 2) 167 –210, hier 190; ., Lokale Gesellschaft (wie Anm. 76) 282 –305; ., Information (wie Anm. 77). 79 Von A, Reich (wie Anm. 18) 13. 80 H, Aushandeln (wie Anm. 4) 258. 81 Zentral hier die Feststellung von Stefan Brakensiek: „Indem sich Untertanen an eine Behörde oder direkt an den Fürsten wandten, schrieben sie ihnen Macht zu, die sie ohne dieses Ersuchen nicht gehabt hätten“: B, Einleitung (wie Anm. 78) 12. Brakensiek beruft sich hierbei auf André Holensteins Ansatz der empowering interaction: André H, Introduction: Empowering Interactions. Looking at Statebuilding from Below, in: Empowering Interactions. Political Cultures and the Emergence of the State in Europe 1300 –1900, hg. von Wim B et al. (Farnham 2009) 1 –31.

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die Reichshofräte den eingebrachten Untertanensupplikationen so bereitwillig stattgaben 82. Im Falle Huber wirkte der Kaiser dekretierend auf die Reichsstadt ein. Im Regelfall griff man zu weniger drastischen Mitteln. Jüngste Untersuchungen zeigen, dass der Kaiser den Untertanen vorwiegend Fürbittschreiben bewilligte. Dabei handelte es sich um Schreiben, in denen der Kaiser sich zwar zugunsten Supplikanten verwendete, den betroffenen Obrigkeiten ein bestimmtes Verhalten aber lediglich empfahl 83. Direkte Eingriffe in die Herrschaftspraktiken der Reichsstände kamen also nur in bestimmten Kontexten zur Anwendung. Massiver wirkende Verfügungen bewilligte der Reichshofrat – dies lässt das Verfahren Huber annehmen – erst, wenn die politische Ordnung bedroht schien und der Kaiser als Wahrer von Frieden und Recht im Alten Reich tätig werden sollte 84. Konfessionsfragen zählten um 1600 freilich zu den besonders als brisant empfundenen Problemstellungen. Handelte es sich hingegen um ein rein individuelles Problem, welches keine auf das Gemeinwesen abzielende Konfliktträchtigkeit aufwies, war ein weniger scharfes Vorgehen des Kaisers üblich. Offenbleiben muss an dieser Stelle die Frage, welches Vorgehen die kaiserlichen Gremien beschlossen hätten, wenn es sich bei der beschuldigten Obrigkeit nicht um eine Reichsstadt, sondern um einen Fürsten gehandelt hätte.

Einordnung Sabine Ullmann stellte bereits 2005 fest, dass die Supplikationen „an den Kaiser keineswegs als Einzelphänomene zu begreifen sind“ 85. Diese These stand im Gegensatz zur Reichsforschung, welche einen direkten Kontakt zwischen Kaiser und reichsmittelbaren Untertanen prinzipiell ausschloss 86. Im Zuge eines jüngst abgeschlossenen

82

S, Gnadengewalt (wie Anm. 16) 225 –227. Ebd. 225; ausführlich zu den kaiserlichen Fürbittschreiben: Eva O, Lettere di intercessione imperiale presso il Consiglio aulico, in: Grazia e giustizia. Figure della clemenza fra tardo medioevo ed età contemporanea, hg. von Karl H–Cecilia N (AISIGT. Quaderni 81, Bologna 2011) 175 –203. 84 Ein ähnliches Ergebnis bei H, Verhältnis (wie Anm. 41). 85 U, Barmherzigkeit (wie Anm. 5) 163. 86 „Für die überwiegende Masse der Bewohner des Reiches“ bildete der Territorialstaat „die einzige politische Organisationsform überhaupt. . . . Das Reich hatte aus der Sicht des einzelnen schlichtweg keine Alternative mehr anzubieten“: Ludwig H, Landesgeschichte, in: Aufriß der Historischen Wissenschaften 2: Räume, hg. von Michael M (Universal-Bibliothek 17028, Stuttgart 2001) 348 –415, hier 401 f. Einzige Ausnahme bildete Helmut Neuhaus, der auf Untertanensupplikationen am Reichstag hinwies. Neuhaus marginalisierte allerdings die Rolle des Kaisers und vermutete, dass das Reichsoberhaupt zugunsten des Reichstages freiwillig auf die Beantwortung von Bittschriften verzichtet hätte: N, Reichstag (wie Anm. 3) 191 und 193; zuletzt bestätigt durch: Josef L, Supplikationen als Konflikte auf dem Reichstag. Möglichkeiten und Grenzen der Konfliktregulierung durch Reichsversammlungen in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, in: Frieden und Friedenssicherung in der Frühen Neuzeit. Das Heilige Römische Reich und Europa. Festschrift für Maximilian L zum 65. Geburtstag, hg. von Guido B–Arno S (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte 36, Münster 2013) 117 –154, hier 131. Diese These wurde mittlerweile mehrfach widerlegt: O, Reichshofrat und Reichstage (wie Anm. 25); ., Reichstag (wie Anm. 25) 76 –90. 83

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Forschungsprojekts 87, das die Aktenbestände des Reichshofrats aus der Regierungszeit Kaiser Rudolfs II. systematisch untersuchte, konnte mittlerweile ein breites kaiserliches Untertanensupplikationswesen nachgewiesen werden. Das Ergebnis der Erhebungen übertraf dabei alle Erwartungen. Beinahe die Hälfte aller Verfahren, die der Reichshofrat im Untersuchungszeitraum führte, wurde von Untertanen auf dem Wege der Supplikation initiiert. Insgesamt sind im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv 7.771 rudolfinische Reichshofratsverfahren dokumentiert. 3.252 davon sind Untertanenverfahren. Eine Kernaufgabe des Reichshofrats war es also, über Bittschriften von Untertanen zu entscheiden. Die Bearbeitung von Untertanensupplikationen war demnach ein wesentlicher Bestandteil der kaiserlichen Herrschaftspraxis um 1600 und somit ein zentraler Baustein der politischen Ordnung des Alten Reichs 88. Das Einreichen von Bittschriften an das Reichsoberhaupt war eine Möglichkeit, die die den verschiedenen Herrschaftsträgern des Reichs unterworfene Bevölkerung nutzte, um ihre Interessen zu verfolgen und durchzusetzen. In erster Linie waren es zweifelsohne die territorialen Obrigkeiten sowie die städtischen Magistrate, die den Untertanen entgegentraten. Das quantitative Ausmaß des kaiserlichen Untertanensupplikenwesens verdeutlicht aber, dass die Via supplicationis von den reichsmittelbaren Untertanen an den Kaiser in der Zeit um 1600 keine Randerscheinung war. Damit wird offenkundig, dass die kaiserliche Herrschaftspraxis des späten 16. und frühen 17. Jahrhunderts bislang unvollständig beschrieben worden ist, durchdrang die Autorität des Kaisers doch offenbar alle Ebenen des Alten Reiches. Des Kaisers Arm erreichte auch die Lebenswelt der Bürger und Bauern. Der Kaiser war auch für die „einfache“ Bevölkerung in einer real erfahrbaren Art und Weise präsent, war Bestandteil des alltäglichen Lebens um 1600.

Die Datenbank „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612)“ Um das bislang zu wenig beachtete Phänomen des Supplizierens von Untertanen vor dem Kaiser für weitere Forschungen zugänglich zu machen, erschien nicht nur die Erschließung von Inhalten, sondern insbesondere auch die digitale Verfügbarmachung der umfangreichen Quellenbestände zum kaiserlichen Untertanensupplikenwesen als ein sehr fruchtbar Weg. Ein zentrales Ergebnis dieses Projekts ist somit die Digitalisierung, Erschließung und digitale Publikation der erhobenen Supplikationsverfahren in der anmeldungsfrei und kostenlos zugänglichen Online-Datenbank „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II. (1576 –1612)“ 89. Diese Publikationsform

87 Es handelt sich dabei um das zwischen 2012 und 2015 durchgeführte Kooperationsprojekt der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt und der Karl-Franzens-Universität Graz. Die Projektvorstellung sowie weitere Details finden sich unter dem Webauftritt des Forschungsprojekts: http://www-gewi.unigraz.at/suppliken/de [25. 4. 2018]. 88 S, Gnadengewalt (wie Anm. 16) 216 f., 219; H-M–U, Einleitung (wie Anm. 19) 177. 89 Die Datenbank ist unter der URL erreichbar: http://www-gewi.uni-graz.at/suppliken/de [24. 4. 2018].

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versteht sich als ein Lösungsvorschlag, wie sich historische Grundlagenforschung mit Methoden der digitalen Geisteswissenschaften umsetzen lässt. Um dieses Vorhaben umzusetzen, erfolgte im ersten Schritt die Erhebung aller Gratial- und Judizialbestände der deutschen Expedition des Reichshofratsarchivs im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien auf Basis der Fundbehelfe. Die Erhebungen bestätigten die Hypothese des Projekts 90. Darauf folge die Sichtung aller auf diese Weise erkannten Verfahrensakten und die Auswahl der zur Digitalisierung und Verzeichnung in die Datenbank „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II.“ bestimmten Vorgänge. Berücksichtigt wurden alle Verfahren, in denen mindestens eine Untertanensupplikation überliefert ist. Insgesamt konnten mehr als 20.000 Digitalisate angelegt werden, die rund 38.000 Aktenseiten abbilden 91. Die Konzeptualisierung und Umsetzung sowie die Archivierung von Daten und Digitalisaten erfolgte durch das Zentrum für Informationsmodellierung – Austrian Centre for Digital Humanities (ZIM-ACDH) an der Karl-Franzens-Universität Graz 92. Da es sich bei den im Rahmen der Analyse zu erhebenden Informationen um hochstrukturierte Daten handelt 93, wurde, anders als in geisteswissenschaftlichen Forschungen häufig üblich, kein semistrukturierendes Datenmodell gewählt. Um syntaktische, grammatische oder semantische Strukturen im Text zu kennzeichnen, wird in den Geisteswissenschaften oft auf die seit den 1980ern von der international zusammengesetzten Arbeitsgruppe „Text Encoding Initiative“ (TEI) entwickelte Auszeichnungssprache zurückgegriffen 94. Angesichts des über 38.000 Aktenseiten umfassenden Quellenkorpus war an eine Vollverzeichnung nicht zu denken und TEI als Lösungsmodell in diesem Falle ungeeignet 95. Stattdessen wurden „die relevanten Informationen aus den Akten extrahiert und hochstrukturiert, d. h. stark in einzelne Datenfelder segmentiert und in einer relationalen Datenbank gespeichert“ 96. Der Hauptgrund für diese Entscheidung lag insbesondere in dem hohen Standardisierungsgrad von relationalen Datenbanken, aber auch in der „erprobten Technologie relationaler Datenbanken, insbesondere in Hinsicht auf die Prinzipien der Atomarität, Konsistenz, Isolation und Dauerhaftigkeit, der referentiellen Integrität, aber auch im Vorhandensein einer entsprechenden Infrastruktur am Zentrum“ 97. Das Übertragen heterogener, unscharfer oder unvollständiger historischer Daten in ein striktes, hochstrukturiertes Schema erwies sich dabei als eine besondere Herausforderung und erforderte regelmäßig Anpassungen am Datenmodell 98, denn im Zuge der konkreten Erfassung der 90 S, Gnadengewalt (wie Anm. 16) 216 f.; H-M–U, Einleitung (wie Anm. 19) 177. 91 Gunter V, Vom „Allerunderthenigsten Anruffen“ zum analytischen Abrufen. Ein Werkzeug zur kooperativen Erfassung, Verwaltung und Analyse von Untertanensuppliken, in: Supplikationspraxis (wie Anm. 16) 231 –243, hier 231, 238. 92 Genauere Informationen zum Zentrum unter: http://informationsmodellierung.uni-graz.at/ [25. 4. 2018]. 93 Wassilios K et al., Datenbanken und XML (Berlin–Heidelberg 2002) 26 f.; Gottfried V, Datenmodelle, Datenbanksprachen und Datenbankmanagementsysteme (München 52008) 236; V, Werkzeug (wie Anm. 91) 233. 94 Siehe hierzu die TEI P5 Guidelines: http://www.tei-c.org/Guidelines/P5/ [25. 4. 2018]. 95 V, Werkzeug (wie Anm. 91) 233. 96 Ebd. 234. 97 Ebd. 98 Ebd.

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Quellen ergaben sich immer wieder neue Modifizierungserfordernisse. Nicht ohne Grund betont Gunter Vasold, der Designer und Programmierer dieser Datenbank: „Man kann die den Forschungsprozess unterstützende Software als Teil des hermeneutischen Zirkels betrachten, weil die Software den mit wachsenden Erkenntnissen sich verändernden Erkenntniszielen anzupassen ist.“ 99 Nach der Datenerfassung erfolgte die Normalisierung und Klassifizierung der erhobenen Informationen, wobei hier darauf geachtet wurde, so wenig wie möglich zu verändern und Neuinterpretationen Raum zu lassen. Nach dreijährigen Konzeptions-, Modellierungs-, Erschließungs- und Normalisierungsarbeiten liegen nunmehr Informationen zu rund 1.500 reichshofrätlichen Untertanensupplikationsverfahren, zu 1.500 Supplikantinnen beziehungsweise Supplikanten und zu mehr als 1.800 Supplikationen vor. Dem Überlieferungsbefund wurde insofern Rechnung getragen, als ein Datensatz einen Vorgang des Fundbehelfes darstellt. Erhoben wurden Informationen zu den Supplikantinnen und Supplikanten, wie Name, Geschlecht, Familienstand, Herkunft etc. Die Kategorie „Gegenstand“ dokumentiert das Geschehen, das in der Narratio als Ursache der Bittschrift angeführt wurde, und die in der Petitio erbetene kaiserliche Verfügung, beispielsweise: „Schuldforderung, Bitte um kaiserlichen Befehl“. Erbaten die supplizierenden Personen in einem Verfahren mehrere unterschiedliche Verfügungen, so wurde dies mit „u. a.“ gekennzeichnet. Um zu dokumentieren, wie die Aktenbestände im Archiv aufbewahrt sind, wurde ein Zugang konstruiert, der der Archivtektonik folgt und so den tatsächlichen Überlieferungszustand des Aktenmaterials abbildet. Das archivische Ordnungssystem des Aktenmaterials, der Überlieferungszustand, bleibt damit auch im digitalen Archiv erhalten. Dies zu gewährleisten war ein zentrales Anliegen, liegt in der Art und Weise, wie mit dem Aktenmaterial umgegangen wurde, wie Verwaltungsakten systematisiert und interpretiert wurden, ein nicht zu unterschätzender Informationsgehalt 100. Allerdings, und gerade hierin liegt der Gewinn des digitalen Archivs, kann man diese Ordnungskategorien einerseits abbilden und damit archivieren, andererseits sich aber auch leicht daraus lösen. Daher ist es möglich, in der Datenbank innerhalb weiterer Ordnungskategorien und Suchsysteme zu operieren. Konkret ist die Recherche einerseits entlang der erhobenen Informationen zu den Supplikantinnen und Supplikanten möglich. Die Suche nach Personen umfasst die Kategorien „Name“, „Vorname“, „Titel“, „Namenszusatz“, „Familienstand“, „Herkunft“ (Wohnort), „Herrschaft“ (Landesherrschaft), „Funktion“ (Beruf ). Andererseits ist eine Suche nach den in den Supplikationen vorgestellten Inhalten impliziert. Im Detail kann einerseits nach der Ursache der Supplikation (beispielsweise Ehebruch, Tötungsdelikt, Schuldforderungen etc.) gesucht werden. Andererseits ist es möglich, entlang der erbetenen kaiserlichen Verfügung (z. B.: Bitte

99

Ebd. 232. (Nicht nur) für die Geschichtswissenschaft ist die Art und Weise, wie der schriftliche Niederschlag der Tätigkeit von Institutionen überliefert ist, eine wichtige Information, bilden diese doch die Ordnungsvorstellungen und Handlungslogiken ab, aufgrund derer die Überreste in der vorgefundenen Form entstanden sind: Reinhard B, Überlegungen zum Verhältnis von Geschichtswissenschaft und Theorie politischer Institutionen, in: Die Eigenart der Institutionen. Zum Profil politischer Institutionentheorie, hg. von Gerhard G (Baden-Baden 1994) 85 –122, bes. 121. 100

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um kaiserliches Privileg, Mandat, Fürbittschreiben . . .) abzufragen. Alle Informationskategorien der Datenbank lassen sich in der Suchmaske beliebig kombinieren. Eine Eingrenzung von Zeiträumen ist ebenso vorgesehen, wie die Suche nach Archivsignaturen. Zudem ist eine Durchsicht der verzeichneten Vorgänge in Tabellenform nach Supplikanten, Verfahren oder nach der Signatur möglich. Der öffentliche Zugriff auf die Datenbank kann damit einerseits über die Recherchemöglichkeiten sowie über filter- und sortierbare tabellarische Listen und die Ansicht „Archivtektonik“ erfolgen. Je nach Erkenntnisinteresse können damit die drei Ebenen der Datenbank: 1) Akten (fasst die Archivtektonik, die Suche erfolgt über die Archivsignaturen beziehungsweise über Zeiträume) 2) Supplikanten und 3) Verfahren (Inhalte der Supplikationen) gezielt verwendet werden. Die Abfragen integrieren dabei immer den jeweiligen Gesamtbestand. Damit ist es möglich, sehr komplexe Fragen an die Datenbank zu generieren, wie beispielsweise alle Verfahren, die von weiblichen Untertanen aus dem Herzogtum Bayern eingebracht wurden, in denen in der Narratio ein begangener Ehebruch als die Supplikation auslösende Ursache benannt wurde und in denen um einen kaiserliches Geleitbrief oder etwa ein kaiserliches Fürbittschreiben gebeten wurde, und vieles mehr 101. Der größte Gewinn ist meiner Ansicht nach, dass mit diesen differenzierten Recherchemöglichkeiten den Forschenden nicht nur die Möglichkeit gegeben wird, kleinteilige, den unterschiedlichen Fragestellungen angepasste Abfragen zu machen, sondern die Ergebnisse anhand der in die Datenbank eingebunden digitalisierten Quellen unmittelbar für die eigene Weiterarbeit zu nutzen. Über die als Hyperlink gestaltete Archivsignatur gelangen die Benutzer in die Reader-Ansicht, die es erlaubt, direkt mit den recherchierten Quellendigitalisaten weiterzuarbeiten. Ein zentrales Thema der Digitalen Geisteswissenschaften ist jenes der Nachhaltigkeit und der Langzeitarchivierung der im Forschungsprozess erhobenen Daten und Medien. Die Schnelllebigkeit der digitalen Welt generiert einen grundsätzlichen Bedarf, die Bedingungen vor allem der zeitlichen Begrenzung der Nutzungsmöglichkeiten, ja, die Konservierung digitaler Güter verstärkt in den Blick zu nehmen. Open Access und Nachhaltigkeit in der elektronischen Publikation wissenschaftlicher Inhalte werden also zunehmend zum Grunderfordernis auch der historischen Forschung. Mit anderen Worten: Es besteht der Bedarf, Forschungsdaten und Medien so zugänglich zu machen, dass eine dauerhafte Nutzung und damit auch die Zitierbarkeit längerfristig gewährleistet sind 102. Diese Anforderungen versucht das Projekt mit der Einbindung in ein auf Dauer angelegtes Datenarchivierungssystem zu erfüllen. Die erhobenen Daten und Digitalisate sind im „Geisteswissenschaftlichen Asset Management System (GAMS)“ zur Verwaltung, Publikation und Langzeitarchivierung digitaler Ressourcen aus allen geisteswissenschaftlichen Fächern dokumentiert 103. GAMS ist seit 2014 nach Kriterien des „Data Seal of Approval“ 104 zertifiziert und bietet damit verlässliche Lang101 Ausführlich zu den Suchfunktionen: http://www - gewi . uni - graz . at / suppliken / de / datenbank#gebrauchsanweisung [25. 4. 2018] sowie V, Werkzeug (wie Anm. 91) 238. 102 Hierzu ausführlich: V, Werkzeug (wie Anm. 91) 238 –241. 103 Hierzu siehe den Webauftritt der GAMS: https://gams.uni-graz.at/context:gams [25. 4. 2018]. 104 Zum Data Seal of Approval: https://assessment.datasealofapproval.org/assessment_143/seal/ html/ [25. 4. 2018].

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zeitarchivierung und persistente Zitierbarkeit. Der Zugriff auf die von uns erhobenen Daten und Quellendigitalisate ist somit auf lange Sicht gewährleistet. Die Datenbankreferenzen können aufgrund des „permanenten Links“, ähnlich einer Printpublikation, zitiert werden 105. Die Möglichkeit des Referenzierens digitaler Quellen mittels einer solchen Datenbank sowie die Langzeitarchivierungsstrategie erscheinen als eine sehr innovative Publikationsweise archivalischer Quellen. In dieser Datenbank liegt m. E. der über das eigene Forschungsvorhaben hinausreichende Mehrwert des 2012 bis 2015 durchgeführten Projekts. Dies insofern, als mit diesem Vorgehen ein Vorschlag zur im Vorzeichen der neuen elektronischen Möglichkeiten gegenwärtig sehr intensiv diskutierten Frage unterbreitet werden soll, wie die Möglichkeiten des digitalen Zeitalters für die Editionspraxis fruchtbar gemacht werden können. Abschließend soll nochmals betont werden, dass es sich bei der Datenbank „Untertanensuppliken am Reichshofrat Kaiser Rudolfs II.“ um eine Open Access Publikation handelt, die der Forschungslandschaft dauerhaft, frei und kostenlos zugänglich zur Verfügung steht.

105 Zur Nachhaltigkeit und langfristigen Zitierbarkeit siehe: https://gams.uni-graz.at/archive/objects/context:gams/methods/sdef:Context/get?mode=about [25. 4. 2018].

Siglenverzeichnis Abh. AfD AfK AHP AISIGT Annales

Abhandlung(en) (allgemein) Archiv für Diplomatik, Schriftgeschichte, Siegel- und Wappenkunde Archiv für Kulturgeschichte Archivum Historiae Pontificiae Annali dell’Istituto Storico italo-germanico in Trento Annales. Économies, Sociétés, Civilisations (ab 1994 : . . . . Histoire, Sciences Sociales) ASV Archivio Segreto Vaticano AUF Archiv für Urkundenforschung BDHIR Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom BEFAR Bibliothèque des Écoles françaises d’Athènes et de Rome BISI(M) Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo (e Archivio Muratoriano) DA Deutsches Archiv für Erforschung (bis 1944: Geschichte) des Mittelalters EdN Enzyklopädie der Neuzeit EHR English Historical Review FSI Fonti per la Storia d’Italia HHStA Haus-, Hof- und Staatsarchiv HJb Historisches Jahrbuch HRG Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte HZ Historische Zeitschrift IÖG Institut für Österreichische Geschichtsforschung JmedHist Journal of Medieval History LMA Lexikon des Mittelalters MEFRM Mélanges de l’École Française de Rome. Moyen Age (1971 –1988: Moyen Age, Temps modernes) MGH Monumenta Germaniae Historica LL Leges SS Scriptores MIÖG (MÖIG) Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung (1923 –1942: des Österreichischen Instituts für Geschichtsforschung; 1944: des Instituts für Geschichtsforschung und Archivwissenschaft in Wien) MÖStA Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs NDB Neue Deutsche Biographie ÖAW Österreichische Akademie der Wissenschaften QFIAB Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken Reg. Imp. Regesta Imperii

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RH RIS (RIS 2)

Siglenverzeichnis

Revue Historique Ludovicus Antonius M, Rerum Italicarum Scriptores . . . . Mailand 1723 –1751, bzw. Editio altera. Rerum Italicarum Scriptores. Raccolta degli storici italiani . . . ordinata da Lodovico Antonio M. Nuova edizione riveduta . . . . Città di Castello (ab 1917: Bologna) 1900 ff. RSCI Rivista di Storia della Chiesa in Italia SB Sitzungsberichte (allgemein) VIÖG Veröffentlichungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung VuF Vorträge und Forschungen ZNR Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte ZRG Germ. Abt. Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Germanistische Abteilung

Beitragende Petr Elbel Masarykova univerzita Ústav pomocných vˇed historických a archivnictví Arna Nováka 1 602 00 Brno [email protected] Claudia Garnier Professur für Geschichte der Vormoderne Universität Vechta Driverstr. 22 49377 Vechta [email protected] Jasmin Hauck 5 rue d’Angiviller 78120 Rambouillet [email protected] Nadja Krajicek Tiroler Landesarchiv Michael-Gaismair-Straße 1 6010 Innsbruck [email protected] Christian Lackner Institut für Österreichische Geschichtsforschung / Institut für Geschichte, Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected] Daniel Luger Institut für Österreichische Geschichtsforschung / Institut für Geschichte, Universität Wien Universitätsring 1 1010 Wien [email protected]

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Beitragende

Bence Peterfi Magyar Tudományos Akadémia, Bölcsészettudományi Kutatóközpont, Törtenettudományi Intézet / Research Centre for the Humanities, Hungarian Academy of Sciences, Institute of History Toth Kálmán utca 4 1097 Budapest [email protected] Ludwig Schmugge Via del Monte della Farina 30 00186 Roma [email protected] Thomas Schreiber Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und des Historischen Kollegs Alfons-Goppel-Straße 11 80539 München [email protected] Gian Maria Varanini Università di Verona Dipartimento Culture e Civiltà Via San Francesco 22 37129 Verona [email protected]