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German Pages 516 Year 2017
Dagmar Freist Glaube ‒ Liebe ‒ Zwietracht
bibliothek altes Reich
Herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal
Band 14
Dagmar Freist
Glaube ‒ Liebe ‒ Zwietracht Religiös-konfessionell gemischte Ehen in der Frühen Neuzeit
ISBN 978-3-486-74969-4 e-ISBN (PDF) 978-3-486-85824-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-039773-4 ISSN 2190-2038 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: TypoGrafika | Anke Buschkamp, Hatten Umschlagabbildung: Ausschnitt aus einer Akte zu Mischehen des Generallandesarchivs Karlsruhe Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Für Thomas Jonas, Rahel, Hannah und Jakob
Inhalt
VII
Vorwort Ich erinnere mich an ein Gespräch mit meinem Doktorvater Robert W. Scribner, Universität Cambridge, über die Frage nach der Relevanz religiöser Identität für die Menschen in der Frühen Neuzeit. War die religiöse Zugehörigkeit wichtig? Wie genau zeigte sich diese, woran konnte man religiöse Zugehörigkeit festmachen? Waren sich Menschen ihrer Religion bewusst, und wenn ja, was war das für ein religiöses Verständnis? Welche Bedeutung hatte religiöse Differenz im Alltag, wie gingen Menschen, wie ging der frühmoderne Staat damit um? Ernüchternd für mich war die Aussage eines der bedeutendsten Reformationshistoriker des ausgehenden 20. Jahrhunderts, dass Menschen in der Frühen Neuzeit, hätte man sie nach ihrer Zugehörigkeit gefragt, sich zuallererst eher als Handwerker, Bäcker oder Kaufmann präsentiert hätten, weniger als Katholik, Lutheraner oder Calvinist. Robert Scribner hatte in seinen Arbeiten ja selbst die Bedeutung des Religiösen im Alltag wie kaum ein anderer herausgearbeitet. Seine Antwort überzeugte mich daher nicht, und die Fragen ließen mich nicht mehr los. Sie sollten zum Kernstück meiner Habilitation werden und führten mich durch zufällige erste Aktenfunde zunächst im Generallandesarchiv Karlsruhe mit der Aufschrift „Mischehen“, dann in weiteren deutschen und englischen Archiven zu dem Phänomen religiös-konfessionell gemischter Ehen. Als Research Fellow am Deutschen Historischen Institut London, dann als wissenschaftliche Assistentin an der Universität Osnabrück konnte ich meine Habilitation mit dem Titel „Toleranz und Konfessionspolitik. Konfessionell gemischte Ehen in Deutschland 1555 bis ca. 1806“ fertigstellen. Mit dem unmittelbar darauffolgenden Ruf an die Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg verbunden mit neuen Verpflichtungen, Forschungs- und Buchprojekten und der Geburt unseres vierten Kindes ruhte das Manuskript, nicht aber meine weitere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dieser Thematik, die Weiterentwicklung der gestellten Fragen und die Faszination für dieses Phänomen. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis. Auf dem Weg dahin haben mich viele Institutionen unterstützt, für die ich stellvertretend das Deutsche Historische Institut in London nennen möchte. Dass ich die Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin dort antreten konnte, habe ich meinem Mann, Thomas Held, zu verdanken, der zu Beginn seines eigenen beruflichen Werdegangs bereit war, seine Stelle als wissenschaftlicher Assistent an einer Universität aufzugeben, damit wir mit unseren damals zwei kleinen Kindern für ein paar Jahre nach London ziehen konnten. Mein Dank gilt vielen wissenschaftlichen Kollegen und Freunden, die mich auf unterschiedliche Weise unterstützt, inspiriert und beraten haben, und die ich nicht alle nennen kann: Robert W. Scribner, John Morrill, Ronald G. Asch, Gerd Steinwascher, Barbara Stollberg-Rilinger, Thomas Vogtherr, Heide Wunder,
VIII
Vorwort
Lyndal Roper, Ulinka Rublack, Helen Weinstein, Amy Erickson, Amanda Vickery, die Mitglieder des Arbeitskreises Historische Anthropologie und viele andere. In allen Archiven und Bibliotheken habe ich kenntnisreiche Beratung erfahren. Auch dafür ein besonderer Dank. Wie jedes Buch hat auch diese Monographie von intensiven Diskussionen in Kolloquien und auf Konferenzen profitiert. Für die dort erhaltenen Anregungen möchte ich mich auf diesem Weg bedanken. Oldenburg, den 8. Dezember 2016
Inhalt Einleitung
1
Umgangsweisen mit religiöser Differenz in der Familie: Rechtsetzung als Handlungsanleitung 21 1.1 Spruchkollegien 22 1.2 Kompetenzstreitigkeiten 34 1.3 Kirchenrecht 39 1.3.1 Katholisches Eherecht und Bestimmungen zur Mischehe 39 1.3.2 Reformatorisches Eheverständnis und Bestimmungen zur Mischehe 56 1.4 Städtisches Recht und Territorialrecht 65 1.4.1 Städte 66 1.5 Reichsrecht 106 1.6 Staat und Kirche 114 1
2 Praktiken religiös-konfessioneller Formung: Fremd- und Selbstverortungen 129 2.1 Konfessionalisierung als (Selbst)Bildungsprogramm: Praktiken religiöser Formung 131 2.1.1 Konfessionelle Unterscheidungsmerkmale 135 2.2 Religiös-konfessionell: Methodische Annäherungen an die Analyse religiöser Selbstverortung – ein Rückblick 146 2.3 Religiöse Selbstverortung und die Angst vor innerkonfessioneller Überfremdung 163 2.4 Religiös-konfessionelle Grenzformationen und Grenzüberschreitungen 166 2.5 Praktiken religiöser Subjektivierung und die Frage der Religionsmündigkeit 174 3 3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3
Mischehen im Kontext religiös-konfessioneller Pluralität: Drei Fallstudien 187 Fürstbistum Osnabrück 189 Religiös-konfessionelle Zusammensetzung 189 a) Konfessionelle Unterscheidungsmerkmale und religiöse Praktiken 194 Mischehen – Rechtsetzung als Handlungsanleitung 201 Umgangsweisen mit religiöser Pluralität im Alltag 207 a) Ein Kirchspiel im Fokus von Religionsbeschwerden 210
X
Inhalt
b) Artefakte, religiöse Praktiken und Umgangsweisen mit religiöser Differenz 213 c) Praktiken religiöser Zugehörigkeit und Grenzformationen 218 d) Das Abpracticiren von Kindern 221 e) Ein Dorf in Aufruhr um die religiöse Zugehörigkeit von Kindern 224 f) Religionskonflikte in der Familie und Streit um Schulen als Orte religiös-konfessioneller Formung 226 g) Obrigkeitliche Ansätze zur Überwindung von innergesellschaftlichen Religionskonflikten 235 3.2 Kurpfalz 239 3.2.1 Religiös-konfessionelle Zusammensetzung 239 3.2.2 Mischehen – Rechtsetzung als Handlungsanleitung 246 3.2.3 Umgangsweisen mit religiöser Pluralität im Alltag 256 a) Rekatholisierung und religiös-konfessionelle Grenzformationen im Alltag 257 b) Religiöse Praktiken und Grenzüberschreitungen: Räume, Klänge, Artefakte 260 c) Konfessionen im Konkurrenzmodus – Die religiöse Formbarkeit von Kindern 264 d) Einquartierungen als obrigkeitliche Umgangsweise mit religiöser Differenz in der Familie 266 e) Religionsbeschwerden und Alltagshandeln 268 f) Obrigkeitliche Ansätze zur Überwindung innergesellschaftlicher Religionskonflikte 270 3.3 Kursachsen 274 Religiös-konfessionelle Zusammensetzung 3.3.1 274 Mischehen – Rechtsetzung als Handlungsanleitung 3.3.2 286 Umgangsweisen mit religiöser Pluralität im Alltag 3.3.3 291 a) Außenansichten – Kursachsen als Schutzraum bedrohter lutherischer Kinder 292 b) Innenansichten – Migration und Angst vor religiöskonfessioneller Überfremdung 294 c) Religionsbeschwerden als Ausdruck von „Gemüths Beunruhigungen“ 295 d) Visualisierungen religiöser Differenz und Grenzformationen 296 4 4.1
Glaube – Liebe – Zwietracht Glaube – Liebe 301
301
Inhalt
4.1.1 4.1.2 4.2 4.2.1 4.2.2
4.2.3 4.2.4
XI
Christlicher Hausstand: Eintracht und Unterordnung 315 Väterliche Gewalt 321 Zwietracht 330 Religionsfreiheit und die Grenzen väterlicher Gewalt 330 Streit um die Religion von Kindern: Fürstbistum Osnabrück 335 a) Religiöse Praktiken in der Familie und der Streit um die Religions zugehörigkeit von Kindern: Die Witwe Appelbaum 335 b) Religiöse Gewissensfreiheit, Kindererziehung und die Grenzen väterlicher Gewalt: die lutherische Wilhelmina nee Steinmeyer und der Katholik Conrad Fischer 338 c) Gutsherrschaft und die Religionszugehörigkeit von Kindern 341 d) Obrigkeitliche Interventionen und die Religionszugehörigkeit von Kindern: Der Fall von Nehem 343 Obrigkeitliche Interventionen: Kurpfalz 345 a) Barbara Maurerin – Kampf einer Mennonitin um die Religionsfreiheit ihrer Kinder 346 b) Zwangskonversion jüdischer Kinder zum katholischen Glauben 355 c) Konfessionspolitischer Streit um das Seelenheil von Kindern: Peter Eckstein 360 Das Aushandeln religiöser Zugehörigkeit: Kursachsen 362 a) Religionsverschiedenheit in der Ehe und das Aushandeln der Kindererziehung: Dispensgesuche des reformierten Händlers Amy Dumont und des katholischen Händlers Hilarius Musacci 363 b) Konversion und väterliche Gewalt: der katholische Witwer Dionysios Baum und seine evangelisch-lutherische Tochter Maria Johanna 365 c) Konversion, Religionszugehörigkeit von Kindern und Vormundschaft: die zum katholischen Glauben konvertierte Witwe Marie Elisabeth Anecken und ihre evangelisch-lutherische Tochter 369
5 Religionskonflikte in Mischehen – Ein Politikum auf Reichsebene 373 5.1 Mischehen zwischen Politik, Recht und Öffentlichkeit 376 5.1.1 Reichsgerichte, Reichstag und Corpus Evangelicorum – Kompetenzen und Strategien 376 a) Reichskammergericht 379
XII
Inhalt
b) Reichshofrat 384 c) Reichstag und Öffentlichkeit 388 d) Corpus Evangelicorum 393 5.2 Mischehen vor Gericht 396 5.2.1 Glaubenswechsel und väterliche Gewalt – Die Fälle von Castell und van Zelst 396 5.2.2 Kindsentführung und Religionszwang – Der Fall von Aufsess 405 5.2.3 Diplomatische Irritationen und die Religionszugehörigkeit von Kindern – Der Fall Georg Christoph Centgraf 415 5.2.4 Streit um die Mündigkeit von Kindern – Der Fall von Erthal 420 5.2.5 Zwangskonversion und die Macht der Öffentlichkeit – Der Fall von Staritz 426 5.2.6 Väterliche Gewalt versus religiöse Gewissensfreiheit – Der Fall von Albini 437 Schluss
453
Quellen- und Literaturverzeichnis Sach- und Namenregister
499
461
Einleitung Methodisch-theoretische Annäherungen an das Phänomen konfessionellgemischter Ehen „Heiraten zwischen Katholiken und Protestanten finden täglich statt und der Teil, der am meisten Verlangen hat, nimmt den Glauben des anderen an; solche Ehen bestehen zu Tausenden; unser Wirt z.B. war Katholik, seine Frau Protestantin“, notierte der Philosoph und Essayist Michel de Montaigne (1533–1592) noch relativ unaufgeregt in seinen Reisebeschreibungen über das Heiratsverhalten in Augsburg im späten 16. Jahrhundert.1 In einer Beschwerdeschrift an den Markgrafen von Baden-Durlach aus dem Jahre 1722 über das Verhalten der Reformierten in Mühlburg lässt sich über hundert Jahre später eine ähnlich unspezifische numerische Übertreibung des Mischehephänomens beobachten: „und sindt solcher Armen in vermischten Ehen lebenden Personen in grosser Mänge unter uns“.2 Vergleichbare subjektive Einschätzungen über die große Zahl von Mischehen sind auch für andere Territorien im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation wie auch in den benachbarten Niederlanden überliefert, allerdings zunehmend begleitet von Sorgen über potentielle Religionskonflikte in solchen Ehen.3 Im Verlauf des 17. und vor allem im 18. Jahrhundert wurde das Phänomen religiös-konfessionell gemischter Ehen diskursiv in das öffentliche Bewusstsein gerückt und auf politischer, gesellschaftlicher, rechtlicher und konfessionspoli tischer Ebene sowie in unterschiedlichen alltäglichen Zusammenhängen verhandelt. Dies zeigte sich in ersten statistischen Erhebungen, die gezielt nach der Anzahl religiös-konfessionell gemischter Ehen fragten.4 Religionsbeschwerden thematisierten seit dem späten 17. Jahrhundert regelmäßig Religionskonflikte in
1 Zitiert nach Wolfgang Wüst, Konfession, Kanzel und Kontroverse in einer paritätischen Reichsstadt, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134 (1998), S. 123–149, hier S. 134. Zur gefühlten Normalität von Mischehen in der ersten Generation nach der Reformation vgl. Bertrand Forclaz, The Emergence of Confessional Identities: Family Relationships and Religious Coexistence in Seventeenth-Century Utrecht, in: C. Scott Dixon/Dagmar Freist/Mark Greengrass (Hrsg.), Living with Religious Diversity in Early-Modern Europe. Farnham 2009, S. 249–266, hier S. 251–253. 2 Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 74/6850 (1722). 3 Benjamin Kaplan, „For They Will Turn Away Thy Sons“. The Practice and Perils of Mixed Marriage in the Dutch Golden Age, in: ders./Marc R. Foster (Hrsg.), Piety and Family in Early Modern Europe: Essays in honour of Steven Ozment. Aldershot 2005, S. 115–133. 4 StAOS, Rep. 100 Abschnitt 188/7. 2 Bde., 2. Eine weitere Konfessionsstatistik für das Fürstbistum Osnabrück liegt aus der Zeit der französischen Herrschaft (1811/12) vor. StAOS Rep 111 III (Oberemsdepartement) II B 4, 3 Vol. I–XII; Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in protoindustrieller Zeit, 1650– 1860. Göttingen 1994, S. 418f.
2
Einleitung
religiös-konfessionell gemischten Ehen. Im 18. Jahrhundert lässt sich eine wachsende mediale Aufbereitung und Politisierung von Mischehekonflikten, die vor den Reichsgerichten5 verhandelt wurden, beobachten. Zugleich wurde die juristische Bearbeitung von Mischehekonflikten aufwändig betrieben, kaiserliche Kommissionen wurden zur Klärung von Konfliktursachen und -verlauf vor Ort eingesetzt und die Gerichte machten von der Möglichkeit, Akten an theologische und juristische Fakultäten zu senden und Gutachten anzufordern, Gebrauch. Eine wachsende Zahl juristischer und theologischer Abhandlungen empfahl verschiedene Umgangsweisen mit religiös-konfessionell gemischten Ehen und entwarf zugleich konfessionspolitisch unterlegte Bedrohungsszenarien, die von Misch ehen ausgingen, um den Handlungsdruck zu erhöhen. Obrigkeitliche Interventionen, die in Verordnungen und Gesetzen Ausdruck fanden und Handlungsanleitungen zur Vorbeugung oder Bewältigung von Mischehekonflikten gaben, wurden kritisiert als Einmischung in kirchliche Angelegenheiten, was neuen Konfliktstoff mit sich brachte und die Frage nach der Kompetenz und Zuständigkeit im Umgang mit religiös-konfessionell gemischten Ehen aufwarf. Die diskursive Hervorbringung von religiös-konfessionell gemischten Ehen als Problem setzte sich fort in der Anzeige von Religionskonflikten in der Familie, die vor Gericht ausgetragen wurden und in die oft Verwandte, Pfarrer, Amtspersonen und die Dorfgemeinschaft involviert waren. Die Kindererziehung in religiöskonfessionell gemischten Familien war selten eine allein innerfamiliäre Angelegenheit. Im Gegenteil, individuelle Abmachungen über die religiöse Erziehung der Kinder wurden von staatlicher und kirchlicher Seite überwacht. Geistliche oder Beamte aller Konfessionen versuchten Einfluss auf Mischehen zu nehmen und Kinder und Eltern für die eigene Konfession zu gewinnen. Unter diesem äußeren Druck verstießen Eheleute immer wieder gegen Landesgesetze oder individuelle Abmachungen in Eheverträgen über die religiöse Praxis in ihrer Familie und über die religiös-konfessionelle Erziehung ihrer Kinder. Wurden diese Verstöße gerichtlich ausgetragen, beriefen sich die Prozessparteien regelmäßig auf das Recht auf religiöse Gewissensfreiheit und die Pflicht, den vereinbarten religiös-konfessionellen Status quo in der Familie nicht zu verändern. Dabei galt der Westfälische Frieden von 1648 als Maßstab und die Verweise darauf verdeutlichen die praktische Reichweite des Friedensvertrags im Alltag. In einem 1742 von Vormündern mit Verweis auf bestehende Eheverträge (die Söhne lutherisch wie der Vater, die Töchter katholisch wie die Mutter) ausgelösten Streit über die Erziehung des verbliebenen Sohnes einer katholischen Witwe, Adelheit Clasing
5 Reichshofrat und Reichskammergericht, vgl. Kapitel V.
Einleitung
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aus Quakenbrück, wies der Geheime Rat zu Osnabrück das Gericht in Quakenbrück an: daß es dem knaben ad protocollum zu befragen hätte, ob dem also sey, daß seine Mutter wie angegeben werden wollte, ihn zum Catholischen Glauben habe nöthigen wollen und in welchen Umständen diese Nöthigung allenfalls bestanden? Wie weniger nicht, daß der Richter dannach zu halten hätte, das die Witwe Cramers bey Erziehung ihrer Kinder nichts zur hand zu nehmen hätte, welches die immerwährende Capitulatio perpetua [gemeint ist die garantierte Glaubensfreiheit in der Osnabrücker Capitulatio perpetua des Westfälischen Friedens; d. Verf.] auf einige Weise kränken könnte.6
Die bislang vorliegenden Einzelstudien zu „konfessionsverschiedenen Ehen“, „mixed marriages“ oder „unequal marriages“ (Benjamin Kaplan) haben Mischehen vor allem als eine Spielart frühneuzeitlicher Eheformen in konfessionell gemischten Regionen analysiert, in denen in der Regel einer der beiden Ehepartner konvertierte. Thematisiert wurden vor allem (kirchen)rechtliche, familiäre bzw. dynastische oder konfessionspolitische Implikationen von Mischehen.7 Die wenigen bislang vorliegenden mikrohistorischen Annäherungen an Mischehen, die im Kontext städtegeschichtlicher Studien vorgenommen wurden, konnten statistische Aussagen treffen, soziale und familiäre Zuordnungen religiös-konfes-
6 StAOS, Rep 100 Abschnitt 374/12, fol. 27 (1742). 7 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit vgl. Forclaz, Bertrand: Le foyer de la discorde? Les mariages mixtes à Utrecht au XVIIe siècle, in: Annales. Histoire, Sciences sociales 63 (2008), S. 1101– 1123; Benjamin Kaplan, Intimate Negotiations: Husbands and Wives of Opposing Faiths in Eighteenth-Century Holland, in: C. Scott Dixon/Dagmar Freist/Mark Greengrass (Hrsg.), Living with Religious Diversity in Early Modern Europe. Farnham 2009, S. 225–248; Forclaz, The Emergence of Confessional Identities; ders., Le foyer de la discorde? Les mariages mixtes à Utrecht au XVIIe siècle, in: Annales. Histoire, Sciences sociales 63 (2008), S. 1101–1123, Kaplan, „For They Will Turn Away Thy Sons“; ders., Divided by Faith Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe. Cambridge/London 2007, S. 266–293; ders., Integration vs Segregation: Religiously Mixed Marriages and the ‚verzuiling‘ Model of Dutch Society, in: ders. u.a. (Hrsg.), Catholic Communities in Protestant States: Britain and the Netherlands c. 1570–1720. Manchester 2009, S. 48–66; Étienne François, Die unsichtbare Grenze. Protestanten und Katholiken in Augsburg 1648–1806 (Abhandlungen zur Geschichte der Stadt Augsburg, 33). Sigmaringen 1991, S. 191–211; Keith P. Luria, Sacred Boundaries. Religious Coexistence and Conflict in Early Modern France. Washington 2005, S. 143–192; Cecilia Cristellon, Die Römische Inquisition und die Mischehen in Deutschland (16.–18. Jahrhundert), in: Albrecht Burkhardt/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Tribunal der Barbaren? Deutschland und die Inquisition in der Frühen Neuzeit (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, 25). Konstanz/München 2012, S. 277–306, hier S. 281; dies., ‚Unable and Weak-minded‘ or a Missionary? Catholic Women in Mixed Marriages (1563–1798), in: Karin Gottschalk (Hrsg.), Gender Difference in European Legal Cultures. Historical Perspectives. Festschrift für Heide Wunder. Stuttgart 2013, S. 83–93.
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Einleitung
sionell gemischter Ehen vornehmen und Konfliktmuster in einem überschaubaren Raum untersuchen, in dem alle sozialen, wirtschaftlichen, politischen und konfessionellen Aspekte ausgeleuchtet wurden.8 Die vorliegende Studie geht über diese Ansätze hinaus und legt das Augenmerk auf die Bedingungen, Praktiken und Grenzen religiös-konfessionell gemisch ten Zusammenlebens, die in Mischehen als kleinster sozialer Einheit beobachtbar werden. Gewissermaßen wie durch ein Brennglas wird am Beispiel von Mischehen das Zusammenwirken von Alltagshandeln, Umgangsweisen mit religiöskonfessionellen Differenzen und religiös-konfessioneller Selbstbildung in seiner Verwobenheit mit Prozessen der Rechtsetzung und Konfessionalisierung untersucht. Methodisch bedeutet dies, durch mikrohistorische Verfahrensweisen diese Komplexität beobachtbar zu machen. Dabei wird der Deutungsanspruch von Grand Narratives in seiner perspektivischen Bedingtheit offen gelegt, in dem in einer mikrohistorisch-analytischen Perspektive der Beobachtungsmaßstab9 vergrößert und der Untersuchungsgegenstand heran gezoomt wird. Damit wird das Augenmerk auf Details und Widersprüche statt auf Universalisierungen gelenkt. Michel de Certeau hat in seinen Studien zu Alltagshandeln unter der Überschrift „Walking in the City“ diesen Blickwechsel verglichen mit dem Verlassen der 110. Etage des World Trade Centers und dem Eintauchen in das Gewirr Manhattans. Auf dem Turm ergreift ihn „the exaltation of a scopic and gnostic drive: the fiction of knowledge is related to this lust to be a viewpoint and nothing
8 Vgl. die entsprechenden Kapitel etwa in Peter Zschunke, Konfession und Alltag in Oppenheim. Beiträge zur Geschichte von Bevölkerung und Gesellschaft in einer gemischt-konfessionellen Kleinstadt in der frühen Neuzeit (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Abendländische Religionsgeschichte, 115). Wiesbaden 1984; Paul Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt. Das Zusammenleben von Katholiken und Protestanten in den paritätischen Reichsstädten Augsburg, Biberach, Ravensburg und Dinkelsbühl von 1548 bis 1648. Wiesbaden 1983; Eva Heller-Karneth, Drei Konfessionen in einer Stadt. Zur Bedeutung des konfessionellen Faktors im Alzey des Ancien Régime (Veröffentlichungen zur Volkskunde und Kulturgeschichte, 60). Würzburg 1996; Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. 9 „Vergrößerung des Beobachtungsmaßstabs“ wird hier in Anlehnung an die Kartographie verwendet. Das Adjektiv „groß“ bezieht sich in Verbindung mit Maßstab auf die Vergrößerung des Beobachtungsgegenstandes, um die es in mikrohistorischen Verfahren geht. Durch die Vergrößerung des Beobachtungsmaßstabs wird der Gegenstand vergrößert, indem die Maßstabszahl verkleinert wird. Hans Medick hat erstmals die notwendige Veränderung des Beobachtungsmaßstabs gefordert, um aus mikroskopischem Blick neue Erkenntnisse zu entwickeln. Hans Medick, Mikro-Historie, in: Winfried Schulze (Hrsg.), Sozialgeschichte, Alltagsgeschichte, Mikro-Historie. Göttingen 1994, S. 40–53, hier S. 44.
Einleitung
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more“.10 Die Turmperspektive „makes the complexity of the city readable, and immobilizes its opaque mobility in a transparent text“.11 Das Panorama-Bild, das sich so ausbreitet, ist ein visuelles Simulacrum. Der oder die Beobachter blenden die Möglichkeitsbedingungen eines solchen Bildes in der Regel vollkommen aus bzw. sind sich dieser noch nicht einmal bewusst. Die Draufsicht suggeriert eine Ordnung, die den „status of the ‚proper meaning‘ constructed by grammarians and linguistics“ erhält, „in order to have a normal and normative level“ oder ein „proper meaning“.12 Es ist aber erst diese Konstruktion einer Normativität und die Illusion einer Ordnung, die überhaupt die Zuschreibung von Devianz und von Abweichung zur Beschreibung sozialen Handelns ermöglicht. Damit verbunden ist ein Verständnis des Sozialen als prä-existent mit inhärenten Logiken und Rationalitäten, die handlungsleitend wirksam sind. In dieser Arbeit wird stattdessen davon ausgegangen, dass das Soziale sich erst im Vollzug sozialer Praktiken entfaltet und diese Praktiken sowohl „Elemente des Regulären und Elemente des Offenen“ enthalten.13 Eine erste Konsequenz dieser Beobachtungen für die nachfolgende Untersuchung liegt in der Überwindung des Gegensatzes von normativ gesetzter Konfessionalisierung als obrigkeitlichem Top-down-Prozess und im Alltag verankerten religiösen Praktiken. Konfessionalisierung als Formungs- und Bildungsprozess ist, so eine der Grundannahmen dieser Arbeit, untrennbar verbunden mit Praktiken religiöser Subjektivierung, allerdings nicht im Sinne einer modernisierend gedachten graduell wachsenden Normerfüllung, sondern praxeologisch gedacht als ein Verständnis des Sozialen, das erst in praktischen Vollzügen erzeugt wird.14 Praktiken werden verstanden als kollektive Handlungsgefüge (Praktik), die sich aus der Summe der sie konstituierenden sozialen Praxis in ständig wiederholten Aneignungen bereits vorhandener Möglichkeiten und immer wieder
10 Michel de Certeau, The Practice of Everyday Life, übersetzt von Steven Randall. Berkeley/Los Angeles/London 1984, hier S. 91. 11 Ebd., S. 92. 12 Ebd., S. 100–101. 13 Karl Hörnig, Ordnungsübertritte, in: ders. (Hrsg.), Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist 2001, S.19 –31, hier S. 23. 14 Jörg Volbers, Performative Kultur. Wiesbaden 2014. Die folgenden Ausführungen in Anlehnung an Dagmar Freist, Diskurse–Körper–Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung – eine Annäherung, in: dies. (Hrsg.), Diskurse–Körper–Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung. Bielefeld 2015, S. 9–30, hier S. 18–19.
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Einleitung
neuen Realisierungen von bereits Vorhandenem ergeben.15 Soziale Praktiken, so Karl Hörnig, „begründen eine bestimmte Handlungsnormalität im Alltag“, die sich auf Handlungsroutinen, Erfahrungen und ein (implizites) Wissen von der Relevanz und Geeignetheit bestimmter Handlungsweisen gründet, die im Vollzug von Praktiken fortlaufend aktualisiert und erkennbar werden.16 In jüngerer Zeit wurde sowohl in der geschichtswissenschaftlichen17 als auch der soziologischen Debatte18 Kritik an einem tendenziell eher deterministischen Verständnis sozialer Praktiken geübt und auf die Kontingenz der Praxis, die Kreativität des Handelns und das Miteinander von Routinen und Reflexivität in Praktiken verwiesen.19 Diese Kontingenz der Praxis lässt sich insbesondere in religiös-konfessionell gemischten Regionen und in Mischehen beobachten. In diesem Kontext stellt sich somit auch die Frage nach dem Subjektverständnis neu. An die Stelle eines metaphysischen, substanzontologischen Verständnisses von Subjekt, das Diskursen und diskursiven Praktiken vorgängig sei oder von dem die Tätigkeit des Konstruierens – etwa einer konfessionellen Identität – ausgehen würde, tritt die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeiten von Subjektwerdung und seines Wirkens.20 Dieses performative Verständnis des Sozialen impliziert sowohl, dass konfessionelle Unterscheidungsmerkmale erst in Aneignungsprozessen und Praktiken Wirksamkeit entfalten, als auch, dass religiöse Selbst- und Fremdver-
15 Zur Einführung in die Praxistheorie Andreas Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken: Eine sozialtheoretische Perspektive, in: Zeitschrift für Soziologie 32 (2003), S. 282– 301; Frank Hillebrand, Praxistheorie, in: Georg Kneer/Markus Schroer (Hrsg.), Handbuch soziologische Theorien. Wiesbaden 2009, S. 369–394. 16 Karl Hörnig, Die Macht der Dinge, in: ders. (Hrsg.), Experten des Alltags. Die Wiederentdeckung des praktischen Wissens. Weilerswist 2001, S.157–184, hier S. 160. 17 Sven Reichard, Praxeologische Geschichtswissenschaft. Eine Diskussionsanregung, in: Sozialgeschichte 3 (2007), S.43–65, hier S. 48; Marian Füssel/Tim Neu, Doing Discourse. Diskursiver Wandel aus praxeologischer Perspektive, in: Achim Landwehr (Hrsg.), Diskursiver Wandel. Wiesbaden 2010, S. 213-235, hier S. 228. 18 Hörnig, Die Macht der Dinge, S. 163; Thomas Alkemeyer, Handeln in Unsicherheit – vom Sport aus betrachtet, in: Fritz Böhle/Margit Weihrich (Hrsg.), Handeln unter Unsicherheit. Wiesbaden 2009, S. 183–202, bes. S. 190–192; Thomas Alkemeyer/ Nikolaus Buschmann, Praktiken der Subjektivierung – Subjektivierung als Praxis, in: Hilmar Schäfer (Hrsg.), Praxistheorie. Ein soziologisches Forschungsprogramm. Bielefeld 2016, S. 115–136. 19 Insbesondere T. Alkemeyer/N. Buschmann, Praktiken der Subjektivierung. 20 Das Subjekt als Zentrum sozialer Ordnungen und sozialen Handelns wird in Frage gestellt. So etwa Judith Butler, Körper von Gewicht. Frankfurt a.M. 1997, S. 29; konstitutiv für Foucaults Genealogie des modernen Subjekts ist dabei eine historisierende und praxeologische Perspektive. Vgl. Michel Foucault, Technologien des Selbst, in: ders. (Hrsg.), Schriften. Dits et Ecrits, Bd. 4: 1980–1988. Frankfurt a.M. 2005, S. 966–999, hier S. 968. Vgl. auch Erika Fischer-Lichte, Performativität. Eine Einführung. Bielefeld 2012, S. 41.
Einleitung
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ortungen nicht auf kognitive Akte einer Normerfüllung reduziert werden können. Umgangsweisen mit religiöser Differenz lassen sich nicht rechtlich definieren, sondern der Rechtsetzungsprozess bezogen auf Mischehen wird verstanden als Handlungsanleitung, die in Alltagspraktiken und im Kontext juristischer Rechtfindungsprozesse den Blick auf Kontingenz eröffnet. Ausgehend von den hier angestellten Vorüberlegungen werden weitere für diese Studie grundlegende Begriffsklärungen bezogen auf ihre analytische Relevanz vorgenommen. Das Adjektiv konfessionell wird im Folgenden zur Kennzeichnung obrigkeitlicher Formungsprozesse entlang normativ gesetzter konfessioneller Unterscheidungsmerkmale innerhalb des Christentums verwendet. Die Bindestrich Formulierung „religiös-konfessionell“ eröffnet eine analytische Perspektive, die das wechselseitig Konstitutive von konfessioneller Formung und religiöser Subjektivierung in den Blick rücken soll. Religiöse Subjektivierung wird verstanden als ein Prozess, in dem konfessionelle Unterscheidungsmerkmale des christlichen Glaubens angeeignet, eingeübt und in umfassendere Handlungs- und Deutungsmuster alltäglicher Zusammenhänge, Beziehungen und Erfahrungen eingewoben werden. Die alleinige Verwendung des Adjektivs „religiös“ schließlich geht von der Selbstverortung der Menschen innerhalb religiöser und konfessioneller Deutungsangebote und Zugehörigkeiten aus und lässt bewusst den Grad konfessioneller Formung und Prägung offen. Letztere wird konzeptionell nicht ausgeschlossen, es soll aber vermieden werden, dass in der Frage nach religiöser Subjektivierung implizit obrigkeitliche Kategorien von Eindeutigkeit oder Uneindeutigkeit bezogen auf konfessionelle Vereindeutigkeitszwänge einfließen.21 Aus diesen Gründen wird in dieser Studie nicht von konfessionsverschiedenen Ehen gesprochen,22 die eine Eindeutigkeit konfessionell geprägter religiöser Selbstverortung voraussetzen. Aus dem gleichen Grund wird der Begriff konfessionell gemischte Ehen nicht länger verwendet. Mit dem analytischen Begriff religiös-konfessionell gemischte Ehen soll zum einen der konfessionelle Formungsanteil in der religiösen Selbstverortung der Ehepaare als permanenter Aneignungs- und Aushandlungsprozess offenbleiben, zum anderen die Pluralität innerhalb der Konfessionen mitgedacht und so Ehen beispielsweise zwischen Mennoniten und Katholiken abgebildet werden können. Grundsätzlich
21 Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: Andreas Pietsch/dies. (Hrsg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 214). Heidelberg 2013, S. 9–26, hier S. 12. 22 Anke Hufschmid, „Den Krieg im Braut-Bette schlichten“. Zu konfessionsverschiedenen Ehen in fürstlichen Familien der Frühen Neuzeit, in: Jens Flemming u.a. (Hrsg.), Lesarten der Geschichte. Ländliche Ordnungen und Geschlechterverhältnisse. Kassel 2004, S. 333–355.
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ließen sich so auch Ehen zwischen Juden oder Muslimen und einer der christlichen Konfessionen analytisch greifen, die allerdings nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind. Schließlich soll der Tatsache Rechnung getragen werden, dass sich die religiöse Selbstverortung von Menschen nicht auf die Unterscheidungsmerkmale der Konfessionen oder auf kognitive Aspekte von Glaubenswissen reduzieren lässt. Vielmehr zeigen sich religiöse Zugehörigkeiten und Grenzziehungen gerade in religiös-konfessionell gemischten Regionen in Praktiken und in den Umgangsweisen mit religiösen Artefakten, die Bedeutungszuschreibungen erst hervorbringen und sozial intelligibel machen. An dieser Stelle soll noch angemerkt werden, dass die Verwendung des Begriffs Mischehe alternativ zu religiös-konfessionell gemischten Ehen nicht nur eine stilistische Funktion erfüllt, sondern dass damit ein zeitgenössischer Begriff zum Tragen kommt, der auch in der englischsprachigen Forschung als „mixed marriages“ Verwendung findet. Nach diesen methodisch-theoretischen Vorüberlegungen wird im weiteren Verlauf dieser Einleitung zunächst die bereits angedeutete Komplexität von Mischehen und die damit verbundene methodische Herangehensweise weiter ausgefaltet und an einzelnen Beispielen konkretisiert. Daran anschließend werden die sich daraus ergebenden Betrachtungsweisen von Mischehen in insgesamt fünf Kapiteln vorgestellt und die Auswahl der drei territorialen Fallstudien begründet. Religiös-konfessionell gemischte Ehen – Die Umkreisung eines historischen Phänomens Angesichts der diskursiven Verdichtung des Mischehephänomens seit dem späten 17. Jahrhundert interessiert die Frage, welche gesellschaftlichen Konstellationen, Wahrnehmungen und Selbstbeschreibungen diese Aufmerksamkeitslenkung hervorbrachten, welche gesellschaftlichen und politischen Entwürfe und Verwerfungen sich in Mischehen zu verdichten schienen und welche Bewältigungsstrategien und Umgangsweisen mit religiöser Differenz jeweils präferiert wurden. Geht man mit dem Westfälischen Friedensvertrag davon aus, dass die Parität der drei Konfessionen unter der Bedingung, dass sie sich aus dem Wege gingen, theologisch und politisch möglich war, so bildeten religiös-konfessionell gemischte Ehen einen Widerspruch zu diesen Vorstellungen: Paare, die sich für eine Eheschließung trotz unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit entschieden, überschritten konfessionell hervorgebrachte Grenzen. Solche konfessionellen Grenzüberschreitungen waren in den Augen vieler, vor allem gebildeter Zeitgenossen nur schwer vorstellbar. So verlangte der brandenburgische Reichstagsgesandte von Willich zu Boezelaer mit Blick auf die um 1699 einsetzende Rekatholisierung
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in der Kurpfalz, dass Protestanten und Katholiken im Alltag möglichst wenig Berührungspunkte haben sollten, „da einem jeden Evangelischen Christen daran gelegen, daß er die Catholische Ritus nicht täglich vor Augen sehe; aber dafern er nicht einige Referenz darbey erzeiget, allerhand Neid, Feindschafft und Ahndung erwarten müsse“.23 Mischehen dagegen stellten im 17. und 18. Jahrhundert eine Grenzüberschreitung dar in einer Zeit, in der rechtlich, politisch und theologisch um eine Abgrenzung der Konfessionen und in der Verankerung konfessioneller Unterschiede im Alltagshandeln gerungen, beziehungsweise, in der eine solche Abgrenzung politisch und rechtlich als gegeben angesehen wurde. Daraus ergibt sich nicht nur die Frage nach der tatsächlichen Ausbildung und Endgültigkeit konfessioneller Grenzziehungen auf der Grundlage der im Westfälischen Friedensvertrag verankerten Normaljahrsregel24 und deren Akzeptanz im Alltagshandeln, sondern auch nach dem wechselseitig Konstitutiven von konfessioneller Fremd- und religiöser Selbstverortung im Kontext religiöser Pluralisierung, „normativer Zentrierung“25, konfessioneller Formierung und religiöser Subjektivierung. Die Frage nach religiöser Selbstverortung und danach, wie sich diese manifestiert, ist nicht nur eine methodische Herausforderung mit der sich die Forschung seit der Debatte um das Konfessionalisierungsparadigma beschäftigt hat26, sondern erwies sich insbesondere bei Mischehen auch als ein ganz praktisches Problem. Vorbehalte der Konfessionskirchen, reproduziert in den Rechtfertigungsstrategien von Ortsgeistlichen, wenn sie in religiös-konfessionell gemischte Ehen intervenierten, richteten sich gegen die angenommene „Lauigkeit“ und Uneindeutigkeit in der Herausbildung konfessioneller Zugehörigkeit. Religiöse Uneindeutigkeit wird in diesem Zusammenhang allerdings nicht wie
23 Anderweite Vorstellung des Freyhernn von Boezelager an Seine Churfürstl. Durchl. Zu Pfaltz nomine Corporis Evangelicorum (1699), in: Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth (Hrsg.), Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des hochpreißlichen Corporis Evangelicorum. 3 Bde. Regensburg 1751–1752, Bd. 2, S. 313–332, hier S. 326. Vgl. auch Ronald G. Asch, Das Problem des religiösen Pluralismus im Zeitalter der „Konfessionalisierung“: Zum historischen Kontext der konfessionellen Bestimmungen des Westfälischen Friedens, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte 134 (1998), S. 1–32, hier S. 27. 24 Ralf-Peter Fuchs, Ein ‚Medium‘ zum Frieden. Die Normaljahrsregel und die Beendigung des Dreißigjährigen Krieges. München 2010. 25 Berndt Hamm, Theologie und Ikonologie, in: Zeitschrift für Historische Forschung 26 (1999), S. 162–202. 26 Aus der umfangreichen Debatte hier exemplarisch Kaspar von Greyerz/Manfred JakubowskiTiessen/Hartmut Lehmann (Hrsg.), Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 201). Heidelberg 2003. Ausführlich dazu Kapitel II.
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jüngst vorgeschlagen als eine religiöse Praxis verstanden, in der sich Widerstände und Beharrungsvermögen zeigen,27 sondern impliziert doch eher ein obrigkeitliches Unterscheidungsmerkmal, das eine irgendwie normativ vermittelte und eingeübte Eindeutigkeit voraussetzte, die es noch zu erreichen galt, sobald Widerstände und Beharrungsvermögen überwunden waren. Was sich konfessionspolitisch aus obrigkeitlicher Perspektive als ein Problem konfessioneller Eindeutigkeit oder Uneindeutigkeit darstellte, war für die Menschen schlicht eine Frage religiöser Selbstverortung. Diese religiöse Selbstverortung ging situativ aus spezifischen alltäglichen Konstellationen hervor und war geprägt von konfessioneller Bildung und der Adaption konfessioneller Unterscheidungsmerkmale an das Alltagshandeln. Die sich daraus ergebende Deutungsvielfalt des Religiös-Konfessionellen zeigte sich letztlich erst in spezifischen religiösen Praktiken wozu auch die Umgangsweisen mit Artefakten gehörten. Katholiken und Lutheraner konnten sich beispielsweise Wegkreuzen gegenüber sehr unterschiedlich verhalten, die Umgangsweisen reichten von Ehrerbietung bis Hohn, und erst im Vollzug einer solchen Haltung erschloss sich für Zeitgenossen die jeweilige Bedeutungszuschreibung und damit auch der Charakter eines Objekts.28 Eine besondere und häufig Konflikt anfällige Herausforderung im Umgang mit Differenzen in religiös-konfessionell gemischten Familien war die zeitliche Synchronisierung religiöser Praktiken und häuslicher Verpflichtungen etwa angesichts unterschiedlicher Feiertage und Fastenzeiten. Daraus resultierende Verwerfungen in der Organisation des Hauses waren vergleichbar mit der Störanfälligkeit gemeinsamer Kirchennutzung (Simultaneum) durch verschiedene Religionsangehörige oder von Prozessionen in religiös-konfessionell gemischten Regionen.29 Diesen Uneindeutigkeiten sollte durch strikte konfessionelle Formung insbesondere von Kindern entgegengewirkt werden sowie durch die allerdings rechtlich nicht durchhaltbare Appellation an die Macht des Hausvaters, der auch in Sachen konfessioneller Unterweisung gerade in religiös-konfessionell gemischten Familien richtungsweisend wirken sollte. Wie sehr alltägliche religiöse Selbstverortungen, konfessionelle Formierung und religiöse Subjektivierung sich wechselseitig bedingten und zugleich von all-
27 Vgl. Stollberg-Rilinger, Einleitung, S. 12. 28 Detailliert dazu Kapitel III. 29 Vgl. die Beispiele in Hans Medick/Benjamin Marschke (Hrsg.), Experiencing the Thirty Years War: A Brief History with Documents. Bedford 2013, hier S. 55–57 und Duane J. Corpis, Mapping the boundaries of confession: space and urban religious life in the diocese of Augsburg, 1648– 1750, in: Will Coster/Andrew Spicer (Hrsg.), Sacred Space in early Modern Europe. Cambridge 2005, S. 302–325, hier S. 306–307, 312.
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täglichen Anpassungs- und Aneignungsprozessen begleitet und variiert wurden, zeigte sich in Befragungen von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen. In diesen Fragen ging es um die Ermittlung der religiös-konfessionellen Identität von Kindern, die aus obrigkeitlicher Sicht allerdings immer wieder an eigenständigen Interpretationen dessen, was eine solche Identität ausmachte, scheiterte. Daraus ergab sich die über Jahrzehnte zwischen den Konfessionen intensiv debattierte Frage nach der Religionsmündigkeit: Ab welchem Alter waren Kinder überhaupt in der Lage, einen Begriff im Sinne von Begreifen einer Religion zu entwickeln und wie ließ sich dies feststellen?30 In den Umgangsweisen mit religiöser Differenz in Mischehen wurden für die Zeitgenossen die großen Herausforderungen konfessioneller Parität und religiöser Gewissensfreiheit, die mit dem Westfälischen Frieden als Friedensordnung ausgerufen und rechtlich verankert wurden, im Alltag greifbar. Der Osnabrücker Friedensvertrag gewährte evangelischen und katholischen Untertanen ungeachtet der Landeskonfession die freie Religionsausübung in dem Umfang, wie sie bereits am 1. Januar 1624 in dem jeweiligen Herrschaftsgebiet üblich war.31 Das bedeutete, dass die drei reichsrechtlich legitimierten Konfessionen in den einzelnen Territorien einen unterschiedlichen Grad an öffentlicher Anerkennung genossen. Untertanen, die nicht durch die Regelung des ‚Normaljahres‘ von 1624 geschützt waren, erhielten persönliche Gewissensfreiheit – „conscientia libera“–, sollten „mit Nachsicht geduldet werden“ – „patienter tolerentur“ – und durften ihre Religion privat ausüben – „devotio domestica“–, ihre Kinder von Privat lehrern erziehen lassen oder an Gottesdiensten und am Schulunterricht ihrer Konfession in Nachbarterritorien teilnehmen. 32 Wegen seines Bekenntnisses durfte niemand verachtet oder aus Gemeinschaften wie derjenigen von Kaufleuten, Zünften oder Erben ausgeschlossen werden. Schließlich gewährte das Recht auf Auswanderung – „ius emigrandi“ – den Schutz von Eigentum und Vermögen. Die Machbarkeit so proklamierter religiös-konfessionell gemischter Koexistenz wurde in Mischehen auf kleinstem Raum zum kritisch beobachteten Testfall, und die Wirkmächtigkeit des Westfälischen Friedens und seine praktische Reichweite bis in das Alltagshandeln der Menschen hinein standen auf dem Prüfstein. Nicht selten wurden Religionskonflikte in der Familie verglichen mit Religionskonflikten auf Reichsebene und die Verletzung religiöser Gewissensfreiheit
30 Detailliert dazu Kapitel II. 31 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) vom 24. Oktober 1648, Art. V. §§ 31–36, in: Antje Oschmann (Bearb.), Acta Pacis Westphalicae III Abt. B Verhandlungsakten Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. Teilband 1: Urkunden. Münster 1998, S. 120–122. 32 (Art. V, § 34)
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in diesen Auseinandersetzungen wurden als Gewissenszwang, als Verletzung der reichsrechtlich verankerten freien Religionsausübung und damit als Verletzung des Westfälischen Friedensvertrags deklariert. Diese Argumente finden sich in Auseinandersetzungen um Mischehekonflikte auf Reichsebene zwischen dem Corpus Evangelicorum, den Reichsgerichten und dem Reichstag ebenso wie im Alltagshandeln, wenn Eheleute auf ihre religiöse Gewissensfreiheit in einer religiös-konfessionell gemischten Ehe pochten und im Konfliktfall die Wiederherstellung des ursprünglich vereinbarten religiös-konfessionellen Status quo in ihrer Ehe forderten. Das Verhältnis der Geschlechter auf der Suche nach einem friedvollen religiös-konfessionell gemischten Zusammenleben und das Verhalten der Kinder spielten in der Frage der Gewissensfreiheit eine zentrale Rolle. Das Recht, aber häufig auch die Pflicht, in Eheverträgen die gegenseitige Anerkennung der Gewissensfreiheit festzuschreiben und die Kindererziehung einvernehmlich zu regeln – was häufig bedeutete: Erziehung der Mädchen in der Religion der Mutter, der Jungen in der Religion des Vaters –, rückte die Frage der patria potestas, der väterlichen Gewalt, in ein neues Licht. Darüber hinaus trat die Macht des religiösen Gewissens von Kindern und Ehefrau angesichts unvermeidlicher Konflikte im religiösen Alltag von Mischehen in Konkurrenz zu der Macht des Hausvaters. Auf der Ebene des konfessionellen Territorialstaats wiederholte sich diese Konstellation, wenn es bei Konflikten in religiös-konfessionell gemischten Familien um die Frage ging, ob die väterliche Gewalt oder aber die offizielle Landeskonfession bei der Religionsbestimmung der Kinder ausschlaggebend sein konnte bzw. sollte. Religiös-konfessionell gemischte Ehen standen auch nach 1648 grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu unterschiedlichen theologischen Positionen, territorialer Konfessionspolitik, Glaubensfreiheit und den Vorstellungen eines guten Gewissens. Diese Perspektivierung religiös-konfessionell gemischter Ehen im Kontext religiöser Pluralisierung öffnet den Blick auf grundlegende Phänomene des 17. und 18. Jahrhunderts, die im Folgenden umrissen werden und als Leitfaden die Gesamtkonzeption dieser Untersuchung strukturieren. Zunächst werden am Beispiel von Mischehen Umgangsweisen mit religiöser Differenz aus kirchenrechtlicher Sicht, aus obrigkeitlicher Perspektive und im Alltag beobachtbar. Sichtbar wird hier die Rechtsetzung als reaktiver und als gestaltender Prozess zur Prävention von Konflikten. Mit dem für diese Studie grundlegenden Verständnis von Rechtsetzung als Handlungsanleitung im Umgang mit religiöser Differenz soll auf die Spielräume aufmerksam gemacht werden, die sich etwa in der Gestaltung von Eheverträgen ergaben. Unabhängig von den Vorgaben der Landesgesetze konnten in Eheverträgen die religiösen Praktiken in der Familie, Fragen religiöser
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Gewissensfreiheit und vor allem die religiöse und konfessionelle Unterweisung von Kindern nach eigenen Vorstellungen bestimmt werden. Diesen so eingeräumten Gestaltungsspielräumen standen klare konfessionspolitische Interessen der Kirchen, zum Teil auch der landesherrlichen Obrigkeit oder der Stände entgegen, ein Phänomen, das in den Fallstudien näher ausgeführt werden wird. Staatsgesetze, Verordnungen und Eheverträge über die religiös-konfessionelle Unterweisung der Kinder entsprachen nicht den Interessen und dem Eheverständnis der lutherischen und der reformierten Kirche, unterliefen das katholische Eherecht und die Dispenspraxis für Mischehen33 und zogen Konflikte und versuchte Einflussnahmen auf religiös-konfessionell gemischte Ehen nach sich. Das Zustandekommen einer Mischehe, aber auch die Religionsausübung in Mischehen war nicht nur eine Entscheidung der Eheleute, sondern immer zugleich auch eine konfessionspolitische und kirchenrechtliche Frage. Konflikte zwischen landesherrlicher Gesetzgebung und theologischen Vorstellungen und Geboten regierten in die Familien hinein und führten zur Verletzung des geltenden Rechts einschließlich vereinbarter Eheverträge, zu Gewaltanwendung und der immer wieder beklagten Entführung von Kindern. Kindesentführungen durch Verwandte, Väter und Mütter, aber auch von Geistlichen und Staatsbeamten aus religiösen Gründen gehörten – dieser subjektive Eindruck drängt sich auf – zum Alltag von Mischehen im gesamten Betrachtungszeitraum, sind aber vor allem für die Zeit nach 1648 dokumentiert und schienen besonders von katholischer Seite, allerdings nicht unumstritten, durch die Pflicht, Kinder im rechten Glauben zu erziehen, gerechtfertigt: „daß darum rechtgläubige Kinder von gefährlichen Eltern weg zu thun“.34 Besonders bedroht von Kindsentführungen und der Einmischung in die religiöse Erziehung waren Witwen, denen oft von Verwandten des Verstorbenen oder von Geistlichen verwehrt wurde, die zurückgelassenen Kinder aus einer religiös-konfessionell gemischten Ehe im eigenen Glauben zu erziehen.35 Die Kindererziehung in Mischehen war auf Landes- und auf Reichsebene uneinheitlich durch Gesetze geregelt, was zu weiteren Konflikten in Rechtfindungsprozessen führte. In den alltäglichen Umgangsweisen mit religiös-konfessioneller Differenz in Familien wird die jüngst mit Recht betonte gesellschaftliche Verflechtung des
33 Cristellon, Die Römische Inquisition, S. 277–306. 34 Zitat in Philipp Müller, Der Fang des edlen Lebens durch fremde Glaubens-Ehe. O.O. 1689, S. 129 (Verweis auf das Concilio Tolet. IV. c. 59). 35 Dagmar Freist, Religious Difference and the Experience of Widowhood in Early Modern Germany, in: Sandra Cavallo/Lyndan Warner (Hrsg.), Widows in Medieval and Early Modern Europe. London 1999, S. 164–178.
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Hauses als offenes Haus beobachtbar.36 Das Haus als soziale Formation37 geriet unter dem Eindruck religiös-konfessioneller Uneindeutigkeit unter familiäre, unter nachbarschaftliche und unter obrigkeitliche Beobachtung. Insbesondere protestantische Theologen waren sich einig, dass Mischehen die Voraussetzungen für einen friedvollen christlichen Hausstand aushebelten, war hier doch die Einheit von ‚Leib‘, aber nicht von Geist gegeben, und die Unterordnungspflicht der Ehefrau im Konfliktfall aus Gründen des religiösen Gewissens aufgehoben. Das Verhältnis der Geschlechter und die Wirkmächtigkeit der patria potestas als Strukturmerkmal der frühneuzeitlichen Gesellschaft und des Hauses unterlagen in Religionskonflikten dem Bedeutungszuwachs des religiösen Gewissens als schlagkräftigem Argument im Alltag und vor Gericht. Werden die Alltagserfahrungen von Menschen bei der Einklage von Gewissensfreiheit untersucht, stellt sich die Frage, ob die von der Frühneuzeitforschung angebotenen Interpretationen auf der Suche nach den Ursprüngen der Gewissensfreiheit mit dem Paradigma der „Privatisierung des Religiösen“ oder der „Säkularisierung der Welt“ die Komplexität der Prozesse gerade auch im 18. Jahrhundert erfassen – auch wenn die Beispiele für ein „neues Bewusstsein für die Ausgliederung des Bekenntnisses aus dem politischen Verhaltenskanon“38 zunächst zu überzeugen vermögen – oder ob es hier ergänzende Erklärungsansätze geben muss.39 Ebenso muss die
36 Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit. Zeitschrift für Historische Forschung 38/4 (2011), S. 621–664. 37 Imken Schmidt-Voges, Das Haus in der Vormoderne, in: Joachim Eibach/Inken Schmidt-Voges (Hrsg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch. München 2015, S. 1–18. 38 Winfried Schulze, Pluralisierung als Bedrohung: Toleranz als Lösung, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Westfälische Friede. Diplomatie – politische Zäsur – kulturelles Umfeld – Rezeptionsgeschichte (Historische Zeitschrift, Beiheft 26). München 1998, S. 115–140, hier S. 132. 39 Für einen Überblick über den historischen Bedeutungswandel des Toleranzbegriffes siehe: Gerd Besier/Klaus Schreiner, Art. „Toleranz“, in: Otto Brunner u.a. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1990, Bd. 6, S. 445-605, hier 489–494. Zur Privatisierung des Religiösen vor allem Winfried Schulze, ‚Ex dictamine rationis sapere‘. Zum Problem der Toleranz im Heiligen Römischen Reich nach dem Augsburger Religionsfrieden, in: Michael Erbe u.a. (Hrsg.), Querdenken. Dissens und Toleranz im Wandel der Geschichte. Festschrift zum 65. Geburtstag von Hans R. Guggisberg. Mannheim 1996, S. 223–240; zur Säkularisierung als Voraussetzung von Toleranz vor allem Horst Dreitzel, Gewissensfreiheit und soziale Ordnung. Religionstoleranz als Problem der politischen Theorie am Ausgang des 17. Jahrhunderts, in: Politische Vierteljahresschrift 36 (1995), S. 3–34; ders., Toleranz und Gewissensfreiheit im konfessionellen Zeitalter. Zur Diskussion im Reich zwischen Augsburger Religionsfrieden und Aufklärung, in: Dieter Breuer (Hrsg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung, 25). 2 Tle. Tl. 1. Wiesbaden 1995, S. 115–128; vgl. für eine kritische Würdigung der unterschiedlichen Positionen Ronald G. Asch, „Denn es sind ja die Deutschen...ein frey Volk“
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Bedeutung des religiösen Gewissens im Alltag noch deutlicher für das 18. Jahrhundert herausgearbeitet werden. Hatte sich das „säkularisierte Gewissen“ auch im religiösen Alltag durchgesetzt oder lebte hier, wie die Fallstudien andeuten, die Vorstellung eines religiösen Gewissens fort, das die Strafe Gottes schmerzhaft empfinden konnte?40 Der Westfälische Frieden und das Gebot konfessioneller Parität bildeten den Maßstab für die Bewertung von Religionskonflikten in der Familie, und Mischehekonflikte wurden auf Reichsebene unter gezielter Einschaltung einer Reichsöffentlichkeit zum Politikum stilisiert. Die Rhetorik des Corpus Evangelicorum gab häufig den Ton an, in den viele Akteure einstimmten – es ging auch bei Mischehekonflikten um die Verteidigung der Grundsätze des Westfälischen Friedens, die Verhinderung von Religionsbedrückungen und den Schutz des Protestantismus.41 Umgekehrt bezeugen auch Gravamina und Bittschriften von katholischer Seite, die noch kaum systematisch untersucht worden sind, von „Religionsbedrückungen“, die gegen Katholiken ausgeübt wurden.42 Schließlich belegen Lösungsstrategien im Umgang mit Religionskonflikten in Mischehen die Parallelität von Rechtsnutzung und der Umgehung des Rechts im Alltagshandeln bis weit in das 18. Jahrhundert. Dazu gehörte die Entführung von Kindern, das Verlassen des Rechtsraumes, um dem obrigkeitlichen Zugriff zu entgehen, oder die Vernichtung von Beweismaterial wie das Verbrennen von Eheverträgen. Im Gegenzug beschränkte die Obrigkeit die eigenen Konfliktlösungsstrategien auch noch im 18. Jahrhundert nicht auf die Tätigkeit von Gerichten und den Ort der Rechtsprechung, sondern setzte beispielsweise Späher ein, um entführte Kinder ausfindig zu machen, arbeitete mit materiellen Versprechen oder aber dem Entzug der Vormundschaft, um die religiöse Unterweisung von Kindern zu beeinflussen oder Konversionen zu erzwingen, und nutzte das Instrument der Einquartierung.43 Die Interessen der Eheleute, des Landesherrn und der Kirche waren, so wird an dem Umgang mit Konflikten deutlich, nicht immer deckungsgleich. Damit entstehen Fragen über religiös-konfessionelles Zusammenleben, über die Fort-
Die Glaubensfreiheit als Problem der westfälischen Friedensverhandlungen, in: Westfälische Zeitschrift 148 (1998), S. 113–137. 40 Für einen Überblick vgl. Heinz D. Kittsteiner, Die Entstehung des modernen Gewissens. Frankfurt a.M. 1995. 41 Zur Rhetorik des Corpus Evangelicorum vgl. Andreas Kalipke, Verfahren im Konflikt. Konfessionelle Streitigkeiten und Corpus Evangelicorum im 18. Jahrhundert (Verhandeln/Verfahren/ Entscheiden – Historische Perspektiven, 1). Göttingen 2015, hier S. 253–257. 42 Vgl. Kapitel III die Fallstudien zum Fürstbistum Osnabrück. 43 Für Beispiele vgl. Kapitel III und IV.
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setzung obrigkeitlicher Kontrolle der privaten Religionsausübung auch nach 1648 bis weit ins späte 18. Jahrhundert hinein, über Geschlechterbeziehungen, Autorität und Macht. Ein zunächst skizzenhaft gezeichnetes Bild der Mischeheproblematik im Alltag verweist auf die Macht des religiösen Gewissens, Konversionsdruck, Verletzung von Eheverträgen, Bitte um Dispensation, Bereitstellung von Religionssicherheiten, die Frage der patria potestas und der religiösen Kindererziehung, die Umsetzung von Gesetzen vor Ort, die Entführung von Kindern und erzwungene religiöse Erziehung in Waisenhäusern, die Rolle der lokalen Geistlichkeit, Gewalt und Leiden und schließlich die Reaktionen von „Zuschauern“. Die Gefahr der ‚Verführung‘ zum falschen Glauben, die Theologen aller drei Konfessionen mit Mischehen in Verbindung brachten und der Vorwurf des Gewis senszwangs, der in religiös-konfessionell gemischten Ehen gegenüber dem anders gläubigen Partner im Verlauf der gesamten Frühen Neuzeit erhoben wurde, wirft die Frage nach der Bedeutung von Gewissen und Toleranz im Alltag auf. In welchem Bedeutungsverhältnis standen Gewissensfreiheit, die im Westfälischen Friedensvertrag rechtlich garantiert worden war, und Gewissenszwang, den Gläubige, so die Meinung der Theologen, gegeneinander ausüben konnten? Ging es bei dem Vorwurf des Gewissenszwangs um die Abwesenheit eines Rechtszustands oder um die theologische Wahrheitsfrage? Eben diese Sorge um den wahren Glauben hatte alle drei Konfessionskirchen dazu angetrieben, in Gesetzen, Verordnungen und Gutachten vor den Folgen religiös-konfessionell gemischter Ehen zu warnen und zugleich die Erziehung der Kinder in der eigenen Konfession durchzusetzen oder zumindest zu beeinflussen. Doch wie unterschieden sich die Konfessionskirchen im Einzelnen in ihrem Verhältnis zu Mischehen? Und was bedeutete es für das Verhältnis von Staat und Kirche, wenn die weltliche Obrigkeit Gesetze zu Mischehen erließ, die gegen die Positionen der Konfessionskirchen verstießen? Welche Rolle spielten die Reichsorgane als oberste Garanten der Bestimmungen von 1555 und 1648? Bei der Analyse weltlicher Gesetzgebung zu Mischehen wird zu fragen sein, ob und inwieweit konfessionspolitische Interessen des Landesherrn und der Einfluss von Geistlichen die Gesetzgebung geprägt haben. Konnte die Gesetzgebung konfessionspolitisch beeinflusst sein, so ergibt sich daraus zumindest die Vermutung, dass auch die Rechtsanwendung nicht konfessionsneutral erfolgte. Gerade bei Konflikten in religiös-konfessionell gemischten Ehen musste ein Ausgleich zwischen Anhängern verschiedener Konfessionen gefunden werden. Die Auseinandersetzung mit Rechtsfindungsprozessen gewährt in diesem Zusammenhang nicht nur Einblicke in das Verhältnis von Recht, Rechtsverletzung und der Wiederherstellung eines Rechtszustands,
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sondern auch in politische Interessen, soziale Beziehungen und Handlungsstrategien im Umgang mit Konfessionskonflikten in Familien.44 Da Konflikte in Mischehen in der Regel mit dem Vorwurf des Gewissenszwangs in Form von Religionsbeschwerden zur Anzeige gebracht wurden, wurden die Vorwürfe in Bezug auf die Garantien des Westfälischen Friedensvertrags überprüft. Damit waren im Kleinen Vögte und Rentmeister in engem Austausch mit der eigenen Landesregierung befasst, aber auch das Corpus Evangelicorum, die Reichsgerichte und der Reichstag. Bei der Analyse der Rechtsfindungsprozesse in Mischehekonflikten rücken daher das Verhältnis der Reichsinstitutionen und ihre konkurrierende Interpretation des Westfälischen Friedensvertrags in den Blick. Die Forschung hat zu Recht die Frage nach den politischen Einflussmöglichkeiten auf Reichskammergerichtsprozesse gestellt.45 Gleichzeitig wurde die wachsende Bedeutung des Reichshofrats im Streben des Kaisers nach einer Konzentration aller noch vorhandenen Einfluss- und Machtmittel seit Ende des 16. Jahrhunderts hervorgehoben.46 Eine Verbindung politischer und rechtlicher Einwirkungsmöglichkeiten des Kaisers im Reich und die Strategien, die dagegen von protestantischer Seite entwickelt wurden, spielen in diesem Zusammenhang eine Rolle. Es war gerade die Mischung konfessioneller und politischer Parteinahme und Situationsdramatik, die Mischehekonflikte vor allem mit dem Vorwurf der Kindsentführung im Umfeld des Reichstags an eine breitere Öffentlichkeit gelangen ließen.
44 Zu Fragen von Recht, Rechtswirklichkeit und sozialer Kontrolle vgl. Richard van Dülmen (Hrsg.), Verbrechen, Strafen und soziale Kontrolle. Frankfurt 1990; Helga Schnabel-Schüle, Institutionelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Strafgerichtsbarkeit in Territorien des Reichs, in: Heinz Mohnhaupt/Dieter Simon (Hrsg.), Vorträge zur Justizforschung. Geschichte und Theorie. 2 Bde. Bd. 2. Frankfurt 1993, S. 147–173; Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates?, in: Geschichte und Gesellschaft 23 (1997), S. 647–663; Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Frankfurt 1999; dies. (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne. Konstanz 2000; Martin Dinges, Justiznutzung als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: ebd., S. 503-544; Achim Landwehr, „Normdurchsetzung“ in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 48 (2000), S. 146–162. 45 Vgl. beispielsweise Bernd Ruthmann, Das richterliche Personal am Reichskammergericht und seine politischen Verbindungen um 1600, in: Wolfgang Sellert (Hrsg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 34). Köln u.a. 1999, S. 1–26. 46 Stefan Ehrenpreis, Die Tätigkeit des Reichshofrats um 1600 in der protestantischen Kritik, in: ebd., S. 27–46, hier S. 30.
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Religiös-konfessionell gemischte Ehen in Nahaufnahmen – Religiöse Subjektivierung und Umgangsweisen mit religiöser Differenz Das „Phänomen der Mischehe“, so wie es sich in dieser ersten historischen Annäherung darstellt, weist über die einfache Frage nach einer Ehe zwischen Brautleuten unterschiedlicher religiöser Zugehörigkeit weit hinaus. Es geht, das ist deutlich geworden, um ein spannungsvolles Beziehungsgeflecht von Konfession, Religion und religiöser Subjektivierung in alltäglichen Zusammenhängen, Umgangsweisen mit religiöser Differenz in der Rechtsetzung und im Alltagshandeln, das Haus als soziale Formation und das Verhältnis der Geschlechter, obrigkeitliche Konfessionspolitik, Gewissensfreiheit und theologische Wahrheitsfragen. Mischehen waren spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert ein Störfaktor – in der christlichen Familie, die auf der Einheit von Geist und Körper im Glauben beruhen sollte, im Staat, der sich um einen konfessionell homogenen Untertanenverband bemühte, für die Kirchen, die mit ihrem Monopolanspruch auf die Heilsgewissheit um die Gläubigen warben, und für den Reichsreligionsfrieden, der auf das Recht der Gewissensfreiheit auf der einen Seite und auf unantastbaren konfessionellen Grenzziehungen und Abgrenzungen auf der anderen Seite gegründet war. Diesen verschiedenen Aspekten wird im Folgenden in fünf Kapiteln nachgegangen. Kapitel I befasst sich mit „Umgangsweisen mit religiöser Differenz in der Familie – Rechtsetzung als Handlungsanweisung“. Da bei dem Versuch, eine einheitliche Rechtsprechung für Mischehen einzuführen, unterschiedliche gesetzgeberische Interessen, Zuständigkeiten und Kompetenzen aufeinanderprallten, wurde die Gesetzgebung wie auch die Rechtsprechung zu einem diskursiven Prozess, der sich selbst bei lokalen Konflikten durch die Instanzen bewegen konnte, auf bestehende Urteile oder vergleichbare Phänomene verwies und begleitet wurde durch die Versendung von Akten und die Einholung von Gutachten. Entsprechend werden in diesem Kapitel zunächst die verschiedenen Institutionen und Rechtstraditionen, die für die Rechtsetzung zu Mischehen relevant waren, nachgezeichnet. Im zweiten Teil dieses Kapitels werden vor dem Hintergrund dieses diskursiven Prozesses die Gesetze zu Mischehen vergleichend in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches, der Reichsstädte und auf Reichs ebene erläutert und das Problem der Kompetenzen und Zuständigkeiten reflektiert. Die Gesetzgebung bildete nicht den gesetzten Rahmen, innerhalb dessen sich Mischehen bewegten, sondern Gesetze und Verordnungen entstanden in Reaktion auf das Phänomen der Mischehe, daher setzte die obrigkeitliche Gesetzgebung zeitlich verzögert ein. Kapitel II befasst sich mit „Praktiken religiös-konfessioneller Formung, religiöser Pluralisierung und das Problem religiöser Selbstund Fremdverortung“. Gerade in religiös-konfessionell gemischten Regionen lässt sich die religiöse Formierung und Selbstbildung nicht als ein von außen
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gesteuerter Prozess deuten, sondern zeigt komplexe Prozesse kreativer Aneignungen konfessioneller Deutungsangebote und das Aushandeln von Differenzen im Alltag. In diesem Zusammenhang entstehen Fragen nach Grenzformationen und nach der Dynamik, die friedliche Koexistenz in massive religiös-konfessionelle Konflikte verwandelte. Diese Aushandlungs- und Aneignungsprozesse in religiösen Praktiken im Alltag und verschiedene Formen religiöser Selbstverortung in Relation zu konfessionellen Normierungsprozessen sind insbesondere in Mischehen beobachtbar. In den Ausführungen geht es um das wechselseitig Konstitutive konfessioneller Formung und religiöser Subjektivierung und in diesem Kontext um die zeitgenössische Frage nach der Messbarkeit von Religionsmündigkeit am Beispiel von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen. Kapitel III ist überschrieben mit „Mischehen im Kontext religiös-konfessioneller Pluralität: Rechtsetzung und Alltagshandeln – Drei Fallstudien“. Den Kern dieses Kapitels bilden Verdichtungen der bereits gemachten Beobachtungen in drei ausgewählten, territorial-räumlich fokussierten Fallstudien. Dazu wurden ländliche Regionen drei sehr unterschiedlicher Territorien zur vergleichenden Analyse zwischen dem 17. und dem 18. Jahrhundert ausgewählt. Die Kurpfalz und das Fürstbistum Osnabrück bieten sich gewissermaßen von selbst an aufgrund der religiös-konfessionell gemischten Bevölkerungsstruktur. Gleichzeitig unterscheiden sich beide Territorien deutlich in ihrer Herrschaftsstruktur und in ihrer religiöskonfessionellen Entwicklung. Ohne an dieser Stelle auf Einzelheiten eingehen zu wollen, soll zumindest kontrastierend die rigorose Rekatholisierungspolitik in der Kurpfalz im späten 17. und im 18. Jahrhundert und die rechtlich verankerte konfessionelle Doppelstruktur des Fürstbistums erwähnt werden. Kursachsen dagegen, das dritte Untersuchungsgebiet, war in der Frühen Neuzeit ungeachtet der Konversion des Landesherrn ein konfessionell weitgehend homogenes Territorium. Hier waren weder größere Konfessionskonflikte, eine erwähnenswerte Wahrnehmung und Thematisierung religiös-konfessionell gemischter Ehen noch Abhandlungen über die Gefahr von Gewissenszwang zu erwarten. Umso überraschender ist der Befund einer restriktiven Dispenspraxis für Mischehen in Kursachsen mit der Verpflichtung der lutherischen Erziehung aller Kinder aus religiös-konfessionell gemischten Ehen. Eingebettet waren diese Sorgen in die diskursiv hervorgebrachte Angst vor einer Rekatholisierung des Landes nach der Konversion August des Starken zum Katholizismus. In der vergleichenden Analyse dieser drei Territorien werden die Ebenen von Rechtssetzung und Konfessionspolitik in Staat und Kirche, von konfessioneller Formung und religiöser Subjektivierung, religiös-konfessionell gemischtem Zusammenleben, Konflikt und Toleranz im Alltag, und schließlich von Rechtsfindung auf Dorf- und Reichs ebene miteinander in Beziehung gesetzt. Damit soll die Komplexität von Mischehen in spezifischen religiös-konfessioneller Gemengelagen untersucht werden.
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Kapitel IV schließlich richtet den Fokus mit dem Titel „Glaube – Liebe – Zwietracht“ auf das Haus als soziale Formation. Im Mittelpunkt steht zunächst die diskursiv in verschiedenen Texten hervorgebrachte Sorge, dass der Hausfrieden aufgrund unterschiedlicher religiöser Praktiken gestört, die Religionsfreiheit der Ehepartner eingeschränkt, und die rechtlich festgeschriebene Unterordnung der Ehefrau unter ihren Ehemann mit Verweis auf das religiöse Gewissen im Alltagshandeln unterlaufen werden könnte. Diese diskursive Schöpfung eines religiös-konfessionell gemischten Hauses als Bedrohung wird in seiner Betrachtung erweitert durch die Analyse der alltäglichen Praktiken und Umgangsweisen mit religiöser Differenz in der Familie, der Bedeutung präventiven Handelns und den Bedingungen für das Zustandekommen einer Mischehe. Dabei wird die Verflechtung des Hauses mit zahlreichen sozialen Konstellationen und als Ort, der unter Beobachtung stand und Interventionen provozierte, sichtbar. Im abschließenden Kapitel V steht die reichspolitische und öffentliche Dimension religiöskonfessionell gemischter Ehen und ihre reichsrechtlich exemplarische Rolle für die Einhaltung der Bestimmungen des Westfälischen Friedensvertrags bezogen auf Gewissensfreiheit und freie Religionsausübung im Zentrum. Es geht um „Religionskonflikte in Mischehen – Ein Politikum auf Reichsebene.“ In umfassend dokumentierten Religionskonflikten in religiös-konfessionell gemischten Ehen, die auf Reichsebene ausgefochten wurden, wird nicht nur die Kontingenz der Rechtsfindung deutlich und ihre Rückbeziehung auf regionale religiöse Praktiken und Umgangsweisen mit religiöser Differenz, sondern alle Themen der vorangegangenen Kapitel bündeln sich hier noch einmal in dieser mikroskopischen Annäherung an die Reichspolitik.
mgangsweisen mit religiöser Differenz in der 1 U Familie: Rechtsetzung als Handlungsanleitung Die weltliche Gesetzgebung zu religiös-konfessionell gemischten Ehen setzte im ersten Jahrhundert nach der Reformation ein1 und reagierte auf wiederkehrende Konflikte in Mischehen. Die Eskalation von Konflikten in Mischehen, die diese schließlich aktenkundig werden ließen, war selten von den Eheleuten allein verursacht worden, sondern in der Regel die Folge von Interventionen durch Verwandte, durch Ortsgeistliche und lokale Amtsinhaber. Ehe und Familie in der sozialen Formation des Hauses standen insbesondere bei religiös-konfessioneller Verschiedenheit unter Beobachtung, und der Hausfrieden wurde rhetorisch mit dem Religionsfrieden von 1648 gleichgesetzt.2 Eine der Hauptkonfliktursachen war Uneinigkeit über die religiöse Erziehung von Kindern, Zwangskonversionen und Angriffe auf die Religions- und Gewissensfreiheit einzelner Familienmitglieder. Da bei dem Versuch, eine einheitliche Rechtsprechung für Mischehen einzuführen, unterschiedliche gesetzgeberische Interessen, Zuständigkeiten und Kompetenzen aufeinanderprallten, wurde die Gesetzgebung wie auch die Rechtsprechung zu einem diskursiven Prozess, der sich selbst bei lokalen Konflikten durch die Instanzen bewegen konnte, auf bestehende Urteile oder vergleichbare Phänomene verwies und begleitet wurde durch die Versendung von Akten und die Einholung von Gutachten. Entsprechend werden im Folgenden zunächst die verschiedenen Institutionen und Rechtstraditionen, die für die Rechtsetzung zu Mischehen relevant waren, einbezogen. Im zweiten Teil dieses Kapitels werden vor dem Hintergrund dieses diskursiven Prozesses die Gesetze zu Mischehen vergleichend in den Territorien des Heiligen Römischen Reiches und den Reichsstädten erläutert. Die rechtlichen Regelungen wie auch die Begründungen für die Gesetze sind nicht nur Normsetzungen, sondern zeigen zugleich mögliche Umgangsweisen mit Konflikten in Mischen auf. Darüber hinaus haben einige Gesetze präventiven Charakter, wie etwa die Verpflichtung, in Eheverträgen die Kindererziehung für alle überprüfbar unter Zeugen schriftlich festzulegen. Die sich in späteren Kapiteln anschließenden Fallbeispiele zu Zwietracht in relgiöskonfessionell gemischten Ehen wie auch Beispiele komplexer Rechtfindungsprozesse veranschaulichen noch einmal den besonderen Charakter der Gesetzgebung zu Mischehen: statt eindeutiger Normsetzung etwa gegen den Beschluss
1 Zu dem gleichen Befund kommt Benjamin Kaplan in seiner Studie zur Gesetzgebung zu Mischehen in den Niederlanden. Kaplan, Intimate Negotiations, S. 226. 2 Zum Haus als sozialer Formation vgl. Kapitel IV mit weiterführender Literatur und Verweisen auf aktuelle Forschungsansätze.
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Umgangsweisen mit religiöser Differenz in der Familie
einer Mischehe handelte es sich um Bestimmungen zu möglichen Umgangsweisen mit religiöser Differenz in der Familie und Konfliktprävention. In Strategien vor Gericht wurden dann auch eben diese möglichen Umgangsweisen mit religiöser Differenz zum Thema, wobei die verschiedenen Rechtsetzungsinstanzen und Autoritäten, vor allem Staat und Kirche, interessanterweise aber auch landesüb licher Brauch, gegeneinander ausgespielt wurden – was für die eine Partei einen Konflikt in der Ehe und die Verletzung von Rechten darstellte, war für die andere Partei geltendes Recht und Gesetz. Vor diesem hier zunächst nur skizzenhaft angedeuteten Hintergrund alltäglicher Konfliktmuster und Umgangsweisen mit religiöser Differenz müssen die nachfolgenden Ausführungen zu der prozesshaften Genese der Rechtsetzung gelesen werden.
1.1 Spruchkollegien Die Bibel warnt im Alten und Neuen Testament vor der Ehe mit Andersgläubigen, eine Warnung, die sowohl in der jüdischen als auch der christlichen Ehelehre, allerdings mit unterschiedlicher Strenge, ernst genommen wurde. Die Stellungnahmen der Alten Kirche bezogen sich ursprünglich auf religionsverschiedene Ehen mit Juden und Häretikern, dem disparitas cultus und stützten sich überwiegend auf das Alte Testament. Im Mittelpunkt der Argumentation stand analog zum Judentum die Forderung, die Reinheit auch des christlichen Kultus zu gewähren. Mischehen bedeuteten eine Gefahr für den eigenen Glauben und verletzten die Gebote Gottes, der seinem Volk verboten hatte, sich mit fremden Völkern zu mischen. In Esras Bußgebet heißt es beispielweise: „denn sie haben deren Töchter genommen für sich und ihre Söhne, und das heilige Volk hat sich vermischt mit den Völkern des Landes“.3 Unglaube gehörte zu den Ehehindernissen der katholischen Kirche, und „geistlicher Ehebruch“ im Fall von Konversion eines Partners wog schwer. Ehen mit Juden waren verboten. In dieser Sichtweise war die im Neuen Testament ausgedrückte Hoffnung auf Bekehrung der Ungläubigen und damit Toleranz von Mischehen, wie sie von Paulus formuliert wurde, ausgeklammert.4 Mit der Reformation entstand eine neue Situation, da nun auch gemischte Ehen unter Christen verschiedener Konfession und religiöser Gruppen, die diversitas religionis, zum Problem wurden. Zahlreiche Theologen der großen Konfessionen nahmen Stellung zu dieser Frage, juristische Dissertationen befassten sich
3 AT Esr. 9,1 ff. Vgl. auch Gen. 24, 3; Ex. 34,16; Dtn. 7,3,4; Jos. 23,12. 4 Paulus 1Kor. 7,12–13.
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mit der Problematik und Spruchkollegien wurden bei konkreten Konflikten um Stellungnahmen angefragt. Nicht selten provozierte die Eheanbahnung konfessionell gemischter Partner auf dynastischer Ebene die häufig kontrovers geführte publizistische Intervention von Theologen. Der Lutheraner Christian Thomasius beispielsweise befürwortete 1689 die Ehe zwischen einem Protestanten und einer Calvinistin in seiner Schrift „Rechtmäßige Erörterung der Ehe- und Gewissens Frage Ob zwei fürstliche Personen in Römischen Reich deren eine der Lutherischen die andere der Reformierten Religion zugetan ist einander mit gutem Gewissen heiraten können“.5 Hintergrund seiner Abhandlung, die viel Protest bei der lutherischen Orthodoxie in Kursachsen hervorrief, war die geplante Ehe zwischen dem lutherischen Herzog zu Sachsen-Zeitz und der reformierten Schwester des brandenburgischen Kurfürsten Friedrich III.6 Friedrich Benedikt Carpzov dagegen stützte seine scharfe Verurteilung von Mischehen noch 1735 darauf, dass die Eheleute nur die Wahl zwischen religiöser Indifferenz oder ständiger Zwietracht hätten, eine Einschätzung, mit der er nicht allein stand. Einen eindrucksvollen Einblick in die alltäglichen Belastungen einer Mischehe, die viele Zeitgenossen befürchteten, gewährt Philip Müller in seinem Traktat „Der Fang des edlen Lebens“, das er ebenfalls in Reaktion auf die Eheanbahnung zwischen dem lutherischen Herzog zu Sachsen-Zeitz und der reformierten Tochter des späteren König Friedrich I. von Preußen verfasst hatte.7 Seine Bedenken stützten sich vor allem auf die zu erwartende Disharmo-
5 Christian Thomasius, Rechtmäßige Erörterung der Ehe- und Gewissens Frage Ob zwei fürstliche Personen im Römischen Reich deren eine der Lutherischen die andere der Reformierten Religion zugetan ist einander mit gutem Gewissen heirathen können. Halle/Saale 1689. 6 In seiner Leipziger Zeit als Verteidiger in Kriminalsachen 1684–1690 und Dozent machte sich der Philosoph und Jurist Thomasius, geboren 1655 in Leipzig, einen Namen durch seine schonungslosen Angriffe gegen Orthodoxie und theologische Intoleranz, wozu auch die oben erwähnte Schrift zählte. Erfolglose Versuche der Obrigkeit, Thomasius zu maßregeln und auf lutherische Orthodoxie festzulegen, scheiterten, und er wurde schließlich im Jahre 1690 ausgewiesen. Über Berlin gelangte er nach Halle, wo er die Erlaubnis erhielt, juristische Vorlesungen zu halten und damit die Grundlage für die spätere juristische Fakultät der Universität legte. Art. „Christian Th. Thomasius“, in: Allgemeine Deutsche Biographie [ADB], Bd. 38. Ndr. der 1. Ausg. 1889. Berlin 1971, S. 93–102. 7 Müller, Der Fang des edlen Lebens. Müller, geboren 1640 in Sangerhausen (Thüringen), wurde 1663 zum Professor der Beredsamkeit und später zum außerordentlichen Professor der Theologie an die Universität Jena berufen. Als er obige Schrift verfasste, war er Propst in Magdeburg. Die Publikation seines Traktats führte zu seiner Verhaftung in Magdeburg. Erst 1702 kehrte er als ordentlicher Professor nach Jena zurück, wo er 1713 starb. Art. „Philipp M. Müller“, in: ADB, Bd. 22, Berlin 1970 (Nachdr. der 1. Ausg. 1885), S. 668.
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nie unter den Eheleuten, zu befürchtende Gewissenszwänge und den Autoritätsverlust des Familienvaters. Neben diesen exponierten Stellungnahmen beschäftigten sich die Spruchkollegien mit alltäglichen, häufig ganz pragmatischen Fragen zu konfessionell gemischten Ehen und geben so Einblick in einen Praxis orientierten argumentativen Umgang mit Mischehen.8 Gutachten oder Consilia, auch Rechtsbelehrungen, entstanden durch die Spruchpraxis von juristischen Fakultäten und die Gutachtertätigkeit einzelner Rechtsgelehrter. Sie unterscheiden sich von theoretischen Abhandlungen zu Rechtsfragen durch die Bezugnahme auf tatsächliche Sachverhalte. Verfasser gedruckter Spruchsammlungen waren in der Regel einzelne Mitglieder der Spruchfakultäten, Professoren der Rechtswissenschaft und nur zu einem kleinen Anteil Räte, Syndici, Anwälte oder Richter. Mit der Rezeption des römischen Rechts hielt auch das Institut der Aktenversendung an Universitäten Einzug in den deutschen Rechtsraum. Die Spruchkollegien der Fakultäten stellten zunehmend die wissenschaftlichen Autoritäten dar, denen die Fähigkeit zur richtigen Rechtsanwendung zuerkannt wurde.9 Seit Mitte des 16. Jahrhunderts versahen die Spruchkollegien ihre Gutachten als Entscheidungsvorschlag mit einem fertig formulierten Urteil, das von den anfragenden Gerichten zunehmend wörtlich übernommen wurde.10 Gegen Ende des 16. Jahrhunderts wurde die von einer Spruchfakultät formulierte Erkenntnis allgemein für das Gericht und die Parteien verbindlich.11 Die Spruchpraxis kleinerer Gerichte erhielt nur in Ausnahmefällen überregionale Würdigung, wie etwa die Schöffenstühle von Leipzig, Jena, Wittenberg und Halle, die mit den jeweils ortsansässigen Universitäten konkurrierten. Bei der Spruchtätigkeit von Territorialgerichten (Schöffenstuhl, Konsistorium, Hofgericht), deren Gutachten teilweise in die großen Spruchsammlungen eingingen, lag der Schwerpunkt ebenfalls eindeutig in Sachsen.12 Sachsen hat insgesamt den größten Teil der Konsilien hervorgebracht, darunter an den Spruchkörpern in Leipzig und Jena, Dresden und Wittenberg.13 Das gilt auch für das höchste Aufkommen von gedruckten
8 Vgl. für einen Überblick Heinrich Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands. Charakteristik und Bibliographie der Rechtssprechungs- und Konsiliensammlungen vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. Frankfurt a.M. 1974, S. 62. 9 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit. 2. Aufl. Göttingen 1967, S. 112, 175 ff., 181. 10 Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands, S. 68–69. 11 Ebd., S. 69. 12 Ebd., S. 20. 13 Nach Gehrke lässt sich ein Drittel aller Sammlungen dem Gerichtsbereich sächsischer Spruchkörper zuordnen: ebd.: S. 20.
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Rechtsprechungs- und Konsiliensammlungen.14 Obwohl sich jeder namhaften deutschen Juristenfakultät ein bis zwei Konsiliensammlungen zuordnen lassen, liegt Tübingen im Gesamtvergleich mit 14 Sammlungen vor Jena, 13 Sammlungen, gefolgt von Halle, 12, Leipzig, 11, Wittenberg, 10, Altdorf, 9, und Ingolstadt, 8 Sammlungen.15 Die hohen Auflagen einiger Konsiliensammlungen sowie der Umfang gedruck ter Sammlungen überhaupt sorgten für eine große Öffentlichkeitswirksamkeit innerhalb eines gelehrten Publikums.16 Gutachten von Spruchkollegien an Universitäten, die über die Rechtmäßigkeit einer Mischehe aus evangelisch-lutherischer Sicht zu befinden hatten, äußerten sich vor allem im 16. und 17. Jahrhundert eindeutig ablehnend gegen gemischtkonfessionelle Ehen. Dennoch wurden in einem pragmatischen Umgang mit Mischehen unter Berufung auf Paulus Zugeständnisse von allen großen Konfessionskirchen bei der Schließung einer gemischten Ehe gemacht, wenn glaubhaft auf die Konversion des Ehepartners hingewirkt werden würde, und wenn die Erziehung der Kinder in der rechtmäßigen Religion garantiert werden konnte. Damit stimmten die Spruchkollegien mit der vorherrschenden Meinung von Theologen ihrer Zeit überein. Im Folgenden werden einige richtungsweisende Gutachten herangezogen, die in einer einschlägigen Konsiliensammlung in gedruckter Form vorliegen;17
14 Ebd., S. 61. 15 Ebd., S. 60. Rostock weist nach Gehrke 5 Sammlungen auf, Helmstedt 4, Freiburg/Br., Greifswald, Kiel und Straßburg je 3 Sammlungen. Ebd., S. 60–61. 16 Für eine Übersicht gedruckter frühneuzeitliche Konsilien vgl. Roderich Stintzing, Geschichte der Deutschen Rechtswissenschaft. 1. Abteilung. München 1880–1884. Ndr. Aalen 1957, S. 524 ff.; Alfred Stölzel, Die Entwicklung des gelehrten Richterthums in deutschen Territorien. 2 Bde. Stuttgart 1872, hier Bd. 1, S. 195–203; Helmut Coing, Römisches Recht in Deutschland, in: Ius Commune Medii Aevi. Pars V, 6. Mailand 1964, § 79 „Consilien-Literatur“, S. 208 ff.; Ernst Holthöfer, Literaturtypen des mos italicus in der europäischen Rechtsliteratur der frühen Neuzeit (16.–18. Jahrhundert), in: Ius commune 2 (1969), S. 130–166, hier S. 139–142, 158–161. 17 Angesichts der unübersichtlichen Quellenlage und mangelnder wissenschaftlicher Vorarbeiten – tausende Gutachten verschiedener Spruchfakultäten zu unterschiedlichen Themen lagern derzeit noch unbearbeitet und unerfasst in Archiven – stützt sich diese Arbeit auf gedruckte Gutachten, die in einschlägigen Sammlungen der Frühen Neuzeit aufgeführt wurden sowie solche, die von frühneuzeitlichen Theologen, die sich zur Mischehenfrage äußerten, herangezogen wurden. Besonders reichhaltige Bestände der Konsilien besitzen die Bibliotheken in Göttingen, Marburg, Freiburg, Tübingen und München. Zum Umfang des veröffentlichten Spruchmaterials und zum Forschungsstand vgl. Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands, S. 4–18.
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ausschlaggebend für die Auswahl war die Rezeption durch zeitgenössische Autoren sowie die Auflage der Konsiliensammlung. Diese Urteile geben Einblick in die Problemlage und die vorherrschende Argumentations- und Denkweise einflussreicher Spruchkollegien der Frühen Neuzeit sowie der Autoren, von denen sie rezipiert wurden. Die Grundlage der nachfolgenden Zusammenstellung bilden die Gutachten des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, die in der bekannten Sammeledition des lutherischen Theologen Georg Dedeken (1564–1628) enthalten sind.18 Dedeken hatte vor allem Gutachten und Traktate juristischer und theologischer Gelehrter zusammengestellt, die in erster Linie theologische Fragen nach protestantischem Kirchenrecht behandelten. Unter der Überschrift „De non contrahendo cum alterius religionis hominibus“ stellt Dedeken im dritten Band seiner Sammlung verschiedene Stellungnahmen zu insgesamt zehn Fragen über Mischehen zusammen. Dabei geht es neben der allgemeinen Frage nach der Zulässigkeit von Mischehen überhaupt um die Bedingungen, unter denen einer gemischten Ehe zugestimmt werden kann und schließlich um eherechtliche Details, wie die Proklamation von der Kanzel, die Einsegnung von gemischten Ehen oder die Scheidung. Das erste angeführte Gutachten von M. Michael Mueling behandelt die Frage, „ob man sich an Personen, die nicht reiner Lehre sind, befreyen, oder seine Kinder ehelich an dieselbigen bestetigen möge“.19 Die Antwort ist äußerst prägnant: Keineswegs, zumahl wann die Beysorge und Gefahr wegen der Verführung zur Apostasiam und Abfall vom seligmachenden Glauben vermuthlich oder augenscheinlich und hand trefflich vorhanden, inmassen solches streitet wider Gottes Wort, wider schrifftmäßige Decreten etlicher Concilien, wider die Exempel der heiligen und ander, ist auch beschädlich.20
In seiner darauffolgenden Argumentation beruft sich Mueling auf einschlägige Aussagen des Alten und Neuen Testaments, auf Stellungnahmen der Kirchenväter und ausgewählte Konzilbeschlüsse. Er weist weiter auf die Unmöglichkeit hin, eine gottgefällige Ehe zu führen, wenn die Eheleute verschiedener Konfession sind, vertieft die Gefahr der Verführung und zeigt die Belastungen des religiösen Gewissens auf.
18 Georg Dedeken, Thesauri consiliorum et decisionum. 3 Bde., 2. von Johann Ernst Gebhard erw. Aufl. Hamburg 1671. 19 Ebd., Tl. 3, S. 172. 20 Ebd., S. 172–173, 172.
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Ein weiterer Themenkreis der gutachterlichen Stellungnahmen bezieht sich darauf, wie die Entstehung einer konfessionell gemischten Ehe im Vorfeld verhindert werden kann. Die Fakultät zu Rostock setzt sich im Jahre 1616 aus aktuellem Anlass mit drei Fragen auseinander, die sich auf die Aufgabe von Predigern, vor Mischehen zu warnen, beziehen: 1. Ob es nicht sey communis Theologorum Orthodoxorum sententia, die auch in Gottes Wort gegründet, daß ein rechtgläubiger Christ sich mit Leuten fremder Religion nicht verehelichen soll? 2. Ob ein Prediger diese Lehre auff der Cantzel wohl möge fürbringen? 3. Ob ein Prediger, der die Gegenlehre öffentlich prediget, nicht ein novem dogma, quod pugnat cum communi orthodoxorum Theologorum sententia, fürbringe und lehre?21
Die ersten beiden Fragen werden von den Gutachtern positiv beantwortet: Und halten es demnach dafür, was die erste Frage belanget, dass nicht allein communis Theologorum orthodoxorum sententia sey, die auch in Gottes Wort ist gegründet, dass ein rechtgläubiger Christ sich mit Leuten fremder Religion nicht verehelichen soll: sondern dass in dieser Meinung auch viel andere seyn, unter Calvinisten und Papisten, deren Namen allhier zu recensiren unnötig achten.22
Die andere Frage ist unsers Verhoffens aus der ersten leichtlich zu entscheiden: Sintemahl was an ihm selbst Gottes Wort gemeß, dasselbige kann auch öffentlich ohne gegebene Ergernuß wol gelehret werden, wann wir nun die formalia des Stücks eurer Predigt, in welchen von dieser Frage wird gehandelt, nach der forma und Weise, die in popularib. concionibus wird gehalten, erwegen, befinden wir darinen nichts, dass bey dem gemeinen Manne billich möchte für ärgerlich gehalten werden.23
In der dritten Frage geben die Gutachter zu verstehen, dass ein Pfarrer, der in seiner Predigt Mischehen toleriert, gegen die allgemeine Lehre verstoßen würde; eine solche Predigt sei nicht zulässig: Denn woferne ein Prediger die Gegenlehr, welche sine ulla [...] minorum ambiguitate, der ersten contradicirte, öffentlich predigte, brächte derselbe für und lehrete ein novum dogma, quod pugnaret cum communi orthodoxorum Theologorum sententia. Diß haben wir euch auff euer bittliches Ersuchen zur Antwort nicht verhalten können. Bitten darnebenst den
21 Ebd., S. 173–175, 173. 22 Ebd., S. 173–175, 174. 23 Ebd.
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ewigen allmächtigen Gott, den Stiffter aller Christlichen Einigkeit und des Friedes, dass er in eurem Ministerio, und allenthalben in seiner Kirchen und Schulen unter den Lehrern, alle ärgerliche und schädliche Zweyhelligkeit gnädiglich wolle verhüten [...]24
Ein weiterer Komplex behandelt die praktische Frage der tatsächlichen Eheschließung und wie diese von den geistlichen Amsträgern zu vollziehen sei, wenn die Ehepartner nicht der gleichen Konfession angehörten. Michael Mueling befasst sich in einem weiteren Gutachten mit eben dieser Frage, „ob man verlobte Personen ungleicher Religion von der Cantzel proclamiren und auffbieten möge?“ Mueling bejaht die Frage zwar, weist zunächst jedoch auf die Pflicht hin, eine solche Verbindung im Vorfeld zu verhindern. Aufschlussreich ist seine Aufforderung an den Pfarrer, andere Gemeindeglieder zu ermahnen, sich nicht über die Proklamation einer gemischten Ehe „zu ärgern“, sie aber gleichzeitig zu warnen, selbst solche Verbindungen einzugehen: Hierauff ist zu wissen, wann res adhuc integra ist, und kein bündliches öffentliches Verlöbniß erfolget, dass alsdann von Seelsorgern, Regenten, Eltern, Blutfreunden und Christenmenschen mit Händen und Füssen zu wehren sey, damit solche Personen widerwertiges Glaubens nicht zusammen ehelich versprochen noch copuliret werden. Sollte es aber in solchen Ehesachen so ferne kommen seyn, dass Braut und Bräutigam allbereit öffentlich und rechtmäßig sich verlobet hätten: in solchem Fall mag man die gesuchte proclamation in und für einer Lutherischen Gemeine ohne Bedencken und Verzug ergehen lassen, doch mit angeheffteter Warnung durch die Prediger an ihre Pfarrkinder, dass sich niemand an solche Person und ihrer proclamation ärgern, vielmehr iederman sich samt den Ihrigen für dergleichen Verlöbniß, menschliches und mügliches Fleisses fürsehen, und künfftig enthalten wolle: In Erwegung, dass solches ehelich Leben sorglich, verdreißlich, und wegen der Verführung, durch Hinterlist, Dräuen und Faustschläge sehr gefährlich zu seyn pfleget, wie droben gemeldet.25
Der Autor schließt mit der Ermahnung an alle, den Angehörigen der eigenen Konfession im Glauben zu stärken und so vor einem Glaubenswechsel zu schützen. Eine etwas andere Position nahm die theologische Fakultät zu Leipzig ein, die sich ebenfalls mit der Frage, „ob eine Lutherische Person sich mit einer halsstarrigen Calvinistischen Personen, die sich nicht weisen lassen will, in Ehestand begeben, von den Predigern getrauet und eingesegnet werden könne“ auseinandersetzte. Die Fakultät riet im Januar 1620 von einer solchen Ehe dringend ab und bezog sich in ihrer Argumentation sowohl ganz allgemein auf abschreckende Beispiele aus dem alltäglichen Leben als auch auf Gottes Gebot, das solche Ehen
24 Ebd. 25 Ebd., S. 178.
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nicht zulasse. Allerdings wurde gleichzeitig entschieden, dass die Einsegnung einer solchen Ehe nach Paulus, 1 Kor. 7, 16 und der hier formulierten Hoffnung auf spätere Konversion des Partners nicht verweigert werden dürfe.26 Eine Reihe von Gutachten behandeln aus unterschiedlicher Perspektive die Frage der Scheidung aufgrund von Religionsverschiedenheit und berührten damit ein kontrovers diskutiertes Thema vor allem protestantischer Theologen. Die einzige Rechtsgrundlage für eine Scheidung vom Bande aus religiösen Gründen stellte nach kanonischem Recht das sogenannte Privilegium Paulinum (1 Kor 7, 15) dar. Die Scheidung konnte ausgesprochen werden, wenn „der Ungläubige sich trennen will“.27 Im Fall der Häresie erlaubte das katholische Eherecht allenfalls die Trennung von Tisch und Bett. Der Grundsatz von der Unauflöslichkeit der Ehe, der sich aus dem Wesen der Ehe als göttliche Stiftung ergab, bildete auch für die Reformationstheologen das oberste Gebot.28 Dennoch war die Scheidung vom Bande und die Möglichkeit der Wiederverheiratung des unschuldigen Eheteils gegeben, wenn bestimmte Scheidungsgründe vorlagen, allen voran Ehebruch und bösliches Verlassen sowie das Privilegium Paulinum.29 Die Scheidung selbst sollte durch ein ordnungsmäßiges gerichtliches Verfahren vollzogen werden, allerdings erst, wenn der Versuch, die Parteien wieder miteinander zu versöhnen, gescheitert war.30 Unter protestantischen Theologen gingen die Meinungen über die Frage der Scheidung aus religiösen Gründen in Anlehnung an das Privilegium Paulinum auseinander. Luther verknüpfte das Privilegium Paulinum mit dem Scheidungsgrund der „böslichen Verlassung“, der wiederum dem kanonischen Recht fremd war. Nach Luthers Auffassung war jemand, der oder die den Ehepartner verließ, nur ein Namenschrist.31 In seiner Auslegung von Paulus 1 Kor 7 schreibt
26 Ebd. 27 Paulus 1 Kor 7, 15; Hartwig Dieterich, Das Protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (Jus Ecclesiasticum. Beiträge zum evangelischen Kirchenrecht und zum Staatskirchenrecht, 10). München 1970, S. 70, 144. 28 Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 103. 29 Ebd.: S. 69–74, 105–108. 30 Ebd.: S. 104–105; Vgl. auch eine neuere Studie zu Basel, die noch einmal das Scheidungsmonopol des Gerichts und den Versöhnungsanspruch betont: Susanna Burghartz, Zeiten der Reinheit. Orte der Unzucht. Ehe und Sexualität in Basel während der Frühen Neuzeit. Paderborn u.a. 1999, S. 86. 31 Martin Luther, De captivitate Babylonica 1520. WA 6 (1888), 484–573. Vgl. auch Johannes Bugenhagen, Ehesachen. Vom Ehebruch und heimlichen Weglaufen, 1. Kap. Vom heimlichen Weglaufen. Wittemberg 1541; Martin Bucer, De regno Christi ad Eduardum Sextum Angliae Regem libri duo, lib. II. c 36 p. 201, c. 41, p. 216 (1550). Abgedruckt in: Martini Buceri Opera latini Vol. XV,
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der Reformator: „Was aber von eym Heydnischen gemalh hie S. Paulus redet, ist auch zu verstehen von eym falschen Christen.“32 In seiner Schrift „Vom ehelichen Leben“ lehnte Luther ebenfalls unter Berufung auf Paulus (1 Kor 7, 13) und Petrus (1 Petri 3, 1) Unglaube als Ehehindernis ab, kritisierte jedoch in seiner Auslegung von Deuteron. 7,3,4: es gehet also gefährlich auch zu unsern Zeiten. Denn siehe! wie gar viel sind ihr, die da verläugnen das Evangelium um der Fürsten, und der gottlosen Bischöffe und Tyrannen willen, allein, daß sie Gnade und Gunst behalten bey den Menschen. Und ihrer viel nehmen jetzt Weiber, nicht um gottseeligen Lebens willen, sondern allein um Reichthums, Gewalt und Freundschafft, und man fragt nichts darnach, ob das Weib oder der Mann Christen seyn [...].33
Auch Melanchthon widmete dem Privilegium Paulinum eine längere Abhandlung in seinem Paulus Kommentar.34 Im 16. Jahrhundert sprachen sich einige Theologen, darunter der unter dem Einfluss von Petrus Martyr zum Protestantismus konvertierte Hieronymus Zanchius (1516–1590), Professor und Kanoniker in Straßburg, Chiavenna und Heidelberg und Martyr selbst, beide vehemente Gegner gemischter Ehen, für die vollständige Auflösung einer Ehe aus, wenn ein Eheteil den anderen zur Häresie oder zum Abfall vom Christentum verführen wollte.35 Ein Schüler Melanchthons, Nicolaus Hemming, brachte neue Aspekte in die Diskussion über die Scheidung aus religiösen Gründen, indem er in seiner Auslegung von Paulus 1 Kor 7 den Begriff des „Unglaubens“, von dem Paulus sprach, durch den Begriff der „Gottlosigkeit“, die sehr wohl einen Trennungsgrund darstellen könne, ergänzte. Seine Ausführungen sind unter dem Titel „De Causis Divortii in Genere, et in Specie de Impietate in Deum“ in der KonzilienSammlung von Dedeken abgedruckt und sollen den nun folgenden Ausschnitt
Gütersloh 1955; Philipp Melanchthon, De coniugio. Opera Omnia, Corpus Reformatorum. Bd. 21. Halle 1835–60, S. 1066; ders., Commentar, in: Epist. Pauli ad Corinthios, Opera Omnia, Corpus Reformatorum. Bd. 15, Cap. VII, S. 1080–1089, hier S. 1084, Halle 1848 (beides nach der neugedruckten Ausgabe von 1863). 32 Martin Luther, Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern 1523. WA 12 (1891), S. 88–142, hier S. 123, 9. 33 Zitat aus Friedrich Benedikt Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico. De eo, quod consultum est, in nuptis personarum diversae religionis. Wittenberg 1735, S. 68; Martin Luther, De captivitate Babylonica, S. 484–573, hier S. 556, 9, ders., Vom ehelichen Leben 1522 WA 10 (1907 II, S. 283, 1; ders., Das siebente Kapitel S. Pauli, S. 120, 20. 34 Melanchthon, Commentar, S. 1085. 35 Hieronymus Zanchius, De divortio deque novis post divortium nuptiis libri duo. Genf 1617. Vgl. auch Friedrich Kunstmann, Die gemischten Ehen unter den christlichen Konfessionen Teutschlands, geschichtlich dargestellt. Regensburg 1839, S. 46–47.
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aus der Spruchpraxis theologischer Fakultäten zu der Frage der Scheidung aus religiösen Gründen eröffnen.36 Hemming erörtert sechs verschiedene Scheidungsgründe und nennt als letzte Scheidungsursache die Gottlosigkeit, impietas in Deum. Zunächst spricht Hemming sich gegen eine Scheidung aus Glaubensgründen aus und schließt sich der üblichen Argumentation unter Verweis auf Paulus 1 Kor. 7 an, namentlich der Hoffnung auf Konversion des Ungläubigen. Hemming unterscheidet allerdings impietatem de infidelitate. Um Unglaube – infidelitas – handelt es sich nach Hemming in der Textstelle bei Paulus. Da Heiden weder mit dem Evangelium vertraut waren, noch je davon gehört hatten, bestünde mit Recht die Hoffnung auf Konversion, sobald sie mit der christlichen Lehre in Berührung kamen. Anders war es im Falle von Gottlosigkeit – impietas –, um die es Hemming eigentlich ging. Als impietas bezeichnete Hemming eine religiöse Haltung, die sich zwar zum Glauben auf Grundlage der Heiligen Schrift bekannte, aber von der wahren Lehre abwich. Die Folge waren απоςτασία und haeresis. Über απоςτασία schreibt Hemming: απоςτασία est blasphemia in Spiritum sanctum, videlicet cum quis a vera religione, qua imbutus erat, perfide deficit, et Christo non solum renuntiat, verum etiam eum in suis membris persequitur, adeo ut nihil illi sit charitus, nihil optabilius, quam posse secum omnes a Christo avertere, in eorum certissimam damnationem, et in Christo contemptum.37
Die Apostasie ist ein ein Frevel gegen den Heiligen Geist: Wenn offensichtlich jemand von der wahren Religion, in der er großgeworden ist, treulos abfällt und Christus nicht nur abschwört, sondern ihn auch in seinen Einzelteilen so sehr verfolgt, dass ihm nichts angenehmer, nichts wünschenswerter ist, als dass er mit seiner Person andere von Christus abwenden und zur Verachtung Christi verführen kann, zur höchst gewissen Verdammnis dieser Leute.38 Diese vollständige Leugnung Christi und die damit zusammenhängende Verfolgung seiner Anhänger führen dazu, dass eine Ehe mit Ungläubigen im Falle unheilbarer Blasphemie verflucht und verdammt sei, schlimmer sogar als Ehebruch.
36 Dedeken, Thesauri consiliorum, Tl. 3, S. 315–323. 37 Ebd.: S. 315–323, hier S. 323. Vgl. auch Nicolaus Hemming, Libellus de Coniugio, Repudio & Divortio. Leipzig 1578. 38 Übersetzung Michael Sommer.
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An non putas, honestam et piam conjugem potius ferre velle mille in marito adulteria, quam in hanc incurabilem blasphemiam, cum aterna maledictione et damnatione conjunctam?39 Glaubst du denn nicht, dass eine ehrbare und treue Ehefrau ihrem Ehemann eher tausend Ehebrüche nachsieht als diesen unheilbaren Frevel, der mit ewiger Schmähung und Verdammnis einhergeht?40
Paulus selbst, so die weitere Argumentation, fordere in seinem Brief an die Korinther ausdrücklich die Absonderung von den Ungläubigen.41 Eine Ehe mit Gottlosen berge ständig die Gefahr des Glaubensabfalls und des Verlustes des Seelenheils für den unschuldigen gläubigen Ehepartner. Eine Scheidung müsse daher zulässig sein: „[...] iudex cognita veritate potest piam et innocentem personam sententia divortii libertare [...].“42 Häresie, der zweite Bestandteil von Gottlosigkeit nach Hemming, bedrohe die Gläubigen unmittelbar durch eine falsche Auslegung der wahren Lehre. Hemming verweist auf mehrere Textstellen in den Paulusbriefen, in denen er vor den Gefahren für die Gläubigen durch Irrlehren warnt und zu deren Bekämpfung aufruft, und wiederholt die Forderung, die Scheidung durch einen Richter in solchen Fällen aussprechen zu lassen.43 Spruchkollegien an Universitäten gaben ebenfalls Stellungnahmen zu der Möglichkeit einer Scheidung aus Glaubensgründen ab, hielten sich aber enger an die traditionelle Auslegung von Paulus 1 Korinther 7. Die theologische Fakultät zu Jena beschäftigte sich damit, ob Ehen von Lutheranern mit Katholiken oder Calvinisten verhindert und bereits geschlossene Ehen wieder aufgelöst werden sollten. Die Antwort wiederholt sehr präzise die Kernpunkte der vorherrschenden lutherischen Diskussion über gemischte Ehen: Es ist dieses unsere richtige Meinung, daß zwar christliebende Aeltern und Kinder sollten vor allen Dingen darauf bedacht sein, nach dem Exempel der Heiligen sich weder mit den Hethitern noch Canaanitern zu befreunden; sondern mit denen sie wollen ein Fleisch werden, zuvor auch und hernach eines Geistes und Glaubens wären, sintemal die communio bonorum spiritualium viel würdiger und höher, denn corporalium, und ist am Tage, was für Unheil und Ungemach zwischen Eheleuten erfolge, und wie die Kinder gerathen, wenn das rechte Band ehelicher Liebe, so da ist unitas et paritas fidei, getrennet. Dahero auch sowohl die Aeltern als die Kinder von solcherlei connubiis in Zeiten durch emsiges
39 Dedeken, Thesauri consiliorum, Tl. 3, S. 315–323, 323. 40 Übersetzung Michael Sommer. 41 Paulus 2 Korinther 6, 11–18. 42 Dedeken, Thesauri consiliorum, Tl. 3, S. 315–323, 323. 43 Paulus 1 Titus 10–16; 3 Titus 9–11; Deuter. 13. Für weitere Äußerungen des Paulus zum Umgang mit Gottlosen bzw. Irrgläubigen vgl. auch 1 Tim 1, 4; 1 Tim 4, 7; 2 Tim 2, 16; 2 Tim 3, 5; Mt 15, 11; Mk 7, 15.
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Warnen und thunliche Mittel abzuhalten und zu verhindern; sollten aber hierin beständige und verbindliche Ehegelöbnisse mit und durch vollständigen und wohlbedachten Konsens der Aeltern getroffen und geschlossen sein, so wollen dieselbigen sich nicht wiederum kassiren und rescindiren lassen; denn wie aus dem cap. 1 Cor. Und aus der praxi ecclesiae zu befinden: Discrepantia fidei non solvit vinculum matrimonii. Doch werden lutherische Prediger der Kopulation halber billig Bedenken haben, solche denen widerfahren zu lassen, die ihres Glaubens niemals gewesen noch werden wollen.44
Das Konsistorium zu Wittenberg verfasste ein Gutachten darüber: „Ob wegen irriger Religion das Verlöbnis könne eingezogen [werden]?“ Da das Verlöbnis in dem hier vorliegenden konkreten Fall durch den Bruder und Vormund, auf den „sie (die Jungfrau) ihr Vollwort und Willen in der Sachen [...] gäntzlich gestellet“ vorgenommen worden war, ist „die Jungfrau Barbara [...] solches Verlöbnis mit Christlichem Kirchgang und ehelichem Beylager zu vollziehen schuldig. Von Rechtswegen“.45 Diese Entscheidung bestätigt die sächsische Konsistorialpraxis, nach welcher der Teil, der die Ehe nicht durch Kirchgang und Beilager vollziehen will, zum Vollzug „gebührlichen billich angehalten und compelliret“ wird, wenn bereits ein öffentliches Verlöbnis vorliegt.46 Die Theologische Fakultät zu Jena thematisiert 1597 noch deutlicher die Frage der Scheidung aus konfessionellen Gründen. Anlass war folgender Fall: „Da eine Braut mit Verleugnung des Glaubens die Ehe zu vollziehen Bedencken trägt, und mit einem anderen sich verloben will?“ Die Gutachter schreiben: [...] auff eure an uns gelangte Frage, betreffend Margareten Niclas N. Tochter in Stadt N. zum H. Ehestand vertrauten Braut ob den Rein, dieweil sie mit ermeldten Bräutigam das Eheverlöbnis, mit Verleugnung ihrer Christlichen Religion zu vollziehen Bedencken hat, und aus Befahrung allerhand Gewalt und Zwangs, bey euch über diesen handel flüchtig sich enthaltet zu verstatten, und den Eltern und Freunden Rechtens halber zu rathen sey, dass sie einen ehrlichen und christlichen Pfarherrn, so umb sie ansuchet, anderweit zum heiligen Ehestand gefolget werde, sollen wir euch wolmeinlich zu Eröffnung unsers begehrten Bedenckens nicht bergen.47
Das Gutachten führt weiter aus, dass es für eine solche Trennung keinen Rechtsgrund gebe: „So hat wegen Abgöttischer Religion die Braut ihren Bräutigam zu verlassen, auch des heiligen Apostels Pauli Entscheidung nach, gar kein Fug noch Recht, 1 Corinth 7.“ Die Scheidung kann nur der Ungläubige vollziehen:
44 Zitiert in Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 57. 45 Dedeken, Thesauri consiliorum, Tl. 3, S. 178–179. 46 Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 162. Vgl. auch ders. Allgemein zu Verlöbnissen und deren Wirkung: ebd., S. 139–141. 47 Dedeken, Thesauri consiliorum, Tl. 3, S. 179.
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In dem Fall aber er sich als ein Papist in Consistorio zu N. von ihr kehren und scheiden lassen, oder aber freyes Willens von ihr absetzen und anderweit zur Ehe greiffen, und also der Ungläubige sich selbst scheiden würde [...] so ist auff solchem Fall gedachte Tochter niche gefangen, und also dann nicht alleine berechtiget zum freyen im Herrn wenn sie will, sondern auch im Gewissen wider aller Anklage der desertion salviret verwahret.48
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass in der hier angeführten protestantischen Entscheidungsliteratur die Verhinderung einer Mischehe an erster Stelle stand, dass eine Einsegnung an bestimmte Bedingungen geknüpft werden konnte, zumeist die religiöse Erziehung der Kinder betreffend, und dass die Scheidung aus Glaubensgründen untersagt wurde, auch wenn die Meinungen hier in der Theorie auseinander gingen.
1.2 Kompetenzstreitigkeiten Wie gestaltete sich angesichts dieser Vorbehalte gegenüber gemischten Ehen und der Kontroversen, welche die frühneuzeitliche Haltung zu konfessionell verschiedenen Ehen prägten, der politische und kirchenrechtliche Umgang mit Mischehen in den jeweiligen Territorien? Die Mehrheit der frühneuzeitlichen lutherischen, calvinistischen und katholischen Theologen lehnten bekanntlich Mischehen mit Verweis auf Gottes Gebot der Einheit im Glauben, auf beständigen Unfrieden und auf die Gefahr der Verführung ab. Diese Haltung hinterließ Spuren in Kirchenordnungen und Synoden, den Gutachten theologischer Fakultäten, in Predigten sowie in dem Verhalten von Geistlichen vor Ort. Ungeachtet der Versuche der großen Konfessionen, Mischehen zu verhindern und Eheleute verschiedener Konfession von einer Heirat abzubringen, wurden gemischte Ehen dennoch geschlossenen. Damit drängen sich zunächst aus theologischer und kirchenpolitischer Sicht eine Reihe von Fragen nach der Zuständigkeit der jeweiligen Kirche bei Amtshandlungen wie Hochzeit, Taufe und Scheidung auf. Die unterschiedliche Bewertung der Ehe – im Sinne der katholischen Lehre als Sakrament, nach evangelischer Auffassung als ein von Gott eingesetzter Stand – das nach kanonischem Recht bestehende impedimentum mixtae religionis und vor allem die seit dem Konzil von Trient 1563 festgelegte Eheschließungsform wirkten sich auf die Anerkennung der gemischten Ehe aus. Wurde die Ehe zwischen Angehörigen verschiedener Konfessionen nicht anerkannt, so ergab sich insbesondere für die katholische Kirche die Frage, ob eine Scheidung und Wiederverheiratung für den katholischen Teil der Mischehe möglich sei. Letztlich 48 Ebd.
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ungelöst blieben aus theologischer Sicht auch die religiöse Kindererziehung und die Konversion des andersgläubigen Ehepartners. Deutlich wird diese Problematik in dem strittigen Punkt der annos discretionis, also des Alters, in dem Kinder für religionsmündig erkannt wurden und konvertieren durften.49 Spannungen im Umgang mit Mischehen entstanden allerdings nicht nur zwischen den Konfessionen aufgrund divergierender Auffassungen über das Wesen der Ehe und unterschiedlichen Eherechts, sondern auch zwischen den Kirchen und der weltlichen Obrigkeit. Der grundlegende Konflikt insbesondere zwischen der katholischen Kirche und der weltlichen Obrigkeit um das Gesetzgebungsrecht in Ehesachen spitzte sich in der Frage der Mischehe in dem Moment zu, in dem sich weltliche Gesetze und Ordnungen mit Mischehen befassten. Während die katholische Kirche auch nach dem Konzil von Trient das alleinige Gesetzgebungsrecht der katholischen Kirche in Ehesachen betonte, eine Forderung, die in ihrer Ausschließlichkeit allerdings auch unter katholischen Theologen kontro vers diskutiert wurde50, unterlag in evangelischen Territorien und Städten die Gesetzgebung im kirchlichen Bereich der jeweiligen weltlichen Obrigkeit, auch wenn deren Gewalt zunächst durch die geistlichen Konsistorien ausgeübt wurde. Eherechtliche Bestimmungen und Regeln zur Ehegerichtsbarkeit finden sich in Kirchenordnungen, in den Visitations-, Ehe- und Konsistorialordnungen ebenso wie in umfassenderen Landes- und Polizeiordnungen und städtischen Statuten. Der Anteil von Staat und Kirche bei der Rechtsetzung im protestantischen Eherecht, vor allem aber die eherechtliche Praxis, variierten räumlich und zeitlich im Verlauf der Frühen Neuzeit.51 In reformierten Gebieten muss im Hinblick auf die Rechtsetzung zwischen obrigkeitlich verfassten und „freikirchlich“ geprägten Gebieten unterschieden werden.52 Entsprechend erfolgte die Rechtsbildung durch den Erlass von Kirchenordnungen oder auf der Grundlage von Synodalbeschlüssen. Bedeutsam für die Rechtsetzung in den evangelischen Gebieten ist zunächst die Frage nach der Rezeption des kanonischen Eherechts und nach
49 Detailliert dazu unten und vor allem Kapitel II und V. 50 Encyklopädie der katholischen Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. 2. Aufl., begonnen von Kardinal Hergenröther, fortgesetzt von Franz Kaulen, Bd. 4. Freiburg/Br. 1886, S. 183, 192 ff. 51 Für eine sehr gute rechtshistorische Studie für die Herausbildung des protestantischen Eherechts am Beispiel Sachsens Ralf Frassek, Eherecht und Ehegerichtsbarkeit in der Reformationszeit (Jus Ecclesiasticum, 78), Tübingen 2005. 52 Knut Wolfgang Nörr, Die kirchliche Gesetzgebung, in: Helmut Coing (Hrsg.), Handbuch der Quellen und Literatur der Neueren Europäischen Privatrechtsgeschichte. 3 Bde., Bd 2: Neuere Zeit (1500–1800), 2. Teilbd.: Gesetzgebung und Rechtsprechung. München 1976, S. 1085–1109, 1104.
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dem tatsächlichen Einfluss von Theologen auf die Gestaltung des Eherechts.53 Die Haltung der reformierten Theologen gegenüber dem kanonischen Recht erscheint ambivalent, schwankte sie doch zwischen radikaler Ablehnung und Konsultation des Corpus iuris canonici bei Entscheidungen in Ehesachen. Die katholische Kirche hielt an der Berechtigung ausschließlich kirchlicher Ehegesetzgebung fest und unterschied zwischen matrimonium ratum und matri monium legitimum, also zwischen einer Ehe nach kirchlicher und einer nach weltlicher Rechtssatzung. Aufgrund der Sakramentseigenschaft der Ehe nach kanonischem Recht war für die katholische Kirche eine Ehe nur gültig, wenn sie auch nach kirchlichem katholischem Recht geschlossen wurde. Ein matrimonium ratum non legitimum, nicht aber ein matrimonium legitimum non ratum war denkbar.54 Eine neue Phase in der Diskussion um das Gesetzgebungsrecht in Ehesachen trat auch in katholischen Gebieten mit der Aufklärungsphilosophie im 18. Jahrhundert ein, die in der Ehe in erster Linie einen naturrechtlichen oder bürgerlichen Vertrag sah, der durch das Sakrament allenfalls ergänzt werden konnte. Aus diesen Vorstellungen, die ihre Wurzeln vor allem im Gallikanismus in Frankreich im 17. Jahrhundert haben55, sich aber bereits in Luthers auch von Protestanten wenig rezipierten Ausführungen zur Doppelnatur der Ehe als weltliches Ding und als geistlichen Stand wiederfinden56, wurde schließlich das Recht des Staates abgeleitet, in das Eherecht einzugreifen. Zunächst im Wirkungsbereich des Josephinischen Ehepatents 1783 und des „Allgemeinen Landrechts für
53 D. Albert Hauck (Hrsg.), Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche. 24 Bde. 3. verb. Aufl. Leipzig 1896–1913, hier Bd. 5, Leipzig 1898, S. 198; Nörr, Die kirchliche Gesetzgebung, S. 1085–1109, 1092; Sieghard Mühlmann, Luther und das Corpus Iuris Canonici bis zum Jahre 1530, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 89 (1972), S. 235–305; Stephan Buchholz, Recht, Religion und Ehe. Orientierungswandel und gelehrte Kontroversen im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert (Ius Commune. Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte. Sonderhefte Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, 36). Frankfurt a.M. 1988, S. 275. 54 Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 5, S. 198–199. 55 Hermann Conrad, Das Tridentinische Konzil und die Entwicklung des kirchlichen und weltlichen Eherechts, in: Georg Schreiber (Hrsg.), Das Weltkonzil von Trient. Sein Werden und Wirken, Bd. 1. Freiburg 1951, S. 297–324, 313–314. 56 Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 24–74, bes. 40–52. Dieterich wendet sich mit seinen Thesen über die Doppelnatur der Ehe in Luthers Eheverständnis gegen die vorherrschende Meinung, wie sie unter anderem von Johannes Heckel in seiner immer noch grundlegenden Studie vertreten wurde: Johannes Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers (Abhandlungen der bayrischen Akademie der Wissenschaften. Philosophisch-historische Klasse, NF, 36). München 1953. Nach Heckel ist für Luther die Ehe eine ausschließlich weltliche Angelegenheit, in der aufgrund des Sündenfalls der geistliche Bereich vollständig ausgeklammert ist.
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die preußischen Staaten“, das 1794 in Kraft trat, ging die Ehegesetzgebung und die Ehegerichtsbarkeit vollständig in staatliche Hand über ohne Berücksichtigung ihrer religiösen Bedeutung, eine Entwicklung, die auch andere Territorien beeinflussen sollte. Mit dem Code civil schließlich, der in zahlreichen, französischer Herrschaft unterstehenden Ländern Gesetzeskraft erlangte, im Heiligen Römischen Reich vor allem in den Rheinbundstaaten, wurde die Zivilehe eingeführt, auch wenn nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft sich vorübergehend das einheimische Recht noch einmal durchsetzte.57 Trotz Widerstandes wurde die Zivilehe in Deutschland endgültig im 19. Jahrhundert eingeführt. Vor allem in der Mischehenfrage und den damit zusammenhängenden Konflikten zwischen den Kirchen und mit den jeweiligen Landesherren wurde die Forderung nach staatlicher, überkonfessioneller Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit laut. Diese Säkularisation der Ehe setzte in der Frage des matrimonium mixtum bereits im Ancien Regime ein, wo die Verschiedenheit der Religion und daraus resultierende Konflikte, offenkundig aber auch landesherrliche konfessionelle Interessen, nach staatlichem Eingreifen verlangten. Zwangsläufig im Widerspruch zu theologischen und kirchenpolitischen Positionen im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert regelten zunehmend Landesgesetze den Umgang mit Mischehen. Ein Widerspruch ergab sich aus dem Grund, dass diese Gesetze Kompromisse forderten, die gegen theologische Grundüberzeugungen verstießen. Im Mittelpunkt stand die Frage der Erziehung und konfessionellen Zugehörigkeit der Kinder. Damit wurde eine der zentralen Forderungen der Kirchen, die Kindererziehung bei religiös-konfessionell gemischten Ehen zu bestimmen, ausgehebelt und Konflikte waren, wie noch zu zeigen sein wird, vorprogrammiert. Aus heutiger Sicht erscheint das Ringen um die konfessionelle Zugehörigkeit von Kindern, das bis zu Kindsentführungen eskalieren konnte, insbesondere mit Blick auf die Toleranzforderungen und Säkularisierungstendenzen des 18. Jahrhunderts schwer nachvollziehbar. Die Rolle, die neben innerfamiliären Interessen und sozialem Druck geistliche und weltliche Herrschaftsträger in den jeweils spezifischen konfessionellen und politischen Konstellationen der ausgewählten Territorien in diesen Konflikten spielten, lässt sich in der Analyse der Gesetzgebungstätigkeit bereits andeutungsweise herausarbeiten.58
57 1580 wurde bereits in den Niederlanden die Zivilehe zugelassen, deren Anwendungsbereich 1656 noch erweitert wurde. 1653 wurde die Zivilehe unter Oliver Cromwell in England eingeführt, allerdings nach der Thronbesteigung Karls II. (1660) wieder durch die religiöse Eheschließung abgelöst. 58 Diese Problematik wird in der Analyse der Rechtspraxis im Umgang mit Religionskonflikten in religiös-konfessionell gemischten Familien vertieft werden.
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Alle im Reich vertretenen Territorien haben im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts sehr unterschiedliche Gesetze geschaffen, die sich in ihrer Summe jedoch auf vier Merkmale reduzieren lassen: die Erziehung aller Kinder in der Landesreligion, mitunter verbunden mit der Konversion des Partners, die Erziehung aller Kinder in der Religion des Vaters, gestützt auf die patria potestas, die Erziehung nach Geschlecht, das heißt der Töchter in der Religion der Mutter, der Söhne in der Religion des Vaters, oder die individuelle Regelung anhand von Eheverträgen.59 Auf Reichsebene wurde die Mischehenfrage, insbesondere die Kindererziehung, erst auf dem Friedensexecutionsdeputations-Reichstag in Nürnberg im Jahre 1650 im Zusammenhang mit einer Anfrage zur religiösen Unterweisung von Waisenkindern in Augsburg thematisiert. Die hier formulierten Richtlinien erhielten Weisungscharakter, auch wenn es nicht zu einer gesetzlichen Verankerung kam. Darüber hinaus erhielten Mischehekonflikte, die nach 1648 vor die Reichsgerichte, den Reichstag oder das Corpus Evangelicorum kamen, eine politische Dimension, da diese Konflikte hier aus der Perspektive der Bestimmungen des Westfälischen Friedensvertrages bewertet wurden, genauer, der Forderung, die Parität der einzelnen Konfessionen zu wahren. Welche Rolle die Gewissensfreiheit in der Praxis angesichts der politisch-konfessionellen Interessen spielte, wird in diesem Zusammenhang noch zu zeigen sein. Schließlich hatten Eheleute in den meisten Territorien die Möglichkeit, mithilfe von Eheverträgen selbst über die religiöse Praxis und die Kindererziehung in ihrer gemischtkonfessionellen Familie zu verfügen. Die Vereinbarungen dieser
59 Für einen – aufgrund der unkritischen und teilweise fälschlichen Übernahme von Quellen und Zitaten – allerdings nur mit Vorsicht zu nutzenden Überblick vgl. Augustinus de Roskovany, De Matrimoniis Mixtis Inter Catholicos et Protestantes. 7 Bde., Pest 1842–1882; Karl-Theodor Geringer, Die Konfessionsbestimmung bei Kindern aus gemischten Ehen in der Zeit zwischen dem Konzil von Trient und dem Ende der Glaubenskriege, in: Winfried Aymans u.a. (Hrsg.), Fides et ius: Festschrift für Georg Nay zum 65. Geburtstag. Regensburg 1991, S. 303–316; ders., Die Konfessionsbestimmung von Kindern aus gemischten Ehen in der Zeit seit dem Ende der Glaubenskriege (1648) bis Benedikt XIV. (1758), in: Hans Paarhammer/Alfred Rinnerthaler (Hrsg.), Scientia Canonum. Festgabe für Franz Pototschnig zum 65. Geburtstag. München 1991, S. 27–54; ders., Die Konfessionsbestimmung der Kinder aus gemischten Ehen. Gesetzgebung und Praxis in der Zeit zwischen Clemens XIII. bis Leo XII. (1758–1829), in: Heinrich J. F. Reinhardt (Hrsg.), Theologia et Jus Canonicum. Festgabe für Heribert Heinemann zur Vollendung seines 70. Lebensjahres. Essen 1995, S. 533–547; Karl Schmidt, Die Confession der Kinder nach den Landesrechten im deutschen Reiche. Freiburg/Br. 1890. Die Rechtsgültigkeit von Eheverträgen und vor allem die Festlegung der religiösen Erziehung von Kindern in der Konfession der Mutter in Verträgen ist in der juristischen Literatur umstritten, da eine solche Festlegung gegen die väterliche Gewalt verstoße. Im 18. Jahrhundert wurde mehrfach vor dem Reichshofrat um das mütterliche Bestimmungsrecht gestritten.
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Eheverträge verstießen zwangsläufig gegen theologische Positionen, da sie in der Regel einen Kompromiss darstellten, und sie verletzten die Grundlage der meisten Landesgesetze wie auch der Beschlüsse in Nürnberg, namentlich das Recht des Vaters, aufgrund der väterlichen Gewalt die konfessionelle Zugehörigkeit der Kinder zu bestimmen. Die Gültigkeit von Eheverträgen war sowohl unter Theologen als auch Juristen aus unterschiedlichen Gründen umstritten, so dass in Konflikten die Rechtslage häufig unklar blieb und sich die betroffenen Eheleute den juristischen und theologischen Spitzfindigkeiten der beteiligten Parteien ausgeliefert sahen. Im Folgenden werden zunächst die Merkmale des kirchlichen und weltlichen Eherechts und die besondere Spielart religiös-konfessionell gemischter Ehen auf städtischer und auf territorialer Ebene dargestellt. Diesen Abschnitten folgt eine Darstellung reichsrechtlicher Regelungen zur Mischehefrage. Den Abschluss dieses Kapitels bildet eine Auseinandersetzung mit der sich verändernden Hal tung der Konfessionskirchen und weltlicher Landesherrn zu Mischehen, so weit sie sich aus der Jurisdiktion ableiten lässt. Dabei wird zu fragen sein, inwieweit es unterschiedliche Interessenlagen von Kirche und Staat in dieser Frage gab und welche Rolle die Konfession im politischen Handeln des späten 17. und 18. Jahrhunderts spielte.
1.3 Kirchenrecht 1.3.1 Katholisches Eherecht und Bestimmungen zur Mischehe Die erste Phase des katholischen Eherechts reicht von den Anfängen des kanonischen Rechts in der Zeit der Kirchenväter bis zu den erstmals klar formulierten Grundsätzen katholischen Eherechts auf dem Konzil von Trient (1563).60 Im Hochmittelalter bildete unter Einfluss des römischen Rechts die Willensübereinstimmung beider Partner die rechtswirksame Begründung der Ehe, kirchliches und weltliches Eherecht stimmten in diesem Punkt überein. Strittig blieb innerhalb katholischer Lehrmeinungen ungeachtet des kanonischen Rechts, wie es im
60 Wenn nicht anders gekennzeichnet, beruhen die Ausführungen zum kanonischen Eherecht auf folgenden Titeln: Joseph Freisen, Geschichte des Kanonischen Eherechts bis zum Verfall der Glossenliteratur. ND der 2. Ausg. Paderborn 1893, Aalen/Paderborn 1963; Conrad, Das Tridentinische Konzil; Willibald Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. Bd. IV/2. Wien/München 1966, S. 191–294; August Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts. Freiburg/Br. 1928. Ferner: Johann Friedrich von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur des Canonischen Rechts. 3 Bde. Graz 1956.
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späten 12. Jahrhundert festgelegt wurde, ob die Gültigkeit der Ehe erst durch den Vollzug (copula carnalis) besiegelt ist. Mit dem ausschließlichen Beharren auf der Konsensehe (sponsalia de praesenti) trat das kanonische Eherecht in offenen Widerspruch zu der in Deutschland und Frankreich herrschenden Rechtsauffassung, die erst im Vollzug die Rechtsgültigkeit der Ehe anerkannte. Diese gründete sich auf germanisches Recht und war im Bereich des Standes- und Güterrechts von entscheidender Bedeutung. Was den äußeren Rahmen der Eheschließung anging, so kannte die „Statuta ecclesia antiqua“ aus der zweiten Hälfte des 5. Jahrhunderts bereits eine entwickeltere Form der Eheschließung: die Verlobten empfingen den Klerus nicht in ihrem Haus, sondern sie wurden zum Priester geleitet, um den Segen zu empfangen. Der bekannte Brief von Papst Nikolaus I. aus dem Jahre 866 an die Bulgaren schildert eine Trauzeremonie, die schon von religiösen Riten in der Kirche geprägt war. Doch auch hier lässt sich noch keine gemeinrechtliche, zur Gültigkeit des Eheabschlusses vorgeschriebene Trauungsform ablesen.61 Auch die Sollvorschriften des 4. Laterankonzils 1215 wurden weitgehend vernachlässigt. Ehen, die sich nicht an die vorgeschriebene Form hielten, die sogenannten klandestinen oder heimlichen Ehen, waren unerlaubt, aber den noch nicht unwirksam. Grundlegende Veränderungen wurden auf dem Konzil von Trient in den Dekreten zur Reform von Ehesachen eingeleitet.62 Das Dekret „Tametsi“ 1563 (Trid. Sess. XXIV c.1. de reform. Matrim.) schrieb die Formpflicht fest und verbot klandestine Ehen. Die Formpflicht erstreckte sich formal allerdings nur auf die Länder, in denen das tridentinische Eheschließungsrecht auch in der Landessprache verkündet und rezipiert worden war. Das geschah in protestantischen Gebieten nicht, so dass die hier geschlossenen Ehen von der Geltung des Dekretes ausgenommen und damit nach katholischer Rechtsauffassung trotz protestantischer Eheschließungsform gültig waren. Problematisch war die Verkündung des Dekrets in gemischtkonfessionellen Gebieten, wo nach katholischer Rechtsauffassung auch Nichtkatholiken an die tridentinische Eheschließungsform gebun den waren.
61 Johannes Günter Gerhartz, Die rechtliche Ordnung der Mischehen. Die Bestimmungen vom Codex Iuris Canonici (1917) bis „Matrimonia mixta“ (1970). Geschichtlicher Aufriss und Kommentar von Johannes Günter Gerhartz (Nachkonziliare Dokumentation, 28). Trier 1971; Andreas Holzem, Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung. 2 Bde. Bd. 1. Paderborn 2015, S. 152–188. 62 Vgl. dazu die entsprechenden Regelungen zum Eherecht in Wilhelm Smets, Des hochheiligen, ökumenischen und allgemeinen Concils von Trient Canones und Beschlüsse nebst darauf bezüglichen päpstlichen Bullen und Verordnungen. Bielefeld 1869, Ndr. Sinzig 1989.
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Das Recht und die Pflicht der Eltern, beim Ehegelöbnis mitzuwirken, wie es von protestantischer Seite gefordert wurde, lehnte das Konzil ab. Ebenso wurde die Scheidung verboten, am Zölibat festgehalten und der Ehelosigkeit ein höherer Rang eingeräumt als der Ehe. Am sakramentalen Charakter der Ehe wurde in einem eigenen Dekret festgehalten und sie wurde weiter unter kirchliche Kompetenz gestellt.63 Die katholische Kirche forderte erneut die Ehegerichtsbarkeit und ließ keinen Zweifel an ihrem Recht, Ehehindernisse zu normieren. Allerdings blieb die Frage offen, ob auch dem Staat eine wenn auch beschränkte Ehehoheit zugestanden werden könne. Im Wesentlichen bestätigte das Konzil von Trient die mittelalterliche Ehelehre.64 Ungeachtet der Bedeutung, die dem tridentinischen Eherecht vor allem aufgrund der zwingenden Eheschließungsform für die spätere Entwicklung des kirchlichen und weltlichen Eherechts zugesprochen werden kann, muss eingeschränkt werden, dass das Recht des Tridentinums selbst in katholischen Gebieten aufgrund staatlicher und konfessioneller Interessen nicht vollständig durchgesetzt werden konnte. Die komplexe Rezeptionsgeschichte des tridentinischen Eherechts soll hier nicht nachgezeichnet werden. Vielmehr geht es im Folgenden um eine Übersicht zentraler Bestimmungen des kanonischen Eherechts, hier vor allem der Eheschließungsform, und der Ehehindernisse, die mit Blick auf das Phänomen der Mischehe Sonderregelungen erforderlich machten. Die tridentinische Eheschließungsform forderte ein dreimaliges Aufgebot mit Namensnennung der Nupturienten und Angaben über Stand, Alter, Wohn- und Geburtsort. Dieses Aufgebot musste von dem zuständigen Pfarrer öffentlich während der Messe an drei aufeinanderfolgenden Festtagen verkündet werden. Unter dem Einfluss des Partikularrechts erfuhr diese Regelung regionale Modifikationen, doch die Grundmotivation, die Ehefähigkeit der Brautleute festzustellen und mögliche Ehehindernisse zur Anzeige zu bringen, wurde bewahrt. Entscheidend für die eigentliche Eheschließung waren die Verpflichtung der Eheleute, ihre Konsenserklärung vor dem Pfarrer des Ortes oder dem Ortsordinarius vor zwei oder drei Zeugen abzugeben, sowie der abschließende Eintrag ins Trauungsbuch. Beide Vorschriften unterstrichen die Öffentlichkeit des Eheschließungsaktes und die Beweisbarkeit der kirchlich geschlossenen Ehe. Die einfache Entgegennahme des
63 Vgl. De Sacramento Matrimonii, Kanon 1, 5 und 9, sowie Decretum de Reformatione Matrimonii, Caput I, in: Smets, Des Concils von Trient Beschlüsse. 64 Heribert Smolinsky, Ehespiegel im Konfessionalisierungsprozess, in: Wolfgang Reinhard/ Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung (Wissenschaftliches Symposium der Gesellschaft zur Herausgabe des Corpus Catholicorum und des Vereins für Reformationsgeschichte, 1993). Münster 1995, S. 311–331, hier S. 316; Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. Bd. IV/2, S. 201.
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Konsens durch den Geistlichen in Gegenwart der Zeugen wird als „passive Assistenz“ bezeichnet. Die eher übliche „aktive Assistenz“ des Geistlichen sah eine Trauungszeremonie in der Kirche (in facie ecclesia) vor, bei welcher der Geistliche, bekleidet mit Albe und Stola, die Konsenserklärung entgegennahm und nach dem Anstecken der Ringe den kirchlichen Segen aussprach. Im Anschluss an diese Zeremonie erfolgte in der Regel eine Brautmesse.65 Das Tridentinum hatte Auswirkungen auf die Gültigkeit und die Entstehung religiös-konfessionell gemischter Ehen, auch wenn die Frage der Mischehe nicht behandelt wurde.66 Ein kurzer Rückblick auf Positionen der alten Kirche zur Mischehenfrage macht die Veränderungen deutlich. Stellungnahmen der alten Kirche zu der Frage der Eheschließung zwischen Christen und Heiden beinhalteten übereinstimmend Warnungen vor der Ehe mit Häretikern. Die positive Sicht der ehelichen Verbindung zwischen Christen und Nichtchristen, die in Paulus, 1 Kor 7, 14 und 1 Petr 3, 1f. zum Ausdruck kam und die Hoffnung auf Bekehrung des Ungläubigen beinhaltete, wurde ergänzt durch Stimmen, die ein Verbot von Mischehen aussprachen.67 Mit dem Beginn des 4. Jahrhunderts setzte eine verstärkte kirchliche Gesetzgebung ein.68 Im Jahre 306 verurteilte die Synode von Elvira die Eltern, die ihre Töchter mit Heiden verheirateten. Eine Strafe wurde allerdings nur für diejenigen verfügt, die ihre Töchter Juden oder Häretikern zur Frau gaben, da hier die Hoffnung auf Bekehrung für sehr gering eingeschätzt wurde und die Gefahr der Verführung größer schien.69 Nach Beschluss der Synode von Arles aus dem Jahre 314 wurden christliche Mädchen, die sich mit einem Heiden verehelichten, mit einem zeitlich begrenzten Ausschluss von der Eucharistie bestraft.70 Die Synode von Laodicea (343–381) verlangte, dass Ehen zwischen Christen und Häretikern nur dann geschlossen werden dürften, wenn diese versprachen, katholisch zu
65 Bernhard Hübler, Eheschließung und gemischte Ehen in Preußen nach Recht und Brauch der Katholiken. Berlin 1883, S. 6. 66 Zur Geschichte des Konzils allgemein vgl. Hubert Jedin, Geschichte des Konzils von Trient. 4 Bde. Freiburg/Br. 1949–1975. 67 Beispielsweise Tertullian, Ad Uxorem. 1.2, c. 8–9. Zitiert in Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 299. 68 Die nachfolgenden Verweise auf die Beschlüsse einzelner Konzile in: Carl Joseph Hefele, Conciliengeschichte. Nach den Quellen bearb. 2 Bde. Freiburg/Br. 1873–1875; Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts; vgl. auch: Gerhartz, Die rechtliche Ordnung der Mischehen. 69 Hefele, Conciliengeschichte, Bd. 1, S. 162. 70 Ebd., Bd. 1, S. 211.
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werden. Bei Überschreitung dieser Verbote wurde eine Kirchenstrafe verhängt, die Ehen waren aber dennoch gültig. Mit der Exkommunikation wurden Eltern bestraft, die ihre Kinder an heidnische Priester verheirateten.71 Die Synode von Hippo (393) verbot die Ehen der Kinder von Bischöfen und anderer Kleriker mit Nichtkatholiken.72 Die Synode von Chalcedon (451) schließlich untersagte den Klerikern selbst unter Strafe, sich mit häretischen, jüdischen oder heidnischen Frauen zu verehelichen. Falls eine solche Ehe aber dennoch geschlossen würde, so mussten die Kinder katholisch erzogen und an Katholiken verheiratet werden, es sei denn, der andersgläubige Partner versprach, den katholischen Glauben anzunehmen.73 Im 6. und 7. Jahrhundert befassten sich zahlreiche Synoden in Frankreich und Spanien mit der Mischehenfrage, hier vor allem mit der Ehe zwischen Katholiken und Juden. Die Synoden forderten zumeist die Auflösung der Ehe, wenn der katholische Partner in der Gemeinschaft der Kirche verbleiben wollte. So verfügte die Synode von Karthago (535), dass ein Christ keine Jüdin heiraten dürfe und eine bereits bestehende Ehe bei Strafe der Exkommunikation aufgelöst werden müsse.74 Die Synode von Orleans verbot 538 die Ehe zwischen Juden und Christen.75 Im Jahre 633 schließlich verlangte die Synode von Toledo, dass Juden, die eine Ehe mit Christinnen eingegangen waren, vom Bischof ermahnt werden sollten, katholisch zu werden. Lehnten sie dies ab, sollten sich die Eheleute trennen.76 Im Bereich der orthodoxen Kirche entschied das Trullanische Konzil 691, dass die Ehen zwischen einem Orthodoxen und einem Häretiker nicht nur die Exkommunikation zur Folge hatten, sie waren zudem nichtig und mussten aufgelöst werden.77 Ungeachtet dieser strikten Richtlinien gab es auch hier Stimmen, welche die neutestamentarische Hoffnung auf Bekehrung der Andersgläubigen in Mischehen ausdrückten.78 Das Entstehen der hochmittelalterlichen Theologie und der Kirchenrechtswissenschaft brachten eine Weiterentwicklung mit sich, indem sie rechtlich zwischen dem trennenden Ehehindernis der Religionsverschiedenheit (impedimentum disparitatis cultus) und dem aufschiebenden Ehehindernis der Bekennt-
71 Ebd., Bd. 1, S. 756, 768. 72 Ebd., Bd. 2, S. 56. 73 Ebd., Bd. 2, S. 518–519; vgl. Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 283. 74 Ebd., Bd. 2, S. 758. 75 Ebd., Bd. 2, S. 776. 76 Gerhartz: Die rechtliche Ordnung der Mischehen, S. 6. 77 Henricus-Joannes Feye, Dissertatio Canonica De Matrimoniis Mixtis. Lovanii 1847, S. 84–88. 78 Gerhartz, Die rechtliche Ordnung der Mischehen, S. 6.
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nisverschiedenheit (impedimentum mixtae religionis) unterschieden.79 Die Reformation erhöhte den Handlungsdruck im Umgang mit Mischehen, hier vor allem hinsichtlich der Frage der Ehehindernisse und der Kindererziehung. Das aufschiebende Eheverbot zwischen Katholiken und Nichtkatholiken beinhaltete, dass die bekenntnisverschiedene Ehe zwar unerlaubt, aber nicht ungültig war.80 Gemeinrechtlich wie partikularrechtlich war eine Dispens nötig, um eine bekenntnisverschiedene Ehe erlaubt eingehen zu können. Die Dispens, die nach älterem Recht ausschließlich der Papst erteilen durfte (päpstliches Reservatrecht), später aber an Bischöfe übertragen wurde – der Jesuit Paul Laymann (1574–1635)81 hatte als erster die Praxis bischöflicher Dispense für Mischehen in Deutschland eingeführt82 – oder gänzlich entfiel, wurde nur erteilt, wenn der Partner konvertierte und zusicherte, dass die in der Ehe gezeugten Kinder katholisch getauft und erzogen werden würden.83 Ob das bloße Versprechen des Glaubenswechsels für die Eheschließung ausreichte oder die Konversion bereits vor der Ehe erfolgt sein musste, war unter den Kanonikern des 17. Jahrhunderts umstritten.84 Ebenso waren sich die Kanoniker
79 Francis J. Schenk, The Matrimonial Impediments of Mixed Religion and Disparity of Cult. Washington 1929, S. 35 ff.; Adhémar Esmein, Le marriage en droit canonique. Paris 1935, Tl. 1, S. 242–259; G. LeBras, Mariage, in: A. Vecant/E.Mangenot (Hrsg.), Dictionair de théologie Catholique. Paris 1903–1950, Bd. IX, 2, Sp. 2141–2201; Buchholz, Recht, Religion und Ehe, S. 348; Alfred J. Connick, The Canonical Impediment of Mixed Religion from the Council of Trent to the Pontificate of Benedict XIV, doctoral dissertation presented to the Faculty of Canon Law of the Catholic University of Louvain. Abdruck eines Kapitels der Dissertation als: Canonical Doctrine Concerning Mixed Marriages – before Trent and during the Seventeenth and Early Eighteenth Centuries, in: The Jurist 20/3 (1960), S. 295–326, fortgesetzt in: ebd. 20/4 (1960), S. 398–418. 80 Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. Bd. IV/2, S. 253, 294–295. 81 Gebürtig aus Innsbruck. Mit 19 Jahren trat Laymann dem Jesuitenorden bei. Er war Professor der Moral und des kanonischen Rechts in Ingolstadt, Dillingen und zuletzt im Ordenshaus in München. Vgl. von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur, Bd. 3/1: Von der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Gegenwart, S. 133–134. 82 Paul Laymann, Theologia moralis, jn quinque libros partita. Quibus materiae omnes practicae, cum externum Ecclesiasticum, tum internum Conscientiae forum spectantes, nova methodo explicantur. Monachii 1625, lib. V, tr. X, cap. XIV, n. 2; Die Dispenspraxis bestätigten zumindest für das 17. Jahrhundert Vitus Pichler (1670–1735) und Ehrenreich Pirhing (1606–1690): Vitus Pichler, Summa iurisprudentiae sacrae universae, seu ius canonicum sec. V. decret. Greg. IX. titulos explicatum. Augsburg 1723, lib. IV, tit. I, n. 130, resp. 3; Ehrenreich Pirhing, Universum Ius canonicum. Dillingen 1645, lib. IV, tit. I, sect. VI, n. 166. Vgl. auch Connick, Canonical Doctrine, S. 403–404. 83 So Klemens VIII, Urban VIII, Innozenz XI und Benedikt XIV. Vgl. Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 191–192. 84 Connick, Canonical Doctrine, S. 307–309.
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über die Gründe uneins, die einen Dispens von dem Ehehindernis der Bekenntnisverschiedenheit überhaupt rechtfertigten. Der Mainzer Jesuit und Historiker Nicolaus Serarius (1555–1609)85 war der erste, der Mischehen auch unter niederen Standesangehörigen rechtfertigte unter der Voraussetzung, dass der nichtkatholische Teil konvertierte oder andere äußere Gründe die Eheschließung zwingend notwendig machten.86 Dazu zählte ganz allgemein die Verhinderung größeren Übels als das der Eheschließung, das bei einer Verweigerung der Ehe drohte.87 Obwohl nach kanonischem Recht nur die Ehe zwischen Katholiken gestattet war, lassen sich immer wieder Abweichungen in der alltäglichen Handhabung von Mischehen beobachten. In der Praxis, so das Ergebnis einer Dissertation über kanonische Ehehindernisse bei Mischehen, entwickelte sich „a clear understanding of canonical tolerance as the peculiar legal expedient taken by the Church, when an enforcement of her law would result only in greater evil and harms“.88 Mit anderen Worten, die Zustimmung zu einer Mischehe konnte je nach gesellschaftlichem und konfessionellem Kontext, in dem die zukünftigen Eheleute lebten, Schlimmeres verhindern. Unklar ist, ob die katholische Kirche in Rom aus ähnlichen Überlegungen Abweichungen vom kanonischen Eherecht in der Mischehefrage befürwortete oder ob sie angesichts partikularrechtlicher Besonderheiten, vor allem auch der Landesgesetzgebung zu Mischehen, letztlich machtlos war.89 Cecilia Cristellon konnte in ihren Studien zu Dispensen ‚mixtae
85 Vgl. von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur, Bd. 3/1, S. 132. 86 Nicolaus Serarius, De Catholicorvm Cvm Haereticis Matrimonio Qvaestiones, Köln 1609, Kap. II, Qvaest. VI, n. 18. Der spanische Jesuit Basil Ponce de Leon, Verfasser einer der ersten größeren Abhandlungen zu Mischehen, befürwortete Mischehen auf der Grundlage eines einfachen Versprechens oder allein der Hoffnung, dass der nichtkatholische Partner konvertieren würde mit der Begründung, dass durch eine solche Zusage die Gefahr der Verführung gebannt sei: Basil Ponce de Leon, De sacramento matrimonii tractatus. Brüssel 1627, Append., cap. V, n. 1. Paul Laymann (1574–1635) hielt Mischehen für gültig, selbst wenn erst nach der Eheschließung der nichtkatholische Partner versprach, zu konvertieren, vorausgesetzt, es gab einen gewichtigen Grund, die Abkehr von der Haeresie herauszuzögern: Laymann, Theologia moralis, lib. V, Kap. XIV, n. 1. Anacletus Reiffenstuel (1641–1703), einer der führenden Kanoniker des 17. Jahrhunderts (s.u.) schloss sich später dieser Meinung an: Anacletus Reiffenstuel, Jus Canonicum Universum. 6 Bde. Freising 1700, lib. IV, tit. I, n. 363–365. Joannes de Lugo (1583–1660) schließlich akzeptierte ebenfalls das Versprechen der Konversion und hielt eine päpstliche Dispens für unnötig, die blosse Hoffnung auf Konversion machte die Ehe allerdings ungültig: Ioannis de Lugo, Disputationes scholasticae, et morales de virtute fidei divinae. Editio secundae, Lugdunum 1656, XXII, sect. II, n. 16. 87 Connick, Canonical Doctrine, S. 399–409. 88 Zit. ebd., S. 295. 89 Connick stützt seine Argumentation für eine tolerantere Handhabe des kanonischen Rechts zu Mischehen lediglich auf die Aussagen von drei Kanonikern, die in ihren Darstellungen die
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religionis‘ im Heiligen Römischen Reich durch die Römische Inquisition zeigen, dass Gemeindepfarrer und Bischöfe eine Dispens für Mischehen befürworteten und mit Rom verhandelten „as a means of assuring new members for Catholicism“, allerdings häufig mit wenig Erfolg.90 Nur wenn im Falle von Staatsheiraten das allgemeine Wohl eines Landes Schaden zu nehmen drohte,91 wurde die Dispens ohne die Forderung der Konversion erteilt, allerdings unter der Voraussetzung, dass dem katholischen Teil die ungehinderte Religionsausübung und die katholische Erziehung sämtlicher Kinder unter Eid garantiert wurde.92 So kam – um nur einige wenige Beispiele zu nennen – die Ehe zwischen dem Herzog von Lothringen und Bar mit Katharina, der Tochter Jeanne d'Albrets von Navarra nach einer Dispens Clemens VIII. zustande, Urban VIII erteilte die erforderliche Dispens zur Eheschließung zwischen Maria Henrietta von Frankreich mit Karl I. von England93, und Clemens XI stimmte der Ehe des Grafen Philipp Ernst von Hohenlohe mit einer Protestantin zu.94 Dass gemischtkonfessionelle Fürstenehen, die in der Regel aus machtpolitischen Gründen geschlossen wurden, auch nach
Praxis Roms beschreiben (Franz. Albizzi, Alexander Natalis und Vincenzo Petra). Die Tatsache, dass Rom nicht gegen die Verletzung des kanonischen Rechts bei der Schließung von Mischehen vorging, so die Argumentation, bedeutete nicht, dass die Gesetze nicht mehr gültig waren, sondern eher, dass Rom sie nachsichtig handhabte. 90 Cristellon, ,Unable and Weak-minded‘, S. 91. 91 Zur politischen Bedeutung von Fürstenhochzeiten vgl. Claudia Ham, Die verkauften Bräute. Studien zu den Hochzeiten zwischen österreichischen und spanischen Habsburgern im 17. Jahrhundert. Diss. phil. Wien 1995; Alfred Kohler, „Tu felix Austria nube ...“. Vom Klischee zur Neubewertung dynastischer Politik in der neueren Geschichte Europas, in: Zeitschrift für Historische Forschung 21 (1994), S. 461–482; Reinhard Lebe, Ein Königreich als Mitgift. Heiratspolitik in der Geschichte. Stuttgart 1998. Zuletzt Michael Stolleis, Die Prinzessin als Braut, in: Joachim Bohnert (Hrsg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag. Berlin 2001, S. 45–57. 92 Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 286; Connick, Canonical Doctrine, S. 319. Für eine Darstellung der päpstlichen Dispenspraxis vgl. Corradus Pyrrhus, Praxis dispensationum apostolicarum cet. Neapel 1641; Zur Dispenspraxis sowie zur Verpflichtung Roms, keine Dispens ohne vorherige Konversion zu erteilen Franciscus Albizzi, De inconstantia in iure admittende vel non. Rom 1698, Kap. XVIII, n. 44–45; Alexander Natalis, Theologia dogmatica et moralis. Tl. IV. Köln 1698, Kap. IV, Art. III, Reg. 10; Vincenzo Petra, Commentaria ad Rom. Pontificum constitutiones. Rom 1726. 93 Für die konfessionell gemischte Ehe von Henrietta Maria und Karl I von England vergleiche Dagmar Freist, Popery in Perfection: The Experience of Catholicism – Henrietta Maria between private practice and public discourse, in: Michael Braddick/David Smith (Hrsg.), The Experience of Revolution in Stuart Britain: essays presented to John Morrill to mark his 65th birthday. Cambridge 2011, S. 33–51. Erwähnung findet diese Mischehe auch in Cristellon, „Unable and Weakminded“, S. 83–84. 94 Encyklopädie der katholischen Theologie, S. 162.
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erteilter Dispens nicht konfliktfrei waren und damit nicht zwingend zum erhofften Wohl des Landes beitrugen, zeigen eine Reihe von Beispielen aus dem 16. und 17. Jahrhundert.95 Die Haltung der Römischen Inquisition zu Mischehen war eindeutig ablehnend.96 An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wiederholten zudem eine Reihe von Diözesansynoden die alten Verbote, mit Andersgläubigen Ehen einzugehen, es sei denn, diese würden vor der Eheschließung konvertieren. Die Synode zu Antwerpen erließ 1576 ein ausdrückliches Mischehenverbot und bezog sich auf can. 16 der Synode von Elvira um 300.97 Weitere Synoden befassten sich mit der Problematik, so 1574 in Hildesheim und Worms, 1583 in Bordeaux und Tours, 1586 in Cambrai, 1590 in Toulouse, 1609 in Narbonne98 und Konstanz99, 1610 in Augsburg100 und Antwerpen101, 1612 in Köln102 und Hertogenbosch103 und 1618 in Lüttich104. Diese Regelungen fanden Eingang in Kirchenordnungen, in denen die Praxis der Eheschließung geregelt wurde. So erließ der Bischof von Würzburg beispielsweise 1589 eine Kirchenordnung, die den Pfarrern die Trauungsassistenz verbot, wenn nicht beide Ehewerber katholisch waren.105 Im 17. und 18. Jahrhundert befassten sich nochmals eine Reihe von Provinzialsynoden mit Mischehen und erneuerten vorangegangene kanonische Verordnungen, erklärten Mischehen für unerlaubt und untersagten die kirchliche Einsegnung sowie die Proklamation von der Kanzel.106
95 Vgl. die Aufzählung mit Literaturverweisen in: Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico, S. 106–108. 96 Zur Rolle der Inquisition für die Vergabe von Dispensen für Mischehen und die Quellenbstände vgl. Cristellon, Die Römische Inquisition, S. 281. 97 Joannes Friedericus Schannat/Josephus Hartzheim, Concilia Germania. Bde. 6–10. Köln 1765– 1775, Bd. 7, 818: tit. VI, cap. II. Zur Synode von Elvira s.o. 98 Andreas Müller, Lexikon des Kirchenrechts und der katholischen Liturgie. 5 Bde. Würzburg 1830–1842, Bd. II, S. 588f., zit. in: Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 285, Anm. 6 (Hildesheim, Worms, Antwerpen, Bordeaux, Tours, Cambrai, Toulouse, Narbonne). 99 Schannat/Hartzheim, Concilia Germania, Bd. 8, S. 784 (Konstanz). 100 Ebd., Bd. 9, S. 22 ff. 101 Ebd., Bd. 8, S. 977 ff. 102 Ebd., Bd. 9, S. 161. 103 Ebd., S. 197 ff. 104 Ebd., S. 298. 105 Franz Xaver Himmelstein, Synodicon Herbipolense. Geschichte und Statuten der im Bisthum Würzburg gehaltenen Concilien und Diocesansynoden. Würzburg 1855, S. 392. 106 Für eine Zusammenstellung der Beschlüsse der Provinzialsynoden zur Mischehenfrage im 17. und 18. Jahrhundert vgl.: Ein Beytrag zur Geschichte der gemischten Ehen, in: Literaturzeitung für die katholische Geistlichkeit. 1828/1, S. 52–64 (Synodus Sedunensis, 1626; Synodus Audomarensis 1640; Synodus Coloniensis, 1651; Synodus Paderbornensis, 1688; Synodus Cul-
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Entgegen der klaren Vorgaben Roms verhielten sich katholische Geistliche in den einzelnen Territorien im Heiligen Römischen Reich gegenüber Mischehen allerdings unterschiedlich, so dass verallgemeinernde Aussagen nur die offizielle Haltung der katholischen Kirche in Rom widerspiegeln, nicht aber die Regelungen in der alltäglichen Praxis. Auch die Forderungen nach der Konversion des nichtkatholischen Ehepartners als Vorbedingung für die Eheschließung und die katholische Kindererziehung wurde in den deutschen Territorien, insbesondere in gemischtkonfessionellen Herrschaftsbereichen wie das Fürstbistum Osnabrück oder im lutherischen Kursachsen vielfach nicht befolgt.107 Diese Haltung einer stillschweigenden Duldung wurde in der Praxis nicht nur den „höheren Ständen“, den matrimonia illustra,108 entgegengebracht, sondern zeigte sich auch im Umgang mit Ehesuchenden aus niederen Ständen. So unterstützte etwa der Nuntius von Köln 1761 das Ehegesuch von Brautleuten verschiedener Konfession aus Westfalen in einem Brief nach Rom, indem er argumentierte, die Zulassung einer solchen Ehe in gemischtkonfessionellen Regionen würde nahezu die ganze Familie dem katholischen Glauben zuführen und zu der Hoffnung Anlass geben, dass auch der nichtkatholische Teil konvertierte. Würde eine solche Ehe aber von katholischer Seite verhindert werden, würden die Brautleute dennoch heiraten, allerdings vor einem protestantischen Pfarrer.109 In der Praxis wurde zwar immer wieder von der Forderung der Konversion vor der Eheschließung abgewichen, allerdings offiziell an der Dispens vom Ehehindernis festgehalten und drei Versprechen abverlangt: Das Versprechen des nichtkatholischen Ehepartners, die freie Religionsausübung des Katholiken nicht zu behindern; das Versprechen des katholischen Partners, den Nichtkatholiken zu bekehren; und schließlich das Versprechen beider Eheleute, alle Kinder in der katholischen Kirche taufen und erziehen zu lassen.110 Darüber hinaus wurden Mischehen vor allem in gemischtkonfessionellen Regionen geschlossen, ohne päpstliche oder bischöfliche Dispens und ohne Zusicherung der katholischen
mensis et Pomesaniensis, 1745). Ebenfalls abgedruckt sind ein Brief Papst Clemens XI ad Episcopum Agennensem vom 23. Februar 1706 sowie die bekannte Deklaration Papst Benedikt XIV zur Mischehenfrage, auf die unten noch eingegangen werden wird. 107 Vgl. dazu die Rechtsetzung und die Rechtpraxis in Fallstudien in Kapitel III. 108 Michael Stolleis, Staatsheirat, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. Hrsg. von Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann, Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 1822–1824. 109 Ausführlich zu dieser Haltung Cristellon, „Unable and Weak-minded“, S. 89. 110 Geringer, Die Konfessionsbestimmung bei Kindern; ders., Die Konfessionsbestimmung von Kindern, S. 27–54; Gerhartz, Die rechtliche Ordnung der Mischehen.
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Erziehung sämtlicher Kinder.111 Auf diese Praktiken wurde von einigen Kanonikern im 17. Jahrhundert aufmerksam gemacht: Videmus in Germania passim celebrari matrimonia inter catholicum et haereticum, ac vicissim, et quidem sine ulla dispensatione vel pape seu episcopi.112 Wir beobachten, dass in Deutschland immer wieder Ehen zwischen Katholiken und Ketzern (und umgekehrt) geschlossen werden, und zwar ohne jede Erlaubnis des Papstes oder eines Bischofs.113
Bedeutende, überwiegend aus Spanien stammende Kanoniker des späten 16. und 17. Jahrhunderts vertraten die Auffassung, dass in konfessionell gemischten Territorien vor allem in Deutschland aufgrund der Schwierigkeiten, geeignete Heiratspartner zu finden, von den strengen kanonischen Vorschriften abgewichen werden durfte. In gemischtkonfessionellen Territorien, in denen die katholische Konfession offiziell anerkannt sei und daher die Gefahr des Abfalls vom wahren Glauben auch bei den jeweiligen Brautleuten nicht bestehe, seien Mischehen erlaubt.114 Diesen Vorstellungen wurde vor allem von deutschen Kanonikern widersprochen, die betonten, dass auch in gemischtkonfessionellen deutschen Territorien die Gefahr des Glaubensabfalls bestand und der uneingeschränkte Schutz des katholischen Glaubens die Voraussetzung für eine Mischehe darstellte.115 Ungeachtet der regionalen Praxis einiger Bischöfe erteilte der Papst selbst
111 Cecilia Cristellon, Die Römische Inquisition, S. 281. 112 Pichler, Summa iurisprudentiae. Weitere Hinweise in: Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 287, hier Anm. 2. 113 Übersetzung Michael Sommer. 114 Darunter Joannes Azor (1536–1603), Institutiones morales. Bd. 1. Köln 1613, insbesondere lib. 8, cap. 11, q. 5, Thomas Sanchez (1551–1610), De sancto matrimonii sacramento disputationum libri tres. Antwerpen 1607, lib. VII, disp. LXXII, n. 5; Ponce de Leon, De sacramento matrimonii tractatus, lib. VII, cap. XLVII, n. 8 und Append., cap. II, n. 11; Peter Leurenius (1646–1723), Forum ecclesiasticorum, in quo ius canonicum universum … explanatur. 3 Bde. Mainz 1717–1729, tit. I, cap. IX, q. 117, n. 2–4; Franz Schmalzgrueber (1663–1735), Ius ecclesiasticum universum brevi methodo ad discentium utilitatem explicatum. 12 Bde. Rom 1843–1845, lib. IV, tit. VI, n. 145–6. Vgl. Connick, Canonical Doctrine, S. 313–315. 115 Vor allem Aegidius de Coninck, De sacramentis et censuris. Antwerpen 1619, T. II, disp. XXXI, dub. III, n. 45; Georg Gobat (1600–1679), Experimentiae theologicae sive Experimentalis Theologia. Einsiedeln 1678, Tr. X, cas. XI, n. 212–222 (ausführliche Darstellung zur Praxis in Deutschland bei der Schließung von Mischehen und radikale Ablehnung gemischter Ehen auch in gemischtkonfessionellen Territorien als sündhaft); Pichler, Summa iurisprudentiae, lib. IV, tit. L, n. 130, resp. 3; Reiffenstuel, Jus Canonicum Universum, t. IV, tit. I, n. 367. Vgl. Connick, Canonical Doctrine, S. 316–326.
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keine Dispens ohne vorausgegangene Konversion des Andersgläubigen116 Seit der Zeit Papst Innozenz X (1644–1655) durfte eine Dispens durch Kardinäle und Bischöfe erst nach vorheriger schriftlicher Bestätigung der Konversion erteilt werden, um Täuschungen zu vermeiden.117 Probleme traten dort auf, wo staatliche Gesetze zur Mischehe die Kirchen gen, Trauungen zu vollziehen, die nach eigenem Recht nicht statthaft zwan waren.118 Zu nennen sei hier vor allem die Praxis, die Kindererziehung nach Geschlecht zu teilen, eine Praxis, die im Heiligen Römischen Reich weit verbreitet war. Diese Praxis wie die Eheschließung ohne Dispens wurde nach den Aussagen bedeutender Kanoniker wie Anacletus Reiffenstuel (1641–1703)119, Vitus Pichler (1670–1736)120, Georg Gobat (1600–1679)121 und Johann Kugler (1654– 1728)122 von Bischöfen weitgehend geduldet.123 Die Kanoniker allgemein vertraten dagegen keine einheitliche Position.124 Adam Tanner (1572–1632), Ehrenreich Pirhing (1606–1690)125, Ferdinand Krimer (1639–1703)126, Patrizius Sporer (ca.
116 Connick, Canonical Doctrine, S. 310, 407. Für Ausnahmen bei Staatsheiraten vgl. ebd. und oben. 117 Ebd., S. 309–310. Für die tatsächliche Dispenspraxis vgl. Cristellon, Die Römische Inquisition. 118 Vgl. den nachfolgenden Abschnitt zu Landesgesetzgebung in der Mischehenfrage. 119 Reiffenstuel zählt zu einem der angesehensten Kanoniker des 17. Jahrhunderts. Er trat dem Franziskanerorden bei und war Lektor der Theologie und des kanonischen Rechts im Ordenshaus in Freising. 1683 trat er als öffentlicher Lehrer des Kirchenrechts am fürstbischöflichen Lyzeum in Freising auf. Vgl. von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur, Bd. 3/1, S. 154–155. 120 Pichler war anfänglich in der Seelsorge. Er trat dem Jesuitenorden bei und wurde Professor der Theologie im Kolleg zu Augsburg und 1716 als Nachfolger von Schmalzgrueber Professor des kanonischen Rechts in Ingolstadt. 1731 ging er als Präfect der höheren Schule nach München. Vgl. ebd., S. 163–164. 121 Geboren 1600 in der Diözese Basel, trat 1618 in den Jesuitenroden ein und war Professor der Theologie und Rektor zu Hall und Freiburg in der Schweiz. Er wurde als bedeutender Moralist geschätzt. Vgl. ebd., S. 142. 122 Jesuit, dozierte Philosophie, Theologie und kanonischen Recht in Olmütz, wo er 20 Jahre Kanzler war. Vgl. ebd., S. 158. 123 Vgl. Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 287–288, Anm. 2. 124 Vgl. Connick, Canonical Doctrine, S. 302–326. Für die biographischen Angaben im Folgenden vgl. von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur. 125 Pirhing stammte aus adeliger Familie, studierte in Ingolstadt Philosophie und Jura, trat 1628 in den Jesuitenorden ein und lehrte zu Dillingen Philosophie, Moral und Kirchenrecht, war Rektor des Kollegs in Eichstädt und Domprediger in Regensburg. Er zählt zu einem der besten Kanonisten des 17. Jahrhunderts. Vgl. von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur, Bd. 3/1, S. 143. 126 Professor der Philosophie, Theologie und des kanonischen Rechts in Graz, Thyrnau und Wien. Vgl. ebd., S. 152–153.
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1600–1683), Johann Kugler und Franz Schmalzgrueber (1663–1735)127 stimmten der geschlechtsspezifischen Kindererziehung nur dann zu, wenn der nichtkatholische Ehepartner die katholische Erziehung aller Kinder ablehnte. Nach Thomas Sanchez (1551–1610)128, Basil Ponce de Leon, Basilius Pontius, Vitus Pichler und Paul Laymann waren Mischehen nur erlaubt, wenn keine Gefahr bestand, dass der katholische Ehegatte und die in der Ehe gezeugten Kinder zur Häresie verleitet würden.129 Sanchez, Pontius, Joannes de Lugo (1583–1660) und Nicolas Serarius hielten Eheverträge, die eine Aufteilung der religiösen Kindererziehung vorsahen, für sündhaft.130 Serarius fragte treffend: O catholice pater, esne filiarum minus, quam filiorum pater? O catholica mater, minus tu filiorum, quam filiarum mater? Non dissimiles isti videntur gentilibus illis, qui filiorum suorum aliquos idolis et daemonibus mancipabant. Neque ab ea muliere videntur abesse, quae apud Salomonem alteri dicebat: Nec mihi, nec tibi, sed dividatur! imo hujus quodammodo crudelitatem superant.131 Katholischer Vater, bist du etwa weniger der Vater deiner Töchter als der deiner Söhne? Katholische Mutter, bist du etwa weniger die Mutter deiner Söhne als die deiner Töchter? Nicht unähnlich den Heiden scheinen diejenigen, die ihre Kinder [wörtlich: einige unter ihren Kindern] den Götzenbildern und Dämonen anheimgeben. Und sie scheinen sich nicht von jener Frau zu unterscheiden, die vor Salomo zur anderen sagte: Weder mir soll es gehören, noch dir, sondern es werde geteilt!132
127 Gebürtig aus Oberbayern. Jesuit. Professor der Logik und Moral zu Ingolstadt, Professor des kanonischen Rechts in Dillingen und Ingolstadt. 1716 wurde er erneut nach Dillingen versetzt. Sein Nachfolger dort wurde Vitus Pichler. Schmalzgrueber genoss bei der Kurie großes Ansehen. Seine Werke hatten nach Schulte selbst unter Protestanten autoritativen Charakter. Schmalzgrueber rezipierte stark die Werke Reiffenstuels, Pirhings und Laymans. Vgl. ebd., S. 160–161. 128 Sanchez stammte aus Cordova aus vornehmer Familie. Sein Ruf weist ihn als ehrgeizigen und unerlässlich arbeitenden Theologen aus. Mit 16 Jahren trat er in den Jesuitenordnen ein. Er war einer der bedeutendsten Kasuisten zu Fragen der Ehe und wird in Abhandlungen zu Mischehen regelmäßig zitiert. Für die biographischen Angaben Vgl. ebd., S. 735–736. 129 Ponce de Leon, De sacramento matrimonii tractatus, lib. VII, cap. XLVII, n. 8; Basilii Pontii Legionensis Augustiniani apud Salmanticenses Primariae catedrae Moderatiris primarij. De sacramento matrimonii tractatus. Cum Appendice de Matrimonio Catholici cum haeretico. – Ed. 2. – Bruxelles 1627, in append., Cap. II; Pichler, Summa iurisprudentiae; Laymann, Theologia moralis, lib. V, tr. X, cap. XIV, n. 2. Vgl. auch Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 287–288 und Connick, Canonical Doctrine, S. 409. 130 Sanchez, De sancto matrimonii; Basilii Pontii Legionensis Augustiniani apud Salmanticenses Primariae catedrae Moderatiris primarij, I. c.Kap. 7, n. 5; de Lugo, Disputationes scholasticae; Serarius, De Catholicorvm Cvm Haereticis. 131 Serarius, De Catholicorvm Cvm Haereticis. Zitiert in Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 64, Anm. 96. 132 Übersetzung Michael Sommer.
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Einzelne Kanoniker wie Franz Schmier (1680–1728)133 hielten eine gemischte Ehe, bei der die nicht-katholische Kindererziehung vereinbart worden war, sogar für ungültig.134 Der Heilige Stuhl in Rom hielt an der katholischen Erziehung aller Kinder, die in einer gemischten Ehe geboren wurden, fest. Allerdings wurden in der Praxis die unterschiedlichen konfessionellen Verhältnisse einzelner Länder berücksichtigt. Die im Jahre 1622 von Papst Georg XV. ins Leben gerufene Sacra Congregatio de Propaganda Fide, die die Missionierung in protestantischen Gebieten von Rom aus koordinieren sollte, entschied im Jahre 1638: In terris haereticorum, ubi haereses impune grassantur, maxime si ibi catholicae fidei liber cultus non permittur, matrimonia cum ipsis haereticis per exhortationes potius quam per censuras prohibenda.135 Im Ketzerland, wo die Häresien sich straflos ausbreiten, sollten, besonders, wenn dort die freie Ausübung des katholischen Glaubens nicht gestattet ist, Ehen mit eben jenen Ketzern eher durch Ermahnungen als durch Zwangsmaßnahmen unterbunden werden.136
Auch die Form der Eheschließung zwischen gemischtkonfessionellen Partnern verlief in deutschen Territorien unterschiedlich. Hier vertraten die Kanoniker ebenfalls keine einhellige Meinung. Gemischte Ehen unterlagen nach kanonischem Recht ebenfalls der katholischen Ehegesetzgebung. Im Geltungsbereich des Tridentinums waren Ehen zwischen Katholiken und Nichtkatholiken daher nur gültig, wenn sie vor einem katholischen Geistlichen und zwei Zeugen geschlossen worden waren.137 Aufgrund der schwierigen Beweislage der Publikation des Dekrets ließ sich dieser strenge Grundsatz jedoch nicht aufrechterhalten. Darüber hinaus verfolgten einzelne Länder eine eigene Praxis. In Holland und den dazugehörigen Provinzen beispielsweise war es üblich, auf die katholische Trauung die nicht-katholische folgen zu lassen, da die Protestanten die Ehe sonst
133 Professor für kanonisches Recht in Salzburg. Dort war er von 1713 bis 1728 Rektor. Vgl.von Schulte, Die Geschichte der Quellen und Literatur, Bd. 3/1, S. 165. 134 Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 287–288, besonders die Literaturangaben in Anm. 3; Connick, Canonical Doctrine, S. 410. 135 Zitat in Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 287, Anm. 4; Vergleiche auch Hermann Tüchle, Acta S.C. Propaganda Fide Germaniam spectantia. Die Protokolle der Propagandakongregation zu deutschen Angelegenheiten 1622–1649. Paderborn 1962. 136 Übersetzung Michael Sommer. 137 Ausführlich zum Konzil von Trient und der Frage der Gültigkeit vgl. oben.
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nicht anerkannten.138 Nach eigener Rechtsauffassung verhindern konnte die katholische Kirche Mischehen nur dort, wo die tridentinische Eheschließungsform verkündet worden war, oder wo sie kraft Observanz Rechtsgültigkeit erlangt hatte.139 Zumindest erschweren konnte die Kirche die Eheschließung durch die Bedingungen, die an die Dispens geknüpft wurden, vorausgesetzt, die Dispens wurde in der Praxis überhaupt ersucht. Missbilligung konnte ausgedrückt werden durch Verweigerung der Proklamation, der Brautmesse und durch die sogenannte passive Assistenz, also der bloßen Mitwirkung an der Eheschließung außerhalb der Kirche und ohne Amtskleidung.140 Dort, wo das vortridentinische Eherecht Gültigkeit beanspruchte, konnte die Ehe auch bei Versagung der kirchlichen Mitwirkung durch formlosen Konsens zustande kommen. Während vor dem Konzil von Trient die Überwachung des Verbots der Mischehe allein schon aufgrund der formlosen Eheschließung nicht gewährleistet war, so entstand mit den tridentinischen Eherechtsvorschriften eine neue Situation: Die Gültigkeit der Ehe hing von der Eheschließungsform nach tridentinischem Recht ab, sofern dieses in dem betreffenden Gebiet verkündet worden war. Mit der Ausbreitung und Festigung der Reformation ergab sich eine besondere Schwierigkeit in gemischtkonfessionellen Gebieten, in denen das Dekret Gültigkeit beanspruchte. Hier hing der Sakramentscharakter der Ehe von der Beobachtung der tridentinischen Schließungsform durch beide zukünftigen Eheleute ab, katholisch und nichtkatholisch. Wurde eine Ehe unter Verletzung des Dekret Tametsi geschlossen, so konnte sie auf dem Weg des Annulationsprozesses von geistlichen Gerichten aufgehoben werden. Aus katholischer Sicht waren auch Protestanten an die tridentinische Schließungsform gebunden. Das bedeutete für protestantische Ehen, die nicht vor einem katholischen Geistlichen geschlossen worden waren in der Praxis, dass bei Konversion eines Ehepartners zum katholischen Glauben dieser die Ehe unter Verweis auf die Rechtsgrundlage ex capite clandestinitatis annullieren lassen und eine neue Ehe eingehen konnte. Gültigkeit erreichte die bestehende Ehe nur, wenn sie nach der Konversion noch einmal von einem katholischen Geistlichen in Anwesenheit von zwei Zeugen geschlossen wurde. Protestantische Ehen, die von protestantischen Geistlichen geschlossen wurden
138 Zitiert in: Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 287, Anm. 3. Für aktuelle Studien zu Mischehen in den Niederlanden vgl. Forclaz, Le foyer de la discorde?; Kaplan, „For They Will Turn Away Thy Sons”. 139 Hübler, Eheschließung und gemischte Ehen, S. 14–15. 140 Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 5, S. 224–227.
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und damit die tridentinische Formvorschrift verletzten, wurden von der katholischen Kirche zu Konkubinaten erklärt.141 Diese Situation warf umgekehrt für protestantische Theologen die Frage auf, ob sich protestantische Brautleute überhaupt von einem katholischen Priester trauen lassen könnten. Das Konsistorium in Stuttgart bejahte dies 1595 unter der Voraussetzung, dass die Trauung faktisch nicht an einem evangelischen Ort geschlossen werden könne und verlangte weiter, dass die Trauung ohne katholische Zeremonien durchgeführt und jegliche Polemik gegen Protestanten vermieden werde. Begründet wurde diese Haltung mit dem weltlichen Charakter der Ehe.142 Für Mischehen galten aus katholischer Sicht die gleichen Bestimmungen. Im 16. Jahrhundert beklagten sich die Protestanten auf den Reichstagen zu Augsburg 1566 und 1582 sowie Regensburg 1576 und 1594, dass in einigen Orten, an denen Augsburger Religionsverwandte unter Katholiken lebten, von katholischer Seite die Einsegnung einer Ehe unter Protestanten verweigert wurde, es sei denn, sie würden zum Katholizismus konvertieren.143 Der Zusatz, dass das Dekret Tametsi nur dort gültig war, wo es in einer bestehenden Parochie144 verkündet worden war, bedeutete ein Zugeständnis an die Protestanten, denen so der Rückgriff auf die vortridentinische Eheschließungsform und damit eine kirchlich gültige Eheschließung ermöglicht werden sollte.145 Katholiken, Protestanten und orthodoxe Christen jedoch, die in Gebieten lebten, in denen die Formvorschriften nicht galten, begründeten nach dieser Lehre unbestritten sakramentale Ehen.146 Mitte des 18. Jahrhunderts begann mit dem Dekret der congregatio concilii vom 4. November 1741, der sogenannten Benediktina, eine mildere Handhabung der tridentinischen Eheschließungsform in gemischtkonfessionellen Gebieten. In
141 Hübler, Eheschließung und gemischte Ehen, S. 20. 142 Dedeken, Thesauri consiliorum, S. 301; Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 51. 143 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 47. 144 Die Einführung der Tridentinischen Eheschließungsform war rechtlich gebunden an die Existenz einer wirklichen katholischen Pfarrgemeinde, deren lokaler Sprengel fest abgegrenzt ist, für deren Bedürfnisse (Sustentation des Geistlichen, Unterhaltung der kirchlichen Gebäude, Kosten des Gottesdienstes) ein sicher gestelltes Sondervermögen vorhanden ist und deren Amtsträger mit einem dauernden Anspruch auf seine geistlichen Befugnisse und Obliegenheiten definitv angestellt ist. Wo diese Parochien nicht bestanden, wurden „Missionspfarreien“ eingerichtet, d.h. bewegliche Seelsorgestationen. Vgl. Hübler, Eheschließung und gemischte Ehen, S. 15. 145 Ebd., S. 15–16. 146 Galling, Kurt (Hrsg.): Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. 3. völlig neu bearb. Aufl. Tübingen 1958, Bd. 4, S. 963–966.
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den Niederlanden wurden nach diesem Beschluss alle protestantischen Ehen, die nicht vor einem katholischen Geistlichen geschlossen worden waren, anerkannt und waren kirchlich gültig. Durch nachfolgende Dekrete wurden die Bestimmungen der Benediktina ausgedehnt auf andere Gebiete und schlossen in ihre Bestimmungen auch gemischte Ehen ein: Diözese Breslau 1765, Diözese Kulm 1774, Herzogtum Kleve 1793, das Erzbistum Köln, die Bistümer Trier, Münster und Paderborn 1830, Gnesen-Posen 1841 und Limburg 1854. Der entscheidende Rechtsspruch der katholischen Kirche zur formalen Anerkennung protestantischer und gemischter Ehen blieb jedoch aus, so dass es sich bei der Anerkennung nicht tridentinisch geschlossener Ehen um Einzelentscheidungen handelte, die je nach politischer Interessenlage ausfielen.147 Nicht gültige Ehen nach kanonischem Recht blieben vor geistlichen Gerichten anfechtbar und eine Annullationsklage konnte vorgebracht werden.148 Konvertierte in einer protestantischen Ehe ein Eheteil zum Katholizismus, so konnte diese Ehe auf Verlangen durch den Papst oder durch Bischöfe auch gegen den Willen des evangelischen Partners aufgelöst werden.149 Nach kanonischem Recht gestattete das Privilegium Paulinum (1 Kor 7, 15) einem christlichen Ehepartner die Scheidung vom Bande, wenn er vom nichtchristlichen Partner aus religiösen Gründen verlassen wurde. Diese Grundsätze wurden nach der Reformation auch auf konfessionell gemischte Ehen angewandt.150 Wie streng die Bedingungen, die an eine Dispens für gemischte Ehen geknüpft wurden, tatsächlich in den verschiedenen Territorien durch katholische Geistliche gehandhabt wurden und welchen Spielraum die Landesgesetzgebung der katholischen Kirche im Einzelnen ließ, kann erst mithilfe von Regionalstudien sowie einer Zusammenstellung der Landesgesetzgebung beantwortet werden.151 Ein Blick in Religionsgravamina des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts zeigt, dass in einigen gemischtkonfessionellen Herrschaften, vor allem in Gebieten, in denen die Rekatholisierung eingeleitet wurde, katholische Geistliche, teilweise
147 Hübler, Eheschließung und gemischte Ehen, S. 20–23. Für den Wortlaut der Benediktina vgl. den Abdruck ebd., S. 85–88. 148 Ebd., S. 28. 149 Johann Jacob Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung (Neues Teutsches Staatsrecht, 7). ND der Ausg. Frankfurt/Leipzig 1774. Osnabrück 1967, S. 549–551 (mit Beispielen). 150 Freisen, Geschichte des Kanonischen Eherechts, S. 825–26; Plöchl, Geschichte des Kirchenrechts. Bd. II, S. 310–11. Zum Privilegium Paulinum aus protestantischer Sicht vgl. unten. 151 Dieser Frage wird exemplarisch an den drei Territorien Kurpfalz, Kursachsen und Bistum Osnabrück nachgegangen. Zur Landesgesetzgebung vgl. unten. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Praxis der Dispensvergabe durch die Römische Inquisition, die derzeit durch Cecilia Cristellon erforscht wird.
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mit Unterstützung des katholischen Landesherrn, bei gemischten Ehen die katholische Kindererziehung forderten und diese Forderung nicht selten unter Einsatz von Zwangsmitteln wie Landesverweis oder militärischer Exekution durchgesetzt wurden.152
1.3.2 Reformatorisches Eheverständnis und Bestimmungen zur Mischehe Die Reformation brachte einschneidende Veränderungen für die Auffassung über das Wesen der Ehe, die Zuständigkeit in Ehesachen sowie für die Form der Eheschließung mit sich, auch wenn sich einige dieser Veränderungen in der praktischen Durchführung weniger radikal zeigten, als die Forschung lange angenommen hatte.153 Zu den Neuerungen zählen die Verneinung der Sakramentalität der Ehe, die Zulässigkeit der Priesterehe, das Verbot heimlicher Ehen und der Elternkonsens als Voraussetzung für die Gültigkeit der Ehe, die Anwesenheit von Zeugen bei der Eheschließung, das Scheidungsrecht sowie Modifikationen bei den Ehehindernissen.154 Die kirchliche Trauung und das vorherige Aufgebot in der Kirche wurden im Verlauf der frühen Neuzeit gewohnheitsrechtlich Bestandteil der Eheschließung. Die Mehrheit der Theologen betrachtete im 16. und 17. Jahrhundert die benedictio sacerdotalis jedoch nicht als entscheidend für die Gültigkeit der Ehe.155 Die bischöfliche Ehegerichtsbarkeit und die Gesetzgebungskompetenz in Ehesachen wurden in protestantischen Territorien und Städten abgeschafft und die Gesetzgebungsgewalt ging an den Territorialherren über. Weltliche Ehegerichte traten zunächst an die Stelle bischöflicher Ehegerichte. Diese Veränderungen wurden begleitet von innerevangelischen theologischen und juristischen Meinungsverschiedenheiten. Die Entstehung eines für Pro-
152 Burcard Gotthelff Struve, Ausführliche Historie der Religions=Beschwerden zwischen denen Römisch-Catholischen und Evangelischen im Teutschen Reich. 2 Tle. Leipzig 1722, Tl. 2, S. 73–74, 104, 106, 180, 184, 194, 225, 227, 244, 246, 248, 267, 314, 355, 362, 370, 422, 462–463, 472, 589. 153 Dies gilt vor allem für das Scheidungsrecht und für das Verbot heimlicher Ehen. Für eine kritische Auseinandersetzung mit den protestantischen Neuerungen in der eherechtlichen Praxis vgl. Joel Harrington, Reordering Marriage and Society in Reformation Germany. Cambridge 1995; Burghartz, Zeiten der Reinheit; Alexandra Lutz, Ehepaare vor Gericht. Konflikte und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit (Geschichte und Geschlechter, 51). Frankfurt a.M. 2006. 154 Für einen allgemeinen Überblick: Realencyclopädie für protestantische Theologie und Kirche, Bd. 5, S. 198–227; Dieterich, Das Protestantische Eherecht. 155 Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 188–190; Dieter Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (Schriften zum Deutschen und Europäischen Zivil-, Handels- und Prozessrecht, 45). Bielefeld 1967.
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testanten verbindlichen Eherechts seit der Reformation sowie die eherechtliche Praxis war nicht nur für Zeitgenossen ein unübersichtliches Feld, sondern hält für die Forschung auch heute noch strittige Fragen bereit.156 Communis opinio war allein die Ablehnung des päpstlichen Jurisdiktionsprimats für die Evangelischen. Immer wieder Gegenstand theologischer, juristischer und politischer Auslegung blieb die Frage nach dem Wesen der Ehe und damit zusammenhängend das Problem der Zuordnung von Ehesachen, vor allem der Ehegerichtsbarkeit, in den geistlichen oder weltlichen Bereich, ein Umstand, der nicht zuletzt in der causamixta Lehre des ersten nachreformatorischen Jahrhunderts seinen Niederschlag fand und das Verhältnis von Reichsrecht, Landes- und Kirchenrecht nachhaltig bestimmte.157 Damit sind in aller Kürze die beiden Seiten der protestantischen Eherechtslehre bis zur Aufklärung charakterisiert: Zum einen der reformatorische Begriff der Ehe als weltliche Angelegenheit, aus der sich die obrigkeitliche Ehegesetzgebung eines menschlichen Eherechts ableitete, zum anderen die fortlaufende theologische Auseinandersetzung um das geistliche Wesen der Ehe. Ein geistlicher Ehebegriff allerdings schien eine Unterwerfung von Ehesachen unter „kirchliche Gesetze“ zwingend zu machen. Eherechtliche Einzelfragen wurden in der Praxis unter Hinzuziehung von Theologen in eigenen Ehe-, Kirchen- und Konsistorialordnungen der zum Kirchenregiment gelangten protestantischen Obrigkeit geregelt; sie unterlagen partikularrechtlichem Einfluss. Obwohl die Unterwerfung der Ehesachen unter die protestantische Obrigkeit und weltliche Gesetzgebung unter den Reformatoren allgemein anerkannt war, beeinflusste das fortbestehende theologische Verständnis der Ehe als „geistliche Sache“ die Ausgestaltung des Eherechts. Bis zur Säkularisierung der protestantischen Eherechtsdoktrin im Verlauf des 18. Jahrhunderts, wurde die Ehe ihrem Wesen nach mehr als göttliche Stiftung denn als ausschließlich bürgerliche Gemeinschaft betrachtet und das weltliche Eherecht nach theologischen Vorgaben gebildet. Dennoch wurde die Gesetzgebungskompetenz der weltlichen Obrigkeit in Ehesachen trotz der Lehre von der „geistlichen“ oder „kirchlichen“ Rechtsnatur der Ehe von protestantischer Seite nicht bestritten, wie dies die katholische Kirche tat.158
156 Für einen allgemeinen Überblick vgl. Conrad: Das Tridentinische Konzil; Gertrud Schwanhäusser, Das Gesetzgebungsrecht der evangelischen Kirche unter dem Einfluss des landesherrlichen Kirchenregiments im 16. Jahrhundert (Jus Ecclesiasticum, 5). München 1967; Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung; Martin Heckel, Staat und Kirche nach den Lehren der evangelischen Juristen Deutschlands in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts (Jus Ecclesiasticum, 6). München 1968; Dieterich: Das Protestantische Eherecht; Buchholz: Recht, Religion und Ehe. 157 Besonders Heckel, Staat und Kirche. 158 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 123–125.
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Die Gründe für diese Mehrdeutigkeit der protestantischen Eheauffassung und ihrer spezifischen rechtlichen Umsetzung sind in verschiedenen Entwicklungen zu suchen. Dazu zählt die innerevangelische Auseinandersetzung um die Ehegerichtsbarkeit, die durch zwei gegensätzliche Strömungen gekennzeichnet war. Martin Luther bezeichnete die Ehe als ein „eußerlich leyplich ding wie andere weltliche hanttierung“.159 In ähnlicher Weise verglich Johannes Calvin die Ehe mit weltlichen Betätigungen wie der Architektur oder dem Ackerbau; Martin Bucer fasste die Ehe unter die res politica.160 Ehesachen sollten nach Luthers Auffassung an weltliche Instanzen verwiesen und aus dem kirchlichen Rechtsbereich herausgelöst werden. In seiner Aufwertung der Ehe gegenüber dem Ideal der Ehelosigkeit betonte Luther gleichzeitig die besondere Rolle des christlichen Ehestandes für das geistliche Leben. Für ihn war die Ehe nicht nur eine weltliche Angelegenheit, sondern als „göttliche Stiftung“ auch ein „heiliger Orden und Stand“.161 Diese Auffassung findet sich in ähnlichen Formulierungen ebenso bei Calvin, Heinrich Bullinger, Erasmus Sarcer und Bucer.162 Der Dualismus in Luthers Ehelehre wurde in der Frühen Neuzeit wenig beachtet und hat in der Forschung unterschiedliche Interpretationen erfahren und die Frage nach möglichen Implikationen für die Rechtsnatur der Ehe aufgeworfen. Während einige Kirchenrechtler Luthers Ausführungen als eine klare Trennung der Ehe vom geistlichen Bereich deuteten,163 betonten andere die Doppelnatur von Luthers Ehebegriff als einem weltlichen Ding und als göttliche Stiftung oder geistlichen Stand. Ein doppeltes Wesenselement zog immer eine doppelte rechtliche Zuständigkeit nach sich.164
159 Martin Luther, Vom ehelichen Leben 1522. WA 10 (1907) II, S. 283, 8. Vgl. auch ders., Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern 1523. WA 12 (1891), S. 120, 21; ders., Traubüchlein 1529. WA 30 (1910) III, S. 43–80, hier S. 74, 2; ders., Von Ehesachen 1530. WA 30 (1910) III, S. 198–248, hier S. 205, 12; ders., Wochenpredigten über Matthäus 5–7 1530–1532. WA 32 (1906), S. 299–556, hier S. 376, 37. Vgl. auch Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 33, Anm. 59; Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 105. 160 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 106. 161 Ebd., S. 106; Dieterich: Das Protestantische Eherecht, S. 34. 162 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 106. 163 Heckel hat die Vorstellung einer göttlichen Stiftung der Ehe in Luthers Denken verneint: Heckel, Lex charitatis, S. 101. Vgl. auch Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehe gesetzgebung, S. 107–108. 164 Dieter Schwab hat auf die missverständliche Rezeption von Luthers Ehebegriff durch protestantische Juristen verwiesen. Sie hätten das geistliche Element als Rechtsqualität gedeutet und die Ehe dem Kirchenrecht zugeordnet, was von Luther nicht intendiert war. Vgl. Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 109–111; genauer Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 34. Textstellen aus Luthers Werken, die Luthers Vorstellung von der
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Melanchthon dagegen und mit ihm ein Großteil der protestantischen Theologen und Juristen hielt an dem überkommenen Prinzip geistlicher Ehegerichtsbarkeit fest.165 Seinem Einfluss ist die sukzessive Ablösung weltlicher Ehegerichte durch Konsistorien zuzuschreiben. Melanchthon hatte mit seinen Ausführungen zur Ehegerichtsbarkeit in der Confessio Augustana im Jahre 1530166 die Grundlage für die von evangelischen Theologen und Juristen des ersten nachreformatorischen Jahrhunderts allgemein anerkannte „causa-mixta“ Lehre gelegt. Diese Lehre verband in Abkehr zu Luthers Rechtsdualismus gewissermaßen in pragmatischer Weise die geistliche und die weltliche Seite der Ehe unter Berufung auf vertrags- und zivilrechtliche Aspekte der Ehe einerseits und unter Berufung auf die Ehe als Gewissenssache und göttliche Stiftung andererseits. Die Ehe unterlag also verschiedenen Rechten (göttlich, kanonisch, römisch und partikular) und war nicht nur zivil- oder strafrechtlicher Natur, sondern betraf auch das Gewissen.167 Damit entsprachen die Konsistorien der Rechtsnatur der Ehesachen (res mixtae). Im Verlauf des 16. Jahrhunderts wurden fast überall in Deutschland Konsistorien eigens für Kirchen- und Ehesachen errichtet und gleichermaßen mit Theologen und Juristen besetzt. Die Konsistorien wurden von protestantischen Territorialherren und Städten eingesetzt und gehörten den bestehenden weltlichen Gerichten als besondere Spruchgremien an. In der protestantischen Kirchenrechtslehre wurden Konsistorien als geistliche Instanzen gedeutet und man sah in ihnen die Nachfolge bischöflicher Jurisdiktion, nicht selten mit dem Landesherrn als übergeordneter Instanz.168 Neben dem Problem der Gerichtsbarkeit warf der „geistliche“ Ehebegriff für Theologen und Juristen die Frage nach der rechtlichen Grundlage des protestantischen Eherechts auf, womit der zweite strittige Komplex der protestantischen Eherechtslehre im 16. und 17. Jahrhundert benannt ist: die konkurrierende
göttlichen Stiftung der Ehe belegen, finden sich u.a. in Martin Luther, Traubüchlein 1529. WA 30 (1910) III, S. 43–80, hier S. 75, 14; ders., Großer Katechismus 1529. WA 30 (1910) I, S. 123–238, hier S. 161, 28; ders., Sermon vom ehelichen Stand 1519. WA 2 (1884), S. 162–171, hier S. 170, 35; ders., Das siebente Kapitel S. Pauli zu den Corinthern 1523. WA 12 (1891), S. 105, 21; ders., Predigten 1531. WA 34 (1908) I, S. 59–82, hier S. 59, 18; vgl. auch Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 34. 165 Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 24–40, 80–92, 246–247. 166 Confessio Augustana 1530 Art. 28, in: Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Hrsg. im Gedenkjahr der Augsburgischen Konfession 1930, 9. Aufl., Göttingen 1982 (Göttinger theologische Lehrbücher), S. 125, 3. Melanchthon argumentierte, dass die Ehegerichtsbarkeit den Bischöfen nur Kraft menschlichen Rechts zustehe. Daher könnten Fürsten in Ehesachen Recht sprechen, wenn die Bischöfe ihr Amt vernachlässigten. 167 Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 175–177. 168 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 114–115.
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Rezeption des kanonischen und des römischen Rechts bei der Entstehung eines für Protestanten gültigen Eherechts. Die Forschung hat lange unterschieden zwischen einer eindeutig ablehnenden Haltung der protestantischen Theologen, allen voran Martin Luther, gegenüber dem kanonischen Eherecht und einer eher aufgeschlossenen Haltung der protestantischen Jurisprudenz, die sich im 16. und 17. Jahrhundert, wenn auch mit unterschiedlicher Begründung und Ausmaß, für den Verbleib der Ehesachen innerhalb der kirchlichen Ordnung auf Grundlage des kanonischen Rechts einsetzte, allerdings unter Ablehnung der Sakramentsnatur der Ehe, des kanonischen Ehehindernisrechts und des Scheidungsverbots.169 Mithilfe des kanonischen Rechts war es protestantischen Juristen möglich gewesen, das „geistliche“ Wesen der Ehe als eine rechtliche Qualifikation zu begreifen und daraus die Zuständigkeit der Ehegerichtsbarkeit abzuleiten.170 Die grundlegende Hinterfragung des kanonischen Rechts hat jedoch eine differenzierte Rezeption sowohl durch Juristen als auch Theologen möglich gemacht.171 In der theologischen und juristischen Auseinandersetzung mit dem Eherecht gaben häufig praktische Erwägungen den Ausschlag und römisches und kanonisches Eherecht wurden gleichermaßen bearbeitet und rezipiert. Trotz aller Differenzen haben Theologen und Juristen bei der Behandlung der Ehe und ihres Normengefüges göttliches und weltliches Recht miteinander verwoben. Dies änderte sich unter Einfluss der Naturrechtslehre des 17. Jahrhunderts. Einflussreiche Vertreter der neuen Lehre, darunter Hugo Grotius, Thomas Hobbes und Christian Thomasius, betonten die natürliche Rechtsgestalt der Ehe, die ausschließlich nach den Prinzipien der rechten Vernunft zu ordnen ist.172 Naturrechtlich hängt die Ehe von ihrem Zweck ab, der sich aus der Gleichsetzung der Eheform mit der Geschlechtsgemeinschaft ableitet. Der wesentliche Ehezweck ist die Erzeugung von Nachkommen, die der Menschheit insgesamt nutzt.173 Die eheliche Gemeinschaft, die auf einem Vertrag basiert, wird als Kern der gesellschaftlichen Ordnung begriffen. Auch wenn sich die Auffassung eines bürgerlichen Eherechts im 18. Jahrhundert verbreitete und das kanonische Eherecht zurückgedrängt wurde, gab
169 Ebd., S. 105, 121–122; Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 75–85. 170 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 122. 171 Für eine gründliche Darstellung mit zahlreichen Belegstellen vgl. Rudolf Schäfer, Die Geltung des kanonischen Rechts in der evangelischen Kirche Deutschlands von Luther bis zur Gegenwart, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 5 (1915), S. 165–414; Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 116–118. 172 Buchholz, Recht, Religion und Ehe, S. 80–93; Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 125–137. 173 Thomasius sieht die Befriedung menschlicher Triebhaftigkeit als einen nachgeordneten Ehezweck. Vgl. Buchholz, Recht, Religion und Ehe, S. 83.
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es weiter Verfechter eines dem Wesen nach geistlichen Ehebegriffs und damit geistlichen Rechtscharakters der Ehe unter den protestantischen Juristen des 18. Jahrhundert.174 Insgesamt war die Auseinandersetzung mit dem protestantischen Eherecht im 18. Jahrhundert beeinflusst von einer allgemeinen Tendenz der Rechtswissenschaft in Deutschland, sich kritisch vom römischen und kanonischen Recht abzuwenden und auf das germanische Recht zu konzentrieren. Eine rechtlich allgemeingültige Position der protestantischen Kirche zum Umgang mit Ehen zwischen Protestanten und Anhängern nichtchristlicher Religionen gab es in der Frühen Neuzeit nicht. Die Religionsverschiedenheit zählte nicht wie bei den Katholiken zu den kirchenrechtlich trennenden Ehehindernissen. Unter den protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts herrschte eine ablehnende Haltung gegenüber Mischehen vor, auch wenn ebenfalls unter Berufung auf Paulus und die damit verbundene Hoffnung auf Konversion des andersgläubigen Ehepartners Mischehen mitunter geduldet wurden.175 Dennoch wurde die Religionsverschiedenheit (disparitas cultus) als trennendes Ehehindernis auch in der protestantischen Kirche auf der Grundlage eines allgemeinen kirchlichen Gewohnheitsrechts, das partikularrechtlich unterschiedliche Ausprägungen erfuhr, aufrechterhalten. Ehen mit Anhängern anerkannter christlicher Konfessionen und zwischen Rechtgläubigen und Mitgliedern sektiererischer, häretischer (aber christlicher) Gemeinschaften wurden in der protestantischen Kirchenrechtslehre des 17. Jahrhunderts, allen voran durch den bedeutenden Kirchenrechtler Benedict Carpzov, allerdings milder beurteilt als in der Kanonistik.176 Zwar wurde vor einer Ehe mit Katholiken oder Reformierten gewarnt und die priesterliche Einsegnung in den einzelnen Territorien an unterschiedliche Bedingungen geknüpft, doch ein aufschiebendes Ehehindernis, wie nach kanonischem Recht, bildeten bekenntnisverschiedene Ehen nur unter partikularrechtlichem Einfluss. In Sachsen beispielsweise durfte eine Mischehe nur nach erteilter Dispens durch den Landesherrn und unter der Bedingung, dass alle Kinder lutherisch erzogen werden, geschlossen werden.177 Während sich die katholische Kirche unter Berufung auf Rom und das kanonische Eherecht eindeutig gegen Mischehen äußerte und Konfessionsverschiedenheit als aufschiebendes Ehehindernis betrachtete, konnte sich die junge
174 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 133. 175 Für einen Überblick vgl. Kapitel IV. 176 Benedict Carpzov, Jurisprudentia ecclesiastica Seu consistorialis Rerum et Quaestionum In serenissimi ac potentissimi principis electoris Saxon. Libris III. Leipzig 1665, lib.II. tit. I definit. IV Rdn. 1–30; Buchholz, Recht, Religion und Ehe, S. 349–350. 177 Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico, S. 71–72. Für weitere Angaben zu landesherrlicher Gesetzgebung zu Mischehen s.u.
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evangelische Kirche abgesehen von theologischen Vorbehalten nicht auf ein für sie allgemeingültiges Kirchenrecht beziehen. Dennoch ist es bezeichnend, dass sich auch protestantische Theologen in ihrer Ablehnung gegen Mischehen auf einschlägige Stellungnahmen der Kirchenväter sowie Konzilsbeschlüsse bezogen.178 Die differenzierte Rezeption des katholischen Eherechts durch protestantische Theologen zeigt sich damit auch im Umgang mit Mischehen. Eine Vorstellung protestantischer Positionen zu gemischten Ehen lässt sich neben der Analyse theologischer Traktate179 in einem ersten Schritt nur durch die vergleichende Betrachtung einzelner Ehe- und Kirchenordnungen, Konsistorialbescheide und Gutachten theologischer Fakultäten gewinnen. Äußerten sich Kirchen- oder Eheordnungen überhaupt zu der Frage der Mischehe, so war dies stets ablehnend.180 In der „Niedersächsischen Kirchenordnung“181 wird im 17. Jahrhundert die Frage, „ob sich jemand mit einem Ungläubigen und falscher Religion Verwandten verehelichen möge?“ wie folgt beantwortet: Es bedarff keiner schweren Erörterung, ob ein Christ sich mit einem Ungläubigen verheyrathen möge? Dann hierum kann mit Bescheidenheit in Gottesfurcht und gutem Rechte wohl gehandelt werden. Denn Gottes Wort ist hievon offenbar, Gen. 24.v.28, Exod. 34, Deuter. 7, Joh. 23, darinnen Gott solches verboten hat, und ist auch offt nicht ohne grosse Gefahr, wie die Erfahrung bezeuget, und auch sonst bedencklich, solcher Gestalt seine Kinder auszusteuern.182
Die württembergische Eheordnung aus dem Jahr 1687 gab konkrete Anweisungen zur Unterbindung einer Mischehe und verbot, falls dies nicht gelang, die Trauung gemischter Ehen im Lande: Wenn sich jemand in diesem Herzogtum und Landen gegen einer Person widriger, der wahren, alleinseligmachenden evangelischen Religion nicht zugethanen Person, von den Unterthanen dieses Herzogthums ehelich begehrte einzulassen, und solches an das Ehegericht berichtet würde, so sollen dergleichen Personen fleißig davon abgemahnet, denselben die große Seelengefahr beweglich vorgestellt, auch die Aeltern erinnert werden, ihren Willen nicht darein zu geben; sollte aber solches Alles nichts verhelfen, so sollte ihnen gleichwohl die Ehe nicht gesperrt, sie jedoch in diesem Herzogtume ohne besondern
178 So Petrus Martyr und Petrus Zanchius, die sich im frühen 17. Jahrhundert vehement gegen Ehen zwischen Protestanten und Katholiken oder Wiedertäufern aussprachen und sich in ihrer Beweisführung auf die Kirchenväter sowie auf Synodalbeschlüsse gegen Ehen mit Häretikern beriefen. Vgl. Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 46, sowie die Beispiele in Kapitel I. 179 Vgl. Kapitel IV. 180 Vgl. Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico, S. 70. 181 So die Bezeichnung in Dedeken, Thesauri consiliorum, Tl. 3, S. 173. 182 Abgedruckt in ebd.
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gnädigsten Befehl nicht kopulirt werden, anbei aber dem evangelischen Theile eingerathen werden, an einem evangelischen Orte außer Landes sich kopuliren zu lassen und die Predigten und Sakramente in Orten unsrer Religion zu besuchen, auch ihre Kinder künftig in derselben zu erziehen.183
Pfarrer wurden in vielen protestantischen Herrschaftsbereichen angewiesen, ihre Gemeindeglieder von der Eheanbahnung mit einem religionsverschiedenen Part ner oder Partnerin abzubringen.184 Wie auch beim katholischen Eherecht muss diese allgemeine Tendenz durch die Analyse partikularrechtlich geprägter Eherechtspraxis ergänzt werden, zumal der Umgang mit Mischehen stark von konfessionspolitischen und damit auch landespolitischen Interessen sowie der konfessionellen Gemengelage eines Herrschaftsbereichs abhängig war. Protestantische Theologen begründeten ihre Ablehnung von religiös gemischten Ehen unter Verweis auf die Stellungnahmen der Kirchenväter sowie auf Konzilbeschlüsse und rezipierten damit das kanonische Eherecht, ohne allerdings die Maximalforderungen der katholischen Kirche, namentlich die Konversion eines Ehepartners oder die Erziehung aller Kinder in der eigenen Konfession, zu übernehmen.185 Ein eigenes Problem stellte die Ehe zwischen Lutheranern und Reformierten da, auf das hier abschließend eingegangen werden soll. Im Augsburger Religionsfrieden war den Reformierten die rechtliche Anerkennung verweigert worden.186 In der Konkordienformel (formula concordiae) aus dem Jahr 1577 hatten die Lutheraner die Lehre der Reformierten ausdrücklich verworfen.187 Die theologische Fakultät in Rostock zog Reformierte Anfang des 17. Jahrhunderts ausdrück-
183 August Ludwig Reyscher, Vollständige historische und kritisch bearb. Sammlung der württembergischen Gesetze. 19 Bde., Stuttgart/Tübingen 1812–1851, hier Bd. III. Stuttgart/Tübingen 1830. Vgl die Einleitung ebd., S. 67; Johann Jacob Moser, Corpus Juris Evangelicorum. Züllichau 1737, Bd. 2, S. 396. 184 So ausführlich etwa in der Essener Kirchenordnung von 1705. Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico, S. 70 185 Für eine ausführliche Analyse der Einschätzung religiös gemischter Ehen durch protestantische Theologen vgl. Kapitel I. 186 Für die entscheidenden theologischen und dogmatischen Unterschiede vgl. den Beitrag von Wilfried Neuser Dogma und Bekenntnis in der Reformation: Von Zwingli und Calvin bis zur Synode von Westminster, in: Carl Andresen (Hrsg.), Handbuch der Dogmen- und Theologiegeschichte. Bd. 2. Göttingen 1980, S. 165–352. 187 Die Konkordienformel, festgehalten im sogenannten Bergischen Buch, umfasste zwölf Artikel, festigte die Lehreinheit der lutherischen Kirchen und besiegelte die Trennung von den reformierten Kirchen. 1577/1578 unterzeichneten über 50 Fürsten, Grafen und Freiherren, 38 Reichstädte und etwa 8 000 protestantische Geistliche das Bergische Buch. 1580 wurde die Konkordienformel erstmals offiziell in deutscher Sprache gedruckt. Für einen Überblick vergleiche:
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lich mit ein in ihr Votum gegen gemischte Ehen.188 Die Synode in Emden 1571 ermahnte Frauen, sich nicht mit einem „exkommunizierten“ Mann zu verheiraten; darüber hinaus wird einer „orthodoxen“ Frau, die mit einem „ungläubigen“ Mann verheiratet ist, auferlegt, für die Taufe der Kinder zu sorgen.189 Die Reformierten außerhalb des Reichs befassten sich ebenfalls mit der Rechtmäßigkeit von Mischehen. Die Synoden in den Niederlanden wiesen die Prediger an, Ehen mit Papisten, Wiedertäufern oder Libertinern zu verhindern. Bestanden die Brautleute aber auf ihrer Forderung, so sollte die Trauung vorgenommen werden, da es sich hierbei um eine weltliche Angelegenheit handele.190 In Frankreich sprachen sich die Synoden der Reformierten gegen gemischte Ehen aus. Die Synode von Lyon 1563 verbot den Geistlichen, eine Ehe zwischen Reformierten und Katholiken einzusegnen, wenn der katholische Partner nicht konvertierte. 1596 wurde auf der Synode von Saumur festgeschrieben, dass die Einsegnung erst nach Empfang des Abendmahls nach reformiertem Kultus erfolgen sollte. Die Synode von Montpellier (1598) schließlich erklärte Ehen zwischen Reformierten und Andersgläubigen für unerlaubt, verbot die kirchliche Einsegnung und drohte Priestern mit der Suspension, falls sie gegen diese Vorschrift verstießen.191 Nach dem Westfälischen Friedensvertrag von 1648 änderte sich das Verhältnis von Protestanten und Reformierten in den Territorien des Reiches insofern, als der Calvinismus als dritte Konfession rechtlich anerkannt wurde. Diese Anerkennung eröffnete zumindest die Möglichkeit einer Annäherung der protestantischen und reformierten Konfessionen, was zum Ende des 17. Jahrhunderts vereinzelt Ausdruck fand in der öffentlichen Forderung nach einer Tolerierung von Ehen zwischen Anhängern dieser beiden Konfessionen.192 Das Verhältnis insbesondere von Protestanten und Reformierten sowie die jeweilige Landes- und Kirchenpolitik im Umgang mit den beiden Konfessionen hing entscheidend von der politischkonfessionellen Konstellation der einzelnen Territorien ab und lässt sich auch im Blick auf chronologischen Wandel nicht verallgemeinern. Angesichts der Verflechtung weltlicher Gesetzgebungskompetenz in Ehesachen und theologischer Einflussnahme bei der Entstehung von protestantischen Ehe- und Kirchenordnungen lässt sich die rechtliche Stellung religiös-konfes-
Martin Brecht/Reinhard Schwarz, Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch. Stuttgart 1980. 188 Dedeken, Thesauri consiliorum; Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico, S. 69. 189 Geringer, Die Konfessionsbestimmung bei Kindern, S. 303–316, 304. 190 Synode zu Dordrecht 1579. Vgl. Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 48. 191 Alle Angaben ebd., S. 48–50. 192 Thomasius, Rechtmäßige Erörterung. Thomasius wurde in Sachsen allerdings wegen seiner Äußerungen heftig von der lutherischen Orthodoxie angegriffen. Vgl. Kapitel I.
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sionell gemischter Ehen in protestantischen Herrschaftsgebieten nur über eine Auseinandersetzung mit den Gesetzen und Verordnungen einzelner protestantischer Herrschaftsgebiete erfassen. Zu fragen wird sein, ob die eindeutig ablehnende Haltung protestantischer Theologen gegen Mischehen Eingang in Gesetze zu Ehesachen gefunden hat. Für Gebiete unter katholischer Herrschaft ergibt sich die Frage, wieweit sich der katholische Herrscher in seiner Gesetzgebung zu Mischehen von der offiziellen Position der katholischen Kirche leiten ließ und insbesondere, wie sich bei katholischen Herrschern die Landeshoheit in geistlichen Sachen verhielt.
1.4 Städtisches Recht und Territorialrecht In diesem Abschnitt geht es ausschließlich darum, einen Überblick über die landesherrliche Gesetzeslage zu Mischehen in den größeren Territorien im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation zwischen dem späten 16. und dem frühen 19. Jahrhundert zu geben.193 Die Gründe, die die Herrscher bewogen haben, in diesem Bereich legislativ tätig zu werden und die zwingende Frage nach dem Verhältnis von Staat und Kirche im Umgang mit bekenntnisverschiedenen Ehen, werden in einem eigenen Unterkapitel behandelt. Der erste Punkt landesherrlicher Gesetzgebungstätigkeit bezieht sich auf die Duldung von Mischehen überhaupt und die Bedingungen, die an die Schließung einer gemischtkonfessionellen Ehe geknüpft wurden. Ein weiterer Punkt behandelt die Bekenntniszugehörigkeit von Kindern aus einer Mischehe. Hier werden der Einfluss und die Bedeutung weltlicher Gesetzgebung auf die Gestaltung konfessionell gemischter Ehen am deutlichsten, gibt es in dieser Frage aus theologischer Perspektive doch keine Kompromissmöglichkeiten zwischen den Konfessionen. Allgemein kann folgende Beobachtung gemacht werden: In den ersten Jahrzehnten nach der Reformation entstanden weltliche Gesetze zu Mischehen in Reaktion auf Suppliken von Anhängern der beiden großen Konfessionen, die sich über Einschränkungen in ihrer Religionsfreiheit beklagten.194 Aus obrigkeitlicher Sicht stellte sich das
193 Neben zahlreichen Arbeiten zur Mischehenproblematik, die im 19. Jahrhundert in Reaktion auf den „Kölner Mischehenstreit“ entstanden, sind für einen Überblick grundlegend Kunstmann, Die gemischten Ehen; Roskovany, De Matrimoniis; Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen. Berlin 1838; Johann Kutschker, Die gemischten Ehen vom katholisch-kirchlichen Standpunkte betrachtet. Wien 1842; vgl. u.a. Johann Baptist Kastner, Der große Streit über gemischte Ehen. Regensburg 1838. 194 Für eine Zusammenstellung der Religionsbeschwerden vor den Reichstagen oder dem Corpus Evangelicorum vgl. Christoph Lehmann, De Pace Religionis Acta Publica et Originalia. Das ist:
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Problem religiös gemischter Ehen ebenfalls erst in nachreformatorischer Zeit, als es im Zuge der Konfessionalisierung um die Absicherung und den Ausbau der erreichten Verhältnisse ging. Die Gesetzgebung zu Mischehen fällt damit in den Bereich obrigkeitlicher Konfessionspolitik, die sowohl innerterritorial und inner eligionsbeschwerden über städtisch als auch supraterritorial ausgerichtet war. R die Ausübung von Gewissenszwang gegen einzelne Familienmitglieder einer Mischehe und über Kindsentführungen aus konfessionellen Gründen wurden unter Berufung auf den Augsburger Religionsfrieden von 1555 und den Westfälischen Frieden von 1648 an den Reichstag, den Kaiser und das Corpus Evangelicorum gerichtet und beschäftigten die Reichsgerichte. Doch zunächst zurück zu der unmittelbar nachreformatorischen Zeit. Nach einem knappen Überblick über die Handhabung gemischter Ehen in Reichsstädten folgt eine Zusammenstellung von Landesverordnungen zu Mischehen größerer Territorien im Reich.195
1.4.1 Städte Vor allem in den Reichsstädten, in denen sich die Reformation früh durchsetzte und Katholiken und Protestanten noch auf engstem Raum zusammenlebten, kam es gehäuft zu Religionsstreitigkeiten, die entweder innerstädtisch ausgetragen wurden, oder sich zwischen städtischer Obrigkeit und Territorialherren zutrugen. Die Ratspolitik in religiösen Fragen war auf der einen Seite weitgehend abhängig von der Zustimmung der breiten Stadtbevölkerung. Ein altgläubig besetzter Rat beispielsweise hatte nur geringe Aussichten, seine Religionspolitik gegenüber einer zu großen Teilen evangelischen Bevölkerung durchzusetzen.196 Der Erfolg städtischer Politik war auf der anderen Seite abhängig von der erfolgreichen Verteidigung reichsstädtischer Autonomie gegen den Zugriff eines starken Territorialherrn, von kaiserlichen Gegenmaßnahmen zum Schutz einer Reichsstadt sowie von der im Verlauf der Frühen Neuzeit erreichten Stabilisierung
Verhandlungen, Schriften und Protocollen über die Reichs=Constitution des Religions=Friedens. 3 Bde. Frankfurt a.M. 1707–1710; Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth (Hrsg.), Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des hochpreislichen Corporis Evangelicorum. 3 Bde. Regensburg 1751–1752. 195 In dieser Übersicht ist die Genese der Gesetzgebung in Kursachsen, in der Kurpfalz und im Fürstbistum Osnabrück ausgenommen, da sie im Kontext der Fallstudien, die sich auf diese drei Territorien beziehen, dargelegt wird. 196 Berndt Hamm, Bürgertum und Glaube. Konturen der städtischen Reformation. Göttingen 1996, S. 44.
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städtischer Positionen im Verrechtlichungsprozess der Reichsverfassung.197 Die Reformation bedeutete für das städtische Herrschaftsgefüge im Beziehungsfeld zwischen katholischem Kaiser und Territorialherrn eine große Herausforderung. In der Mehrzahl der Städte schloss sich die Obrigkeit aus unterschiedlichsten Beweggründen und in Folge jeweils stadtspezifischer religiöser und politischer Konstellationen der Reformation an, verhielt sich gegenüber dem Kaiser jedoch defensiv in vollem Bewusstsein der eigenen Schwächen.198 Im Zuge nachreformatorischer Konfessionalisierung ging es auch für die Städte um die Wahrung und den Ausbau der Reformation, beziehungsweise um den Prozess katholischer Konfessionalisierung.199 Ein Mittel städtischer Räte, den Zuzug von Andersgläu-
197 Volker Press, Die Reichsstadt in der altständischen Gesellschaft, in: Johannes Kunisch (Hrsg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (Zeitschrift für Historische Forschung. Beihefte, 3). Berlin 1987, S. 9–42, hier S. 15–16. 198 Zu dem Verhältnis von Reichsstadtreformation und städtischer Reichspolitik vgl. Martin Brecht, Die gemeinsame Politik der Reichsstädte und die Reformation, in: Zeitschrift der SavignyStiftung für Rechtsgeschichte. Kan. Abt. 94 (1977), S. 180–263, Georg Schmidt, Der Städtetag in der Reichsverfassung. Eine Untersuchung zur korporativen Politik der Freien und Reichsstädte in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 113). Wiesbaden 1984; Press, Die Reichsstadt in der altständischen Gesellschaft. Für reichsstädtische Privilegien nach der Reformation allgemein vgl. Gerhard Pfeiffer, Der Augsburger Religionsfrieden und die Reichsstädte, in: Zeitschrift des Historischen Vereins für Schwaben 61 (1955), S. 213–321. Eine hervorragende Studie über den Einfluss verschiedener inner- und außerstädtischer Faktoren auf den Verlauf der Reformation hat Robert W. Scribner verfasst: Robert W. Scribner, Civic Unity and the Reformation in Erfurt, in: Past and Present 66 (1975), S. 29–60; Für eine neuere Einführung vgl. Hamm, Bürgertum und Glaube und ders., The Urban Reformation in the Holy Roman Empire, in: Thomas A. Brady u.a. (Hrsg.), Handbook of European History 1400–1600. Bd. 2: Late Middle Ages, Renaissance and Reformation. Leiden u.a. 1995, S. 193–227; Für grundlegende Forschungsüberblicke vgl. Hans-Christoph Rublack, Forschungsbericht Stadt und Reformation, in: Bernd Moeller (Hrsg.), Stadt und Kirche im 16. Jahrhundert (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 190). Gütersloh 1978, S. 9–26; Kaspar von Greyerz, Stadt und Reformation: Stand und Aufgaben der Forschung, in: Archiv für Reformationsgeschichte 76 (1985), S. 6–63; Bernhard Rüth, Reformation und Konfessionsbildung im städtischen Bereich. Perspektiven der Forschung, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 7 (1991), S. 197–282; Zu den Klassikern der Reformation in den Städten zählen immer noch die Werke von Steven Ozment, The Reformation in the Cities. The Appeal of Protestantism to Sixteenth-Century Germany and Switzerland. New Haven/London 1975; Bernd Moeller, Reichsstadt und Reformation. Überarb. Ausg. von 1962, Berlin 1987; Zu Reichsstädten, in denen die Reformation erst in den 1560er Jahren einsetzte und die hierfür geprägte Begrifflichkeit der ‚Spätreformation‘ vgl. Kaspar von Greyerz, The Late City Reformation in Germany. The Case of Colmar, 1522–1628 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, 98. Wiesbaden 1980). 199 Vgl. den Abschnitt zu „Stadt und Konfessionsbildung/Konfessionalsierung“ in Rüth, Reformation und Konfessionsbildung, S. 266–282. Für Beispiele katholischer Konfessionalisierung in
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bigen und die Eingehung von Mischehen zu verhindern oder nach eigenem Interesse zu beeinflussen, bestand in der Verknüpfung des Bürgereids mit einem Konfessionsbekenntnis.200 Wurde der Eid nicht abgelegt, wurden die Betroffenen vom Bürgerrecht ausgeschlossen. Während die Verweigerung des Bürgerrechts für Andersgläubige mittelbar Einfluss auf Mischehen hatte, da sie faktisch eine solche Verbindung erschwerten, wurde von einigen Stadträten das Bürgerrecht direkt entzogen, wenn eine Mischehe geschlossen wurde. Das Verhältnis von Bürgerrecht und konfessionell gemischter Ehe sowie die Verweigerung des Bürger rechts als konfessionspolitisches Instrument werden im Folgenden ergänzend betrachtet.201 Zahlreiche norddeutsche Städte hatten im 16. Jahrhundert ein Verbot erlassen, Personen aufzunehmen, die in ihrer Auffassung von den Sakramenten der Taufe und des Abendmahls nicht mit der Lehre Luthers übereinstimmten.202 Vor
Reichsstädten vgl. Wilfried Enderle, Rottweil und die katholischen Reichsstädte, in: Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Rottweil und die katholischen Reichsstädte, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993, S. 214–230, hier S. 225–230. 200 Johann Jacob Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen (Neues Teutsches Staatsrecht, 15). ND der Ausg. Leipzig 1773, Osnabrück 1967, S. 487–488; ders., Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 90–93. Zum Bürgereid und zur Verleihung des Bürgerrechts allgemein vgl. Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Spätmittelalter: 1250–1500. Stadtgestalt, Recht, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft. Stuttgart 1988, S. 74–209 (mit Literatur zu Recht und Verfassung von Städten); Wilhelm Ebel, Der Bürgereid als Geltungsgrund und Gestaltungsprinzip des deutschen mittelalterlichen Stadtrecht. Weimar 1958; für ein weiteres Mittel frühneuzeitlicher Konfessionsverpflichtung vgl. auch die Pflicht lutherischer Staats- und Kirchendiener, ein öffentliches Glaubensbekenntnis abzulegen: Klaus Schreiner, Rechtgläubigkeit als „Band der Gesellschaft“ und „Grundlage des Staates“. Zur eidlichen Verpflichtung von Staats- und Kirchendienern auf die „Formula Concordiae“ und das „Konkordienbuch“, in: Martin Brecht/Reinhard Schwarz (Hrsg.), Bekenntnis und Einheit der Kirche. Studien zum Konkordienbuch. Stuttgart 1980, S. 351–379. 201 Für die Bedeutung des Eids als Treuegelöbnis am Übergang vom Mittelalter zur Frühen Neuzeit sowie die Bedeutung von Eid und Bekenntnisbindung während der Konfessionalisierung vgl. die Beiträge in Paolo Prodi, Glaube und Eid (Schriften des Historischen Kollegs Kolloquien 28). München 1993. 202 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 52. Die Auseinandersetzungen um das Interim führten vor allem auch im städtischen Bereich zu einer erneuten Zuspitzung der konfessionellen Konflikte. Wolf-Dieter Hausschild, Zum Kampf gegen das Interim in norddeutschen Hansestädten, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 84 (1973), S. 60–81. Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 2, S. 242. Heinz Schilling, Die politische Elite nordwestdeutscher Städte in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts, in: Wolfgang J. Mommsen u.a. (Hrsg.), Stadtbürgertum und Adel in der Reformation/The Urban Classes, the Nobility and the Reformation (Publications of the German Historical Institute London, 5). Stuttgart 1979, S. 235–308; Olaf Mörke, Rat und Bürger
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dem Reichstag in Regensburg 1594 warfen die katholischen Ständen den Anhängern der Augsburgischen Konfession vor, dass in „vielen unterschiedlichen Städten [...] da keiner als zur Augsburgischen Confession geschworener Bürger angenommen, kein Catholischer geduldet, sondern zu allen Aemtern und Ehren für untüchtig erachtet, auch von männiglich angefeindet, jämmerlich verfolgt, zum Land hinaus gewiesen werden werden“.203 Auch die katholischen Reichsstädte im Südwesten des Reiches verlangten in der zweiten Jahrhunderthälfte von Neubürgern im Bürgereid erstmals das Bekenntnis zur alten Kirche.204 In den Religionsbeschwerden, die vor die verschiedenen Reichstage im 16. Jahrhundert gebracht wurden, spielte der Entzug des Bürgerrechts aus konfessionellen Gründen eine zentrale Rolle.205 Vor allem Städte, die von starken innerstädtischen konfessionellen Konflikten geprägt waren und von außen unter Druck gesetzt wurden, darunter Donauwörth, Straßburg und Köln, verfolgten eine besonders rigide Bürgerrechtspolitik und wandten sich gegen Mischehen. Die Stadt Donauwörth ließ am 5. Januar 1602 eine Proklamation über die zukünftige Vergabe des Bürgerrechts verkünden. Während in der Vergangenheit allein die Ehe mit einer Bürgerstochter Auswärtige für die Verleihung des Bürgerrechts qualifizierte, sollten jetzt „Ansehen und Gelegenheit ihres Herkommens, Standes und Vermögens, Wesens, Handthierung, Gesundheit, Persohn und Alters für Bürger anzunehmen“ ausschlaggebend sein, um die gemeine Bürgerschaft „vor Unglaube und Abfall“ zu bewahren.206 Diese Maßnahme war nur eine weitere Zuspitzung langjähriger Auseinandersetzung zwischen dem evangelischen Stadtrat und dem Abt zum Heiligen Kreuz um die Religionsausübung der Katholiken an der Klosterkirche.207 Der Bischof von Augsburg wandte sich erneut mit einer Beschwerde an den kaiserlichen Hof, worauf ein Abgesandter des Donauwörther Rats zum Kaiser zitiert wurde. Diesem warf Rudolph II. in einem Dekret vom 28. Februar
in der Reformation. Soziale Gruppen und kirchlicher Wandel in den welfischen Hansestädten Lüneburg, Braunschweig und Göttingen (Veröffentlichungen des Instituts für historische Landesforschung der Universität Göttingen, 19). Hildesheim 1983. 203 Der Catholischen Stände Ablaynungs-Schrifft auff der angebenden Augsburgischen Confession verwander Stände übergebene Beschwerungs Puncten, An. 1594, in: Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 1, S. 225–232, hier S. 227. 204 Wilfried Enderle, Rottweil und die katholischen Reichsstädte, S. 228. 205 Vgl. Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 1, S. 79–253. 206 Martin Meyer Londorp, Acta Publica, oder allerhand denckwürdige schriftliche Handlungen. 4. Bde. Überarb. Ausgabe von 1665, Frankfurt/Leipzig 1739, Bd. 1, 2. Buch, S. 99–100. 207 Cölestin Königsdorfer, Geschichte des Klosters zum heiligen Kreuz in Donauwörth. 8 Bde. Bd. 2. Donauwörth 1825, S. 209.
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1606 vor, Bürgern, die sich mit Katholiken verheirateten oder konvertierten, das Bürgerrecht zu entziehen: Ja/damit ihr euere ohnbefugte Intention und gefaßten bösen Vorsatz wider die Catholische noch mehr männiglich zu erkennen gebet/und offenbahr machet: So thät ihr euch doch anmassen/euern immatriculirten Mit=Burgern und derselben Kindern/aus Ursachen/, daß die sich etwa zu Catholischen verheurathen/oder sonsten zu derselben Religion begeben/ ohne alles anders verwürcken/ihr Bürger=Recht abstriten/dieselbe aus der Matricul verwerffen/und gleichsam atrocissime delinquentes und Ubelthäter aus der Stadt schaffen/ hingegen aber euers eigenen Gefallens/nicht allein aus den Dörffern/sondern auch so gar von andern Orten vertriebene Leute in die Stadt an= und auffgenommen.208
In der evangelischen Reichsstadt Straßburg war gesetzlich festgelegt, dass eine Mischehe nur geschlossen werden durfte, wenn in Eheverträgen die Erziehung aller Kinder in der evangelisch-lutherischen Religion zugesichert worden war. Bei Verletzung eines solchen Ehevertrages wurde das Bürgerrecht entzogen.209 In der Stadt Worms wurde im Zusammenhang mit der Aufnahme von Reformierten ein Konkordat errichtet, wonach die Trauung einer gemischten Ehe nur in der lutherischen Kirche stattfinden durfte. Eheverträge, die die evangelisch-lutherische Konfession benachteiligten, wurden für ungültig erklärt. 1718 wurden gemischte Ehen vom Rat der Stadt gänzlich verboten. Aufgrund des Einspruchs des Corpus Evangelicorum wurde schließlich 1725 beschlossen, im Einzelfall eine Dispens für die Eheschließung zu erteilen.210 In Beschwerden auf dem Reichstag in Augsburg 1598 klagten die Protestanten wiederum, dass viele katholische Städte „ihre Bürger Eyd wider ihre alte Herkommen geändert und geschärpfft, dass ein jeder der zum Bürger angenommen werden soll, außtrücklich schweren muss der Röm. Religion zu sein“.211 Der Rat der Stadt Köln befahl 1554 allen Nichtkatholiken, Köln zu verlassen.212 1569 befahl der Rat „dass jeder, der sich in Köln niederlassen oder bei Bürgern und Wirten in Herbergen angenommen werden wollte, einen Nachweis seines
208 Meyer Londorp, Acta Publica, S. 163–165, hier S. 164. 209 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 94. Vgl. zu Straßburg im nachreformatorischen Zeitalter auch Erdmann Weyrauch, Konfessionelle Krise und soziale Stabilität. Das Interim in Straßburg (1548–1562) (Spätmittelalter und Frühe Neuzeit, 7). Stuttgart 1978; Lorna Jane Abray, The People’s Reformation, Magistrates, Clergy, and Commons in Strasbourg, 1500–1598. Oxford 1985. 210 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 88. 211 Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 1, S. 242 (Reichstag zu Regensburg 1598). 212 Stehkämper, Hugo (Hrsg.): Kölner Neubürger 1356–1798. 4 Bde., bearb. von Hugo Stehkämper (1356–1577) und Gerd Müller (1578–1798). 1. Tl.: Neubürger 1356–1640. Köln 1975 (Mitteilungen aus dem Stadtarchiv von Köln, 61. Heft), S. 36.
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früheren Aufenthaltsortes beizubringen hatte“.213 Aus diesem Nachweis musste ersichtlich sein, dass er katholisch war und warum er seinen vorigen Aufenthaltsort verlassen hatte. Die Kontrolle wurde in den folgenden Jahren dadurch verschärft, dass Vertrauensmänner eingesetzt wurden, die diejenigen auffinden sollten, die noch nicht den Eid „katholisch, als Bürger in Eid und Pflicht genommen“, geleistet hatten.214 „Unvereidete“ sollten gezwungen werden, innerhalb von 14 Tagen den Eid zu leisten oder mit ihrer Familie die Stadt zu verlassen. Bis zum Jahr 1703 weisen die Kölner Qualifikationsbücher nach, dass die Kölner Neubürger sämtlich katholisch waren; danach wurden sie nicht weitergeführt. Hinweise in den Ratsprotokollen weisen jedoch aus, dass bis 1797 der katholische Glaube die Voraussetzung für den Erwerb des Bürgerrechts darstellte. Köln sprach den Töchtern von Bürgern das Bürgerrecht ab, wenn sie sich mit „andern als der Röm. Religions-Verwandten verheurathen“.215 Dass diese Verfahrensweisen von Kölner Bürgern nicht ohne Protest hingenommen wurden, konnte die Untersuchung von Prozessen vor dem Reichskammergericht, die von Untertanen angestrengt wurden, zeigen.216 Das nachfolgende Beispiel unterstreicht, welchen Stellenwert die Verleihung des Bürgerrechts als konfessionspolitisches Instrument auch nach 1648 in der Praxis noch haben konnte, verdeutlicht gleichzeitig jedoch den Machtverlust der Reichsstädte im 17. Jahrhundert. Im Jahr 1669 ging ein Schreiben an den Reichstag zu Regensburg mit der Beschwerde, dass die evangelische Reichsstadt Leutkirch mittels wirtschaftlicher Repressalien durch den Landvogt zu Schwaben und den Prälaten zu Weingarten gezwungen wurde, Katholiken das Bürgerrecht zu verleihen. Bürgermeister und Rat der Stadt verwiesen auf die „auch bey dergleichen dicto loco beschriebenen Reichs=Städten durchgehender Observanz, die Aufnahme Catholischer Bürger ihrem freyen Willen und Disposition überlässet“.217 Zwei Jahre später erfolgt ein weiteres Bittschreiben in gleicher Sache, in dem unter Berufung auf den Westfälischen Frieden nochmals darauf verwiesen wird, dass Reichstädte nicht gezwungen
213 Ebd. 214 Ebd., S. 36–37. 215 Lehmann, De Pace Religionis, Bd 1, S. 242 (Reichstag zu Regensburg 1598). 216 Bernhard Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555–1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 28). Köln u.a. 1996, bes. S. 75–259, darunter auch ein Prozess anlässlich des Streits wegen auswärtiger Eheschließung und Kindstaufe. 217 Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Schreiben und anderer übrigen Verhandlungen des hochpreißlichen Corporis Evangelicorum. 3 Bde., hrsg. v. Eberhard Christian Wilhelm von Schauroth. Regensburg 1751–1752, Bd. 2, S. 104–105.
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werden können, andere Glaubensgenossen in das Bürgerrecht aufzunehmen.218 Die Vergabe des Bürgerrechts schien selbst im 18. Jahrhundert in einigen Städten und Territorien noch ein konfessionspolitisches Instrument gewesen zu sein. In der Erneuerung der Privilegien der Stadt Ludwigsburg wurde 1752 wiederholt, dass nur Angehörige der evangelisch-lutherischen Konfession das Bürgerrecht erhalten durften. Hessen-Kassel verbot 1754 die Aufnahme von Katholiken in das Bürgerrecht, das Herzogtum Württemberg erließ in gleicher Zeit einen Revers, in dem die Kommunen verpflichtet wurden, keine anderen Religionsangehörigen aufzunehmen.219 In beiden Territorien verfolgten die protestantischen Stände – mit Unterstützung protestantischer Mächte – eine vergleichsweise starke konfessionspolitische Linie zum Schutz ihrer Glaubensverwandten und in Abgrenzung zu ihren zum Katholizismus konvertierten Landesherren.220 Erst im Jahr 1806 wurde in einem „Königlich Württembergischen Gesetz betreffend die ReligionsUebung der christlichen Religions=Partheien“ Angehörigen anderer christlicher Konfessionen die freie Religionsübung gestattet und der Ausschluss vom Bürgerrecht zurückgenommen. Die Verschiedenheit des christlichen Glaubensbekenntnisses schließt in Zukunft die Königl. Unterthanen von der Aufnahme in das Bürgerrecht eines Orts nicht mehr aus, sondern jeder Unterthan, der einer der drei christlichen Glaubenskonfessionenen zugethan ist, kann, wenn er die übrigen gesetzlichen Vorschriften in sich vereinigt, die Aufnahme als Bürger eines Orts, und den vollen Genuß der davon abhängenden bürgerlichen Rechte erwarten.221
Ähnlich wie die Reichsstädte sprachen sich im ersten nachreformatorischen Jahrhundert einzelne Landesherren im Zuge von Konfessionalisierungsbestrebungen gegen konfessionell gemischte Ehen aus. In der evangelisch-lutherischen Mark-
218 Ebd., S. 105–106, 106. 219 Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen, S. 487–488. Es gibt allerdings schon im späten 17. Jahrhundert Gegenbeispiele, die sich aber vor allem auf ausgesprochen gemischtkonfessionelle Regionen wie Jülich-Kleve-Berg beziehen. Eine umfassende Untersuchung aus konfessionspolitischer Sicht steht noch aus. 220 Dieter Stievermann, Politik und Konfession im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991), S. 177–199, hier S. 188–191. Zur Forderung von Religionsreversalien zum Schutz der protestantischen Landeskonfession in Württemberg durch die Stände vgl. Hermann Tüchle, Die Kirchenpolitik des Herzogs Karl Alexander von Württemberg (1733–1737), Würzburg 1937, bes. S. 33–49. 221 Königlich Württembergisches Gesetz, betreffend die Religions=Uebung der christlichen Religions=Partheien vom 15. Oktober 1806, in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen. Berlin 1838, S. 20–23, hier S. 21–22.
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grafschaft Baden-Durlach beispielsweise verlangte ein Schreiben an die Beamten des Unterlandes 1606 unter Verweis auf ältere in Vogtbüchern, Mandaten und Ordnungen enthaltene Verbote, die Kinder nicht an ausländische Orte und nicht mit Personen zu verheiraten, die „so den widrigen religionen zugethan“ seien.222 Weiter wurden die Beamten angewiesen, bei einer Eheanbahnung konfessionsverschiedener Untertanen Eltern und Kinder vor den Ortspfarrer zu zitieren und eindringlich vor den Folgen einer solchen Ehe für das Seelenheil und das religiöse Gewissen zu warnen. Ende des 18. Jahrhunderts wurde katholischen Untertanen noch immer die evangelische Erziehung aller in der Ehe mit einer Lutheranerin gezeugten Kinder abverlangt, um eine Ehedispens sowie das Bürgerrecht einer Stadt zu erhalten. In der Markgrafschaft Baden wurde 1794 einem katholischen Bäckermeister, der eine Lutheranerin ehelichen wollte, das Bürgerrecht für die Stadt Durlach nur unter der Bedingung zuerkannt, dass alle zukünftigen Kinder gemäss des Landesgesetzes zu Mischehen evangelisch erzogen würden.223 Falls eine Mischehe trotz ausdrücklicher Einflussnahme lokaler Amtsträger nicht verhindert werden konnte, entstanden eine ganze Reihe von praktischen Problemen, die einer gesetzlichen Regelung bedurften. Gegenstand von Landesverordnungen zu Mischehen war die Zuständigkeit für die Trauung, der Ort der Proklamation, der Gerichtsstand, die Taufe zu erwartender Kinder und schließlich die Kindererziehung. Der Inhalt dieser Verordnungen lässt sich kaum verallgemeinern, da die Gesetzgebung partikularrechtlich bestimmt war und auf besondere lokale oder regionale konfessionelle Verhältnisse reagierte. Nach Moser lassen sich für die Zeit nach 1648 dennoch einige allgemeine Tendenzen festmachen. Gemäß der Landeshoheit in Religionssachen war der Kultus der offiziellen Landeskonfession ausschlaggebend für die formale Eheschließung sowie die spätere Taufe von Kindern, die nur geduldeten Anhänger einer anderen Konfession mussten sich fügen oder konnten von dem Recht der Auswanderung (ius emigrandi) Gebrauch machen. In Territorien, in denen Anhänger verschiedener Bekenntnisse zu öffentlicher Religionsübung berechtigt waren, erfolgte die Proklamation in der Regel in den Kirchen beider Eheleute. Was die Trauung einer gemischten Ehe in einem Territorium, in dem „beederley Religionen eingeführet seynd“, angeht, „pfleget an einigen Orten der Bräutigam der Braut Religion zu
222 Kurt Wüstenberg, Evangelisches Eheschließungsrecht in der Markgrafschaft Baden-Durlach. Seine Gestaltung und Entwicklung in den ersten eineinhalb Jahrhunderten nach der Einführung der Reformation (1556–1700) (Veröffentlichungen des Vereins für Kirchengeschichte in der Evangelischen Landeskirche in Baden, XLIV). Karlsruhe 1991, S. 310. 223 Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 74/6850 (4. Oktober 1794).
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folgen, an andern aber die Braut des Bräutigams“.224 Wo aber nur der Privatgot tesdienst für die Anhänger einer Konfession gestattet war, wurde die Trauung in der Regel durch einen Geistlichen der Landeskonfession vollzogen. An anderer Stelle schrieb Moser allerdings, dass ein Landesherr zwar „zur Erhaltung guter Zucht und Ordnung“ die Trauung vorschreiben könne, allerdings dürfe er nichts verlangen, was den Lehrsätzen der anderen Glaubensangehörigen „zuwider wäre“.225 Gleiches galt für die Taufe.226 Mosers Bemerkung, dass niemand gezwungen werden durfte, bei einer Geburt eine Hebamme anderer Konfession zu rufen, deutet weitere Konfliktpotentiale an. Durch die Taufe, zu der die Hebamme in einer Notsituation berechtigt war, konnten Weichen für die spätere Konfession des Kindes gegen den Willen zumindest eines Elternteils gestellt werden.227 In der Praxis weigerten sich viele Geistliche, bei der Trauung einer Mischehe die Einsegnung vorzunehmen, da die Ehe in den Augen aller drei Kirchen unerlaubt war, was der Gültigkeit allerdings keinen Abbruch tat. In Einzelfällen wurde den Brautleuten die Trauung durch einen Geistlichen der geduldeten Konfession erlaubt oder außerhalb der Landesgrenzen zugestanden. Die Kindererziehung orientierte sich ebenfalls an der Landeskonfession, es sei denn, die Brautleute konnten aufgrund einer speziellen Verordnung die Kindererziehung selbständig in einem Ehevertrag bestimmen. In vielen Territorien hatte sich der auch auf Reichsebene anerkannte Brauch durchgesetzt, die Kindererziehung geschlechtsspezifisch auszurichten, um so die Gleichheit der Konfessionen in der Familie zu gewährleisten. Es ist äußerst interessant, dass gerade dieser Grundsatz im 19. Jahrhundert in den meisten Territorien zu Gunsten einer ausschließlich an der Konfession des Vaters orientierten Festlegung aufgegeben wurde und die konfessionelle Einheit statt Parität innerhalb der Familie allein ausschlaggebend war.228 Das 18. Jahrhundert weist die größte Dichte gesetzgeberischer Aktivitäten zur Handhabung von Mischehen auf, während das 17. Jahrhundert gekennzeichnet ist von Klagen der Geistlichen verschiedener Konfessionen über Missbräuche und Unklarheiten im Umgang mit Mischehen.229 Im Folgenden wird die Gesetzgebung einzelner Territorien exemplarisch vor dem Hintergrund der jeweiligen konfessionellen Verhältnisse vorgestellt. Die Darstellung folgt im Uhrzeigersinn in etwa der geographischen Lage der einzelnen Territorien, ausgehend vom Südosten
224 Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen, S. 446. 225 Ebd., S. 482. 226 Ebd., S. 441–442. 227 Ebd., S. 484. Auf dieses Phänomen wird näher in der Fallstudie zur Kurpfalz eingegangen werden. 228 Vgl. unten. 229 Exemplarisch dazu unten in den Fallstudien zur Kurpfalz und zu Kursachsen.
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des Reiches230 und stellt schwerpunktmäßig die Gesetze und Verordnungen des 18. und frühen 19. Jahrhunderts vor.231 Bei ausgewählten Gesetzen wird der Wortlaut wiedergegeben, um einen Einblick in die Argumentation und Begründung der Verordnungen zu gewähren. Am 4. Mai 1711 erließ Christian Ernst, Markgraf zu Brandenburg-Kulmbach, eine Verordnung, in der die Religionsübung der deutsch und französisch Reformierten, der Lutheraner und der Katholiken seines Territoriums sowie die Zuständigkeit bei der Eingehung einer Mischehe festgelegt wurden. In den beiden Markgrafenstaaten Brandenburg-Ansbach und Brandenburg-Kulmbach/Bayreuth hatte der Westfälische Frieden das Luthertum als offizielle Landesreligion bestätigt.232 Konfessionspolitisch aufschlussreich sind die unterschiedlichen Bedingungen, die je nach konfessioneller Zusammensetzung an das Zustandekommen einer Mischehe geknüpft wurden: Wenn unter den Eheleuten keine Verträge diesfalls vorhanden, welchen sonst nachzukommen wäre, das Haupt der Familie dergestalt angesehen werden soll, daß, wenn der Mann französisch=reformiert, er auch bei solcher Kirche das Kirchenrecht suchen, die Teutsch=Reformierten aber bei der teutsch=reformierten Gemeine das ihrige nehmen, und da das Haupt der Familie lutherischer Religion, auch bei der lutherischen Kirche die kirchlichen Akte gesucht und begangen werden sollen. Was aber die der päpstlichen Religion zugethanenen betrifft, welche entweder dermalen schon in Christian Erlangen wohnen, oder künftig an eine der evangelisch=lutherischen oder reformirten Religion anhängige Manns= oder Weibsperson sich dahin verheirathen, und sofort sich allda festsetzen werden, die sollen zwar für sich bei ihrer Religion und Gewissensfreiheit verbleiben, und ihren Gottesdienst außerhalb der Stadt in katholischen Kirchen ungehindert besuchen, dabei aber schuldig und gehalten sein, nicht allein alle Aktus, als Taufen, Kopulieren und Begräbnisse bei der evangelisch=lutherischen Kirche und Gemeine in Christian=Erlang verrichten, sondern auch ihre Kinder beiderlei Geschlechts allstets bei der evangelischen Religion allda erziehen und unterrichten zu lassen, sie zur Kirche und Schule fleißig zu halten, und daran im Geringsten nicht zu hindern.233
230 Brandenburg-Kulmbach, Pfalz-Sulzbach, Bayern, Württemberg, Baden-Durlach, Baden, Zweibrücken, Kurmainz, Kurköln, Kurtrier, Nassau-Weilburg, Hessen-Kassel, Hessen-Darmstadt, Oettingen, Hanau, Bistum Münster, Braunschweig-Lüneburg, Hannover, Holstein, Mecklenburgische Herzogtümer, Jülich, Kleve, Berg, Kurbrandenburg, Preußen, Schlesien, Anhalt, Sächsische Herzogtümer. 231 Wo Gesetze aus dem 17. Jahrhundert überliefert sind, finden diese Berücksichtigung. 232 Manfred Rudersdorf, Brandenburg-Ansbach/Bayreuth, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 1: Der Südosten. 2. verb. Aufl. Münster 1989, S. 10–30. 233 Corpus Constitutionis Brandenburgensis Culmbac. Bayreuth 1748. Th. II Bd. II, 669. Abgedruckt in Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 86–87.
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Pfalz-Sulzbach, bis zum Kölner Vergleich 1652 Landesteil des katholischen Fürstentums Pfalz-Neuburg, wurde gemäß der Normaljahresregelung im Westfälischen Friedensvertrag der evangelisch-lutherischen Konfession zugesprochen. Kinder gemischter Ehen sollten in der lutherischen Konfession erzogen werden, auch wenn in der Praxis die Erziehung zumeist nach Geschlecht erfolgte. 1656 wurde in Pfalz-Sulzbach nach längeren Religionskonflikten das Simultaneum eingeführt.234 1682 erließ der Pfalzgraf eine Verordnung, in der bestimmt wurde, dass alle Protestanten, die eine Frau katholischen Glaubens heiraten wollten, einen Revers unterzeichnen mussten, in welchem sie sich verpflichteten, alle Kinder katholisch zu erziehen. Damit wurde das bis dahin gültige Recht des Vaters, über die religiöse Konfession der Kinder zu bestimmen sowie das Recht der Eheleute, in Eheverträgen selbstständig über die Konfession ihrer Kinder zu entscheiden, zu Gunsten der katholischen Konfession aufgehoben.235 Die evangelischen Untertanen legten heftige Beschwerde gegen diese Bestimmungen ein. Besonders den Söhnen falle es sehr schwer, einer anderen Konfession als der des leiblichen Vaters angehören zu müssen. Viele würden nach Erreichen der annos discretionis zum evangelischen Glauben konvertieren und wären deswegen Repressionen ausgesetzt. Selbst Anhänger der lutherischen Konfession, die vor mehreren Generationen konvertiert waren, würden nun des Landes verwiesen.236 In Reaktion auf diese Beschwerden erließ Pfalzgraf Theodor von Sulzbach am 7. April 1708 eine Religionsversicherung für seine lutherischen Untertanen, in der er noch einmal die mit der Einführung des Simultaneum gewährte Religionsfreiheit garantierte. Die von den Protestanten geforderte Errichtung eines Konsistoriums lehnte er jedoch mit dem Verweis ab, dass dies als eine „gefährliche Neuerung“ anzusehen sei, aus der „viel Ungemach und Unfug künfftig zukommen möchte“. Für seine Regierungsbildung sicherte er zu, zwei Räte Augsburgischer Konfessionszugehörigkeit berücksichtigen zu wollen.237 Die Religionsbeschwerden in Pfalz-Sulzbach rissen allerdings nicht ab und die Protestanten erfuhren Unterstützung durch das Corpus Evangelicorum, den König von Preußen, sowie einzelne Reichsfürsten, den Kurfürsten von Braunschweig-Lüneburg sowie die Markgräflichen Häuser in
234 Franziska Nadwornicek, Pfalz-Neuburg, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 1: Der Südosten. 2. verb. Aufl. Münster 1989, S. 44–55, hier S. 54. 235 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchenhistorie, 11. Kapitel, § 5. 236 Religionsbeschwerden der Protestanten in Pfalz-Sulzbach. Abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 43–45. 237 Des Pfalz=Grafen Theodor zu Sulzbach Versicherungen an die evangelischen Unterthanen v. 7. April 1708 auf die Religionsbeschwerden derselben, in: Electa juris publici T. XI, S. 956 ff. Abgedruckt in: ebd., S. 43–50, hier S. 46.
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Franken. Der Markgraf von Brandenburg-Kulmbach schrieb am 8. September 1717 an den Pfalzgrafen, kritisierte die Regelung zur Kindererziehung in Mischehen und forderte ihn auf, die Religionsfreiheit zu respektieren und den Westfälischen Frieden nicht weiter zu verletzen. In seinem Antwortschreiben vom 14. Oktober rechtfertigte Pfalzgraf Theodor sein Gesetz damit, dass so „vermischte Ehen so viel möglich möchten vermieden werden“.238 Am 6. April 1723 verordnete Pfalzgraf Theodor schließlich, dass alle Kinder ausnahmslos in der Konfession des Vaters erzogen werden sollten.239 Das Herzogtum Bayern, dass am Ende des 30-jährigen Kriegs die Oberpfalz und damit die Kurwürde erhielt, hatte beim Regierungsantritt Wilhelms V. (1548– 1626) 1579 bereits einen weitgehend konfessionell homogenen Herrschaftsraum ausgebildet. Das Herzogtum spielte im Verlauf der frühen Neuzeit eine zentrale Rolle in der katholischen Konfessionalisierung über das eigene Territorium hinaus.240 In nichtkatholischen Landesteilen wie der Oberpfalz wurde sich um eine intensive Rekatholisierung der Bevölkerung bemüht.241 Erst mit dem Toleranzedikt von 1803 wurde allen christlichen Konfessionen die öffentliche Religionsausübung gestattet. Ein königlich bayerisches Edikt vom 24. März 1809 regelte die religiöse Unterweisung der Kinder einer gemischten Ehe. Ausschlaggebend für die Kindererziehung waren Eheverträge, in denen die Eltern selbstständig über die Konfession ihrer Kinder bestimmen durften. Fehlten derartige Verträge, so sollte die Erziehung nach Geschlecht erfolgen.242 Durch den Westfälischen Frieden wurde das Territorium des Herzogtums Württemberg, das bis zum Friedensschluss einer der Hauptkriegsschauplätze der gegnerischen Heere war, vollständig wiederhergestellt und die evangelisch-
238 Electa juris publici T. XI, S. 962 und 964. Abgedruckt in: ebd., S. 49. 239 Christian Jacob von Zwierleins: Nebenstunden. 2 Tle. Tl. 1. Giessen 1778, S. 180. 240 Walter Ziegler, Typen der Konfessionalisierung in katholischen Territorien Deutschlands, in: Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung. Münster 1995, S. 405–418, hier S. 406. 241 Ders., Bayern. In: Bayern, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 1: Der Südosten. 2. verb. Aufl. Münster 1989, S. 56–70, hier S. 67–68. 242 Königlich Baierisches Edikt über die äußeren Rechts=Verhältnisse der Einwohner des Königreichs Baiern, in Beziehung auf Religion und kirchliche Gesellschaften, zur nächsten Bestimmung der §§ VI und VII. des ersten Titels der Konstitution. 3. Kapitel: Religionsverhältnisse der Kinder aus gemischten Ehen. Abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 5–6. Am 26. Mai 1818 wurde das Gesetz wiederholt: ebd., S. 7–8.
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lutherische Kirche als Landeskonfession bestätigt.243 Württemberg hatte seit 1555, nicht zuletzt durch die Ausstrahlung und den Einfluss der Tübinger Universität und ihrer Theologen, die führende Rolle in der evangelischen Reichs- und Konfessionspolitik von Kursachsen, dem Mutterland der Reformation, übernommen.244 Wie Kursachsen verfolgte Württemberg bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation eine strenge Linie im Umgang mit gemischten Ehen. Nach Maßgabe der Eheordnung von 1687 durfte keine Mischehe im Lande getraut werden. Dem evangelischen Teil der Brautleute wurde angeraten, sich von einem evangelischen Pfarrer außer Landes trauen zu lassen und die Kinder evangelisch zu erziehen.245 Am 15. Oktober 1806 wurde ein Religionsedikt erlassen, das erstmals allen drei Konfessionen im Lande die volle Religionsfreiheit gewährte. Dieses Edikt befasste sich auch mit Mischehen. Die Einsegnung der Ehe sollte ohne vorherigen Dispens durch den Pfarrer des Bräutigams erfolgen, konnte jedoch aus Gewissensgründen durch den Pfarrer der Braut nachgeholt werden. Die Kinder aus diesen Ehen sollten in der Religion des Vaters erzogen werden. Den Eheleuten war die Abfassung anderslautender Eheverträge erlaubt, allerdings mit der Einschränkung, dass alle Söhne, falls der Vater evangelischlutherisch war, in der Religion des Vaters erzogen werden mussten. Diese Bestimmung wurde in einem Geheimen Raths-Erlass vom 14. März 1817 aufgehoben.246 Eheverträge waren nur gültig, wenn sie vor der Obrigkeit des Ehemannes abgeschlossen worden waren.247 Für die Markgrafschaft Baden-Durlach brachte der Westfälische Frieden den Zustand des Jahres 1618 und bestätigte die evangelisch-lutherische Konfession. Im benachbarten Baden wurde durch den Westfälischen Frieden die Konsolidie-
243 Hermann Ehmer, Württemberg, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993, S. 168–192, hier S. 189. 244 Manfred Rudersdorf, Lutherische Erneuerung oder Zweite Reformation? Die Beispiele Württemberg und Hessen, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195). Gütersloh 1986, S. 130–153, hier S. 133, 140. 245 Eheordnung Württemberg 1687, in: Reyscher, Sammlung der württembergischen Gesetze. Bd. 3. 246 Geheimer Raths-Erlass vom 14. März 1817 (Regierungsblatt, 1817, Nr. 17, S. 131), in: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 11, Anm. 1. 247 Königlich Württembergisches Gesetz, betreffend die Religions=Uebung der christlichen Religions=Partheien vom 15. Oktober 1806, in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 20–23, hier S. 22.
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rung der katholischen Kirche festgeschrieben.248 Die räumliche Nähe der beiden Territorien erschwerte die angestrebte Trennung der Konfessionen im Alltag und provozierte auch im 18. Jahrhundert eine Reihe von Verordnungen, die Fragen nach der Konfession von Dienstboten oder der Seelsorge Andersgläubiger durch einen Geistlichen der eigenen Konfession im Krankheits- und Sterbefall regeln mussten.249 Regelungsbedarf riefen auch wiederholte und häufig beklagte Streitfälle in Mischehen hervor. Am 20. Januar 1701 verordnete Friedrich VII Magnus (1647–1709), Markgraf von Baden-Durlach, dass die Einsegnung einer Ehe zwischen einem Bräutigam reformierten Glaubens und einer Braut evangelischen Glaubens in der evangelischen Kirche erfolgen musste und die zu erwartenden Kinder ebenfalls hier getauft und im evangelischen Glauben erzogen werden mussten. In der gleichen Verordnung wurde das Verhalten französischer Glaubensflüchtlinge kritisiert, denen vorgeworfen wurde, über die evangelisch-lutherische Religion zu lästern.250 Für die Jahre 1717 bis 1802 liegen für Baden-Durlach und Baden, das 1771 durch Erbschaft an Baden-Durlach fiel, seither vereint als Markgrafschaft Baden, 1803 Kurfürstentum und 1806 Großherzogtum Baden,251 insgesamt zwölf „wegen der Ehen von Persohnen verschiedener Religion und den daraus erzeugt werdenden Kinder, erlassenen Verordnungen“ vor.252 Diese Verordnungen waren fast ausnahmslos in unmittelbarer Reaktion auf Religionsstreitigkeiten verabschiedet worden. Für die Markgrafschaft Baden-Durlach galt, dass sowohl katholische als auch reformierte Brautleute, die evangelische Glaubensangehörige ehelichen wollten, für die Einsegnung der Ehe und die Taufe und Erziehung aller Kinder an die evangelisch-lutherische Kirche gebunden waren. Zeitgenossen sahen hierin aber nicht mehr ausschließlich konfessionelle Vorteile. Zumindest, was die „große Mänge“ armer Leute, die in Baden-Durlach in gemischten Ehen lebten, betraf, wurde der Zwang, Einsegnung und Taufen in der evangelisch lutherischen Kirche vornehmen zu lassen, zwar als Nutzen zur Festigung der Landeskonfession angesehen, allerdings stellte die Beerdigung, die bei armen Leuten durch die Armenkasse bestritten werden musste, eher einen
248 Volker Press, Baden und die badischen Kondominate, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993, S. 124–166, hier S. 145–146. 249 Vgl. Pastoration kranker evangelischer Einwohner im Baden-Badischen durch Seelsorger ihrer Konfession. GLA 74/6857 (1754–1780). 250 GLA 74/6850 (1701). 251 1771 erbte Karl Friedrich (1728–1811), Markgraf von Baden-Durlach, die Markgrafschaft Baden. 252 GLA 74/6850. Die Verordnungen stammen aus den Jahren 1717, 1726, 1727, 1746, 1747, 1750, 1752, 1755, 1759, 1768, 1794, 1801 und 1802.
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„Schaden“ da.253 Die Verordnungen zeigen, dass bei Religionsstreitigkeiten in Mischehen auch noch Mitte des 18. Jahrhunderts über die Wahrung des evangelisch-lutherischen Glaubens gewacht wurde.254 Vom 9. April 1750 liegt ein Geheimes Ratsprotokoll vor, in dem aufgrund von Streitfällen zwischen Eheleuten, unter Geistlichen lutherischer und katholischer Konfession als auch innerhalb der Landesregierung ein vollständiges Verbot gemischter Ehen verlangt wurde.255 Aufgrund von „Missvergnügen, Uneinigkeit und Streit“ in gemischten Ehen verabschiedete Markgraf Karl Friedrich am 20. April 1750 eine Verordnung, in der gefordert wurde, dass keine Ehe zwischen einer evangelischen Person mit einer reformierten oder katholischen Person ohne ausdrückliche Dispens des Landesherrn geschlossen werden durfte.256 Aus einem für das Jahr 1752 dokumentierten Streitfall geht hervor, dass Eheverträge, die gegen das Landesgesetz verstießen (Erziehung aller Kinder in der evangelisch-lutherischen Konfession) für ungültig erklärt wurden. Gesuche zur Erziehung von Kindern gemischter Ehen in der katholischen Religion wurden abgelehnt. Einer Petition der Pfarrer der reformierten Gemeinden Karlsruhe und Mühlburg, bei Ehen zwischen Anhängern evangelisch-lutherischen und reformierten Glaubens auf eine landesherrliche Dispens verzichten und die Kindererziehung nach Geschlecht aufteilen zu können, zeigte sich der Geheime Rat 1759 grundsätzlich gewogen, verlieh jedoch der Befürchtung Ausdruck, dass die Katholiken im Land Gleiches für sich einfordern würden. Dem Antrag wurde dennoch stattgegeben, da solche Ehen nicht erschwert werden sollten.257 Noch 1801 wurde unter Berufung auf das Landesgesetz zu gemischten Ehen im Durlachschen Landesteil von einem katholischen Bürger einer badischen Residenzstadt, in der beide Konfessionen die öffentliche Religionsausübung genossen, die evangelische Erziehung aller in einer Mischehe gezeugten Kinder abverlangt.258 Am 10. April befasste sich der Hofrat mit der Frage, in welcher Religion die Kinder gemischter Ehen zukünftig erzogen werden sollten. Die Protokolle geben Aufschluss über die Beratungen für ein neues Mischehengesetz, das zunächst den besonderen konfessionellen Gegebenheiten im Durlach schen Landesteil Badens gerecht werden sollte.259 An erster Stelle stand nach wie vor die Forderung, alle Kinder aus Mischehen ohne Unterschied des Geschlechts in der evangelisch-lutherischen Religion zu erziehen. In Eheverträgen durfte eine
253 GLA 74/6850 (1722). 254 GLA 74/6850 (6. Oktober 1746). 255 GLA 74/6850 (9. April 1750). 256 GLA 74/6850 (20. April 1750). 257 GLA 74/6850 (20. April 1752; GLA 74/6850 (23. Juni 1755); GLA 74/6850 (19. April 1759). 258 GLA 74/6850 (20. April 1801). 259 GLA 74/6850 (10. April 1802).
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geschlechtsspezifische Kindererziehung dort festgelegt werden, wo beide Konfessionen die öffentliche Religionsausübung genossen, eine ausschließlich katho lische Erziehung sollte allerdings unzulässig sein. In nicht-gemischtkonfessionellen Orten sollte die Konfession des Wohnortes ausschlaggebend für die religiöse Kindererziehung sein. Dienern allerdings, die nicht frei in der Wahl des Wohnorts waren, sollte in „landesgesetzmäßigen Eheberedungen oder anderen von ihrer Obrigkeit errichteten Fertigungen wegen Erziehung ihrer Kinder“ ein Vergleich ermöglicht werden. Die Ehe musste in allen Fällen vom Landesherrn dispensiert werden. Im Landesteil Baden-Baden war gemäß der dort gültigen Landesordnung die Verleihung des Bürgerrechts abhängig vom katholischen Glauben und, im Falle von Mischehen, von der ausschließlich katholischen Kindererziehung. In Ansehung der unterschiedlichen Gesetze und in Anbetracht des Reichsgesetzes über die Religionsgleichheit befasste sich der Hofrat am 13. Mai erneut mit der Frage der Kindererziehung in einer Mischehe. In der Sitzung wurde eine Reihe von Vorschlägen für eine Neugestaltung der bestehenden Gesetze gemacht. Keine Mischehe sollte ohne vorherige Eheverträge, die rechtskräftig waren, geschlossen werden. Für die religiöse Erziehung von Kindern aus Mischehen sollte die Religion des Wohnortes ausschlaggebend sein. Falls in Eheverträgen dennoch eine andere Regelung getroffen wurde, sollten die Kinder, die in ihrer Religion von der der Ortskirche abwichen, ihren Anspruch auf Vollbürgerrecht oder auf Hintersassenrechte verwirken. An Orten, wo beiden Konfessionen die öffentliche Religionsausübung gestattet war, sollten alle Kinder in der Religion des Vaters erzogen werden. In Eheverträgen durfte auch die Erziehung aller Kinder ausschließlich in der Religion der Mutter festgelegt werden. Für Untertanen, die nicht im Besitz des Bürgerrechts waren, galt, dass sie dem ganzen Land und somit auch beiden Konfessionen angehörten. Die Kindererziehung sollte wie an gemischtkonfessionellen Orten erfolgen. Die Vorschläge wurden in nachfolgenden Sitzungen weiter überarbeitet. Am 11. Februar 1803 wurde schließlich, begründet mit der veränderten territorialen und damit auch konfessionellen Zusammensetzung des Kurfürstentums Baden, das unter anderem die Pfalzgrafschaft am Rhein erhalten hatte, ein Religionsedikt erlassen, da „manchem ängstlichem Gemüth des einen wie des andern Religionstheils beunruhigende Zweifel entstehen“, ob die bisherige Religionsfreiheit Fortbestand haben würde.260 Das Edikt sollte in Anlehnung an den Westfälischen Frieden sowie den „neuesten Reichsdeputations=Abschied“ alle Zweifel beseitigen und das Vertrauen in die evangelische Landesregierung bei den Anhängern aller im Lande vertretenen Konfessionen herstellen. Für Mischehen wurde die „in einigen Gegenden Unserer
260 Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 67–69, hier S. 68.
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alten Lande bestandenen Nothwendigkeit einer vorherigen Dispensationseinholung“ aufgehoben. Den Brautleuten war die Wahl des Pfarrers für die Einsegnung der Ehe freigestellt, solange die Geistlichen beider Konfessionen das dreimalige Aufgebot erlassen hatten und keine Ehehindernisse im Weg standen. Die Kinder sollten in Zukunft ausnahmslos ohne Unterschied des Geschlechts in der Religion des Vaters erzogen werden „für die Familieneinigkeit, für den guten Erziehungseindruck und für das einstiege bürgerliche Fortkommen der Kinder, die von der Ortsreligion abweichen, von nachtheiligen Folgen zu seyn pflegt“. Erst nach Erreichen der annos discretionis, die auf 18 Jahre festgelegt wurden, durften die Kinder die Konfession wechseln. Den Verlobten sollte nach ausführlicher Erläuterung der zu erwartenden Probleme möglich sein, in Eheverträgen eine geschlechtsspezifische religiöse Kindererziehung zu bestimmen. Außergerichtliche Eheverträge waren ungültig. Ein „Großherzoglich Badensches Edikt, die kirchliche Staatsverfassung betreffend“ vom 14. Mai 1806 regelte unter anderem die „Religions= Eigenschaft“ der Erziehung. Dabei steht die Erziehung in der Religion des Vaters im Vordergrund, eine Erziehung aller Kinder in der Religion der Mutter wird nur in Ausnahmefällen gestattet: Bis zum Eintritt in das obgedachte Unterscheidungsalter müssen alle junge Staatsbürger und Staatsbürgerinnen in der Religion und Kirche ihrer Eltern und, wo diese verschiedenen Glaubens sind, in jener des Vaters erzogen werden, wenn nicht obrigkeitlich protokollierte oder insinuirte und vor Vollziehung der Ehe geschlossene Verträge eine andere Erziehungsrichtschnur aufstellen. Eine nach dem Geschlecht getheilte Erziehung kann von allen Verlobten, dahingegen eine die Kinder beiderlei Geschlechts der Religion der Mutter zuführende nur von jenen gültig bedungen werden, welche auf eine bürgerliche oder hintersäßliche oder sonst ständige Niederlassung an einem solchen Ort heirathen, wo nur die Kirche der Braut eine berechtigte Religionsübung hat, zu deren Mitgenuß alle Kinder durch diesen Vertrag erzogen werden sollen. Niemals kann für eine Niederlassung an gemischten Orten ein Erziehungsvertrag der letzteren Art zugelassen werden. Niemals kann eine durch das Gesetz oder durch gültige Verträge bestimmte Religionserziehung während der Ehe geändert werden.261
Aufschlussreich ist, dass bei Ableben eines Elternteils die Religionserziehung der Kinder nicht in der Religion des überlebenden Elternteils erfolgen durfte, wenn das nicht bereits vorher der Fall war, und eine solche Religionsänderung „gegen die Neigung der Kinder mit Dazwischenkunft äußerer Gewalt durchge-
261 Großherzoglich Badensches Edikt die kirchliche Staatsverfassung betreffend, 14. Mai 1801. Abgedruckt in: ebd., S. 70–72, hier S. 70. Das Gesetz ist hier fälschlicherweise auf das Jahr 1801 datiert.
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setzt werden müsste“.262 Nach längerer konfliktbeladener Vorgeschichte klärte ein Gesetz vom 9. Oktober 1860 die rechtliche Stellung der Kirchen im Staate und bestimmte in § 5, dass diejenigen, denen nach den bürgerlichen Gesetzen das Erziehungsrecht zustand, auch über die Konfession ihrer Kinder in einer Mischehe entscheiden durften.263 Die Ausübung der Erziehungsrechte in Bezug auf die Konfession der Kinder in gemischten Ehen war damit dem Vater allein vorbehalten. Mit dem vollendeten 16. Lebensjahr wurde ein Religionswechsel gestattet.264 Im Herzogtum Zweibrücken war der reformierte Glauben gemäß der Normaljahresregelung als offizielle Landeskonfession anerkannt.265 Die Lutheraner wurden weder unter Herzog Johann noch seinen Nachfolgern Johann II und Friedrich Ludwig geduldet.266 Erst mit der schwedischen Statthalterschaft 1698 wurde Anhängern des lutherischen Bekenntnisses völlige Gewissensfreiheit und Religionsübung erlaubt. Hinsichtlich der Ehen zwischen reformierten und lutherischen Glaubensangehörigen wurde 1699 und nochmals 1705 verfügt, dass die Trauung von dem Pfarrer des Bräutigams vorgenommen, die Kinder jedoch nach Geschlecht erzogen werden sollten. Ehen zwischen Katholiken und Reformierten oder Lutheranern durften grundsätzlich nicht von einem katholischen Geistlichen geschossen werden. Unter dem katholischen Herzog Gustav Samuel erhielten alle drei Konfessionen 1719 die freie Religionsübung.267 Angesichts wiederholter Beschwerden der Reformierten gestattete der Herzog in einem Religionsvergleich im Jahre 1720 völlige Gewissensfreiheit und erlaubte die Abfassung von Eheverträgen sowohl vor der Eheschließung als auch während der Ehe, um
262 Ebd. 263 Gesetz vom 9. October 1860, über die rechtliche Stellung der Kirchen im Staate (Regierungsblatt, 1860, 375), in: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 17. 264 Gesetz vom 9. October 1860, über Ausübung der Erziehungsrechte in Bezug auf die Religion der Kinder (Regierungsblatt, 1860, S. 380), in: ebd. 265 Nach der offiziellen lutherischen Landesreformation 1533 hatte sich Zweibrücken zunächst an Württemberg orientiert und gemeinsam mit Neuburg eine klare Front gegen die reformierte Kurpfalz gebildet. Der Konfessionswechsel von 1588 zum reformierten Bekenntnis brachte jahrelange konfessionelle Konflikte mit sich und schwächte die südwestdeutsche evangelisch-lutherische Allianz. Vgl. Werner-Ulrich Deetjen, Der Konfessionswechsel im Herzogtum Zweibrücken, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195). Gütersloh 1986, S. 98–103. 266 Vgl. allgemein zur reformierten Konfessionalisierung in Pfalz-Zweibrücken die Studie von Frank Konersmann, Kirchenregiment und Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Kleinstaat: Studien zu den herrschaftlichen und gesellschaftlichen Grundlagen des Kirchenregiments der Herzöge von Pfalz-Zweibrücken 1410–1793. Köln/Bonn 1996. 267 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 105–109.
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die Kindererziehung einvernehmlich zu regeln. Streitigkeiten sollten vor dem Oberkonsistorium beigelegt werden. Falls keine Eheverträge vorhanden waren, wurde die Kindererziehung nach Geschlecht entschieden.268 Am 22. Oktober 1725 wurde ein „Reskript der Pfalz=Zweibrückischen Regierung an sämmtliche Oberämter und Beamten wegen Erziehung der Kinder differenter Religion“ erlassen, um dem „unter geehelichten Personen differenter Religion wegen Auferziehung ihrer Kinder sich öfters äußernden Zwiespalt, Zank und Schlägerei“ Einhalt zu gebieten.269 Das Reskript wiederholte eine ältere, „im ganzen römischen Reich zur Observanz gediehene Verordnung“, wonach die Jungen dem Vater, die Töchter der Mutter in der Religion folgen und zu dem entsprechenden Schulmeister, Pfarrer und der entsprechenden Kirche gesandt werden sollten. Für eine Ausnahme musste ein „besonderer herrschaftlicher Konsens und Approbation unterthänigst nachgesucht“ und in einem Ehevertrag festgehalten werden, ansonsten waren abweichende Regelungen ungültig. Alle Oberämter und Beamten wurden angewiesen, diese Vorschrift durch die Pfarrer von den Kanzeln verkündigen zu lassen und auf strikte Observanz zu achten. Ein halbes Jahr später, am 25. Januar 1726, rechtfertigte der Pfalzgraf von Zweibrücken das Reskript gegenüber seinem Reichstagsabgeordneten unter Verweis auf die ständigen Prozesse um die religiöse Kindererziehung aufgrund nicht überprüfbarer Eheverträge.270 1755 regelte ein weiterer Erlass, dass Eheverträge nur nach vorheriger Genehmigung durch den Landesherrn und nur, wenn sie vor der Ehe geschlossen worden waren, Gültigkeit beanspruchen konnten. 1758 wurde der Religionsvergleich von 1720 bestätigt, zwei Jahre später wurde eine Verordnung verkündet, nach der die Kinder unter Strafandrohung nach Geschlecht erzogen werden mussten. Eine „Pfalzgräflich=Zweibrückische Verordnung“ verlangte die Erziehung der Kinder nach Geschlecht und untersagte jegliche Eheverträge, in denen eine andere religiöse Kindererziehung festgelegt wurde.271 1802 fiel das Herzogtum in den Gültigkeitsbereich des code civil, in dem die Ehe ausschließlich als ein naturrechtlicher Vertrag angesehen wurde. Danach war allein dem Vater freigestellt, über die Konfession seiner Kinder zu verfügen, Eheverträge waren nicht zugelassen.272
268 Anton Faber, Europäische Staats-Canzley: darinnen zum Behuff der neuesten politischen-, Kirchen- und Reichshistorie was sowohl in Religions-Angelegenheiten merckwürdiges vorgefallen als in Staats- und Reichs-Geschäfften vor kurztem abgehandelt worden und zum Vorschein gekommen ist. 115 Tle. Nürnberg u.a. 1697–1760. Bd. 49, S. 113–114. 269 Ebd., S. 98. 270 Ebd., S. 100. 271 von Zwierlein, Nebenstunden, Tl. 1, S. 1789. 272 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 105–109.
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In Kurmainz (Erzstift und Erzbistum) wurden im Zuge der Rekatholisierung protestantisch gewordener Landesteile bis 1621 in allen Zentren Jesuitenkollegs errichtet. Maßnahmen zur Rekatholisierung erstreckten sich auch auf Zugewinne calvinistischer Gebiete wie die Herrschaft Seckenheim im Verlauf des Dreißigjährigen Kriegs. Der Westfälische Frieden sicherte dem Kurmainz zugesprochenen Amt Neuenhain den Bestand des calvinistischen Bekenntnisses zu, die Katholiken durften die evangelischen Kirchen mitbenutzen. Alle übrigen Bergsträsser Gebiete wurden rekatholisiert. Erfurt wurde der Status als Reichsstadt nicht zugesprochen, allerdings verzichtete der Erzbischof auf das ius reformandi. Im Restitutionsrezeß von 1650 wurde die völlige Unterordnung der Stadt (1618) unter das Erzstift, die vom Rat allerdings nie akzeptiert wurde, bestätigt.273 Im Jahre 1699 erließ der Erzbischof von Mainz eine „Erneuerte Kirchenordnung“, die bestimmte, „daß die Pfarrer ‚sich nicht unterstehen‘ sollen, Mischehen propria authoritate zu assistieren; vielmehr sollten sie ‚solches zuvörderst an unser Vicariat oder Commissariat berichten, und darüber Bescheid erwarten‘“.274 Das Erzbistum und Kurfürstentum Köln mit der Freien Reichsstadt Köln und den Landesteilen Oberstift und Niederstift, Vest Recklinghausen und dem Herzogtum Westfalen wurde seit 1583 nach einem gescheiterten zweiten Reformationsversuch des Erzstifts von Angehörigen der katholischen Wittelsbacher Dynastie regiert. Im Zentrum standen Reformbemühungen sowie die Rekatholisierung protestantisch gewordener Landesteile. Die Reichsstadt Köln gehörte 1648 gemäß den Bestimmungen des Westfälischen Friedens zu den rein katholischen Reichsstädten und verkündete 1652 die Ausweisung aller Andersgläubigen, die offizielle Konfession des Erzstifts war katholisch.275 Seit dem Religions-Rezeß des Jahres 1672 bestimmte ein Landesgesetz für das Kurfürstentum Köln, dass bei gemischten Ehen der Pfarrer des Bräutigams für die Trauung zuständig sei. Die Kinder sollten der Konfession des gleichgeschlechtlichen Elternteils folgen. Der Generalvikar von Köln beklagte zwar die Gefahren, die für Katholiken in einer solchen Regelung lagen, musste aber gleichzeitig gestehen, „daß das landesherrliche Gesetz in der Praxis sich einmal befestigt, und dadurch in kirchlicher Hinsicht Gesetzeskraft erhalten habe“.276 Im Oedenkirchischen Vergleich von 1754 erklärte
273 Friedhelm Jürgensmeier, Kurmainz, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 4: Mittleres Deutschland. Münster 1992, S. 60–97, hier S. 92–93. 274 Geringer, Die Konfessionsbestimmung von Kindern, S. 28–29. 275 Franz Bosbach, Köln, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 4: Mittleres Deutschland, 2. verb. Aufl. Münster 1995, S. 58–84, hier S. 68, 78–80. 276 Zitiert nach Geringer, Die Konfessionsbestimmung von Kindern, S. 34.
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Kurfürst Clemens August (1700–1761) von Köln, dass er Mischehen aufs schärfste verbieten und nichts verordnen würde, was gegen die Gesetze der katholischen Kirche verstoßen würde. Ließe sich eine solche Ehe aber aufgrund „erheblicher Ursachen“ nicht verhindern, so müsse sich der Umgang mit einer Mischehe „am Westfälischen Frieden“ orientieren.277 Im Erzbistum und Kurfürstentum Trier lehnte der Erzbischof von Trier im Jahre 1688 konfessionsverschiedene Ehen als unerlaubt ab, da sich daraus schwere geistliche Übel für den katholischen Teil, für die Kinder und für den christlichen Staat ergeben würden.278 Insbesondere die Praxis, in Eheverträgen die Konfessionsbestimmung der Kinder fest zu legen, wurde verurteilt, da sich die Pflicht, die Kinder im wahren Glauben zu erziehen, sowohl auf die Söhne als auch die Töchter erstrecke. Die Geistlichen wurden daher angewiesen, eine Mischehe nur einzusegnen, wenn dafür eine schriftliche Sondererlaubnis vorlag. Die Dispens für die Trauung einer Mischehe durfte nur gewährt werden, wenn die katholische Erziehung der Kinder garantiert wurde. 1787 wurden die Pfarrer bevollmächtigt, selbstständig eine Mischehe einzusegnen, wenn die entsprechenden Bedingungen erfüllt waren.279 In Nassau-Weilburg wurde 1765 verfügt, dass bei Ehen zwischen Lutheranern und Reformierten die Söhne in der Religion des Vaters, die Töchter in der Religion der Mutter erzogen werden sollten. Anderslautende Eheverträge waren nicht erlaubt. Von evangelisch-lutherischen Schullehrern wurde verlangt, dass sie die ihnen anvertrauten reformierten Kinder im Heidelberger Katechismus unterwiesen, allerdings ohne Erklärung und Auslegung desselben, während sie die evangelisch-lutherischen Kinder nach dem nassauischen Katechismus Luthers unterrichten sollten.280 Eine Verordnung vom 22. und 26. März 1808 gestattete die freie Eheschließung zwischen Angehörigen aller drei Konfessionen „in der Überzeugung, daß alles, was zur ungestörten Ausübung der Religion beiträgt, und den Keim zu Zwistigkeiten unter verschiedenen Religionsverwandten entfernt, die Zufriedenheit und also auch das Glück unserer getreuen Unterthanen vorzüglich befördert“.281 Die Kinder aus einer gemischten Ehe sollten „ohne Ausnahme
277 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 90. 278 Schannat/Hartzheim, Concilia Germania, Bd. 10, S. 166. 279 Ebd., S. 91. 280 Fürstlich=Nassau=Weilburgische Verordnung vom 5. Januar 1765. In Auszügen abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 79; Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 95. 281 Herzoglich und Fürstlich Nassausche Verordnung vom 22. und 26. März 1808. Abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 80–81, und Edict vom 22. und 26. März 1808, über die Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen (Sammlung der landesherrlichen Edicte und anderer Verordnungen, welchen vom 1. Julius 1816 an im ganzen Umfange
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und in allen Fällen“ in der Religion des Vaters erzogen werden, um so alle „entstehenkönnenden Ehe=Familienzwistigkeiten“ zu beseitigen. Das 14. Lebensjahr wurde zur Unterscheidungszeit bestimmt, nach der ein Religionswechsel rechtmäßig stattfinden durfte. In der Landgrafschaft Hessen-Kassel wurde 1648 das reformierte Bekenntnis als Landeskonfession anerkannt,282 allerdings zur Duldung der Lutheraner verpflichtet, während in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt die lutherische Landeskonfession bestätigt wurde.283 Sowohl durch den Anfall der Grafschaft Schaumburg, als auch durch das Festhalten am Luthertum in Oberhessen blieb Hessen-Kassel letztlich ein bikonfessionelles Gebilde, in dem das Zustandekommen von Mischehen keine Ausnahme war und Konflikte schließlich nach gesetzlicher Regelung verlangten. Beschwerden darüber wurden laut, dass lutherische Ehemänner, deren Ehefrauen reformiert waren, alle Kinder lutherisch erziehen ließen. Daraufhin bestimmte ein „Landgräflich Hessen=Kasselsches Konsistorial Reskript“ vom 17. Juli 1758, dass die religiöse Erziehung von Kindern aus gemischten Ehen nach Geschlecht erfolgen sollte, es sei denn, in Eheverträgen war eine andere Erziehung beschlossen worden.284 1804 wurde für Kurhessen (Linie Hessen-Kassel) eine Verordnung erlassen, in der erstmals katholischen Eltern die Erziehung ihrer Kinder im katholischen Glauben gestattet wurde. Bei gemischten Ehen sollten die Kinder, falls nicht in einem Ehevertrag die protestantische Erziehung aller Kinder festgelegt worden war, für die religiöse Unterweisung nach Geschlecht aufgeteilt werden.285 Ein Gesetz vom 29. Oktober 1848
des Herzogthums Nassau Gesetzeskraft beigelegt worden ist. Bd. 1. Wiesbaden 1817, S. 140, 141). Abgedruckt in: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 8. 282 Im Jahr 1605 hatte Landgraf Moritz von Hessen-Kassel den entscheidenden Schritt zur Einführung des reformierten Bekenntnisses in Hessen-Kassel vollzogen. Der institutionelle Schlussstein wurde mit der Schaffung des Konsistoriums 1610 gesetzt. Insgesamt stellte der Konfessionswechsel selbst aufgrund innerer Widerstände und äußerer Kritik einen komplexen Vorgang dar, der in der Historiographie eine umfangreiche Würdigung gefunden hat. Vgl. Gerhard Menk, Die „Zweite Reformation“ in Hessen-Kassel. Landgraf Moritz und die Einführung der Verbesserungspunkte, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195). Gütersloh 1986, S. 154–183. 283 Für einen Überblick über die Territorial- und Kirchenpolitik der vier hessischen Landesteile nach 1555 sowie die Anfänge lutherischer und reformierter Konfessionalisierung vgl. Rudersdorf, Lutherische Erneuerung, S. 142–153. 284 Anton Faber, Neue Europaeische Staatscanzley welche die wichtigsten oeffentlichen Angelegenheiten, vornehmlich des Deutschen Reiches in sich fasset. 55 Tle. Tl. 5. Ulm 1761, S. 391. 285 Churhessische Verordnung vom 27. März 1804. Abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 61–62.
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regelte schließlich die Religionsfreiheit und die Einführung der bürgerlichen Ehe. Nach diesem Gesetz stand dem Vater in Mischehen allein die Entscheidung über die Konfession der Kinder zu. Verträge oder Verabredungen jeglicher Art, wodurch der Vater und nach seinem Tod die Mutter das Recht der Konfessionsbestimmung verloren, waren unwirksam. Die Befugnis zum Glaubenswechsel war auf das vollendete 18. Lebensjahr festgelegt.286 In Hessen-Darmstadt, seit 1806 Großherzogtum, galt bis zum frühen 19. Jahrhundert, dass bei gemischten Ehen die Söhne dem Vater und die Töchter der Mutter in der Religion folgen sollten. Eheverträge waren nicht erlaubt.287 Eine Verordnung vom 18. Juli 1825 über die religiöse Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen stellte alle drei Landeskonfessionen gleich und schrieb vor, „dass auf alle die Normen des gemeinen Rechts angewendet werden, nach welchen in gemischten Ehen die Kinder, ohne Unterschied des Geschlechts, der Confession des Vaters folgen“, es sei denn, in Eheverträgen war eine andere Regelung getroffen.288 Am 27. Februar 1826 schließlich wurde ein „Großherzoglich Hessisches Gesetz, die religiöse Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen betreffend“ erlassen, das bestimmte, dass alle Kinder der Religion des Vaters folgen mussten, es sei denn, in Eheverträgen, die vor Eingehung der Ehe geschlossen worden waren, wurde etwas anderes festgesetzt.289 Dieses Gesetz begründete Großherzog Ludwig I. (1753–1821) damit, dass die bisherigen Verordnungen geprägt waren „aus den Verhältnissen einer blos tolerirten Kirche zu einer herrschenden [...], wir aber, nachdem Wir die völlige Gleichheit der christlichen Religions=Partheien als verfassungsmässigen Grundsatz ausgesprochen haben, diese verschiedenerleiartigen Bestimmungen mit dem ausgesprochenen Grundsatze dieser Gleichheit unvereinbar finden“.290 Die Grafschaft Oettingen erlebte im Verlauf der Geschichte mehrere Teilungen, wobei die territoriale Aufteilung von 7/12 an die evangelisch-lutherische Linie Oettingen-Oettingen, und 5/12 an das katholische Oettingen-Wallerstein bis
286 Gesetz vom 29. October 1848, die Religionsfreiheit und die Einführung der bürgerlichen Ehe betreffend (Gesetzessammlung, 1848, S. 133). In Auszügen abgedruckt in: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 7. 287 von Zwierleins, Nebenstunden, Tl. 1, S. 203. 288 Verordnung vom 18. Juli 1825, über die religiöse Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen (Archiv der Grossherzoglich Hessischen Gesetze und Verordnungen. Bd. IV, S. 481, Nr. 1395), in: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 18. 289 Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 64–65. 290 Vorrede des „Großherzoglich Hessischen Gesetz, die religiöse Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen betreffend“. Abgedruckt in: ebd., S. 64–65.
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zum Ende des 18. Jahrhunderts Bestand hatte.291 1731 starb die männliche Linie von Oettingen-Oettingen, das 1674 in den Fürstenstand erhoben worden war, mit dem Tod Albrecht Ernst II. aus. Der Großteil des Herrschaftsgebiets fiel an die im 17. Jahrhundert infolge vieler Erbstreitigkeiten in drei Unterlinien aufgespaltene katholische Linie Oettingen-Wallerstein (Oettingen-Wallerstein, OettingenBaldern, Oettingen-Spielberg). In Voraussicht wurde am 23. Oktober 1710 ein Successions-Rezess zwischen Fürst Albrecht Ernst II und Graf Anton Carl zu Oettingen erlassen, um für die Zeit nach dem Tod die evangelische Religion und die Gewissensfreiheit evangelischer Untertanen zu sichern, „damit nicht ein eintziger Unterthan, Beysaß oder andere im Lande wohnende oder sonst darinnen sich aufhaltende evangelische junge und alte Persohnen durch List, Geschenk und Versprechungen oder heimliche und öffentliche Gewalt zur katholischen Religion gereitzet oder wider Willen genöthiget und gezwungen werden“. Die Bestimmungen wurden durch das Testament des Herrschers von 1729 weiter abgesichert.292 Oberste Richtschnur aller Maßnahmen sollte der Religionsfrieden von 1648 und der nachfolgende Friedensvertrag sein. In dem Rezess waren konkrete Anweisungen für die Trauung gemischter Ehen und die Kindererziehung enthalten: Deßgleichen an denen evangelischen Orthen, wo zweierlei Religionsverwandte zusammen heyrathen, es möge gleich die Manns= oder Weibs=Persohn davon katholisch oder evangelisch sein, so sollen alle actus parochiales, als Kinder=Tauff, copulationes, Hochzeit und Leichen=Predigten von evangelischen Geistlichen und ordinario parocho loci verrichtet, mit Bezahlung der jurum stolae, und andern aber, wie auch wegen Aufferziehung der aus dergleichen Ehen zu erzielenden Kinder, es durchgehends dem alten Herkommen und bisherigen Observanz gehalten, nehmlichen die Söhne auff des vaters, die Töchter hingegen in der Mutter Religion erzogen, und anbey noch auf erreichenden Fall denenselben keine andern, denn evangelische Leuthe, zu Pflegern und Vormündern gesetzet werden.293
Der Rezess schließt mit dem Hinweis, dass die Umsetzung dieser Bestimmungen der „Garantie und Excertion aller evangelischen Churfürsten und Ständen des Reiches hierin unterworfen“ sei.294 Das konfessionelle Zusammenleben im
291 Barbara Rajkay, Verflechtung und Entflechtung. Sozialer Wandel in einer bikonfessionellen Stadt Oettingen 1560–1806 (Materialien zur Geschichte des Bayerischen Schwabens, 25). Augsburg 1999, S. 11. 292 Successions=Rezeß zwischen dem Fürsten Albrecht Ernst und dem Grafen Anton Carl zu Oettingen, vom 23. Oktober 1710. In Auszügen abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 83–84, hier S. 83. 293 Ebd., S. 83–84. 294 Successions – Recess des Fürsten Albrecht Ernsts de A. 1710 und von wem dessen Garantien übernommen werden, in: Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd 1, S. 797–798, und Successions=Rezeß, S. 84.
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Fürstentum Oettingen blieb im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts spannungs geladen. Mehrere Beschwerden gingen an das Corpus Evangelicorum und gelangten vor den Reichshofrat, in denen die Protestanten über die Verletzung ihrer Rechte durch den Fürsten von Oettingen-Spielberg klagten. Noch 1751 wurde Oettingen-Spielberg vorgeworfen, durch die Verweigerung oder zumindest Erschwerung des Bürgerrechts für Kinder evangelischer Untertanen, die einseitige Vergabe von Häusern und Grundbesitz an Katholiken und die Besetzung von Ämtern durch Katholiken, um nur einige Gravamina aufzuzählen, „gegen alle Reichs=Fundamental – Gesetze [...] und den klaren Buchstaben des Westphälischen Friedens=Schlusses“ zu verstossen.295 Der Religionsvergleich und Einigkeitsrezess zwischen den Grafen zu Hanau und ihren reformierten Untertanen vom 16. Januar 1670 bestimmte für die Grafschaft, dass Ehen zwischen Lutheranern und Reformierten sowie die Taufe der Kinder aus gemischten Ehen in der Kirche des Bräutigams und Vaters erfolgen sollten.296 Das Bistum Münster mit den Landesteilen Oberstift und Niederstift war gemäß der Normaljahresregelung des Westfälischen Friedens katholisch, auch wenn die vollkommene katholische Konfessionalisierung erst unter Bischof Christoph Bernhard von Galen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erreicht wurde. Eine Verordnung aus dem Jahr 1712 verlangte, das ein Pfarrer nur nach vorheriger Erlaubnis bei der Trauung einer Mischehe assistieren durfte. Die Voraussetzung für eine Dispens bildete das Versprechen der Brautleute, alle Kinder katholisch zu erziehen.297 In der Reformationszeit wurde das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, regiert von der Dynastie der Welfen, in die Fürstentümer Wolfenbüttel, CalenbergGöttingen, Lüneburg und Grubenhagen aufgeteilt. Zu den Hauptstädten zählten Wolfenbüttel, seit 1637 Hannover, Celle und Herzberg. Enklaven bildeten die Reichsstadt Goslar, die Grafschaft Spiegelberg sowie einige Reichsklöster. Nach dem Aussterben der Wolfenbütteler Linie 1634 fiel Calenberg-Göttingen-Grubenhagen mit eigener Regierung in Hannover an die Lüneburger Linie, Wolfenbüttel fiel an den Dannenberger Erben.298 Der Westfälische Frieden hatte den Welfen alle Hochstifte genommen und der Calenberger Gesandte in Osnabrück, Jacob Lampardius, konnte für seine Dynastie nur die Alternation im Hochstift Osnabrück durch-
295 Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 2, S. 856–858, Bd. 3, S. 986. 296 Ebd., Bd. 1, S. 796; Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 92. 297 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 91 298 Ein Versuch, sich aus dem Schatten der jüngeren welfischen Linie heraus zu heben, war die Konversion Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel im Jahre 1710 zum Katholizismus. Vgl. Günther Christ, Fürst, Dynastie, Territorium und Konfession. Beobachtungen zu Fürstenkonversionen des ausgehenden 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts, in: Saeculum 24 (1973), S. 367–387, hier S. 373–374.
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setzen. Aufgrund der Normaljahrsregelung von 1624 blieb das Kleine Stift Hildesheim katholisch, ohne dass weitere Rekatholisierungsmaßnahmen vorgenommen werden durften.299 Nach dem Tod seines Bruders 1679 übernahm Ernst August (1629–1698), seit 1661 protestantischer Bischof von Osnabrück, das Herzogtum Calenberg. 1692 wurde Ernst August die neunte Kurwürde für Hannover zuerkannt, Widerstände im Kurfürstenkolleg verzögerten die Belehnung jedoch bis 1708. 1705 fiel Celle an Hannover. Durch seine Heirat mit Sophie Dorothea von der Pfalz, einer Tochter Friedrichs V. und Enkelin König Jakobs I. von England, erwarb er für sein Haus die Anwartschaft auf den englischen Thron, den sein Sohn Georg Ludwig als Georg I. von England 1714 bestieg. 1720 konnte er die Herzogtümer Verden und Bremen für Hannover erwerben. Nahezu ein Jahrhundert später erwarb Kurfürst Georg III., König von Großbritannien und Irland, 1814 die Königswürde für Hannover. Im Verlauf des 18. und frühen 19. Jahrhunderts wurden mehrere Resolutionen für das evangelisch-lutherische Kurfürstentum und spätere Königreich zum Umgang mit Mischehen erlassen, die sich mit der Zuständigkeit von Geistlichen bei gemischten Ehen und der religiösen Erziehung der Kinder befassten. Eine „Churfürstlich Braunschweigisch=Lüneburgische Resolution betreffend die gemischten Ehen“ aus dem Jahre 1710 sah vor, dass ein „katholischer weltlicher Priester“ die Taufe des Kindes eines katholischen Vaters vornehmen dürfe, wenn die Eheleute in einem Vertrag nicht die evangelische Kindererziehung festgelegt hatten. Einen Monat später erfolgte eine zweite Resolution mit folgendem Wortlaut: Wann der Vater oder die Mutter des zu tauffenden hiesigen Kindes Evangelischer Religion, und in ihrem Heuraths-Contract ausgemacht ist, in welcher Religion ihre Kinder erzogen werden sollen; so tauffen die Catholische Priester, welche dem öffentlichen Catholischen Gottesdienste allhier vorstehen werden, diejenige von solchen Kindern, welche, vermöge gedachten Heuraths=Contracts, in der Catholischen, und der Evangelische Pfarrherr diejenige Kinder, welche, vermöge des Heuraths=Contracts, in der Evangelischen Religion erzogen werden sollen: Wann aber mittelst der Eltern Heuraths=Contracts nicht abgeredet ist, in welcher Religion die Kinder selbiger Ehe erzogen werden sollen, und der Vater der Catholischen Religion, die Mutter aber Evangelisch ist; so lassen Se. Churfürstl. Durchl. Aus besonderen Gnaden geschehen, dass gedachte Catholische weltliche Priester indistincte alle hiesige Kinder beyderley Geschlechts, die in solcher Ehe erzeuget werden, tauffen mögen, ohne darauf zu reflectiren, ob die Kinder in der Catholischen oder Evangelischen Religion zu erziehen.300
299 Walter Ziegler, Braunschweig-Lüneburg, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 3: Der Nordwesten. 2. verb. Aufl. Münster 1995, S. 8–43, hier S. 38. 300 Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen, S. 443–444; Friedrich Christoph Willich, Churfürstliche Braunschweig-Lüneburgische Landes-Gesetze und Verordnungen Calenbergischen und Grubenhagischen Theils. Theil III, Göttingen 1782, S. 90.
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Diese Resolution wurde am 25. April 1713 eingeschränkt durch den Versuch, einen Kompromiss zwischen deutlicher formuliertem, konfessionspolitischem Landesinteresse und väterlicher Gewalt innerhalb der Familie zu finden: Was die Religion, in welcher die aus einer Ehe mixtae Religionis erzeugte Kinder zu erziehen anlanget; so soll in dem Fall, wann in der Eltern Ehepacten deshalber nichts präcises verordnet ist, es so gehalten werden, dass, wann der Vater Evangelisch und die Mutter Römisch Catholisch ist, alle Kinder aus selbiger Ehe utriusque sexus in der Evangelischen Religion zu erziehen: Wann aber der Vater Römisch Catholisch und die Mutter Evangelisch ist, die Söhne regulariter in des Vaters und die Töchter in der Mutter Religion zu erziehen.301
Dem katholischen Priester wurde die Taufe solcher Kinder bei Strafe untersagt.302 Falls die Eheleute allerdings in einem Ehevertrag festgelegt hatten, sich von einem katholischen Priester trauen und die Kinder katholisch erziehen lassen zu wollen, so bedurfte diese Entscheidung eines „schrifftlichen Attestats“ der Obrigkeit und das Paar musste sich registrieren lassen. Die Voraussetzung für diese Bescheinigung bestand darin, dass der Ehevertrag von den Angehörigen beider Konfessionen freiwillig geschlossen worden war, und das aus der Eheberedung hervorging, „daß die Kinder aus der Ehe, von dem Sexu dessen, von welches Tauffe von einem Röm. Catholischen Priester, oder Erziehung in der Röm. Catholischen Religion, die Frage seye, in der Röm. Catholischen Religion, erzogen werden sollen?“. 303 Erst dann wurde das Attestat dem eigentlich für die Trauung und Taufe zuständigen evangelischen Pfarrer zugestellt, der die Amtshandlungen dem katholischen Geistlichen überlassen musste. Am 10. Mai 1867 wurde ein Gesetz über die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse der Katholiken erlassen, das sich nochmals mit gemischten Ehen und der Erziehung der Kinder befasste.304 Die aus einer gemischten Ehe hervorgehenden Kinder sollten ohne Unterschied des Geschlechts und ungeachtet der Konfessionszugehörigkeit der Eltern in der Konfession des Vaters erzogen werden. Der Vater konnte allerdings nach der Geburt und vor der Taufe vor dem Stadtmagistrat oder, auf dem Lande, vor der betreffenden herzoglichen Kreisdirektion, eine abweichende Erklärung abgeben und alle Kinder in der Konfession der Mutter erziehen lassen. Auch nach dem Tod des Vaters mussten alle Kinder aus einer gemischten Ehe weiter in der
301 Ebd., S. 485. 302 Ebd., S. 444. 303 Ebd., S. 483–484. 304 Gesetz vom 10. Mai 1867, über die Ordnung der kirchlichen Verhältnisse der Katholiken (Gesetz- und Verordnungs-Sammlung, 1867, Nr. 32), in: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 22–23, hier S. 22.
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väterlichen Konfession erzogen werden. Eheleute gemischter Konfession und die aus gemischter Ehe nachgebliebenen Witwer und Witwen, „welche von aussen her in hiesigem Lande sich niederlassen und Kinder unter vierzehn Jahren besitzen“, waren verpflichtet, dem zuständigen Stadtmagistrat oder der zuständigen Kreisdirektion innerhalb von acht Wochen seit ihrer Niederlassung, einen Nachweis zu erbringen, wie es bezüglich der konfessionellen Erziehung ihrer Kinder nach den Gesetzen des Landes, wo die Trauung vollzogen wurde, zu halten sei. Diese Nachweise wurden an die evangelischen und katholischen Geistlichen weitergeleitet. Falls ein solcher Nachweis nicht erbracht wurde, mussten die Kinder von Zugezogenen gemischter Ehe in der Konfession des Vaters erzogen werden. Geistliche, die Kinder vor Erreichen der anni discretionis, in diesem Fall das vierzehnte Lebensjahr, in einer anderen Konfession unterwiesen, wurden mit einer Geldbuße von zwanzig Talern bestraft. Im Hochstift Osnabrück, das vom Hause Braunschweig Lüneburg in Alternation gemäß den Bestimmungen des Westfälischen Friedens und der Capitulatio perpetua regiert wurde, war den Brautleuten gemischter Ehen die Wahl des Geistlichen und die Kindererziehung völlig freigestellt, auch wenn sich in der Praxis aufgrund lokaler Verhältnisse andere Verfahren durchsetzten.305 Am 31. Juli 1826 erließ Georg IV. (1762–1830), König von Hannover, König von Großbritannien und Irland und Herzog zu Braunschweig und Lüneburg, eine umfassende Verordnung für alle Provinzen des Königreichs Hannover über die religiöse Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen. In der Einleitung zu insgesamt zehn Paragraphen wird die Gesetzesinitiative mit den vielen „Streitigkeiten und Spaltungen“ in konfessionell gemischten Ehen begründet. Das Ziel der Verordnung bestand darin, „der Verewigung einer immer nachtheiligen Religionsungleichheit der Geschwister und anderer naher Verwandten, so viel wie möglich vorzubeugen“.306 Dieses Vorhaben sollte erreicht werden, indem dem Ehemann „als dem Haupte der ehelichen Gesellschaft“ die uneingeschränkte Befugnis verbleiben sollte, „bloß nach eigener Ueberzeugung zu bestimmen, in welchem Glaubensbekenntnis seine ehelichen Kinder zu erziehen sind, und Niemand soll das Recht haben, in diese Familien= und Erziehungs=Angelegenheit auf irgend eine Weise sich zu mischen“. Um dieses ausschließlich väterliche Recht abzusichern, wurde weiter verfügt, dass „jeder Vertrag, wodurch der Ehemann und
305 Vgl. unten die Ausführungen zu Osnabrück. 306 Königlich Hannoversche Verordnung über die religiöse Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen, 31. Juli 1826. Abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 25–27, hier S. 25. Vgl. auch Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 5–7.
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Vater auf sein obiges freies Recht, gleichviel vor oder nach eingegangener Ehe, im Geringsten verzichten würde, soll nichtig, mithin unverbindlich bleiben“. In Holstein hatte eine Verordnung vom 10. Januar 1757 festgelegt, dass für Heiraten zwischen Evangelisch-Lutherischen und Römisch-Katholischen die Impetri rung einer Concession und die Trauung durch einen evangelisch-lutherischen Prediger erforderlich ist, und die Copulation nur dann vollzogen werden soll, wenn die Brautleute sich vor der Copulation verbindlich machen, ihre Kinder beiderlei Geschlechts von einem evangelischen Prediger taufen und in der evangelisch-lutherischen Lehre erziehen zu lassen. 307
In einem Gesetz vom 14. Juli 1863 wurde Geistlichen jeglicher Konfession untersagt, den Brautleuten irgendein Versprechen vor der Trauung abzunehmen. Die Taufe und Erziehung von Kindern in gemischten Ehen sollte in der Konfession des Vaters erfolgen. Im Jahr 1648 wurde in den beiden mecklenburgischen Herzogtümern (Mecklenburg-Schwerin und Mecklenburg-Güstrow) die lutherische Landeskirche offiziell bestätigt.308 In Mecklenburg-Schwerin wurde in der Stadt Schwerin der katholische Kultus geduldet. Eine Ehe zwischen Protestanten und Katholiken durfte jedoch aufgrund einer Verordnung aus dem Jahr 1764 nur von einem protestantischen Pfarrer geschlossen werden und nur unter der Voraussetzung, dass beide Eheleute unter Zeugen erklärten, dass alle Kinder protestantisch erzogen würden. Die Verordnung wurde in den nachfolgenden Jahren noch mehrmals wiederholt.309 In einer „Großherzoglich Mecklenburg=Schwerinsche(n) Verordnung an die Superintendenten“ vom 25. Januar 1811 erhielten „vermischte Brautpaare“ sowohl das Recht auf freie Pfarrerwahl für die Trauung als auch auf freie Religionsbestimmung ihrer Kinder.310 Das vereinigte Herzogtum Jülich-Kleve-Berg mit den Grafschaften Mark und Ravensberg und der Herrschaft Ravenstein wurde nach längeren Erbstreitigkeiten – 1609 war der Erbfall Jülich-Kleve eingetreten – im Vergleich von Xanten 1614
307 Der alte Gesetzestext wird wiedergegeben in § 6 des „Gesetz vom 14. Juli 1863, über die Religionsübung und Gemeindeverhältnisse der Reformirten, Katholiken, Mennoniten, Anglicaner und Baptisten im Herzogtum Holstein“. Gesetz- und Ministerialblatt für die Herzogthümer Holstein und Lauenburg, 1873, Stück 18, Nr. 72, S. 163. Zitiert nach: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 4. 308 Franz Schrader, Mecklenburg, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 2: Der Nordosten. 3. Aufl. Münster 1993, S. 166–180, hier S. 179. 309 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 96–97. 310 Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 73.
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zwischen den Hauptprätendenten Kurbrandenburg (Kleve, Mark, Ravensberg) und Pfalz-Neuburg (Jülich-Berg, Ravenstein) aufgeteilt. Von da an gehörte die wechselvolle, konfessionspolitische Geschichte zu der Territorialgeschichte der jeweils neuen Herrschaftsträger. Mit Eintritt des Erbfalls wurde zwischen Kurbrandenburg und Pfalz-Neuburg in einem ersten Religionsrevers festgehalten, dass das bisher geübte Religionsexerzitium in den von einer gemischtkonfessionellen Gemengestruktur gekennzeichneten Territorien belassen werden sollte. In nachfolgenden Religionsvergleichen 1666, 1672 und einer abschließenden Konferenz 1682 wurden die bestehenden konfessionellen Verhältnisse weiter abgesichert.311 Im Herzogtum Kleve, in der Grafschaft Mark und in der Grafschaft Ravensberg im Westen der Kurbrandenburg waren alle drei Konfessionen gemischt.312 Starke katholische Teile hielten sich in Kleve und in der Mark. Unter brandenburgischer Herrschaft entwickelte sich ein relativ tolerantes Religionswesen, wobei die protestantischen, vor allem reformierten Gemeinden – Kurfürst Johann Sigismund (1572–1620) war 1613 zum reformierten Glauben übergetreten – zunahmen.313 In Jülich-Berg, ursprünglich geprägt von einem Protestantismus mit synodal-presbyterialer Struktur, setzte nach der Konversion des Pfalz-Neuburgers Wolfgang Wilhelm 1613 zum Katholizismus, unterstützt durch Jesuiten, die nach Düsseldorf berufen wurden, die Gegenreformation ein.314 1627 verbot der Pfalzgraf die öffentliche und private nichtkatholische Religionsausübung, 1628 wurden protestantische Geistliche ausgewiesen. Verbleibende protestantische Gemeinden schlossen sich organisatorisch Kleve-Mark an und wurden durch die genannten Religionsvergleiche mit Kurbrandenburg geschützt.315
311 Heribert Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 3: Der Nordwesten. 2. verb. Aufl. Münster 1995, S. 86–106, hier S. 101–106. 312 Manfred Rudersdorf/Anton Schindling, Kurbrandenburg, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 2: Der Nordosten. 3. Aufl. Münster 1993, S. 34–66, hier S. 62. 313 Zu Kurbrandenburg vgl. Rudolf von Thadden, Die Fortsetzung des „Reformationswerks“ in Brandenburg-Preußen, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195). Gütersloh 1986, S. 233–250. Zur Unterstützung der Reformierten in Mark vgl. Harm Klueting, Die reformierte Konfessions- und Kirchenbildung in den westfälischen Grafschaften des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Gütersloh 1986, S. 214–232, hier S. 220. 314 Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg, S. 102. 315 Ebd., S 103.
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Der Westfälische Frieden bestätigte für das Fürstentum Pfalz-Neuburg das katholische Bekenntnis als Landeskonfession.316 Die unterschiedlichen Religionsvergleiche zwischen Kurbrandenburg und Pfalz-Neuburg beinhalteten auch Regelungen für den Umgang mit gemischten Ehen. In einem Religionsvergleich vom 26. April 1652 „wegen der Religions=Irrungen in den Provinzen Cleve, Mark, Jülich, Berg, Ravensberg und Ravenstein“ regelten die Artikel neun, Paragraph vier und zehn, Paragraph fünf, die Zuständigkeit bei Streitigkeiten in gemischtkonfessionellen Ehen sowie die Trauung. Im Streitfall werden die Eheleute nach dem Recht ihrer jeweiligen Konfession behandelt, für die gerichtliche Zuständigkeit galt die Regel actor sequitur forum rei, wonach der Kläger vor dem Forum des Angeklagten erscheinen musste. Die Proklamation der Ehe sollte in beiden Kirchen erfolgen, die Trauung selbst führte jedoch der Pfarrer des Bräutigams durch.317 Die reformierte Dynastie der Hohenzollern regierte nach weiteren Gebietsgewinnen durch den Westfälischen Frieden von 1648 über die gemischtkonfessionellen Territorien am Niederrhein, die lutherischen Territorien Mark Brandenburg, Hinterpommern (seit 1648) und das Herzogtum Preußen (1618 zu Brandenburg, bis 1660 polnische Lehnshoheit, 1701 Königreich) sowie über die geistlichen Staaten Halberstadt, Minden und (seit 1680) Magdeburg.318 Der Bestand der katholischen Minderheiten war durch den Westfälischen Frieden gesichert, die öffentliche Ausübung des katholischen Kultus in anderen Landesteilen jedoch nicht gestattet. Die reichsrechtliche Anerkennung des reformierten Bekenntnisses in Artikel VII des Osnabrücker Friedensvertrags war das Verdienst des reformierten Kurfürsten Friedrich Wilhelm (1620–1688), der sich vor allem gegen Kursachsen in den Friedensverhandlungen hierfür eingesetzt hatte. Am Ende des 18. Jahrhunderts hatte sich das Herrschaftsgebiet der Hohenzollern durch weitere Zugewinne infolge der Schlesischen Kriege um fast ganz Schlesien (1742), Westpreußen (1772) und durch die zweite und dritte Teilung Polens (Südpreußen 1793, Neu-Ostpreußen 1795) nach Osten ausgedehnt. 1744 fiel Ostfriesland unter Brandenburg-Preußische Herrschaft. Nach der staatlichen Neuordnung Deutschlands 1803–1806 umfasste Preußen im Westen bis 1807 das Königreich Hannover, die Bistümer Osnabrück, Münster,
316 Nadwornicek, Pfalz-Neuburg. 317 Religionsvergleich zwischen dem Churfürsten von Brandenburg und dem Pfalzgrafen von Neuburg, wegen der Religions=Irrungen in den Provinzen Cleve, Mark, Jülich, Berg, Ravensberg und Ravenstein, 26. April 1652. Abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 38–39. 318 Rudersdorf/Schindling, Kurbrandenburg, S. 62.
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Hildesheim und Paderborn sowie die Reichsstadt Goslar. Unter Napoleon wurde das Königreich Westfalen unter französischer Herrschaft errichtet und die Westgrenze Preußens erneut nach Osten verschoben. Nach dem Wiener Kongreß 1815 kam Westfalen mit dem Erzbistum Köln unter preußische Herrschaft. Durch die Grenzverschiebungen stieß die brandenburgisch-preußische Gesetzgebung zu Mischehen wiederholt auf Praktiken im Umgang mit Mischehen, die den eigenen Gesetzen widersprachen und Konflikte hervorriefen. Das preußische Landrecht hatte 1794 die geschlechtsspezifische Kindererziehung bestätigt, bestimmte aber weiter, dass bei Einigkeit der Eltern über die religiöse Unterweisung kein Dritter zu Widerspruch berechtigt sei.319 1799 wurde ergänzt, dass Pflegeeltern das Recht hatten, die Religion der von ihnen angenommenen Kinder bis zum 14. Lebensjahr zu bestimmen und dabei nicht an die Konfession der leiblichen Eltern gebunden waren. Am 21. November 1803 wurde in einer „Königlich Preußischen Deklaration, wegen des den Kindern aus Ehen zwischen Personen von verschiedenem Glaubensbekenntnisse zu ertheilenden Religionsunterricht“ für die östlichen Provinzen festgelegt, dass die Kindererziehung in Mischehen ausschließlich in der Konfession des Vaters erfolgen durfte.320 Kein Eheteil war berechtigt, anhand von Eheverträgen von dieser gesetzlichen Vorschrift abzuweichen. Begründet wurde diese Verordnung damit, dass durch die alte Regelung der Religionsunterschied in den Familien verewigt und die Einigkeit innerhalb der Familie untergraben werde. Eine allerhöchste Kabinetts-Anweisung König Friedrich Wilhelms III. (1770–1840) vom 17. August 1825, dehnte den Geltungsbereich der Deklaration vom 21. November 1803 auf die Rheinprovinz und Westfalen aus und wurde mit folgenden Worten eingeleitet: In den Rheinprovinzen und in Westphalen dauert, wie Ich vernehme, der Missbrauch fort, daß katholische Geistliche von Verlobten verschiedener Confession das Versprechen verlangen, die aus der Ehe zu erwartenden Kinder, ohne Unterschied des Geschlechts, in der katholischen Religion zu erziehen und dar ohne die Trauung nicht verrichten wollen. Ein solches Versprechen zu fordern, kann so wenig der katholischen, als im umgekehrten Falle der evangelischen Geistlichkeit gestattet werden.321
Diese Regelung stieß auf heftigen Widerspruch in den neu erworbenen katholischen Landesteilen am Niederrhein. Katholischen Bischöfen wurde durch
319 Hans Hattenhauer (Hrsg.), Allgemeines Landrecht für die preußischen Staaten von 1794. 2 Tle. Frankfurt a.M. 1970, Tl. 2. Tit. 2, §§ 76 und 78. 320 Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 104–105. 321 Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 108–109. Die Konflikte kulminierten schließlich in den sogenannten Kölner Mischehenstreit. Vgl. unten.
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diese Verordnung das bislang praktizierte Recht genommen, eine Mischehe nur nach vorher erteilter Dispens und nur nach der Zusage des Nichtkatholiken, alle Kinder katholisch erziehen zu wollen, zu genehmigen und einzusegnen. In der Praxis weigerten sich katholische Geistliche, der staatlichen Anweisung Folge zu leisten. Schon im Vorfeld dieser Kabinettsorder hatte Friedrich Wilhelm III. angesichts der gestiegenen Zahl katholischer Untertanen infolge von Gebietsgewinnen Gesandte nach Rom geschickt, um mit dem Papst in Verhandlungen über die Hoheitsrechte des Königs in Fragen, die die geistliche Gerichtsbarkeit in Ehesachen und vor allem die Mischehenfrage berührten zu treten. Die Verhandlungen zwischen dem Berliner Hof und dem Heiligen Stuhl über die konfessionell gemischten Ehen währten nahezu zehn Jahre und konzentrierten sich vor allem darauf, die katholische Forderung, eine Mischehe nur einzusegnen, wenn der protestantische Ehepartner vorher verbindlich die katholische Erziehung aller Kinder zusagte, durch den Papst aufheben zu lassen.322 In Schlesien hatte die katholische Restauration im 17. Jahrhundert nur lang sam Fuß gefasst und wurde durch den Westfälischen Frieden bestätigt. Der Friedensvertrag gewährte lediglich den Herzögen von Liegnitz, Brieg, Oels und Münsterberg sowie der Stadt Breslau die freie Religionsausübung des Augsburger Bekenntnisses.323 Bei Ehen zwischen Katholiken und Protestanten wurden keine Eheverträge erlaubt und der Fürstbischof von Breslau verweigerte die Trauung, wenn der evangelische Teil nicht konvertierte. Die Folge waren vielfache Beschwerden der Protestanten über Beschränkungen ihrer Gewissensfreiheit und ihrer Religionsausübung vor dem Corpus Evangelicorum.324 Zur Unterstützung der Protestanten in Schlesien wurde schließlich auf Drängen Schwedens im Sep-
322 P. Beda (Hubert) Bastgen, Die Verhandlungen zwischen dem Berliner Hof und dem Hl. Stuhl über die konfessionell gemischten Ehen (Veröffentlichungen zur Kirchen- und Papstgeschichte der Neuzeit, 2). Paderborn 1936. 323 Franz Malichek, Schlesien, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 2: Der Nordosten. Hrsg. 3. Aufl. Münster 1993, S. 102–138, hier S. 134; Arno Herzig, Reformatorische Bewegungen und Konfessionalisierung. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in der Grafschaft Glatz (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas, 1). Hamburg 1996. Schlesien war wie alle Erblande der Habsburger von den Bestimmungen des westfälischen Friedens zur Normaljahrsregelung ausgeschlossen. 324 Acta Publica samt einer gründlichen Deduction derer Evangelischen Schlesier Religions= Freyheit, worinnen alle diejenigen Schriften, welche bey dem Schlesischen Religions=Werck so wohl von der Kayserl. Hochansehnlichen Executions – Commission zu Breslau als auch dem Königlichen Schwedischen Plenipotentiario und andern herauß gekommen, in: Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 2, S. 811–1042.
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tember 1707 eine Konvention zwischen Österreich und Schweden geschlossen.325 In Orten, in denen die öffentliche Ausübung der Augsburger Konfession verboten war, sollte erlaubt werden, Kinder in auswärtige Schulen ihrer Religion zu schicken oder zu Haus unterweisen zu lassen. Niemand sollte gezwungen werden, dem katholischen Gottesdienst beizuwohnen. Die religiöse Gewissensfreiheit sollte sich auch auf Kinder erstrecken, da Kinder und Eltern zusammengehörten. Der katholischen Kirche wurde untersagt, Waisen und unmündige Kinder in die Klöster zu stecken oder in ihrer Religion zu unterweisen: Und weil doch denen Müttern aus natürlichen Rechten die Vormundschafft und Erziehung ihrer Kinder zukömmet, soll es frey stehen, wo keine Testamentarische oder in Rechten so genandte legitimi Curatores und Vormünder vorhanden, andere der Augsburgischen Confession zugethane auszubitten und bestätigen zu lassen.326
Die Konfessionspolitik in Schlesien setzte die evangelischen Untertanen ungeachtet der Vermittlung mehrerer protestantischer Landesherren und Schwedens weiter unter Druck. In den Jahren 1707 und 1708 verbreiteten Flugblätter einen ungewöhnlichen Brauch unter evangelischen Kindern, der sich wie eine Welle von Ort zu Ort bewegte. In Nachahmung der schwedischen Heere, so die Darstellungen, versammelten sich Kinder dreimal, um öffentlich zu beten und zu singen und die Wiederherstellung ihrer Kirche zu fordern. Dieses Verhalten weckte offensichtlich die Verwunderung der Zeitgenossen und wurde in Traktaten beschrieben.327 Das allermercklichste aber ist, dass hier zu Breslau vor dem Niclas=Thor/die Kinder/gleich wie an vielen Orten in Schlesien geschiehet/zusammen lauffen/und bethen/und hat dieses vorgestern bei uns angefangen. Es laufft eine unbeschreibliche Menge Volcks hinauß/es zu sehen und ist gleich anjetzo auch der Hr. Baron von Strahlenheim/Kön. Schwedischer Comiss. selbst allda gewesen/solches zu sehen; Es ist in Wahrheit sehr beweglich anzuschauen/so dass viel 100. kleiner Kinder beyderley Geschlechts/in so guter Ordnung/und so andächtig zu Gott beten; Sie kommen 3. Mal des Tags zu sammen: des Morgens singen sie die Littaney/fallen hernach zugleich auff die Knie/und beten allerhand die schönsten Gebete auß ihren Büchern/stehen hernach wieder auff und singen/und dieses thun sie
325 Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 2, S. 847–850 und die Ergänzung der Konvention im gleichen Jahr in Alt Ranstadt im September 1707, ebd., S. 850–851. 326 Ebd., S. 847–850, hier S. 849. 327 Gründliche Nachricht von derer Evangelischen Schlesier Kinder=Andacht/oder Denen/von denen Kindern in Schlesien/unter freyem Himmel/auf offenem Felde gehaltenen Bett=Stunden. Nebst Hn. Caspar Neumanns/Inspectoris bey der Evangelischen Kirche und Schule zu St. Elisabeth in Breslau/und anderer führenden Gutachten über solches Beten der Kinder. Gedruckt im Monat Martii 1708, in: ebd., S. 972–989.
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dreymal nacheinander/zuletzt singen sie: Nun Gott Lob es ist vollbracht/sprechen den Segen über sich/und gehen voneinander.328
Am 8. Februar 1709 wurde ein Friedensexekutionsrezess verfasst, der die Religionssicherheit der Protestanten erneut bekräftigen sollte. Auf Verlangen Schwedens wurde den Eltern das Recht zugesprochen, in Eheverträgen die Konfession ihrer Kinder zu bestimmen. In einer Verordnung von Kaiser Karl VI. (1685–1740) vom 27. Juli 1716 wurde festgelegt, dass die Kinder aus gemischten Ehen wie im Reich üblich je nach Geschlecht in der Konfession des Vaters oder der Mutter erzogen werden. Die Bestimmungen wurden noch mehrmals durch Verordnungen der Oberämter wiederholt.329 In der Praxis wurde allerdings an dem üblichen Verfahren festgehalten und eine Mischehe von katholischer Seite nur geschlossen, wenn sich der protestantische Partner eidesstattlich verpflichtete, alle Kinder in der katholischen Konfession zu erziehen.330 Nachdem Schlesien an Preußen gefallen war, befürchteten die Katholiken nun ihrerseits, dass in Zukunft Kinder aus gemischten Ehen mehrheitlich evangelisch erzogen werden würden. In Mischehen beim Militär sollten alle Kinder protestantisch werden.331 Bei Errichtung der beiden geistlichen Konsistorien in Breslau und Glogau wurden die Dispense in Ehesachen dem König „als alleinigem souveränen, obrigsten Herzog und Herrn von Niederschlesien“ vorbehalten.332 In einer Kabinettsorder vom 5. Januar 1742 verfügte Friedrich II. allerdings, dass „die Befugnisse über rein geistliche Dinge“, also auch Ehesachen der Katholiken, dem bischöflichen Generalvikariat von Breslau verbleiben sollten. Ehesachen, auch wenn nur ein Teil der Braut- oder Eheleute evangelisch war, sollten ausschließlich vor dem Konsistorium entschieden werden.333 Ein Jahr später wurde die geschlechtsspezifische Kindererziehung, sofern keine schriftlichen Eheverträge vorlagen, bestätigt mit der Begründung, dass so beide Konfessionen zu ihrem Recht kämen. 1750 schließlich wurden jegliche Eheverträge für ungültig erklärt und allein die geschlechtsspezifische Kindererziehung anerkannt.
328 Ebd., S. 974. 329 Verordnungen den Religionszustand in Schlesien betreffend, in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 92–101, hier S. 94. Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 100. 330 Bastgen, Die Verhandlungen zwischen dem Berliner Hof und dem Hl. Stuhl, S. X–XI. 331 Ebd., S. XI. 332 Ebd. 333 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 100–101. Das Patent wurde am 23. Mai auf die Grafschaft Glatz, am 17. November auf Oberschlesien ausgedehnt; Bastgen, Die Verhandlungen zwischen dem Berliner Hof und dem Hl. Stuhl, S. XI.
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Und weilen es sich in Schlesien gar öfters zuträgt, dass sich Personen von zweyerley Religionen unter einander ehelich verbinden; So wollen Se. Königl. Majestät, nachdem Allerhöchst Dieselbe bereits alle Ant-Nuptial Stipulationes und andere aufgehoben haben, selbige hierdurch nochmals kassiren und aufheben: so dass vors künftige die aus dergleichen Ehen erzeugte Kinder nach dem Geschlecht in der Aeltern ihrer Religion bis ad annos discretionis erzogen werden sollen, dergestalt, daß die Söhne in der Religion des Vaters, die Töchter aber in der Religion ihrer Mutter die nöthige Unterweisung bekommen müssen.334
Evangelische Witwen waren verpflichtet, die Söhne ihrer verstorbenen katholischen Ehemänner bis zur Religionsmündigkeit in einer katholischen Schule unterrichten zu lassen. Widersetzten sie sich dieser Anordnung, so sollten ihnen die Kinder genommen und in einer katholischen Familie aufgezogen werden. Folgten sie aber dieser Verordnung, so durfte ihnen das Recht der Erziehung aufgrund des konfessionellen Unterschieds von niemandem streitig gemacht werden. Diese Verordnung galt in umgekehrter Weise auch für katholische Witwen. Die alleinige Zuständigkeit des Konsistoriums bei Mischehen wurde aufgehoben; der katholische Eheteil sollte nach den Grundsätzen des katholischen Eherechts behandelt werden. Das preußische Landrecht 1794 und die Verordnung zu Mischehen aus dem Jahre 1803 hatten auch Gültigkeit für die zu Preußen gehörenden, schlesischen Landesteile.335 Im Fürstentum Anhalt, das nach der Teilung des Landes 1604 in vier Landeskirchen aufgeteilt wurde, gab es 1648 drei reformierte Landeskirchen (AnhaltDessau, Anhalt-Köthen und Anhalt-Bernburg), während die Zerbster Landeskirche lutherisch war.336 In einem Vergleich, den 1679 die Fürsten von Anhalt mit ihren Landständen mithilfe der Vermittlung Kurbrandenburgs schlossen, wurde bestimmt, dass bei einer Mischehe zwischen lutherischen und reformierten Glaubensangehörigen, bei den Trauungen die Braut dem Bräutigam folgen solle, die Entscheidung über die Taufe jedoch für die Töchter der Mutter, für die Söhne dem Vater zustehe.337 In den Sächsischen Herzogtümern (ernestinische Linie) wurde 1648 die evangelisch-lutherische Konfession als Landeskirche anerkannt. Im Herzogtum Sachsen-Gotha forderte eine Verordnung aus dem Jahr 1670, dass eine Ehe zwischen Katholiken und Protestanten nur nach landesherrlicher Dispens erfolgen durfte. Dem katholischen Eheteil wurde das Versprechen abgefordert, dass er die
334 Verordnungen den Religionszustand in Schlesien betreffend, S. 99. 335 Zu den Inhalten der Gesetze vgl. oben. 336 Franz Schrader, Anhalt, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 2: Der Nordosten. 3. Aufl. Münster 1993, S. 88–101, hier S. 99. 337 Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen, S. 206.
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protestantische Kirche besuchen und sich der Lehre aufgeschlossen und willig zeigen sollte.338 In einem Ehegesetz vom 15. August 1834 wurden gemischte Ehen zwischen Anhängern christlicher Konfessionen ausdrücklich erlaubt, während Ehen „der Christen mit einer Person, welche sich zu einer anderen, als der christlichen Religion bekennt“, verboten wurden.339 Falls die Eltern sich nicht über die religiöse Erziehung ihrer Kinder einigen konnten, sollte die Religionserziehung nach Geschlecht aufgeteilt werden. Erfolgte eine Veränderung der Konfession in der Verlobungszeit, so stand dem anderen Partner die Auflösung des Eheversprechens frei, wenn die Religionsänderung ohne seine Zustimmung erfolgt war. Demjenigen, der konvertiert war, wurde die Trennung nicht gestattet. In SachsenWeimar-Eisenach wurde in einem Gesetz vom 25. Januar 1811 die Gleichstellung der Katholiken und Lutheraner verkündet.340 Bei gemischten Ehen konnten die Eltern frei über die Kindererziehung verfügen. Nach dem vollendeten 14. Lebensjahr war ein Konfessionswechsel erlaubt. Am 6. Mai 1857 wurde ein weiteres Gesetz erlassen, wonach die Kinder aus gemischter Ehe (zwischen Katholiken und Protestanten) zukünftig in ein und derselben Kirche getauft werden mussten. Hierüber sollte in der Regel die Konfession des Vaters entscheiden. In Ausnahmen konnte in einem gerichtlich abzuschließenden Vertrag vor der Trauung bei Übereinstimmung beider Brautleute die Erziehung aller Kinder in der Konfession der Mutter festgelegt werden. Die Religionsmündigkeit, die die Voraussetzung für einen Konfessionswechsel darstellte, wurde auf 18 Jahre hochgesetzt.341 Dieser allgemeine Überblick hat verdeutlicht, dass allein auf der Ebene der Gesetzgebung bei einer Reihe von Herrschern konfessionspolitische Erwägungen noch im 18. Jahrhundert entgegen der allgemeinen Forschungsmeinung ein tragendes Gewicht in der Landespolitik spielten.342 Das haben nicht nur die Gesetze zu Mischehen gezeigt, sondern auch umfassendere, hier nur beiläufig erwähnte Religionsedikte und Religionsversicherungen für die Untertanen, die auf Druck
338 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 96. 339 Herzoglich Sachsen=Gothasches Ehegesetz vom 15. August 1834. In Auszügen abgedruckt in: Sammlung einiger Landesgesetze über gemischte Ehen, S. 76–78. 340 Verordnung vom 25. Januar 1811, über Gleichstellung der Katholiken und Lutheraner (Gesetzsammlung, 2. Ausgabe, Nr. 3124), in: Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 20, Anm. 1. 341 Gesetz vom 6. Mai 1857, über das Verhältnis der katholischen Schulen und Kirchen (Regierungsblatt, 1857, Nr. 13, S. 43), in: ebd., S. 20. 342 Die historische Forschung ging lange davon aus, dass mit dem Westfälischen Frieden von 1648 konfessionelle Aspekte aus dem Politischen verdrängt wurden. Das 18. Jahrhundert wurde als ein Jahrhundert von Säkularisierung und Aufklärung angesehen. Entsprechend wurden konfessionspolitische Fragen für das 18. Jahrhundert weitgehend vernachlässigt.
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von Landständen, aber auch auf Druck anderer Landesfürsten unter Berufung auf den Westfälischen Frieden und die dort vereinbarten konfessionellen Verhältnisse eingefordert wurden. Veränderungen in der konfessionellen Zusammensetzung des Untertanenverbandes durch Gebietserweiterungen, Herrschaftsübernahmen und Grenzverschiebungen, die im 18. Jahrhundert nicht selten waren, lösten Verunsicherung bei den Untertanen angesichts möglicher Veränderungen ihrer religiösen Freiheit aus. Der Umgang mit Religionsbeschwerden von Untertanen oder Ständen, die ihre religiöse Freiheit durch die Konfessionspolitik ihres Landesherrn beeinträchtigt sahen, wurden regelmäßig unter Berufung auf den Westfälischen Frieden im 18. Jahrhundert vor das Corpus Evangelicorum, die Reichstage und den Kaiser gebracht und vor den Reichsgerichten ausgehandelt.343 Das konfessionspolitische Verhalten eines Landesfürsten wurde in Konfliktfällen im eigenen Territorium durch die Stände oder von außen durch andere Landesfürsten, die sich als Garanten der Landeskonfession verstanden, kritisch beobachtet.344 Bei klaren Verstößen gegen den Westfälischen Friedensvertrag wurden die Reichsinstanzen zur Vermittlung und zum Schutz der bedrängten Untertanen eingeschaltet und Garantien zur Gewissensfreiheit verlangt.345 Je nach konfessioneller Zusammensetzung des Untertanenverbandes und Herrschaftsgefüges waren konfessionspolitische Interessen unterschiedlich stark ausgeprägt. Evangelisch-lutherische Territorien wie beispielsweise Holstein, Mecklenburg-Schwerin und Baden-Durlach sowie die Kernlande der lutherischen Konfessionalisierung, Württemberg und Kursachsen346, zeichneten sich bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806 durch eine strenge Handhabung der Mischehen zur Unterstützung der Landeskonfession aus.347 Das katholische Bayern, Kurköln, Kurtrier, Baden, das Bistum Münster oder Schlesien stärkten die
343 Vgl. die entsprechenden Abdrucke in Lehmann, De Pace Religionis; Vollständige Sammlung aller Conclusorum; Faber, Europäische Staats-Canzley, sowie detailliert zu Religionsversicherungen Gabriele Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Ein Beitrag zur Geschichte des Reichsverbands in der Mitte des 18. Jahrhunderts (Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 122). Stuttgart 1992, S. 172–199. Zur Rolle des Corpus Evangelicorum mit aktueller Forschungsliteratur vgl. Kapitel V. 344 Für eine detailliertere Auseinandersetzung im Kontext des Kräftverhältnisses im Reich vgl. unten. 345 Für eine detailliertere Beschreibung dieses Prozesses sowie Veränderungen im späten 17. und 18. Jahrhundert vgl. unten. 346 Zur Rechtsetzung im Umgang mit Mischehen in Kursachsen im Kontext von Fallstudien vgl. Kapitel III. 347 Im Falle Württembergs und Kursachsens war dies vor allem dem politischen Wirken der protestantischen Stände gegenüber ihrem konvertierten Landesherrn zu zuschreiben.
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katholische Konfession durch entsprechende Verordnungen zur Erziehung der Kinder aus Mischehen. In Territorien, in denen aus unterschiedlichen Gründen (Konversion des Herrschers, Gebietserweiterungen oder Okkupation) eine Rekatholisierung vorgenommen wurde, wie in Pfalz-Sulzbach, Pfalz-Neuburg oder in der Kurpfalz, wurde besonders hart gegen nichtkatholische Partner einer Mischehe vorgegangen, ursprüngliche Rechte genommen und die katholische Kindererziehung teilweise unter Zwang durchgesetzt. Daneben gab es eine Reihe von Territorien, die in Anlehnung an einen Beschluss des Nürnberger Reichsexekutionshauptschlusses aus dem Jahr 1650348 den Partnern einer Mischehe die Abfassung von Eheverträgen und damit den Eltern die Konfessionswahl für ihre Kinder überließen. Dazu gehörten im frühen 18. Jahrhundert Brandenburg-Kulmbach, Zweibrücken, Hessen-Kassel, Braunschweig-Lüneburg, Mecklenburg-Schwerin und auf Drängen Brandenburg-Preußens zumindest nominell die Kurpfalz.349 Im frühen 19. Jahrhundert schlossen sich Bayern und Württemberg dieser Regelung an. Fehlten Eheverträge, so war in der Regel die Konfession des Vaters ausschlaggebend für die Kindererziehung. Schließlich findet sich in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert die Regel, die Kinder nach Geschlecht zu erziehen, so in Pfalz-Sulzbach, obwohl offiziell bis 1682 alle Kinder evangelisch erzogen werden sollten, in Baden-Durlach (allerdings nur bei Mischehen zwischen Reformierten und Lutheranern), in Zweibrücken, Nassau-Weilburg, Hessen-Kassel, HessenDarmstadt, Oettingen, Osnabrück350, Braunschweig-Lüneburg (nur wenn keine Eheverträge vorlagen und der Vater katholisch war), Schlesien, Sachsen-Anhalt (nur bei Ehen zwischen Lutheranern und Reformierten), Sachsen-Gotha und Preußen. Dieser „Brauch“ wurde von Kanonikern bereits seit dem späten 16. Jahrhundert für deutsche Territorien beschrieben.351 Grundgedanke dieser Regelung war die konfessionelle Parität in der Familie, wodurch vor allem das Recht auf religiöse Gewissensfreiheit der Frau in der Ehe anerkannt und geschützt wurde. Zwischenbetrachtung Insgesamt ergibt sich ein ausgesprochen heterogenes Bild, das zumindest bis zum 19. Jahrhundert keine allgemeingültige Deutung zulässt. Tendenziell ließe sich für die Territorien, die Eheverträge tolerierten, eine zunehmende Trennung von Staat und Kirche im 18. Jahrhundert und ein geringes konfessionspolitisches Interesse auf Seiten von Landesherrn und, je nach Mächtekonstellation, Ständen
348 Vgl. unten. 349 Vgl. unten. 350 Vgl. unten. 351 Vgl. oben den Abschnitt zu katholischer Ehegesetzgebung.
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konstatieren, während die Territorialherren und Stände, die das gesamte 18. Jahrhundert hindurch die Landeskonfession verbindlich für die Kinder aus Mischehen festlegten, offenkundig klarere konfessionspolitische Interessen verfolgten. Ergänzend sei hier auf die besondere Situation in Kursachsen, Württemberg und Hessen-Kassel verwiesen, wo relativ starke, protestantische Landstände in Abgrenzung zu ihrem konvertierten Landesherrn die Landeskonfession zu schützen suchten. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde in nahezu allen Territorien fast ausnahmslos die Konfession des Vaters für die konfessionelle Zugehörigkeit der Kinder gemischter Ehen verbindlich festgelegt. Begründet wurden diese Gesetzesinitiativen mit der Unübersichtlichkeit der bestehenden Gesetze sowie ständigen Streitfällen und Unstimmigkeiten in Mischehen. Während protestantische Geistliche und Stände sich bei innerterritorialen Konfessionskonflikten an das Corpus Evangelicorum wandten, um politische Unterstützung zu fordern und sich dabei auf den Westfälischen Frieden beriefen, konnten katholische Landesherrn, Geistliche und Stände mit Unterstützung aus Rom und vom Kaiser rechnen. Das lag nicht nur an dem Streben Roms nach der Missionierung protestantischer Gebiete, sondern auch daran, dass katholische Landesherrn keine Landeshoheit im Geistlichen besaßen und diese nur über Freiheitsbriefe des Papstes oder durch Verträge mit den Erzbischöfen und Bischöfen, in deren Provinzen oder Diözesen ihr Territorium lag, erlangen konnten. In der Praxis versuchten sich katholische Landesherrn in ihrem absolutistischen Machtstreben als auch unter dem Eindruck der Aufklärung zunehmend, dem Einfluss der katholischen Kirche zu entziehen. Während das Paritätsgebot und die Garantie des konfessionellen Status quo für Protestanten vor allem im 18. Jahrhundert zu einem politischen Schutzargument wurde, bedeutete dieses Gebot für einige katholische Landesherrn bei der Durchsetzung konfessionspolitischer Interessen eher ein Hindernis. Aus den oben gemachten Beobachtungen ergibt sich zwingend die Frage nach dem rechtlichen und dem tatsächlichen Verhältnis von Staat und Kirche, genauer, dem Verhältnis des Staates zu den einzelnen Konfessionskirchen auf dem Hintergrund der Reichsverfassung als auch auf dem Hintergrund der konfessionspolitischen Rolle Roms und des Kaisers vor und nach dem Westfälischen Frieden.352 Im Folgenden werden die auf Reichsebene festgelegten und ausgehandelten Bestimmungen zu konfessionell gemischten Ehen vorgestellt, bevor sich einige Ausführungen zum Verhältnis von Staat und Kirche im Ringen um die Handhabung von Mischehen anschließen.
352 Die Dispensvergabepraxis der katholischen Kirche in Rom ist Gegenstand eines umfangreichen Forschungsprojekts von Cecilia Cristellon und wird in dieser Studie ausgeklammert.
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1.5 Reichsrecht Mischehen als „Problem“ tauchten auf Reichsebene erstmals vereinzelt im 16. Jahrhundert in Beschwerden auf, die vor den Reichstagen zu Augsburg (1566 und 1582) und Regensburg (1576, 1594 und 1598) erhoben wurden.353 In den Gravamina klagten die Protestanten, dass an Orten, wo sie unter katholischen Glaubensanhängern lebten, Mischehen nur geschlossen wurden, wenn vorher der protestantische Teil konvertierte.354 Ein weiterer Beschwerdepunkt war die Frage der Kindererziehung, hier vor allem Versuche, Kinder protestantischer oder gemischtkonfessioneller Ehen, die evangelisch erzogen wurden, in sehr jungen Jahren von der evangelischen zur katholischen Religion zu führen. In einer Beschwerdeschrift, die dem Reichstag in Regensburg 1576 von den evangelischen Kurfürsten, Fürsten und Ständen übergeben wurde, klang bereits der später von protestantischer Seite immer wiederkehrende Vorwurf der Kindsentführung aus religiös-konfessionellen Gründen an. Den Jesuiten wurde angelastet, dass sie die Kinder des Adels „zu sich und Ihren Eltern abziehen“, um sie im katholischen Glauben zu unterweisen.355 Auf dem Reichstag zu Regensburg 1594 beschwerten sich dagegen die katholischen Fürsten und Stände darüber, dass Katholiken, die unter evangelischer Obrigkeit lebten und ihre Kinder von einem katholischen Priester taufen ließen, schweren Repressalien ausgesetzt wurden. Ferner würden auch diejenige[n] gestrafft werden, welche Catholische Gevattern bitten, inmassen auch Graffen und Herrn vom Adel und Bürger von ihren Praedicanten etlicher Orten von dem Tauff mit höchstem Schimpff, Unglimpff und despect abgewiesen werden, welches dann darum destoweniger Beweisens bedarff, dieweil in ihren Büchern gedruckt zu verlesen, wie
353 Dagmar Freist, Zwischen Glaubensfreiheit und Gewissenszwang: Reichsrecht und der Umgang mit Mischehen nach 1648, in: Ronald G. Asch u.a. (Hrsg.), Der Frieden – Rekonstruktion einer Europäischen Vision. 2 Bde. Bd. 2: Frieden und Krieg in der Frühen Neuzeit. Die europäische Staatenordnung und die außereuropäische Welt. München 2001, S. 294–322; Dies., Between Conscience and Coercion: Mixed Marriages, Church, Secular Authority, and Family, in: Mary Lindemann/David Luebke (Hrsg.), Mixed Matches: Transgressive Unions in Early Modern Germany. New York/Oxford 2014, S. 185–212 354 Kunstmann, Die gemischten Ehen, S.47–48. Vgl. auch die in Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 1, S. 79–253 abgedruckten Beschwerden protestantischer Kurfürsten, Fürsten und Stände vor den Reichstagen im 16. Jahrhundert. 355 Summarische Erzehlung, was in Religion Sachen auff dem Wahl-Tag A. 1575 fürgangen, samt andern Beschwerden, so den Evangelischen Unterthanen von ihren Catholischen Obrigkeiten wider den Religions Frieden und dessen Declaration zugefügt werden [...] von Chur=Pfaltz Cantzlern, den Evangelischen Churfürsten, Fürsten und Ständen auffm Reichs-Tag 1576 zugestellt, in: Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 1, S. 131–134, hier S. 133.
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abscheulich es seye, einen Catholischen Gevattern zu haben, und also vor hochsträfflich verbotten wird.356
In einer zweiten Schrift klagten die katholischen Reichsstände, dass protestantische Obrigkeiten Ehemännern ihr Bürgerrecht aberkannten und sie mit harten Strafen belegten, sobald ihre Frau und ihre Kinder katholische Predigten besuchten, um „das heilig Sakrament zu empfangen, oder sonsten der Catholischen Religion und Ceremonien gemäß sich verhalten“.357 In einer umfassenden Schrift der evangelischen Stände auf dem Reichstag zu Regensburg 1598, mit der sie Gravamina der Katholiken zurück zu weisen suchten, wurde der Vorwurf, Kinder „abzupractiren“ wiederholt: Die Ehrbaren Jesuiten, die auch ehrlicher Leute Kinder, wann sie die unterm Fürwort, sie in literis et bonis artibus zu instituieren, zu sich bringen, und ihre ingenia zu ihrem intent qualificirt befinden, ihren Eltern abstehlen, an andere Orte, da sie den Eltern nimmer zu sehen werden, verschicken, und sich nach ihren ingeniis (wie der Türck mit der Christen Kinden, die er zu Janitscharen zu gebrauchen abrichten lässet) zu formiren, ja auch sich nicht scheuen, unterm Prätext der information ehrlichen Männern ihre Ehweiber abzupractiren, und zu sich zu bringen.358
Aus diesen Vorwürfen und Konflikten entwickelte sich im 17. Jahrhundert ein langwieriger Streit zwischen den großen Konfessionen über das Alter, von dem an ein Glaubenswechsel rechtmäßig sein sollte, sowie über die Frage der Zuständigkeit beider Eltern aus einer gemischtkonfessionellen Ehe für die konfessionelle Unterweisung ihrer Kinder. Auf Reichsebene ist erstmals für die Nürnberger Friedensexecutionsdeputation vom 14. (24.) September 1650 eine intensivere Beschäftigung mit Mischehenkonflikten dokumentiert.359 Der unmittelbare Anlass war ein Streit über vier Waisenkinder in Augsburg. Die Kinder waren aus dem katholischen Waisenhaus in das evangelische Waisenhaus gebracht worden, ein Vorgang, der katholischerseits mit der Gewissensfreiheit der Kinder begründet worden war. Aufgrund des
356 Der Catholischen Stände Ablaynungs-Schrift, in: Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 1, S. 228–229. 357 Anzeig der Catholischen Stände was massen sie in das Gemein und insonderheit gegen die offenbahre Disposition des Religion-Friedens, von den Ständen der Augsburgischen Confession beschwert worden (1594), in: Lehmann, De Pace Religionis, Bd. 1, S. 232–238, hier S. 237. 358 Nothdürftige Ablehnung der Catholischen Stände Anno 1594 übergegebenen Gravaminum, von den Evangelischen Ständen eingebracht. An. 1598, in: ebd., S. 239–248, hier S. 247. 359 Der Westfälische Friedensvertrag enthielt keinerlei Regelungen zum Umgang mit gemischtkonfessionellen Ehen und der Frage der Kindererziehung in solchen Ehen.
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aufkommenden Streits über die weitere konfessionelle Unterweisung der Kinder waren sie bereits 20 Wochen von jeglicher religiöser Unterweisung ausgeschlossen worden. Die Katholiken forderten, die Kinder müssten frei entscheiden, welcher Konfession sie in Zukunft angehören wollten, die Augsburger Religionsverwandten argumentierten dagegen, vor Erreichen der annos discretionis dürften die Kinder, deren Ältestes 14 Jahre alt war, ihre Konfession nicht ändern.360 Die strittigen Fragen wurden in einer Beschwerdeschrift des „Catholischen Magistrats zu Augsburg gegen die Evangelischen daselbst“ in Nürnberg zur Entscheidung vorgetragen.361 Punkt eins behandelte die religiöse Erziehung von Kindern, deren Eltern verstorben waren. Hier wurde entschieden, dass Waisenkinder in der Konfessionszugehörigkeit ihrer Eltern erzogen werden müssten. Offen blieb, in welcher Religion ein Waisenkind erzogen werden sollte, wenn evangelische Eltern unmittelbar vor ihrem Ableben den katholischen Glauben angenommen und so auch gestorben waren. Eine solche Konversion war der Anlass für die ursprüngliche Einweisung der genannten Waisenkinder in ein katholisches Waisenhaus, ein Vorgehen, das von evangelischer Seite als unrechtmäßig angesehen wurde, da die Kinder bis zur Konversion der Eltern auf dem Totenbett evangelisch erzogen worden waren. Die zweite Frage befasste sich mit den Rechten von Kindern, die nicht bereit waren, in der Konfession ihrer verstorbenen Eltern weiter erzogen zu werden sowie damit zusammenhängend der Frage nach dem rechtmäßigen Konversionsalter. Drittens schließlich ging es darum, Richtlinien zu finden, nach denen in strittigen Fällen das Problem der Kindererziehung in gemischtkonfessionellen Ehen entschieden werden konnte. Grundsätzlich sollten Eltern die Möglichkeit haben, selbstständig in Eheverträgen die konfessionelle Unterweisung ihrer Kinder zu bestimmen. Waren allerdings keine Eheverträge abgefasst worden, so standen zwei Vorgehensweisen zur Disposition. Entweder sollte die Erziehung allein durch den Vater festgelegt werden, gegründet auf das Rechtsprinzip der patria potestas oder väterlichen Gewalt, oder die Erziehung sollte nach Geschlecht – die Töchter in der Religion der Mutter, die Söhne in der Religion des Vaters – erfolgen, was eine Verletzung oder Missachtung der patria potestas bedeutet hätte: Wann die Eltern von zweierlei Religion wären, und keine Pacta dotalia gemacht, oder intuitu religionis liberorum darin nicht verordnet hätten, wie es sodann mit den Kindern
360 Sitzung der Nürnberger Friedensexecutionsdeputation vom 2. (17.) Dezember 1650, in: Acta Pacis Executionis Publica, Tl. 2. Hrsg. von Johann Gottfried von Meiern, ND. der Ausg. 1736/1737, Osnabrück 1969, S. 812. 361 Sitzung der Nürnberger Friedensexecutionsdeputation vom 10. (20.) August 1650, in: ebd., S. 681.
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zu halten, ob patria potestas allein gelten, oder ob die Söhne, wie man es mit den Waisenkindern gehalten habe, dem Vater, die Töchter aber der Mutter in der Regel folgen sollen?362
Bei dem Versuch, sich auf ein angemessenes Konversionsalter von Kindern zu einigen, lagen beide Konfessionen weit auseinander.363 Die Katholiken wollten das zehnte Jahr, die Evangelischen das achtzehnte Jahr festsetzen, „da ein Mensch mit Vernunft sich determiniren könne, zu welcher Religion er sich bege ben wolle“.364 Zur Klärung dieser Frage wurden zwei theologische Gutachten in Auftrag gegeben. Von katholischer Seite wurde der Bamberger Jesuit P. Marcellus mit dieser Aufgabe betreut, das zweite Gutachten wurde von dem evangelischen Prediger Johannes Michael Dilherrn aus Nürnberg erbeten. Stimmten die beiden Gutachten überein, so sollte ihre Empfehlung bindend sein, andernfalls müssten die Beratungen fortgesetzt werden.365 Marcellus gab eine ganze Reihe von Gründen an, warum eine allgemeingültige Festsetzung eines bestimmten Alters, an dem die Vernunft erreicht sei, über einen Glaubenswechsel zu entscheiden, nicht möglich sei. Vielmehr hinge die Erkenntnis des wahren Glaubens von unterschiedlichen, individuell geprägten Umständen und der Gnade Gottes ab, die nicht allein altersabhängig seien.366 Dilherr dagegen empfahl unter Berufung auf unterschiedliche Autoritäten, die sich über Kindheit und über Fragen der Reife geäußert hatten, die annos discretionis auf mindestens 16 Jahre festzusetzen.367 Noch während des Verfahrens beschwerten sich die Evangelischen, daß zwischen denen beyden Monathen Martio und Augusto 1650 als dem Termino decretae Restitutionis Orphanorum et emanatae desuper Citationis a Commissariis, 6 von Evangelischen Eltern gebohrene Waysenkinder von den Catholischen wären auf die Seite geschafft worden.368
362 Ebd. 363 Dagmar Freist, Lebensalter und Konfession. Zum Problem der Mündigkeit in Religionsfragen, in: Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hrsg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit (Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit, 8). Münster u.a. 2007, S. 47–70. 364 Sitzung des Deputations-Rath [...] die dortigen Religions-Differentien betreffend, 14. (24.) September 1650, in: ebd., S. 754. 365 Ebd., S. 754–755. Ausführlich zu den Gutachten und der Kontroverse Kapitel II und Kapitel V. Für einen Überblick über den Umgang mit dieser Frage bis ins 18. Jahrhundert vgl. Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 76–80. 366 Für das gesamte Gutachten vgl. P. Marcelli, Jesuitae Bambergensis, Bedencken über der Determination Annorum Discretionis, in: Acta Pacis Executionis Publica, S. 813–814. 367 Für das gesamte Gutachten vgl. D. Johann Michael Dilherrn, Bedencken, über die annos Discretionis, in: ebd., S. 814–815. 368 Sitzung der Nürnberger Friedensexecutionsdeputation vom 7. (17.) Dezember 1650, in: ebd., S. 812. Da von katholischer Seite nur ein Sekretär an der Sitzung teilnahm, konnte auf die Be-
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Als die evangelische Seite die Rückgabe der Kinder verlangte, verweigerten die Katholiken dies mit dem Hinweis, „weil die Kinder bereits vor dem Monat Martio hinweg genommen worden, da das Decretum des Deputations-Convents erst publicirt worden sey, auf welches man sich jenseits fundire; so wäre keine Restitution vonnöthen“.369 Im weiteren Verlauf des Streits veränderten beide Parteien mehrmals ihre Positionen. Nachdem sich Katholiken und Protestanten zunächst geeinigt hatten, die annos discretionis auf 15 Jahre festzusetzen, widerrief die katholische Seite diesen Beschluss, definierte den Zeitpunkt der Kommunion als annos discretionis, um schließlich zu argumentieren, diese Frage sei eine ausschließlich geistliche Angelegenheit und müsse von Fall zu Fall von einem Geistlichen entschieden werden.370 Durch diese Haltung blieb die Frage des rechtmäßigen Konfessionswechsels von Kindern ungelöst. Bei Konflikten standen sich der Vorwurf des gewaltsamen „Abpractirens“ von Kindern aus konfessionellen Gründen und die Beteuerung, ein freiwilliger Glaubenswechsel liege vor, oft unauflösbar gegenüber.371 Aufgrund dieser unklaren Rechtslage konnten auch die Richtlinien, die zur Konfessionsbestimmung von Kindern in gemischtkonfessionellen Ehen aufgestellt worden waren, nicht oder nur schwer wirksam werden, da sie mit dem Argument des freiwilligen Glaubenswechsels unter Berufung auf die im Friedenswerk 1648 garantierte Gewissensfreiheit unterlaufen werden konnten und wurden. In Beantwortung der dritten Frage schließlich, mit der sich die Nürnberger Deputationsräte 1650 auseinander setzten, wurde entschieden, dass der Vater in einer gemischtkonfessionellen Ehe kraft väterlicher Gewalt die Konfessionsbestimmung seiner Kinder allein bestimmen konnte, die Eheleute hatten allerdings das Recht, in Eheverträgen eine andere Regelung zu treffen: Den dritten Casum mixti matrimonii betreffend, da hat es in denen geist- und weltlichen beschriebenen Rechten, ratione patriae potestatis, dergestalt seine klare Ziel und Maß, daß dem Vatter die alimentatio, educatio, institutio, elocatio, dotatio und der gleichen Ehr [Ehe-] Beschwerden principaliter obliegen, und die Kinder utrisque desselben disposition in geistund weltlichen Sachen, vornehmlich jederzeit zu gehorsamen schuldig seynd, dabei wir es
schwerde nicht näher eingegangen werden und dem Gesuch, die Kinder an dem katholischen Weihnachtsgottesdienst teilnehmen zu lassen, wurde statt gegeben. 369 Sitzung der Nürnberger Friedensexecutionsdeputation, Februar 1651, in: ebd., S. 825. 370 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 76. 371 Für Beispiele vgl. Kapitel II und Kapitel V.
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jedoch mit Bescheidenheit bewenden lassen, daß in alle Weg, da pacta dotalia vorhanden, dieselbe zuvörderst in acht genommen und observiret werden sollen und müssen etc.372
In Konfliktfällen beriefen sich die Kläger, häufig Klägerinnen, und auch Gerichte sowohl auf Territorialebene als auch auf Reichsebene regelmäßig auf diesen Grundsatz. Die häufig unklare Beweislage über die Freiwilligkeit oder den Zwang bei einem Glaubenswechsel von Kindern als auch widersprüchliche Rechtspositionen zwischen den Konfessionskirchen – unter anderem die Nichtanerkennung von Eheverträgen durch die katholische Kirche – und einzelnen Territorien zur Mischehenfrage bedeuteten, dass in jedem einzelnen Fall, der vor den Reichshofrat oder das Reichskammergericht kam, immer wieder erneut umfangreiche Gutachten eingeholt werden mussten. Am 6. (16.) Januar 1690 trugen die kursächsischen und kurbrandenburgischen Gesandten dem Kaiser das zunehmende Problem der Kindsentführung aus konfessionellen Gründen vor: Es wolle dahin kommen, daß keine zwischen ungleicher Religion Personen aufgerichtete Ehepacta fast mehr gelten wollen; sondern darwider und die ganz klar verglichene Ehestifftungen und gethane Versprechen ein Ehegatt so gar dem andern die Kinder heimlich zu entführen unternehme.373
Das Corpus Evangelicorum hatte sich bei unterschiedlichen Mischehenkonflikten, die vor die Reichsgerichte gelangten, wiederholt in Intercessionsschreiben an den Kaiser gewandt und die strikte Einhaltung von Eheverträgen gefordert, die auch nicht durch den Glaubenswechsel von Kindern verletzt werden dürften. Die Argumentation wird exemplarisch deutlich in den Beschwerden, die von braunschweigischen Gesandten mit Unterstützung des englischen Königs und Kurfürsten von Hannover, Georg II., 1748 mündlich und schriftlich in Kurköln und Kurmainz vorgetragen worden waren.374 Kernpunkt dieser Religionsgravamina war der Vorwurf gegenüber der katholischen „welt- und geistlichen Obrigkeit“ im
372 Schmidt, Die Confession der Kinder, S. 33. Dieser Beschluß findet sich nicht in von Meierns „Acta Pacis Executionis Publica“, wie Geringer, Die Konfessionsbestimmungen von Kindern, S.27–28, behauptet. Der gutachterliche Schluß liegt nur als Beilage zu einem Intercessionsschreiben des Corpus Evangelicorum an den Kaiser vom 14. (24.) Mai 1690 vor. Für den Wortlaut vgl. auch Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht, 22. Theil. ND. der Ausg. Leipzig 1746. Osnabrück 1968, S. 179. 373 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 71. 374 NLA HA Hann. 92 Nr. 1953 Versuch, zwischen evangelischen und katholischen reichsständen über das Alter der Kinder, die zur anderen Religion übertreten wollen, sich zu vergleichen (1752).
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Fürstbistum Osnabrück, unmündige Kinder aus Mischehen, die laut Ehevertrag evangelisch erzogen werden sollten, dem überlebenden Vater oder Mutter mit Gewalt, oder doch sonst heimlicher Weise (wegzunehmen) und deren Auslieferung, wenn man von Evangelischer Seite solches begehret, unter dem ganz einstigen Vorwandte der solcherlei unmündigen Kinder dennoch zustehen sollende Gewissensfreiheit, in Folge welcher sie bereits zur katholischen Religion sich bekennt hätten, oder dergleichen noch zu tun vorhabend wären, schlechterdings vorenthalten und versagt worden.375
Die Gesandten forderten eine einvernehmliche Festsetzung der annos discretionis, der sogenannten Großjährigkeit. Bis zu einem festgesetzten Alter sollte die Konversion von Kindern grundsätzlich verboten sein. Eine Eingabe an den Reichstag in Regensburg des gleichen Jahres lautete „Unmässliche Religionsgravamina übergeben zu Regensburg 1748. Protensum Regulativum Annorum Discretionis der Kinder; welche ‚ex matrimonii mixta religionis gezeuget’“.376 Die katholischen Reichsstände verschlossen sich dieser Forderung mit der Begründung, dass der Westfälische Frieden in dieser Frage kein „Regulativum“ vorgenommen hätte. Ihrer Meinung nach war die Annahme des katholischen Glaubens zu jeder Zeit möglich, da auch unmündige Kinder fähig seien, das Gut der „Gewissensfreiheit“ zu nutzen. Die Protestanten dagegen beriefen sich auf die vor fast 100 Jahren in Nürnberg festgesetzten Grundsätze und erwiderten auch in natürlichem und bürgerlichem Gesetze so stark fundirte patriam Potestatem (hausväterliche Gewalt) gesehen, mithin das Kind biß zu hinreichigen annos discretionis in der gleichen Religion seines Vaters, wo dieser nicht deutlich ein anders verfügt oder eingeräumt, erzogen, um so mehr dann diese Erziehung in des Vaters Religion, wo gar noch ausdrücklich darzu verbindende [Ehe] pacta, wie in denen meisten jetzigen Osnabrücker casibus vorhanden, genau und bona fide nachgelebt werde.377
Die Evangelischen Stände widersprachen der Meinung, dass unmündige Kinder bereits fähig zu eigener Gewissensfreiheit seien und verlangten eine einvernehmliche Bestimmung der annos discretionis auf vierzehn Jahre, was von katholischer Seite abgelehnt wurde. Ohne Festlegung von annos discretionis für einen Religionswechsel in einer Mischehe, so schließlich die Beschlußlage in Regensburg 1752, würde „die so heilig unter beiden Teilen durch den Westfälischen Friedens
375 HStAD: Loc. 30231/11 (Conclusum Corporis Evangelicorum de dato 12 Aprilis, 1752). Vgl. auch StAOS, Rep. 100 374, 12 (1748–1752). 376 StAOS, Rep. 100 374, 12 (1748–1752)., fol. 1. 377 Ebd., fol. 16.
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Schluß festgestellte durchgängige Aequilitaet in substrato gäntzlich vernichtet und zu Grunde gerichtet“.378 Eine entsprechende Eingabe ging im gleichen Jahr als Teil der bereits erwähnten, umfassenden Religionsgravamina an den Kaiser. Neben Osnabrück weisen die Religionsgravamina auch auf andere, oft kleinere Herrschaftsgebiete, die von ähnlichen Vorfällen betroffen waren. Die Frage der Konversion von Kindern beschäftigte im Zusammenhang mit konfessionell gemischten Ehen den Reichstag bis ins 18. Jahrhundert.379 In den Auseinandersetzungen um die annos discretionis ging es jedoch nicht nur um die Frage der Kindererziehung in Mischehen, sondern auch, und dies sei hier nur am Rande erwähnt, um die strittige Frage der reichsrechtlichen Einbindung und Anerkennung des Corpus Evangelicorum. Von katholischer Seite wurde vermutet, „die darunter gestellte Absicht bestünde darinnen, daß Protestanten bey dieser Gelegenheit den schon längst wünschenden Endzweck mit Catholici de Corpore ad Corpus zu tractiren erreichen möchten“.380 Die katholischen Stände vermieden noch Mitte des 18. Jahrhunderts, als Corpus Catholicorum in Erscheinung zu treten und weigerten sich, diese Bezeichnung zu akzeptieren.381 Das Corpus Evangelicorum war „bis ins 18. Jahrhundert hinein weder vom Kaiser noch von der katholischen Mehrheit des Reichstags offiziell anerkannt, sondern höchstens stillschweigend geduldet worden“.382 Dennoch wurde die Reichstagsarbeit in der Praxis weitgehend „von den Verhandlungen de corpore ad corpus“ beherrscht.383 Dies zeigt sich nicht nur bei Religionsbeschwerden, die häufig über das Corpus Evangelicorum an den Reichstag gelangten384, sondern auch bei Mischehekonflikten. Kläger wandten sich nicht nur an die Reichsgerichte, sondern auch an das Corpus Evangelicorum und darüber an den Reichstag. Diese Inanspruchnahme verschiedener rechtlicher und politischer Instanzen einschließlich der Öffentlichkeit durch die Streitparteien in Mischehekonflikten sowie das Ineinandergreifen verschiedener Rechtsräume und schließlich konfessionelle Interessen
378 Ebd. 379 Für Beispiele vgl. Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 77–78 und Kapitel V. 380 StAOS, Rep. 100 374, 12 (1748–1752), fol. 11 und 44–45. 381 Fritz Wolff, Corpus Evangelicorum und Corpus Catholicorum auf dem Westfälischen Friedenskongreß. Die Einfügung der konfessionellen Ständeverbindungen in die Reichsverfassung (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der neueren Geschichte e.V., 2). Münster 1966, S. 3. 382 Ebd. 383 Ebd., S. 1. 384 So beispielsweise die kurpfälzischen Gravamina. Für die anwachsende Bedeutung der beiden Corpora angesichts zunehmender konfessioneller Spannungen im 18. Jahrhundert vgl. ebd., S. 194–200. Zu diesem Ergebnis kommt jetzt auch Kalipke, Verfahren im Konflikt.
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bei der Bewertung und Einordnung von Tatbeständen erschwerten die Lösung von Fällen erheblich.385 Vor allem der zu beobachtende Rekurs an den Reichstag „als logische Konsequenz der faktischen Verköniglichung beider Reichsgerichte und der Permanenz des Reichstags“ zeigt das Bestreben, einen „unparteiischen“ Rechtsstrang zu entwickeln.386 Die oben angeführten, auf Reichsebene formulierten Grundsätze für den Umgang mit Konflikten in Mischehen erschienen in der politischen und rechtlichen Praxis daher eher als eine Richtschnur, die durch externe Faktoren verhandelbar schien, denn als ein klarer Rechtssatz. Welche Konsequenzen dies für die Rechtspraxis im Umgang mit Mischehenkonflikten hatte und welche politischen Handlungsspielräume sich hier verbargen, wird in den nachfolgenden Kapiteln immer wieder anklingen und anhand von Fallstudien vertieft in den Kapiteln drei und fünf untersucht. Die konkurrierenden Rechtspositionen beeinflussten das Verhältnis von Staat und Kirche in nicht unerheblicher Weise, ging es doch unter anderem um zentrale Fragen der Kompetenzverteilung bei Ehesachen. Darum wird es im Folgenden gehen.
1.6 Staat und Kirche Das Verhältnis von Staat und Kirche in der Frühen Neuzeit ist ein komplexes Thema und soll hier nur, basierend vor allem auf den Arbeiten Martin Heckels, in seinen Grundzügen gewissermaßen als Folie für die Mischehenproblematik skizziert werden. Im Kern geht es auf der einen Seite um die Rechte der weltlichen Obrigkeiten in Kirchensachen (ius circa sacra),387 auf der anderen Seite um die Bewahrung kirchlicher Freiräume gegenüber staatlicher Bevormundung.388 Bereits im Spätmittelalter gehörte die Verantwortung für die Christenheit zu den Pflichten des Landesherrn und die Ausdehnung landesherrlicher Befugnisse in Kirchensachen vollzog sich, wenn auch nicht unumstritten, im Schutz päpstlicher Privilegien. Mit der Reformation veränderte sich das Kräfteverhältnis. Die Landesherrschaft war nicht mehr allein ein bloßes „Vollstreckungs- und Schutz-
385 Vgl. dazu Kapitel V. 386 Heinz Duchhardt, Das Reichskammergericht, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 29). Köln u.a. 1996, S. 1–13, hier S. 11. 387 Heckel, Staat und Kirche, S. 245–248. 388 Dietmar Willoweit, Das landesherrliche Kirchenregiment, in: Kurt G. A. Jeserich u.a. (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des alten Reiches. Stuttgart 1983, S. 361–369.
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organ der Kirche“ unter dem direkten Einfluss des Papstes, sondern die Sorge der weltlichen Obrigkeit für den christlichen Glauben und das Kirchenwesen, die cura religionis, umfasste nun die Durchsetzung der wahren christlichen Lehre und damit einhergehend die konfessionelle Ab- und Ausgrenzung.389 Durch den Augsburger Religionsfrieden und noch einmal durch den Westfälischen Friedensvertrag fast hundert Jahre später wurden die Zuständigkeitsbereiche der Kirchen klar umgrenzt und eingeschränkt, und die Untertanen wurden in ihrer Gewissensfreiheit geschützt, so zumindest der Anspruch. Das Streben nach absolutistischer Herrschaft schließlich führte auch in katholischen Territorien zu einer weiteren Beschneidung kirchlichen Einflusses zugunsten der Macht des Landesherrn, eine Entwicklung, die von der katholischen Kirche nicht hingenommen und zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen führte. Dies zeigte sich auch in der Mischehenfrage. Der Bereich der Ehegesetzgebung fiel für Protestanten in den weltlichen Bereich, für Katholiken war die Ehe weiterhin eine rein geistliche Angelegenheit und gehörte damit unter die geistliche Jurisdiktion. Durch weltliche Gesetzgebung zu religiös-konfessionell gemischten Ehen verletzte der Landesherr die Kompetenz der katholischen Kirche, ein Schritt, den Rom mit zunehmender Verhärtung der eigenen Position bis in das frühe 19. Jahrhundert vehement bekämpfte und zu unterlaufen suchte. Im Folgenden soll es um die Verschiebung der Kompetenzbereiche zwischen Staat und Kirche im Umgang mit religiös-konfessionell gemischten Ehen gehen. Eine entscheidende Vorüberlegung bei der Analyse von staatlicher und geistlicher Interessenlage im Umgang mit Mischehen besteht darin zu fragen, ab wann und aus welchen Gründen Herrscher sich veranlasst sahen, Gesetze und Ordnungen zu erlassen, die die Eheschließung religiös-konfessionell verschiedener Partner regelten und ob es im Verlauf der Frühen Neuzeit Änderungen in der Ausgestaltung und Begründung solcher Gesetze gab. Weiterhin ergibt sich die Frage, auf welche Aspekte der Mischehe sich der Regelungsbedarf bezog. Hier bieten sich grundsätzlich drei unterschiedliche Bereiche an, die es näher zu untersuchen gilt. Ein Bereich umfasst das durchaus auch religiös motivierte politische Interesse des Herrschers an einem konfessionell homogenen Untertanenverband, das sich möglicherweise in dem Bemühen um eine Stärkung der Landeskonfession in der Gesetzgebung zu Mischehen dokumentierte, darunter Vorschriften zur Erziehung der Kinder ausschließlich in der Landeskonfession und zur Konversion des Ehepartners oder der Ehepartnerin. Mit Blick auf das hier näher untersuchte kursächsische Territorium ist auf den Dualismus zwischen Landesherrn und Adel hinzuweisen, der sich unter anderem auch in innerterritorialen, konfes-
389 Heckel, Staat und Kirche, S. 205–207.
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sionspolitischen Spannungen und einer starken konfessionspolitischen Einflussnahme der Stände gegen den konvertierten Herrscher zeigen konnte. Ein weiterer Bereich bezieht sich auf die Voraussetzungen und auf die Form der Eheschließung zwischen Anhängern verschiedener Bekenntnisse. Das Streben der Konfessionskirchen, bei Mischehen Einfluss auf die Form der Eheschließung und auf die Bedingungen eines Dispens zu nehmen, hier vor allem wiederum auf die Frage der religiösen Kindererziehung und die Konversion des „häretischen“ Partners, ließen in der Praxis zunächst keine Kompromisse zwischen den beteiligten Konfessionen zu. Hier sah sich die weltliche Obrigkeit möglicherweise genötigt, mitunter auch aufgrund des Druckes von Seiten der Geistlichkeit, regelnd einzugreifen. In dieser Situation würde der Herrscher die Rolle des Vermittlers darstellen in dem Bemühen, eine „neutrale“, über den Konfessionen stehende Lösung im Umgang mit Mischehen zu finden. Ein dritter Bereich schließlich bezieht sich auf ein möglicherweise „ordnungspolitisches“ Interesse des Herrschers, der ungeachtet konfessioneller Aspekte angesichts einer unübersichtlichen Gesetzeslage und sich überschneidender Kompetenzen eine einheitliche Regelung im Umgang mit Mischehen durchzusetzen suchte, die den Handlungsspielraum der Beteiligten für individuelle Entscheidungen durch Eheverträge, wie auch die Versuche Dritter, vor allem Geistlicher, die Parteien unter Druck zu setzen, einschränken bzw. vollständig beseitigen wollte. Auf den ersten Blick bieten diese drei Bereiche in der Reihenfolge ihrer Darstellung auch schon ein Modell für einen Wandel zwischen dem 16. und dem 18. Jahr hundert an.390 Ein inhaltlich über die Herrschermotivation so begründeter Wandel in der Gesetzgebung zu Mischehen würde sich nahtlos anfügen an die von der Konfessionalisierungsforschung vorgeschlagene Periodisierung, die bekanntlich die Zeit zwischen 1555 und 1648 als das „Zeitalter der Konfessionalisierung“ analytisch erfasst und beschrieben und die Zeit danach als eine Phase einsetzender Säkularisierung mit der zunehmenden Trennung von Politik und konfessionellen Interessen vor allem im 18. Jahrhundert interpretiert hat. Mit dem Westfälischen Frieden, so lautete lange die einhellige Forschungsmeinung, wäre ein „Schlussstrich unter das hundertjährige rechtliche Ringen um die Reichs-Religionsverfassung“ gezogen worden.391 Vereinzelte Studien, darunter vor allem die Arbeiten von Gabriele Haug-Moritz haben Anfang der 90er Jahre diese Interpretation hinterfragt und auf das Fortleben konfessionspolitischer Interessen in der Reichspolitik nach
390 Einen ähnlichen Verlauf hat Benjamin Kaplan für die Niederlande beobachtet. Kaplan, Intimate Negotiations, S. 226. 391 Martin Heckel, Deutschland im konfessionellen Zeitalter (Deutsche Geschichte, 5). Göttingen 1983, S. 198.
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1648 hingewiesen.392 Inzwischen gibt es eine intensivere Auseinandersetzung mit der Konfessionsproblematik im 18. Jahrhundert und es ist ein Gemeinplatz der Reichsgeschichtsschreibung geworden, wie Alexander Kalipke treffend zusammengefasst hat, dass das konfessionelle Zeitalter nicht 1648 endete.393 An dieser Beobachtung setzen die nachfolgenden Überlegungen an. Besonderes Augenmerk wird daraufgelegt werden, ob konfessionelle Interessen die Gestaltung weltlicher Gesetzgebung zu Mischehen auch nach 1648 bis zum Kölner Mischehestreit prägten oder ob unter Einfluss von Naturrecht und Toleranzdenken die weltliche Gesetzgebung zu Mischehen das Prinzip der Parität ausschließlich in den Mittelpunkt stellte. Zunächst nun zu der Genese weltlicher Gesetzgebung zu Mischehen: Der Augsburger Religionsfriede vom 25. September 1555 bedeutete eine entscheidende Weichenstellung für die Gestaltung der Rechtsverhältnisse gemischtkonfessioneller Ehen. Mit der offiziellen Anerkennung der Augsburger Konfession veränderte sich nicht nur das Verhältnis von Protestanten und Katholiken zueinander, sondern auch das Machtgefüge innerhalb des imperium sacrum. Das Vertragswerk von 1555 schuf bis zu der staatsrechtlich aufgetragenen aber nie verwirklichten kirchlichen Wiedervereinigung eine politische Ordnung der Koexistenz zwischen beiden konfessionellen Machtblöcken.394 Diese Ordnung umfasste die Sicherung des Fortbestands beider Konfessionen sowie die Freiheit zu ihrer geistlichen Entfaltung. Rechtliche und tatsächliche Beeinträchtigungen aus religiösen Gründen waren untersagt. Der Begriff der Häresie und kanonische Verordnungen gegen Häretiker konnten auf die Augsburger Religionsverwandten nicht mehr ungestraft angewandt werden; die geistliche Jurisdiktion der römisch-katholischen Kirche über die Protestanten und ihr Kirchenwesen wurde, soweit es Bekenntnis, Kultus und Kirchenwesen betraf, suspendiert.395 Weitere wichtige Regelungen, ohne an dieser Stelle das
392 Stievermann, Politik und Konfession; Haug-Moritz, Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), S. 445–482; vgl. auch dies., Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. 393 Kalipke, Andreas, „Weitläufftigkeiten“ und „Bedencklichkeiten“ – die Behandlung konfessioneller Konflikte am Corpus Evangelicorum, in: Zeitschrift für Historische Forschung 35/3 (2008), S. 405–447, hier S. 406. So auch Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 2 Bde., hier S. 20–21, allerdings ohne Verweis auf die bereits bestehende jüngere Forschungsentwicklung. 394 Heckel, Staat und Kirche, S. 209. Für die weiteren Ausführungen vgl. ebd. S. 209–216 ff. 395 § 20 ARF, Karl Zeumer, Quellensammlung zur Geschichte der Deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit (Quellensammlungen zum Staats, Verwaltungs- und Völkerrecht, 2). 2. Aufl. Tübingen 1913, S. 345–346.
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gesamte Vertragswerk wiedergeben zu wollen, betrafen das ius emigrandi, das religiöse Auswanderungsrecht, das später in der Publizistik als ius reformandi bezeichnete Konversionsrecht des Landesherren verbunden mit dem Recht, den territorialen Bekenntnisstand und die Ordnung des evangelischen Partikularkirchenwesens zu bestimmen, die Garantie des Status quo in konfessionell gemischten Frei- und Reichsstädten und schließlich die Zusage einer künftigen konfessionsneutralen Verfassungsgerichtsbarkeit, die durch die Zulassung evangelischer Kammerrichter und Beisitzer gewährt werden sollte.396 Der Versuch des Augsburger Religionsfriedens, mit Hilfe einer „politischsäkularen Friedensordnung“397 die äußere Einheit des Reiches wahren zu wollen, bedeutete angesichts der in Glaubens- und Rechtsfragen zutiefst zerstrittenen Religionsparteien ein fast unmögliches Unterfangen. Solange beide Kirchen an der Absolutheit ihres theologischen Wahrheitsanspruches festhielten und darauf die wahre Kirche Christi gründeten, konnte ein „unkonfessionell-politisches Recht der Landfriedensebene“398, das eine noch nicht vollzogene Trennung von Kirche und Staat, Glaube und Recht sowie den Abschied von einer theokratisch und sakral verstandenen Reichsidee voraussetzten, die konfessionelle Spaltung politisch nicht überwinden. Konfessionelle Konflikte sind neben den an den Reichstag und die Reichsgerichte adressierten Beschwerden über Bedrohungen des Religionsfriedens dokumentiert in unterschiedlichen, konfessionell geprägten Normen und Begriffen, vor allem aber, und das ist entscheidend, in der jeweils konfessionell bestimmten Interpretation des Friedenswerkes. Die unmittelbare Tragfähigkeit des Friedensvertrages ungeachtet seiner epochalen Bedeutung für die weitere verfassungsrechtliche und konfessionspolitische Entwicklung im Reich wurde weiterhin dadurch erschwert, dass eine Reihe strittiger Fragen ungelöst blieben.399 Dazu zählte auch der Umfang der Suspension der geistlichen Jurisdiktion gegen die Protestanten, hier vor allem deren Gültigkeit für das Eherecht, und die Übertragung der gesamten iura episcopalia auf den evangelischen Landesherrn. Im Unterschied zu einem evangelischen Landesherrn genoss ein katholischer Fürst nicht die Landeshoheit (superioritas territorialis) in geistlichen Sachen, ein Umstand, der ebenfalls Konfliktstoff barg und in der Praxis häufig umgangen wurde.400 Schließlich, und das wurde bereits mehrfach
396 Ebd. 397 Heckel, Staat und Kirche, S. 213. 398 Ebd. 399 Für eine Auflistung vgl. ebd., S. 211–212. 400 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 820; ders., Von der Teutschen Justiz = Verfassung (Neues Teutsches Staatsrecht, 8.1). ND der Ausg. Leipzig 1774, Osnabrück 1967, S. 784–908.
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erwähnt, wurden die Kompromisse, die bei einer konfessionell gemischten Ehe sowohl bei der Einsegnung als auch bei der Seelsorge und der Kindererziehung zwangsläufig geschlossen werden mussten, nur widerwillig bis gar nicht von den beteiligten Konfessionskirchen akzeptiert. Die Gründe für diese Haltung sind in dem fortbestehenden Wahrheitsanspruch der drei Konfessionen zu suchen, die ein Nebeneinander, wie es der Westfälische Frieden vorsah, aber kein Miteinander zu tolerieren im Stande waren. Damit sind die Parameter, nach denen das Verhältnis von Staat und Konfessionskirchen in der Frage der Mischehe gemessen werden muss, skizziert. Entscheidend waren die rechtlichen und tatsächlichen Kompetenzbereiche und die Handlungsspielräume der Protagonisten in Ehesachen. Wie bereits oben gezeigt, verengte der gesetzliche Zugriff des Staates auf konfessionell gemischte Ehen den Einfluss der Kirchen, ein Prozess, der für die katholische Kirche aufgrund ihrer Eheauffassung als geistliche Angelegenheit umso schmerzlicher zu verwinden war. Darüber hinaus räumte die katholische Kirche einem weltlichen Landesherrn gleich welcher Konfessionszugehörigkeit keine Rechte in Ehesachen ein, ein Umstand, der von der weltlichen Herrschaft zunehmend ignoriert wurde. Im Folgenden sollen nun die einzelnen Zuständigkeiten in Ehesachen skizziert werden. Zunächst zurück zu den Implikationen der Suspension geistlicher Jurisdiktion gegenüber den Protestanten für den Bereich der Ehe.401 Gegenüber der katholischen Kirche beriefen sich evangelische Theologen im 17. Jahrhundert auf den weltlichen Charakter der Ehe, um die Ablehnung des päpstlichen Jurisdiktionsprimats und der bischöflichen Ehegerichtsbarkeit zu begründen und Ehesachen weltlicher Gerichtsbarkeit unterstellen zu können. Im Kontext des Reichsrechts wiederum, und hier vor allem mit Blick auf die Regelungen des Augsburger Friedens war eine Argumentation notwendig, die zum Schutz des evangelischen Eherechtssystems darlegen konnte, dass evangelische Ehesachen geistlicher Natur waren und somit unter den Suspendierungsparagraphen fielen, also auch aus rechtlichen Gründen von der katholischen Ehegerichtsbarkeit ausgeschlossen werden mussten. Gleiches galt für das Bemühen, die Zuständigkeit katholisch gesinnter Reichsinstanzen für evangelische Ehesachen abzuwehren.402 In der Praxis entstanden angesichts des strittigen Interpretationsrahmens dieser Bestimmung Konflikte über die Kompetenzen in Ehesachen zwischen protestantischen weltlichen Ehegerichten und katholischen geistlichen Gerichten, hier vor allem die Offizialatsgerichte, die auch vor dem Reichskammergericht
401 Zentral Martin Heckel, Autonomia und Pacis Compositio. Der Augsburger Religionsfriede in der Deutung der Gegenreformation, in: ZRG GA 77 (1991), S. 283–350. 402 Dieterich, Das Protestantische Eherecht, S. 246.
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ausgetragen wurden.403 Vor allem aus politischen Gründen waren protestantische Theologen und Juristen damit gezwungen, eine doppelgleisige Argumentation zu verfolgen. Die Gründe für diese Mehrdeutigkeit der protestantischen Eheauffassung liegen jedoch auch in der übergreifenden Frage nach der Verbindlichkeit der Offenbarung für das menschliche Recht, die das protestantische Denken in der Frühen Neuzeit zutiefst bewegte. Konkret ging es um die Verbindlichkeit der Schrift für das von Menschen geschaffene Eherecht, wobei Geltungsanspruch und Geltungsumfang unter Protestanten unterschiedlich bewertet wurden.404 Mischehen unterlagen vor 1648 in der Regel ausschließlich den Bedingungen der offiziellen Landeskonfession, was aus theologischer Sicht, vor allem mit Blick auf den ungebrochenen Wahrheitsanspruch der Konfessionskirchen – wie oben gezeigt – für die konfessionelle Minderheit nicht tragbar war. Gleichzeitig vermitteln die Quellen, abgesehen von den Schriften einzelner Kanoniker, den Eindruck, dass bis in die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts religiös-konfessionell gemischte Ehen als mögliches Problem weitgehend ignoriert wurden. Nur so ist die völlige Übergehung dieser Frage in dem Vertragswerk des Westfälischen Friedens zu verstehen. Nach 1648 veränderte sich die Situation aus einer Reihe von Gründen, auch wenn der Friedensvertrag keine Regelung zu Mischehen beinhaltete. Der Westfälische Frieden gewährte evangelischen, reformierten und katholischen Untertanen ungeachtet der Landeskonfession die freie Religionsausübung in dem Umfang, wie sie bereits am 1. Januar 1624 in dem jeweiligen Herrschaftsgebiet gebräuchlich war.405 Das beinhaltete, dass die drei reichsrechtlich legitimierten Konfessionen in den einzelnen Territorien einen unterschiedlichen Grad an öffentlicher Anerkennung genossen. Neben der gemäss der Normaljahresregelung von 1624 offiziell anerkannten Konfession eines Territoriums oder einer Reichsstadt wurde die öffentliche oder private Religionsübung von Anhängern der beiden anderen Konfessionen je nach Recht und Brauch des Jahres 1624 geduldet.406 Die Rechte von protestantischen Untertanen katholischer Reichsstände und umgekehrt von katholischen Untertanen evangelischer Reichsstände wurden einschließlich aller Nebenrechte (Besetzung der Konsistorien, Schulen, Kirchenämter und Patronatsrecht) in Anlehnung an die Zustände im Normaljahr 1624 restituiert.407 Wichtig
403 Für Beispiele vgl. Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht., S. 311–368 sowie Kapitel V mit weiterführender Literatur. 404 Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 151 ff. 405 IPO, Artikel V, § 31–36. Vgl. etwa in: Buschmann, Kaiser und Reich, S. 323–326. 406 Ausführlich zu den komplexen Fragen der Normaljahrsregelung die umfangreichen Arbeiten von Ralph-Peter Fuchs. 407 IPO, Artikel V, § 31. Vgl. etwa in: ebd., S. 323.
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war vor allem für die Frage nach der gerichtlichen Zuständigkeit bei Konflikten in Mischehen, dass das Diözesanrecht und die gesamte geistliche Gerichtsbarkeit gegenüber Kurfürsten, Fürsten und Ständen und deren Untertanen, sowohl zwischen Katholiken und Anhängern der Augsburger Konfession als auch unter den Ständen der Augsburger Konfession suspendiert blieb. Landstände und Untertanen der Augsburger Konfession, die katholischen Landesherrn unterstellt waren und im Jahre 1624 die geistliche Gerichtsbarkeit anerkannt hatten, sollten nur der Gerichtsbarkeit unterstehen, wenn Bekenntnisfragen nicht berührt waren, was in der Praxis allerdings immer wieder zu Streitigkeiten führte.408 Ehesachen von Anhängern der Augsburger Konfession, die nach evangelischem Kirchenrecht unter die weltliche Gerichtsbarkeit fielen, waren von der geistlichen Jurisdiktion suspendiert, was in katholischen Territorien jedoch nicht eingehalten wurde. Neben einer Reihe paritätischer Reichsstädte409 waren nur noch im Bistum Osnabrück beide Konfessionen völlig gleichberechtigt nebeneinander gestellt, was zu einer genau festgelegten Abfolge von katholischem und evangelischem Landesherrn als auch einer gesondert geregelten, unantastbaren Gewissensfreiheit führte.410 In einer Reihe von Territorien und Regionen gab es aufgrund einer wechselvollen Geschichte lutherischer, reformierter und katholischer Konfessionalisierung, Herrschaftswechsel, Grenzveränderungen und Migration auch nach 1648 eine dichte konfessionelle Durchmischung, vor allem in der Kurpfalz411, in den Herzogtümern Jülich, Kleve und Berg412, in den Grafschaften Mark und Ravensberg413, in den Badischen Kondominaten414, in Nassau415 und schließlich im Herzogtum Preußen416 sowie in einigen gemischten Bistümern. Diese konfessionelle Durchmischung der Untertanen stellte die Landesherrn und die Bevölkerung
408 IPO, Artikel V, § 48. Vgl. etwa in: ebd., S. 330. 409 Augsburg, Biberach, Dinkelsbühl (Straßburg zwangsweise während des Interims), Ravensburg und Wetzlar sowie einige mehrkonfessionellen Städte, darunter Oppenheim und Alzey. 410 Wolfgang Seegrün/Gerd Steinwascher (Hrsg.), 350 Jahre Capitulatio perpetua Osnabrugensis (1650–2000). Entstehung – Folgen – Text (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschung, 41). Osnabrück 2000, S. 1–30. 411 Anton Schindling/Walter Ziegler, Kurpfalz, in: Dies. (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993, S. 8–49. 412 Smolinsky, Jülich-Kleve-Berg. 413 Rudersdorf/Schindling, Kurbrandenburg, S. 62. 414 Press, Baden und die badischen Kondominate. 415 Paul Münch, Nassau, Ottonische Linien, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 4: Mittleres Deutschland. Münster 1992, S. 234–252. 416 Iselin Gundermann, Herzogtum Preußen, in: ebd., Bd. 2, S. 220–233.
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vor besondere Herausforderungen und erschwerte den Prozess der Konfessionalisierung. Untertanen, die nicht durch die Regelung des Normaljahres von 1624 geschützt waren, erhielten persönliche Gewissensfreiheit – conscientia libera –, sollten „mit Nachsicht geduldet werden“ – patienter tolerentur – und durften ihre Religion privat ausüben – devotio domestica –, ihre Kinder von Privatlehrern erziehen lassen oder an Gottesdiensten und Schulunterricht ihrer Konfession in Nachbarterritorien teilnehmen. Wegen seines Bekenntnisses durfte niemand verachtet oder aus Gemeinschaften wie derjenigen von Kaufleuten, Zünften oder Erben ausgeschlossen werden. Schließlich gewährte das Recht auf Auswanderung – ius emigrandi – den Schutz von Eigentum und Vermögen. Diese veränderte religiös-konfessionelle Landschaft und die damit verknüpften reichsrechtlichen Bestimmungen und partikularrechtlichen Ausprägungen, vor allem aber die Abweichungen in der Praxis, hatten Auswirkungen auf die Politik gegenüber gemischten Ehen. Johann Jacob Moser schilderte die praktischen Folgen aus landesherrlicher Perspektive: In welchen Landen verschidene Religionsverwandten geduldet werden; da lässet man auch die gemischte Ehen unter denselbigen zu; ausser deme aber nicht; wenigstens nicht ohne Dispensation. Ein so anderen Falles pfleget durch landesherrliche Gesetze (welche aber nicht wider den Religions= oder Westphälischen Friden seyn müssen,) oder Landes=Verträge, bestimmet zu werden, wie es wegen Eingehung solcher Ehen, der Ehepacten, und der Erziehung, solle oder dörffe gehalten werden.417
Während nach Moser also in Territorien, in denen die Angehörigen der beiden großen Konfessionen nach Maßgabe des Westfälischen Friedens gleichberechtigt nebeneinander geduldet wurden, konfessionell gemischte Ehen zugelassen wurden und die Eheleute selbst über die Trauung, die Taufe und die religiöse Erziehung ihrer Kinder bestimmen durften, hatte der Landesherr bei bloßer Duldung Andersgläubiger das Recht, „die gemischten Ehen in so ferne zu verbieten, daß man dergleichen Personen nicht in dem Lande duldet, oder sie doch auf andere Art einzuschränken“,418 einen Weg, den die kursächsischen Stände verfolgten. In diesen Fällen wurden nach Moser Landesgesetze erlassen, in denen das Dispensverfahren für die Eheschließung und die religiöse Erziehung von Kindern geregelt wurden. Besonders konfliktträchtig war die Frage der religiösen Kindererziehung in gemischtkonfessionellen Ehen, da hier verschiedene Rechtsetzungsinstanzen – Reichsrecht, Landesrecht und kirchliches Recht – ineinander griffen und nicht alle Rechtssätze gegenseitig anerkannt wurden. Grundsätzlich gab es drei
417 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 115. 418 Ders., Von der Landeshoheit im Geistlichen, S. 483.
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verschiedene Rechtsgrundlagen, nach denen sich die religiöse Kindererziehung richtete: Johann Jacob Moser hat die Optionen treffend zusammengefasst: Ware aber die Ehe gemischt, werden bald alle Kinder in des Vaters Religion erzogen; bald die Söhne in der väterlichen und die Töchter in der mütterlichen; bald beede in der herrschenden Landes=Religion.419
In der Frage der Kindererziehung blieb die katholische Kirche zumindest in ihrer offiziellen Haltung kompromisslos und versuchte, die eigene Position umzusetzen. In den Streitfragen, die das Verhältnis von Staat und Kirche betrafen, ging es vor allem um die Frage der Landeshoheit in geistlichen Sachen (ius circa sacra) 420, die je nach territorialer und konfessioneller Konstellation von Protestanten und Katholiken unterschiedlich ausgelegt wurde.421 Während sich in protestantischen Territorien die landesherrliche Obrigkeit in vollem Umfang auf den kirchlichen Bereich erstreckte und „das landesherrliche Kirchenregiment über die evangelischen Landeskirchentümer [...] als Ausfluß und Teilstück der fürstlichen Souveränität (ius maiestas ecclesiasticum) [...] als ‚höchstes Regal‘“ galt,422 gestaltete sich das Verhältnis zwischen katholischem Landesherrn und katholischer Kirche vielschichtiger. Moser unterschied bei Katholiken in der Beurteilung der Landeshoheit in geistlichen Sachen, ob es um das Verhältnis zu Papst und katholischer Geistlichkeit, zum Kaiser, zu katholischen Mitständen und schließlich zu evangelischen Untertanen ging. Die Grenzen „landesherrlicher Gerechtsame in Religionssachen“ setzte die Verfassung der römisch-katholischen Kirche, der ein katholischer Landesherr unterlag, und die durch den Westfälischen Frieden geschützt war.423 So wenig, wie die „Reichsgesetze in Religionssachen [...] die Wahrheit oder Hinfälligkeit weder der einen noch der anderen Religion im geringsten berühren und selbige weder billigen, noch missbilligen“, sondern lediglich einen weltlichen Vertrag zwischen Kaiser und „beeder Religionen, als Glider eines einigen weltlichen Staats= Körpers“ darstellten, so wenig hatten der Papst und die Bischöfe ein Mitspracherecht in weltlichen Dingen oder besaßen das Recht, ihre Glaubensangehörigen von der Verpflichtung weltlicher Gesetze loszusprechen.424 Während Kaiser und katholische Reichsstände einem katho-
419 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 69. 420 Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen, S. 8. 421 Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen. 422 Heckel, Staat und Kirche, S. 241. 423 Moser, Von der Landeshoheit im Geistlichen, S. 10–11. 424 Ebd., S. 11.
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lischen Landesherrn die Landeshoheit in geistlichen Sachen gegenüber katholischen Untertanen absprachen, gestatteten sie diese katholischen Landesherrn gegenüber evangelischen Untertanen unter Berufung auf Art. 5 § 30 des Westfälischen Friedensvertrags (ius reformandi) im Rahmen der Normaljahrsregelung. Dieser Interpretation widersprachen die evangelischen Reichsstände, indem sie sich auf die Aufhebung der geistlichen Jurisdiktion beriefen sowie auf Art. 5 § 31 (Besitzstandsgarantie für die Untertanen andersgläubiger Herren nach Maßgabe der Verhältnisse des Jahres 1624). Die unterschiedlichen Interpretationen des Westfälischen Friedensvertrags und die Bandbreite der Auslegung wurden besonders deutlich, wenn ein zum Katholizismus konvertierter Landesherr über ein evangelisches Territorium regierte und die Landeshoheit in geistlichen Sachen einschließlich des Kirchenregiments beanspruchte.425 Die Annahme, dass auch einem katholischen Herrscher eines evangelischen Territoriums das ius circa sacra zukomme, wurde von den Protestanten nie akzeptiert. Ob die Religionsversicherungen, die konvertierten Landesherrn von evangelischen Ständen abgenommen wurden, diese Haltung konterkarierten, indem sie implizit das ius circa sacra des katholischen Herrschers anerkannten, wie Haug-Moritz in Anlehnung an Moser argumentiert hat, ist fraglich.426 Vielmehr scheint überzeugender, dass mithilfe der Religionsversicherungen eben die Landeshoheit in geistlichen Sachen von anfang an unterbunden werden sollte. Gelang dies nicht wie im Falle Kursachsens intern durch einflussreiche Stände, so blieb den Angehörigen der Landeskonfession der Weg nach Regensburg sowie die Einwerbung von Hilfe evangelischer Reichsstände und Mächte, wie dies die Kurpfalz eher erfolglos, aber Württemberg und Hessen-Kassel überzeugender praktiziert hatten. Schlussbetrachtung Zu den zentralen Themen dieses Teils gehörte die Frage, wie sich angesichts massiver theologischer Vorbehalte gegenüber religiös-konfessionell gemischten Ehen und der Kontroversen, welche die frühneuzeitliche Haltung zu religiöskonfessionell gemischten Ehen prägten, der politische und kirchenrechtliche Umgang mit Mischehen in den jeweiligen Territorien gestaltete. Dabei können folgende Beobachtungen zusammengefasst werden. Die Haltung der katholi schen Kirche zu Mischehen war eindeutig ablehnend. An der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert wiederholten eine Reihe von Diözesansynoden die alten Verbote, mit Andersgläubigen Ehen einzugehen, es sei denn, diese würden vor der Ehe-
425 Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 175. 426 Ebd., S. 177.
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schließung konvertieren. Provinzialsynoden, die sich im 17. und im 18. Jahr hundert mit Mischehen befassten, erneuerten vorangegangene kanonische Verordnungen, erklärten Mischehen für unerlaubt und untersagten die kirchliche Einsegnung sowie die Proklamation von der Kanzel. Was die Kindererziehung anging, so verlangte Rom die Erziehung aller Kinder aus einer religiös-konfessionell gemischten Ehe in der katholischen Konfession und teilte Eheverträgen oder der Kindererziehung nach Geschlecht eine eindeutige Absage. Entgegen dieser klaren Vorgaben verhielten sich katholische Geistliche in den einzelnen Territorien des Heiligen Römischen Reiches gegenüber Mischehen unterschiedlich, so dass verallgemeinernde Aussagen nur die offizielle Haltung der katholischen Kirche widerspiegeln, nicht aber die Regelungen in der alltäglichen Praxis. Hier wurde häufig „zur Abwendung größeren Schadens“ von der Forderung des Glaubenswechsels abgewichen, allerdings offiziell an der Dispens vom Ehehindernis festgehalten und den angehenden Eheleuten drei Versprechen abverlangt: Das Versprechen des nichtkatholischen Ehepartners, die freie Religionsausübung des Katholiken nicht zu behindern; das Versprechen des katholischen Partners, den Nichtkatholiken zu bekehren; und schließlich das Versprechen beider Eheleute, alle Kinder in der katholischen Kirche taufen und erziehen zu lassen. Darüber hinaus wurden insbesondere in Regionen mit religiös heterogener Bevölkerung Mischehen geschlossen, ohne päpstliche oder bischöfliche Dispens und ohne Zusicherung der katholischen Erziehung aller Kinder. Dies provozierte zwar immer wieder den Widerspruch Roms, wurde aus Pragmatismus im Alltag aber so gehandhabt und teilweise verteidigt. Im Verlauf des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts deutete sich unter dem Eindruck zunehmender rechtlicher Gestaltung der Mischehenfrage durch weltliche Gesetzgebung eine Verschärfung der Position von Seiten der katholischen Kirche an, die nun bemüht war, die Befolgung ihrer Grundsätze auch vor Ort durchzusetzen. Eine rechtlich allgemeingültige Position der protestantischen Kirche zum Umgang mit Ehen zwischen Protestanten und Anhängern nichtchristlicher Religionen gab es in der Frühen Neuzeit nicht. Unter den protestantischen Theologen des 16. und 17. Jahrhunderts herrschte eine ablehnende Haltung gegenüber Mischehen vor, auch wenn ebenfalls unter Berufung auf Paulus und der damit verbundenen Hoffnung auf Konversion des andersgläubigen Ehepartners Mischehen mitunter geduldet wurden. Dennoch wurde die Religionsverschiedenheit (disparitas cultus) als trennendes Ehehindernis auch in der protestantischen Kirche auf der Grundlage eines allgemeinen, kirchlichen Gewohnheitsrechts, das partikularrechtlich unterschiedliche Ausprägungen erfuhr, aufrechterhalten. Ehen mit Anhängern anerkannter, christlicher Konfessionen und zwischen Rechtgläubigen und Mitgliedern aus als sektiererisch oder häretisch betitelter Gemeinschaften, die dem Christentum im weitesten Sinne zuegordnet werden
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konnten, wurden in der protestantischen Kirchenrechtslehre des 17. Jahrhunderts, allen voran durch den bedeutenden Kirchenrechtler Benedict Carpzov, allerdings milder beurteilt als in der Kanonistik. Zwar wurde vor einer Ehe mit Katholiken oder Reformierten gewarnt und die priesterliche Einsegnung in den einzelnen Territorien an unterschiedliche Bedingungen geknüpft, doch ein aufschiebendes Ehehindernis wie nach kanonischem Recht bildeten bekenntnisverschiedene Ehen nur unter partikularrechtlichem Einfluss. Während sich die katholische Kirche unter Berufung auf Rom und das kanonische Eherecht eindeutig gegen Mischehen äußerte und Konfessionsverschiedenheit als aufschiebendes Ehehindernis betrachtete, konnte sich die junge evangelische Kirche abgesehen von theologischen Vorbehalten nicht auf ein für sie allgemeingültiges Kirchenrecht beziehen. Dennoch ist es bezeichnend, dass sich auch protestantische Theologen in ihrer Ablehnung gegen Mischehen auf einschlägige Stellungnahmen der Kirchenväter sowie Konzilsbeschlüsse bezogen. Die differenzierte Rezeption des katholischen Eherechts durch protestantische Theologen zeigt sich damit auch im Umgang mit Mischehen. Die weltliche Gesetzgebung zu Mischehen war abgesehen von territorialen Konstellationen und Einflüssen von drei unterschiedlichen Interessenlagen geprägt. Zunächst ist das religiös motivierte politische Interesse der Obrigkeit an einem homogenen Untertanenverband zu nennen, das vor allem im 16. Jahrhundert dazu führte, bei gemischtkonfessionellen Ehen die Erziehung aller Kinder in der Landeskonfession gesetzlich festzulegen und die Konversion des andersgläubigen Ehepartners zu verlangen. Eine weitere Motivation für den Erlass von Gesetzen zu Mischehen war das Bemühen der Obrigkeit, eine „neutrale“, über den Konfessionen stehende Lösung im Umgang mit Mischehen zu finden. Das Streben der Konfessionskirchen, bei Mischehen Einfluss auf die Form der Eheschließung und auf die Bedingungen einer Dispens zu nehmen, hier vor allem wiederum auf die Frage der religiösen Kindererziehung und die Konversion des „häretischen“ Partners, ließen in der Praxis keine Kompromisse zwischen den beteiligten Konfessionen zu. Hier sah sich die weltliche Obrigkeit genötigt, mitunter auch aufgrund von Druck seitens der Geistlichkeit, regelnd einzugreifen. Schließlich ist das „ordnungspolitische“ Interesse der Obrigkeit zu nennen, die ungeachtet konfessioneller Aspekte angesichts einer unübersichtlichen Gesetzeslage und sich überschneidender Kompetenzen eine einheitliche Regelung im Umgang mit Mischehen durchzusetzen versuchte, die den Handlungsspielraum der Beteiligten für individuelle Entscheidungen durch Eheverträge, wie auch die Versuche Dritter, vor allem Geistlicher, die Parteien unter Druck zu setzen, einschränken bzw. vollständig beseitigen wollte. Entscheidend ist die Beobachtung, dass noch im 18. Jahrhundert konfessionspolitische Erwägungen des Herrschers – oder in Einzelfällen der Stände nach
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der Konversion des Herrschers – weiter ein tragendes Gewicht in der Landespolitik hatten. Das haben nicht nur Gesetze zu konfessionell gemischten Ehen gezeigt, sondern auch umfassendere, hier nur beiläufig erwähnte Religionsedikte und Religionsversicherungen für die Untertanen, die auf Druck von Landständen, aber auch auf Druck anderer Landesfürsten unter Berufung auf den Westfälischen Frieden und die dort vereinbarten konfessionellen Verhältnisse eingefordert wurden.427 Auch wenn der Westfälische Friedensvertrag durch die Normaljahrsregelung vom 1. Januar 1624 eine klare und unveränderbare Regelung der konfessionellen Zusammensetzung einzelner Herrschaftsgebiete anstrebte, so erschwerte eine Reihe von Faktoren die Umsetzung dieses Ziels. Dazu gehörte vor allem in religiös-konfessionell gemischten Gegenden auf der lokalen Ebene die wirklichkeitsgetreue Rekonstruktion des Status quo von 1624, was ein äußerst aufwendiges und schwieriges Unterfangen darstellte.428 Die konfessionelle Aufteilung der einzelnen Kirchspiele und Ämter im Bistum Osnabrück bietet ein beredtes Zeugnis davon, dass bei diesen Rekonstruktionsversuchen eine konfessionelle Zuordnung entstehen konnte, die in keiner Weise dem konfessionellen Status quo von 1648 bzw. von 1650 entsprach und jahrelange konfessionelle Konflikte nach sich zog.429 Ähnliche Ergebnisse sind aus entsprechenden Untersuchungen für Jülich-Kleve-Mark gezeigt worden.430 Auf der politischen Ebene haben Veränderungen der Konfession des Landesherren aufgrund des Aussterbens einer Linie oder infolge von Konversion, als auch umfassende territoriale Grenzverschiebungen im späten 17. und 18. Jahrhundert infolge von Erbschaftskriegen oder Heiratspolitik oft mehrmals die konfessionelle Zusammensetzung eines Herrschaftsgebiets neu durchmischt und bei den Untertanen Verunsicherung über den Fortbestand ihrer freien Religionsübung unter einem neuen Herrscher anderer Konfession ausgelöst. Kaum untersucht von der Forschung sind „Rekon-
427 Für eine Vertiefung dieser Frage vgl. die Fallstudien in Kapitel III. 428 Ralf-Peter Fuchs/Winfried Schulze (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände der Frühen Neuzeit (Wirklichkeit und Wahrnehmung in der Frühen Neuzeit 1). Münster/Hamburg/London 2002. 429 Dazu detailliert Kapitel III sowie ein Verweis auf die umfangreichen und einschlägigen Studien von Ralf Peter Fuchs zur Normaljahrsregelung, dazu exemplarisch Fuchs, Ein ‚Medium‘ zum Frieden. 430 Ralf-Peter Fuchs, Die Autorität von ‘Normaljahren’ bei der kirchlichen Neuordnung nach dem Dreißigjährigen Krieg – Das Fürstbistum Osnabrück und die Grafschaft Mark im Vergleich, in: Arndt Brendecke/Ralf-Peter Fuchs/Edith Koller (Hrsg.), Die Autorität der Zeit in der Frühen Neuzeit. Berlin 2007, S. 353–374.
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fessionalisierungsversuche“ neu erworbener Landesteile nach 1648, wobei hier vor allem Rekatholisierungsversuche zu verzeichnen wären.431 Je nach religiös-konfessioneller Zusammensetzung des Untertanenverbandes und Herrschaftsgefüges waren konfessionspolitische Interessen unterschiedlich stark ausgeprägt. Das konfessionspolitische Verhalten eines Landesfürsten wurde im eigenen Territorium, aber auch von außen durch andere Landesfürsten kritisch beobachtet. Bei klaren Verstößen gegen den Westfälischen Friedensvertrag wurden das Corpus Evangelicorum, Reichskammergericht, Reichshofrat und im 18. Jahrhundert zunehmend der Reichstag zur Vermittlung und zum Schutz der bedrängten Untertanen eingeschaltet und Garantien zur Gewissensfreiheit verlangt. Ungeachtet der unterschiedlichen Konfessionspolitik einzelner Landesherren im 18. Jahrhundert wird eine klare Veränderung in den Landesgesetzen zu Mischehen deutlich. Nach der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation tritt die Forderung nach Wahrung konfessioneller Parität in den Hintergrund und wird ersetzt durch das Streben nach Ordnung auf Grundlage des bürgerlichen Rechts in einer nun endgültig säkularisierten Normsetzung. Fast ausnahmslos wird jetzt allein die Konfession des Vaters in konfessionell gemischten Ehen gesetzlich bindend für die Erziehung der Kinder. Der Kölner Mischehestreit, vielleicht auch der Kulturkampf, bedeute ein letztes Aufbäumen vor allem der katholischen Kirche und Roms, ein Mitgestaltungsrecht in Ehesachen und konfessioneller Unterweisung zu bewahren.
431 Vgl. Herzig, Reformatorische Bewegungen; Jürgen Stillig, Jesuiten, Ketzer und Konvertiten in Niedersachsen: Untersuchungen zum Religions- und Bildungswesen im Hochstift Hildesheim. Bernward 1993.
2 P raktiken religiös-konfessioneller Formung: Fremd- und Selbstverortungen Ein Tenor in allen Vorbehalten gegen religiös-konfessionell gemischte Ehen war die Sorge, dass die Eindeutigkeit religiöser und konfessioneller Zugehörigkeit ver loren gehen und dass religiöser Gewissenszwang ausgeübt werden könnte, und schließlich, dass Familienmitglieder von ihrer Religionszugehörigkeit abgeworben werden könnten. Diese Sorge wurde vor allem in Bezug auf Kinder artikuliert, die in einer Mischehe geboren wurden und in ihrem unmittelbaren Umfeld verschiedenen religiösen Praktiken im Haus und im Kontext der sozialen Verflechtungen des Hauses ausgesetzt waren. Die Uneindeutigkeit religiöser Zugehörigkeit in Mischehen und die daraus entstehenden Probleme waren eine Begründung dafür, dass schließlich im ausgehenden Ancien Régime alle Territorien im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation die Kinder aus Mischehen rechtlich auf die konfessionelle Zugehörigkeit des Vaters festlegten und bisherige Wahlmöglichkeiten in der Familie abgeschafft wurden.1 Die Sorge um den Verlust eindeutiger religiöser Zugehörigkeit wirft nicht nur die Frage danach auf, wer die Kriterien für „eindeutig“ im Unterschied zu „unein deutig“ formulierte, sondern setzte auch voraus, dass sich eine eindeutige religiöse Selbst- und Fremdverortung ausbildete, und dass die Frage nach religiöser und konfessioneller Eindeutigkeit überhaupt eine Rolle in sozialen Beziehungen spielte. Mit der kritischen Rezeption der Konfessionalisierungsforschung seit den 1990er Jahren und dem Vorwurf etatistischer Verengungen wird diese Frage intensiv diskutiert, und die normative Ebene konfessioneller Eindeutigkeit durch den Blick auf religiöse Praktiken sowie Selbst- und Fremdverortungen ergänzt.2 Wenig überraschend wird dabei die immer wieder beobachtbare Diskrepanz von Norm und Praxis konstatiert. Wird der Blick allerdings auf den Prozess religiöser Subjektivierung gelenkt, verstanden als ein Ineinandergreifen von konfessio neller Formung und Praktiken religiöser Selbstbildung, so wird dieser Dualismus zwischen Norm und Praxis überwunden. Formierungsprozesse im Sinne des Ein übens und sich Hineinbildens in eine religiöse Subjektform, die bestimmten reli giösen oder konfessionellen Anforderungen entsprechen sollte, zeigen sich in religiösen Praktiken, der Frage ihrer Anerkennung oder Aberkennung, und der Inkorporierung bestimmter Seh-, Denk- und Handlungsweisen. Durch die ein-
1 Vgl. zu diesem Themenkomplex Kapitel I. 2 Andreas Pietsch/Barbara Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 214). Heidelberg 2013.
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übende Teilnahme an religiösen Praktiken wurden ein „praktisches Bewusstsein“3 und praktische Fähigkeiten (Gebrauchswissen) angeeignet und verinnerlicht, die es erlauben, so eine Grundannahme von Praxistheorien, „auf die Handlungszüge anderer angemessen zu antworten, sich in das Geflecht einzuklinken und das passende Handeln auszuführen“ 4 und so ein implizites Verständnis von sich und der Welt zu gewinnen. In dieser Perspektive wird die religiöse oder konfessionelle Zugehörigkeit nicht als ein einmal erreichter Status religiöser oder konfessioneller Eindeutigkeit begriffen, sondern als durch soziale Praktiken hervorgebracht und veränderbar, als das praktische Zusammenspiel sehr unterschiedlicher Akteure – Menschen, Körper, Artefakte, Dinge, Diskurse.5 Zugleich, und darauf hat die aktuelle praxeologisch ausgerichtete Subjektivierungsforschung wiederholt aufmerk sam gemacht, beinhalten alle Vollzüge von Praktiken ein Element von Unsicherheit und Veränderung, in dem kreativ mit aktuellen Herausforderungen umgegangen wird.6 Gerade in religiös-konfessionell gemischten Regionen lässt sich die religiöse Formierung und Selbstbildung nicht als ein von außen gesteuerter Prozess deuten, sondern zeigt komplexe Prozesse kreativer Aneignungen konfessioneller Deutungsangebote und das Aushandeln von Differenzen im Alltag.7 Diese Aushandlungs- und Aneignungsprozesse in religiösen Praktiken im Alltag und verschiedene Formen religiöser Selbstverortung in Relation zu konfessionellen Normierungsprozessen sind insbesondere in Mischehen beobachtbar. Im Folgenden werden Prozesse religiöser Subjektivierung verstanden als das Zusammenspiel konfessioneller Formierungs- und Bildungsarbeit und der kreativen Aneignung konfessionsspezifischer Merkmale in dem Prozess religiöser Selbstbildung und Selbstverortung. Dabei geht es sowohl um Glaubenswissen, als auch um Praktiken und Rituale, wie etwa den Kirchgang, die Teilnahme am Abendmahl, den Schulbesuch und Umgangsweisen mit religiösen Artefakten. Die Frage konfessioneller Verortung und religiöser Selbstverortung spitzte sich zu in der Debatte, ab welchem Alter sich überhaupt so etwas wie „Religionsmündigkeit“ zeigte und die Fähigkeit erworben wurde, zwischen den Religionen
3 Anthony Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft. Grundzüge einer Theorie der Strukturierung. Frankfurt a.M./New York 1988. 4 Hörnig, Die Macht der Dinge, S. 162. 5 Freist, Diskurse – Körper – Artefakte. 6 Mit weiterführender Literatur Dagmar Freist, Historische Praxeologie als Mikro-Historie, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure-Handlungen-Artefakte. Weimar/Köln/ Wien 2015, S. 62–77, hier S. 72–73. Zu konfessioneller Uneindeutigkeit und Ambiguität als Strategie vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Einleitung, in: dies./ Pietsch, Konfessionelle Ambiguität, S. 9–26, hier S. 12. 7 Detailliert dazu Kapitel III. Vgl. auch die Neuansätze in der Konfessionalisierungsforschung von Holzem, Christentum in Deutschland, S. 13.
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und Konfessionen zu unterscheiden (annos discretionis). In Mischehen wurde diese Frage immer wieder diskutiert, wenn es darum ging, einen Religionswechsel von Kindern als freiwilligen Akt oder als die Folge von Gewissenszwang zu beurteilen, und in Befragungen der Kinder prallten die Suche nach konfessioneller Eindeutigkeit und – aus obrigkeitlicher Perspektive – die Uneindeutigkeit religiöser Selbstverortung aufeinander. Was allerdings aus konfessionspolitischer Perspektive als Problem der Uneindeutigkeit wahrgenommen wurde, beschrieben die Menschen selbst schlicht als religiöse Zugehörigkeit, die sich aus sehr unterschiedlichen Orientierungen speiste. Mit der analytischen Umschreibung religiöser Selbstverortung als religiöskonfessionell soll der Beobachtung Rechnung getragen werden, dass in Prozessen konfessioneller Formung und religiöser Subjektivierung konfessionsspezifische religiöse Praktiken und konfessionelle Unterscheidungsmerkmale unter dem Einfluss lebensweltlicher Wahrnehmungs- und Deutungsschemata angeeignet und an spezifische Herausforderungen im Alltagshandeln immer wieder neu angepasst wurden.
2.1 K onfessionalisierung als (Selbst)Bildungsprogramm: Praktiken religiöser Formung Welche Lehrmeinung die Lutheraner von den Reformierten oder den Katholiken unterschied, erfuhren die Gläubigen im Katechismus Unterricht und in den Predigten, sofern sie dem Kirchgang nicht trotz Verpflichtung dazu fernblieben. Die erfolgreiche Katechismus Prüfung galt in allen Konfessionen als Voraussetzung für die erstmalige Teilnahme am Abendmahl, mit der die Kirchenzugehörigkeit in einem öffentlichen Ritual deklariert und konfessionelle Grenzen hervorgebracht wurden. So beinhaltete bereits eine handschriftlich überlieferte hessische Gottesdienstordnung von 1532 Regelungen zum Katechismus Unterricht: Wer in Catechismo vnbericht sol zumb Nachtmal nicht zu gelassen werden, er hab den zu vor solche kinder lere gefasset oder wolle es lernen vff solche fragen zimlich zu antworten. Hyer zu dynen Lutheri vnd Brencii beide gross vnd clyne.8
Im Verlauf eines Lebens gab es immer wieder Abschnitte, bei denen die Kenntnis der kirchlichen Lehre abgefragt werden sollte, so von den Brautleuten vor der
8 Zitiert nach Christoph Weismann, Die Katechismen des Johannes Brenz. Bd. 1: Die Entstehungs-, Text- und Wirkungsgeschichte. Berlin u.a. 1990, S. 221.
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Eheschließung oder von Eltern und Paten vor der Taufe, aber auch vor der Verleihung des Bürgerrechts oder der Übernahme eines politischen Amtes, soweit diese an einen Konfessionseid gebunden waren.9 Die Überprüfung des Bekenntnisses sollte auch vor jeder Abendmahlsfeier beibehalten werden. Die Kirchenordnung des ernestinischen Sachsens von 1528 mahnte die Pfarrer „es sol auch niemand zu der empfahung des hochwirdigen sacraments zugelassen werden, er sei denn zuvor verhört und gefragt, damit man dem leibe Christi keine unehre thue, wie oben angezeigt“.10 Die Wurzeln dieser katechetischen Fragform reichen bis in die Antike Kirche zurück, etwa die Unterweisung und Befragung der Taufbewerber, und haben ihren Niederschlag im Zusammenhang mit dem Missionsbefehl im Neuen Testament gefunden. Die Unterweisung in der kirchlichen Lehre begann bereits bei den Kindern und wurde in den verschiedenen protestantischen Kirchenordnungen nachdrücklich zur Pflicht gemacht.11 Die Kirchenordnung des Albertinischen Sachsens von 1580 verlangte von den „Eingepfarrten“ unter Strafe, ihre Kinder und Hausgesinde zur „predig und zum examen des catechismi“ zu schicken und darüber zu wachen auch wann, sie es zur kirchen schicken, ihnen selbst nachsehen, ob sie daselbst hin und nicht anderer ort gehen, auch deshalben nicht allein fleissige nachforschung haben, sondern auch, wann sie wieder zu hause kommen, selbst befragen, was man gepredigt, und was jedes aus der predigt gelernet und behalten habe.12
Die Osnabrücker Kirchenordnung von 1543 schrieb vor, dass am Sonnabendvormittag die Kinder aller drei Schulklassen den Katechismus lernten und dass sie die Lehrsätze, die sie in der Woche auswendig gelernt hatten, wiederholen sollten.13 Entscheidend war das Verständnis der Lehre, nicht das bloße Auswendig-
9 Hinweise auf Katechismus Examen finden sich in nahezu allen Kirchenordnungen. Vgl. dazu die Zusammenstellung von Emil Sehling, Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. 15 Bde. Neudr. Bde. 1–5 der Ausg. Leipzig 1902–1913. Aalen 1970–1979; Bd. 6–15. Tübingen 1955–1977. Zur Frage von Bekenntnis, Eiden und Bürgerrecht vgl. Tl. 2. 10 Kirchenordnung des Ernestinischen Sachsen von 1528, in: Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten. 1. Halbband. Neudr. der Ausgabe Leipzig 1902. Aalen 1979, S. 169. 11 Sascha Salatowsky (Hrsg.), Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke (Veröffentlichungen der Forschungsbibliothek Gotha, 49). Gotha 2013. 12 Kirchenordnung des Albertinischen Sachsen von 1580, in: Emil Sehling (Hrsg.), Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts. Sachsen und Thüringen nebst angrenzenden Gebieten. 2. Halbband. Neudr. der Ausgabe Leipzig 1902. Aalen 1979, S. 440–441. 13 Christliche Kirchenordnung der Stadt Osnabrück (1543), in: Karl Georg Kaster/Gerd Steinwascher (Hrsg.), 450 Jahre Reformation in Osnabrück (Osnabrücker Kulturdenkmäler – Beiträge
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lernen, und die Fähigkeit, auf Anfrage „sein leer zu bekennen“.14 In der Nürnberger „Catechismus- oder Kinder-Predig“ (1533) hieß es über die Vermittlung der lutherischen Glaubensgrundsätze: Die solt ihr fleissig lernen, das jhrs nicht allein sprechen kont, sonder auch das jhrs fein versteht, wie sie Gott der Herr gemaint hat, Auff das, wann man euch darumb fraget, das jhr kont antwort gegen [...] Dann es ist ein grosse schand vor Got vnd der welt, wann ein Christ nicht waist, was der Christen leer ist.15
Auch sollten die Kinder später ihre eigenen Nachkommen in der gleichen Lehre erziehen. Sowohl der Kleine Katechismus Luthers, die Brenzschen Fragstücke und der Heidelberger Katechismus waren im Unterschied zu vielen anderen weni ger einflussreichen Werken ausgezeichnet durch einen „Doppelcharakter von Wissens- und Bekenntnisfragen“, wodurch garantiert werden sollte, dass neben der Abfrage eines gelernten Wissens ein geschärftes Bewusstsein über das eigene Bekenntnis verinnerlicht wurde.16 Die Frage der religiösen Unterweisung von Kindern wurde mit pädagogischen Vorstellungen über eine erfolgreiche Formung und Bildung von Kindern reflektiert. So argumentierte etwa Johannes Brenz in seiner pädagogisch-katechetischen Programmschrift De instituendis pueris aus dem Jahre 1527, die christliche Erziehung müsse aus Liebe erfolgen und sei ein Gebot Gottes. Die Erziehungsmethoden sollten Härte vermeiden. Durch sein gutes Vorbild und mit Hilfe von Lockmitteln und einer Belohnung sollte der Vater im häuslichen KatechismusUnterricht seine Kinder in der christlichen Lehre unterweisen. Besuchte das Kind die Elementarschule, so war es die Aufgabe des Vaters, das Pensum zu Hause mit Fragstücken zu wiederholen.17 Intensiviert wurde diese prozesshafte Verinnerlichung der Lehre durch Schreibübungen, in dem über Seiten zentrale Glaubensaussagen abgeschrieben wurden. Inwieweit das seitenlange Abschreiben dieser Glaubenssätze Mittel zum Zweck, nämlich schlicht Schreibübungen waren, oder
zur Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Osnabrück, 6). Bramsche 1993, S. 179–191. 14 Johann Michael Reu, Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts in der evangelischen Kirche Deutschlands zwischen 1530–1600. 1. Tl.: Quellen zur Geschichte des Katechismus-Unterrichts. 1. Süddeutsche Katechismen. Hildesheim u.a. 1976, S. 464. 15 Catechismus- oder Kinder Predig [...] den Kindern und jungen Leuten zu sonderbarem Nutz also in Schrifft verfasset, in: Reu, Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts, S. 462– 564, hier S. 462. 16 Christoph Weismann, Eine kleine Biblia: die Katechismen von Luther und Brenz. Einführung und Texte. Stuttgart 1985, S. 37. 17 Christoph Weismann, Die Katechismen des Johannes Brenz. Bd. 1: Die Entstehungs-, Textund Wirkungsgeschichte. Berlin u.a. 1990, S. 43–51.
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aber eine körperlich unterstützte Form der Gedächtnisarbeit darstellten, ist nicht allgemeingültig zu entscheiden.18 Auch die katholische Kirche intensivierte im Zuge der Konfessionalisierung die Unterweisung ihrer Glaubensanhänger von klein auf in den Grundsätzen des katholischen Bekenntnisses und konnte dabei an die Katechese der Alten Kirche in Form des Taufkatechumenats, mit Einführung der Kindertaufe dann die Unterweisung der Paten, und an die mindestens einmal im Jahr vollzogene Wissensprüfung im Rahmen des Beichtwesens anknüpfen. Im Predigtteil des Messgottesdienstes wurden bereits im Mittelalter die geforderten Stücke regelmäßig, auch in der Landessprache, rezitiert, gelegentlich auch erläutert.19 1613 forderte Ferdinand von Bayern „in einem später mehrfach wiederholten Synodaldekret, daß an allen Sonn- und Feiertagen die Jugend wie das unwissende Volk nach bestimmten Modus zu katechisieren sei“.20 Die regelmäßige Katechese sollte durch die Gründung von Bruderschaften der christlichen Lehre gefördert werden. Die Grundlage der Unterweisung bildete der Katechismus des Petrus Canisius, auch wenn im 16. Jahrhundert weitere katholische Katechismen publiziert wurden.21 Die katholische Formung erfolgte weniger im Haus als in den von Ordensleuten geleiteten Schulen und in der Kirche. In der katholischen Gemeinde in Oppenheim mussten die Kinder und ‚alles Junge Gesind, so noch unter 24 Jahren begriffen ist‘, an der jeden Sonntag vor der Vesper gehaltenen ‚christlichen Lehr‘ teilnehmen, wobei nach einer Stunde ‚erstlich bei Manns-Personen und Jungen Knaben und hernacher dem Weibs-Volk die Umbfragen gehalten‘ wurden.22
Die Orden und ihre Bildungseinrichtungen, vor allem die der Jesuiten, bildeten in gewisser Weise den Motor der katholischen Konfessionalisierung. Insgesamt kann mit Blick auch auf die Universitäten mit Thomas Kaufmann von einer Rekle rikalisierung des Bildungswesens gesprochen werden.23
18 Lucas Haasis/Constantin Rieske, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Historische Praxeologie. Dimensionen vergangenen Handelns. Paderborn 2015, S. 7–54, hier S. 7. 19 Ebd., S. 6; Weismann, Eine kleine Biblia, S. 14–18. 20 Andreas Holzem, Religion und Lebensformen. Katholische Konfessionalisierung im Sendgericht des Fürstbistums Münster 1570–1800 (Forschungen zur Regionalgeschichte, Bd. 33). Paderborn/München/Wien/Zürich 2000, S. 413. 21 Christoph Moufang (Hrsg.), Katholische Katechismen des sechzehnten Jahrhunderts in deutscher Sprache. Ndr. der Ausg. Mainz 1881. Hildesheim 1964. 22 Zschunke, Konfession und Alltag, S. 94. 23 Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Staat. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte. Tl. 2, in: Theologische Literaturzeitung 121/12 (1996), S. 1112–1121.
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Die praktische Seite der Religionsausübung der Konfessionen und deren Kontrolle mittels Visitationen wurden äußerst akribisch durch Kirchenordnungen geregelt, in die die Katechismen häufig mit aufgenommen wurden. Auch wenn die Vermittlungsanstrengungen der reinen Lehre auf Grundlage des bisherigen Forschungsstands, was den kognitiven Bereich anging, als eher wenig erfolgreich eingestuft werden müssen, so lässt sich für das 17. und 18. Jahrhundert für die religiöse Praxis dennoch die Entstehung konfessionell unterschiedlicher Ausprägungen religiöser Zugehörigkeit nachweisen. Religiöse Zugehörigkeit, so wird im Folgenden argumentiert, entwickelte sich in einem wechselseitig konstitutiven Formierungs- und (Selbst)Bildungsprozess zwischen konfessionellen und religiösen Formierungsbemühungen und situativ kreativen Aneignungsprozessen, die von einem Bündel sehr unterschiedlicher lebensweltlicher Faktoren abhingen und gesellschaftlich eingebunden waren.24
2.1.1 Konfessionelle Unterscheidungsmerkmale Im Folgenden werden gewissermaßen von außen betrachtet markante Konfessionsunterschiede aus theologischer Sicht in den Blick genommen so wie sie in den Bekenntnisschriften und Konzilen der Frühen Neuzeit festgelegt wurden.25 Diese sicht- und hörbaren Markierungen konfessioneller Zugehörigkeit werden in Beziehung gesetzt zu lutherisch, katholisch und reformiert geprägter populärer Frömmigkeit und religiöser Praktiken im 17. und 18. Jahrhundert. Vor allem in religiös-konfessionell gemischten Territorien stachen die äußeren Unterscheidungsmerkmale der Konfessionen „wie Glockenleuten, Kreuzzeichen, Altarschmuck, Bilder, die Kleidung der Geistlichen sowie die Art und Weise der Austeilung der Sakramente“, die Heiligenverehrung, die Begehung von Feiertagen, Prozessionen
24 Pia Schmid, Bildungsgänge sub specie religionis. Herrnhuter Lebensläufe des 18. Jahrhunderts, in: Juliana Jacobi/Jean-Luc Le Cam/Hans-Ulrich Musolff (Hrsg.), Vormoderne Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit. Weimar/Wien/Köln 2010, S. 81–96, hier S. 81–82. 25 Auf Differenzen der Lehrmeinungen innerhalb der großen Konfessionen kann hier nicht eingegangen werden. Grundlage der Ausführungen bilden die drei reformatorischen Hauptschriften Martin Luthers aus dem Jahre 1520, sowie seine Paulus Exegese, das Konkordienbuch (1580), für die Reformierte Kirche, die eine große Zahl an Bekenntnisschriften hervorgebracht hat, der Heidelberger Katechismus (1563), für die katholische Kirche die ‚professio fidei Tridentina‘ (1564). Allgemein Brecht/ Schwarz, Bekenntnis und Einheit der Kirche; Jedin, Die Geschichte des Konzils von Trient; Reinhard/Schilling, Katholische Konfessionalisierung, S. 50–69; Gunther Wenz, Theologie der Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. 2 Bde. Berlin u.a. 1996/1998.
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oder Wallfahrten besonders ins Auge.26 „Derlei wurde vollführt oder nicht ausgeführt, damit durch Gebrauch oder Ablehnung sichtbar werde, wes Glaubens man sei.“27 Die Hauptunterschiede im Bekenntnis der drei Konfessionen, die sich unmittelbar auf die religiöse Praxis und die Gestaltung des Gottesdienstes auswirkten und somit auch für Laien ‚sichtbar‘ wurden, bezogen sich auf die Zahl und die Bedeutung der Sakramente, die Ekklesiologie und die Heilslehre.28 Von den sieben Sakramenten der katholischen Kirche (Taufe, Ehe, Abendmahl, Buße, Kommunion, Priesterweihe, Krankensalbung) hielten die Protestanten nur an dem Sakramentscharakter der Taufe und des Abendmahls fest.29 In der Abendmahlslehre unterschieden sich alle drei Kirchen deutlich voneinander. In der katholischen Kirche bedeutete das Abendmahl, das seit dem hohen Mittelalter gegründet auf die Transsubstantiationslehre in einerlei Gestalt als Messopfer durch einen geweihten Priester gefeiert wurde, die Wandlung des Messweins in das Blut Christi.30 Die Protestanten feierten das Abendmahl in beiderlei Gestalt (Laienkelch) mit den Einsetzungsworten Jesu nach Matthäus 26, 26–28, unterschieden sich aber grundsätzlich in der Abendmahlslehre. Für die Lutheraner war nach der Ubiquitätslehre die Realpräsenz Christi in der Abendmahlsfeier an Brot und Wein gebunden, während für die Reformierten Brot und Wein symbolhaft den Leib und das Blut Christi verkörperten und an die Gegenwart Jesu erinnerten. Brot und Wein, so wurde es im Heidelberger Katechismus formuliert, werden „als gewisse Wahrzeichen des Leibes und Blutes Christi gegeben“.31 Auf die Frage “Wird denn aus Brot und Wein der wesentliche Leib und Blut Christi?“ lautete die Antwort „Nein; sondern wie das Wasser in der Taufe nicht in das Blut Christi verwandelt oder die Abwaschung der Sünden selbst wird, deren es allein ein göttlich Wahrzeichen und Versicherung ist, also wird auch das heilige Brot im Abendmahl nicht der Leib Christi selbst“.32
26 Zschunke, Konfession und Alltag, S. 79. 27 Ernst Walter Zeeden, Die Entstehung der Konfessionen. Grundlagen und Formen der Konfessionsbildung im Zeitalter der Glaubenskämpfe. München/Wien 1965, S. 130–131. 28 An dieser Stelle sei auf die wichtigen innerkonfessionellen Kontroversen verwiesen, die aber nicht Gegenstand dieser Untersuchung sind. 29 Zum Sakramentsverständnis vgl. Martin Luther, De captivitate Babylonica. 30 Zur Bedeutung der Eucharistie im Mittelalter und die Entstehung eines Eucharistiekultes vergleiche die anregende Arbeit von Martin Eders, Die „Deggendorfer Gnad“. Entstehung und Entwicklung einer Hostienwallfahrt im Kontext von Theologie und Geschichte. Deggendorf 1992, vor allem S. 119–185. 31 Otto Weber (Hrsg.), Der Heidelberger Katechismus. Hamburg 1963, S. 41. 32 Ebd., S. 43.
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Die Grundlage der Ekklesiologie der Protestanten bildete die Absage an die päpstliche Lehrgewalt und an den Suprematsanspruch des Papstes.33 War die katholische Kirche auf den Papst als obersten Repräsentanten Gottes auf Erden gebunden und an geweihte Bischöfe und Priester für die Feier der heiligen Messe, hatten die Protestanten nach der biblischen Überlieferung das Priestertum aller Gläubigen zur Grundlage ihrer Kirchenlehre gemacht34: „Denn wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“ (Matthäus 18, 20). Nach protestantischer Lehre konnte sich jeder Christ durch die Erleuchtung des heiligen Geistes das wahre Schriftverständnis erschließen. Mit der Ablehnung eines spezifischen Amtspriestertums wurde die Laienpredigt eingeführt. In der katholischen Kirche war die Verkündigung als zentrale Funktion im Leben der Kirche geweihten Bischöfen und Priestern vorbehalten, die den Lehrsätzen ihrer Kirche verpflichtet waren, an dem Verbot der Laienpredigt wurde festgehalten. In der lutherischen Kirche war die katholische Messe in weiten Teilen beibehalten worden, nun in deutscher Sprache, ohne die Verehrung von Heiligen, mit liturgischen Wechselgesängen, einem größeren Stellenwert der Predigt und des Gebets, der Einführung des deutschen Kirchenlieds und einer Aufwertung der Kirchenmusik. Im Mittelpunkt des reformierten Gottesdienstes stand allein die Predigt, der Gesang von Psalmen, das Kirchenlied und das Gebet. Liturgische Elemente waren fast völlig verschwunden, aufgrund des Bilderverbots war der Kirchenraum leer und schmucklos, das Kruzifix wurde ersetzt durch ein schlichtes Kreuz. Bilder sollten auch nicht als der „Laien Bücher“ geduldet werden, „denn wir nicht sollen weiser sein denn Gott, welcher seine Christenheit nicht durch stumme Götzen, sondern durch lebendige Predigt seines Worts will unterwiesen haben“.35 Auch in der Heilslehre und im Glaubensverständnis gab es bedeutende Unterschiede zwischen den Konfessionen. Stand für Katholiken die ‚Werkgerechtigkeit‘ oder ‚Werkfrömmigkeit‘36 verbunden mit einer Intensivierung der Bußpraxis im Mittelpunkt der Heilslehre, das Festhalten an der Lehre von der Erbsünde und ein habitualisiertes Gnadenverständnis – der Mensch kann sich durch Wollen zum Guten wenden und fromme Werke vollbringen – beruht nach Luther
33 Zur Kritik am Suprematsanspruch des Papstes vgl. Martin Luther, An den christlichen Adel deutscher Nation von des christlichen Standes Besserung 1520. WA 6 (1888), S. 404–469. 34 Ebd. 35 Weber, Heidelberger Katechismus, S. 52. 36 In der katholischen Theologie wird der von lutherischer Seite vorgebrachte Begriff der Werkgerechtigkeit nicht akzeptiert. Nach katholischem Verständnis ist Gott allein Ausgangspunkt der Gnade. Durch gute Werke konnte jedoch die Voraussetzung, Gnade zu empfangen, verbessert werden.
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die Heilsgewissheit allein auf dem Glauben an das Wort Gottes (sola fide). Der Glaube gründet sich auf die Gewissheit von Gottes Wohlgefallen und Barmherzigkeit ohne Vorleistung und auf die Offenbarung der Liebe Gottes in Christus.37 Im Glauben hat der Mensch die Freiheit gefunden. Der Glaube treibt den Menschen an so zu handeln, wie Gott an ihm durch Christus gehandelt hat. Wahrhaft gut sind nur die in Freiheit vollbrachten Werke.38 Erst im Glauben ergibt sich die reine Motivation menschlichen Handelns durch Gottvertrauen und Gottesfurcht, nicht durch Streben nach Ehre und Furcht vor Schande. Die Gnade Gottes ist eine übernatürliche Qualität, deren reines Vorhandensein den Zustand der Erbsünde aufhebt. Die Rechtfertigung des Menschen, ein Zentralbegriff der Paulinischen Theologie, ist nur durch die Gnade Gottes zu erreichen (sola gratia). Im katholischen Glauben wurde im Zuge der Konfessionalisierung die Rechtfertigungslehre, die ebenfalls auf Paulus zurückging, enger an das Sakrament der Beichte gebunden und die Bußpraxis intensiviert. Ein weiterer gewichtiger Unterschied bestand in der Frage der Bedeutung von Schrift und Tradition. Das Wort Gottes offenbart sich nach Luther allein in der Heiligen Schrift (sola scriptura), während sich die katholische Kirche in ihrer Lehre neben der Heiligen Schrift auf die Traditionen der Apostel und die kirchliche Überlieferung in Gestalt der Schriften der Kirchenväter und der in Konzilen errichteten Glaubensgrundsätze stützte, wobei dem Papst als Oberhaupt der Kirche die Festsetzung der Lehrmeinung in letzter Instanz allein zustand. Die katholische Kirche lehnte entsprechend die Sonderstellung der Heiligen Schrift, so wie sie die Reformatoren betonten, ab. Für die Reformierten bildete die Prädestinationslehre die Grundlage ihres Glaubensverständnisses. Der Lebensweg eines Jeden war von Gott im Guten wie im Schlechten vorherbestimmt, den Menschen blieb nur die Annahme ihres Schicksals. Der Heidelberger Katechismus gab auf die Frage „Was verstehst du durch die Vorsehung Gottes“ die Antwort, dass alles, Gesundheit und Krankheit, Reichtum und Armut „und alles nicht ungefähr, sondern von seiner väterlichen Hand uns zukomme“. Auf die anschließende Frage „Was für Nutz bekommen wir aus Erkenntnis der Schöpfung und Vorsehung Gottes?“ folgte die Antwort, dass Unglück erduldet, Glück dankbar angenommen und sich nichts „ohne seinen Willen auch nicht regen noch bewegen können“.39 Für reformierte Gläubige war damit das Streben
37 Grundlage der folgenden Ausführungen Martin Luther, Von der Freiheit eines Christenmenschen 1520. WA 7 (1897), S. 20–38. 38 Ebd. 39 Alle Zitate aus Weber, Heidelberger Katechismus, S. 25.
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nach Vervollkommnung des diesseitigen Lebens (vita activa) und die Vorstellung einer Berufung auf Erden von großer Wichtigkeit.40 Die Ausbildung der Privatandacht gehörte zu den neuen Praktiken religiöser Formung, die mit dem Protestantismus aufkamen. Das Haus wurde im protestantischen Diskurs neben der Kirche aufgewertet als Ort des Gebets und des Gesangs.41 Im Gebet trat der Gläubige in ein Zwiegespräch mit Gott; Gebet und Kirchenlied spendeten Trost und drückten Geborgenheit und das Gefühl der Verbundenheit mit Gott aus. Von Hausvätern als „christlichem Haushalter“ wurde erwartet, zu Hause mit der Ehefrau, den Kindern und dem Gesinde zu beten, die Bibel zu lesen und Kirchenlieder zu singen.42 Eine bedeutende Rolle in dieser häuslichen Frömmigkeit spielte neben der Heiligen Schrift der Katechismus, das Gesangbuch und die lutherische Erbauungsliteratur. Wie sich der Buchbesitz in der frühneuzeitlichen Gesellschaft darstellte, ist erst punktuell untersucht worden. Einen so reichhaltigen Buchbesitz pro Familie, wie dies Hans Medick in dem kleinen Ort Laichingen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts anhand von Inventur- und Teilungsakten rekonstruieren konnte, wird sich nicht für alle Regionen und nicht für das gesamte späte 16., 17. und 18. Jahrhundert vermuten lassen.43 Dennoch spielten Bücher offensichtlich nicht nur ideell eine große Rolle in protestantischen Haushalten, wie die konkreten Fragen der Obrigkeit nach dem Buchbesitz im Verhör etwa von „Sektierern“ zeigen. Die Frage nach
40 Für die sozialen Auswirkungen dieser Lehre vgl. die Beiträge in Heinz Schilling (Hrsg.), Kir chenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (Zeitschrift für Historische Forschung, Beiheft 16). Berlin 1994. 41 Bernard Vogler, Die Gebetbücher in der lutherischen Orthodoxie, in: Hans-Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Heidelberg 1992, S. 424–434. Sowie detailliert Kapitel IV. 42 Patrice Veit, Private Frömmigkeit, Lektüre und Gesang im protestantischen Deutschland der frühen Neuzeit. Das Modell der Leichenpredigten, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen (Veröffentlichun gen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 104). Göttingen 1992, S. 271–295; ders., Das Gesangbuch als Quelle lutherischer Frömmigkeit, in: Archiv für Reformationsgeschichte 79 (1988), S. 206–229; ders., Das Gesangbuch in der Praxis Pietatis der Lutheraner, in: Hans-Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Heidelberg 1992, S. 435– 454. 43 Hans Medick, Buchkultur und lutherischer Pietismus. Buchbesitz, erbauliche Lektüre und religiöse Mentalität in einer ländlichen Gemeinde Württembergs am Ende der frühen Neuzeit: Laichingen 1748–1820, in: Rudolf Vierhaus (Hrsg.), Frühe Neuzeit – Frühe Moderne? Forschungen zur Vielschichtigkeit von Übergangsprozessen (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 104). Göttingen 1992, S. 297–326. Allgemein zur Lesekultur in der Frühen Neuzeit Roger Chartier, Lesewelten. Buch und Lektüre in der frühen Neuzeit. Frankfurt a.M. 1990.
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dem Buchbesitz spielte auch eine Rolle bei dem Versuch, im Streit um die religiöse Zugehörigkeit von Kindern in Mischehekonflikten die religiöse Praxis in der Familie religiös und konfessionell zu verorten. Auch in Konflikten zwischen Eheleuten verschiedener Konfession spielten Bücher eine Rolle.44 Die Erbauungsliteratur wurde von der Forschung landläufig in Polarität zu einem „dogmatisch ausgeformten lutherischen Konfessionsbewusstsein“ gesehen.45 Dieser Sichtweise hat Walter Sparn widersprochen und aufgezeigt, dass nicht zwingend von einer Trennung von Frömmigkeit und Konfessionsbewusstsein ausgegangen werden muss.46 Sparn war der Frage nachgegangen, ob die „sich konfessionalisierende lutherische Dogmatik die Daten und Probleme der zeitgenössischen lutherischen Frömmigkeit verarbeitet oder nicht verarbeitet“ und konnte am Beispiel des seit der Jahrhundertwende ausgebildeten Topos der mystischen Einheit mit Gott und der spezifisch lutherischen Akzentuierung der Eschatologie in der lutherischen Dogmatik des 17. Jahrhunderts „eine konfessionell spezifische Fortentwicklung der reformatorischen Frömmigkeit“ erkennen.47 Dass Leseunkundige auch im 17. Jahrhundert, nach dem Abebben der Flugschriftenflut mit der neuen Lehre im häuslichen Bereich in Berührung kamen, hat Tessa Watt bereits in den 1990er Jahren über die Verbreitung reformatorischer Ideen in England im 17. Jahrhundert gezeigt.48 Durch Wandteppiche und andere häusliche Einrichtungsgegenstände, die sich auch in ärmeren Schichten nachweisen ließen, kamen Leseunkundige mit der neuen Lehre in Bild und Schrift in Berührung. Neben häuslichen Frömmigkeitsformen beanspruchte die Predigt als „sakra ler Ort in der protestantischen Lehre, an dem die Vermittlung bzw. Weitergabe des Gottesworts stattfindet“, einen zentralen Stellenwert im Leben frommer Lutheraner.49 Hans-Christoph Rublack hat in seiner Untersuchung lutherischer Regelpredigten des 16. und 17. Jahrhunderts, die, in Postillen abgedruckt und verbreitet, unermüdlich Jahr für Jahr wiederholt wurden und „die Einprägungsar-
44 Für Beispiele zur Bedeutung von Büchern als Ausdruck religiös-konfessioneller Selbst verortung vgl. Kapitel III. 45 Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Staat. Tl. 2, S. 1016. 46 Walter Sparn, Die Krise der Frömmigkeit und ihr theologischer Reflex im nachreformatorischen Luthertum, in: Hans-Christoph Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Heidelberg 1992, S. 54–82, hier S. 55. 47 Ebd. 48 Tessa Watt, Cheap print and popular piety 1550–1640 (Cambridge Studies in early modern British history). Cambridge 1991. 49 Norbert Schindler, Die Prinzipien des Hörensagens. Predigt und Publikum in der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 359–393, hier S. 360.
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beit lutherischer Geistlicher“ bezeugten, argumentiert, dass diese Predigten mit ihrer Thematisierung alltäglicher Lebensbedürfnisse und Erfahrungen – darunter Nahrung, Ehe, Wucher, Reichtum, Alter und Sterben – gewissermaßen „auf das Leben“ zugingen, dass gelehrte „Prediger die Volkskultur interpretierten“.50 Die Grenzen dieser Worttheologie lagen allerdings im Publikum und dessen beschränkten Verständnismöglichkeiten. Diese Problematik versuchten die Refor matoren zu lösen, indem sie den wahren Glauben zur Voraussetzung machten, die göttliche Botschaft zu empfangen und in Folge gläubige Menschen von „viehischen Menschen“ und deren Eigensinn unterschieden.51 Aufgrund der Überlieferung ist es äußerst schwierig, „von der Wirkungsweise der Prediger auf das Publikum konkretere Vorstellungen zu gewinnen“.52 Gleichfalls ist die Bedeutung, welche die Laien der Predigt zumaßen, noch zu wenig erforscht. Die Predigt hatte die Aufgabe, auf der Grundlage der Heiligen Schrift die neue Lehre zu verkünden. Predigten wurden bislang kaum in Bezug auf konfessionspolitische Polemiken untersucht, sondern eher bezogen auf ihre formale Funktion als Predigten, die zu einem bestimmten politischen Anlass untersucht wurden, wie beispielsweise Landtagspredigten.53 Rechtlich war es nach 1555 nicht erlaubt, die offiziell anerkannten Konfessionen der Häresie zu verdächtigen oder sie öffentlich zu beschimpfen. Diese Position wurde 1648 verstärkt mit der Forderung, niemanden wegen seines Glaubens in irgendeiner Weise zu benachteiligen. Dennoch setzte sich die Tradition der Bekennerhistorie und die Sammlung von Märtyrerlegenden in der Frühen Neuzeit fort, und Beschwerden aller drei Konfessionen weisen immer wieder daraufhin, dass sich die Konfessionen gegenseitig öffentlich in Predigten oder durch Publikationen verunglimpften.54
50 Hans-Christoph Rublack, Lutherische Predigt und soziale Wirklichkeiten, in: ders. (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung, S. 344–395, hier S. 357. 51 Schindler, Die Prinzipien des Hörensagens, S. 360. 52 Schindler, Die Prinzipien des Hörensagens, S. 364. 53 Philip Hahn/Kathrin Paasch/Luise Schorn-Schütte (Hrsg.), Der Politik die Leviten lesen. Politik von der Kanzel in Thüringen und Sachsen, 1550–1675. Gotha 2011. 54 Das eindrucksvollste Werk protestantischer Märtyrerlegenden, dessen erste englischsprachige Edition 1563 erschien, gefolgt von drei weiteren erweiterten Ausgaben zu Lebzeiten des Autors, und das in viele Sprachen übersetzt wurde, ist John Foxe, Actes and Monuments of these Latter and Perillous Days, Touching Matters of the Church. London 1563. Für Deutschland vgl. allgemein Wolfgang Hieber, Legende, protestantische Bekennerhistorie, Legendenhistorie. Studien zur literarischen Gestaltung der Heiligenthematik im Zeitalter der Glaubenskämpfe. Würzburg 1970, S. 228–255. Zu katholischen Sammlungen ebd., S. 256–269, S. 280–284; sowie Peter Burschel, Sterben und Unsterblichkeit. Zur Kultur des Martyriums in der frühen Neuzeit. München 2004.
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Ungeachtet der Betonung häuslicher Frömmigkeitsformen und eines neuen religiösen Subjektivismus, die Besinnung auf sich selbst, blieb der Gemeinde gottesdienst praktisch doch der Mittelpunkt der religiös-kirchlichen Praxis.55 Anders als bei der katholischen Kirche stand nicht mehr der von einem Geistlichen zelebrierte Kult im Mittelpunkt des Gottesdienstes – eine katholische Messe konnte auch ohne Gemeinde zelebriert werden –, sondern die Gemeinde als Versammlung der Gläubigen. Im Zentrum katholischer Lehre und religiöser Praktiken stand die Messfeier, das „Opfer des Neuen Bundes“. „Das Trienter Konzil hatte gegen die Reformatoren ausführlich zum Verhältnis zwischen Kreuzesopfer und Meßopfer, zur Realpräsenz sowie zur Transsubstantiationslehre Stellung bezogen und mit dem Missale Romanum nach 1570 eine liturgische Einheitlichkeit für die gesamte Kirche eingeführt, von der nur Bistümer mit einer über 200jährigen eigenen Messtradition abweichen konnten.“56 An Sonn- und Feiertagen mussten sich alle katholischen Gläubigen zur Feier der Heiligen Messe einfinden, wer dieses Kirchengebot verletzte, beging eine Todsünde. „Küster und Lehrer wurden zu amtlich bestellten Kontrolleuren der Sonntagspflicht, die Eidschwörer hatten die Einhaltung heiliger Zeiten, vor allem die Arbeit an Sonn- und Festtagen und die Einhaltung der Fastengebote zu überwachen.“57 Auch an gewöhnlichen Werktagen sollte das Volk so oft wie möglich der Messe beiwohnen. Die Feier des Heiligen Abendmahls wurde genauen Ordnungen über den angemessenen Umgang mit seiner Heiligkeit, als auch dem angemessenen Verhalten der Gläubigen unterworfen. Die Kirche und auch der Kirchenvorplatz sollten von allem Profanen gereinigt und ausschließlich in Ehrfurcht betreten werden, der Altarraum war der Gemeinde nicht zugänglich. Das Sakrament selbst wurde mit Geheimnissen umhüllt und den Blicken der Gläubigen entzogen. Die Kluft zwischen Priestern und Gläubigen während der Messe wurde künstlich erhöht.58 Die religiöse Praxis katholischer Gläubiger in der Frühen Neuzeit war darüber hinaus wie auch schon im Mittelalter geprägt durch sakramental-rituelle Frömmigkeitsformen und den Heiligen- und Reliquienkult. Heiligen wurde überirdische Macht verliehen, sie wurden als Mittler zwischen Mensch und Gott angerufen. Heilige konnten sowohl den Zorn Gottes gegen Sünder auffangen,
55 Richard van Dülmen, Reformation und Neuzeit. Ein Versuch, in: Zeitschrift für Historische Forschung 1 (1987), S. 1–25, hier S. 19 und 21. 56 Holzem, Religion und Lebensformen, S. 383 mit weiterführender Literatur sowie Holzem, Christentum in Deutschland, S. 152–188. 57 Schindler, Die Prinzipien des Hörensagens, S. 386. 58 Hans-Bernhard Meyer, Eucharistie, Geschichte, Pastoral, Theologie (Gottesdienst der Kirche. Handbuch der Liturgiewissenschaft, 4). Regensburg 1989, S. 276.
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als auch aufgrund des Übergewichtes ihrer guten Werke von Gott besondere Gnadenerweise für denjenigen erwirken, für den sie fürbittend eintraten.59 Die sterblichen Überreste von Heiligen als auch alles, was mit ihnen in Verbindung gestanden hatte, bargen für die Gläubigen eine besondere Kraft und wurden als Reliquien verehrt. Im Glauben der Bevölkerung vermochten sie in menschlicher Not zu helfen. Beweise für diese Vorstellung lieferten Wunderheilungen. „Weil die Reliquien aufgrund ihrer Virtus Heilsträger waren, besaßen sie eine Kraft, wie sie eigentlich nur Sakramenten zukam.“60 Hier wie auch im Wallfahrtswesen versuchte die offizielle Kirche die religiösen Praktiken „an den Prozeß der Disziplinierung anzubinden und die Repräsentationswirkung an eine entsprechende Konformität zu koppeln“.61 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wandelte sich die Frömmigkeitspraktik des Wallfahrtswesens durch die Kritik der Aufklärung, aufgrund neuer medialer Formen obrigkeitlicher Kontrolle, die Durchsetzung von Nahwallfahrten und die Verbreitung der Gnadenbildverehrung. Letztere erlaubten den Gläubigen die göttliche Gnade im Alltag unabhängig von den Strapazen einer aufwendigen Pilgerfahrt zu erleben. Die Nahwallfahrt integrierte die unmittelbare Kommunikation mit Gott in den Alltag.62 Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts vergrößerte sich die Diskrepanz zwischen der Rationalität, die die im Alltag verankerte religiöse Praxis vor allem der ländlichen Bevölkerung und der Unterschichten bestimmte, und den Forderungen der Bildungs- und Standeselite nach christlicher Andacht und Glauben, die die religiösen Vollzüge der breiten Bevölkerung inkriminierten. Andreas Holzem konnte für das Fürstbistum Münster einen Anstieg „geradezu kleinliche(r) Delikte“ im religiösen Vollzug feststellen, „die mit immer größerem Aufwand immer besessener verfolgt wurden“.63 Die Frühneuzeitforschung in Deutschland hat sich in Auseinandersetzung mit dem Jahrhundert nach der Reformation lange überwiegend mit eben dieser an den Vorstellungen der Konfessionskirchen ausgerichteten religiösen Formungsarbeit und gegenseitigen Abgrenzung der großen Konfessionen in theologischer, politischer und gesellschaftlicher Hinsicht im Zuge der sogenannten Konfessi-
59 Arnold Angenendt, Heilige und Reliquien. Die Geschichte ihres Kultes vom frühen Christentum bis zur Gegenwart. München 1994, S. 81. 60 Ebd., S. 157. 61 Holzem, Religion und Lebensformen, S. 407. 62 Vgl. hierzu ausführlich Eva Brugger, Szenen der Subjektivierung. Zu den Schriftpraktiken der Wallfahrt im 18. Jahrhundert, in: Dagmar Freist (Hrsg.), Diskurse–Körper–Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung. Bielefeld 2015, S. 161–183, hier S. 167–171. 63 Holzem, Religion und Lebensformen, S. 407, 408.
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onsbildung und Konfessionalisierung befasst.64 In Anlehnung an Ernst Walter Zeedens Studien über Konfessionsbildung in der Frühen Neuzeit waren es vor allem Heinz Schilling und Wolfgang Reinhard, die das Konzept der Konfessionalisierung methodologisch weiterentwickelt und fruchtbar gemacht haben.65 Was forschungspragmatisch damit verbunden ist, hat Schilling wiederholt zusammengefasst. So beispielsweise in einem Aufsatz aus dem Jahre 1995: „In der weiten Definition meint ‚Konfessionalisierung‘ einen gesellschaftlich fundamentalen Wandlungsvorgang, der kirchlich-religiöse und mentalitätsmäßig-kulturelle Veränderungen ebenso einschließt wie staatlich-politische und soziale.“66 Die ‚Konfessionalisierung‘ war nach Heinz Schilling ein Prozess, der in enger Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates, der Formierung einer neuzeitlich disziplinierten Untertanengesellschaft und „parallel zur Entstehung des modernen kapitalistischen Wirtschaftssystems das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte“. So verstanden gehörte die Konfessionalisierung „zu den Antriebselementen jenes frühneuzeitlichen Transformationsprozesses, der die ständische Welt Alteuropas umformte in die moderne demokratische Industriegesellschaft“.67
64 Für eine Bestandsaufnahme der Konfessionalisierungsforschung vgl. Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der ‚Zweiten Reformation‘. Gütersloh 1986; Rublack (Hrsg.), Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland; Wolfgang Reinhard/Heinz Schilling (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 198). Gütersloh 1995. 65 Die Ursprünge der Konfessionalisierungsforschung werden in der Regel in den Arbeiten von Ernst Walter Zeeden gesehen. Ernst Walter Zeeden, Grundlagen und Wege der Konfessionsbildung in Deutschland im Zeitalter der Glaubenskämpfe, in: Historische Zeitschrift 185 (1985), S. 249–299; Ndr. in: ders. (Hrsg.), Gegenreformation (Wege der Forschung, 311). Darmstadt 1973, S. 85–134; ders., Die Entstehung der Konfessionen; ders., Konfessionsbildung. Studien zur Reformation, Gegenreformation und katholischen Reform. Stuttgart 1985. Zum Begriff der Konfessionalisierung vgl. u.a. Wolfgang Reinhard, Gegenreformation als Modernisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Archiv für Reformationsgeschichte 68 (1977), S. 226–252; ders., Konfession und Konfessionalisierung in Europa, in: ders. (Hrsg.), Bekenntnis und Geschichte. Die Confessio Augustana im historischen Zusammenhang. München 1981, S. 165–189; ders., Zwang zur Konfessionalisierung? Prolegomena zu einer Theorie des konfessionellen Zeitalters, in: Zeitschrift für Historische Forschung 10/3 (1983), S. 257–277; Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung im Reich. Religiöser und gesellschaftlicher Wandel in Deutschland zwischen 1555 und 1620, in: Historische Zeitschrift 246 (1988), S. 1–45. 66 Ders., Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines Geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: ders./Reinhard, Die katholische Konfessionalisierung, S. 4. 67 Ebd.
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Wolfgang Reinhard nahm das in allen drei Konfessionen seit den 1520er Jahren zu beobachtende Streben nach „Sicherung des Lehrbestands mittels Bekenntnisdokumenten“ zum Ausgangspunkt seiner „Theorie der Konfessionalisierung“, um daran anknüpfend nach den „Triebkräften hinter diesem auffälligen Gewissheitsbedürfnis zu fragen“.68 In Anlehnung an Luhmanns Systemtheorie umschrieb Reinhard Konfessionalisierung als ein durch Konkurrenzdruck, Verunsicherung und Identitätssuche ausgelöstes „systemstabilisierendes Verfahren“, das strukturell und zeitlich im katholischen, im lutherischen und im calvinistischen Bereich ähnlich verlief, ungefähr 1520 einsetzte und Anfang des 18. Jahrhunderts endete.69 Ziel der Konfessionalisierung war die Schaffung in sich geschlossener und voneinander abgegrenzter konfessioneller Gruppen, was mit vergleichbaren Methoden angestrebt wurde: Wiedergewinnung klarer theoretischer Vorstellungen, Verbreitung und Durchsetzung neuer Normen, Propaganda und Verhinderung von Gegenpropaganda, Internalisierung der neuen Ordnung durch Bildung, Disziplinierung der Anhänger, Anwendung von Riten und Beeinflussung der Sprache.70 Mit ihren theoretischen Überlegungen haben Schilling und Reinhard entscheidende Impulse für die weitere Erforschung der tiefgreifenden Veränderungen im 16. und 17. Jahrhundert gegeben, den Weg für Disziplinen übergreifende Fragestellungen geebnet und zugleich eine über Jahre andauernde Forschungskontroverse entfacht.71 Neben kritischer Hinterfragung der Parallelität der Konfessionalisierung72 und Kritik an der Ausklammerung der Wahrheitsfrage73 wurde das von Schilling und Reinhard entwickelte Konfessionalisierungsparadigma von einer Reihe von Historikern unter Verweis auf die vornehmlich etatistische Perspektive, die mit diesem Ansatz verbunden war, allerdings als ergänzungsbedürftig beurteilt.74
68 Reinhard, Konfession und Konfessionalisierung, S. 174. 69 Ebd., S. 174–179; Reinhard, Gegenreformation. Für die Betonung deutlicher struktureller Unterschiede zwischen katholischer, lutherischer und reformierter Konfessionalisierung vgl. Helga Schnabel-Schüle, Vierzig Jahre Konfessionalisierungsforschung – eine Standortbestimmung, in: Peer Frieß/Rolf Kießling (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region (Forum Suevicum. Beiträge zur Geschichte Ostschwabens und der benachbarten Region, 3). Konstanz 1999, S. 23–40. 70 Reinhard, Zwang zur Konfessionalisierung?, S. 263; ausführlicher ders., Konfession und Konfessionalisierung, S. 165–189. 71 Für eine Bilanz vgl. Stefan Ehrenpreis/Ute Lotz-Heumann (Hrsg.), Reformation und konfessionelles Zeitalter. Darmstadt 2002. 72 Walter Ziegler, Kritisches zur Konfessionalisierungsthese, in: Frieß/Kießling (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region, S. 41–53. 73 Ebd. und Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Staat. Tl. 2, S. 1121. 74 Vgl. Heinrich R. Schmidt, Konfessionalisierung im 16. Jahrhundert (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 12). München 1992, S. 55f.; ders., Sozialdisziplinierung? Ein Plädoyer für das Ende
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2.2 Religiös-konfessionell: Methodische Annäherungen an die Analyse religiöser Selbstverortung – ein Rückblick Namhafte Historiker, darunter der Reformationshistoriker Robert W. Scribner, forderten bereits zu Beginn der achtziger Jahre eine Analyse der tatsächlichen konfessionellen und religiösen Selbstverortung der Bevölkerung, die sich nicht allein an dem Erlass von Kirchenordnungen und den Fragekatalogen von Visitationsberichten ablesen lasse.75 Diese Frage der tatsächlichen Anwendbarkeit des Konzepts hat Anton Schindling 1997 erneut gestellt. „Notwendig ist eine empirische Forschung, die die Kategorien und Leitbegriffe, die Fragestellungen und abstrakten Typologisierungen der theoretischen Konfessionalisierungsdebatte integriert und die diese Konzepte an den Quellen erprobt.“76 Dabei forderte er eine gleichwertige Berücksichtigung von Reichs- und Landesgeschichte. Ähnlich äußerte sich Luise Schorn-Schütte, indem sie darauf hinwies, dass „die Konfessionalisierung dort gar nicht angekommen sei, wo sie wirken sollte, sie also im Sinne der Staatsbildung durch konfessionelle Disziplinierung ‚erfolglos‘ geblieben sei“.77 Dieser Vorwurf wurde in der Studie des Kirchenhistorikers Andreas Holzem über die katholische Konfessionalisierung im Fürstbistum Münster exemplifiziert. Mit Hilfe der Auswertung von Sendgerichtsprotokollen zwischen 1570 und 1800 konnte Holzem nachweisen, dass noch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Glaubenswissen und Glaubensformen weit auseinander klafften und die Unwissenheit über den „Mindeststandard, der in den Augen der Kirche zur
des Etatismus in der Konfessionalisierungsforschung, in: Historische Zeitschrift 265 (1997), S. 639–682; vgl. auch Heinz Schilling, Die Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Europa in interkonfessionell vergleichender und interdisziplinärer Perspektive – eine Zwischenbilanz, in: ders. (Hrsg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung, S. 11–40. 75 Robert W. Scribner, Elements of Popular Belief, in: Thomas A. Brady jr. u.a. (Hrsg.), Handbook of European History 1400–1600. Bd. 1. Leiden u.a. 1994, S. 231–262, hier S. 254. 76 Anton Schindling, Konfessionalisierung und Grenzen von Konfessionalisierbarkeit, in: ders./ Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 7: Bilanz-Forschungsperspektiven-Register. München 1997, S. 9–44, hier S. 41–42. Für weitere kritische Stimmen vgl. Thomas Kaufmann, Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Sammelbericht über eine Forschungsdebatte. Tl. 1, in: Theologische Literaturzeitung 121/11 (1996), S. 1008–1024, und ders., Die Konfessionalisierung von Kirche und Gesellschaft. Tl. 2; Ziegler, Konfessionalisierungsthese. 77 Luise Schorn-Schütte, Konfessionalisierung als wissenschaftliches Paradigma?, in: Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa: Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 1999, S. 63–77, hier S. 66–67.
Methodische Annäherungen an die Analyse religiöser Selbstverortung
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Erlangung des Heils unabdingbar war“, selbst unter Eidschwörern und Bauerrichtern verbreitet war.78 Nach Holzem müsste man im Bistum Münster, legte man die Periodisierung von Heinz Schilling, der die 1570er/1580er Jahre als Kernzeit der Konfessionalisierung angesehen hatte, „für die Ebene der in Kirche und Politik dominierenden Eliten von einem über weite Strecken und für die Ebene der Pfarreien von einem gänzlich gescheiterten Konfessionalisierungsprogramm sprechen und gleichzeitig alle zeitlich späteren Wandlungsprozesse übergehen, in denen das Programm gestuft und gruppenspezifisch umgesetzt wurde“.79 Die Kritiker haben schon früh die Verfechter der Theorie zu immer neuen Ausführungen über die Tragfähigkeit und Rezeption des Konzepts in der internationalen Forschung beflügelt, wobei kritische Anregungen teilweise integriert wurden. Vor allem Heinz Schilling hat versucht, Kritikpunkte als Anregung aufzugreifen, weiterzuentwickeln und in ein universalgeschichtliches Deutungskonzept zu integrieren. So akzeptierte Schilling beispielsweise das Problem „durch die Betonung der Normierungs- und Formierungskapazitäten der kirchlich-religiösen Erneuerungen auch die Reste innerer Verschiedenheit, Spannungen und Widersprüchlichkeiten zu leugnen“80 und spricht sich in seinen jüngeren Beiträgen grundsätzlich für eine Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie in der Konfessionalisierungsforschung aus.81 Auch Reinhard betont die Notwendigkeit, „das Komplementärverhältnis von obrigkeits- und gemeindeorientierter Konfessionalisierungsforschung“ verstärkt in den Blick zu nehmen.82 Überwiegend ohne wechselseitige Rezeption von Erkenntnisinteressen und Forschungsergebnissen, teilweise in kritischer Abgrenzung und nur ansatzweise in gegenseitiger Befruchtung entwickelte sich parallel zur Konfessionalisierungsforschung die Erforschung von Volksreligiosität und populärer Frömmigkeit, die sich vor allem auf den Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit, auf die
78 Andreas Holzem, Religion und Lebensformen, S. 419–420. 79 Ebd., S. 456. 80 Heinz Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft – Profil, Leistung, Defizite und Perspektiven eines Geschichtswissenschaftlichen Paradigmas, in: Ders./ Wolfgang Reinhard (Hrsg.), Die katholische Konfessionalisierung (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 198). Gütersloh 1995, S. 1–49, S. 24; für eine Bestandsaufnahme vgl. Schnabel-Schüle, Konfessionalisierungsforschung. 81 Heinz Schilling, Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 675–691. 82 Wolfgang Reinhard, „Konfessionalisierung“ auf dem Prüfstand, in: Joachim Bahlcke/Arno Strohmeyer (Hrsg.), Konfessionalisierung in Ostmitteleuropa: Wirkungen des religiösen Wandels im 16. und 17. Jahrhundert in Staat, Gesellschaft und Kultur. Stuttgart 1999, S. 79–88, hier S. 84.
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Barockfrömmigkeit und den Pietismus konzentrierte und neben Historikern von Kirchenhistorikern und Volkskundlern betrieben wurde.83 Die volkskundlich geprägte Forschung, soweit sie verallgemeinerungsfähig ist, hat sich vor allem auf „magisch-irrationale Aspekte“ der Religiosität einfacher Leute konzentriert, während die traditionelle Kirchengeschichte Volksfrömmigkeit als festen Bestandteil der etablierten Kirche untersuchte.84 Kulturhistorische Arbeiten haben unter anderem den Eigensinn populärer Religiosität betont, die sich nicht ohne weiteres „von oben“ umformen ließ. Scribner und eine Reihe seiner damaligen Doktoranden konnten in verschiedenen Lokalstudien aufzeigen, dass sich auch unter der protestantischen Bevölkerung Elemente einer katholisch geprägten Frömmigkeit erhielten, die sich in religiösen Praktiken wie die Teilnahme an Wallfahrten zeigten, und dass die Reformation eben nicht die Entzauberung der Welt bedeutete.85 Im Gegenteil, in Scribners Arbeiten begegnen wir Protestanten, die Amulette trugen und Schutzzauber einsetzten, die an Wallfahrten teilnahmen und die an dem magischen Gebrauch von Bibel- und Gesangsbuchversen als Zaubermittel festhielten, um so angesichts der unabsehbaren Widrigkeiten des Alltags zu bestehen.86 Ähnliche Beobachtungen konnte die amerikanische Historikerin Susan Karant-Nunn in ihren Arbeiten zu der Funktion von Ritualen
83 Wolfgang Schieder (Hrsg.), Volksreligiosität in der modernen Sozialgeschichte (Geschichte und Gesellschaft Sonderheft, 11). Göttingen 1986; Klaus Schreiner (Hrsg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. München 1992; Hansgeorg Molitor/Heribert Smolinsky (Hrsg.), Volksfrömmigkeit in der frühen Neuzeit. Münster 1994; Dieter Breuer (Hrsg.), Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock (Wolfenbüttler Arbeiten zur Barockforschung, 25). 2 Tle. Wiesbaden 1995; Hartmut Lehmann, Religion und Religiosität in der Neuzeit. Historische Beiträge. Hrsg. von Manfred Jakubowski-Tiessen und Otto Ulbricht. Göttingen 1996; Martin Brecht (Hrsg.), Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Göttingen 1993. 84 Richard van Dülmen, Volksfrömmigkeit und konfessionelles Christentum im 16. und 17. Jahrhundert, in: Schieder (Hrsg.), Volksreligiösität, S. 14–30, hier S. 17 mit weiterführenden Literaturhinweisen. 85 Vgl. die Beiträge in Robert W. Scribner/Trevor Johnson (Hrsg.), Popular Religion in Germany and Central Europe, 1400–1800. New York 1996. 86 Für einen Überblick über sein Gesamtwerk vgl. vor allem die posthum veröffentlichte Aufsatzsammlung Robert W. Scribner, Religion and culture in Germany (1400–1800). Hrsg. von Lyndal Roper. Leiden 2001; auch ders. (Hrsg.), Popular Religion in Germany. The Reformation in National Context. Cambridge 1994. Vgl. auch Wolfgang Brückner, Christlicher Amulett-Gebrauch in der frühen Neuzeit. Grundsätzliches und Spezifisches zur Popularisierung des Agnus Die, in: Forschungshefte des Bayerischen Nationalmuseums München 13 (1993), S. 89–134. Zum magischen Gebrauch der Bibel Regine Grube-Verhoeven, Die Verwendung von Büchern christlichen Inhalts zu magischen Zwecken, in: Volksleben 13 (1966), S. 11–57.
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und Symbolen im frühneuzeitlichen Deutschland machen.87 Richard van Dülmen hat zwar auf die grundlegende Wende im Umgang mit Magie und Aberglauben hingewiesen, die mit der Reformation vor allem innerhalb einer gebildeten Kirchenmitgliedschaft einsetzte, doch auch er zeigte auf, dass „die Wirkung der protestantischen Entzauberungskampagne“ beschränkt blieb und erst mit der Aufklärung ein neues Stadium im Kampf gegen Aberglauben und Magie begann.88 Magie, so van Dülmen zugespitzt, ist „an eine Lebenswelt gebunden, nicht an eine Zeitepoche“.89 Lenkt man den Blick auf ein anderes europäisches Land, so lassen sich ähnliche Verhaltensweisen auch in England unter der einfachen Bevölkerung im 16. und noch im 17. Jahrhundert beobachten, die geprägt waren von dem Anta gonismus verschiedener religiöser Strömungen innerhalb der anglikanischen Kirche, der sich politisch manifestierte, auf lokaler Ebene ausgetragen wurde und entscheidend die lokale Herrschaftspraxis und den Aufbau von Klientelnetzen beeinflusste.90 Auch hier ist aufgrund neuer Fragestellungen und Lokalstudien die von Keith Thomas in einer nach wie vor faszinierenden Studie aufgestellte These eines „decline of magic“ kritisch hinterfragt worden.91 In England wurde die ‚Langsamkeit der Reformation‘ entdeckt, die sich nach Ansicht einiger Wissenschaftler als Prozess weit in das 17. Jahrhundert erstreckte. Auch hier war abgesehen von politischen Faktoren das Festhalten an Glaubensinhalten und
87 Susan Karant-Nunn, The reformation of ritual: an interpretation of early modern Germany. London 1997. 88 Richard van Dülmen, Entzauberung der Welt: Christentum, Aufklärung und Magie, in: ders. (Hrsg.), Religion und Gesellschaft. Beiträge zu einer Religionsgeschichte der Neuzeit. Frankfurt a.M. 1989, S. 204–214, hier S. 211. 89 Ebd., S. 205. 90 Für eine Einführung vgl. Nicholas Tyacke, Aspects of English Protestantism, c. 1530–1700. Manchester 2001; ders., Englands Long Reformation 1500–1800. London 1998; dazu kritisch Christopher Haigh (Hrsg.), The English Reformation Revised. Repr. Cambridge 1996; ders., English reformations: religion, politics, and society under the Tudors. Oxford 1993; Eamon Duffy, The voices of Morebath: Reformation and rebellion in an English village. New Haven/Conn. 2001; ders., The stripping of the altars: traditional religion in England, c. 1400–c. 1580. New Haven/Conn. 1992; Peter Lake/Michael Questier (Hrsg.), Conformity and orthodoxy in the English church, c. 1560–1660. Woodbridge 2000. Für weiterführende Literatur zu lokaler Herrschaftspraxis und religiösen Spannungen vgl. Peter Lake, The boxmaker's revenge: ‘orthodoxy’, ‘heterodoxy’ and the politics of the parish in early Stuart London. Manchester 2001; Michael J. Braddick, Negotiating power in early modern society: Order, hierarchy, and subordination in Britain and Ireland. Cambridge 2001; Steve Hindle, The state and social change in early modern England, c. 1550–1640. Basingstoke 2000. 91 Keith Thomas, Religion and the Decline of Magic: Studies in Popular Beliefs in 16th and 17th century England. Oxford 1971.
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vor allem an religiösen Praktiken der Alten Kirche im Alltag ausschlaggebend für diese Sichtweise.92 Diese Erkenntnisse sind nach der lange vorherrschenden Erfolgsgeschichte der Reformation, geschrieben aus einer obrigkeitlichen Perspektive, von unschätzbarem Wert für das Verständnis von Religiosität und religiösen Praktiken im Kontext konkurrierender Deutungsmuster des Religiösen. Allerdings sei an dieser Stelle vorsichtig angemerkt, dass sich in einigen dieser Werke eine Romantisierung des magisch-religiösen Weltbildes abzeichnet, das die ‚Anschläge‘ des Protestantismus unerwartet überlebt habe – zum Wohl der Bevölkerung und ihrer Bedürfnisse nach konkreten Ritualen, um das Böse abwehren und das Gute anrufen zu können. Unter diesem Eindruck entstanden kulturhistorische Arbeiten, die sich mit der ‚Beschaffenheit‘ von Religiosität und der religiösen Praxis beschäftigten und erstmals das Verhältnis von Religion und Geschlecht thematisierten.93 „What precisely was popular religion“, fasste Natalie Zemon Davies das Forschungsinteresse zusammen, das die Geschichtswissenschaft und Nachbardisziplinen seit den Studien von Jean Delumeau und Keith Thomas in den 1980er Jahren umtrieb.94 Volkskundler und Kulturhistoriker betonen vor allem die Unabhängigkeit der ‚Volksfrömmigkeit‘ von der kirchlichen Lehre und unterstreichen stattdessen die Verbundenheit der Religiosität des Volkes mit dem alltäglichen sozialen Lebenskontext, einer magisch-abergläubischen Weltsicht und weltlichem Brauchtum.95 Bob Scribner hat vier Bereiche aufgezeigt, die es bei der Analyse populären Glaubens (popular belief) zu berücksichtigen gelte: die Mentalitäten früherer Gesellschaften, ihre kosmologischen Vorstellungen, der alltägliche Erfahrungs-
92 Vgl. u.a. Tyacke, Aspects of English Protestantism; ders., Englands Long Reformation; Duffy, The stripping of the altars; Ronald Hutton, The Rise and Fall of Merry England. Oxford 1994. 93 Zur Einführung Richard van Dülmen, Historische Kulturforschung zur Frühen Neuzeit. Entwicklung – Probleme – Aufgaben, in: Geschichte und Gesellschaft 21 (1995), S. 403–429; zu weiblicher Religiosität die Überblicksdarstellungen von Claudia Ulbrich, Frauen und Geschlechtergeschichte, Tl. I: Renaissance, Humanismus und Reformation, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 45 (1994), S. 108–120; dies., Frauen in der Reformation, in: Nada Boskovska Leimgruber (Hrsg.), Die frühe Neuzeit in der Geschichtswissenschaft: Forschungstendenzen und Forschungserträge. Paderborn 1997, S. 163–177; Scribner, Elements of Popular Belief, S. 254–255. 94 Natalie Zemon Davis, From ‘Popular Religion’ to Religious Cultures, in: Steven Ozment (Hrsg.), Reformation Europe: A Guide to Research. St. Louis 1982, S. 323–341. 95 Vgl. beispielsweise Norbert Schindler, Die Verkehrte Welt: ‚Christliches System‘ oder Alltagskultur?, in: ders. (Hrsg.), Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur in der frühen Neuzeit. Frankfurt a. M. 1992, S. 122–151; Richard van Dülmen, Volksfrömmigkeit und religiöse Praxis, in: ders., Religion, Magie, Aufklärung. Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3. München 1994, S. 56–77.
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horizont und schließlich populäre Vermutungen über Sinn und Beschaffenheit des Lebens im Diesseits und im Jenseits. Volksglauben nach Scribner ist geprägt von einem Bündel von Einflüssen. Demnach ist Volksglauben abhängig von den Vorstellungen der Menschen über die materielle Welt, über die Welt im Diesseits und übernatürliche Kräfte, von dem Einfluss offizieller und nicht offizieller Religion, von sozialen Unterschieden, von Geschlechterdifferenz und Herrschaft.96 In seiner Untersuchung dieser Faktoren und ihres Einflusses auf die Formierung und Veränderung religiöser Selbstverortung betont Scribner vor allem die Kontinuitäten nach der Reformation bis ins 17. Jahrhundert hinein. Das Verhältnis von konfessionspolitisch gewollter und im Alltag praktizierter Religiosität war gekennzeichnet von Spannungen und Disparität; Glaubensinhalte konnten sowohl durch Volksglauben und Brauchtum geprägt und verändert als auch gewissermaßen von oben strukturiert werden, wie am Beispiel der Bruderschaften deutlich werde.97 Bei der Volksreligiosität geht es nach van Dülmen „um den Glauben, die religiösen Gewohnheiten und Rituale des einfachen, in der frühen Neuzeit noch weitgehend illiteraten Volkes“. Dabei, so der Autor weiter, „ist es unwichtig, ob diese Inhalte aus christlichen Quellen stammen oder nicht, das ist zumeist ein Problem der Geistlichen und Kleriker als der religiösen Wächter der Kirche, ebenso ob diese Anschauungen im Sinne der kirchlichen Lehre richtig oder falsch verstanden wurden, konkret, ob sie dem kirchlich-konfessionellen Glauben, einer magisch-abergläubischen Weltsicht oder dem weltlichen Brauchtum zuzuschreiben sind“.98 Diese Perspektive lässt sich allerdings nicht durchhalten – van Dülmen hat das in weitergehenden Fragestellungen selbst gezeigt – da sie erkenntnistheoretisch zumindest einseitig ist und den in der Kulturgeschichte längst akzeptierten „Austausch“ zwischen verschiedenen sozialen Gruppen oder Lebenswelten und die damit zusammenhängenden Rezeptions- und Aneignungsvorgänge für die Erforschung von Religiosität vernachlässigt.99 In diesem Zusammenhang ist die kontrovers geführte Diskussion darüber, wie weit religiöse Vorstellungen esellschaft und Verhaltensweisen schichtgebunden die soziale Hierarchie einer G widerspiegelten, auf welche Trägergruppen sich genau ‚Volksfrömmigkeit‘ bezog,
96 Scribner, Elements of Popular Belief. 97 Ebd., S. 240–241. 98 van Dülmen, Volksfrömmigkeit und konfessionelles Christentum, S. 18. 99 Vgl. hier vor allem die Ausführungen über den Begriff der Kultur und „Aneignung“ (appropriation) in der Einleitung in Roger Chartier, The Cultural Uses of Print in Early Modern France. Princeton 1987, S. 3–12
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von Bedeutung.100 Während sich mit ‚Volksfrömmigkeit‘ traditionell die „Vorstellung von Ritualen, Gewohnheiten und Verhaltensweisen“ verbindet, „in denen die überwiegende Masse einer lese- und schreibunfähigen Bevölkerung ihre Zuwendung an Gott und seinen Heiligen artikulierte“, um durch himmlische Mächte Schutz vor Unheil zu erfahren, verbindet sich mit ‚Elitefrömmigkeit‘ die begriffliche Erfassung des Geglaubten, eine „aus theologischem Wissen gespeiste Spiritualität“.101 Klaus Schreiner hat in dieser Kontroverse überzeugend argumentiert, dass die „dichotomische Gegenüberstellung“ von ‚Volks- und Elitefrömmigkeit‘, auch wenn sie begriffsgeschichtlich nachweisbar ist, methodisch „der Wiedergabe komplexer Sozial- und Bildungsverhältnisse“ im Wege steht.102 Alternativ hat er zur Erfassung „religiöser Verhaltens- und Mentalitätsformen in einem jeweiligen historischen Schichtungsschema“ den Begriff „populärer Frömmigkeit“ vorgeschlagen. Umschrieben wird damit eine „Frömmigkeit, die von allen gepflegt und ausgeübt wird, weil es gemeinsame, schichtenübergreifende Nöte und Gebrechen gibt“, die der Heilige oder Gott durch direkte Anbetung zum Guten wenden sollte.103 Die Voraussetzung für eine deutliche Trennung zwischen ‚Volks- und Elitefrömmigkeit‘ sei die Etablierung eines breiteren Bildungsbürgertums im späten 18. Jahrhundert, das sich als „vernünftige Christen“ vom „einfältigen Volk“ absetzen wolle.104 Angesichts der zu konstatierenden Ausprägungen religiösen Synkretismus im Alltag und der Unwissenheit in Bezug auf konfessionelle und religiöse Unterschiede und Grenzen zwischen kirchlich-konfessionellem Glauben und einer magisch-abergläubischen Weltsicht bis ins 18. Jahrhundert hinein105, wird die Frage danach drängender, was eigentlich im Selbstverständnis der Bevölkerung „lutherisch“ zu sein unterschied von „katholisch“ oder „reformiert“ zu sein, mit
100 Für einen Überblick über wichtige Positionen in dieser Diskussion sowie einer eigenen begriffsgeschichtlichen Analyse vgl. Klaus Schreiner, Laienfrömmigkeit – Frömmigkeit von Eliten oder Frömmigkeit des Volkes? Zur sozialen Verfasstheit laikaler Frömmigkeitspraxis im späten Mittelalter, in: ders. (Hrsg.), Laienfrömmigkeit im späten Mittelalter. Formen, Funktionen, politisch-soziale Zusammenhänge. München 1992, S. 1–78, besonders S. 1–11 und Anm. 44. 101 Ebd., S. 1–2. Für eine Trennung von Volks- und Elitefrömmigkeit vgl. Richard van Dülmen, Formierung der Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, in: Geschichte und Gesellschaft 7 (1981), S. 5–41; Robert Muchembled, Kultur des Volkes – Kultur der Eliten. Stuttgart 1982. 102 Schreiner, Laienfrömmigkeit, S. 14. 103 Ebd., S. 11, Anm. 44. Vgl. auch Peter Burke, Popular Culture in Early Modern Europe. New York 1978. 104 Vgl. zu dieser Unterscheidung Werner Freitag, Volks- und Elitefrömmigkeit in der Frühen Neuzeit. Marienwallfahrten im Fürstbistum Münster. Paderborn 1991, S. 333. 105 Für diesen Befund vgl. Holzem, Religion und Lebensformen, S. 415–424.
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anderen Worten die Frage nach konfessioneller und religiöser Selbstverortung.106 Die Antwort darauf haben auch die umfassenden Studien zur Konfessionalisierung nicht gegeben, da hier das Erkenntnisinteresse trotz späterer Interessensbekundungen an einer gegenseitigen Ergänzung von Mikro- und Makrogeschichte vor allem die großen Linien der Konfessionalisierung darstellte.107 Dennoch bietet nach Schilling das Konfessionalisierungsparadigma mit seiner Betonung einer „Reform des Lebens“ durch eine „dem Glauben entsprechende Lebensführung“ Anknüpfungspunkte für kulturhistorische und anthropologisch-ethnologische Fragen nach den „lebensweltlichen Konsequenzen“ des Konfessionalisierungsprozesses.108 Diese Fragen sind inzwischen ansatzweise formuliert und erforscht wor den.109 So hat Paul Münch am Beispiel von Nassau-Dillenburg die Frage nach dem Einfluss der reformierten Kirchenzucht auf Alltag und Mentalität der Bevölkerung aufgeworfen, allerdings unter Verweis auf den unzureichenden Forschungsstand zunächst nur die Perspektive der Obrigkeit wiedergegeben, indem er die Angriffe der reformierten Kirche auf den Lebenswandel des heterogenen „Kirchenvolks“ dargestellt hat.110 Vor allem im Unterschied zur lutherischen Konfessionalisierung, die im Kern eine „Reform kirchlicher Lehre“ beinhalte, fordere die reformierte Konfessionalisierung eine ‚reformatio vitae‘, die sich somit auch auf die alltägliche Lebenspraxis, Bräuche und religiöse Praktiken bezog.111 Die Reaktionen der Bevölkerung auf diese Veränderungen sind schwer greifbar, und
106 Die Zugehörigkeit zu einer religiösen Gruppierung schien in der Regel reflektierter gewesen zu sein, da es sich hier um einen bewussten Schritt in die „Nonkonformität“ handelte. Zur Einführung und mit weiterführender Literatur Hans Jürgen Goertz, Religiöse Bewegungen in der Frühen Neuzeit (Enzyklopädie Deutscher Geschichte, 12). München 1993. 107 Heinz Schilling, Disziplinierung oder „Selbstregulierung der Untertanen“? Ein Plädoyer für die Doppelperspektive von Makro- und Mikrohistorie bei der Erforschung der frühmodernen Kirchenzucht, in: Luise Schorn-Schütte/Olaf Mörke (Hrsg.), Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte. Berlin 2002, S. 632–645. 108 Ders., Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 7; ders. (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland. 109 Zur Frage konfessioneller Identität Siegrid Westphal, Frau und lutherische Konfessionalisierung. Eine Untersuchung zum Fürstentum Pfalz-Neuburg 1524–1614. Frankfurt a.M. u.a. 1994. Vgl. auch die Forderung von Heinz Schilling, sich dieser Frage verstärkt anzunehmen. Schilling, Die Konfessionalisierung von Kirche, Staat und Gesellschaft, S. 11–14 mit weiterführender Literatur. 110 Paul Münch, Reformation of Life. Calvinism and Popular Culture in Germany around 1600. The paradigm of Nassau-Dillenburg, in: Leo Laeyendecker u.a. (Hrsg.), Experiences and Ex planations. Historical and sociological essays on religion in everyday life. Ljouwert u.a. 1990, S. 37–57, hier S. 41. 111 Ebd., S. 43.
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Münch hat sich auf Visitationsakten gestützt, wobei er auf die begrenzte Aussagekraft dieser Quellengattung für die eigentliche Fragestellung verwiesen hat. Methodisch überzeugend ist ein Aufsatz von Willem Frijhoff über religiöse Erfahrungen in den Niederlanden im frühen 17. Jahrhundert.112 Frijhoff analysierte exemplarisch die Art und Weise, wie Menschen verschiedener sozialer Gruppen, die über einen gewissen Bildungsgrad verfügten, die kirchliche Lehre in Bildern, Geschichten und Worten wiedergaben oder „übersetzten“, die ihrem eigenen alltäglichen Erfahrungshorizont und Wissensstand entsprachen. Entscheidend bei diesem Ansatz ist die Annahme, dass „außergewöhnliche Geschichten“ im Kern das populäre Verständnis kirchlicher Lehre widerspiegelten und entsprechend entschlüsselt werden müssen. Was auf den ersten Blick als wundersame religiöse Erlebnisse erscheinen mag, entpuppt sich bei genauerer Analyse als Ergebnis eines Aneignungsprozesses: „the extraordinary reveals itself as the ordinary category for the expression and the perception of the religious experience of those that have not learnt to express themselves in the rational, codified language of church doctrine“.113 Richard van Dülmen hat sich in seinen Studien zu Religiosität im 17. Jahrhundert ebenso mit dem Wechselverhältnis von populärer Frömmigkeit und konfessionellem Christentum unter Berücksichtigung beider Forschungstraditionen beschäftigt, den Einfluss der Konfessionalisierung zumindest implizit auf die populäre Frömmigkeit anerkannt und Unterschiede zwischen „evangelischer Frömmigkeit“ und „katholischer Frömmigkeit“ in religiösen Praktiken aufgezeigt.114 Gleichzeitig machte er unmissverständlich deutlich, dass der Prozess der Konfessionalisierung, wenn auch obrigkeitlich initiiert, kein „einseitiger Kolonialisierungsprozess“ war, sondern das einfache Volk eigene Vorstellungen mit einbrachte, eine Beobachtung, die inzwischen durch mikrohistorische und regionalgeschichtliche Studien belegt wurde.115
112 Willem Th. M. Frijhoff, The meaning of the marvelous: on religious experience in the early seventeenth-century Netherlands. Questioning the extraordinary, in: ebd., S. 79–101. 113 Ebd., S. 81. Für einen vergleichbaren Ansatz bei der Untersuchung populärer Meinungsbildung zur Zeit des englischen Bürgerkriegs vgl. Dagmar Freist, Governed by Opinion, bes. S. 177–238. 114 van Dülmen, Volksfrömmigkeit und konfessionelles Christentum; ders., Volksfrömmigkeit und religiöse Praxis, S. 61–78; sowie Scribner, Elements of Popular Belief; Burke, Popular Culture. Lehmann, Religion und Religiosität. 115 Richard van Dülmen, Konfessionelles Christentum und Rechtgläubigkeit, in: ders. (Hrsg.), Religion, Magie, Aufklärung. Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 3. München 1994, S. 108–121, hier S. 109; Kaspar von Greyerz, Grenzen zwischen Religion, Magie und Konfession, in: Kim Siebenhüner/Roberto Zaugg (Hrsg.), Kaspar von Greyerz. Von Menschen, die glauben, schreiben und wissen: Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 2013, S. 194–2010. Vgl. auch Heinrich Richard Schmidt, Dorf und Religion. Reformierte Sittenzucht in Berner Landgemeinden der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur Agrargeschichte, 41). Stuttgart u.a. 1995; sowie die
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Die Frauen- und Geschlechterforschung hat mit der Erforschung weiblicher Religiosität und Frömmigkeit und der Sichtbarmachung von Handlungsfeldern von Frauen innerhalb und auch außerhalb der offiziellen Kirche wichtige Erkenntnisse zu dem Wechselverhältnis von populärer Frömmigkeit, religiösen Praktiken und kirchlichen Lehren beigesteuert.116 Eine Reihe von Arbeiten haben Unterschiede zwischen katholisch und protestantisch geprägter weiblicher Religiosität betont und die jeweils verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten von Religiosität in den christlichen Konfessionen herausgearbeitet.117 Strittig diskutiert wird nach wie vor die Frage, welche der Konfessionen Frauen mehr Handlungsspielraum gewährte. Natalie Zemon Davis hat in ihren Studien zum frühneuzeitlichen Frankreich argumentiert, dass Frauen im Katholizismus größere, spezifisch weibliche Entfaltungsmöglichkeiten hatten.118 Luise Schorn-Schütte dagegen hat aus dem protestantischen Eheverständnis die gleichberechtigte Herrschaft von Frau und Mann abgeleitet. Diese Gleichberechtigung der Geschlechter war nach ihrer Darstellung ein entscheidendes Konfessionsmerkmal des Protestantismus, der in seinen Soziallehren für ein „herrschaftsbegrenzendes Sozialmodell“ stand – im Unterschied zu einem „herrschaftszentrierten Sozialmodell“ des Katholizis-
Beiträge in Frieß/Kießling (Hrsg.), Konfessionalisierung und Region; Holzem, Religion und Lebensformen. 116 Vgl. u.a. Anne Conrad, Zwischen Kloster und Welt. Ursulinen und Jesuitinnen in der katholischen Reformbewegung des 16./17. Jahrhunderts. Mainz 1991; Merry E. Wiesner, The Reformation of the Women, in: Archiv für Reformationsgeschichte. Sonderband. Washington/Gütersloh 1993, S. 193–208; Ulbrich, Frauen und Geschlechtergeschichte; dies., Frauen in der Reformation; exemplarisch Nadja Bennewitz, Handlungsmöglichkeiten und begrenzte Mitwirkung: Die Beteiligung von Frauen an der reformatorischen Bewegung in Nürnberg, in: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 68 (1999), S. 21–46; Heide Wunder, Frauen in der Reformation: Rezeptions- und historiographiegeschichtliche Überlegungen, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), S. 303–320. 117 Einführend Heide Wunder, Konfession und Frauenfrömmigkeit im 16. und 17. Jahrhundert, in: Theodor Schneider/Helen Schüngel-Straumann (Hrsg.), Theologie zwischen Zeiten und Kontinenten. Freiburg 1993, S. 185–197; allgemein Merry E. Wiesner, Women and Gender in Early Modern Europe. Cambridge 1993, bes. S. 179–217; Heide Wunder/Helga Zöttlein/Barbara Hoffmann, Konfession, Religiosität und politisches Handeln von Frauen vom ausgehenden 16. bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Klaus Reichert (Hrsg.), Zeitsprünge (Forschungen zur Frühen Neuzeit, 1). Frankfurt a.M. 1997, S. 75–98; Anne Conrad, Aufbruch der Laien – Aufbruch der Frauen. Überlegungen zu einer Geschlechtergeschichte der Reformation und der katholischen Reform, in: dies. (Hrsg.), „In Christo ist weder man noch weyb“. Frauen in der Reformation und der katholischen Reform. Münster 1999, S. 7–22. 118 Natalie Zemon Davis, Städtische Frauen und religiöser Wandel, in: dies. (Hrsg.), Humanismus, Narrenherrschaft und die Riten der Gewalt. Gesellschaft und Kultur im frühneuzeitlichen Frankreich. Frankfurt a.M. 1986, S. 75–105.
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mus.119 Eng verbunden damit ist die vielfach erörterte Frage nach dem Einfluss der Reformation auf das Verhältnis der Geschlechter. Vor allem Lyndal Roper hat angesichts der Aufwertung der Ehe als einziger gottgewollter Lebensform und der damit verbundenen Abwertung anderer weiblicher Lebensentwürfe wie das zölibatäre Klosterleben einen tiefgreifenden Wandel zum Nachteil von Frauen konstatiert.120 Aus der Sicht der Geschlechterforschung hat Roper die Parallelität protestantischer und katholischer Reform, wie sie von der Konfessionalisierungsforschung behauptet wird, hinterfragt: „on key issues having to do with gender – the role of Mary and the saints, clerical celibacy, the convent, to name just some – the two movements occupied diametrically opposed positions“.121 Diese Unterschiede beeinflussten grundlegend „religious identity, connected at the deepest level to the sense of self“.122 Trotz unterschiedlicher Interpretation hat auch Luise Schorn-Schütte das Ehe verständnis von Protestanten und Katholiken als Unterscheidungsmerkmal der Konfessionen mit weitreichender sozialer Wirkung gewertet.123 Es war gerade die Betonung religiöser Gewissensfreiheit und die religiöse Selbstverortung, die auch Frauen in eigener Entscheidung zuerkannt wurde, die neben der lange „beachteten normativen Neuordnung der Geschlechterbeziehungen in der Ehe zugleich eine Dynamisierung der Geschlechterbeziehungen in der Ehe durch Religion und Kirche” bewirkte.124 Diese Beobachtung wird besonders deutlich bei religiöskonfessionell gemischten Ehen, in denen Frauen, autorisiert durch die religiöse Gewissensfreiheit und gestärkt in ihrem Selbstbewusstsein, ihre religiösen Überzeugungen in der Familie auch gegen den Willen des Ehemanns durchzusetzen versuchten.125 Ein weiterer methodischer Zugang zu dem religiösen Selbstverständnis und der religiösen Selbstverortung von Frauen und Männern ist die Untersuchung
119 Luise Schorn-Schütte, „Gefährtin“ und „Mitregentin“. Zur Sozialgeschichte der evangelischen Pfarrfrau in der Frühen Neuzeit, in: Heide Wunder/Christina Vanja (Hrsg.), Wandel der Geschlechterbeziehungen zu Beginn der Neuzeit. Frankfurt a. M. 1991, S. 109–153, hier S. 116–121. 120 Lyndal Roper, The Holy Household. Women and Morals in Reformation Augsburg (Oxford Studies in Social History). Oxford 1989; dies., Gender and the Reformation, in: Archiv für Reformationsgeschichte 92 (2001), S. 290–302. 121 Ebd., S. 291. 122 Ebd. 123 Luise Schorn-Schütte, Bikonfessionalität als Chance? Zur Entstehung konfessionsspezifischer Soziallehren am Ende des 16. und zu Beginn des 17. Jahrhunderts, in: Hans R. Guggisberg/ Gottfried G. Krodel (Hrsg.), Archiv für Reformationsgeschichte. Sonderband: Die Reformation in Deutschland und Europa: Interpretationen und Debatten. Gütersloh 1993, S. 305–324. 124 Wunder, Frauen in der Reformation, S. 316. 125 Vgl. dazu ausführlich Kapitel III und IV.
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religiöser Devianz, wie es Carlo Ginzburg in seiner Pionierstudie vorgeführt hat, soweit die Verhörprotokolle Aussagen über das religiöse Selbstverständnis und religiöse Praktiken von Menschen zulassen.126 Es war besonders das Verdienst von Carlo Ginzburg, am Beispiel des fruilischen Müllers Domenico Scandella, genannt Menocchio aufzuzeigen, wie undogmatisch praktische Religiosität im 16. Jahrhundert sein konnte. Aus methodischer Sicht ist vor allem jedoch die Erkenntnis entscheidend, dass Elemente der von den Konfessionskirchen normativ vorgegebenen Glaubensgrundsätze eigensinnig, mitunter verfremdend rezipiert, in Bezug auf den eigenen Erfahrungshorizont gedeutet und alltäglichen Bedürfnissen angepasst wurden. Die Untersuchung von Visitationsberichten bietet ebenso Anknüpfungspunkte zur Analyse religiöser Praktiken. Hier sind die Aussagen allerdings noch stärker durch vorgefertigte Fragenkataloge gefiltert als bei Gerichtsverhören, in denen die Fragen zumindest am Delikt orientiert waren.127 Visitationsberichte erlauben zwar auf der einen Seite plastische Einblicke in die religiöse Lebenswelt verschiedener sozialer Gruppen, auf der anderen Seite werfen sie allerdings „eher ein Licht auf die neue, rigorose Moral der Geistlichkeit als auf die tatsächlichen Zustände und subjektiven Einstellungen des einfachen Volkes“.128 Vor allem die Erforschung von Selbstzeugnissen hat grundlegende Erkenntnisse über die religiöse Selbstverortung von Frauen und Männern als einen kontinuierlichen Prozess religiöser Formierung und Selbstbildung gebracht. Diese Prozesse waren eingebundenen in soziale Netzwerke, geprägt von dem jeweiligen religiösen und konfessionellen Umfeld und begleitet von ständiger Reflexion des eigenen religiösen Selbst.129 Diesen Studien ist gemein, dass hier die Aufmerksamkeit fast ausschließlich auf das religiöse Selbstverständnis von Frauen und Männern als etwas Eigenständiges gerichtet wurde, losgelöst von den Glaubensgrundsätzen der Konfessionskirchen und ohne Berücksichtigung der Aneignungsprozesse und Deutungen kon-
126 Carlo Ginzburg, Der Käse und die Würmer. Die Welt eines Müllers um 1600. Frankfurt a.M. 1979. 127 Fuchs, Ein ‚Medium‘ zum Frieden, S. 213–225; ders./Schulze (Hrsg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. 128 van Dülmen, Volksfrömmigkeit und konfessionelles Christentum, S. 23. 129 Kaspar von Greyerz, Der alltägliche Gott im 17. Jahrhundert. Zur religiös-konfessionellen Identität der englischen Puritaner, in: Pietismus und Neuzeit 16 (1990), S. 11–30; ders., Vorsehungsglaube und Kosmologie. Historische Studien zu englischen Selbstzeugnissen des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1990; Ulrike Gleixner, Memory, religion and family in the writings of Pietist women, in: Ulinka Rublack (Hrsg.), Gender in Early Modern German History (Past & Present publications). Cambridge 2002, S. 247–274.
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fessioneller Vorgaben bezogen auf die spezifischen lebensweltlichen Umstände. Werden diese Aneignungsprozesse in der Analyse berücksichtigt, so wurde häufig nach der Diskrepanz zwischen „Volksglauben“ und „Konfessionskirche“ gefragt. Auf den Grad der ‚Aneignung‘ an die offizielle Kirche bei gleichzeitiger Rückversicherung „im gelehrten Wissen, im Volksglauben und nicht zuletzt in der Verbindung mit dem ‚Geschlecht‘ als generationenübergreifenden Verband“ hat Heide Wunder in ihrer Analyse des Berichts der Herzogin Dorothea Susanna von Sachsen über das protestantische Sterben ihrer Schwiegertochter im 16. Jahrhundert hingewiesen.130 Im Selbstverständnis der damaligen Menschen machte „christliche und konfessionelle Orientierung nur einen Teil ihrer Selbstvergewisserung“ aus.131 Die Forderung nach einer verstärkten Hinwendung zu den eigentlichen Glaubensinhalten und religiösen Praktiken der breiten Bevölkerung unter Berücksichtigung der Konfessionalisierung als Prozess religiöser Formung und (Selbst) Bildung ist auch aus den Reihen der Universalhistoriker und der Kirchenhistoriker formuliert worden. In methodischen Überlegungen, die an die Konfessionalisierungsforschung anknüpfen, wird die Bedeutung der Konfessionalisierung nicht länger auf Modernisierung und frühneuzeitliche Staatsbildung beschränkt noch allein als ein überwiegend obrigkeitlich gelenkter Formierungsprozess gedeutet, sondern, wie Luise Schorn-Schütte in Anlehnung an Thomas Kaufmann formuliert hat, die „Bedeutung des Konfessionellen als wertgebundene Handlungsorientierung“ rückt in den Mittelpunkt.132 Rolf Kiessling hat zeitgleich am Beispiel süddeutscher Reichsstädte die Frage nach der Bedeutung der konfessionellen Identität „als Element der Lebensform“ aufgeworfen.133 Hans Christoph Rublack forderte schon 1992 eine “erfahrungsgeschichtliche Perspektive von Frömmigkeit” in Bezug auf die Konfessionalisierung ein. „Zu untersuchen wäre, in welchen sozialen Kollektiven und Gruppen die Ideen übernommen wurden, welche in den Predigten angesonnenen Verhaltensweisen mit welchen sozialen Einstellungen kompatibel waren, welcher »Erfolg«
130 Wunder, Konfession und Frauenfrömmigkeit, S. 189–191. 131 Ebd., S. 190. 132 Schorn-Schütte, Konfessionalisierung als wissenschaftliches Paradigma?, S. 70; Thomas Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur (Beiträge zur historischen Theologie, 104). Tübingen 1998, S. 7–8. 133 Rolf Kiessling, Konfession als alltägliche Grenze – oder: Wie evangelisch waren die Reichsstädte?, in: Wolfgang Jahn u.a. (Hrsg.), „Geld und Glaube“. Leben in evangelischen Reichsstäd ten. Katalog zur Ausstellung im Antonierhaus, Memmingen. Augsburg 1998, S. 48–66, hier S. 57–59.
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der Einprägungsarbeit begegnete.“134 Wirft man einen erneuten Blick in die älteren Studien zu bikonfessionellen Städten, vor allem die von Paul Zschunke zu Oppenheim, so wird deutlich, dass diese Fragestellungen nicht völlig neu sind, aber bislang wenig Umsetzung fanden. Zschunke hatte sich bereits für die konfessionelle Prägung von Mentalitäten interessiert, die er durch die vergleichende Analyse von Einstellungen und Verhaltensmustern auf der Grundlage umfangreicher Statistiken rekonstruiert hatte. So kam er bei einem Teilaspekt seiner Untersuchung zu dem Ergebnis, „daß die wesentlichen Ursachen der konfessionellen Vermögensunterschiede nicht in einer ungleichen Chancenverteilung, sondern in einer Verschiedenheit der Wirtschaftsmentalität“ zu suchen waren, die er wiederum aus den Unterschieden in der Heilsgewissheit und daraus resultierenden Verhaltensweisen ableitete.135 Heller-Karneth kommt einige Jahre später in ihrer Studie zu Alzey zu ähnlichen Schlussfolgerungen, nachdem sie neben statistischen Erhebungen, methodisch wenig überzeugend Max Webers Theorien über theologische und alltagsethische Unterschiede im Verhalten der Konfessionen als Beleg für die soziale Praxis paraphrasiert hatte.136 Auch Etienne François hat in seiner Studie zu Augsburg die Frage nach konfessionell geprägten Verhaltensmustern in den Mittelpunkt seiner Ausführungen gestellt und gezeigt, dass das Verhalten der Konfessionen geprägt war von Pragmatismus und Glaubenstreue, was sich unter anderem darin zeige, dass konfessionelle Grenzziehungen im Alltag pragmatischen Überlegungen und dem Streben nach friedlicher Koexistenz untergeordnet und punktuell überschritten wurden, gleichzeitig die eigene konfessionelle Zugehörigkeit aber nicht in Frage gestellt wurde, was unter anderem an der Ablehnung der Mischehe deutlich werde. Während so sichtbare Grenzen zunehmend verwischt wurden, sollte „in den Mentalitäten [...] eine Grenze errichtet werden, die unsichtbar, aber gerade deshalb umso dauerhafter sein musste“.137 Neuartige Formen der Identitätsbildung nach François waren das lutherische Friedensfest und die katholischen Kontroverspredigten, die jeweils zur Selbstfindung und Abgrenzung dienten. Während in François Studie die Darstellung der Pedanterie überzeugt, mit der die beiden Konfessionen das Paritätsgebot von 1648 institutionell und gesellschaftlich umsetzten, ein Verhalten, dass sich auch im bikonfessionellen Fürstbistum Osnabrück nachweisen lässt und als eine „frühzeitige Verinnerlichung der Parität als Modus des friedlichen Zusam-
134 Hans-Christoph Rublack, Zur Problemlage der Forschung zur lutherischen Orthodoxie in Deutschland, in: Die lutherische Konfessionalisierung, S. 13–32, hier S. 21. 135 Zschunke, Konfession und Alltag, S. 121. 136 Heller-Karneth, Drei Konfessionen, S. 136–141. 137 François, Die unsichtbare Grenze, S. 143.
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menlebens beider rivalisierender Konfessionen“ interpretiert wurde138, sind seine Ausführungen über konfessionell geprägte Verhaltensmuster aufgrund der umfassend bemühten, aber zugleich vom Autor selbst als unzulänglich eingestuften, statistischen Erhebungen weniger schlüssig. So macht François Beispiele konfessioneller Grenzüberschreitung zur „Norm des Außergewöhnlichen“, was grundsätzlich denkbar und methodisch anregend ist, erweckt allerdings den Eindruck der Verallgemeinerungsfähigkeit, ohne diese Beobachtungen, wenn schon nicht statistisch, so wenigstens qualitativ weiter zu differenzieren. Neuere Studien zum 18. Jahrhundert haben gezeigt, dass gerade das Paritätsgebot von 1648 ein permanenter Bezugspunkt wurde, um religiöse und konfessionelle Veränderungen zu brandmarken.139 Die Erkenntnisse über das Fortleben verschiedener religiöser Strömungen eines nach außen hin protestantisch oder katholisch „konfessionalisierten“ Untertanenverbandes sowie die Tatsache, dass in einigen Territorien des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, darunter die Kurpfalz, Jülich-Kleve-Berg oder das Fürstbistum Osnabrück, sowie einigen (Reichs)Städten mehrere Konfessionen auf engem Raum nebeneinander lebten, hat in der Geschichtswissenschaft seit einigen Jahren das Interesse an den Bedingungen und Praktiken dieses gemischt religiös-konfessionellen Zusammenlebens erneut geweckt.140 Die religiöse Zugehörigkeit hat sich nicht nur in der Topographie religiös-konfessionell gemischter frühneuzeitlicher Städte141 oder der Herausbildung konfessioneller Milieus gezeigt,142 sondern auch im Umgang mit religiösen Artefakten143 und Sinnlichkeit als konfessionsspezifischer Deutungsmatrix.144 Die erfahrungsbezogene und handlungspraktische Dimension von Religion schließlich wird neben
138 Ebd., S. 20. 139 Vgl. Kapitel IV und V mit weiterführender Literatur. 140 Burkhard Dietz/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Drei Konfessionen in einer Region. Beiträge zur Geschichte der Konfessionalisierung im Herzogtum Berg vom 16. bis zum 17. Jahrhundert (Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte, 136). Köln 1999; Frieß/Kießling, Konfessionalisierung und Region. 141 Vera Isaiasz u.a. (Hrsg.), Stadt und Religion in der Frühen Neuzeit: Soziale Ordnungen und ihre Repräsentation (Eigene und fremde Welten, 4). Frankfurt a.M./New York 2007. 142 Schorn-Schütte, Konfessionalisierung als wissenschaftliches Paradigma?, S. 70; Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede, S. 7f.; ders., Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts (Spätmittelalter und Reformation N.R. 29). Tübingen 2006. 143 Alexandra Walsham (Hrsg.), Relics and Remains (Past and Present, Supplement 5). Oxford 2010. 144 Wietse de Boer/Christine Göttler (Hrsg.), Religion and the Senses in Early Modern Europe. Leiden 2013.
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umfangreichen Arbeiten zur Kirchenzucht145 insbesondere in der Selbstzeugnisforschung146, in der Pietismusforschung147 sowie in der Missionsgeschichte148 thematisiert. Diese autobiographischen Schriften und Selbstzeugnisse offenbaren zum einen die Bedeutung Generationen übergreifenden Erinnerns für die Herausbildung und Stabilisierung religiöser Zugehörigkeit seit dem 16. Jahrhundert. Zum anderen wurde aber auch deutlich, dass die These nach einer engen Verflechtung autobiographischen Schreibens und religiöser Subjektivierung zu eindimensional ist und die Herausbildung religiöser Subjekte ein relationaler Prozess immer auch in Bezug auf Gemeinschaften und Zugehörigkeiten darstellt149 und eingebunden ist in Prozesse der Anerkennung.150 Auch in diesem Kontext drängt sich die Frage nach der religiösen Formung, der religiösen Selbstverortung und den damit verbundenen religiösen Praktiken auf.151 Für die aufgeworfene Frage nach der Beschaffenheit religiöser oder konfessioneller Zugehörigkeit im Selbstverständnis der Bevölkerung sind die Überlegungen von Thomas Kaufmann weiterführend. Der Theologe und Kirchenhistoriker hat
145 Für einen guten Überblick die Beiträge in Schilling, Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung. 146 Aus der inzwischen umfangreichen Selbstzeugnisforschung exemplarisch Kaspar von Greyerz (Hrsg.), Selbstzeugnisse in der Frühen Neuzeit. Individualisierungsweisen in interdisziplinärer Perspektive (Schriften des Historischen Kollegs, Kolloquien 68). München 2007 und Claudia Ulbrich/Hans Medick/Angelika Schaser, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Selbstzeugnis und Person. Transkulturelle Perspektiven. Köln/Weimar/Wien 2012, S. 1–19. 147 Exemplarisch Ulrike Gleixner, Pietismus und Bürgertum: Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit. Württemberg 17.–19. Jahrhundert (Bürgertum N.F. 2). Göttingen 2005, S. 119–208. 148 Anne-Charlott Trepp, „Daher entsteht so viel naturhistorisches Unheil“. Wissens- und Kulturtransfer zwischen Indien und Europa: Die Halleschen Missionsberichte, in: Andreas Beck/ Nicola Kaminski (Hrsg.), Literatur der Frühen Neuzeit und ihre kulturellen Kontexte. Frankfurt a. M. 2012, S. 229–255; Renate Dürr, Der „Neue Welt-Bott“ als Markt der Informationen? Wissenstransfer als Moment jesuitischer Identitätsbildung, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34 (2007), S. 441–466, 450–456. 149 Katja Lißmann, Der pietistische Brief als Bildungs- und Aneignungsprozess. Anna Magdalena von Wurm in ihren Briefen an August Hermann Francke (1692–1694), in: Juliana Jacobi/ Jean-Luc Le Cam/Hans-Ulrich Musolff (Hrb sg.), Vormoderne Bildungsgänge. Selbst- und Fremdbeschreibungen in der Frühen Neuzeit. Weimar/Wien/Köln 2010, S. 63–80, hier S. 68; Schmid, Bildungsgänge sub specie religionis. Ulbrich/Medick/Schaser, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Selbstzeugnis und Person, S. 4–5. 150 Freist, Historische Praxeologie als Mikro-Historie, S. 70–71. 151 Dagmar Freist, Representations and Appropriation of Religious Difference in a Biconfessional Territory in 17th and 18th-century Germany, in: Andreas Höfele/Enno Ruge/Gabriele Schmidt (Hrsg.), Representing Religious Pluralization in Early modern Europe (Pluralisierung & Autorität, 12). Münster 2007, S. 143–161.
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den Begriff der „Konfessionskultur“ in seiner Studie über lutherische Konfessionskultur verwandt und präzisiert.152 Unter „Konfessionskultur“ versteht er „den Formungsprozess einer bestimmten, bekenntnisgebundenen Auslegungsgestalt des christlichen Glaubens in die vielfältigen lebensweltlichen Ausprägungen und Kontexte hinein, in denen der allenthalben wirksame Kirchenglaube präsent war“.153 Mit diesem Ansatz will Kaufmann die „komparatistische Perspektive der neueren Konfessionalisierungsforschung, die die drei frühneuzeitlichen Konfessionen unter funktionalen Gesichtspunkten auf ihre Bedeutung für die Formierung des frühmodernen Staates und der frühneuzeitlichen Gesellschaft hin analysiert hat“ ergänzen durch einen Blick auf die „‚Innenperspektive‘ der Konfessionen, ihre Selbstdeutungen, ihre Wirkungen in der gesellschaftlichen und kulturellen Lebenswelt“.154 Lutherische Konfessionskultur lässt sich nach Kaufmann nicht als ein statisches Phänomen beschreiben, sondern erfährt im Verlauf der Frühen Neuzeit eine innere Pluralisierung durch immer neu aktualisierte konfessionelle Prägung, die gleichzeitig unerschütterlich den Lebensrahmen der Akteure bildet. Diese Sichtweise steht „den mit dem Begriff des ‚Konfessionellen‘ verbundenen Assoziationen von Geschlossenheit oder Enge, doktrinaler Homogenität oder erzwungener Bekenntniskonformität, kurz: ‚Orthodoxie‘“ entgegen.155 In dieser Perspektive wird das Spannungsverhältnis zwischen „konfessionellem Christentum“ und religiöser Selbstverortung insofern aufgehoben, als die Frage der Rezeption und Aneignung lutherischer, katholischer oder reformierter Konfession in den Mittelpunkt gerückt wird, die religiöse Selbstverortung also nicht ‚entkonfessionalisiert‘ war, sondern im Gegenteil verschiedene und unterscheidbare konfessionelle Prägungen und Ausdrucksformen enthielt. Allerdings bleibt die Frage weitgehend unbeantwortet, wie die teilweise heftigen Reaktionen der lutherischen Geistlichkeit auf die ‚innere Pluralisierung‘ im Luthertum in dieses Konzept der Konfessionskultur integriert werden kann. Abweichende religiöse Haltungen wurden von der Geistlichkeit wie auch von Gläubigen polemisch in die Nähe von radikalen „Sekten“ gerückt und deren Repräsentanten, wie Ronald Asch am Beispiel der Osnabrücker Stadtgeschichte im 18. Jahrhun-
152 In einem Aufsatz aus dem Jahre 1993 hatte Luise Schorn-Schütte bereits mit dem Begriff der Konfessionskultur gearbeitet und als entscheidende konfessionstrennende Merkmale mit sozialer Wirkung das Amtsverständnis und das Eheverständnis herausgearbeitet. Schorn-Schütte, Bikonfessionalität als Chance? Vgl. auch Norbert Haag u.a. (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500–1850. Stuttgart 2002, allerdings ohne den Begriff der Konfessionskultur näher zu bestimmen. 153 Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede, S. 7. 154 Ebd. 155 Ebd., S. 9.
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dert gezeigt hat, konnten sogar ihrer Ämter erhoben und der Stadt verwiesen werden mit der Begründung, ihre religiösen Äußerungen seien nicht durch den Westfälischen Friedensvertrag und die für Osnabrück gültige Capitulatio perpetua gedeckt. Bei diesem Konflikt entstand die ungewöhnliche Situation, dass dem katholischen Landesherrn, Fürstbischof Clemens August, schließlich die Aufgabe zuteil wurde, über die Konformität der lutherischen ‚Abweichler‘ zu urteilen.156 Mit anderen Worten, wo genau verlief die Grenze zwischen akzeptierter und nicht mehr akzeptierter religiöser Pluralisierung innerhalb einer Konfession und wer definierte diese Grenze? Und wie lässt sich die vielleicht auch bewusste Abgrenzung religiöser Gruppen, die sich theologisch vielleicht noch zu einer Konfessionskirche rechnen ließen, nach ihrem eigenen Selbstverständnis jedoch außerhalb einer der großen Konfessionen, ihrer Lehre und ihrer religiösen Praktiken ansiedelten, greifen? Wie verhält sich die konfessionsübergreifende Selbstdefinition als Christ, wie sie nicht nur unter Separatisten zu finden ist, zu den Lehrsätzen und Anforderungen der Konfessionskirchen?157
2.3 R eligiöse Selbstverortung und die Angst vor innerkonfes sioneller Überfremdung Die Angst vor „innerkonfessioneller Überfremdung“, wie sie Ronald Asch für Osnabrück nachgezeichnet hat, lässt sich auch in der Kurpfalz im 18. Jahrhundert beobachten. Allerdings nimmt hier ein katholischer Landesherr zumindest formal die Rolle des ‚Richters‘ über konformes Verhalten seiner lutherischen und reformierten Untertanen ein. In einem Schreiben des Kurfürsten vom 3. Oktober 1706, in dem er sich gegen private religiöse Versammlungen stellte, verabschiedete Johann Wilhelm eine von „unß approbirte Generalia, daß keiner welcher nicht einer von denen im Heiligen Römischen Reich tolerirten drey religionen offenkundlig profitiret, in unserern Landen geduldet werden sollte“.158 Mit großer Akribie wurden im 18. Jahrhundert in der Kurpfalz „separatistische Secten“ mit Hilfe reformierter und lutherischer Inspektoren und Pfarrer auf Anordnung der
156 Ronald G. Asch, Von der Metropolitan- zur Munizipalstadt. Osnabrück zwischen Westfälischem Frieden und Siebenjährigem Krieg, in: Gerd Steinwascher (Hrsg.), Geschichte der Stadt Osnabrück. Belm 2006, S. 229–266. 157 Für Beispiele konfessioneller Indifferenz und Selbstdefinition als Christ im 17. und 18. Jahrhundert vgl. Kiessling, Konfession als alltägliche Grenze, S. 59–60. 158 GLA 77/4331, fol. 39r und 40l.
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Regierung und in Zusammenarbeit mit den Oberämtern, dem reformierten Kirchenrat und dem lutherischen Konsistorium159 nachgespürt, kursierten Gerüchte über Quäker, und wurden ‚Separatisten‘ über ihre religiösen Praktiken und ihr Religionsverständnis befragt.160 In einem zweiundzwanzig Punkte umfassenden Fragenkatalog wurde beispielsweise der ehemals dem reformierten Glauben angehörende 46-jährige Separatist Johannes Georg Henning, der mit einer reformierten Frau verheiratet war und dessen Tochter nach eigener Aussage reformiert erzogen wurde und bereits am Abendmahl teilgenommen hatte, nach seiner Haltung zur reformierten Kirche und zur Obrigkeit, den Büchern in seinem Besitz, seiner Kenntnis der genannten Verordnung sowie nach dem Netzwerk der Separatisten verhört. Die Aufforderung, einen Untertanen-Eid auf den Kurfürsten abzulegen, da er bei der letzten Huldigung aus vorgeschützter Krankheit abwesend gewesen sei, widersetzte sich Henning und verlangte, ihn wie die Wiedertäufer von dem Eid zu befreien, „er lebe nach der Lehr seines Jesus, Ja! Ja! Oder Nein! Nein! Und dieses wäre bei ihm so gut wie ein leiblichen Eyd“.161 Gefragt, ob er sich zu einer der drei Konfessionen erklären wolle, entgegnete Henning „Nein! Das könne er nicht, er suche als ein Christ zu leben und zu sterben, er bleibe auf solche Art ein Separatist von diesen 3 religionen, das kirchen gehen mache noch keinen Christen, und nicht hinein gehen, seye auch nicht gegen einen Christen.“162 In einem anderen Verhör wurde ein des Separatismus verdächtigter Georg Michel Volckert gefragt, wie er und seine Anhänger genannt würden. Er antwortete, dass sie an einigen Orten Herrenhuter, an anderen Weiße Brüder, und wiederum an anderen Orten Pietisten genannt würden. Auf die Frage, wie „sie sich denn eigentlich heisseten“, antwortete er „sie wären reformirt und wollten auch reformirt heissen“.163 Die Zusammenkünfte wurden von einem Pfarrer betreut. Besondere Sorge bereitete den zuständigen Ämtern die religiöse Zugehörig keit von Kindern, die unter Separatisten aufwuchsen. In Befragungen der Separatisten wurde daher sorgfältig auch nach der religiösen Zugehörigkeit der Familienangehörigen gefragt und angeordnet, dass ihre Kinder die örtliche Schule besuchten. Wenn Gefahr bestand, dass sich dieser Anordnung widersetzt wurde, sollten die Kinder morgens früh von dem Polizei-Diener abgeholt und bis zur
159 Ebd., fol. 24. 160 Vgl. Nachrichten über die Religionsfakten der Wiedertäufer und Quäker in der Pfalz 1651– 1743. GLA 77/4337; Das Verbot Pietistischer und Separatistischer Sekten und deren Versammlungen 1749–1810 (mit ausführlichen Verhören) GLA 77/4331, 4332, 2 Bde. 161 GLA 77/4311, fol. 17 (Frage 19). 162 Ebd. (Frage 20). 163 GLA 77/4331, fol. 55 (Frage 15).
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Schule geleitet werden. Diese Maßnahme wurde im Fall der Separatisten Georg Ludwig Ziegler und Leonhard Friedel im Jahre 1808 angeordnet. Dennoch bestand Ziegler, Vater von vier Söhnen und einer Tochter, die bis auf einen Sohn alle wie die Mutter evangelisch-lutherisch waren, sich seinem Glauben jedoch zugeneigt zeigten, dass er seine Kinder nicht in die Schule schickte, sondern selbst lehren wollte.164 Ziegler wurde daraufhin in Gewahrsam genommen und mit einer Geldstrafe belegt, die er sich allerdings zu zahlen weigerte, „sie müssten ihm dann diebsmäßig gestohlen werden“.165 In dem Verhör bestätigte er, dass er sein Bürgerrecht abgegeben habe und keine weltliche Verordnung anerkennen würde. Nur Gott allein sei er verpflichtet. Seine Kinder würde er weiter nicht zum Schulbesuch anhalten, „er habe seine Schule in sich, und die hiesige öffentliche Schule gehe ihn nichts an“.166 Angesichts der sehr unterschiedlichen Reaktionen und Bewertungen religiöser und konfessioneller Pluralisierung und Separatismus durch die Zeitgenossen selbst, die hier nur skizzenhaft angedeutet wurden, stellt sich die Frage, wie das von Kaufmann vorgeschlagene und äußerst tragfähige Konzept der ‚Konfessionskultur‘ mit seinem Anspruch eines offenen, Modifikationen zulassenden und von ‚Innen‘ zu definierenden Konfessionsbegriffs auf die Geschichte der Frühen Neuzeit angewandt werden kann. Eine Voraussetzung ist die Rückholung der von der Konfessionalisierungsforschung ausgeblendeten Wahrheitsfrage in die historische Erforschung frühneuzeitlicher Religiosität, allerdings aus Sicht der historischen Subjekte nicht der Theologie, wie auch von Kaufmann gefordert. Schilling hatte den Erfolg konfessionellen Zusammenlebens in der Frühen Neuzeit unter anderem daran festgemacht, dass „man die zerstörerische Gewalt des konfessionellen Fundamentalismus dadurch überwunden [hatte], dass die Wahrheitsfrage als unverhandelbar anerkannt, gleichzeitig aber für das alltägliche Zusammenleben hintangestellt bzw. ausgeklammert wurde“.167 Steht die religiöse Zugehörigkeit einzelner sozialer Gruppen oder auch Personen und stehen die Möglichkeiten und Grenzen gemischt religiös-konfessionellen Zusammenlebens zur Debatte, so muss zwangsläufig nach den religiösen Überzeugungen und wie diese artikuliert und praktisch gelebt wurden in Abgrenzung zu anderen, soweit sie rekonstru-
164 GLA 77/4232 (Protokoll betreffend der Separatisten zu Michelfeld Ludwig Ziegler und Leonhard Friedel, 30. Juli 1808). 165 GLA 77/4232 (Verhörprotokoll Ziegler, 9. September 1808). 166 Ebd. (Antwort auf Frage 6). 167 Heinz Schilling, Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration, in: IMIS-Beiträge 20/2002. Themenheft: Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter, S. 67–89, hier S. 86.
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ierbar sind, gefragt werden. Es war vor allem die Frage nach dem richtigen Weg zur Erlangung des Seelenheils und der Gewissensfreiheit, die in Konflikten auch noch im 18. Jahrhundert immer wieder auftrat, und für die beispielsweise der sächsische Kurfürst von seinen lutherischen Ständen noch im 18. Jahrhundert als Landesherr verantwortlich gemacht wurde.168
2.4 R eligiös-konfessionelle Grenzformationen und Grenzüberschreitungen Die bislang vorliegenden Studien über gemischt religiös-konfessionelles Zusammenleben haben gezeigt, dass sich das Zusammenleben verschiedener Religionsangehöriger nicht darin erschöpfte, ‚dass sie sich aus dem Wege gingen‘, sondern im Gegenteil, dass es trotz eigener religiöser Selbstverortung, die sich in konfessionell geprägten religiösen Praktiken und der Formierung von Grenzen zeigte, und trotz Animositäten, Grenzüberschreitungen im Alltag gab, von denen die Mischehe eine der radikalsten darstellte. Die Grenze, so wie sie hier verstanden wird, „ist nicht eine räumliche Tatsache mit soziologischen Wirkungen, sondern eine soziologische Tatsache, die sich räumlich formt.“169 Mit dem Begriff der Grenzformation wird deutlich, dass religiös-konfessionelle Grenzen zwar konfessionspolitisch markiert werden konnten, aber erst in Bedeutungszuschreibungen und Praktiken unterschiedlicher Akteure sozial bedeutsam wurden und Wirkmächtigkeit entfalten konnten. Wer in welcher Form an diesen Grenzformationen oder der Veränderung und Überschreitung dieser Grenzen Anstoß nahm oder zur Grenzüberschreitung bereit war, konnte sehr unterschiedlich sein. Religions- und konfessionsübergreifende wirtschaftliche Beziehungen, Nachbarschaftskontakte oder auch städtische Sozialtopographien wurden gerade in neueren Studien als Zeichen alltäglichen Pragmatismus bezeichnet und religiös-konfessionelle Grenzformationen im Alltagshandeln hervorgebracht und überwunden je nach Bedürfnissen.170 Das Zustandekommen und Gelingen einer religiös-konfessionell gemischten Ehe war von Beginn an konfrontiert mit der Frage religiöser Zugehö-
168 Vgl. Kapitel IV. 169 Georg Simmel, Soziologie. Untersuchungen über die Formen der Vergesellschaftung. 6. Aufl. Berlin 1983, S. 467. Vgl. auch Hans Medick, Grenzziehungen und die Herstellung des politischsozialen Raumes. Zur Begriffsgeschichte und politischen Sozialgeschichte der Grenzen in der Frühen Neuzeit, in: Richard Faber/Barbara Naumann (Hrsg.), Literatur der Grenze. Theorie der Grenze. Würzburg 1995, S. 211–224. 170 Francesca Trivellato, The Familiarity of Strangers: The Sephardic Diaspora, Livorno, and Cross-Cultural Trade in the Early Modern Period. Yale/NH 2009.
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rigkeit, der Kennzeichnung von Grenzen und Bewältigungsstrategien im Umgang mit religiösen Differenzen. Sowohl im Vorfeld bei der Einholung des elterlichen Konsenses, bei der Pfarrerwahl, als auch in der Praxis bei Entscheidungen über den Kirchgang, die Einhaltung von Feiertagen, Inhalt und Form christlicher Gebete und vor allem der Taufe und Erziehung der Kinder, Schulwahl und Vorbereitung auf das Abendmahl oder die Kommunion mussten täglich religiöskonfessionell hervorgebrachte Grenzen überwunden werden.171 Das Leben einer religiös-konfessionell gemischten Familie war in der Regel geprägt von der Erfahrung, zwei Gemeinden anzugehören, Sozialkontakte über religiös-konfessionelle Grenzen hinweg zu pflegen, von zwei Seelsorgern betreut zu werden, die Kinder mitunter auf zwei verschiedene Schulen zu schicken, Gebete der anderen Konfession im Haus zu hören und die Einhaltung verschiedener kirchlicher Feiertage in der Familie vereinen zu müssen. Wie die Bedingungen für ein solches Zusammenleben aussehen konnten, und wie diese Bedingungen im Verlauf einer gemischt religiös-konfessionellen Ehe verändert werden konnten, wird in dem folgenden Beispiel besonders augenfällig. Der Katholik von Albini, damals wohnhaft in Hessen-Kassel, erwarb durch seine Ehe mit der Tochter des reformierten fürstlich Rotenburgischen Rats Ludolph in den 1750er Jahren Zugang zu höheren Regierungsämtern. Durch die Vermittlung seines reformierten Schwiegervaters erhielt der Katholik „hiernächst bey der Cantzley zu Rheinfels von beyderseits Durchlauchtigsten Herrn Landgrafen [...] convenable Placirung“.172 Die Töchter, die in der Ehe geboren wurden, wurden nach den gültigen Landesgesetzen zu Mischehen in Hessen-Kassel reformiert getauft und erzogen, der Sohn katholisch. Von Albini hatte sich sicherheitshalber gegen diese, seinen eigenen katholischen Glauben verletzende, Kindererziehung durch ein theologisches Gutachten absichern lassen. Ein reformierter Pastor unterwies die Töchter im reformierten Glauben, der Vater betete allerdings mit der Ältesten die römisch-katholische Fassung des Vaterunsers zu Hause, der Sohn besuchte eine katholische Schule auswärts. Als sich das Karriereblatt von Albini wendete und er vom Schwäbischen Kreis als Reichskammergerichtsassessor vorgeschlagen wurde, scheiterte seine Ernennung zunächst daran, dass er aufgrund seiner religiös-konfessionell gemischten Familie von den katholischen Reichskammerrichtern nicht als „echter Katholik“ angesehen wurde. Diesen Makel versuchte von Albini, der inzwischen mit seiner Familie nach Wetzlar umgezogen war, abzuwenden, indem er sein Haus zum „catholischen Quartier“ erklärte und seinen Kindern und seiner Frau gegen ihren Willen jed-
171 Für Beispiele vgl. Kapitel IV, besonders die Fallstudien zum Fürstbistum Osnabrück. 172 Faber, Neue Europäische Staats-Canzley. Tl. 7. Ulm 1762, Kap. 4, S. 209.
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weden Kontakt mit der reformierten Konfession zu unterbinden suchte und die katholische Erziehung auch der Töchter verlangte.173 Religiöse Subjektivierung und Selbstverortung in Mischehen vollzog sich so im Zusammenspiel miteinander konkurrierender Deutungsangebote, Lebensweisen, alltäglichen Herausforderungen und religiösen Praktiken. Gesellschaftliches Zusammenleben über diese religiös-konfessionell hervorgebrachten Grenzen hinweg entwickelte sich in der aktiven oder beobachtenden Teilnahme an Festen und Feiertagen der anderen Religion oder Konfession, der Einrichtung von Simultankirchen, der gemeinsamen Nutzung von Friedhöfen und durch öffentliche religiöse Praktiken wie Prozessionen, Wallfahrten, Psalmensingen und Leichenverssingen. Die häufig dokumentierte Verpflichtung der Protestanten, in offiziell katholischen Regionen die katholischen Feiertagen zu beachten, teilweise auch in Prozessionen mitzugehen, führte zwar immer wieder zu Klagen,174 gleichzeitig erlebten die Protestanten unmittelbar die Glaubenspraxis der anderen Konfession. Je nach Ausstattung brachte die gemeinsame Kirchennutzung auch ein Eintauchen in die visuelle Welt der anderen Konfession durch Kirchengemälde und Kultgegenstände katholischer oder die farbliche Zurückhaltung protestantischer Kirchenräume mit sich.175 So trafen sich beispielsweise Lutheraner aus dem katholischen Kirchspiel Riemsloh im Fürstbistum Osnabrück in einer kleinen katholischen Kapelle am Sonntagnachmittag zu einem Privatgottesdienst, ließen sich Predigt-Postillen vorlesen und sangen lutherische Kirchenlieder, bis ihnen dieses von den Katholiken unter der Herrschaft des katholischen Fürstbischofs Clemens August wieder verboten wurde mit der Begründung, sie könnten die evangelische Kirche im benachbarten Kirchspiel Hoyel nutzen.176 Fühlten sich die Kirchgänger durch die Kultgegenstände der anderen Konfession in ihrer religiösen Praxis beeinträchtigt, wurde hier also eine Grenze des Zusammenlebens erreicht, so konnte sich dies in Beschädigungen oder auch Entehrungen der Kultgegenstände äußern.177
173 Für eine ausführliche Fallschilderung vgl. Kapitel V. 174 Vgl. Kapitel III. 175 Susanne Wegmann/Gabriele Wimböck (Hrsg.), Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit. Korb 2007. 176 Bericht von Justus Möser StAOS Rep 110, II, Nr. 634, I (1773–1775), fol. 157r. 177 Für einen Versuch, den Begriff der Grenze fruchtbar zu machen für die Untersuchung gemischtkonfessionellen Zusammenlebens vgl. Frauke Volkland, Konfessionelle Grenzen zwischen Auflösung und Verhärtung. Bikonfessionelle Gemeinden in der Gemeinen Vogtei Thurgau (CH) des 17. Jahrhunderts, in: Historische Anthropologie 5 (1997), S. 370–387; und Kapitel IV insbesondere die Fallstudien zur Kurpfalz und zu Osnabrück.
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Bestimmte öffentliche Praktiken wie das Glockengeläut der Katholiken zum Gebet prägten die Alltagserfahrung der Menschen und strukturierten den Tagesablauf. Als verbindendes Glied zwischen den Konfessionen könnte konfessionsübergreifend das Christentum angenommen werden, der Glaube an einen gemeinsamen Gott, oder, wie es Holzem formuliert hat, „das allseits geteilte Wissen um die Unabdingbarkeit des Religiösen“.178 Diese Vermutung wird durch Äußerungen wie die Nachfolgende, vorgebracht von einer reformierten Braut und ihrer Mutter vor Einwilligung in die Ehe mit einem Katholiken, untermauert: „Daß ja derley vermischte Ehen nichts seltsames wären, und viele derselben ohngehindert der Religions-Ungleichheit, wohl und vergnügt ausgeschlagen wären [...] indem Sie ja glaubten, daß man in der Catholischen Religion eben so wohl, als in der Reformirten, welche Sie bekenneten, seelig werden könnte.“179 Dieser Wahrnehmung stand die „Besorgnis, die bey gemischten Ehen allezeit obwaltet“ entgegen.180 Doch auch die Neugier konnte dazu antreiben, die religiösen Praktiken der anderen Konfession oder religiösen Gruppierung zu beobachten.181 In religiös-konfessionell gemischten Regionen wurden andere, vielleicht als fremd empfundene religiöse Praktiken Teil von Alltagserfahrungen durch die Berührung und Überschneidung von Lebenswelten. Auch wenn sie vielleicht nicht verstanden wurden, gehörten sie in den Bereich des alltäglich Vertrauten. Religiös-konfessionell gemischte Ko-Existenz konnte so auf der Grundlage einer lebensweltlichen Vertrautheit mit dieser Differenz funktionieren, die Wahrnehmung religiöser Differenz war gewissermaßen alltäglich, durch soziale Praktiken hervorgebracht und beobachtbar. Durch diese Wahrnehmung von Differenzen entstand ein Prozess der religiösen Selbstvergewisserung; und in alltäglichen Grenzziehungen zum ‚Anderen‘, etwa durch die Teilnahme oder nicht Teilnahme an bestimmten religiösen Praktiken, bildete sich das Bewusstsein über die eigene religiöse Selbstverortung und über eigene Wertsetzungen heraus.182 Mit Blick auf mögliche ‚Berührungspunkte‘ im Zusammenleben verschiedener religiöser und konfessioneller Gruppen stellt sich somit die Frage, welche Erfahrungen geteilt und welche Verhaltensweisen jeweils dem Bereich des Normalen und Vertrauten zugeordnet werden konnten, und in welchen Situationen und Bereichen
178 Holzem, Religion und Lebensformen, S. 393. 179 Faber, Neue Europäische Staats-Canzley, Tl. 7. Ulm 1762, Kap. 4, S. 208. 180 Ebd., Tl. 8. Ulm 1762, Kap. 4, S. 337. 181 Vgl. Kapitel III, 3.1 182 Zu Entstehung von Identität und der Wahrnehmung von Fremden vgl. Mark Häberlein/Wolf gang Zürn, Einleitung, in: dies. (Hrsg.), Minderheiten, Obrigkeit und Gesellschaft in der Frühen Neuzeit: Integrations- und Abgrenzungsprozesse im süddeutschen Raum. St. Katharinen 2001.
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potentiell Projektionen des ‚Fremden‘ und ‚Anderen‘, von dem es sich abzugrenzen und dem gegenüber es sich neu zu verorten galt, entstehen konnten. Das Alltagshandeln der Akteure war eingebettet in kulturelle Handlungsschemata kollektiv geteilter Sinnzusammenhänge, Deutungen und Wahrnehmungen. Mit Kultur ist hier kein prä-existentes, geschlossenes gesellschaftliches Teilsystem gemeint,183 kein System von Normen, Symbolen oder Werten, die unveränderbar anwesend sind und Deutungen und soziales Handeln steuern, sondern ein Medium „aktiver Repräsentation und Konstruktion von Erfahrungen, sozialen Beziehungen und deren Transformation“.184 Kulturelle Konstruktionsweisen religiöser Differenz werden erst durch soziale Handlungsvollzüge hervorgebracht, erfahrbar und verändert und gehen diesen zugleich voraus, d.h. sie „repräsentieren und drücken etwas aus, das ihnen und ihren Handlungsmöglichkeiten und -fähigkeiten (agency) vorausgeht“.185 Alltägliches Handeln beruhte in diesem praxeologischen Verständnis auf impliziten kulturellen Schemata und einem latenten Gemein-Sinn, der im ständigen Vollzug von Praktiken angeeignet und realisiert wurde und die Voraussetzung dafür bildete, auf die Handlungszüge anderer angemessen zu reagieren und die Bedeutung von Handlungsweisen zu beurteilen. In sozialen Praktiken griffen die Akteure so auf ein vertrautes Repertoire erprobter Wissens- und Handlungsweisen zu, das situationsadäquat variiert werden und Neues hervorbringen konnte. Soziale Praktiken brachten somit Orientierungsmuster hervor und verschafften Vertrautheit und Normalität. Immer wieder diskutiert wird in diesem Zusammenhang die Frage nach den Ursachen und Mechanismen, die dazu führten, dass religiös-konfessionelle Differenz, obwohl sie Teil vertrauter Alltagserfahrungen war, sich wandeln konnte von Vertrautheit zur Bedrohung, Unterschiede thematisiert und konfliktreich verstärkt wurden, und Zuschreibungen von Fremdheit aktualisiert und als Legitimation für Abgrenzungen und Übergriffe herangezogen wurden.186 Ein wiederholt zu beobachtender Mechanismus, der Konflikte hervorrief, war die Veränderung
183 Hans Medick, „Missionare im Ruderboot“? Ethnologische Erkenntnisweisen als Herausforderung an die Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 10 (1984), S. 295–319, hier S. 297. 184 Ebd., S. 297, 309. 185 Jakob Tanner, Historische Anthropologie, in: Docupedia Zeitgeschichte. Begriffe, Methoden und Debatten der zeithistorischen Forschung, S. 1–14, hier S. 4, http://docupedia.de/zg/Historische_Anthropologie vom 18. Apr. 2014. 186 Für solche „Konjunkturen konfessioneller Differenz“ (Jan Brademann) vgl. auch den Tagungsbericht: Konjunkturen Konfessioneller Differenz? Zur gesellschaftlichen Interaktion von Lutheranern und Reformierten zwischen 1648 und den Kirchenunionen des 19. Jahrhunderts, 17.03.2016 – 18.03.2016 Lutherstadt Wittenberg, in: H-Soz-Kult, 20.05.2016, .
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des Status Quo in den Bedingungen des Zusammenleben verschiedener religiöser und konfessioneller Gruppen.187 Welche Folgen das haben konnte, zeigt dieses Beispiel aus dem Fürstbistum Osnabrück aus dem 18. Jahrhundert. Den Hintergrund bildeten Religionskonflikte im katholischen Kirchspiel Ankum mit der protestantischen Minderheit, die sich nicht zuletzt durch die Predigten eines protestantischen Pfarrers und die Vorwürfe von Zwangskonversionen unter seinem Einfluss zugespitzt hatten.188 Er hielt Gottesdienst im Nachbarort Üffeln, und die Protestanten aus Ankum verließen jeden Sonntag durch ein Spalier, das die katholischen Einwohner bildeten, und unter den Klängen von Schimpfliedern den Ort in Richtung Kirche. Als ein Junge nun in der Kirche zu Üffeln öffentlich seinen neuen Glauben bekennen sollte, hatten sich zwei Ankumer Katholiken, die geschäftlich in Üffeln waren „auß Vorwitz“ in die Kirche begeben. Sie wollten wissen, „waß gegen den Catholischen Glauben daselbst angefangen wurde“. Sie hörten „eine Weile an das gotteslästerliche Schelten und Schmähen des katholischen Glauben Heil Gottes, auch gar allerheiligste Jungfrau und Mutter des Herrn“, als aber entdeckt wurde, dass sie Katholiken waren, seien die „lutherischen Bauern wie Löwen aufgestanden“ und hätten sie auf übelste Weise traktiert.189 Konfliktreiche Differenzerfahrungen wie diese, die immer wieder zu den Grunderfahrungen von Menschen in religiös-konfessionell gemischten Regionen gehörten, waren ein Widerfahrnis, das in der bloßen Routine innehalten ließ und dazu zwang, sich selbst in der Situation neu zu verorten und eine Gewohnheit flexibel anzupassen.190 Eine Voraussetzung überhaupt für den Aufbau von Kontakten und den Umgang im Alltag über religiös und konfessionell markierte Grenzformationen hinweg war nicht nur die Vertrautheit mit anderen religiösen Praktiken, sondern auch die Fähigkeit und die Bereitschaft, andere religiöse Praktiken und Feiertage durch Rücksichtnahme im Alltag anerkennen und respektieren zu können. Dazu gehörten als Rahmenbedingung gesellschaftliche Stabilität und ein implizites Wissen um die eigene Handlungsfähigkeit. Dies zeigte sich nicht zuletzt in Eheverträgen religiös-konfessionell gemischter Paare, die verlässliche Bedingungen ihres Zusammenlebens absteckten, wechselseitigen Respekt zeigten und Bewäl-
187 Ausführlich dazu Kapitel IV, insbesondere die Fallstudie zum Fürstbistum Osnabrück sowie die Konflikte über die religiöse Erziehung von Kindern in Mischehen, dazu Kapitel V. 188 Für weitere Details zu diesem Fall vgl. Kapitel III. 189 StAOS Rep 100, Abschnitt 369, 55 (1738–39), fol. 12–13. Ausführlich zu diesen Konflikten Kapitel III. 190 Jörg Volbers, Praxis als Erfahrung (Manuskript zur Einsicht mit freundlicher Genehmigung des Autors), S. 18.
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tigungsstrategien im Umgang mit religiösen Differenzen entwarfen.191 Dass die frühneuzeitliche Gesellschaft fähig war, Angehörigen anderer Konfessionen oder Religionen ‚Rücksichtnahme‘ angesichts anderer religiöser Praktiken punktuell entgegenzubringen, zeigt sich in Formen jüdisch-christlichen Zusammenlebens.192 Verwiesen sei hier auf die sogenannten Sabbatmägde, christliche Dienstmägde, die am Sabbat Tätigkeiten im jüdischen Haushalt verrichteten, die Juden an diesem Feiertag aus religiösen Gründen versagt waren.193 Ein noch deutlicheres Beispiel von der Kenntnis und Respektierung anderer religiöser Bräuche oder Gesetze durch die Bevölkerung zeigt die Bereithaltung besonderen Geschirrs in Wirtshäusern, um Juden den Verzehr koscheren Essens zu ermöglichen. Auch im Arrest wurde versucht, straffällig gewordenen Juden die Einhaltung ihrer religiösen Speisegesetze bis zur Urteilssprechung zu ermöglichen.194 Diese Befähigung zu gemischt religiös-konfessioneller Koexistenz hat Willem Frijhoff als „ecumenicity of everyday life“ bezeichnet und David Luebke jüngst am Beispiel Westfalens als „regimes of coexistence“ analysiert.195
191 Für Beispiele Kapitel IV. 192 Wegweisend die Studien zu „Port Jews“, die an dieser Stelle nicht alle einzeln aufgeführt werden können. Für einen ersten Überblick David Cesarani (Hrsg.), Port Jews. Jewish Communities in Cosmopolitan Maritime Trading Centers, 1650–1950. London 2002. 193 Claudia Ulbrich, Shulamit und Margarete. Macht, Geschlecht und Religion in einer ländlichen Gesellschaft des 18. Jahrhunderts (Aschkenas, Beiheft, 4). Wien u.a. 1999; Sabine Ullmann, Nachbarschaft und Konkurrenz. Juden und Christen in Dörfern der Markgrafschaft Burgau 1650 bis 1750 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 151). Göttingen 1999. 194 Dagmar Freist, Zwangsbekehrung jüdischer Kinder in der Kurpfalz im 18. Jahrhundert – Zur Frage der Toleranz in der Zeit der Aufklärung, in: Horst Lademacher/Renate Loos/Simon Groenveld (Hrsg.), Ablehnung–Duldung–Anerkennung. Toleranz in den Niederlanden und in Deutschland. Ein historischer Vergleich (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, 2). Münster u.a. 2004, S. 400–421. 195 Willem Frijhoff, How Plural Were the Religious Worlds in Early Modern Europe? Critical Reflections from the Netherlandic Experience, in: C. Scott Dixon/Dagmar Freist/Mark Greengrass (Hrsg.), Living with Religious Diversity in Early Modern Europe. Farnham 2009, S. 21–51, hier S. 33; vgl. auch die Fallstudien zur Kurpfalz, zu Kursachsen und zum Fürstbistum Osnabrück in Kapitel III mit weiterführender Literatur; David M. Luebke, Regimes of Coexistence in Early Modern Westphalia. Charlottesville/London 2016, S. 5, 21–48; Ulrich Rousseaux/Gerhard Poppe (Hrsg.), Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Münster 2012; neben den bereits erwähnten Arbeiten von Ullmann und Ulbrich zu jüdischchristlichem Zusammenleben Monika Richarz (Hrsg.), Die Hamburger Kauffrau Glikl: jüdische Existenz in der Frühen Neuzeit (Hamburger Beiträge zur Geschichte der deutschen Juden, 24). Hamburg 2001; Frieß/Kießling, Konfessionalisierung und Region; Dietz/Ehrenpreis, Drei Konfessionen in einer Region. Frauke Volkland hat in ihrer Studie des Thorgau anschaulich dargestellt, wie konfliktgeladen die gemeinsame Nutzung von Kirchenräumen sein konnte. Volkland, Konfessionelle Grenzen zwischen Auflösung und Verhärtung und dies., Reformiert sein „unter“ Ka-
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Jüngere Arbeiten, die sich für die rechtlichen, soziokulturellen und räumlichen Bedingungen im religiös-konfessionell gemischten Zusammenleben interessiert haben, konnten einen gewissen Pragmatismus im Alltag aufzeigen, die Konflikthaftigkeit heraus arbeiten,196 oder auf Praktiken der Kommunikation verweisen.197 Auch die Konversionsforschung hat pragmatische Überlegungen bei der Frage der offiziellen Religionszugehörigkeit betont,198 aber auch die grundsätzliche Frage nach den Praktiken religiöser Subjektivierung und der prozessualen Veränderung des Selbst- und Weltverhältnisses aufgeworfen.199
2.5 P raktiken religiöser Subjektivierung und die Frage der Religionsmündigkeit Während die religiöse Unterweisung und die Einübung religiöser Praktiken Auskunft gibt über Praktiken religiöser Formung200, so sagt diese Formungsarbeit letztlich wenig über die Inkorporation dieser Praktiken und die tatsächliche religiöse Selbstverortung aus. Neuere Studien, die sich mit dem Phänomen religiöser Dissimulation auseinandersetzen, haben auf das Phänomen der Verstellung
tholiken. Zur religiösen Praxis reformiert Gläubiger in gemischtkonfessionellen Gemeinden der Alten Eidgenossenschaft im 17. Jahrhundert, in: Norbert Haag (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500–1850. Stuttgart 2002, S. 159–177. 196 Rousseaux/Poppe, Konfession und Konflikt; Höfele/Ruge/Schmidt (Hrsg.), Representing Religious Pluralization; Dagmar Freist, Crossing Religious Borders: The experience of Religious Difference and its Impact on Mixed Marriages in Eighteenth-Century Germany, in: Scott Dixon/ Dagmar Freist/Mark Greengrass (Hrsg.), Living with Religious Diversity in Early-Modern Europe. Farnham 2009, S. 203–223. 197 Daniela Hacke, Kommunikation über Räume. Religiöse Koexistenz und Konflikt in Dorfkirchen der Eidgenossenschaft in der Frühen Neuzeit, in: Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. München/Hamburg 2008, S. 280–305. 198 Ute Lotz-Heumann/Jan-Friedrich Mißfelder/Matthias Pohlig (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 205). Göttingen 2007. 199 Constantin Rieske, Doing the Paperwork: Early Modern Converts, their Narratives, and the (Re)Writing of Religious Lives, in: The Medieval History Journal 18/2 (2015), S. 1–26. 200 Vgl. hierzu auch die Studie von Pia Schmid, die anhand von Herrnhuter Lebensläufen im Rückblick der Verfasser die religiöse (Selbst)Bildung von Kindern analysiert hat. Allerdings können diese Lebensbeschreibungen nur rückblickend Aufschluss über die Wahrnehmung dieser Formierungsphase geben und weisen teilweise ähnliche Topos artige „Schlüsselerlebnisse“ auf. Schmid, Bildungsgänge sub specie religionis.
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hingewiesen.201 Die Konversionsforschung hat die „built-in ambiguity“ von Konversionen betont202 und mit Recht die Frage gestellt, inwiefern einem Glaubenswechsel eine eindeutige religiöse Selbstverortung vorausging.203 In der Frühen Neuzeit wurde die Frage nach der religiösen Selbstverortung verbunden mit der Frage der Reife gestellt. Erst menschliche Reife, so die Argumentation, versetze Menschen in die Lage, einen Begriff im Sinne von Begreifen einer Religion zu entwickeln, der über die Wiedergabe auswendig gelernter Glaubenssätze hinausgehen würde. Erst ein solches Begreifen einer Religion erlaube es, Unterschiede zwischen den Religionen und Konfessionen zu erkennen und sich auf dieser Grundlage für die eigene religiöse oder konfessionelle Zugehörigkeit entscheiden zu können. Mit der Fokussierung auf die Entscheidungsfähigkeit und Reife wurde die Debatte automatisch auf Kinder und die Herausbildung des Verstandes, ein Begriff schon in den Debatten des 17. Jahrhunderts, gelenkt. Die Debatte entzündete sich an wiederholten Fällen von Kindsentführungen aus religiös-konfessionell gemischten Ehen verbunden mit dem Vorwurf der Zwangskonversion, die bis vor die Reichsgerichte zur Urteilsfindung gebracht wurden und aufwendige Untersuchungen nach sich zogen.204 Mit welchem Alter Kinder die Befähigung erlangten, die christliche Lehre wirklich zu begreifen und sich zu einer Religion zu bekennen, war unter Theologen und Rechtsgelehrten umstritten, weshalb es zu keiner Einigung über eine reichsrechtlich bindende Festlegung der religiösen Mündigkeit, der sogenannten annos discretionis kam, die zur Konversion berechtigte.205 Katholische Geistliche und Reichsstände lehnten eine Festlegung ab und überließen den zuständigen Geistlichen in jedem Einzelfall die Entscheidung über die Religionsmündigkeit der Kinder. Die Forderung der Protestanten, die Religionsmündigkeit auf mindestens vierzehn Jahre festzusetzen, war politisch motiviert, um den Glaubenswechsel im Kindesalter zu verhindern. So schlugen die kursächsischen Gesandten 1752 in den Beratungen des
201 Für eine empirische Untersuchung Alexandra Walsham, Church Papists: Catholicism, Conformity and Confessional Polemic in Early Modern England. 2. Aufl. Woodbridge 1999; zur Begriffsklärung und konzeptionell Pietsch/Stollberg-Rilinger (Hrsg.), Konfessionelle Ambiguität. 202 Lewis R. Rambo, Understanding Religious Conversion. New Haven 1993, S. 3. 203 Gesine Carl, Catholic–Lutheran–Catholic: Strategies of Justification and Conceptions of the Self in Conversion Narratives of Johannes Ferdinand Franz Weinberger (1687–90), in: The Medieval History 12 (2009), S. 327–353. 204 Vgl. Kapitel I und V. 205 Dagmar Freist, Kinderkonversionen in der Frühen Neuzeit, in: Ute Lotz-Heumann/JanFriedrich Missfelder/Matthias Pohlig (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 205). Gütersloh 2007, 393–429; dies., Lebensalter und Konfession.
Praktiken religiöser Subjektivierung und die Frage der Religionsmündigkeit
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Corpus Evangelicorum darüber, wie mit dem Corpus Catholicorum in dieser Frage eine Einigkeit erzielt werden könne, vor, „falls das gegenseitige Einverständniß in der Sache nicht zu erlangen, ad retorsionem juris iniqui in denen Evangelischen Ländern zu verschreiten, und sonach gleichmäßig auch Catholische Kinder, so der Entscheidungs Jahre noch nicht erreichet, zu der Evangelischen Religion zu ziehen, sich unumgänglich gemäßiget sehen“.206
Die im Verlauf der Frühen Neuzeit teilweise erbittert geführten Debatten um die Religionsmündigkeit von Kindern aus Mischehen, erkennbar an ihrer Befähigung zu religiöser Selbstbestimmung, geben einen Einblick, wie sich nach Auffassung der Zeitgenossen die erfolgreiche Vermittlung religiöser Glaubensgrundsätze und damit die begonnene religiöse Subjektivierung von Kindern zeigte. Dieser Frage wurde zum einen theoretisch nachgegangen durch die Beauftragung von Gutachten, in Form theologischer Streitschriften, und durch konfessionspolitische Stellungnahmen in der Konfliktaustragung um die Religionsmündigkeit von Kindern vor Gericht. Zum anderen wurde versucht, durch die Befragung von Kindern den Grad ihrer religiösen Subjektivierung – „zu welcher Religion sie inclinierten“207 – und die tatsächlichen religiösen Praktiken im Alltag zu ermitteln. Der Begriff der religiösen Subjektivierung, der hier als analytische Perspektive gewählt wurde, betont im Unterschied zu dem Begriff der religiösen Identität das Prozesshafte in der Herausbildung religiöser Zugehörigkeit. Subjektivierung impliziert zugleich ein sich Hineinbilden in kollektiv geteilte Merkmale und Praktiken einer Religion und die Befähigung, sich dieser religiösen Zugehörigkeit bewusst zu werden, sich zu dieser Religion zu verhalten und sie kritisch reflektieren zu können in Relation zu anderen.208 Entscheidend für die Inkorporierung des Religiösen gerade in religiös-konfessionell gemischten Gesellschaften und für die Herausbildung eines Verständnisses religiöser Differenz war nicht allein das Erlernen von Glaubenssätzen, sondern auch die teilnehmende B eobachtung religiöser Praktiken im Alltag, die Emotionalität religiöser Praktiken,209 die Erfahr
206 Acta Corporis Evangelici Negotiation cum Catholico die Annos Discretionis bey Kindern, so von einer Religion zur andern treten zu reguliren. HStAD loc 30231 (Extract Protocolli de dato 27 Martii 1752). 207 Vgl. beispielsweise StAOS Rep 100 Abschnitt 374, 2 (1719–1722), fol. 6. 208 Rieske, Doing the Paperwork, S. 4–5 mit weiterführender Literatur. 209 Susan C. Karant-Nunn, The Reformation of Feeling. Shaping the Religious Emotions in Early Modern Germany. New York 2012.
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barkeit des Göttlichen210 wie beispielsweise in Gruppengebeten,211 die Affektivität religiöser Artefakte, insbesondere von Relikten212, die übende Teilnahme an religiösen Praktiken und nicht zuletzt das gesellschaftliche und familiäre Umfeld. Ob und ab welchem Alter diese religiöse Formungs- und Bildungsarbeit erfolgreich war, wurde bereits in der Frühen Neuzeit intensiv mit Verweis auf die Entwicklung des kindlichen Verstandes und die Intensität der religiösen Formung diskutiert. Dabei spielte die Unterscheidung zwischen Gedächtnis und Verstand eine bedeutende Rolle in Abhandlungen zur „Kinderzucht“ des 17. und 18. Jahrhunderts. In Zedlers Universallexikon findet sich unter dem Stichwort Kinderzucht der Hinweis, dass bei der Kindererziehung berücksichtigt werden müsse, ob „die Kinder noch in ihren ersten Jahren sind, oder ob sie albereit einigen Verstand erlanget haben“.213 Wann Kinder Verstand und damit unabhängige Urteilskraft erlangten, war individuell verschieden, ließ sich nicht auf ein bestimmtes Alter festlegen und hing von sehr unterschiedlichen Faktoren ab. „Wer würde so thöricht seyn und fordern, daß ein Kind von Dingen, die es nicht begreifft noch begreiffen kann, reden solle. Denn das Wachsthum oder Alter des Verstandes ist eben so wohl unterschiedlich als das Alter des Leibes“.214 Während in der frühen Lebensphase Kinder überwiegend durch sinnliche Anreize, Liebe und Strafe sowie Exempel zu prägen waren, so sollte die Erziehung, sobald „die Kinder zu Verstande gekommen“ waren, auf „gute Vorstellungen“ gegründet sein.215 Christian Wolff zeigt in seinen „Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben“, wie Eltern den Verstand ihrer Kinder und damit die Fähigkeit zu eigener Urteilsbildung und zur „Erkenntnis der Wahrheit“ durch gezielte Übungen fördern konnten.216 Zu der Frage der religiösen Unterweisung schreibt Wolff in diesem Zusammenhang, „Eltern sollen ihre Kinder bald zur
210 Schmid, Bildungsgänge sub specie religionis, S. 93. 211 von Greyerz, Grenzen zwischen Religion, Magie und Konfession, S. 203. 212 Alexandra Walsham, Introduction: Relics and Remains, in: dies. (Hrsg.), Relics and Remains (Past & Present, Supplement 5). Oxford 2010, S. 9–36, hier S. 13. 213 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. 64 Bde. Nachdr. der Ausg. Leipzig 1731–1754. Graz 1961–1964, Bd. 15, Sp. 661 (Kinder Zucht). 214 Christian Thomasius, Kurzer Entwurf der Politischen Klugheit, in: Werner Schneider (Hrsg.), Ausgewählte Werke. Bd. 16. Hildesheim u.a. 2002, S. 196 (ND d. Ausgabe Frankfurt 1707). 215 Zedler, Universal-Lexikon, Bd. 15, Sp. 661 (Kinder Zucht). 216 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und in sonderheit dem gemeinen Wesen, in: ders. (Hrsg.), Gesammelte Werke. I. Abt.: Deutsche Schriften. Bd. 5. Hildesheim 1975, S. 106–110 (ND d. Ausgabe Frankfurt 1736).
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Erkenntnis Gottes anführen und, solange sich bei ihnen der Gebrauch der Vernunft nicht zeigt, hauptsächlich die Betrachtung der Natur dazu gebrauchen.“217 Diese Vorstellungen über die unterschiedlichen Phasen der Lernfähigkeit von Kindern spielten eine zentrale Rolle bei der Frage, ab welchem Alter Kinder ihre eigene religiöse Zugehörigkeit so ausgebildet und verinnerlicht hätten, dass sie in der Lage wären, sich nicht nur religiös selbst zu verorten und dies auch begründen zu können, sondern zugleich die Unterschiede zwischen den Religionen und Konfessionen zu erkennen, in zeitgenössischen Worten, dass sie „in der Religion das Gute vom Bösen unterscheiden können“.218 Aus den immer wieder erhobenen Vorwürfen der „Zwangsbekehrung von Kindern“ entwickelte sich im 17. Jahrhundert ein langwieriger Streit zwischen den großen Konfessionen über den Zeitpunkt, von dem an ein Religionswechsel von Kindern rechtmäßig sein sollte, und wie dieser Zeitpunkt mit Blick auf die Religionsmündigkeit der Kinder zu erkennen war.219 Gemeint war damit ihre Fähigkeit, ohne Zwang von außen ihr eigenes religiöses Selbst zu bestimmen, zu praktizieren und darlegen zu können. Erst mit wachsender Reife und Verstand verbunden mit intensiver religiöser Unterweisung und der Einübung religiöser Praktiken verinnerlichten Kinder eine religiöse und konfessionelle Prägung, so die Vorstellungen protestantischer Theologen und Pädagogen. War die religiöse Zugehörigkeit noch nicht verinnerlicht, bestand die Gefahr, dass Kinder durch Einflussnahme von außen in ihrer religiösen Subjektivierung beeinflusst und durch gezielte religiöse Formung verbunden mit altersbedingter wachsender Reife eine andere Religion oder Konfession als ihre ursprünglich vermittelte annahmen. War die andere Religion erst einmal im Denken und Handeln verankert, so waren Kinder ab einer gewissen Reife nicht mehr ohne weiteres zu bewegen, zu ihrer einstigen Religion zurück zu kehren. Erfolgte die Beeinflussung der religiösen Subjektivierung gegen den Willen der Vormünder vor Erlangen der Religionsreife, so stand der Vorwurf der Zwangskonversion im Raum. Von katholischer Seite wurde dagegen die Forderung der Protestanten, ein festes Alter der Religionsmündigkeit festzulegen, vor dessen Erreichen kein Einfluss auf die religiöse Formung von Kindern durch fremde Religionsangehörige erfolgen dürfte, verweigert.220
217 Ebd., 123. 218 Befestigung des Erläuterten Rechts derer Evangelischen Anverwandten, bey der Education und Vormundschafft Evangelischer Pupillen [....] durch ein drittes Responsum Juris der Königl. Preussischen Juristen Facultät zu Halle abgefasset, in: Faber, Europäische Staats-Cantzley. Tl. 59. Ulm 1732, Kap. I, S. 2–109, hier S. 21–22. 219 Details dazu Kapitel I. 220 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 76–77.
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War die religiöse Zugehörigkeit von Kindern umstritten, wurden neben der Anhörung von Zeugen vor allem die Kinder selbst über ihre religiöse Zugehörigkeit befragt, um die „wahre Willensmeynung solcher Kindern [...] ad protocollum und also judicialer“ zu ermitteln.221 Doch wie zeigte sich die Erkenntnisfähigkeit, der Grad religiöser Subjektivierung und religiöser Selbstverortung bei Kindern? Diese Frage war in Mischehekonflikten um die religiöse Erziehung und Reife von Kindern ein wiederkehrender Streitpunkt vor Gericht. Aus Sicht der Zeitgenossen markierte die erstmalige Teilnahme der Kinder am Abendmahl den Endpunkt dieser Zeit konfessioneller Formung. Doch letztlich sagte diese performative Form öffentlicher religiöser Selbstverortung durch die Abendmahlsteilnahme wenig über den Prozess religiöser Subjektivierung aus. Bei den Verhören der Kinder ging es darum zu ermitteln, wie weit sie bereits mit einer Religion vertraut waren. Die einfache Benennung einer Konfession oder Religion, der sie angehörten, reichte in ihren Antworten in der Regel nicht aus, sondern das konfessionsspezifische Glaubenswissen der Kinder und vor allem ihr Verständnis der Lehre sollten überprüft werden. Die Forderung nach dem Verständnis der Glaubenslehre statt bloßem Memorieren klang bereits, wie oben gezeigt, in den protestantischen Katechismen aus dem 16. Jahrhundert an. Entscheidend war das Verständnis der Lehre, nicht das bloße Auswendiglernen, und die Fähigkeit, auf Anfrage „sein leer zu bekennen“.222 So spricht auch aus theologischen Gutachten zu Mischehekonflikten aller drei Konfessionen im 18. Jahrhundert zumindest die Hoffnung, dass Kinder, „wann sie neuen Unterricht erhielten, und gegen Verführung gesichert seyen würden“ Festigkeit im „wahren Glauben“ erlangen würden.223 Die einfache Wiedergabe von Glaubenssätzen vor Gericht durch die Kinder wurde nicht akzeptiert, da dass alleinige Auswendiglernen von Fragstücken belege, dass sie keinen Begriff von dem wahren Glauben hätten. Darüber hinaus bestehe die Gefahr, dass die Kinder gezwungen seien, die Glaubenssätze auswendig her zu sagen, um so einen Beweis zu geben, einer der beiden miteinander konkurrierenden Konfessionen in der Familie anzugehören.224
221 In einer Aktennotiz an das pfalzgräfliche Vikariat vom 13. Oktober 1758 wurde auf ein in „hiesigen Landen“ bestehendes Verfahren für die Konversion von Kindern aus gemischten Ehen hingewiesen, namentlich die Befragung von Kindern durch drei Räte oder Gerichtsverwandte verschiedener Konfession Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA) 77/4363, fol. 42–45 (1758). 222 Reu, Quellen zur Geschichte des kirchlichen Unterrichts, S. 464. 223 GLA 77/4236, fol. 44 (1767–1781). 224 Für ein detailliertes Beispiel vgl. unten.
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Doch wie sich das Verständnis des Glaubens ermitteln lässt, darüber streiten nicht nur Historiker, sondern darüber zerbrachen sich bereits weltliche und geistliche Amtsträger in der Frühen Neuzeit den Kopf. Konfrontiert mit der Aufgabe, die umstrittene religiöse Zugehörigkeit der 12-jährigen Maria Catharina Munzingerin aus dem Oberamt Simmern, Kurpfalz, zu ermitteln, schrieb einer der beteiligten Räte 1793: Allein wie will oder kann mann einem 12 jährigen Kind weiblichen Geschlechts, wann es auch [...] guttes Gedächtniß mit der zeit Verstand verrathet, doch solchen in diessen Jahren, über daß waß es auß dem Gedächtniß weiß, und gebracht hat, einer solche weiße zu trauen, daß es mit volkommenen begriff und Verstand auch darüber urtheilen und entscheiden könne. Gedächtniß und Verstand sind zwey in sich unterschiedene Seelen kräften, von denen nicht selten einer ohne die andere bestehen kann. Dahero nicht dem, der durch guttes Gedächtnis viel behaltet und weiß, sondern dem, der daß waß er weiß und behaltet auch verstehet und zu beurtheilen weiß, die Weihe des Verstandes zu zu eigenen ist.225
Erschwert wurde die Ermittlung der religiösen Zugehörigkeit von Kindern in Konfliktsituationen durch die Tatsache, dass die Kinder letztlich wenig über die eigene Religion Bescheid wussten. Vielmehr waren es in der Regel persönliche, bei Kindern vor allem familiäre Gründe, die die religiöse Selbstverortung bestimmten. Als Maria Catharina Munzinger gefragt wurde, warum sie, obwohl sie wie ihr verstorbener Vater katholisch getauft und erzogen worden war, zum reformierten Glauben übertreten wolle, antwortete sie: „wäre ihr Vatter bei leben geblieben, so würde sie catholisch geblieben seyn, da sie nun niemand mehr, als ihre Mutter habe, so wolle sie dieser in ihrer Religion folgen.“226 Auf die Frage, ob sie schon einen „Begriff“ von der reformierten Religion habe227 und „ob ihr denn die reformierte Religion bekannt sei“ , gab das Mädchen zur Antwort: „wisse weiter nichts, als weil ihre Mutter reformirt seye, so wolle sie auch reformirt seyn.“228 Der Befund lautete dann auch, dass das Mädchen „nach deren zum mündlichen Protokolle gegebenen Antworten den Unterschied der Religionen zu beurteilen noch nicht im Stande sei“.229 Die Überzeugung, dass Kinder erst ab einem gewissen Alter fähig zur Erkenntnis des wahren Glaubens waren, spricht auch aus den Worten der zum reformierten Glauben übergetretenen Witwe Maria Anna Josepha Theresia von
225 GLA 77/4344, fol. 8 (1793–94). 226 Ebd. fol. 14. 227 Ebd. fol. 15. 228 Ebd. fol. 13–14. 229 Ebd., fol. 40.
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Staritz, ehemalige von Woyda, als sie im Streit um die Konfessionszugehörigkeit ihrer katholisch getauften Tochter 1759 vor Gericht gefragt wurde, ob ihre zehnjährige Tochter bereits ein Glaubensbekenntnis abgelegt habe. Sie erwiderte: „Nein! Inmaßen solches annoch von zarter Jugend und aus eigener Vernunft einige Erkenntnis in Glaubenssachen nicht habe.“230 Ausführlicher legte die ehemals katholische Hofrätin Maria Margaretha Elisabeth Kunkel, geborene Steinam, die nach der Trennung von ihrem Mann von Tisch und Bett die lutherische Konfession ihrer Frankfurter Vorfahren angenommen hatte, ihre Einstellung über die Religionserziehung von Kindern dar. Sie hatte aufgrund des Verhaltens ihres katholischen Ehemanns das Corpus Evangelicorum 1773 um Schutz ihrer selbst und ihrer minderjährigen Tochter angerufen und in dem schwebenden Verfahren führte sie, wenn sicher auch teilweise strategisch motiviert, dennoch in ungewöhnlicher Offenheit aus: Was die Frage der Religion betrift, in welcher meine Tochter zu erziehen syn mögte: so bescheide ich mich zwar gerne, daß ich nicht im Stande bin, mein Kind zu einer Religion zu nöthigen, und, wie ich mir das Recht herausgenommen, meine Erklärung darüber zu thun, und mich zu der Evangelisch-Lutherischen kirche zu bekennen: so gedenke ich auch nicht, mein kind darin zu kränken, und wenn es dereinst die annos discretionis erhalten haben wird, so wird allemal, von mir ungehindert, freye Macht und Gewalt haben, sich zu dieser oder einer anderen christlichen Kirche zu bekennen. Es würde selbst gegen die Principia der Evangelisch-Lutherischen Kirche laufen, wenn ich einen Zwang brauchen wollte, denn, in welcher kirche halt man wohl weniger auf den Gewissenszwang, in welcher duldet man die Wahlfreyheit mehr als in dieser?231
Sie fuhr fort, ihre religiösen Vorstellungen, nach denen sie ihr Kind erziehen möchte, zu erläutern und sagte weiter „allein, um diese Wahlfreiheit würksam zu machen, ist doch wohl eine allgemeine auf den lebendigen Glauben an Jesus Christ und sein theures Verdienst gerichtete Unterweisung nöthig, als in welchem Stück alle drei christlichen Religionen überein kommen“. Und eben „diesen Fels des Heils und der Gnade will ich sie von Jugend auf kennen lehren“, und erst, wenn sie in der Lage sei, den Unterschied zwischen den Religionen zu beurteilen, dann solle ihre Tochter die Freiheit haben, über ihre eigene Religionszugehörigkeit zu entscheiden.232
230 GLA 77/4185 (1758–79), fol. 21–22. Ausführlich dazu Kapitel V. 231 An ein hochpreißliches Corpus Evangelicorum, von Maria Elisabeth Kunkel, geb. Steinam, de dato Frankfurt den 4. Martii 1773, in: Faber, Neue Europäische Staats-Canzley, Tl. 35. Ulm 1773, Kap. 2, S. 220–233, hier S. 231. 232 Ebd.
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In den Befragungen über die religiöse Selbstverortung von Kindern wurden allerdings nicht nur Lehrsätze abgefragt, sondern auch, welche religiösen Praktiken und Artefakte den Alltag in der Familie bestimmten.233 In der Regel ging es zunächst um die Feststellung, ob das Abendmahl bereits öffentlich gefeiert worden war, welche Schule und welche Kirche die Kinder besuchten, und welche Gebete mit den Kindern zu Hause gesprochen wurden. So hatte ein lutherischer Vater aus dem überwiegend lutherischen Quakenbrück im Fürstbistum Osnabrück 1732 seiner katholischen Ehefrau „verbotten, ihren töchtern keine catholischen gebette insonderheit das Ave Maria und andere Schutzgebette vom H. Schutz Engel mehr vorzubetten, vorab das älteste weiters nicht zur Catholischen Schule zu schicken noch dießelbige hinfüro mit sich in die Catholische Kirchen zu nehmen“.234
Ging es in den Konflikten darum, dass die Kinder einer anderen Religion zugehören sollten oder wollten, als derjenigen, die laut Eheverträgen oder Landesgesetzen für religiös-konfessionell gemischte Ehen festgelegt worden war, wurde sehr genau in Erfahrung zu bringen versucht, unter welchen Umständen und durch welche Personen dieser Glaubenswechsel eingeleitet worden war.235 Dass die Begründung der religiösen Zugehörigkeit durch Kinder selbst nach intensiver religiöser Unterweisung und Formung etwa in einem katholischen Waisenhaus oder Kloster dennoch nicht den Erwartungshaltungen der Konfessionskirchen entsprach, ist vielleicht wenig überraschend, aber selten detailliert überliefert. In dem nachfolgenden Fall geht es um die abermalige Hinwendung von Kindern zu den Mennoniten, nachdem sie mehrere Jahre auf obrigkeitliche Anordnung in einem katholischen Waisenhaus in Mannheim in der Kurpfalz katholisch unterwiesen worden waren.236 Die Befragungen der inzwischen jugendlichen Töchter der Mennonitin Barbara Maurerin zeigen, wie die beiden Mädchen ihre Religionszugehörigkeit begründeten und welche Rolle familiäre Bezüge und die Nachahmung religiöser Praktiken für die religiöse Subjektivierung und Selbstverortung spielten. Auf die Frage „Warum sie von der Catholischen kirch abgewichen, nachdem sie
233 Für die Bedeutung von Artefakten in Prozessen religiöser Subjektivierung vgl. Constantin Rieske, All the small things: Glauben, Dinge und Glaubenswechsel im Umfeld der Englischen Kollegs im 17. Jahrhunderts, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure–Handlungen–Artefakte (Frühneuzeitimpulse, 3). Köln/Weimar/Wien 2015, S. 292–304, hier S. 293–295 und S. 297–299. 234 StAOS Rep 100 Abschnitt 374, 6–10 (1732), fol. 4. 235 Für Beispiele vgl. insbesondere Kapitel V. 236 Für eine detaillierte Schilderung dieses Falls vgl. Kapitel IV.
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schon öffentlich Glaubensbekenntniß abgeleget?“ antworteten die Mädchen mit Verweis auf die Religionszugehörigkeit ihrer Freunde: „Sie hätten endlich gedacht, sie wollten seyn wie ihre freunde wären.“ Daraufhin wurde gefragt, „Ob dies denn vernünftig sey, eine Lehre anzunehmen, blos, weilen die freunde solche haben?“. Die Mädchen erwiderten: „Ihre Freunde hätten in ihrer Lehr nichts übles und bößes, und sie getrauten sich auch in derselben lehr seelig zu werden.“237 Die Freunde, so wurde auf Nachfrage deutlich, waren die Freunde ihrer Eltern. Auch wenn der Vater kurz vor seinem Tod zum Katholizismus konvertiert war, existierte er in der Erinnerung der Mädchen nur als Mennonit, „so lange bei ihm gewesen, waß nachhero geschehen, wüssten sie nicht“.238 Auf die Frage, „worin denn Ihr glaub bestünde, worin sich ihre freunde befinden?“, antworteten die Mädchen „ihre freunde seyen Manisten“. Und gefragt, wie sich dieser Glaube von anderen unterscheide, entgegneten sie „das wüssten sie nicht“. Prompt kam die Nachfrage: „Da sie nicht einmal wüssten, wo sich ihr Glaub von denen drein [übrigen]239 in dem Römischen Reich geduldeten Religionen unterschiede, wie es dann möglich sey, das sie blos sich bei dem Nahmen Menonisten beruhigen, [...] ihre Seeligkeit anhaften können“. Die Antwort lautete: „Sie seyen nicht so studiert, gleichwohlen glaubeten sie, das wie ihre freunde, sie auch seelig werden könnten“. Je knapper und unbefriedigender die Antworten der Mädchen ausfielen, je länger und vorwurfsvoller wurden die Fragen „bis von deren Mauerischen Töchtern gar keine Antwortt mehr heraus zu bringen gewesen“.240 Dieser lapidare Satz am Ende des Verhörprotokolls lässt nur erahnen, wie schwierig es überhaupt war, Kinder einem Verhör zu unterziehen, welche Verunsicherung und Verängstigung auf Seiten der Kinder die Antworten spärlich ausfallen ließen bis sie schließlich ganz versiegten. Aufschlussreich sind dennoch die Fragen, die an die Vernunft, das Gewissen und an das Glaubenswissen der Mädchen appellierten und für den katholischen Glauben warben. Int. 8 Ob es denn Vernünftig gedacht sey, den weg zur Seeligkeit zu wählen, blos weilen wenige von dero Anverwandtschaft denselben gewählet, und ob es nicht eines Christen Schuldigkeit sey, selbst sich zu überzeugen, das der glaub, den man öffentlich bekennen wole, und wodurch man seelig zu werden glaube, der wahre und seelig machende Glaub sei? A. Sie getraueten sich auch in ihrer Religion seelig zu werden, und deswegen bekennenten sie sich zu der Mennoniten Sekt.
237 GLA 77/4236, fol. 339–340. 238 Ebd., fol. 340. 239 Wurde nachträglich durchgestrichen. 240 GLA 77/4236, fol. 344.
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Int. 9 Was dann die Menonisten gegen die drei Religionen besonders glauben? A. Das wussten sie nicht. Int. 10 Ob sie dann glauben können, das Gott der heilige Geist bei so wenig Menonisten in einigen hundert Jahren als von solcher Zeit die Menonisten erst entstanden sey, wo gleichwohlen die übrige christliche Religionen, besonders die christ catholische so viele hundert Jahr vorhero und noch bis auf diese Stunde in allen welttheilen öffentlich geprediget, und von so vielen Menschen bekennet wird? A. Sie wüssten hierauf nichts zu antworten. Int. 11 Ob die Menonisten dann nicht selbst lehreten, das ein jeder Mensch, wann er wolle seelig werden, den wahren Glauben haben müsste? A. Das wüsten sie nicht. Int 12 Sie wüsten also gar nicht, worin der Menonisten lehr bestehe, wodurch sich solche von anderen unterscheide, ob sie dann also sicher sein könnten, in diesem Glauben seelig werden zu können? A. Ja, sie glaubeten, wann sie die Geboth gottes halten, seelig zu werden. Int. 13 Worinn dann die gebott Gottes bestünden? A. In denen zehn Gebotten. Int 14 Ob dann ein Jud, wann er die zehn Gebott halte, auch seelig werden könnte? A. Das wüssten sie nicht. 241
War nach zeitgenössischer Auffassung die Fähigkeit zur Erkenntnis des wahren Glaubens die Voraussetzung zur Konversion von Kindern, war gleichzeitig das Vorhandensein dieser Fähigkeit bei Kindern nur schwer zu beurteilen und durch kein festgesetztes Alter geregelt, so war es eine Frage der Zeit, bis wann Kinder in Religionsfragen beeinflusst werden konnten und ob ein Religionswechsel legitim war. Diese Fragen waren vor allem dann brisant, wenn ein Kind aus religiösen Gründen entführt worden war und befürchtet werden musste, dass es aufgrund mangelnder Reife zur anderen Konfession unter Einsatz von ‚Gewissenszwang‘ gezogen werden konnte. Diese Religionskonflikte wurden bis vor die Reichsgerichte getragen, wo sie ‚im Wettlauf mit der Zeit‘ verhandelt werden mussten.
241 Ebd., fol. 342–344.
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In den Augen der Protestanten bedeutete ein Glaubenswechsel unmündiger Kinder einen Verstoß gegen den Westfälischen Frieden, da ein solcher Schritt mangels geistiger Reife nur die Folge von „moralischem Zwang“ und von beständigem „Aufhetzen“ gegen die eigene Konfession sein konnte.242 Welche Ausmaße ein solches „Aufhetzen“ annehmen konnte, zeigt eine gutachterliche Stellungnahme der Universität Halle in einem Konflikt um die religiöse Selbstverortung von Kindern zwischen dem katholischen Glauben ihres verstorbenen Vaters, und dem evangelisch-lutherischen Glauben der Mutter, der aufwendig auf Reichs ebene ausgefochten wurde.243 Wenn man setzet, daß jemand unschuldige Kinder von Ihres Vatters Hause in unverständigem Alter entführet, Ihnen nachgehends weißmachet, daß es in Ihres Vatters Hause hefftig spückete, und nicht richtig sey, ja alle Ihre Verwandten und die Groß-Mutter selbsten die ärgsten Hexen wären, welche sie sofort behexen, und denen Gespenstern zu plagen übergeben würden, und was dergleichen Dinge, welche man 3. bis 4. Jahr Ihnen vorgehalten, mehr seyn können, so ist leicht zu begreiffen, daß so lange die Kinder in dieser persuasion stehen, und darvon nicht befreyet, und eines andern überführet werden, sie alle einen Abscheu vor Ihres Vatters Haus, und Ihre Anverwandten haben, ja die Großmutter selbst verdammen.244
Aus katholischer Sicht sprach sich der Westfälische Frieden lediglich gegen die Anwendung von körperlicher Gewalt aus, für den eigenen Glauben zu werben, sei nicht verboten. Da es keine gesetzliche Regelung in dieser Frage gab, wurde in jedem Einzelfall neu um die Feststellung der Religionsmündigkeit und damit um die religiöse Selbstverortung von Kindern gerungen. Eben weil im Religions- und Westphälischen Frieden Anni discretionis nicht exprimirt seynd, inhäriret man billig demjenigen, was die Natur und die Erfahrung an die hand geben, und desideriret folglich an Kindern, die über wichtige ihr zeitliches und ewiges Wohl oder Wehe betreffenden Sachen sich entschliessen sollen, solche hinlängliche Jahren da ein reiffes judicium sich erst zu äussern pflegt, auch würcklich sich äussert.245
242 Gutachten der Juristen Fakultät der königlich-preußischen Universität Halle 1730, in: Faber, Europäische Staats-Cantzley, Tl. 59. Ulm 1732, Kap. I, S. 2–109, hier S. 52–70. 243 Für Details vgl. Kapitel V. 244 Befestigung des Erläuterten Rechts derer Evangelischer Anverwandten, bey der Education und Vormundschafft Evangelischer Pupillen, gegen allen moralischen Religions-Zwang [...] durch ein drittes Responsum Juris der Königl. Preussischen Juristen Facultät zu Halle abgefasset, in: Faber, Europäische Staats-Cantzley, Tl. 59. Ulm 1732, Kap. I, S. 56–57. 245 Johann Jacob Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 77.
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Häufig wurde vorgeschlagen, die geistige Reife gleich zu setzen mit den annos pubertatis.246 Auch wenn die geistliche und weltliche Obrigkeit genaue Vorstellungen davon hatte, wie die religiöse Selbstverortung begründet werden sollte, wurden die Menschen, vor allem Kinder, diesen Vorstellungen auch im 18. Jahrhundert nur selten gerecht werden. Dennoch waren sich Frauen, Männer und Kinder, soweit dies aus der Überlieferung ablesbar ist und von Ausnahmen abgesehen, sicher, welcher Religion sie angehörten, was für die Obrigkeit uneindeutig bezogen auf die Religions- oder Konfessionszugehörigkeit erschien, war in der Selbstwahrnehmung der Menschen eine eindeutige religiöse Selbstverortung. Aus den angeführten Beispielen ist deutlich geworden, dass ungeachtet religiöser und konfessioneller Unterweisung durch Katechismen, die Einübung religiöser Praktiken und die öffentliche ritualisierte Demonstration der Religionszugehörigkeit, familiäre Bindungen zumindest in der Phase religiöser Subjektivierung von Kindern einen hohen Einfluss auf die religiöse Selbstverortung hatten. Auf der anderen Seite bedeutete die Einwilligung in eine Mischehe häufig, dass man sich mit dieser Entscheidung gegen die eigene Familie, ja potenziell sogar, kam es zu Zwietracht in der Ehe, gegen den zukünftigen Partner stellte.
246 Ebd.
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3 M ischehen im Kontext religiös-konfessioneller Pluralität: Drei Fallstudien Aus familiärer, theologischer und obrigkeitlicher Perspektive störten Mischehen die kirchlichen und landesherrlichen Versuche, durch konfessionelle Formung und Bildung einen konfessionell homogenen Untertanenverband zu schaffen. Zugleich sind sie ein Beleg dafür, dass die frühneuzeitliche Gesellschaft bis in die Familie hinein von religiös-konfessionellen Differenzerfahrungen geprägt war. Damit stellt sich nicht nur die Frage nach der religiösen Formung und Subjektivierung in einer religiös-konfessionell gemischten Familie, sondern auch nach der Erfahrbarkeit von und den Umgangsweisen mit religiös-konfessionellen Differenzen – in der Familie und im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld. Darum wird es im folgenden Kapitel am Beispiel von drei ausgewählten Territorien gehen: das Fürstbistum Osnabrück, die Kurpfalz und Kursachsen. Mit der Fokussierung auf die Erfahrbarkeit von und die Umgangsweisen mit religiös-konfessionellen Differenzen im Alltag wird der Blick auf soziale und religiöse Praktiken und damit auf den materiellen, also körperlichen und dinglichen sowie performativen Charakter sozialen und religiösen Handelns gelenkt.1 Nicht das Glaubenswissen gibt Auskunft über die religiöse Zugehörigkeit, sondern diese wurde in sozialen und religiösen Praktiken hervorgebracht und beglaubigt. Der Umgang mit Dingen spielte in diesen religiösen Praktiken eine zentrale Rolle; Artefakte und die materielle Anordnung von Dingen ermöglichten oder begrenzten bestimmte Verhaltensweisen:2 Das Weihwasser am Eingang katholischer Kirchen forderte beispielsweise zum Bekreuzigen auf, der Lettner trennte in katholischen Kirchen den geweihten Hochaltar vom übrigen Kirchenraum und damit die Gläubigen von den Amtsträgern, die mittige Anordnung des Abendmahlstisches in protestantischen Kirchen dagegen hob diese Trennung gezielt auf. Mit der Betonung von Symbolen und Artefakten im Protestantismus und der Entdeckung der Wirkmächtigkeit des Kirchenraums auf religiöse Praktiken, Emotionen und Differenzerfahrungen in der jüngeren Forschung3 wurde eine Abkehr von einer geschichtswissenschaftlich ausgerichteten Reformations- und Konfessionalisierungsforschung
1 Dagmar Freist, Materielle Praktiken in der Frühen Neuzeit – Zur Einführung, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure–Handlungen–Artefakte. Weimar/Köln/Wien 2015, S. 267–274. 2 Reckwitz, Grundelemente einer Theorie sozialer Praktiken, S. 284–285. 3 Susanne Wegmann/Gabriele Wimböck (Hrsg.), Konfessionen im Kirchenraum. Dimensionen des Sakralraums in der Frühen Neuzeit. Korb 2007; Susanne Rau/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Topographien des Sakralen. Religion und Raumordnung in der Vormoderne. München/Hamburg 2008.
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Mischehen im Kontext religiös-konfessioneller Pluralität: Drei Fallstudien
eingeleitet, die sich überwiegend auf kognitive Aspekte religiöser Identitätsbildung konzentriert hatte. Im Mittelpunkt standen die Vermittlung von Glaubensinhalten durch religiöse Unterweisung und durch eine Vielzahl von Kirchen-Ordnungen verbunden mit Richtlinien zu einem Gott gefälligen Lebenswandel, der Kirchenzucht. Nicht zuletzt unter dem Einfluss der jüngeren Materialitätsforschung hat sich die geschichtswissenschaftlich ausgerichtete Reformations- und Religionsforschung verstärkt mit der Bedeutung von Artefakten im Protestantismus auseinandergesetzt. Alexandra Walsham etwa hat argumentiert: „The Reformation involved a redefinition of the relic as a symbolic memento rather than as a miraculous divine entity“.4 Im Verlauf der Reformation, so Walsham weiter, entwickelte der Protestantismus seine eigene materielle Kultur, die grundlegend war für ein spezifisch protestantisches Religionsverständnis und religiöse Praktiken. Die Bedeutungszuschreibung an religiöse Artefakte, so wird im Folgenden deutlich werden, lässt sich vielleicht kognitiv bezogen auf konfessionelle Deutungen beschreiben, sie sagt so aber nichts über die Akzeptanz und Anerkennung, das Begreifen und die Reproduktion einer solchen Bedeutungszuschreibung aus. Erst die Analyse der Umgangsweisen mit Artefakten in sozialen Praktiken wie dies anhand umfangreicher Beschwerdeschriften aus dem Fürstbistum Osnabrück, der Kurpfalz und Kursachsen möglich ist, kann Einblick in religiös-konfessionelle Differenzen und die Bedeutung von Materialität in der Erfahrbarkeit von und den Umgangsweisen mit religiöser Pluralität geben. Diese Materialität sozialer Praktiken und die „Sozialität von Artefakten“ ist in Praxissoziologien und in geschichtswissenschaftlichen Arbeiten vielfach betont worden5 und sie sind in ihrer Relevanz unumstritten.6 Allerdings gehen die Meinungen darüber auseinander, welchen Status Artefakte in sozialen Praktiken haben, wie Artefakte überhaupt zu deuten sind, und ob sie Bedeutungsträger und Handelnde aus sich selbst heraus sein können. Der Umgang mit religiösen Artefakten in religiös-konfessionell gemischten Regionen und in der Familie führt besonders deutlich vor Augen, dass der Aufforderungscharakter von Dingen, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu ver-
4 Alexandra Walsham, Introduction: Relics and Remains, S. 22. 5 Nikolaus Buschmann u.a., Was ist und was kann die Historische Praxeologie. Ein runder Tisch, in: Lucas Haasis/Constantin Rieske (Hrsg.), Historische Praxeologie: Dimensionen vergangenen Handelns. München 2015, S. 199–236; Annika Raapke, Die Ruhe nach dem Sturm: Praxeologische Annäherungen an das Schweigen, in: Haasis/ Rieske, Historische Praxeologie, S. 73–87; Annika Raapke, „Dort, wo man Rechtsanwälte isst: Karibische Früchte, Sinneserfahrung und die Materialiät des Abwesenden“, in: Arndt Brendecke (Hrsg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Köln/ Weimar/Wien 2015, S. 320–31. 6 Robert Schmidt, Soziologie der Praktiken. Konzeptionelle Studien und empirische Analysen. Berlin 2012, S. 63.
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halten, keinesfalls eindeutig war und die Bedeutungszuschreibung der Dinge je nach religiös-konfessioneller Selbstverortung unterschiedlich ausfallen konnte. Diese Kontingenz von Bedeutungen, die sich erst in sozialen Praktiken und in den Umgangsweisen mit Dingen aufzulösen scheint, zeigt sich etwa in dem Vorwurf eines katholischen Amtmanns im Fürstbistum Osnabrück, ein evangelisch-lutherischer Bewohner habe sich nicht vor dem Kreuz verbeugt, wie es aus katholischer Sicht erwartet wurde, sondern gesagt „da stehet der Teuffel“.7 Anderen Einwohnern wurde vorgeworfen, dass sie „wegen Creutzes nicht genug [...] veneration“ gezeigt hatten.8 Dinge und Artefakte werden erst gesellschaftlich intelligibel, so die These, im praktischen Vollzug und im komplexen Zusammenspiel konkurrierender sozialer Ordnungs- Wahrnehmungs- und Deutungsmustermuster, eben in materiellen Praktiken. In vielen Konflikten um die konfessionelle Markierung und Deutung des öffentlichen Raums ging es allerdings nicht nur um Räume, sondern insbesondere in der Kurpfalz und in Kursachsen auch um Klänge, mit denen eigene „Soundscapes“ klanglich markiert wurden.9 Soundscapes wurden konfessionell markiert durch das Läuten von Glocken, durch Gesänge oder das Abfeuern von Gewehren bei Prozessionen und konnten sich klanglich überschneiden mit Soundscapes anderer religiöser Praktiken.
3.1 Fürstbistum Osnabrück 3.1.1 Religiös-konfessionelle Zusammensetzung Das Fürstbistum Osnabrück zählte zu den kleineren geistlichen Fürstentümern der Reichskirche. Durch die Zugehörigkeit zur Kirchenprovinz Köln, die nach dem Ausgang des Kölner Krieges 1583 und der Einrichtung einer päpstlichen Nuntiatur 1584 zu einer wichtigen Ausgangsposition für das Erstarken des Katholizismus im Nordwesten wurde10, geriet auch das Fürstbistum in den Einflussbereich der von den Wittelsbachern ausgehenden Bemühungen um Rekatholisierung. Nach einem kurzen reformatorischen Zwischenspiel von 1543 bis 1548 unter
7 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/6, fol. 11. 8 Ebd., Die Forderung der Veneration – der Ehrerbietung gegenüber dem Kreuz und gegenüber Bildern Gottes, Christi und der Heiligen – wurde im Konzil von Trient neu festgelegt. 9 Jan Friedrich Mißfelder, „Perspektiven einer Klanggeschichte“, Geschichte und Gesellschaft 38/1 (2012), S. 21–47. 10 Michael F. Feldkamp, Studien und Texte zur Geschichte der Kölner Nuntiatur. Die Kölner Nuntiatur und ihr Archiv. Eine behördengeschichtliche und quellenkundliche Untersuchung (Collectanea Archivi Vaticani, 30). Città del Vaticanó 1993, S. 33–42.
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Fürstbischof Franz Graf von Waldeck (1491–1553), einem der wenigen Bischöfe in der deutschen Reformationsgeschichte, die, wenn auch zunächst halbherzig,11 als lutherische Reformatoren auftraten,12 kehrte das Bistum offiziell zum Katholizismus zurück.13 Kaiser Karl V. hatte Franz von Waldeck nach der Niederlage der deutschen Protestanten im Schmalkaldischen Krieg 154714 gezwungen, die lutherische Kirchenordnung15, die der Lübecker Superintendent Hermann Bonnus (1504–1548) für das Fürstbistum verfasst hatte, zurückzunehmen. Dabei wurde Karl V. von dem mehrheitlich katholisch gebliebenen Domkapitel unterstützt, dass sich 1547 mit einer Klage gegen die Einführung der Reformation durch Bischof Franz von Waldeck an den Papst und an den Kaiser gewandt hatte.16 In der Praxis blieben jedoch die für Osnabrück charakteristischen Formen religiösen Synkretismus – Festhalten an kanonischem Recht und katholischem Ritus unter Beibehaltung von Laienkelch und Priesterehe – bestehen, was durch die Wahl von nacheinander drei Regenten aus protestantischen Dynastien zwischen 1574 bis 1623 begünstigt wurde.17 Die nicht-katholischen Fürstbischöfe waren allerdings durch die Wahlkapitulationen an der Fortsetzung der Reformation gehindert. Das Domkapitel wiederum war zurückhaltend, was gegenreformatorische Maßnahmen betraf, arbeitete jedoch mit Unterstützung der Kurie auf eine zukünftige katholische Majorität des Kapitels hin.18 Auf der Kapitelsitzung vom 18. Januar 1615 beschloss die katholische Mehrheit im Domkapitel die Einführung der Professio fidei catholicae des Tridentinums; neu eintretende Domherren
11 Hans-Joachim Behr, Franz von Waldeck 1491–1553. Sein Leben in seiner Zeit (Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen, 9). 2 Tle. Tl. 1: Darstellung. Münster 1996, S. 272–277, 288–291. 12 Anton Schindling, Reformation, Gegenreformation und Katholische Reform im Osnabrücker Land und im Emsland, in: Osnabrücker Mitteilungen 94 (1989), S. 35–60, hier S. 42. 13 Für einen Überblick über die Reformation im Fürstbistum Osnabrück vgl. Karl Georg Kaster/ Gerd Steinwascher (Hrsg.), 450 Jahre Reformation in Osnabrück (Osnabrücker Kulturdenkmäler – Beiträge zur Kunst- und Kulturgeschichte der Stadt Osnabrück, 6). Bramsche 1993; Thomas Rohm, Osnabrück, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 3: Der Nordwesten. 2. verb. Aufl. Münster 1995, S. 130–147. 14 Zur Rolle Osnabrücks im Schmalkaldischen Krieg vgl. Behr, Franz von Waldeck, S. 361–406. 15 Manuskript der Kirchenordnung von 1543: StAOS Dep 3 b, IV, 2232. 16 Behr, Franz von Waldeck, S. 408–423. Franz von Waldeck widerrief die Reformation auf dem Landtag zu Oesede am 12. Mai 1548. Der schriftliche Widerruf ist auf den 7. Juli 1547 datiert. 17 Theodor Penners, Zur Konfessionsbildung im Fürstbistum Osnabrück. Die ländliche Bevölkerung im Wechsel der Reformationen des 17. Jahrhunderts, in: Jahrbuch der Gesellschaft für niedersächsische Kirchengeschichte 72 (1974), S. 1– 26, hier S. 6–9; Schindling, Reformation, S. 44. 18 Rohm, Osnabrück, S. 138-139.
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mussten von nun an das Bekenntnis des katholischen Glaubens nach der Formel Pius‘ IV. von 1564 aussprechen und unterschreiben.19 1619 führten die Osnabrücker Ritterschaft und die Stadt Osnabrück Beschwerde gegen das Domkapitel und St. Johann wegen der Einführung des Tridentinums.20 Unter dem katholischen Fürstbischof Eitel Friedrich von Hohenzollern (1582–1625) schließlich wurde am 16. November 1624 der Gregorianische Kalender im Hochstift eingeführt;21 das Tridentinum wurde ungekürzt und allen Formvorschiften genügend offiziell auf der Osnabrücker Frühjahrssynode 1625 verkündet und erste Schritte in Richtung katholischer Konfessionalisierung mit Unterstützung Roms und der Jesuiten22 wurden unternommen.23 Letztere mussten bereits 1633 die Stadt wieder verlassen. Aufgrund der Belagerung durch verschiedene Mächte während des 30-jährigen Kriegs erlebten einige Kirchspiele, vor allem im Norden des Hochstifts, mehrere Konfessions- und damit Pfarrerwechsel innerhalb einer Generation.24 Eine „verspätete“ katholische Konfessionalisierung auf der Grundlage des Konzils von Trient setzte schließlich nach Beendigung der schwedischen Besetzung und nach Abschluss des Westfälischen Friedens unter dem bayrischen Wittelsbacher
19 Christian Hoffmann, Ein Streit um geltendes Reichsrecht. Die Auseinandersetzung der Stände im Niederstift Münster mit Fürstbischof Ferdinand von Bayern um die Freistellung der Augsburgischen Konfession, in: Gerd Steinwascher (Hrsg.), Krieg, Konfessionalisierung, Westfälischer Frieden. Das Emsland und die Grafschaft Bentheim in der Zeit des spanisch-niederländischen und des Dreißigjährigen Krieges (Emsland/Bentheim. Beiträge zur Geschichte, 14). Sögel 1998, S. 229–269, hier S. 236. 20 StAOS Rep 100 Abschnitt 369/5 (1619). 21 StAOS Dep 3b, IV, 2217. 22 1625 bzw. 1628 kamen die Jesuiten durch Berufung des Fürstbischofs nach Osnabrück und leiteten die katholische Bildungsreform ein. Die Jesuiten gründeten das Gymnasium Carolinum am Osnabrücker Dom sowie die nur für drei Jahre bestehende Karls-Universität Osnabrück (1630–1633). 23 Hansgeorg Molitor, Kampf um die konfessionellen Besitzstände im Fürstbistum Osnabrück nach 1648. Johann von Hoya, Franz Wilhelm von Wartenberg und die Einführung des Tridentinums, in: Osnabrücker Mitteilungen 93 (1988), S. 69–75, S. 71. Molitor bezeichnet die lange angenommene Verkündung der Tridentiner Beschlüsse 1570/71 als eine Fälschung durch Fürstbischof Wilhelm von Wartenberg. Für die wissenschaftliche Kontroverse über den Zeitpunkt der Verkündung der Tridentiner Konzilsbeschlüsse. Allerdings erwähnt Molitor nicht eine Beschwerde aus dem Jahr 1619 der Osnabrücker Ritterschaft und der Stadt Osnabrück gegen das Domkapitel und St. Johann wegen der Einführung des Tridentinums. Diese Beschwerde deutet zumindest auf Vorbereitungen zur Einführung hin. 24 Gerd Steinwascher, Die konfessionellen Folgen des Westfälischen Friedens für das Fürstbistum Osnabrück, in: Niedersächsisches Jahrbuch für Landesgeschichte 71 (1999), S. 51–80, hier S. 57; Penners, Zur Konfessionsbildung im Fürstbistum Osnabrück, S. 15.
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Franz Wilhelm von Wartenberg (1593–1661) ein, der 1625 von den Domherren zum Bischof gewählt worden war. Regelmäßige Synoden und Visitationen begleiteten den Reformkurs und sollten die Grundlage für die Rekatholisierung des Fürstbistums darstellen. Lutherische Geistliche wurden ihrer Ämter enthoben, die tridentinische lateinische Messliturgie wurde eingeführt, der Laienkelch wurde verboten und die Priester zum Zölibat verpflichtet.25 In den Jahren 1627 bis 1631 war auf Anordnung des Kaisers eine „Commission zur Ausbreitung des katholischen Glaubens in dem Niedersächsischen Kreise tätig“.26 Offiziell war am 6. Januar 1622 in Rom die Congregatio de propaganda fide für die nordische Mission errichtet worden. Die Nuntien, im Falle Osnabrücks der Kölner Nuntius, spielten hier als Bindeglied zwischen der Kongregation in Rom und dem Missionsgebiet eine wichtige Rolle.27 Der Bischof selbst korrespondierte regelmäßig mit dem päpstlichen Nuntius sowie mit seinem Suffragan im Erzstift Köln, Georg Fravius, über geistliche Angelegenheiten.28 Unter schwedischer Herrschaft wurden die katholischen Reformmaßnahmen vor allem in der Stadt Osnabrück zunächst rückgängig gemacht und Bischof Franz Wilhelm von Wartenberg musste außerhalb des Fürstbistums Zuflucht suchen. In dieser Situation suchte die Propaganda Kongregation nach Wegen, die Katholiken im Norden zu unterstützen und ernannte schließlich am 11. Mai 1645 von Wartenberg zum Apostolischen Vikar für die Erzdiözese Bremen mit ihren Suffra ganbistümern Minden und Verden.29 Bei den Friedensverhandlungen bemühte sich von Wartenberg vergeblich um die offizielle Anerkennung einer jesuitischen Niederlassung in Osnabrück. Die Forderung nach Wiedereröffnung der 1632 gegründeten Akademie und deren Besetzung durch Jesuiten wurde als Gegenanspruch auf ein Äquivalent zu dem den Protestanten zugesprochenen Konsistorium ins Spiel gebracht.30 Eine Rückkehr der Jesuiten, angesichts der sich die Stadt in zahlreichen Beschwerden schließlich an den Reichstag wandte, konnte
25 StAOS Rep 100, Abschnitt 367/18 (1628–1648) und StAOS Rep 100, Abschnitt 367/19 (1629–1641). 26 StAOS Rep 100, Abschnitt 367/15 (die Akten liegen nicht mehr vor). 27 Johannes Metzler, Die Apostolischen Vikariate des Nordens. Ihre Entstehung, ihre Entwicklung und ihre Verwalter. Paderborn 1919, S. 12. Vgl. auch Leo Just, Die westdeutschen Höfe um die Mitte des 18. Jahrhunderts im Blick der Kölner Nuntiatur, in: Annalen des historischen Vereins Niederrhein 134 (1939), S. 50–91. 28 StAOS Rep 100, Abschnitt 367/14 (1625–1629); StAOS Rep 100, Abschnitt 367/22 (1634–1640); StAOS Rep 100, Abschnitt 367/41 (1659–1661). 29 Metzler, Die Apostolischen Vikariate, S. 28. 30 Wolfgang Seegrün, In Münster und Nürnberg. Die Verteilung der Konfessionen im Fürstentum Osnabrück 1648/50, in: ders./Gerd Steinwascher (Hrsg.), 350 Jahre Capitulatio perpetua
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allerdings von protestantischer Seite nach der Rückkehr des Fürstbischofs nicht verhindert werden.31 Im Westfälischen Friedensvertrag wurde schließlich das Prinzip der Parität im Fürstbistum anerkannt und die konfessionellen Besitzstände auf Grundlage des Normaljahrtermins vom 1. Januar 1624 festgeschrieben. In der Capitulatio perpetua wurde bestimmt, dass abwechselnd ein katholischer und ein protestantischer Landesherr, letzterer aus dem Haus Braunschweig-Lüneburg, das Fürstbistum regieren sollte. Das ius reformandi stand ihm nicht zu.32 Des Weiteren wurde die Aufteilung der damals 53 Pfarreien gemäß dem ‚Normaljahr‘ 1624 festgelegt: Der Status der Religion, der Kirchengemeinschaft und des gesamten Klerus beider Religionen sowohl in der Stadt wie in den übrigen zu diesem Episkopat gehörenden Ämtern, Städten, Dörfern, Bauernschaften und sonstigen Orten soll in jenem Zustand bleiben und (darauf) zurückgeführt werden, wie er am 1. Januar 1624 gewesen war. Jedoch ist vorher eine Einzelaufstellung und Bestimmung darüber zu machen, was nach dem Jahr 1624 in Bezug auf die Diener des Wortes und die Gottesverehrung geändert befunden wird, und dies ebenfalls in der Capitulation festzuhalten.33
Diese im Rahmen des Westfälischen Friedensvertrages angestrengte Ermittlung der konfessionellen Verhältnisse von 1624 und nachträglicher Veränderungen, auf die sich die Bewohner in religiösen Streitsachen regelmäßig beriefen, durch die rückblickende Befragung von Gemeindemitgliedern, ist für das Fürstbistum Osnabrück sehr gut überliefert und gibt einen ungewöhnlichen Einblick nicht nur in Glaubenswissen, sondern vor allem auch in religiöse Praktiken.
Osnabrugensis (1650–2000). Entstehung – Folgen – Text (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschung, 41). Osnabrück 2000, S. 1–30, hier S. 19. 31 Steinwascher, Die konfessionellen Folgen, S. 62. Vgl. auch StAOS Dep 3b, IV, 2178: Verhandlungen wegen Entfernung der Jesuiten aus der Stadt (1649–1720) und StAOS Dep 3b, IV 2179: Protokoll und Nachrichten wegen Wiedereinführung der Jesuiten (1652–1663). 32 Die immerwährende Capitulation des Hochstifts Osnabrück vom Jahr 1650, in: Codex Constitutionis Osnabrugensis. Tl. 1, Bd. 2, Abschn. 30. Osnabrück 1783, S. 1635–1660; Johannes Freckmann, Die ‚capitulatio perpetua‘ und ihre verfassungsgeschichtliche Bedeutung für das Hochstift Osnabrück (1648–1650), in: Osnabrücker Mitteilungen 31 (1906), S. 129–203; Anton Schindling, Westfälischer Frieden und Altes Reich. Zur reichspolitischen Stellung Osnabrücks in der Frühen Neuzeit, in: Osnabrücker Mitteilungen 90 (1985), S. 97–120; Steinwascher, Die konfessionellen Folgen; Seegrün/Steinwascher, 350 Jahre Capitulatio perpetua Osnabrugensis (1650–2000). 33 Instrumentum Pacis Osnabrugensis (IPO) vom 24. Oktober 1648, Art. XIII, 4, in: Antje Oschmann (Bearb.), Acta Pacis Westphalicae III Abt. B Verhandlungsakten Bd. 1: Die Friedensverträge mit Frankreich und Schweden. Teilband 1: Urkunden. Münster 1998, S. 143.
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a) Konfessionelle Unterscheidungsmerkmale und religiöse Praktiken Kriterien zur Ermittlung konfessioneller Zugehörigkeit wurden erstmals in einem nie da gewesenen Umfang in der Schlussphase der Westfälischen Friedensverhandlungen entwickelt, als es darum ging, nach den Vorgaben des Friedensvertrages die konfessionellen Verhältnisse aus dem Jahre 1624 als nicht mehr zu verändernde Grundlage für die zukünftige Gestaltung des konfessionellen Zusammenlebens in den einzelnen Territorien heranzuziehen. Die Forschung hatte die Frage, wie die Rekonstruktion der konfessionellen Verhältnisse von 1624 bei unklaren Konfessionsverhältnissen umgesetzt werden konnte, lange vernachlässigt. Wegweisend sind die umfangreichen Studien von Ralph Peter Fuchs zu der rechtlichen und praktischen Umsetzung der Normaljahresregelung.34 Wie komplex die Rekonstruktionsvorgänge zunächst geplant waren und mit welchen Methoden die Kirchenvertreter vorgingen, lässt sich am Beispiel des Fürstbistums Osnabrück illustrieren. Der Westfälische Frieden forderte mit Rücksicht auf die strittigen Konfessionsverhältnisse im Fürstbistum Osnabrück, die Konfessionsverhältnisse aller damals 53 Pfarreien (Stadt Osnabrück, Ämter, Städte, Dörfer und Bauernschaften) aus dem Jahr 1624 zu ermitteln, vorher jedoch eine „Einzel aufstellung und Bestimmung darüber zu machen, was nach dem Jahr 1624 in Bezug auf die Diener des Wortes Gottes und die Gottesverehrung geändert befunden wird“.35 Wie dies zu bewerkstelligen war, darüber wurde heftig gestritten. Von katholischer Seite wurden die Visitationsprotokolle des Osnabrücker Generalvikars Albert Lucenius, der die Befragung aller Gemeinden des Fürstbistums zwischen dem 27. November 1624 und dem 17. Mai 1625 umfassten und viele konfessionelle Mischformen beschrieben, den Verhandlungspartnern in Auszügen wiedergegeben, die von den Protestanten allerdings nicht anerkannt wurden. Im Juni 1647 wurde dem Gesandten von Braunschweig–Lüneburg–Celle, Heinrich Langenbeck (1603–1669), eine Liste von Pastoren zugestellt, die 1624 ‚das Wort Gottes predigten‘ und die Sakramente in zweierlei Gestalt gefeiert hatten.36 Die Erkennungszeichen der Konfession, nach denen die Liste zusammengestellt worden war, waren allerdings weniger die oben genannten inhaltlichen Merk-
34 Während meiner eigenen Archivstudien zu diesem Themenkomplex Ende der 1990er Jahre lagen die Forschungsergebnisse von Ralph Peter Fuchs noch nicht vor. Daher werden im Folgenden die von mir in meiner Habilitationsschrift 2003 ausgewerteten Archivalien zitiert und an dieser Stelle auf die inzwischen vorliegenden Studien von Ralph Peter Fuchs ausdrücklich verwiesen. Fuchs, Die Autorität von ‚Normaljahren‘. 35 IPO Art. XIII, 4, in: APW III, B. Bd. 1, 1. Bearb. von Antje Oschmann, 1998, S. 143. 36 Delineatio Pastorum, überreicht von Dr. Hast im Juni 1647. Vgl. Wilhelm Wöbking, Der Konfessionsstand der Landgemeinden des Bistums Osnabrücks am 1. Januar 1624. 1. Teil, in: Osnabrücker Mitteilungen 23 (1898), S. 134–199, hier S. 193, Anm. 1.
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male, sondern eher formale Aspekte, namentlich der Gebrauch protestantischer Kirchenordnungen, darunter die aus Verden, und der Verlust der Pfarrstelle aus konfessionellen Gründen unter einem katholischen Landesherrn.37 Auf Veranlassung des Konsistoriums, das unter den Schweden errichtet worden war, wurde schließlich ein dreizehn Fragen umfassender Katalog erstellt, mithilfe dessen für glaubwürdig befundene Glieder einzelner Gemeinden im Fürstbistum nach der Konfession ihrer Gemeinde im Jahre 1624 befragt werden sollten. Erstaunlich an diesem Vorgang ist nicht nur die mühsame Rekonstruktion der konfessionellen Verhältnisse mit Hilfe der ‚Zeitzeugenbefragung‘, sondern mehr noch die Erinnerungsleistung der Einwohner, die hier zunächst vorausgesetzt und als Maßstab der Konfessionsbestimmung zu Grunde gelegt werden sollte.38 Für jedes Kirchspiel wurde durch Befragungen und Visitationen ermittelt, wer Inhaber der Ortspfarrei im Jahre 1624 war und welcher Konfession er angehört hatte.39 Bei den Befragungen wurden in der Regel männliche Zeugen angehört, die im Jahre 1624 in der jeweiligen Gemeinde lebten. Aufschlussreich an den Fragen sind die ‚Kennzeichen‘, die zur Ermittlung der katholischen und lutherischen Konfession festgelegt und abgefragt wurden. Zu den konfessionellen Unterscheidungskriterien gehörten unter anderem die Form des Abendmahls, die Einsetzungsworte, der Gesang lutherischer Kirchenlieder, die Sprache (Deutsch oder Latein), die Heiligenverehrung sowie unterschiedliche Lehrmeinungen (Fegefeuer oder die Rolle des Papstes als Oberhaupt der Kirche). Gefragt wurde auch, „ob die pastores ehelich gewesen, oder ob sie Ehefrauen oder Concubinen gehabt“.40 Die Zeugen machten oft sehr widersprüchliche Angaben. Auffällig ist auch die Art der Befragung, die sich sowohl an Glaubenswissen als auch an der religiösen Praxis orientierte. Die Fragen selbst waren entweder offen formuliert und verlangten inhaltliche Angaben – so die Frage nach den Einsetzungsworten zum Abendmahl – oder sie gaben Besonderheiten einer der beiden Konfessionen wieder – die Frage nach den sieben Sakramenten oder die Frage nach lutherischen Kirchengesängen – und verlangten damit lediglich Zustimmung oder Ablehnung durch die Befragten. Die Bewertung Wolfgang Seegrüns, die Kriterien zur Ermittlung der Konfession seien insbesondere mit Blick auf die Protestanten
37 Wöbking, Der Konfessionsstand der Landgemeinden des Bistums Osnabrück, S. 140. 38 Fuchs/Schulze, Wahrheit, Wissen, Erinnerung. 39 Die Fragen und die Protokolle der Befragungen als auch Dokumente der Katholiken zur Konfessionsbestimmung finden sich in StAOS Rep 100, Abschnitt 367/11, 12, 13, 26, 28. 40 StAOS, Rep 100, Abschnitt 367/13 (1624–1681); vgl. auch Ernst Tüting, 1000 Jahre Ankum. In Längs- und Querschnitten nach Quellen dargestellt. Ankum 1976, S. 40, 42. Zu Konkubinaten Eva Labouvie, Geistliche Konkubinate auf dem Land. Zum Wandel von Ökonomie, Spiritualität und religiöser Vermittlung, in: Geschichte und Gesellschaft 26 (2000), S. 105–127.
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schwach gewesen, da ihre Konfession nur „negativ beschreibbar (war), nämlich durch das Fehlen der bekämpften Glaubensinhalte wie Heiligenverehrung, Fegefeuer, Seelenmessen“, lässt sich zumindest durch die nachfolgenden Fragen nicht bestätigen.41 Erstlich, wie der Pastor geheißen, so in Anno 1624, den ersten January, alda der Gemeine Vorgestanden? Ob er coenam Domini Unter einer oder zweyerley gestalt administriret. Wer den Kelch gereichet und was für worte dabey gesprochen. Was für eine Vermahnung Vorm Abendmahl gelesen? Was für gesänge, so woll bey Austheilung des Hlg. Abendmahl, als auch ansonsten gesungen. Als ob gesungen: Jesus Christus Unser Heylandt, – Es ist das Heil uns kommen her, – Nun freut Euch lieben Christengmein, – Erhalt Uns Herr bey deinem Wortt, – O Herr Gott, dein Götlich Wortt, – und andere, so in Lutheri gesangbuch stehen. Ob Messe gehalten, und das das Vielleicht geschehen, ob auch die Elevation und Seelenmessen üblich gewesen. Ob die Tauffe sey teutsch Verrichtet worden, undt ob des Crisams, ölß und dergleichen sachen darbey gebraucht. Ob Lutheri Catechismus in den Kirchen oder Schulen gelehret. Ob man die Bilder und Verstorbenen Heiligen angerufen? Ob gelehret worden, das ein Fegfeuer sey. Ob man gelehret, daß sieben Sacramente sein, alß 1. die Taufe 2. die Firmung oder Crisam 3. der letzte Öill 4. das Abendmahl, undt ob man gelehret, daß 5. die Buße, 6. die ordnung der Kirchen darin, und 7. der Ehestandt Sacramenta sein. Ob man gelehret, daß der Pabst das Haubt der Kirchen und Christenheit sey, und daß man die H. Schrift nach der Römischen Kirchen oder Pabst Verstande außlegen sollte. Ob die pastores ehelich gewesen, oder ob sie Ehefrauen oder Concubinen gehabt.42
41 Seegrün, In Münster und Nürnberg, S. 72. 42 StAOS Rep 100, Abschnitt 367/11. Vgl. auch Ernst Tüting, Evangelisch oder katholisch, in: ders., 1000 Jahre Ankum, S. 41–42.
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Dass die Fragenden in Bezug auf das Zölibat offensichtlich selbst keine ausschließliche Position vertraten, zeigt sich in der letzten Frage, die ermitteln sollte, ob der Pfarrer „ehelich gewesen, oder Ehefrau oder Concubine“ gehabt habe. Diese Offenheit gegenüber dem Konkubinat bestätigt die Erkenntnisse von Eva Labouvie, dass bis zum ausgehenden 17. Jahrhundert geistliche Konkubinate nicht nur häufig waren, sondern dass ihnen „eine gewisse Duldung entgegengebracht“ wurde.43 Das galt auch für das Fürstbistum Osnabrück in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts.44 Als problematisch erwies sich in der Praxis die widersprüchliche Erinnerungs leistung der Befragten, die aus den umfangreichen Akten herauszulesen ist, und die auch schon Zeitgenossen monierten.45 Rechtliche Komplikationen – wer durfte die Leute vernehmen – erschwerten weiterhin die Verwertbarkeit der Daten.46 Dennoch wurden die Befragungen zwischen 1647 und 1648 durchgeführt. Bei der Auswertung der Protokolle muss berücksichtigt werden, dass je nach Notar die Antworten konfessionell eingefärbt ausfallen konnten, da die Vertreter beider Konfessionen danach strebten, möglichst viele Belege aus dem Jahre 1624 für die eigene Konfession zu sammeln. Die Suche nach eindeutigen konfessionellen Unterscheidungsmerkmalen erwies sich in der religiösen Praxis auf Gemeindeebene allerdings als schwierig. So erläuterte Amelung Sartorius, Pastor zu Vörden, dass am 24. Januar 1624 die Pastoren, die weder rein evangelisch noch rein katholisch gewesen seien, das Abendmahl auf Wunsch in einerlei oder in zweierlei Gestalt administriert hätten.47 Ähnliche Mischformen bezeugten die Befragten einer ganzen Reihe von Gemeinden bei der Messe und bei der Taufe. Luther selbst hatte allerdings für seine Deutsche Messe alle Bestandteile der römischen Messe übernommen, die im Einklang mit der Bibel waren, auch lateinische Fassungen der Liturgie waren nicht unüblich.48 Die Sprache allein markierte also keinen Konfessions-
43 Labouvie, Geistliche Konkubinate auf dem Land, S. 112. 44 Wöbken, Der Konfessionsstand der Landgemeinden des Bistums Osnabrück, S. 165. 45 Eine Schrift mit dem Titel „Der Kurtze Gegenbericht Osnabrücks von 1650 Mai 13./23. klagt darüber, dass die Leute auf dem Land 20 Jahre lang nicht gewusst hätten, wer ihre Obrigkeit sei: Rep 100, Abschnitt 12a, 30 II, fol. 51 (1650). Vgl. Seegrün, In Münster und Nürnberg, S. 72, Anm. 40. 46 Seegrün, In Münster und Nürnberg, S. 72. Diese Auffassung teilte Volmer dem Offizial am 21. April 1649 mit. StAOS Rep 100, Abschnitt 1/147, fol. 182f. 47 Genannt wurden Johann Geistmann, Glandorf, Balduin Busch, Oesede, Friedrich Rotgeri, Wallenhorst. Für die Klassifikation als mixti vgl. Wöbking, Der Konfessionsstand, Anlage B. 48 Martin Luther, Formula missae et communionis 1523. WA 12 (1891), S. 197–220 und ders., Deutsche Messe und Ordnung des Gottesdienstes 1526. WA 19 (1897), S. 44–113.
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unterschied. Nach der Frageabfolge war das Kennzeichen der lutherischen Konfession die Taufe in deutscher Sprache ohne die Verwendung von Öl und Crisam, während das Kennzeichen der katholischen Konfession die Taufe in lateinischer Sprache war unter Verwendung von Öl und Crisam. Die Mehrheit der Zeugenaussagen gaben diese klare konfessionelle Differenzierung allerdings nicht wider. Nach ihren Aussagen wurde die Taufe in einigen Gemeinden in deutscher und lateinischer Sprache vollzogen, bei der Taufhandlung kamen allerdings Öl und Crisam zur Anwendung.49 In Oesede, Voltlage und Merzen wurde ausschließlich die deutsche Sprache verwandt, Öl, Crisam, zum Teil auch Salz und Wein wurden jedoch bei der Taufhandlung eingesetzt. Fragen nach dem Katechismus, der gelehrt wurde, blieben oft ohne Antwort, da in vielen Gemeinden kein Unterricht stattfand. Klare Aussagen wie die in Neuenkirchen in Hülsen waren eher selten: „Der Katechismus sei ihnen gelehrt, sei genennet worden die fünf Hauptstücke, wer denselben nicht gewusst, sei unwürdig gehalten, daß er sollte zum h. Abendmahl zugelassen werden.“50 Der Gesang der genannten lutherischen Kirchenlieder fand nach Angaben der Zeugen nicht in allen Gemeinden gleichermaßen statt. So wurde nur für Neuenkirchen bei Vörden, Bramsche, Engter, Neuenkirchen im Hülsen, Quakenbrück, Dissen und Laer überliefert, dass der Choral „Erhalt uns Herr bei Deinem Wort“, der zu den ansatzweise antikatholischen Bekenntnisliedern der Reformation gehörte, gesungen worden war. Die Zeugen von Hagen, Glandorf und Wellingholzhausen bestätigten den Gesang aller genannten lutherischen Choräle, unterstrichen jedoch, dass der letztgenannte nicht dazu gehörte. In Oesede wurden deutsche Choräle gesungen, allerdings nicht wider die katholische Religion, auch in Iburg hatte der Pfarrer 1624 deutsche Psalmen erklingen lassen. Die Fragen nach der Verehrung von Heiligen und Bildern sowie nach dem Fegefeuer wurden sehr unterschiedlich beantwortet. Gleiches gilt für die Frage nach dem Papst als Oberhaupt der Kirche. Die Abhaltung von Prozessionen wurde weitgehend bestätigt, allerdings fällt auf, dass neben „Prozessionen mit dem Allerheiligen“, wie es ein Ankumer Zeuge ausdrückte51, auch einfache Prozessionen mit dem Holzkreuz an besonderen Feiertagen von Lutheranern durchgeführt wurden.52 Was die Ehe der Pfarrer im Jahre 1624 betraf, so wurde für nahezu die Hälfte der Pfarrer bestätigt, dass sie verheiratet waren, ungeachtet davon, ob die übrigen Angaben tendenziell eher auf die lutherische oder die katholische Konfession
49 So in Glandorf, Wellingholzhausen, Laer, Ostercappeln, Wiedenbrück. 50 Zitiert nach Wöbken, Der Konfessionsstand, S. 159. 51 StAOS Rep 100, Abschnitt 367/11, fol. 13. 52 Wöbken, Der Konfessionsstand, S. 161.
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schließen ließen. Damit wurde der Visitationsbericht des Osnabrücker General vikars in diesem Punkt bestätigt. Nach zähen Verhandlungen wurden die konfessionellen Verhältnisse im Fürstbistum Osnabrück schließlich im Jahre 1650 durch die Capitulatio Perpetua Osnabrugensis, einer Ergänzung des Westfälischen Friedensvertrags speziell für das Fürstbistum Osnabrück, in Art. 21 geregelt.53 Nach dem sogenannten Volmarschen Durchschlag basierend auf dem angenommenen Glaubensstand des Normaljahres 1624 wurde ohne Berücksichtigung der Frageprotokolle die Konfession von Ortschaften und Kirchspielen festgelegt. Unabhängig davon, ob der Weg der Befragung konsequent zu Ende gegangen worden wäre, oder ob der Volmarsche Durchschlag zu Grunde gelegt wurde, das Ergebnis wäre ähnlich gewesen: Osnabrück bietet einen Beleg dafür, dass die Rekonstruktion der Verhältnisse von 1624 sich als ein fast unlösbares Unterfangen entpuppte, die Ergebnisse Konfliktstoff mit sich brachten, der wiederholt vor den Reichshofrat oder das Reichskammergericht zur Schlichtung gelangte, und konfessionelle Grenzziehungen weder die realen Zustände von 1624 noch von 1648 wiedergaben. Gerade weil die konfessionellen Verhältnisse nicht nur in der Erinnerung von Bewohnern unscharf waren und damit den Visitationsbericht von Albert Lucenius aus dem Jahre 1624 widerspiegelten, der Formen religiösen Synkretismus aufgezeigt hatte, sondern auch in der Praxis die konfessionelle Aufteilung des Fürstbistums nicht die realen Konfessionsverhältnisse wiedergab, gewannen der Westfälische Frieden und die Capitulatio Perpetua Osnabrugensis eine große Bedeutung auch im Alltag der Bewohner, und zwar als Legitimation für die Verteidigung des einmal errungenen konfessionellen Status Quo und als Garant für individuelle Gewissensfreiheit. 28 Kirchspiele wurden den Katholiken zugesprochen, 17 den Protestanten; 8 Kirchspiele sollten doppelpfarrig, d.h. mit je einem katholischen und einem lutherischen Pfarrer besetzt werden.54 Gerade in Kirchspielen mit nahezu gleich vielen Lutheranern oder Katholiken, die dennoch 1650 rein katholisch wurden, gab es immer wieder Situationen, in denen die religiöse Gewissensfreiheit in Abgrenzung zu der anderen Konfession eingefordert wurde; dazu zählten vor allem auch Konflikte in Mischehen. Im Einzelnen regelte die Capitulatio perpetua Osnabrugensis verschiedene Aspekte des religiös-konfessionell gemischten Zusammenlebens dieses bi-konfessionellen Fürstbistums, die auch für die Handhabung religiös-konfessionell
53 Seegrün/Steinwascher (Hrsg.), 350 Jahre Capitulatio perpetua Osnabrugensis (1650–2000). 54 Hermann Hoberg, Die Gemeinschaft der Bekenntnisse in kirchlichen Dingen. Rechtszustände im Fürstentum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts (Das Bistum Osnabrück, 1). Osnabrück 1939.
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gemischter Ehen relevant waren. Geistliche- und Ehesachen von Protestanten wurden vor dem Evangelischen Konsistorium (Art. 5), bestehend aus zwei Geistlichen, einem fürstlichen Beamten und einem Notar, verhandelt, dessen Oberaufsicht der jeweilige protestantische Landesherr (Art. 17) innehatte. Unter katholischer Herrschaft durften die Rechte des Konsistoriums nicht angetastet werden. Die Durchführung von Stellenbesetzungen lag – auf Grundlage konsistorialer Vorgaben – allerdings in der Macht der Archidiakonate, die Mitglieder des Domkapitels und zuständig für die geistliche Gerichtsbarkeit waren (Art. 5). Ebenso unterlagen alle Untertanen unabhängig ihrer Konfession der geistlichen und weltlichen Jurisdiktion der Archidiakonate, soweit es sich nicht um klar abgegrenzte geistliche und Ehesachen handelte. Die Archidiakonate waren aufgerufen, „unparteysch ohne respect der religion zu verfahren“ (Art. 6). Wie schwierig hier die Abgrenzungen waren und wie unglaubwürdig mitunter die Forderungen nach Überparteilichkeit umgesetzt wurden, bezeugen die ständigen Konflikte um die Kompetenzen der Archidiakonate im 17. und 18. Jahrhundert.55 Die geistliche Jurisdiktion gegenüber den Katholiken oblag dem Offizialat und dem Archidiakonat (Art. 6). Zur Zeit eines protestantischen Landesherrn übte der Erzbischof von Köln die geistliche Jurisdiktion aus, der wiederum seinen Metropolitenvikar mit dieser Aufgabe betraute (Art. 4). Im Gegenzug entsandten protestantische Landesfürsten während der Regierungszeit eines katholischen Landesherrn einen Residenten nach Osnabrück mit dem Auftrag zur Beobachtung und Beeinflussung konfessionspolitischer Fragen.56 Inwieweit die landesgeschichtlich bislang wenig beachteten Reunionsverhandlungen, die Ernst August I. (1629–1698) in den Jahren 1677 und 1678 mit Rom und dem Kaiserhof führte, innerterritoriale konfessionspolitische Auswirkungen hatten oder für Unruhe unter den Protestanten im Fürstbistum sorgten, ist bislang kaum erforscht worden.57 Das Gleiche gilt für die Bezeichnung von Clemens August
55 Vgl. Harriet Rudolph, Kirchenzucht im geistlichen Territorium. Das Fürstbistum Osnabrück vom Westfälischen Frieden bis zu seiner Auflösung (1648–1802), in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Kriminalitätsgeschichte – Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne (Konflikte und Kultur – Historische Perspektiven, 1). Konstanz 2000, S. 627–645. 56 Dieser Auftrag erging dezidiert an den Legationsrat Ludwig August von Schele, der unter Clemens August als Resident ernannt wurde. Wolfgang Seegrün, Das Bistum Osnabrück im Bischofsreich des Clemens August von Bayern, in: Clemens August. Fürstbischof, Jagdherr, Mäzen. Katalog zu einer kulturhistorischen Ausstellung aus Anlaß des 250jährigen Jubiläums von Schloß Clemenswerth. Meppen/Sögel 1987, S. 61–78, hier S. 65; Hubert Wolf, Die Reichskirchenpolitik des Hauses Lothringen 1680–1715. Stuttgart 1994, S. 72. 57 Für die reichspolitische sowie dynastische Dimension vgl. Hans Schmidt, Konversion und Säkularisation als politische Waffe am Ausgang des konfessionellen Zeitalters, in: Francia 5 (1977),
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(1700–1761) als „neuer Wartenberg“, womit von protestantischer Seite Befürchtungen Ausdruck verliehen wurde, dass mit dem Regierungsantritt des Kölner Erzbischofs im Fürstbistum Osnabrück 1728 eine erneute Rekatholisierung des Bistums beginnen würde wie bereits in den 1650er Jahren.58 1650 war von Wartenberg als Fürstbischof wieder in Osnabrück eingezogen und hatte eine intensive katholische Konfessionalisierung eingeleitet. Während die Stadt Osnabrück durch die von den Schweden zugesicherte konfessionelle Autonomie59 vor landesherrlicher Einflussnahme relativ geschützt war, wurden auf dem Lande unter seiner Herrschaft fast ein Drittel der katholischen Kirchspiele vorübergehend von Ordensgeistlichen, darunter Franziskanern, Benediktinern, Zisterziensern und Jesuiten, versorgt.60 Seit 1653 ist ein Anstieg von Konversionen zum Katholizismus zu verzeichnen.61 Ein Austausch der Beamtenschaft durch Katholiken, wie es in der Kurpfalz, aber auch im benachbarten Niederstift Münster im Zuge der Rekatholisierung praktiziert wurde, war im Fürstbistum Osnabrück aufgrund der Vorgaben der Capitulatio perpetua Osnabrugensis nur bedingt möglich.62
3.1.2 Mischehen – Rechtsetzung als Handlungsanleitung Auf dem Hintergrund dieses religiös-konfessionellen Panoramas und verspäteter, durch die Alternation immer wieder unterbrochener Konfessionalisierungsbemühungen, wundert es wenig, dass Landesordnungen zum Umgang mit Mischehen erst für das 18. Jahrhundert dokumentiert sind. In Akten, die sich mit Fragen zur Kindererziehung in religiös-konfessionell gemischten Ehen befassen, taucht immer wieder der Verweis auf, dass in dieser Materie von beiden Religions Theilen in unseren Zeiten angenommenen Principiis der väterlichen Gewalt sämtliche Kinder ohne Unterschied des Geschlechts, sofern
S. 183–230; für eine Beschreibung der Verhandlungen selbst Philipp Hiltebrandt, Die kirchlichen Reunionsverhandlungen in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Ernst August von Hannover und die katholische Kirche (Bibliothek des preussischen Historischen Instituts in Rom, 14). Rom u.a. 1922. 58 Vgl. unten. 59 Seegrün, Münster und Nürnberg, S. 15. 60 Steinwascher, Die konfessionellen Folgen, S. 62. 61 Penners, Zur Konfessionsbildung im Fürstbistum Osnabrück, S. 20–21; Seegrün, Das Bistum Osnabrück, S. 65–66. 62 Steinwascher, Die konfessionellen Folgen, S. 64; Christine van den Heuvel, Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1500–1800 (Osnabrücker Geschichtsquellen und Forschungen, 24). Osnabrück 1984.
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vom Vater nichts anders nicht pactiret oder verordnet worden, in dessen Religion erzogen werden müssen.63
Ein Eintrag im „Codex Constitutionis Osnabrugensis“ bestätigt dies 1738 unter Verweis auf den „von allen Reichsständen beider Religion“ anerkannten Grundsatz, namentlich das Weisungsrecht des Vaters, wenn keine Eheverträge vorliegen. Entsprechend heißt es in Osnabrück daß die unterjährigen Kinder, bis dahin sie ad annos discretionis gekommen, in derjenigen Religion erzogen werden müssen, welcher der Vater zugethan gewesen, wenn derselbe darüber kein anders verordnet.64
Diese Regel beinhaltete auch, dass Witwen ihre konfessionsverschiedenen Kinder Vormündern auf Verlangen überlassen mussten, damit die weitere Unterweisung in der väterlichen Religion garantiert wurde. Für den Unterhalt der Kinder, die aus religiösen Gründen auch gegen den Willen der Mutter Vormündern übergeben wurden, mussten die Frauen jedoch weiterhin aufkommen.65 Dass es bei dieser starren Regel auch Gegenstimmen gab, belegt ein Rechtsgutachten aus dem Jahr 1715. In einem Streitfall um die religiöse Erziehung der Kinder aus der Ehe zwischen der evangelischen Catharina Margareta Hüne geborene Hrentzell und ihrem katholischen Ehemann Johann Hüne, die nach dem Tod des Mannes von den katholischen Vormündern verlangt wurde, empfahl ein Gutachten, die Kinder bei der Mutter zu belassen mit der Begründung: „auch die leiblichen Eltern lassen sich die Erziehung ihrer Kinder viel mehr zu Herzen gehen und daher wird die Erziehung durch die Eltern recommendiret.“66 Die Empfehlung wurde allerdings nicht umgesetzt, sondern die Kinder zur katholischen Erziehung den Vormündern übergeben. Streitfälle in Mischehen aus dem 17. Jahrhundert, die aktenkundig geworden sind, wurden vor 1648 vor den Landesherrn gebracht.67 Nach 1648 war das Gebot der Gewissensfreiheit, wie es in der Capitulatio perpe-
63 StAOs Rep 100, Abschnitt 374/22 (1778). 64 Codex Constitutionem Osnabrugensem. 2 Tle. Osnabrück 1800, Tl. 1, Bd. 2, S. 1090f.; Aegidius Kloentrup, Art. „Religions-Zustand“, in: ders., Alphabetisches Handbuch der besonderen Rechte und Gewohnheiten des Hochstifts Osnabrück mit Rücksicht auf die benachbarten westfälischen Provinzen. 3 Bde. Osnabrück 1798–1800, Bd. 3, S. 110–117, hier S. 111–112. 65 Codex Constitutionem Osnabrugensem, S. 1091. 66 StAOs Rep 100, Abschnitt 374/1 (1715). 67 StAOS, Dep. 6 b 9/25 (1609–1612). Für vereinzelte Hinweise vgl. Carl Stüve, Geschichte des Hochstifts Osnabrück von 1508–1623. 3 Bde. ND der Ausg. Osnabrück 1853–1882. Osnabrück 1970, S. 668.
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tua Osnabrugensis (Art. 2 und 3) festgeschrieben worden war, ausschlaggebend. In Artikel 3 heißt es im Wortlaut: Solle nicht allein denen landtsassen, bürgern und underthanen vorgemelt beeder religionen ohne unterscheidt, so sich zu der catholischen religion oder Augspurgischen confession verstehen oder verstehen wollen, erlaubt und zugelassen sein, respective catholische oder der Augspurgischen confession kirchen und schulen zu besuchen, dem gottesdienst beyzuwohnen, die heilige sacramenta zu empfangen, ihre kinder bey den catholischen oder Augspurgischen confessions-verwanten, wie und wohin sie wollen, zur tauf zu pringen, gottsählig zu instruirn, die matrimonia offentlich solemnizirn zu lassen, sondern auch den geistlichen und seelsorgern selbst ohne unterscheidt zugelassen sein, ohne mennigliches behinderung oder verspottung, die kranckhen zu besuchen, zu trösten, ihnen die sacramenta ritu catholico vel Augustanae confessionis zu administrirn, wie christlich und den ersten Januarii anno [...] eintausent sechßhundert vier und zwanzig hergebracht; jedoch sollen die catholische ihre leich nach catholischer ordnung abzuholen und zu begleiten keinesweegs gehindert werden.68
Das bedeutete für den Umgang mit Mischehen grundsätzlich, dass die Eheleute frei über die religiöse Erziehung ihrer Kinder in Eheverträgen als auch die Wahl des Pfarrers verfügen konnten69, und dass sich auch im Fürstbistum der im ganzen Reich praktizierte Brauch durch setzte, die konfessionelle Ausrichtung der Kinder nach Geschlecht vorzunehmen – ein Brauch, der offensichtlich paral lel zu der gesetzlichen Vorgabe, die Kinder in der Religion des Vaters aufzuziehen, auch im 18. Jahrhundert noch toleriert wurde. Allerdings gab es auch Widerspruch und Bestrebungen, konfessionspolitische Interessen durchzusetzen. In einer Beschwerdeschrift aus dem Jahre 1720, die bis an den Reichshofrat ging, wurde dem Konsistorium von katholischer Seite vorgeworfen Obschon in Capitulatione perpetua 3 ausdrücklich enthalten ist und denen Catholischen und Augsburgischen Confession-Verwandten erlaubet und zugestanden wird ihre Kinder wie und wohin sie wolen zur Tauffe zu bringen und die Matrimonia öffentlich solemnieren zu lassen; so hat doch darwieder unterm 18. Augusti 1716 das Consistorium Augustanae Coonfessionis ein Verbott sub Nr I ergehen lassen, daß wo Eheleute mixtae religionis in
68 Zitiert nach der Ausgabe Seegrün/Steinwascher, 350 Jahre Capitulatio perpetua Osnabrugensis (1650–2000), S. 58–77, hier S. 59–60. 69 Neben Beispielen in nachfolgenden Fallstudien vgl. auch die Hinweise zu religiös-konfessionell gemischten Ehen im Adel und den Abschluss von Eheverträgen in Christian Hoffmann, Ein Streit um das geltende Reichsrecht. Die Auseinandersetzung der Stände im Niederstift Münster mit Fürstbischof Ferdinand von Bayern um die Freistellung der Augsburgischen Konfession, in: ders. (Hrsg.), Krieg, Konfessionalisierung, Westfälischer Frieden. Das Emsland und die Grafschaft Bentheim in der Zeit des spanisch-niederländischen und des Dreißigjährigen Krieges. Sögel 1998, S. 229–269, hier S. 267–268.
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einer lutherischen Pfarre wohnen sie sich unter keinem Catholischen copuliren noch ihre so gar künfftige Kinder anderswo tauffen lassen.70
Die gerichtliche Zuständigkeit bei Mischehen in erster Instanz lässt sich nur schwer aus den Akten ermitteln. Da bei religiös-konfessionell gemischten Ehen im Fürstbistum Osnabrück ein Partner in der Regel katholisch war, kamen Konfliktfälle auf dem Lande zunächst vor das Archidiakonat. Allerdings wurde bereits unter Fürstbischof von Wartenberg die Forderung laut, dass bei Konflikten die Rechtsfindung zwischen Anhängern verschiedener Konfession doch nach Ausweisung der Capitulation zu wenigsten mit Consens der beeideten Consistorialen hatte geschehen mussen, wie dergleichen casus, wan sie in Quakenbrück furgefallen, von Ihr hochfürstl. Eminentz sonderlich, wo die partes litigantes diversae religionis, Mag. Buschero undt dem patri de oberservantia als an catholischer Seite vicecurato aufgetragen.71
Auch bei der Frage der Patenschaft zeigt sich in der Praxis eine relativ tolerante Haltung, selbst unter Verletzung der Vorgaben des Trienter Konzils, das zwei katholische Taufpaten, möglichst im Geschlecht des Täuflings, vorschrieb. Nach den „Bestimmungen des Rituale Romanum und verschiedenen Entscheidungen der Römischen Kongregationen“ waren Andersgläubige zur Patenschaft unfähig.72 Nach der Meinung „angesehene(r) Kirchenrechtslehrer des 17. und 18. Jahrhunderts“ erlaubten allerdings schwerwiegende Gründe, auch Andersgläubige als Paten zuzulassen.73 In der religiös-konfessionellen Gemengelage einiger Kirchspiele im Fürstbistum Osnabrück war es daher auch nicht selten, dass Katholiken evangelische Taufpaten wählten und umgekehrt.74 1770 beschloss das Heilige Offizium allerdings ein unbedingtes Verbot andersgläubiger Paten.75
70 Unfug und Ungrund derjenigen Gravaminum, Welche kurtz nach Antritt Ihrer Königl. Hoheit Bischöfflicher Regierung des Fürstenthums und Stiffts Osnabrück das Dom=Capitul daselbst Anfänglich bey Ihrer Königl Majestät von Groß=Britannien und durch Dero höheste interposition deren billigmäßige Abhelffung zu erhalten zu erhalten Nachgehends aber durch eine an sich unbergündete auch längst desert gewordene und renunciirte Appellation bey hochlöbl Reichs=Hof=Rath introduciret. Osnabrück 1720, S. 369. 71 Richard Bindel (Hrsg.), Geistliche Polizei-Ordnung des Fürstentums Osnabrück vom Jahre 1662, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück 46 (1924), S. 49–141, hier S. 118. 72 Hoberg, Die Gemeinschaft der Bekenntnisse, S. 32. 73 Ebd. 74 Vgl. die Berichte von Pfarrern über Taufen und die Wahl von Paten im 18. Jahrhundert. StAOS Abschnitt 369/22. Ein Fragebogen des Generalvikariats aus dem Jahre 1737 fragte unter Punkt 16 nach der Auswahl von Paten. 75 Hoberg, Die Gemeinschaft der Bekenntnisse, S. 34.
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Mitte des 18. Jahrhunderts erregte die Frage der religiösen Kindererziehung in gemischtkonfessionellen Familien des Fürstbistums reichsweites Aufsehen. Religionsgravamina wurden von Kur-Braunschweigischen Gesandten 1748 mündlich und schriftlich in Kur-Köln und Mainz vorgetragen. Kernpunkt der Vorwürfe gegenüber der katholischen „welt- und geistlichen Obrigkeit“ im Fürstbistum Osnabrück war, unmündige Kinder aus Mischehen, die laut Ehevertrag evangelisch erzogen werden sollten, dem überlebenden Vater oder Mutter mit Gewalt, oder doch sonst heimlicher Weise (wegzunehmen) und deren Auslieferung, wenn man von Evangelischer Seite solches begehret, unter dem ganz einstigen Vorwandte der solcherlei unmündigen Kinder dennoch zustehen sollende Gewissensfreiheit, in Folge welcher sie bereits zur katholischen Religion sich bekennt hätten, oder dergleichen noch zu tun vorhabend wären, schlechterdings vorenthalten und versagt worden.76
Die Auseinandersetzung mit diesen Religionsbeschwerden auf Reichsebene77 gibt Einblick in weitere Aspekte der geltenden Rechtslage für religiös-konfessionell gemischte Ehen im Fürstbistum Osnabrück. Gleichzeitig weisen diese Beschwerden auf eine Verhärtung der Konfessionspolitik im Fürstbistum seit der Machtübernahme des Wittelsbachers Clemens August im Jahre 1723 hin. Wie brisant die Lage war, zeigte sich unter anderem in dem allerdings misslungenen Versuch Hannovers, eine Garnison auch nach 1728 in der Stadt zu halten.78 Worum ging es in diesen „Osnabrücker casibus“, an denen die Protestanten des Fürstbistums in Gestalt der Ritterschaft offenbar so viel Anstoß nahmen, dass sie sich mit breiter Unterstützung an ihren Landesherren, an das Corpus Evangelicorum und schließlich an den Reichstag und den Kaiser wandten? Da ist die Rede von einer Missdeutung der Osnabrücker „Eigenthums Ordnung“. Es heißt: dass ein Gutsherr freye hände habe auf das Absterben eines Coloni vel Colone die vorhandenen unmündigen Kinder aus denen Händen der überbleibenden Wittib zu reißen, und mit deren Ausschließung deren Erziehung einigen anderwertigen Verwandten zu dem Ende auf zu tragen, und darüber, in welchem Glauben selbige Kinder erzogen werden sollen, nach Willkür halten zu können.79
76 Hauptstaatsarchiv Dresden (HstAD): Loc. 30231 (Conclusum Corporis Evangelicorum de dato 12 Aprilis, 1752). Vgl. auch StAOS, Rep. 100, Abschnitt 374/12 (1748–1752). 77 Für Details vgl. Kapitel V. 78 Ich danke Ronald Asch für diesen Hinweis. Asch, Von der Metropolitan- zur Munizipalstadt. 79 StAOs Rep 100, Abschnitt 374/12, fol. 23 (1748–1752).
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Gerade dies aber sei, so die Gegenseite, eine falsche Auslegung: wohin, dass bey besagter Errichtung der Eigenthums Ordnung die Absicht nicht gegangen, diejenige, welche dabey persönlich gegenwärtig gewesen und annoch guthen theils im leben seynd am zuverlässigsten werden zeugen können, nicht zu geschweigen, dass auch bey allen [...] einräumung des letzteren die Augsburgische Confessions Verwandten wenig ihren Vortheil finden dörften.80
Katholische Grundherren beriefen sich demnach – so der mit Beispielen belegte Vorwurf – auf ihre verbrieften Rechte, wenn sie Kinder eigenbehöriger Witwen oder aber Waisen zwangen, ihre Konfession anzunehmen ungeachtet bestehender Eheverträge der Eltern. Die Rechtslage änderte sich grundlegend im frühen 19. Jahrhundert durch eine „Verordnung über die religiöse Erziehung der Kinder, deren Aeltern verschiedener Confession sind, so wie auch der Findlinge“, die von Georg IV am 31. Juli 1826 erlassen wurde. Diese Verordnung verlangte unter § 1: Dem Ehemann, als dem Haupte der ehelichen Gesellschaft, soll die uneingeschränkte Befugnis verbleiben, bloß nach eigener Überzeugung zu bestimmen, in welchem Glaubensbekenntnisse seine ehelichen Kinder zu erziehen sind, und niemand soll das Recht haben, in diese Familien und Erziehungs=Angelegenheit auf irgend eine Weise sich zu mischen. 81
Mit dieser Regelung folgte das Königreich Hannover mit allen dazugehörigen Provinzen gleichlautenden Gesetzesänderungen, die in der überwiegenden Zahl deutscher Territorien an der Schwelle vom 18. zum 19. Jahrhundert vorgenommen wurden. Begründet wurde die Verordnung damit, die vielen Streitigkeiten und Spaltungen unter den Familien zu verhindern, welche häufig über die religiöse Erziehung der Kinder aus Ehen zwischen Personen von einem verschiedenen Gla,0ubensbekenntnis entstehen, und um der Verewigung einer immer nachtheiligen Religionsungleichheit der Geschwister und anderer nahen Verwandten so viel wie möglich vorzubeugen.82
80 Ebd. 81 StAOS Dep 3b IV, Nr. 119 (1826). 82 Offensichtlich gab es Versuche, diese Bestimmung mittels Eingaben unwirksam zu machen. Vgl. den Aktenhinweis „Die Erklärung von Vätern wegen der Erziehung ihrer Kinder“ aus dem frühen 19. Jahrhundert, StAOS Dep 3b, Stadtsachen. Die Akten sind leider verloren.
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Mit dieser staatlichen Regelung wurde den Kirchen die Möglichkeit abgesprochen, eigene Forderungen an religiös-konfessionell gemischte Paare zu stellen und zur Voraussetzung der Einsegnung zu machen. Dies wurde, wie bereits am Beispiel Preußens aufgezeigt83, vor allem von katholischer Seite nicht akzeptiert. Im Jahr 1838 sorgte eine Schrift mit dem Titel „Proponenda in synodis curalibus“ des Osnabrücker Weihbischofs und apostolischen Provikars Carl Anton Lüpke für Unruhe.84 Die Schrift rechtfertigte einen Synodalerlass vom 2. Juni desselben Jahres, nach dem Eltern, die in einer religiös-konfessionell gemischten Ehe lebten und ihre Kinder nicht katholisch erzogen, öffentlich vom Empfang des Abendmahls und der Absolution ausgeschlossen werden sollten. Ähnliche Maßnahmen wurden zeitgleich auch in anderen Territorien diskutiert.
3.1.3 Umgangsweisen mit religiöser Pluralität im Alltag Die Rückführung des Fürstbistums auf den konfessionellen Status quo gemäß dem Normaljahr 1624 und die entsprechende Aufteilung der Pfarrstellen verbunden mit dem turnusmäßigen Wechsel eines katholischen und eines protestantischen Landesherrn schuf eine labile konfessionelle Gemengelage. Das verwundert wenig, waren doch zwischen 1624 (dem Normaljahr) und 1650 (der Capitulatio Perpetua Osnabrugensis) – bis zu fünf von oben verordnete konfessionelle Veränderungen über das Fürstbistum gegangen, jede verbunden mit der Vertreibung der Ortspfarrer – in der Stadt Osnabrück wurden beispielsweise 1629/30 alle fünf evangelischen Pfarrer zusammen auf einem Marketenderwagen durch das Herrenteichtor aus der Stadt herausgefahren85 – und dem Versuch der anschließenden lutherischen oder katholischen Konfessionalisierung der Ansässigen, was vielerorts eine Generation gleich mehrfach traf.86 Nach 1648 wurde zwar die Konfession der Kirchspiele festgelegt sowie die Parität unabhängig von der Konfession des jeweiligen Landesfürsten garantiert, in der Praxis war jedoch die religiöse Zugehörigkeit der Bevölkerung nicht immer deckungsgleich mit der ihrer eigenen Ortskirche. Die gravierendsten Beispiele waren sicher Schledehausen, das eine katholische Pfarrei wurde, trotz überwiegend lutherischer Einwoh-
83 Vgl. Kapitel I. 84 StAOS 3b VI, Nr. 119 (1838). 85 Bindel, Geistliche Polizei-Ordnung, S. 93. 86 Penners, Zur Konfessionsbildung im Fürstbistum Osnabrück, S. 4; Steinwascher, Die konfessionellen Folgen.
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ner sowie Fürstenau, evangelisch trotz überwiegend katholischer Einwohner.87 In einigen einpfarrigen Kirchspielen verteilte sich die Bevölkerung zu jeweils fast 50 Prozent auf beide Konfessionen. In dem Dorf Hunteburg gab es 60 Prozent Katholiken und 40 Prozent Protestanten.88 Es gab zwar nur eine katholische Kirche am Ort, Lutheranern war es aber durch die Aufhebung des Pfarrzwangs freigestellt, lutherische Kirchen in benachbarten Dörfern zu besuchen. In dem benachbarten Gut Arenshorst, in Astrup und auf der Schelenburg wurden private lutherische Gottesdienste abgehalten, was katholische Fürstbischöfe allerdings zu unterbinden suchten. Vergleichbares lässt sich für das Schulwesen beobachten: die Entstehung privater lutherischer Schulen in katholischen Kirchspielen wurde unter evangelischer Landesherrschaft geduldet, unter einem katholischen Landesfürsten jedoch wieder eingeschränkt.89 Daher war es nicht unüblich, dass Lutheraner die katholische Kirche ihres Dorfes besuchten, zumal sie hierfür auch Stollgebühren zu zahlen hatten. Selbst Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen wurden oftmals von dem ansässigen katholischen Priester durchgeführt. Anders sah es bei der katholischen Bevölkerung aus, die sich stärker absonderte und angehalten war, die katholische Messe zu besuchen.90 Die Untersuchungen, die uns bislang für Osnabrück vorliegen, zeichnen über wiegend ein Bild friedlichen religiös-konfessionellen Zusammenlebens nach 1648, abgesehen von einigen Ausschreitungen.91 Für Belege wird – um nur einige anzu führen – auf die Teilnahme von Protestanten an katholischen Prozessionen verwiesen, die Teilnahme am Gottesdienst in der konfessionsfremden Ortskirche, ja sogar Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen durch einen konfessionsfremden Pfarrer. Selbst religiös-konfessionell gemischte Ehen, die wir in einigen Kirchspielen im 17. und frühen 18. Jahrhundert bis zu 20 Prozent vorfinden, könnten ein weiterer Hinweis für ein friedliches Miteinander der Konfessionen sein.92
87 Theodor Penners, Das Kirchspiel im Konflikt der Konfessionen, in: Klaus J. Bade u.a. (Hrsg.), Schelenburg – Kirchspiel – Landgemeinde. Bissendorf 1990, S. 89–122. 88 Wenn nicht anders gekennzeichnet, bezieht sich der folgende Abschnitt auf Hoberg, Die Gemeinschaft der Bekenntnisse. 89 Die richtige religiöse Erziehung der Kinder war eine wichtige Voraussetzung, um den jeweiligen wahren Glauben zu erhalten. 1720 wird in Hunteburg eine lutherische Privatschule erwähnt. 90 Hoberg, Die Gemeinschaft der Bekenntnisse. 91 Ebd.; Steinwascher, Die konfessionellen Folgen. 92 Vgl. die Zahlen in Specificatio Familiarum mere Catholicarum Mixtarum et Acatholicarum tam in civitate Furstenawensi quam annexis bauwrschapys facta A 1662. StAOS, Rep 100, Abschnitt 188/7. Bd. 2; zu Mischehen Jürgen Schlumbohm, Lebensläufe, Familien, Höfe. Die Bauern und Heuerleute des Osnabrückischen Kirchspiels Belm in protoindustrieller Zeit, 1650–1860 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 110). Göttingen 1994, S. 418–419.
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Ein Blick in die umfangreiche Beschwerdeliteratur von Katholiken und Protestanten über Behinderungen in der religiösen Praxis aus dem 17. und 18. Jahrhundert, vor allem aber die Untersuchung von Mischehekonflikten lassen an dieser Interpretation Zweifel aufkommen. Die religiös-konfessionelle Selbstverortung der Bevölkerung zeigte sich offensichtlich nicht in erster Linie in der Praxis des Kirchgangs oder in der Teilnahme an offiziellen religiösen Amtshandlungen, sondern im Alltagshandeln, in religiösen Praktiken und dem Umgang mit religiösen Artefakten im Kontext des Hauses93, das bei Konflikten unter Beobachtung stand und deren religiös-konfessionelle Selbstverortung oft mit Unterstützung von Verwandten und Glaubensgenossen verteidigt oder angeprangert wurde. So beschwerte sich 1715 ein Amtmann, dem bei der Übergabe eines Auslieferungsbescheids, der die katholische Erziehung der Kinder einer lutherischen Witwe erzwingen sollte, dass deren pupillen Großmutter vid Hrentzell vor meiner Thür mit im Groß Gelauf kommen, gesagt, in spee, sie wollte sich lieber sampt dem einen Sohn, den sie großgemacht hat, auf dem Markt den Kopf abhauen lassen, als Catholisch werden. Ex post Sie mir das Insinuatum Serrenissimi über meine Thür geworfen, endlich wieder aufgenommen, vor die Thüre auf der Straße sampt ihrer Tochter geruffen [...] ists Hasenputzerey [...] ich scheiße darinnen [...].94
Die Kriterien religiöser Zugehörigkeit bei Mischehekonflikten, die von den Beteiligten selbst und von geistlicher und weltlicher Obrigkeit ins Gespräch gebracht wurden, waren auch im Fürstbistum Osnabrück immer wieder Fragen nach der religiösen Unterweisung, nach Gebeten – wird das „Vater Unser“ in katholischer oder evangelischer Form gesprochen? – Katechismen und Büchern im Hause, also der religiösen Praxis in der Familie, sowie der erstmaligen Teilnahme am Abendmahl, die nach entsprechender Unterweisung die konfessionelle Zugehörigkeit nach außen demonstrierte. Auch wenn es im Alltag religiöser Praxis gemessen an der ‚reinen‘ Konfessionskirche Mischformen gab, so bildete sich dennoch im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts eine deutlich artikulierbare religiös-konfessionelle Zugehörigkeit in der Bevölkerung heraus, die sich nicht mehr mit dem Begriff der Volksfrömmigkeit allein, aber auch nicht mit den konfessionellen
93 Alexandra Walsham hat bereits 1995 auf dieses Phänomen am Beispiel von Katholiken in England verwiesen, die sich nach Außen an den anglikanischen Ritus hielten, aber in ihren religiösen Praktiken sonst am katholischen Glauben festhielten. Alexandra Walsham, Church Papists: Catholicism, Conformity and Confessional Polemic in Early Modern England. 2. Aufl. Woodbridge 1999. 94 StAOS, Rep 100, Abschnitt 374/1 (1715).
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Kriterien der Amtskirche fassen lässt, sondern situativ spezifische Aneignungen konfessioneller Merkmale in das Alltagshandeln aufwies. a) Ein Kirchspiel im Fokus von Religionsbeschwerden Am Beispiel des von vielen religiösen und konfessionellen Spannungen geprägten Kirchspiels Ankum, das 1650 für katholisch deklariert worden war, aber nach den Zählungen von 1651 einen, wenn auch kleinen Anteil, in einzelnen Bauernschaften bis zu fünfzig Prozent, evangelischer Einwohner hatte, sollen die Grenzen religiös-konfessionell gemischten Zusammenlebens und der Umgang mit Mischehen aufgezeigt werden.95 Im Kirchspiel Ankum lebten 1651 1686 Katholiken und 317 Lutheraner.96 In dem Ort Ankum selbst lebten nach einer Erhebung aus dem Jahre 1659 über die Religionszugehörigkeit 342 Personen, die sich als katholisch und 217 Personen, die sich als lutherisch bezeichneten. 207 Personen gaben keine Konfessionszugehörigkeit an. Eine ganze Reihe von Familien lebte in religiös-konfessionell gemischter Ehe.97 Da für das Fürstbistum insgesamt eine Zunahme katholischer Einwohner im 17. und 18. Jahrhundert ermittelt wurde, kann auch von einer leichten Zunahme in Ankum ausgegangen werden, zumal das Kirchspiel einpfarrig katholisch war und sich in Konflikten darauf wiederholt berief.98 Eine Umfrage des Jahres 1732 in den 28 katholischen Kirchspielen des Fürstbistums zählte 10 564 katholische Familien, 2 390 nichtkatholische Familien und 828 konfessionell gemischte Familien.99 In den 17 protestantischen Pfarreien lebten zum Vergleich 351 Personen katholischen Glaubens. Damit war der Anteil religiös-konfessionell gemischter Familien in katholischen Kirchspielen mit fast 17 % im 18. Jahrhundert relativ hoch. Aus konfessionsverschiedenen Ehen stammten 1 143 Kinder. Dass die katholische Geistlichkeit des Fürstbistums äußerst sorgfältig um den Bestand des Katholizismus besorgt war, zeigt eine Anweisung, nach der die Pfarrer die Fragen zur Konfessionszugehörigkeit aus der Erhebung von 1737 von sich aus jährlich wieder beantworten sollten, „sodaß sofort der Religionszustand erkannt und Jahr mit Jahr verglichen werden kann“.100 Auffällig ist, dass die Einwohner sich mit dem Wechsel des Landesherrn in ihrer jeweiligen religiös-konfessionellen Zugehörigkeit gestärkt sahen und den Regie-
95 StAOS Rep 100, Abschnitt 188/7ii, fol. 740–785. 96 Die Zahl der Mischehen konnte nicht genau ermittelt werden. 97 StAOS Rep 100, Abschnitt 367/12. Tüting, Evangelisch oder katholisch, S. 47. 98 Seegrün, Das Bistum Osnabrück, S. 65–67. 99 Ebd., S. 65. Vgl. auch Nordrhein-Westfälisches Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, Bestand Kurköln VIII – Bistum Osnabrück 576/1, fol. 370 ff. 100 Seegrün, Das Bistum Osnabrück, S. 68.
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rungsantritt eines neuen Landesherrn zum Anlass nahmen, Beschwerden über den ihnen zugefügten „Gewissenszwang“ einzureichen, die teilweise langwierige Nachforschungen und Prozesse auslösten. Im Jahre 1717 wandten sich beispielsweise die im Kirchspiel Ankum lebenden evangelisch-lutherischen Einwohner mit verschiedenen Religionsbeschwerden an den protestantischen Landesherrn Ernst August II. (1674–1728).101 Aus den Jahren 1738–1739, unter der Herrschaft des katholischen Clemens August (1700–1761), liegen „Religionsbeschwerden der Katholiken gegen die Lutheraner zu Ankum, Badbergen, Fürstenau und Quakenbrück“ vor.102 Gleichzeitig lässt sich nach einem Herrscherwechsel, der bekanntlich jeweils einen Konfessionswechsel an der Spitze bedeutete, beobachten, dass in einzelnen Bereichen die capitulatio perpetua Osnabrugensis zum Vorteil der eigenen Konfessionszugehörigen ausgelegt wurde. Diese Tendenz scheint sich im 18. Jahrhundert sowohl unter Ernst August II., unter dessen Regierung beispielsweise die ständige Residenz eines Hannoverschen Gesandten zur Interessenwahrung der Protestanten unter katholischer Herrschaft vorbereitet worden war, als auch unter Clemens August, zu verstärken. Von katholischer Seite zu nennen wären beispielsweise die Verbote protestantischer Nebenschulen in katholischen Kirchspielen, die Einflussnahme auf die Kindererziehung in religiös-konfessionell gemischten Ehen103 und die Wiederaufrichtung der unter evangelischer Landesherrschaft demolierten Kreuze und Heiligenbilder. Die Akte, die unter anderem Beschwerden über die Errichtung von Kreuzen und Heiligenbilder unter Ernst August II. enthält, umfasst die Zeit bis 1735 und dokumentiert, wie nach der Regierungsübernahme von Clemens August 1728 die bereits zugunsten der Evangelischen entschiedenen Streitfragen wieder rückgängig gemacht wurden. Darauf wurden die Beschwerden von evangelischer Seite an den Reichshofrat gesandt.104 Von evangelischer Seite zu nennen wäre die strengere Handhabung der Einsegnung religiös-konfessioneller Ehen in protestantischen Kirchspielen105 im 18. Jahrhundert sowie die zunächst ungewöhnlich anmutende Überprüfung, ob der Bestand von Heiligenbildern und Kreuzen Anfang des 18. Jahrhunderts noch mit dem Status Quo von 1624 übereinstimmte.106 Eignete sich der eigene Landesherr nicht als Ansprechpartner für Religionsbeschwerden oder war eine
101 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/8 (1717–1735). 102 StAOS Rep 100, Abschnitt 369/55. 103 Beschwerde vor dem Corpus Evangelicorum und dem Reichstag StAOS Rep 100, Abschnitt 374/12 (1748–1751) Vgl. Kapitel IV. 104 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/8 (1717–1735). Verweis auf den Reichshofrat ebd., fol. 138. 105 Verbot der Trauung durch katholische Geistliche durch eine Verordnung des Konsistoriums vom 18. August 1716. 106 Vgl. unten.
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Einigung aus anderen Gründen nicht möglich, so wurde der Weg an das Corpus Evangelicorum, den Reichshofrat oder das Reichskammergericht beschritten, wie dies beispielsweise 1748 mit den Vorwürfen gegenüber der katholischen Geistlichkeit des Fürstbistums, unmündige Kinder evangelischer oder religiös-konfessionell gemischter Ehen zum Katholizismus zu verleiten, geschah,107 oder im Falle der langwierigen Auseinandersetzungen wegen der evangelischen Pfarrbestellung zu Melle, die schließlich vor das Reichskammergericht gelangten.108 Neben den bekannten Streitpunkten über die Zuständigkeit der Archidiakonate, der Schaffung eines katholischen Äquivalents zum lutherischen Konsistorium, der Konflikte um das Patronat der evangelischen Kirche in Melle und der Frage eines Simultaneums zu Fürstenau und zu Schledehausen kristallisieren sich in den Beschwerdeschriften innergesellschaftlich folgende Konflikte zwischen den Konfessionen heraus, die teilweise bis vor den Reichshofrat gelangten.109 Die Einrichtung von konfessionellen Nebenschulen in einpfarrigen Kirchspielen, die konfessionsabhängige Verteilung von Almosen unter bedürftigen Gemeindegliedern, die Einhaltung von Feiertagen, Zwang gegenüber Protestanten, an katholischen Prozessionen teilzunehmen, Druck auf Protestanten, bei Strafe kirchliche Ämter in katholischen Gemeinden zu übernehmen, die Einsegnungs- und Taufpraxis von Mischehen in lutherischen Pfarreien, die Entführung von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Familien oder Streit um Patronatsrechte, um nur die häufigsten zu nennen. Ein weiteres Phänomen ist der schon erwähnte Streit um die Errichtung von Kruzifixen, „Heiligenhäusern“ und Heiligenbildern im frühen 18. Jahrhundert, die von Protestanten als Verletzung des Paritätsgebots von 1648 gewertet wurden.110 Bei diesen Konflikten ging es allerdings nicht allein um die konfessionelle Markierung des öffentlichen Raums durch konfessionsspezifische Artefakte, sondern vor allem um die Umgangsweisen mit diesen Artefakten. Den angesprochenen Streitpunkten soll im Folgenden nachgegangen werden.
107 StAOS Rep 100, Abschnitt 374/12 (1748–1752). 108 Moser, Von der Teutschen Justiz = Verfassung, S. 812. 109 Vgl. u.a. Unfug und Ungrund; Beschwerden der Evangelischen wegen der im Kirchspiel Ankum errichteten Crucifix Bilder 1717–1735. StAOS Rep 100, Abschnitt 372/8; Acta betreffend die Religionsbeschwerden der Katholiken gegen die Lutheraner zu Ankum, Badbergen, Fürstenau und Quakenbrück 1738–1739. StAOS 100, Abschnitt 369/55. 110 Die vorhandenen und contra statum anno 1624 errichteten Heiligen Häuser, Bilder, Kreutze etc. 1716–1721. StAOS Rep 100, Abschnitt 372/6. Umfangreiche Akte mit per Rescript vom 21. April 1717 von allen Amtsmännern angeforderten Berichten aus nahezu allen Kirchspielen über den Bestand an „Bilder-Häuser, Creutze, und Heiligen Bilder im Stifte Osnabrück und in welchem Jahre dieselbe gesetzet“.
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Die Gravamina der protestantischen Einwohner Ankums über verschiedene Verhaltensweisen der Katholiken, die im Jahre 1717, einem Jahr nach Regierungsantritt Ernst August II., verfasst wurden, begannen mit den Worten „so nehmen auch wir Evangelische Gemeinde des Kirchspiels Ankum zu Eur Königl Hoheit als unserem Oberhaupt, die unterthänigste Zuflucht und klagen“.111 rtefakte, religiöse Praktiken und Umgangsweisen mit b) A religiöser Differenz Die ersten Klagepunkte führten detailliert auf, wo und durch wen Kreuze aufgerichtet worden waren. So hatten im Jahre 1706 die Katholiken Ankums auf dem Osterberg auf gemeinem Markgrund ohne die Zustimmung des damaligen Landesherrn einzuholen, ein Kreuz „wider die capitulatio perpetua“ errichtet. Drei Jahre später wurde ein weiteres Kreuz neuerlich auf dem Schwedtsberg vor Ankum auf landesfürstlicher Mark und Herrschaft errichtet. Evangelische, die sich weigerten, dem Kreuz entsprechend zu huldigen, wurden von dem Archidiakonat Kommissar Dahlmeyer mit 20 und mehr Reichstalern gebrüchtet. In seiner Verteidigungsschrift rechtfertigte Dahlmeyer sein Vorgehen. Die Brüchte sei nur als Strafe abverlangt worden, weil ein Evangelischer vor dem Kreuz gesagt habe „da stehet der Teuffel“.112 Bereits 1701, so der dritte Klagepunkt, hatte ein Bauer namens Nieman zu Ahausen „auf eigene angemaßte Autorität außerhalb seines Zaunes auf gemeinen Heerstraßen an den gemeinen Weg (zur Verschmälerung des Weges, dass ein Fuhrmann kaum vorbei kommt) eine Capelle oder ein hl Haus errichtet“. Ein gemeiner Bauer namens Schulte zu Rüssel im Kirchspiel Ankum hatte noch vor „wenigen Wochen ohne Erlaubnis einzuholen“ an der gemeinen Heerstraße ein Heiliges Haus sowohl mit einem Bildnis als auch einer Fußbank zum nieder knien errichtet. Diese Aufzählung wurde im Bericht des Ankumer Amtvogts Gerhard Nicolas Gronefeld präzisiert und ergänzt. So beschrieb er das Bild, das auf dem Weg nach Rüssel errichtet worden war als „ein Bild der heyl. Dreifaltigkeit“ und gab den Hinweis dass „drey Creutze beym Closter Bersenbrueck in anno 1683 errichtet, ein Armbloch mit einem Heiligenbild anno 1613 gesetzet“.113 Nicht allein die Bilder waren den Ankumer Protestanten ein Dorn im Auge, sondern vor allem der Druck, der auf sie von katholischer Seite ausgeübt wurde, diesen Heiligenbildern zu huldigen. So mussten Gerd Koppermann und „Brünings Ehefrau“ Strafe
111 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/8, fol. 2 ff. 112 Ebd., fol. 11. 113 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/6, fol. 48f.
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zahlen, da sie „wegen Creutzes nicht genug [...] veneration“ gezeigt hatten. Dass offensichtlich auch gezielt Rekatholisierungsmaßnahmen vonseiten des Archidiakonat-Kommissars ausgeübt wurden, zeigt der Zusatz „der Brüningsche Brüchte nachgehand deswegen auf ein geringes gesetzet, daß diese ihre Kinder sollte catholisch erziehen lassen.“114 Weitere Beschwerden der evangelisch-lutherischen Religionsangehörigen im Kirchspiel Ankum, die Ernst August II. mit der Bitte um Abhilfe in allen Punkten vorgelegt wurden, bezogen sich auf Prozessionen. Von den evangelischen Einwohnern Ankums wurde verlangt, dass sie daran nicht nur teilnahmen, sondern auch bey ihren Umbgängen ihre Heiligen herumtragen sollen, gestalt solchen sonders die Catholischen Nachbahren wann sie bey vorgewesenen Procession ihre vermeinte Heiligen getragen, die holzernen Bilder auf Evangelische Untertanen in die Häuser bringen, umb dieselbe bei nechst folgenden procession in praetendierter Ordnung gleich ihnen herumzutragen. 115
Dieses Verfahren, so die weiteren Ausführungen hätte „zu schändlicher Kränkung unserer Gewissensfreiheit gereicht“.116 An Fronleichnam mussten die evangelischen Einwohner der katholischen Prozession „als Schützen mit Flinten und Gewehren“ beiwohnen „und ihre Kreutze, Bilder mit Heiligen aus der catholischen Kirche holen und nach beendigtem Umgang wieder dahin bringen“. Und wir Evangelische müssen, „was das harteste ist“, wider „unseres Gewissen und augsburgischen Glaubens Bekenntnis vor denen hereintragenden Bildern und unter denen Messen niederfallen auch mit denen Catholischen gleicher reverence und Ceremonien mit machen“. 117 Zur Teilnahme wurden sie von dem katholischen Vogt und Untervogt zu Ankum unter Androhung von Strafzahlungen gezwungen. Ein weiterer Beschwerdepunkt betraf die katholischen Feiertage, an denen es evangelischen Einwohnern des Kirchspiels verboten wurde, ihrer Arbeit nachzugehen, wiederum unter Androhung schwerer Brüchten, mit der Begründung, dass ansonsten die katholischen Gläubigen „in ihrer devotion und gestört und geärgert würden“. Diesem Vorwurf begegneten die evangelisch-lutherischen Religionsangehörigen entrüstet mit dem Verweis, dass einige überwiegend evangelische Bauernschaften, darunter Nortrup, Talge und Vestrup „gantz separat von denen catholischen Dörfern entfernt, und zwei Stunden lang von den katholischen Kirchspiel Kirchen gelegen, im Gegenteil nah an anderen evangelischen
114 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/8 (1717), fol. 95. 115 Ebd., fol. 2 ff. 116 Ebd., fol. 2 ff. 117 Ebd., fol. 3–4.
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Dörfern als Bippen, Menslage, Battbergen situiert sind, und bey denen selben den Gottesdienst abwarten“. Katholiken könnten nicht an rein katholischen Feiertagen ein Arbeitsverbot für Evangelische aussprechen, zumal ihre Andacht aufgrund der teilweise räumlichen Entfernung wahrlich nicht gestört werde. Noch gravierender war der Vorwurf, dass die Evangelischen, die in Ankum eingepfarrt waren, unter Androhung „schwerer Brüchten und harter Strafen“ gezwungen wurden, sich zu Provisoren der Gemeinde wählen zu lassen. In den katholischen Kirchen mussten sie während der Messe den Armenbeutel herumtragen, „wodurch sie von ihren Evangelischen Gottesdienst abgezogen, und indirekte zu dem katholischen Dienst angetrieben werden“. Ernst August II. verlangte binnen 14 Tagen eine Untersuchung der vorgetragenen Beschwerden durch das Konsistorium und forderte einen Bericht des Ankumer Vogts Gerhard Nicolas Gronefeld und des Archidiakonat Kommissars Dahlmeyer an.118 Im April 1717 erging ein Befehl, den gegen Dahlmeyer vorgebrachten Beschwerden abzuhelfen, die Strafgelder zurückzuerstatten und vor allem, den Prozess nach der Ordnung des Offizialgerichts durchführen zu lassen, „der Dahlmeier aber mit der wohlverdienten Strafe andern seinesgleichen zur Vermahnung und excempel ohn ansehen der Person unaufhältlich beleget und angesehen werden möge“.119 Weiterhin wurden die Supplikanten von dem Richter zu Ankum, Cassius, verhört und die Aussagen protokolliert.120 Das Protokoll bestätigte noch einmal die Anklagepunkte. Zu seiner Verteidigung wies Dahlmeyer alle Vorwürfe als unwahr zurück, behauptete, die Evangelischen hätten der Errichtung der Kreuze zugestimmt und seien nur von dem protestantischen Gutsherr von Schledehausen, der die Supplikation verfasst hatte, vereinnahmt worden.121 Zudem sei Ankum 1624 den Katholiken zugesprochen worden, warum es dann nicht erlaubt sei, Kreuze aufzustellen? Im Übrigen würde der jetzige evangelische Provisor und mit ihm viele andere seiner Konfession protestieren, würden sie aus dieser Funktion ausgeschlossen werden.122 Ernst August II. forderte noch einmal, die evangelischen Einwohner des Kirchspiels zu schützen.123 Weiterhin wurde der Abriss aller unrechtmäßig aufge
118 Ebd., fol. 8. 119 Ebd., fol. 9–10. 120 Ebd., fol. 83–90 und 95–99. 121 Da von Schledehausen noch Jahre später wegen der ausbleibenden Zahlungen für seine anwaltliche Unterstützung der Evangelischen in Ankum klagte, scheint dieser Vorwurf ohne Grundlage gewesen zu sein. 122 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/8 (1717), fol. 24–31. 123 Ebd., fol. 33–35.
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stellten Kreuze, Heiligenbilder und Heiligenhäuser angeordnet.124 Dies erwies sich allerdings in der Praxis als äußerst schwierig, da „die donatoren, die damals die Creutze errichtet haben“ nicht mehr aufzufinden waren, niemand sich verantwortlich fühlte und weder Evangelische noch Katholiken freiwillig bereit waren, Hand anzulegen. Weiterhin war unklar, wer die Kosten für die Abnahme der Kreuze übernehmen und was mit ihnen anschließend geschehen sollte.125 Im Juli 1717 reichten sämtliche evangelischen Eingesessenen des Kirchspiels Ankum nochmals Klage bei Ernst August II. ein, dass dem Befehl zum Abriss bislang von dem katholischen Vogt Ankums nicht nachgekommen worden sei.126 In einem früheren Scheiben hatten sie sich beklagt, dass die Katholiken an den Kreuzen öffentlich beteten, was für die Evangelischen ein „Ärgernis“ darstellte.127 Der Vogt berief schließlich die evangelischen und die katholischen Bewohner Ankums in sein Haus und forderte alle auf, gemeinsam die Kreuze abzubauen und anschließend auf dem Kirchhof wieder aufzubauen. Da der Kirchhof von beiden Konfessionen als Friedhof genutzt wurde, gab es Protest von den Evangelischen, die monierten, sie würden an der Nutzung des Kirchhofs gehindert, wenn dort Kreuze aufgebaut würden.128 Der Befehl zum Abriss der Kreuze, Heiligenbilder und Heiligenhäuser wurde nochmals erneuert und der Ankumer Vogt schaltete den Rentmeister in Fürstenau ein.129 Schließlich wurden Personen benannt, die mit dem Abriss der Kreuze beauftragt wurden.130 Der Fall wurde erneut aufgerollt, als sich die Katholiken ein Jahr nach der Regierungsübernahme Clemens August bei ihrem neuen Landesherrn im März 1729 über den Abriss der genannten Kreuze und Heiligenbilder beschwerten und die Wiederaufrichtung verlangten. Die Kreuze seien von den Evangelischen demoliert worden; dass es einen Befehl zum Niederreißen von Ernst August II. gegeben habe, sei nur „falsa narrata“ gewesen. Der Geheime Rat zu Osnabrück beschloss, die Kreuze wieder aufstellen zu lassen.131 Zwei Leute, die sich als Ankumer Bauerrichter ausgegeben hatten, überreichten ebenfalls im März 1729 dem Osnabrücker Advokaten Redecker eine Schrift – wie sich später herausstellte, ohne Vollmacht – im Namen der katholischen und evangelischen Eingepfarrten, in der die Wie-
124 Im weiteren Umgang mit den Beschwerden wurden erneut die Kompetenzstreitigkeiten zwischen Archidiakonats- und Officialgerichtsbarkeit deutlich. Ebd., fol. 37–46. 125 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/6 (1717), fol. 139. 126 Ebd., fol. 141–145. 127 Ebd., fol. 148. 128 Ebd., fol. 141–145. 129 Ebd., fol. 148. 130 Ebd., fol. 152. 131 StAOS Rep 100, Abschnitt 372/8 (1729), fol. 136.
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deraufrichtung der Kreuze befürwortet wurde. Eine Untersuchung der Vorgänge durch den Ankumer Vogt Gronefeld132, der Clemens August Bericht erstattete, sowie durch den Geheimen und Kammersekretär Reuter und den Geheimen und Kammerkanzlisten Docen, ergaben allerdings, dass die Schrift weder bekannt gewesen noch eine Vollmacht ausgesprochen worden sei, im Namen der Eingepfarrten beider Konfessionen tätig zu werden. Auch Advokat Redecker wurde in die Pflicht genommen und er musste sich dafür verantworten, dass „ohne genugsame Nachricht und Vollmacht gleich also temere nahmens aller Eingessenen ex sub titulo utriusque religionis eine supplication verfertigt habe“.133 Wer die Kosten für die Wiedererrichtung der Kreuze, Heiligenbilder und Heiligenhäuser übernehmen sollte, ob, wie von den Katholiken gefordert, dafür die Befürworter des Abrisses allein verantwortlich sein sollten, oder ob dies die Aufgabe der Befürworter des Wiederaufbaus sein sollte, führte zu langwierigen Auseinandersetzungen.134 Was war der Hintergrund der groß angelegten Aktion, alle Kreuze und Heiligenbilder, die nach 1624 errichtet worden waren, in den einzelnen Ämtern zu erfassen und den Abbruch anzuordnen? Und warum belasteten diese Standbilder die Beziehungen zwischen den Konfessionen nicht nur im Kirchspiel Ankum? Vor den strittigen Kreuzen, Heiligenbildern und Heiligenhäusern konnte sowohl Ehrerbietung der katholischen Konfession durch stille Gebete, Verbeugungen, Bekreuzungen und öffentliche Predigten gezeigt werden, als auch deren Verunglimpfung in Gesten, beispielsweise durch Ehrverweigerung, und in Worten – „da hängt der Teufel“.135 Darüber hinaus konnten Evangelische gezwungen werden, der katholischen Konfession gegen ihren Willen zu huldigen, und zwar öffentlich. Es war besonders der öffentliche Charakter dieser Standbilder, der Ärgernis erregte, die ‚Inbesitznahme öffentlichen Raums‘ durch eine Konfession. Mit der Errichtung von Kreuzen und Heiligenbildern an gemeinen Heerstraßen und auf gemeinem Markgrund wurde öffentlicher Raum von einer Konfession zum Nachteil der anderen Konfession besetzt, und zwar nicht nur durch die bloße Anwesenheit der Objekte, sondern vor allem durch die Beziehung der Gläubigen zu diesen Objekten, die sowohl Identifikation als auch klare Ablehnung auslösten. Ähnlich wurde durch Prozessionen öffentlicher Raum konfessionell besetzt und
132 Ebd., fol. 111–120. 133 Ebd., fol. 123–124. 134 Den Akten liegen detaillierte Rechnungen mit Erläuterungen von Arbeitsleistung und verwandten Materialien der Handwerker bei, die die Kreuze wieder aufgebaut hatten. 135 S.o.
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konfessionelle Hegemonie erprobt, indem von Protestanten entweder gefordert wurde, an den Umgängen teilzunehmen, zumindest Ehrerbietung zu zeigen und sich damit der eigenen religiösen Selbstverortung fremden religiösen Praktiken zu unterwerfen, oder sich in ihre Häuser zurückziehen zu müssen, den öffentlichen Raum also zu verlassen. Die Protestanten hatten wenig Möglichkeiten, ihre eigenen Glaubensüberzeugungen in ähnlicher Weise öffentlich zu zelebrieren und damit sich selbst darzustellen und abzugrenzen. Zu nennen wäre das Singen von Psalmen und das Leichenverssingen. Dabei handelte es sich um den Brauch, Tote unter Begleitung des Lehrers mit dem Gesang von Schulkindern das letzte Geleit zu geben. In katholischen Kirchspielen mit einer evangelischen Minderheit bemühten sich die evangelischen Nebenschullehrer, ihrerseits das Geleit zum Friedhof bei Beerdigungen zu übernehmen.136 c) Praktiken religiöser Zugehörigkeit und Grenzformationen Die Besetzung öffentlichen Raums durch eine Konfession, die gleichsam als Abgrenzung zwischen den Konfessionen fungierte, zeigte im Kirchspiel Ankum noch weitere Ausprägungen. Motiviert durch einen radikalen evangelischen Prediger im nahe gelegenen Dorf Üffeln namens Kamph zogen in den 1730er Jahren am Sonntag eine wachsende Zahl evangelischer Einwohner die Dorfstraße entlang in den Nachbarort, um dort in der evangelischen Kirche am Gottesdienst teilzunehmen. Die Straße wurde gesäumt von Katholiken, die den Auszug der evangelischen Mitbewohner in das evangelische Nachbardorf mit Spottliedern begleiteten. Die nachfolgenden Strophen gehörten zu dem Lied „so die Ankumer Buben singen beym Durchgang der Evangelischen“137: Es hat sich jetzt so umgekehrt, da doch dem Fuchs die Höll gehört. So sucht er doch das Guth, Und frommer Menschen Bluth. Er spricht: dies ist die wahre Lehr Was liegt daran, daß ichs verkehr? Und dieses absolut Und dieses absolut
[...]
136 Karl H. Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Justus Möser als Jurist und Staatsmann. 2 Bde. Bd. 2. Osnabrück 1996, S. 874–880. 137 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/23 (1736), fol. 8.
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Ihr Menschen wehret dieser Mehr, und setzt euch nicht in die gefahr, Verkaufft nicht absolut Euer allerbestes guth. Wan ihr anhanget seiner Lehr. So seid ihr also gleich verkehrt. Und dieses absolut Und dieses absolut Ich bleib bei der uralten Lehr Und werdt von keinem fuchs verkehrt, mit leichten federn gut, mit leichten federn gut Laß fliegen über berg und tal Verführt Tauben überall tieff in der höllen gluth tieff in der Höllen Gluth Ich will bekennen überall Was ich glaub mit offenem Schall Und dieses absolut Und dieses absolut.
Der sonntägliche Kirchgang der Evangelischen endete regelmäßig in tumultartigen Auseinandersetzungen mit den Katholiken.138 Umgekehrt beklagten sich die Katholiken darüber, dass „auf öffentlichem Markt ein scandalöses Buch“ verkauft wurde, dass von dem Üffelner Prediger entweder selbst verfasst, zumindest jedoch zum Kauf empfohlen worden war, und das sich jetzt inzwischen in nahezu allen Häusern der Lutheraner befände.139 Clemens August ordnete an, den weiteren Vertrieb des Buchs zu unterbinden.140 Weiterhin hatten Lutheraner in Üffeln einen Hund an einem Kreuz befestigt. Auf Befragen, was dieses zu bedeuten habe, antworteten sie, „gleiche Strafe bleibe denen Catholischen nach ihren wohlwürdigen Verdiensten“.141 Beleidigungen und Schmähungen zogen Handgreiflichkeiten nach sich, ein für die Frühe Neuzeit weit verbreitetes Handlungsmuster, für das Rainer Walz den Begriff der „agonalen Kommunikation“ geprägt hat.142 Die Forschungsergebnisse Heinrich Richard Schmidts über Konfliktstrukturen im Berner Land, wo sich die „Wirklichkeit des Dorfes“ im „Spannungsfeld von Kon-
138 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/23 (1736). 139 StAOS Rep 100, Abschnitt 369/55 (1738–1739), fol. 12–14. 140 Ebd., fol. 20. 141 Ebd., fol. 13–14. 142 Rainer Walz, Agonale Kommunikation im Dorf der Frühen Neuzeit, in: Westfälische For schungen 42 (1992), S. 215–251.
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flikt und Frieden“ bewegte, lassen sich auch auf nordwestdeutsche Dörfer und Bauernschaften der Frühen Neuzeit übertragen.143 Der Inhalt der Beleidigung, von der die Gewalt vielfach ausging, konnte zum einen eine Störung der friedlichen Nachbarschaft verursachen, zum anderen konnte sie längst vorhandene soziale Verwerfungen artikulieren und damit nach außen sichtbar machen.144 Übertragen auf die Frage nach den Bedingungen religiös-konfessionellen Zusammenlebens konnte eine Störung des religiös-konfessionellen Status Quo durch Hegemoniestreben einer Konfession oder durch offensichtliche Radikalisierung des Glaubensbekenntnisses, die als verunsichernd und provozierend wahrgenommen wurde, Konflikte an die Oberfläche bringen, die aufgrund der konfessionellen Differenz latent vorhanden waren, und Beleidigungen und Gewalttätigkeiten provozierten. Die katholischen Einwohner des Fürstbistum Osnabrücks konterten die Beschwerden ihrer evangelischen Nachbarn mit eigenen Religionsbeschwerden, die sie nach Regierungsantritt des katholischen Landesherrn Clemens August der Landesregierung vorlegten.145 Auch in diesen Beschwerden wird deutlich, wie stark religiöse Praktiken das Alltagshandeln in religiös-konfessionell gemischten Regionen prägten, und die Wahrnehmung religiöser Differenzen Teil von Alltagserfahrungen waren. Friedliche religiöse Koexistenz schlug dann in Konflikte um, wenn in Alltagsroutinen und religiöse Praktiken eingegriffen wurde. In dem „Gravaminum Religionis Catholicae“ ging es um die Verführung von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen zum lutherischen Glauben unter dem Einfluss radikaler Prediger. In Badbergen beschwerten sich Katholiken, dass sie an katholischen Feiertagen auf Druck des Gutsherrn angehalten wurden, unter Strafandrohung zu arbeiten. In Badbergen, so die Anklage, würden Katholiken an ihren Feiertagen aus ihren Gottesdiensten geholt, um zu arbeiten, ja katholische Eigenbehörige eines evangelisch-lutherischen Gutsherrn würden sogar gezwungen, im Angesicht der Fronleichnamsprozession ihren Dienst zu verrichten. Weiter wurde moniert, dass Kirchenämter entgegen den Bestimmungen der Capitulatio Perpetua Osnabrugensis nicht paritätisch besetzt und so die Armenfürsorge und das Austeilen von Almosen zum Nachteil von Katholiken prakti-
143 Heinrich Richard Schmidt, Pazifizierung des Dorfes – Struktur und Wandel von Nachbarschaftskonflikten vor Berner Sittengerichten 1570–1800, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa. Berlin 1994, S. 91–128, hier S. 95. Für Nordwestdeutschland vgl. Holzem, Religion und Lebensformen, S. 367–381, sowie die Beispiele der vorliegenden Studie. 144 Holzem, Religion und Lebensformen, S. 375. 145 Acta betreffend die Religionsbeschwerden der Katholiken gegen die Lutheraner zu Ankum, Badbergen, Fürstenau und Quakenbrück 1738–1739. StAOS Rep 100, Abschnitt 369/55 (1738–1739).
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ziert wurde. Ebenso würden frei werdende Stellen nicht wieder mit katholischen Eigenbehörigen, sondern ausschließlich mit Anhängern der evangelisch-lutherischen Konfession besetzt werden. d) Das Abpracticiren von Kindern Die konfessionellen Spannungen nahmen jedoch auch subtilere Formen an und belasteten einzelne Haushalte, vor allem religiös-konfessionell gemischte Paare oder Witwen, die in einer religiös-konfessionell gemischten Ehe gelebt hatten. Im Februar 1736 wandten sich katholische Einwohner des Kirchspiels Ankum an Clemens August und beklagten, dass „gewisse Emissarii des Prädikanten zu Üffeln catholische Kinder so wohl heimlich, alß auch öffentlich entführen, und gedachten Predicanten zu bringen“. Dort würden sie so lange im Arrest gehalten, bis sich die Kinder zu der neuen „Secte“ bekannten.146 Eine katholische Witwe, die ihr Kind zurückholen wollte und sich mit Freunden nach Üffeln begab, wurde der Zutritt verweigert. Als die Mutter das Kind zurückforderte, hat „der predicant einen Allarm als wenn Noth und brand were im dorffe angerichtet und dadurch die Eingesessenen beisammen gebracht, welche mit Schauffeln, Forken und Gabeln“ die Witwe und ihre Freunde attackierten. Der Fall wurde dem Offizialgericht übergeben und der Vogt zu Merzen wurde angewiesen, das Kind notfalls mit Gewalt zurückzuholen. Das Konsistorium wurde ebenfalls beauftragt, sich mit dem Fall zu befassen.147 Ein weiterer Fall trug sich in der Bauernschaft Notrup zu, wo eine katholische schwangere Frau von einer Anhängerin des Üffelner Predigers bedrängt wurde, ihr zukünftiges Kind lutherisch taufen und erziehen zu lassen. Als Gegenleistung würde das Kind nicht nur in Kost und Unterhaltung gesetzt werden, sondern auch sie, die Mutter, erhielte ein „ansehnliches Stück Geld“.148 Auch den Lutheranern in Fürstenau war vorgeworfen worden, sie „kauften so zu sagen die katholischen Kinder zu sich“.149 Ein Lutheraner in der mehrheitlich evangelischen Bauernschaft Restrup hatte seine katholische Frau mit einem Messer bedroht, um sie zur Konversion zu zwingen. Die Frau floh mit ihrem Kind.150 Beklagt wurde weiter, dass Friedrich Christoph von Hammerstein (1679–1740), Herr auf Loxten, in dem mehrheitlich evangelischen Loxten, ebenfalls im Kirchspiel Ankum, in seinem
146 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/23 (1736), fol. 2–3. 147 Ebd., fol. 2–7. 148 StAOS Rep 100, Abschnitt 369/55 (1738–39), fol. 13–14. 149 Ebd. 150 Ebd.
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Haus Kinder lutherisch taufen ließ und die Verstorbenen nach Quakenbrück zur Beerdigung brachte.151 Weitere Beschwerden der katholischen Einwohner betrafen das Verhalten einiger „a.c. Hausväter“, die dem Prediger in Üffeln schon anhingen und nun ihre katholischen Dienstleute zwangen, gegen die katholischen Gebote zu verstoßen, Fleisch an Feiertagen zu essen, nicht in die Kirche zu gehen und ihnen sogar nach Üffeln zum Gottesdienst zu folgen, „welches höchst gefährlich, indem die Leuthe von selbigen Kamph wunderbarlich alßdan eingenommen, und im Glauben anfangen, laulich zu werden“.152 Im Jahre 1736 wurde auf diese Weise kurz vor der Fastenzeit der junge Heinrich Duhne, Kind katholischer Eltern, der in Ankum in einem ehemals katholischen Haushalt als Knecht gearbeitet hatte, von seinem konvertierten Herrn, „der auch seine eigene Frau lutherisch gemacht“, nach Üffeln in das Haus des Predigers gebracht. Der Versuch, das Kind zurückzuholen, blieb erfolglos. Als der Junge nun in der Kirche zu Üffeln öffentlich seinen neuen Glauben bekennen sollte, hatten sich zwei Ankumer Katholiken, die geschäftlich in Üffeln waren „auß Vorwitz“ in die Kirche begeben. Sie wollten wissen, „waß gegen den Catholischen Glauben daselbst angefangen wurde“. Sie hörten „eine Weile an das gotteslästerliche Schelten und Schmähen des katholischen Glauben Heil Gottes, auch gar allerheiligste Jungfrau und Mutter des Herrn“, als aber entdeckt wurde, dass sie Katholiken waren, seien die „lutherischen Bauern wie Löwen aufgestanden“ und hätten sie auf übelste Weise traktiert.153 Die Abwerbung oder Entführung von Kindern aus religiösen Gründen war ein weit verbreitetes Phänomen im Fürstbistum Osnabrück, dass schließlich die Aufmerksamkeit des Corpus Evangelicorum erlangte und eine erneute Debatte über die Religionsmündigkeit von Kindern entfachte,154 und ist für die Mitte des 18. Jahrhunderts detailliert überliefert. Involviert waren nicht nur Familienangehörige, sondern auch Klöster, Waisenhäuser und Gutshöfe, und die Konflikte gingen in vielen Fällen an den Reichshofrat.155 Unter Anweisung der Obrigkeit wurde oft ein ganzes Dorf involviert, um den Aufenthaltsort entführter Kinder ausfindig zu machen und ihre Gewohnheiten zu beobachten, um sie im richtigen Moment abzufangen und zu den rechtmäßigen Eltern oder Vormündern zurück
151 Ebd. 152 Ebd., fol. 12–14. 153 Ebd., fol. 12–13. 154 StAOS Rep 100, 374/12 (1748–1752). 155 Zu den Kindsentführungen im Fürstbistum Osnabrück im Kontext religiös-konfessioneller Konflikte wird ein eigener Aufsatz erscheinen. Vgl. auch Kapitel V sowie Ute Küppers-Braun, „Kinder-Abpracticirung“: Kinder zwischen den Konfessionen im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 49 (2001), S. 208–225.
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zu bringen. So wies in einem Entführungsfall eines Jungen, dessen verwitwete katholische Mutter sich weigerte, das Kind evangelisch zu erziehen, die Landesregierung in Osnabrück den Gerichtsschreiber in Bramsche an alles vor Ergreifung des Sohnes unter der Hand zu erkunden (...) sondern auch hierbey zugleich wie in dem letzteren Falle (...) man deren Sohnes am besten habhaft werden, und ob dessen Ergreifung allenfalls dann am füglichsten geschehen könne, wenn derselbe auf dem Schulwege sich befindet.156
Als der genaue Aufenthaltsort von Mutter und Sohn nicht ausfindig gemacht werden konnte, aber verschiedene Anzeichen darauf hinwiesen, dass sich beide in Damme befanden, wurden einzelne Dorfeinwohner aus Bramsche und aus Nachbarorten eingespannt, die ihre Kontakte nutzen sollten, um das Kind aufzuspüren, so ein Kaufmann, der nach Damme zum dortigen Krämer gehen und „unter Vorwand etwas kaufen und den Aufenthalt von Sohn und Mutter erkunden“ sollte.157 Schließlich wurde bekannt, dass Mutter und Sohn sich in dem Dorf Holdrup im benachbarten Münsterland aufhielten. Der Anweisung der Landesregierung an den Vogt in Badbergen, das Kind mit Schützen zu ergreifen und nach Badbergen zu bringen, entgegnete der evangelische Pastor Bock, der ebenfalls in die Suche einbezogen worden war, dass „eine größere Mannschaft nötig sei, da das Dorf Holdrup durchgängig und eifrig katholisch sei und mit Begründung auf münsterischem Grund Widerstand leisten würde“.158 Nach dieser Warnung kam prompt die Anweisung der Landesregierung, eine bessere Gelegenheit abzuwarten. Am besten solle die Mutter in Ruhe gelassen werden, dann würde sie „dreister“ werden, das Kind irgendwann wieder zu sich holen und dann könne man es immer noch ergreifen. In anderen Fällen, in denen die Gesuchten ins benachbarte Niederstift Münster entwichen waren und sich damit außerhalb der Jurisdiktion des Fürstbistums befanden, wurde die „Münsterische Regierung“ angeschrieben und um Amtshilfe gebeten.159 Auch noch in den 1770er Jahren konnten sich ursprünglich geringfügige religiös-konfessionelle Konflikte wie ein Flächenbrand ausbreiten, ganze Dörfer in Aufruhr versetzen und tumultartige Szenen auslösen.
156 StAOS Rep 100, 374/19 (1769), fol. 29–30. 157 StAOS Rep 100, 374/19 (1769), fol. 31–35. 158 StAOS Rep 100, 374/19 (1771), fol. 49–51. 159 StAOS Rep 100, 374/19 (1770), fol. 64.
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e) Ein Dorf in Aufruhr um die religiöse Zugehörigkeit von Kindern Ein solcher Flächenbrand entwickelte sich aus dem Streit des evangelisch-lutherischen Johann Heinrich Silkmann aus dem Kirchspiel Gehrde mit einer Kolonin namens Flagge aus der Bauernschaft Bokel im nahen Kirchspiel Ankum. Silkmann hatte seinen Sohn direkt nach dessen Konfirmation in den Dienst der katholischen Flagge gestellt, da er den Unterhalt für sein Kind nicht aufbringen konnte. In den ersten anderthalb Jahren hatte sich der Sohn regelmäßig am Sonntag auf den Weg nach Gehrde begeben, wo er die evangelische Kirche besuchte und mit seinen Eltern am Abendmahl teilnahm. Als er allerdings über mehrere Monate ausblieb und bekannt wurde, dass der Junge mit der Kolonin in die katholische Kirche nach Ankum ging, riet der Pfarrer zu Gehrde, den Jungen von der Kolonin weg und zu evangelischen Leuten in den Dienst zu geben. In einem späteren Brief an die Landes- und Justizkanzlei, in dem er die Vorfälle schilderte, verwies der lutherische Pfarrer auf die schwierige Situation der Evangelischen unter der letzten Regierung von Clemens August und gab als Beispiel den in einer Sammelbeschwerde auch vor das Corpus Evangelicorum gelangten Fall des lutherischen Kramer in Quakenbrück an.160 Der Vater folgte dem Rat und versprach, seinen Sohn nach Ablauf des zweiten Jahres in den Dienst des evangelischen Christian Brüning, ebenfalls wohnhaft in Bokel, zu geben. Als der Sohn sich weigerte, die Dienststelle zu wechseln und dem Vater beständig auswich, wandte dieser sich schließlich an die Regierung in Osnabrück mit der Bitte, den Sohn unter Berufung auf seine väterliche Gewalt zurückzuerhalten. Schließlich willigte der Junge bei einer Begegnung mit dem Vater auf offener Landstraße in der Nachbarschaft von Bokel ein, zu folgen, als „eine Menge Menschen herbey [kamen], und unter anderem auch Friedrich Dabbelhuf und des Bischofs Knecht, aus der Bauernschaft Bokel“, die den Jungen entrissen.161 Die nachfolgende Vernehmung durch den landesherrlichen Richter Hartmann in Ankum ergab, dass der Junge wirklich mit dem Vater gehen wollte. Dabbelhuf gab an, nur auf Zurufen des Knechts, den er gar nicht kannte, geholfen zu haben. Der Knecht selbst hatte sich bereits nach Holland abgesetzt. Kolonin Flagge sagte aus, dass Brüning öfter mit Männern in ihr Haus käme und sie bedrohte, damit sie den Jungen auslieferte. Das Kind sei bereits mit einer Peitsche geschlagen worden. Die Vorwürfe, den Jungen zur katholischen Kirche nach Ankum gegen seinen Willen mitzunehmen, wies sie zurück. Der Junge sei mündig und habe also religiöse Gewissensfreiheit. Ihm stünde völlig frei, welche Kirche er besuchen wollte.
160 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/40 (1771), fol. 23–28. 161 Ebd., fol. 8–9.
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Anfang des Jahres 1772 war der Junge wieder verschwunden, angeblich in das katholische Kirchspiel Voltlage, wo er „bei dem römischen Prediger, dann an anderen Orten mit Hilfe von Päpstlern sich aus dem Staube“ machte.162 Der Richter Hartmann riet Silkmann, sich ruhig zu verhalten, damit sich der Junge in Sicherheit wiege, dann könne man seiner habhaft werden. Aus Osnabrück kam Ende März die Anweisung, den Jungen in der Nähe von Voltlage mit Hilfe von Schützen aus dem lutherischen Üffeln zu ergreifen und nach Ankum zu bringen. Dieser Versuch endete in einem Tumult, als das ganze Dorf sich gegen die vier Schützen wandte, um den Jungen zu verteidigen und seine Auslieferung zu verhindern.163 Einen Monat später kam es zu gewalttätigen Unruhen in Ankum, als einige „vermummte Straßenbuben“ das Fenster am Haus des Richters Hartmann einschlugen und ihn misshandelten. Zu dem Zeitpunkt waren über „hundert fremde Leute“ in Ankum, die an der Wallfahrt zum Kloster Rulle teilnehmen wollten. Es wurde nie geklärt, ob Ankumer Einwohner im Schutze dieser Menschenansammlung die Übergriffe auf den Richter verübt hatten, oder ob die Wallfahrer selbst gegen den Lutheraner vorgegangen waren. Nach diesen Vorfällen wurde ein Prozess gegen beide Dörfer angestrengt trotz Einwände angesichts der zu erwartenden Gerichtskosten und der Problematik, die Einwohner zweier ganzer Dörfer anzuklagen. Die Land- und Justizkanzlei forderte eine detaillierte Aufklärung über die „ungeheuerlichen“ Vorfälle.164 Zunächst wurde das Dorf Ankum angeklagt, während der Fall Voltlage bis auf weiteres ruhte. Nach Aktenlage lag die Beteiligung einer großen Menge von Dorfbewohnern auf der Hand, es konnten allerdings keine einzelnen Schuldigen ausgemacht werden. Der Untervogt wurde mit einer Strafe von zehn Talern belastet, weil er sich geweigert hatte, auf Befehl des landesherrlichen Richters Hartmann sofort Schützen bereit zu stellen. Das ganze Dorf Ankum sollte bestraft werden, um ein Exempel zu statuieren. Als Kritik an dem Verfahren laut wurde, wurden die Akten an die Juristische Fakultät nach Erfurt geschickt, die ihr Urteil am 2. Mai 1775 bekannt gab. Der Klage gegen ein ganzes Dorf wurde nicht stattgegeben und das Vorgehen des öffentlichen Anklägers als eine „unbefugte und bedenkliche Freiheit“ getadelt, da er in den Akten sämtliche Einwohner zu Rebellen erklärt habe. An dem Strafmaß für den Untervogt wurde festgehalten. Das Verfahren zog sich noch zwei weitere Jahre wegen Streitigkeiten über die angefallenen Gerichtskosten hin. Die
162 Ebd., fol. 32–33 (1772). 163 Ebd., fol. 38–47. 164 Ebd., fol. 62–73 (Januar–Oktober 1773).
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Einwohner Ankums hatten sich für unfähig erklärt, die Gerichtskosten von 150 Talern bis zum nächsten Michaelis aufzubringen.165 f) R eligionskonflikte in der Familie und Streit um Schulen als Orte religiöskonfessioneller Formung Weitere Spannungen zwischen Katholiken und Evangelischen zeigten sich im Fürstbistum Osnabrück in der zweiten Hälfte des 17. und im 18. Jahrhundert im Streit um die Nebenschulen, die vor allem von evangelischen Einwohnern oft auf Kosten von Privatleuten in einpfarrigen katholischen oder in doppelpfarrigen Kirchspielen gegründet wurden. Nach einem „Verzeichniß aller evangelischen Schulen, so dermahlen in den pure catholischen Kirchspielen des Hochstifts Osnabrück befindlich sind“, dass 1772 vom evangelischen Konsistorium verfasst worden war, gab es drei katholische Nebenschulen in nominell rein evangelischen und 19 evangelische Nebenschulen in nominell rein katholischen Kirchspielen.166 Insgesamt wurden in zwölf Kirchspielen Nebenschulen ermittelt. Über die Existenz dieser Nebenschulen beschwerten sich vor allem die Katholiken, die hierin einen Verstoß gegen die Capitulatio Perpetua Osnabrugensis sahen. Zudem würde das Einkommen der eigentlichen Lehrer durch diese Nebenschultätigkeit geschmälert werden. Die evangelisch-lutherischen Religionsangehörigen widersprachen dem und konterten und in der That durch die Evangelische Schulen denen Catholischen nichts anders abgehet als etwa die Gelegenheit ihre Kirche durch Abgang Evangelischer Informatorum und freyer adhibierung dieser oder jener in denen reichs-constitutionen und dem Religions- so wol als Profan-Frieden verbottener Mittel nicht so füglich und frey der Zahl nach vermehren zu können.167
Im Kirchspiel Ankum spitzte sich im 18. Jahrhundert die Auseinandersetzung um die evangelische Nebenschule in Talge, einer großen und weitläufigen, fast vollständig evangelischen Bauernschaft an der Grenze zum doppelpfarrigen Badbergen zu. Bereits unter „lothringischer Regierung“168 hatte dort ein „christlich frommer Jüngling namens Berend Schone“ gemeinsam mit „unserem Pastorum A.C. Battbergensium“ den Kindern evangelischer Eltern Lesen und Beten
165 Ebd., fol. 104–105 (Dezember 1775). 166 StAOS Rep 100, Abschnitt 368/36, fol. 191 f.; Rep 110 II, 705, fol. 75 f. Vgl. auch Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Bd. 2, S. 870–871. 167 Unfug und Ungrund, S. 67. 168 Unter der Landesherrschaft des katholischen Karl von Lothringen, 1680–1715, der von 1698 bis 1715 das Fürstbistum regierte.
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gelehrt und sie im lutherischen Katechismus unterwiesen.169 Dieser Praxis war von dem katholischen Geistlichen in Ankum nicht widersprochen worden. Jüngst hatte nun der Archidiakonat Kommissar Dahlmeyer den Eingesessenen in Talge bei Strafe verboten, ihre Kinder weiter zu Schone in den Unterricht zu schicken und stattdessen verlangt, dass die Kinder in einer katholischen Bauernschaft die Schule besuchten. Begründet wurde diese Forderung damit, dass Ankum nach 1648 den Katholiken zugesprochen worden war und die Errichtung evangelischer Nebenschulen die Capitulatio perpetua Osnabrugensis verletze. Dieses Vorgehen brachte der evangelische Pastor Hickmann aus Badbergen am 14. Dezember 1718 vor dem Konsistorium zur Anzeige und bat darum, die evangelische Schule in Talge bestehen zu lassen. Andernfalls würden die Kinder zum katholischen Glauben verleitet werden und lernten, katholische Gebete zu sprechen. Im evangelischen Brahmsche werde auch eine katholische Nebenschule toleriert.170 Die Klage gelangte vor Ernst August II., der sich bestätigen ließ, dass Berend Schone dem evangelisch-lutherischen Glauben angehörte. Am 18. Januar 1719 wurde Schone als evangelischer Schulmeister auf eigene Kosten der evangelischen Eingesessenen zu Talge bestätigt „wie es in der Vergangenheit auch schon üblich war“.171 Allerdings wurde dennoch ein katholischer Schulmeister namens Steffen Eilermann nach Talge geschickt. Er war auf dem katholischen Meyerhof untergekommen und sorgte schnell für Unruhe, da er offensichtlich versuchte, Kinder aus religiös-konfessionell gemischten Ehen zum Katholizismus zu bewegen. Zu diesen Kindern zählte auch die älteste Tochter auf dem Meyerhof – die Meyerin selbst war evangelisch. Vor der Heirat vor ungefähr dreizehn Jahren hatte die inzwischen verstorbene Äbtissin des Klosters Bersenbrück, dem der Meyerhof „eigen ist“, und der vorige Pater Dorn die damalige Braut bedrängt, katholisch zu werden. Auf Zureden des Ankumer Vogts hatte sie schließlich vor der Eheschließung eingewilligt, katholisch zu werden, da er ihr gesagt hatte, sie müsse das Versprechen hinterher ja nicht halten. Später gestand sie, dass sie auch nie das Bedürfnis gehabt hätte, ihren Glauben zu wechseln. Auch wenn sie selbst nicht weiter zur Konversion gedrängt wurde, so wurde dennoch Druck auf die Kindererziehung ausgeübt. Die „jetzige“ Äbtissin von Bersenbrück, Frau von Moltke, hatte der Meyerin vorgeworfen, dass sie ihre Kinder zwinge, evangelischlutherisch zu werden. Das dürfe sie nicht, sondern die Kinder müssten den freien Willen zur Entscheidung haben. Auch die Geistlichen zu Ankum mühten sich
169 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/17 (1718), fol. 5–7. 170 Ebd. 171 StAOS Rep 100, Abschnitt 378/1–88 (1730), fol. 26–27.
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zunehmend um das älteste der Kinder, ein zehnjähriges Mädchen, und ließen nichts unversucht, das Kind zum katholischen Glauben zu ziehen und nach Ankum in die katholische Kirche zu locken, wo es das Abendmahl empfangen sollte. Als sich die Eheleute weigerten, dem Drängen nachzugeben, wurde ihnen gedroht. In dieser Situation wandte sich die Meyerin am 27. Juni 1721 „aus Antrieb meines Gewissens“ mit einer Bittschrift an den Landesherrn.172 Sie beteuerte, im Einvernehmen mit ihrem Mann, ihren Kindern „den Grund des wahren christlichen Glaubens beyzubringen“, indem sie dieselben fleißig zu häuslichem Gebet anhielt, in der lutherischen Lehre unterweisen lasse und mit ihnen regelmäßig die evangelische Kirche im benachbarten Gehrde besuchte. Ihre Kinder, vorab ihre älteste Tochter zeigten „eine herzliche Neigung und Begierde zur Evangelischen hingegen einen Widerwillen gegen den catholischen Glauben“. Des Weiteren sei es „bekanntes Herkommen, daß wie die Söhne dem Vater, so die Töchter der Mutter in puncto religionis folgen“. In ihrer Supplikation bat die Meyerin den Landesherrn Ernst August darum, die Beamten in Fürstenau anzuweisen, ihr beizustehen und dafür zu sorgen, dass „ich in fernerer Glaubens mäßiger Erziehung nicht behindert, noch meine Tochter von Annehmung christ-evangelischer Religion directe oder indirecte abgehalten, sondern ihr und mir deshalb die ohngezwungene Gewissensfreyheit gelassen werden solle“. Weiterhin forderte sie, dass eine entsprechende Verordnung „von deren Cantzeln zu männiglicher Warnung und Nachricht publiciren zu lassen gnädigst gehalten mögte.173 Per landesherrlichem Rescript wurde der Rentmeister zu Fürstenau, V inthius, angewiesen, einen ausführlichen Bericht über die Vorwürfe zu erstellen.174 Nach diesem Bericht vom 8. August 1721, der auf der Grundlage von Verhören erstellt worden war, hatte sich die Situation mit der Ankunft des neuen katholischen Schulmeisters, der auf dem Meyerhof in Kost stand, verschlechtert. Der Schulmeister Eilermann setzte vor allem dem Vater öffentlich zu und stiftete Streit zwischen den Eheleuten. In einem Wirtshaus griff er Meyer an und warf ihm vor „er thäte wie ein Schelm, daß seine Tochter mit der Mutter nach Gehrde ginge und sich in der evangelischen Religion unterweisen würde“.175 Da keine Eheverträge über die Kindererziehung vorlagen, jagte ein Gerücht das andere. Der neue Schulmeister hatte verbreitet, dass in „dero Zeit zu Berßenbrück gerehdet worden, wenn seine [des Meyers] Frau bey ihrer Religion belassen
172 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/17 (27. Juni 1721), fol. 8–9. 173 Ebd. Die Bittschrift der Meyerin wurde durch von Schledehausen aufgesetzt, der evangelische Eingesessene des Kirchspiels Ankum häufiger in Rechtsstreitigkeiten vertrat. 174 Ebd., fol. 10. 175 Ebd., fol. 15–16.
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würde, die Kinder allesamt ihm in seiner Religion folgen mögten“. Auf diese Darstellung berief sich Meyer später vor Gericht, worauf ihm entgegnet wurde, „ob ihm deponenti nicht wohl bekannt gestalten es allhier im Hochstifte gebräuchlich und bekandtes Herkommens seye, daß die Söhne dem Vater, die Töchter der Mutter in puncto Religionis folgen“.176 Meyer gab zu, diese Regel zu kennen und stritt ab, seine älteste Tochter zum Katholizismus zwingen zu wollen. Die Vorwürfe gegen den Schulmeister Eilermann bestätigte der evangelischlutherische Vater der Meyerin, Lübbert Gerberding und wies dabei die Darstellung zurück, dass seine Tochter vor ihrer Heirat ihre Konversion in Aussicht gestellt habe, obwohl ihr gesagt worden war, dass sei nur eine Formsache, noch, dass sie der katholischen Erziehung aller Kinder zugestimmt habe. Nach seinen Aussagen hätte der Schulmeister zu Talge das älteste Kind zur katholischen Religion überreden wollen und habe es mit nach Ankum zur Kirche genommen. Er hätte auch gehört, dass Eilermann auf seinen Schwiegersohn heftig gescholten und gefluchet habe, daß seine Frau das Kind mit sich zur Kirche nehme; er glaube dies, weil einer seiner Heuerleute, Michell, katholisch, mit einer evangelischen Frau verheiratet, gleiches von Eilermann erlebt, wenn dieser mit seiner Frau nach Badbergen zur evangelischen Kirche gehe
und der Schulmeister ihm vorwarf „willst du wiederumb mit deinem Weibe nach dem Teuffel gehen“.177 Der besagte Michell bestätigte die Vorwürfe und fügte hinzu, dass Steffen Eilermann oftmalen ihn respondenten mit Ungestüm bei der Schulter gefaßet, und gesagt, Du Kerl willst Du nun auch zum Teuffel, du magst lieber nach einem Schweinestall als zu Lutherischen Kirche gehen, welche Hohnreden er respondens oft und vielmahlen von Steffen Eilermann hören müssen.178
Eilermann weigerte sich zunächst, der gerichtlichen Vorladung durch den Rentmeister zu Fürstenau, Vinthus, zu folgen und erschien erst bei der dritten Vorladung. Dabei verwies er auf einen Brief, in dem er alles Entscheidende niedergelegt habe. In seinem Schreiben stritt er ab, die älteste Tochter auf dem Meyerhof in Glaubensfragen bedrängt zu haben. Gleichzeitig wiederholte er, dass die Äbtissin von Bersenbrück als Gutsherrin nicht akzeptieren wollte, dass eine Evangelische auf den Meyerhof ziehe. Da die Braut nicht zur Konversion bereit gewesen
176 Ebd., fol. 15. 177 Ebd., fol. 18. 178 Ebd., fol. 20.
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wäre, „so sollten die Kinder alle Maß Gott im Ehestand bescherde mit dem Vatter gehen und der Meyersche ihr Vater habe handt darauff gethan“.179 Dem Drängen der Geistlichen aus Ankum, diese Absprache schriftlich durch einen Ehevertrag festzuhalten, wurde allerdings nicht nachgekommen. Im September 1721 schaltete sich das Konsistorium ein und beschloss, dass an der Einstellung des evangelischen Schulmeisters Schone festgehalten werden sollte.180 Gleichzeitig forderte Konsistorialrat Weselau, von unparteiischen Richtern auf der Grundlage von Art. 26 der Capitulatio perpetua Osnabrugensis eine Resolution zu verfassen, die endgültig klären sollte, ob die Errichtung evangelischer Nebenschulen in katholischen Kirchspielen und umgekehrt rechtmäßig sei.181 Dieses Gutachten sollte erst fünfzig Jahre später von Justus Möser verfasst werden, doch auch seinen Vorschlägen für einen Vergleich zur endgültigen Beilegung langjähriger konfessioneller Streitigkeiten im Fürstbistum Osnabrück war kein Erfolg beschieden.182 Die Situation in Talge beruhigte sich allerdings nicht. Im Oktober 1721 hatte der evangelische Pfarrer aus Badbergen, Hickmann, den Schulmeister Eilmann „alß ein Ertz Papist und Eiferer mit Ohnverstand“ beschrieben, der entgegen aller Abmachungen die Kinder evangelischer Eltern nur „in Lesen und sonsten zu unterweisen, dennoch bißweilen Gelegenheit fin det, selbigen unsre Lehre und Gottesdienst verhasst zu machen“. Aufgrund der Nähe würden evangelische Eltern ihre Kinder zu Eilmann in die Schule schicken. Es sei jedoch der Wunsch aller Evangelischen, einen evangelischen Schulmeister einzusetzen, „damit selber nicht allein lesen oder schreiben, sondern auch Evangelisch beten und Catechismum Lutheri lernen, und nach gemach tüchtig werden mögten, in benachbarte Aug Conf Schulen und Kirchen zur heil Communion admittiret werden“. Hickmann selbst hatte versucht, auf die Evangelischen in Talge einzuwirken, damit sie keine Mühe scheuten, „die Kinder außer Gefahr der Verführung“ zu setzen.183 Gleichzeitig wuchsen die Spannungen vor allem auf dem Meyerhof ins Unerträgliche. Nach den Eingaben, die inzwischen der Vater der Meyerin im Februar und März 1722 an den Landesherrn schickte, wurde sie weiter von dem Schulmeister bedroht und belästigt und schließlich von ihrem Ehemann mit „ohn christlichen und barbarischen Schelten und ohn erträglichen Schlägen“ traktiert
179 Ebd., fol. 21–22. 180 Ebd., fol. 28 (18. September 1721). 181 Ebd., fol. 24 (11. September 1721). 182 Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik, Bd. 2, S. 870. 183 StOAS Rep 100, Abschnitt 375/17 (8. Oktober 1721), fol. 38.
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und aus dem Haus gejagt, so dass sie „in Gärten und benachbarten Häusern“ Zuflucht nehmen musste.184 Diese Form von Gewaltanwendung war keine Seltenheit in religiös-konfes sionell gemischten Familien, wenn der Vater seine eigene religiöse Zugehörigkeit nicht in der Familie durchsetzen konnte und richtete sich nicht nur gegen die Ehefrau, sondern auch gegen die Kinder. Allerdings lag die Ursache der Gewaltanwendung häufig nicht primär in der Beziehung zwischen den Eheleuten oder zwischen Eltern und Kindern, sondern wurde häufig von außen in die Familie hinein getragen.185 Eine zentrale Rolle spielte dabei der Ehrverlust des Ehemanns, der sich öffentlich durch Beleidigungen und Schmähreden vollzog. Wurde ein Mann wie Meyer im Wirtshaus, einem der zentralen Orte der überwiegend männlichen Dorföffentlichkeit, als Schelm beschimpft verbunden mit dem Vorwurf, er würde sich der Religionszugehörigkeit seiner Ehefrau unterwerfen und sie mit den Kindern in die evangelische Kirche des Nachbarorts ziehen lassen, so provozierte dies Gegenreaktionen und der betroffene Ehemann versuchte, den Erwartungen an seine Rolle als Hausvater und als Katholik gerecht zu werden und die eigene Konfession gegenüber seinen Kindern und seiner Ehefrau für alle im Dorf sichtbar durchzusetzen.186 Meyer, der auf der einen Seite in seiner unmittelbaren dörflichen Umgebung in Talge Angehöriger einer konfessionellen Minderheit war, auf der anderen Seite allerdings als Katholik der ‚offiziellen‘ Konfession des Kirchspiels angehörte und hinter sich das Kloster Bersenbrück als auch die Geistlichkeit in Ankum wusste, erfuhr durch die Anwesenheit des katholischen Schulmeisters in Talge Unterstützung. Doch es war eben dieser Schulmeister, der ihn vor der Dorföffentlichkeit bloß stellte, weil er die katholische Konfession in seiner Familie nicht durchsetzte. Offenbar war in diesen dörflichen Konflikten die Herstellung der männlichen Ehre und der Ordnung im Haus wichtiger, zumindest wenn ein Fall so weit eskaliert war, als mögliche Forderungen, sich der ‚Mehrheitskonfession‘ des Ortes, die von den anderen evangelischen Anwesenden im Wirtshaus repräsentiert wurde, anzuschließen. Die Konfessionsgrenzen zwischen Evangelischen und Katholischen im Kirchspiel konnten durch andere Wertorientierungen wie die der männlichen Ehre punktuell überlagert werden. Insgesamt lässt sich für das Fürstbistum Osnabrück im 17. und im 18. Jahrhundert festhalten, dass aus einer Reihe von Gründen die räumlichen Grenzen zwischen den Konfessionen in der Wahrnehmung der Bevölkerung nicht eindeutig
184 Ebd., fol. 39f. 185 Für weitere Beispiele vgl. Kapitel IV. 186 Detailliert zur Frage väterlicher Gewalt und christlichem Hausstand Kapitel IV
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bestimmt waren, und dass das religiös-konfessionelle Zusammenleben gestört wurde durch Verletzungen des konfessionellen Gleichgewichts im Alltag. Das Problem der räumlichen und religiösen Grenze ergab sich in erster Linie daraus, dass die konfessionelle Zuordnung der einzelnen Kirchspiele durch den Westfälischen Friedensvertrag und die Capitulatio perpetua Osnabrugensis vielfach nicht mit der sozialen Wirklichkeit übereinstimmte. Grenzen wurden in alltäglichen Praktiken permanent neu hervorgebracht, manifestierten sich in dem Bewusstsein der Zugehörigkeit zu einer Religion in Abgrenzung zu anderen Religionen, waren aber nicht unüberwindlich. Provoziert wurden schärfere Abgrenzungsstrategien, wenn es um die Bewahrung der eigenen Besitzstände und damit der eindeutigen Zugehörigkeit und der damit verbundenen religiösen Praktiken ging. Die Capitulatio perpetua Osnabrugensis bedeutete die Richtschnur für das, was als Recht und was als Unrecht angesehen wurde. Gleichzeitig wurde von beiden Konfessionen versucht, die Bestimmungen der Capitulatio perpetua Osnabrugen sis zu Gunsten der eigenen Konfessionsanhänger auszulegen, wie am Beispiel des „Kreuzstreits“ oder der Konflikte um die Nebenschulen gezeigt werden konnte. Konflikte waren hier in dem Moment entstanden, in dem eine der beiden Konfessionen durch das Verhalten der anderen beeinträchtigt wurde. Im Falle der Kreuze und Heiligenbilder schürte die konfessionelle Vereinnahmung öffentlichen Raums und der Zwang zur Ehrerbietung nach katholischem Ritus Streit, im Falle der Schule in Talge die Versuche, Kinder einer Mischehe zum Katholizismus zu bewegen sowie im Unterricht Angriffe auf die andere Konfession einfließen zu lassen. Subtilere Formen, das konfessionelle Gleichgewicht zu stören, lagen in Versuchen beider Konfessionen, auf unterschiedlichste Weise Kinder vor allem aus Mischehen der eigenen Konfession zuzuführen187, von evangelischer Seite die Feiertage der Katholiken zu verletzen, von Seiten der Katholiken die evangelischen Mitbewohner zur Teilnahme an katholischen Prozessionen und Zeremonien zu zwingen, Dienstleute anderer Konfession am Gottesdienstbesuch und am Katechismus-Unterricht zu hindern und schließlich die Praxis, die den Evangelischen in Badbergen, Fürstenau und Quakenbrück vorgeworfen wurde, namentlich katholische Bedürftige bei der Almosenvergabe zu benachteiligen und die Aufnahme ins Hospital von einem Konfessionswechsel abhängig zu machen.188 Eine besondere Rolle spielten Gutsherren und Klöster, die ihre Eigenbehörigen oder deren Kinder zur Annahme der eigenen Konfession zwingen wollten und
187 Weitere Beispiele unten. 188 Akten betreffend die Religionsbeschwerden der Katholiken gegen die Lutheraner zu Ankum, Badbergen, Fürstenau und Quakenbrück (1738–39). StAOS Rep 100, Abschnitt 369/55.
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sich dabei auf die Osnabrücker Eigentumsordnung beriefen.189 Dass bei der Aus wahl der Eigenbehörigen allerdings wirtschaftliche Interessen konfessionelle Interessen überlagern konnten, zeigt die Klage der Katholiken, dass im Kirchspiel Badbergen liegende Stätten von Eigenbehörigen, wenn sie vakant wurden, nicht nur von katholischen Gutsherren, sondern auch vom Domkapitel, Geistlichen und kurfürstlichen Beamten „des Gelds wegen mit a.c. Verwandten, die allda reicher, denn die Catholischen wieder besetzet, welche a.c. seithen vice versa nicht geschiehet“.190 Interessant ist die Rechtfertigung dieser Praxis durch den evangelischen Pastor Badbergens, der argumentierte, dass das Kirchspiel in ungefähr fünfzig Jahren mehrheitlich katholisch sein würde, wenn die katholischen Gutsherren ihre vakanten Stätten wiederum mit katholischen Eigenbehörigen besetzen würden. Geht man davon aus, dass Religionskonflikte in einem religiös-konfessionell gemischten Dorf, in dem sich die Spannungen, die im Fürstbistum insgesamt zu beobachten sind, verdichteten, zwar latent vorhanden waren, aber nur punktuell ausbrachen, so bleibt zu fragen, was die evangelischen und katholischen Bewohner eines Dorfes veranlasste, den nachbarschaftlichen Frieden durch die Störung des religiös-konfessionellen Gleichgewichts aufzukündigen. Abgesehen von den skizzierten Rahmenbedingungen wurde am Beispiel Ankums in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts deutlich, dass eine von katholischen Amtsträgern und von evangelischer Geistlichkeit ausgehende Radikalisierung Spannungen zwischen den Konfessionen erzeugte, die sich innergesellschaftlich fortsetzten. Ein Grund dafür, dass sich diese konfessionellen Spannungen entladen konnten, lag darin, dass die konfessionellen Grenzen in der Praxis vielfach noch unscharf waren, dass sie durch soziale Praktiken verletzbar und veränderbar waren, und es letztlich noch keine Garantie für ihren Bestand gab. Erst in dem Moment, in dem Versuche zur Veränderung der konfessionellen Verhältnisse, zur Verschiebung von Grenzen, aufgegeben wurden und sich klare konfessionelle Milieus herausbilden konnten, die sich in ihrem Bestand nicht gefährdet sahen, gingen auch die konfessionellen Spannungen zurück. Wie stark die Geschichte des Fürstbistums Osnabrück nach 1648 geprägt war von dem Bewusstsein, dass die konfessionellen Grenzziehungen nicht die giös-konfessionelle Wirklichkeit widerspiegelten und Korrekturen bedurfreli ten, zeigt sich in den nachfolgenden Ausführungen von Möser. In einer vierzehn Punkte umfassenden Liste verschiedener Konfessionsstreitigkeiten erwähnte er
189 Vgl. Kapitel II. 190 StAOS Rep 100, Abschnitt 369/55, fol. 10–11.
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unter anderem das Problem der ungleichen Kirchenteilung von 1650 und die sich daraus ergebenden Spannungen zwischen den Konfessionen.191 Nach Möser hat man diesen Theilungsrezess aus einem doppelten Grunde angefochten, als einmahl, weil er ohne Zuziehung des hauses brschw. lüneb. bloß durch einige, von dem Cardinal Franz Wilhelm dazu ernannte Commissarios utriusque religionis gemacht; und dann auch weil die evangelischen dadurch merklich verkürzet worden, wes wegen man auch nachwärts im Jahr 1678 eine Verbesserung deselben, jedoch nur in dem Kirchspiele Melle vornehmen müsse.192
Pläne, die evangelische Seite nachträglich durch die entstandene Schieflage zu entschädigen, die immer wieder aufkamen – so verfassten evangelisch-lutherische Religionsangehörige 1697 eine Aufstellung aller Verletzungen in Vorbereitung eines Ausgleichs – wurden allerdings von der Kanzlei aufgrund der Undurchführbarkeit eines derartigen Unternehmens verworfen. So urteilte auch Möser, dass eine „solche Untersuchung nach Verlauf von 124 Jahren nicht allein kostbar und beschwerlich, sondern auch an und für sich [...] vielen übeln Auslegungen unterworfen seyn mögte“.193 Dennoch hatte Ernst August II. in einer Konferenz in Hannover am 5. September 1720 beschlossen, eine Untersuchung der „Laesion“ und deren Verbesserung ungesäumt vornehmen zu lassen. Auf seinen Befehl wurde eine Kommission eingesetzt und von derselben „eine ordentliche Liquidation und Sepcification des dem evangelischen Theile durch sothanen Divisionsrezeß zugefügten Schaden“ angefordert. Eine Untersuchung der Schäden wurde allerdings zurückgestellt und sollte erst erfolgen, „in so fern man sich nicht mit dem Domcapitell über ein und anderes amicabiliter vergleichen würde“.194 Die Voraussetzung dafür war allerdings eine Säkularisierung der Politik, die sich im Fürstbistum Osnabrück erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts abzeichnete und sich Anfang des 19. Jahrhunderts auch in entsprechenden Gesetzen und Vereinbarungen niederschlug.
191 StAOS Rep 110 II, 634 I. fol. 150r–161l, hier fol. 154r. Vgl. auch Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Bd. 2, S. 863. 192 StAOS Rep 110 II, 634 I. fol. 150r–161l, hier fol. 154r. 193 Ebd. 194 Ebd., fol. 155r.
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g) Obrigkeitliche Ansätze zur Überwindung von innergesellschaftlichen Religionskonflikten Sowohl die Problematik der konfessionellen Grenzverletzungen als auch Versuche zur Überwindung dieser Praktiken bilden sich ab in den von einer Kommission geführten Verhandlungen in den 1770er Jahren zwischen Hannover und dem Domkapitel, in denen es um einen Ausgleich zum Abbau der Konfessionsstreitigkeiten im Bistum ging. Generalvikar Vogelius trat als Vermittler zwischen Domkapitel und Regierung auf, Justus Möser war beauftragt, für die Regierung die Verhandlungen zu führen. Dabei ging es neben den Modalitäten zur Aufhebung des Jesuitenordens um die Frage konfessioneller Nebenschulen und um die durch die Einführung des Simultaneums zu erzielende Doppelpfarrigkeit in Fürstenau und Schledehausen. Möser selbst hatte ursprünglich gehofft, „alle wesentlichen Osnabrücker Religionsbeschwerden im Verbund“ lösen zu können und „einen umfassenden Religionsvergleich zuwege zu bringen, um mit diesem die Capitulatio perpetua zu ergänzen“.195 Nach Karl Welker hätte Möser bei einem Erfolg seines Plans „nicht nur den zeitgenössischen Forderungen nach einem einträchtigen und geregelten Miteinander der Konfessionen entsprochen, sondern auch innenpolitisch Hindernisse beseitigt, die einem ständischen Zusammenwirken von Ritterschaft und Domkapitel im Wege standen und zwischen den Mitgliedern beider Stände zu Animositäten führten“.196 Die relativ fortgeschrittenen Verhandlungen scheiterten jedoch 1778, als die Frage der Nebenschulen sowie weitere religiös-konfessionelle Streitigkeiten Gegenstand eines vom Osnabrücker Domkapitel vor dem Reichshofrat angestrengten Verfahrens wurden.197 Noch während der Verhandlungen wurde auch die Mischeheproblematik Gegenstand von Gesprächen zwischen dem Generalvikariat, dem evangelischen Konsistorium und der Regierung in Hannover. In einem undatierten Pro Memoria legte Generalvikar Karl von Vogelius sein Unbehagen gegenüber Mischehen dar. „Ehen unter zweyerley Religionsverwandten“ seien zwar „für gültig und legitim zu halten, dannoch diejenigen, die solchen Ehen eingehen, wegen der daraus immer zu besorgenden bösen folgen, ordinarie und wenige ganz besondere fälle ausgenommen, übel thun und sich versündigen“.198 Daher dürfe auch niemand gegen seinen Willen dazu angehalten werden, eine Verlobung mit einem Partner anderer Konfession auch erfüllen zu müssen. Karl von Vogelius warf den Pfar-
195 Welker, Rechtsgeschichte als Rechtspolitik. Bd. 2, S. 862–863. 196 Ebd., S. 863. 197 Ebd., S. 917. 198 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/37, fol. 24r.
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rern vor, dass sie ihre Amtspflicht „vergessen“ hätten, da sie „ihren untergegebenen solche der sachen bewandtnis nicht genugsam vorhalten, und dieselben von dergleichen Ehen auf alle weise abzuwenden sich bemühen“. Als Mittel „zur Abschreckung solcher Ehen“ schlug der Generalvikar vor, „daß von beidseitigen geistlichen Obrigkeiten, denen Pastoren by einer gewissen schweren Strafe, zum Exempel von 100 Gulden, oder drey monatlichen Suspension ab officio anbefohlen werden“, keine Verlobte verschiedenen Bekennntisses, „wenn auch schon eine impragnatio geschehen seyn mögte“, zur Ehe zu proklamieren oder dieselben zu kopulieren, wenn die Verlobten nicht vom katholischen Vikariat und vom evangelischen Konsistorium aufgrund besonderer Umstände eine Erlaubnis zur Eheschließung erhalten haben. Weiter erwog Vogelius, auch die Verlobten, die sich ohne Erlaubnis trauen ließen, mit einer Geldstrafe zu belegen. Das Schreiben schließt mit den Sätzen „zu welcher gemeinschaftlicher Einrichtung, wie ich vermuthe, Ihro kurfürstliche Gnaden zu Kölln als Metropoliten dero Einwilligung zu entziehen wohl nicht abgeneigt seyn werden“. Am 18. Mai 1776 ging ein ausführliches Schreiben mit exemplarischen Schilderungen der Mischeheproblematik und wiederum Lösungsvorschlägen an die Regierung nach Hannover, dass von den Geheimräten Johann Wilhelm Riedesel und von Ende unterschrieben war und auf Möser verwies. Eingeleitet wurde der Brief wie folgt: Eurer Excell. Ist überhaupt bekannt, daß die bey dem gemischten Religionsstande in hiesigem Hochstiffte sehr gewöhnliche Ehe unter Personen von verschiedener Religion zu weilen Irrungen, insbesonders der catholischen Geistichkeit zur Ausübung eines Gewissenszwanges gegen denjenigen Ehegatten ihres Glaubens, der entweder freiwillig oder in Gemäßigkeit der Ehepacten, die Kinder in der evangelischen Religion erziehen lässet, Anlaß gebe.199
Als jüngstes Beispiel katholischen Gewissenszwangs wurde das Verhalten des Pfarrers Flögel in Verde angegeben, der den dortigen katholischen „Amtsführer“ Berghaus von der Beichte und vom Abendmahl ausgeschlossen hatte, als sich dieser weigerte, die mit seiner evangelisch-lutherischen Frau erzeugten Kinder katholisch erziehen und taufen zu lassen. Aufgrund solcher Vorkommnisse seien Überlegungen in Gang gekommen, mit welchen Mitteln der „oft mächtige Streit“ zwischen Eheleuten verschiedener Konfession über die konfessionelle Zugehörigkeit ihrer Kinder verhindert werden könnte. An dieser Stelle wurde in dem Brief auf einen Bericht nach Hannover über die „Entführung und Verheimlichung evangelischer Kinder“ aus dem Jahre 1771 verwiesen, in dem damals die Justizkanzlei vorgeschlagen hatte, eine hohe Geldstrafe gegen Mischehen einzuführen,
199 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/37 (1776), fol. 27–30.
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um derartige „Irrungen zwischen Eheleuten am sichersten“ zu verhindern. Ähnliche Gedanken seien mündlich und schriftlich auch vom Generalvikar geäußert worden. Der jüngste Vorfall in Verde hätte die Landesregierung und das Domkapitel dazu bewogen, die Problematik gezielter anzugehen. Die in dem erwähnten Pro Memoria des Generalvikars gemachten Vorschläge zur Abschreckung von Mischehen würden allerdings die Religionsfreiheit verletzen und außerdem nicht das erwünschte Ziel, Streitigkeiten über die Kindererziehung zu vermeiden, erfüllen. Ein sicheres Mittel zur Beendigung dieser Zwistigkeiten und des „Gewissenszwangs“ könnte stattdessen in dem Vorschlag von Möser bestehen, durch eine Landesverordnung alle Pacta und Testamenta, wodurch entweder das principium, daß alle Kinder in des Vaters Religion erzogen werden müssen, wenn nicht ein anders verabredet ist, oder im pactum ante nuptiale wegen Erziehung der Kinder durante matrimonio abgeändert werden will, für ungültig erklärt werden.200
Der Generalvikar würde einer solchen Verfügung zwar nicht zustimmen, dennoch sei sicher, dass er eine solche Verordnung im Grunde billigen würde. Der Brief schloss mit dem ungewöhnlichen Hinweis, dass die Vorschläge „als gleichwohl wir in der gleichen Religions Angelegenheiten, die ob sie zwar das hiesige Hochstift besonders angehen doch auch einen Einfluß auf andere gemischte deutsche Länder haben könnten, ohne Eur Excc. Beystimmung etwas vorzuschlagen uns nicht ermächtiget halten“.201 Vor allem Johann Wilhelm Riedesel war mit der Mischeheproblematik über das Fürstbistum Osnabrück hinaus vertraut, da er als Reichskammergerichtsassessor mit dem Mischehenstreit von Albini befasst gewesen war, der vor dem Reichskammergericht verhandelt wurde.202 In einem weiteren Pro Memoria von Möser vom 11. Juni 1776 wurde der Vorschlag noch einmal präzisiert.203 Eine Mischehe sollte weiter frei zu schließen sein, aber Eheverträge und sämtliche Vereinbarungen, die den Eheleuten selbst oder den Pfarrern die Möglichkeit eröffnen konnten, weiter über die Konfessionsbestimmung der Kinder nach der Trauung zu verhandeln, sollten verboten werden. Dadurch würde „jeder Pfarrer abgehalten, seinen Brautleuten das Gewissen zu erschweren, wenn er wüsste, das keine
200 Ebd. 201 Ebd. 202 Karl Horst Welker, Johann Wilhelm Riedesel zu Eisenbach. Zur Persönlichkeit eines Reichskammergerichtsassessors. Ich danke Karl Horst Welker für die Überlassung des Manuskripts. Zum Fall von Albini vgl. Kapitel V. 203 Ich danke Karl Horst Welker für die Identifikation der Handschrift als die von Justus Möser.
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Veränderung post copulation auf irgend eine Art möglich wäre“.204 Bindend für die konfessionelle Kindererziehung sollte allein die väterliche Gewalt sein. Aus der Sicht der Geistlichkeit beider Konfessionen war das ‚Projekt Mischehe‘ unter den herrschenden Bedingungen ganz offensichtlich an Konflikten über die Konfessionszugehörigkeit der Kinder und an der Ausübung von Gewissenszwang gescheitert. Aufschlussreich sind allerdings die unterschiedlichen Schlussfolgerungen. Während für den katholischen Generalvikar die Konflikte Anlass gaben, generell vor Mischehen abschrecken zu wollen und das Eingehen einer solchen Ehe strengstens durch geistliche Institutionen kontrollieren zu wollen, gingen die Vorschläge der Osnabrücker Regierung, die von evangelischer Seite mitgetragen wurden, in eine andere Richtung. Der Umgang mit Mischehen, vor allem die Frage der Kindererziehung sollte dem geistlichen Bereich völlig entzogen werden, indem unabhängig von der Konfession allein aus pragmatischen Erwägungen durch landesherrliche Verordnung die Konfession des Vaters ausschließlich maßgeblich sein sollte. Eine entsprechende Verordnung wurde allerdings erst im Jahre 1826 nach der Säkularisierung unter Georg IV. (1762–1830) erlassen.205 Unabhängig von den geschilderten Konfessionskonflikten und den Streitigkeiten in Mischehen, die sich auch für andere Territorien nachweisen lassen, unterschied sich das religiös-konfessionelle Zusammenleben im Fürstbistum Osnabrück deutlich von dem in anderen Territorien. Das Besondere am Fürstbistum Osnabrück im Unterschied zu der Kurpfalz oder Kursachsen war, dass sich hier die Anhänger beider Konfessionen ihrer Rechte sicher fühlten durch die in der Capitulatio perpetua Osnabrugensis speziell für das Fürstbistum festgeschriebenen Gebote der Parität und der Gewissensfreiheit, so dass sich in Konflikten beide Parteien immer wieder darauf beriefen und die Konfessionsparteien gezwungen waren, in Verhandlung zu bleiben. Die Capitulatio perpetua Osnabrugensis konnte Konfessionskonflikte nicht verhindern, aber sie spielte eine zentrale Rolle in der Wiederherstellung des allgemeinen Friedens. Das Wissen um Parität und Gewissensfreiheit wurde von der Bevölkerung geteilt, auch wenn regelmäßig Verletzungen eintraten. So verweigerte beispielsweise der Lutheraner Johann Eberhard Brömstrupp, der sich zusammen mit seiner katholischen Ehefrau aufgrund von Streitigkeiten über die religiöse Kindererziehung 1732 zum Verhör durch eine eigens einberufene katholisch besetzte Kommission einfinden musste, die gestellten Fragen zu beantworten und verließ schließlich den
204 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/37, fol. 34–35, hier fol. 34l (17. Juni 1776). 205 Vgl. Kapitel I.
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Raum. Als Begründung gab er an, „daß da er lutherisch sei, auch ein lutherischer darbey zugleich committiret werden müste“.206 Über den Vorfall wurde Clemens August durch den Richter Klecker zu Quakenbrück informiert und gleichzeitig gebeten, die Kommissionsbesetzung nicht zu ändern und Klecker „gnädigst zu erlauben, dem Brömstrupp per media congrua zu antworten zu adstringiren, allenfalls demßelben mit denen zum beweiß [...] Vorhandenen gnügigen Zeugen confrontiren zu können“.207 Diese konfessionell geprägte Vorgehensweise eines Richters ist für das 18. Jahrhundert angesichts des bisherigen Forschungsstands überraschend, passt allerdings in das Gesamtbild konfessioneller Spannungen und Konfessionspolitik im Fürstbistum. Auch wenn sich derartige Verfahrensweisen, die eine Konfession rechtswidrig begünstigten, unter einem Landesherrn einschleichen konnten, so bedeutete der regelmäßige Wechsel des Landesherrn und damit der Konfession an der Spitze die Möglichkeit, Religionsbeschwerden nicht nur zu artikulieren, sondern auch Gehör zu finden. Das soziale Gedächtnis speicherte massive Verletzungen von Gewissensfreiheit und von konfessioneller Parität und brachte sie zum geeigneten Zeitpunkt erneut zur Sprache. Auch wenn der Konfessionswechsel an der Spitze keine Auswirkungen auf die konfessionellen Verhältnisse des Fürstbistums haben, sondern die Parität garantieren sollte, so bedeutete der Wechsel für die Bevölkerung und die Geistlichkeit die Möglichkeit, die wirkliche oder imaginierte Verletzung der Parität zu Gehör zu bringen und rückgängig machen zu können.
3.2 Kurpfalz 3.2.1 Religiös-konfessionelle Zusammensetzung Die Kurpfalz mit der Oberpfalz und ihren Nebenlinien Simmern und Lautern war das ranghöchste weltliche Territorium im Westen des Heiligen Römischen Reiches und zählte zugleich zu den vornehmsten Fürstentümern in Deutschland.208 Um 1500 umfasste das Territorium die Landesteile Heidelberg, Neustadt, Alzey und Bacharach sowie die Reichspfandschaften Kaiserslautern, Germersheim, Ingelheim, Oppenheim und einen Anteil an Gelnhausen. Äußerlich stellte sich die rheinische Pfalz stark zerstückelt dar. Eine Verflächung wie in der Oberpfalz war
206 StAOS Rep 100, Abschnitt 374/8 (1732), fol. 2r. 207 Ebd., fol. 2l. 208 Für eine Gesamtdarstellung der Kurpfalz vgl. Meinrad Schaab, Geschichte der Kurpfalz. 2 Bde. 2. verb. und aktualisierte Ausg. Stuttgart 1988.
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nicht gelungen und Herrschaft wurde überwiegend indirekt über ein kompliziertes Satellitensystem ausgeübt, das neben Grafen, Prälaten und Rittern mit den Bischöfen von Speyer und Worms auch Reichsfürsten, den Deutschmeister und schließlich die Reichsstädte Worms, Speyer, Wimpfen und Heilbronn umfasste. Im 17. Jahrhundert büßte die Kurpfalz die – trotz mehrfacher Landesteilungen bewahrte – mächtige Position im Reich durch die oppositionelle Haltung der Kurfürsten zum Kaiser ein, bewegte allerdings wiederholt aufgrund der Besonderheiten der innerterritorialen Konfessionspolitik die gesamte deutsche Religionspolitik bis zum Ende des Heiligen Römischen Reiches 1806.209 Die religionspolitische und konfessionelle Entwicklung der Kurpfalz zeigt ein wechselvolles Bild widerstreitender lutherischer und reformierter Herrschaftsbestrebungen im 16. Jahrhundert. Nach der Einführung der Reformation unter Ottheinrich (1502–1559) vollzog sich in den Jahren 1559 bis 1570 die allmähliche, zunächst persönliche Hinwendung seines Nachfolgers, Kurfürst Friedrich III. (1515–1576), zum reformierten Bekenntnis.210 Dadurch wurde eine Entwicklung eingeleitet, die im Widerspruch zum Augsburger Religionsfrieden und der alleinigen Anerkennung des lutherischen und katholischen Bekenntnisses stand. Nach den gescheiterten Aktionen auf dem Reichstag von 1566 gegen den Pfälzer Kurfürsten – Friedrich III. hatte praktisch die reichspolitische Indemnität erreicht – stellten sich sowohl der Kaiser, katholische Territorien als auch das lutherische Württemberg und Pfalz-Neuburg gegen die Kurpfalz.211 Innerterritorial fehlte ein institutionelles Gegengewicht zum Herrscher etwa in Form vom Adel beherrschter Landstände, die sich gegen die konfessionellen Bestrebungen des Kurfürsten wenden konnten, eine „rein bürgerliche Oberschicht“ akzeptierte offenbar das reformierte Bekenntnis.212 Nicht so allerdings die verschiedenen Herrschaftsträger des überterritorialen Pfälzer Satellitensystems, womit die Machtgrundlage des Kurstaates allmählich zerfiel. 1570 wurde eine Kirchenzuchtordnung
209 Anton Schindling/Walter Ziegler, Kurpfalz, Rheinische Pfalz und Oberpfalz, in: dies. (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung. Land und Konfession 1500–1650. Bd. 5: Der Südwesten. Münster 1993, S. 8–49, hier S. 10–11. 210 Walter Henss, Zwischen Orthodoxie und Irenik. Zur Eigenart der Reformation in der rheinischen Kurpfalz unter dem Kurfürsten Ottheinrich und Friedrich III, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins 132 (1984), S. 153–212; Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2, S. 23–34, 35–49. 211 Volker Press, Die „Zweite Reformation“ in der Kurpfalz, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195). Gütersloh 1986, S. 104–129, hier S. 105–110. 212 Ebd., S. 108.
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erlassen, die stark presbyteriale Züge trug.213 Die seit 1563 einsetzenden Bekehrungsversuche Friedrich III. in der lutherischen Oberpfalz, die sich unter der Statthalterschaft seines lutherischen Bruders Ludwig VI. (1539–1583) befand, scheiterten. Mit der Regierungsübernahme Ludwig VI. begann die Rückkehr zum lutherischen Bekenntnis, während unter der Herrschaft des Sohnes Friedrich III., Johann Casimir (1543–1592), in Pfalz-Lautern die reformierte Politik, wenn auch in abgeschwächter Form, fortgesetzt wurde. Nach dem frühen Tod Ludwig VI. 1583 übernahm Johann Casimir die Administration der Kurpfalz, schaltete seine Mitvormünder aus und begann nun seinerseits mit der calvinistischen Restauration. Nach erneutem Streit um die Vormundschaft trat Friedrich IV. (1574–1610) 1592 die Regierung an und führte die reformierte Konfessionalisierung weiter. Durch die Heirat seines Nachfolgers, Friedrich V. (1596–1632) mit Elisabeth von England, Tochter Jakob I., erhielt die Kurpfalz eine wichtige Stellung im Bündnis der deutschen Protestanten mit dem reformatorischen Westeuropa. Den Wirren des 30-jährigen Krieges und den damit verbundenen Konfessionswechseln unter der Belagerung fremder Truppen folgte schließlich eine relativ stabile Phase reformierter Konfessionalisierung in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. 1648 wurde in Artikel IV des Westfälischen Friedensvertrags, Regelung der Religionsverhältnisse in der Kurpfalz, zunächst offiziell die reformierte Landeskirche wiederhergestellt.214 Der Westfälische Frieden hob alle während des Krieges getroffenen Entscheidungen zugunsten der Katholiken und zum Nachteil der Protestanten auf. Selbst bei Konversion des Landesherrn zum Katholizismus durften Veränderungen zum Nachteil der Protestanten nicht vorgenommen werden. Ausschlaggebend für die konfessionellen Verhältnisse war der Zustand von 1618, umschrieben mit der vagen Formulierung ante motus Bohemicos, wonach die Reformierten wieder in den Besitz aller Kirchen, Pfarrhäuser und Schulen mit den dazugehörigen Gütern und Gefällen kommen sollten.215 Ausgenommen waren die vorwiegend lutherischen Gemeinden, für deren Bestand das Normaljahr 1624 galt. Die katholische Kirche war faktisch nicht mehr existent. Nach den Bestimmungen des Westfälischen Friedens standen den Katholiken, die eine nicht unerhebliche Minderheit darstellten, das ius emigrandi und die devotio domestica zu, die häusliche Privatandacht ohne den Beistand eines Geistlichen.
213 Vgl. allgemein Paul Münch, Zucht und Ordnung. Reformierte Kirchenverfassungen im 16. und 17. Jahrhundert (Nassau-Dillenburg, Kurpfalz, Hessen-Kassel). Stuttgart 1978. 214 Schindling/Ziegler, Kurpfalz, S. 43. 215 Meinrad Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus in der Kurpfalz im 17. und 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift zur Geschichte des Oberrheins 114 (1966), S. 147–205, hier S. 148–149.
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Mit dem Aussterben des reformierten Kurhauses Pfalz-Simmern 1685 setzte mit der katholischen Nachfolge der Pfalz-Neuburger eine rigorose Rekatholisierungspolitik ein.216 Bis dahin hatte Karl Ludwig (1617–1680) nicht zuletzt angesichts der massiven Bevölkerungsverluste und damit zusammenhängender Peup lierungsmaßnahmen eine weitgehend tolerante Religionspolitik betrieben.217 1697 bestätigte der Friedensvertrag von Rijswijk zwischen Frankreich und der Kurpfalz die konfessionspolitische Weichenstellung der Pfalz-Neuburger, der auf Reichsebene mit großer Skepsis begegnet wurde und im 18. Jahrhundert zahlreiche Religionsbeschwerden der reformierten Untertanen sowie den politischen Druck protestantischer Landesherren auf die Kurpfalz nach sich zog.218 Die Kurpfalz rechtfertigte diese Politik mit dem Verweis, dass der Westfälische Frieden dem pfälzischen Kurfürsten in der Formulierung „ante motus Bohemicos“ das ius reformandi zugestanden hätte, und dass der sogenannte Hallische Rezess vom 22. Mai 1685, der den Protestanten den Status quo nach katholischer Herrschaftsübernahme zusichern sollte, nie unterschrieben worden und damit auch nicht rechtsgültig sei.219 Über die Auswirkungen auf die religiös-konfessionellen Verhältnisse in der Kurpfalz hinaus war „die reichsrechtlich sanktionierte Durchbrechung des Normaljahrsprinzips“ reichspolitisch von großer Tragweite, wurde doch damit die „sich bereits in Gang befindliche Katholisierung des Reichs“ erleichtert, eine Entwicklung, die von den Protestanten schon längst als Gefahr erkannt worden war, aber erst im 18. Jahrhundert zu Gegenmaßnahmen führen sollten.220 Nach Johann Jacob Moser mutmaßten die evangelischen Stände, dass
216 Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus; Schindling/Ziegler, Kurpfalz, S. 43. 217 Johannes Müller, Karl Ludwig und die Wiedervereinigung der christlichen Konfessionen, in: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte 29 (1962), S. 130–179; Ludwig Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz. Tl. 3, 2. Hälfte: Von der Reform zur Aufklärung Ende der mittelalterlichen Diözesen (1685–1801). Speyer 1955, S. 172–176. Für eine Gesamtwürdigung des Herrschers vgl. u.a. Volker Sellin, Kurfürst Karl Ludwig von der Pfalz. Versuch eines historischen Urteils (Schriften der Gesellschaft der Freunde Mannheims, 15). Mannheim 1980. 218 Dieter Stievermann, Politik und Konfession im 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Historische Forschung 18 (1991), S. 177–199, hier S. 182. Allgemein: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Friede von Rijswijk 1697 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz Abteilung Universalgeschichte. Beihefte, 47). Mainz 1998. 219 Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2, S. 156–157; Eberhard Freiherr von Danckelman, Die kurbrandenburgische Kirchenpolitik und Kurpfalz im Jahre 1696, in: Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins N.F., 31/4 (1916), S. 573–601, hier S. 578. 220 Gabriele Haug-Moritz, Kaisertum und Parität. Reichspolitik und Konfessionen nach dem Westfälischen Frieden, in: Zeitschrift für Historische Forschung 19 (1992), S. 445–482, hier S. 468 und unten. Speziell zur Kurpfalz: Stievermann, Politik und Konfession, S. 181–184.
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der Kaiser selbst die Rijswijker Klausel lanciert hatte, um so das kaiserliche Übergewicht im Reich zu stärken.221 Die verschiedenen konfessionellen Bestrebungen der pfälzischen Kurfürsten im Verlauf der Frühen Neuzeit wurden von den Besonderheiten des kurpfälzischen Territoriums sowie konkurrierender Nebenlinien beeinflusst. Das Territorium insgesamt war geprägt von einer religiös und konfessionell ausgesprochen gemischten Bevölkerung, deren Zusammensetzung sich aus der territorialen Zersplitterung und den überlappenden geistlichen und weltlichen Herrschaftsbereichen mit je anderer konfessioneller Ausrichtung ergab. Die religiös-konfessionelle Durchmischung wurde weiter gestärkt durch die Zuwanderungspolitik, die vor allem nach dem dreißigjährigen Krieg forciert wurde und neuen religiösen Minderheiten, wie den Mennoniten, aus wirtschaftlichen Erwägungen Zuflucht gewährte. Nicht umsonst stammten die ersten historischen Studien bi-konfessioneller Städte aus dem Herrschaftsbereich der Kurpfalz. Innenpolitisch nicht zu unterschätzen ist im Vergleich zu Kursachsen und Osnabrück das Fehlen von Ständen und landsässigem Adel und damit eines konfessionspolitischen Gegenspielers im Inneren nach der katholischen Herrschaftsübernahme. Die Konfessionspolitik der Kurpfalz wurde auch durch außerterritoriale, religionspolitische Entwicklungen geprägt, wobei die Besetzung durch spanische Truppen während des dreißigjährigen Krieges und vor allem die Besetzung des linken Rhein ufers durch französische Truppen Ende des 17. Jahrhunderts große Auswirkungen auf das religiöse und konfessionelle Gefüge der Kurpfalz hatten. Durch die linksrheinische Rekatholisierungspolitik Frankreichs wurde bereits der Weg der später die gesamte Kurpfalz umfassenden Rekatholisierung vorgezeichnet. Die wechselvollen Geschicke des Landes sowie das Zusammenleben von Reformierten, Lutheranern, Katholiken, Mennoniten und Juden, teilweise in unmittelbarer Nachbarschaft, spiegelten sich konfessionspolitisch in der Gesetzgebung zu religiös-konfessionell gemischten Ehen wider.222 Bis 1685, dem Jahr der Herrschaftsübernahme durch die katholische Linie PfalzNeuburg, unterlagen alle Ehen einschließlich religiös-konfessionell gemischter
221 Vgl. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495–1806. München 1999, S. 227; Volker Press, Kriege und Krisen. Deutschland 1600–1715. München 1991, S. 441. Von Aretin bewertete die Sicht der evangelischen Stände als Propaganda gegen den Kaiser: Karl Otmar von Aretin, Das Alte Reich 1648–1806. 3 Bde. Stuttgart 1993–1997, hier Bd. 2, S. 107. 222 Einführend zur Religionsgeschichte der Kurpfalz vgl. Schindling/Ziegler, Kurpfalz; Henss, Zwischen Orthodoxie und Irenik, S. 153–212; Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2, S. 23–34, 35–49; Press, Die „Zweite Reformation“.
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Ehen den protestantischen Ehegesetzen und mussten durch reformierte Pfarrer eingesegnet werden.223 Die Proklamation durfte erst in der reformierten Kirche erfolgen, wenn der andersgläubige Partner vor der Eheschließung zum reformierten Glauben übergetreten war. Auch die Taufe zukünftiger Kinder fiel allein in den Zuständigkeitsbereich des reformierten Pfarrers.224 Was die Kindererziehung anging, so hatten die Eheleute die Möglichkeit, hierüber in privaten Eheverträgen zu verfügen.225 Das religiös-konfessionelle Zusammenleben und die kurpfälzische Konfessionspolitik veränderten sich aufgrund einer Reihe von Faktoren grundlegend im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts. 1674 überschritten die Franzosen den Rhein und die französische Reunionspolitik nahm ihren Anfang. In der Kurpfalz war neben Übergriffen auf die linksrheinischen Ämter Neustadt, Kaiserslautern, Alzey, Stromberg, Simmern und Kreuznach vor allem das Amt Germersheim betroffen, das der letzte reformierte Kurfürst Karl II. (1651–1685) 1682 zunächst für 20 Jahre an Frankreich verpfändete.226 Nach der Besetzung leiteten die Franzosen hier mit lokaler Unterstützung verschiedener Ordensangehöriger227 eine rigorose Rekatholisierung der Bevölkerung ein, von der auch Mischehen betroffen waren. In einer Ordonanz vom 26.8.1683 wurde die Ehe mit Angehörigen der lutherischen oder reformierten Konfession untersagt.228 Wer eine Mischehe einging, musste mit einer hohen Strafe rechnen.229 Die Kinder aus bereits geschlossenen gemischten Ehen mussten von nun an ausnahmslos katholisch erzogen werden.230 Verstöße gegen diese Anordnung wurden mit militärischem Druck beantwortet, bis die Betroffenen einlenkten.231 Eine weitere Ordonanz für das Oberamt Germersheim vom 5. Juni 1686 bestimmte, dass Kinder aus katholischen und religiös-konfessionell gemischten Familien, die von ihren Eltern nicht vorschriftsmäßig in die katholische Schule geschickt wurden, den Eltern weggenommen werden sollten, um die katholische Erziehung zu erzwingen.232
223 Alfred Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration von 1705. Ihre Entstehung und Bedeutung für das Zusammenleben der drei im Reich tolerierten Konfessionen. Mainz 1973, S. 195–196. 224 Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, S. 154–155. 225 GLA 77/4227, 4. Dezember 1685. 226 Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2, S. 142. 227 Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration, S. 34. 228 Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz, S. 14. 229 Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration, S. 29. 230 GLA 77/4227. 231 Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, S. 150; Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration, S. 26–30. Für Beispiele vgl. unten. 232 Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz, S. 15. Die Söhne sollten in eine katholische Schule geschickt werden, die Töchter sollten auf Kosten der Eltern in ein Frauenkloster, bei mittellosen Eltern in ein katholisches Hospital zur religiösen Erziehung eingewiesen werden.
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Rechtsrheinisch suchte der neue Kurfürst Philipp Wilhelm (1615–1690) nach der Herrschaftsübernahme 1685 seine Untertanen sowie den Kurfürsten von Brandenburg als mächtigsten Repräsentanten der Reformierten im Reich zu beruhigen, indem er seine Verpflichtung gegenüber dem Hallischen Rezess, in dem die Rechte der Protestanten noch einmal verbrieft worden waren, bekräftigte.233 Gleichzeitig allerdings gewährte er in einem Religionspatent vom 13. Oktober 1685 allen drei Konfessionen die freie Religionsausübung.234 Mit diesem Erlass verbunden mit den Bestimmungen von Rijswijk waren die Voraussetzungen für eine grundlegende Veränderung der kirchlichen Verhältnisse in der Kurpfalz geschaffen worden. Die katholische Kirche war offiziell anerkannt und rechtlich wieder existent, der Kurfürst machte kein Geheimnis aus seinem Interesse, die katholische Kirche in seinem Lande zu fördern. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts hatte er den reformierten Kirchenrat sowie das gesamte reformierte Kirchenvermögen seiner Kontrolle unterstellt.235 Durch die Gewährung eines lutherischen Konsistoriums236 spaltete der Kurfürst die beiden protestantischen Parteien und provozierte so einen Jahrzehnte währenden Streit, der die beiden Konfessionen an einem gemeinsamen Vorgehen gegen die Rekatholisierung der Kurpfalz hinderte. Dennoch gelang es dem Landesherrn nicht, durch diese Maßnahmen seine landesfürstliche Position in diesem konfessionell und geographisch zersplitterten Territorium auszubauen. Nicht zuletzt eine Interessenannäherung zwischen der Beamtenschaft im Kirchenrat und in der Regierung sowie auch die konfessionspolitisch einseitige, pro-katholische Politik bei der Rekrutierung von Beamten wirkten sich belastend für das Staatswesen aus.237 Strukturell schlugen sich die konfessionspolitischen Maßnahmen weiter in einer engen Zusammenarbeit des Kurfürsten mit den Nachbarbischöfen in Worms und Speyer nieder, die schließlich Anfang des 18. Jahrhunderts in Verträgen festgeschrieben wurde. Der Kurfürst verpflichtete sich 1708, dass im kirchlichen Bereich das kanonische Recht sowie die Beschlüsse des Trienter Konzils ausschlaggebend sein sollten, soweit sie im Einklang mit den Bestimmungen des
233 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 12. Kapitel, S. 701–702. 234 Ebd., S. 704. 235 Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration, S. 132; Stievermann, Politik und Konfession, S. 183–184. 236 Christoph Flegel, Die Rijswijker Klausel und die lutherische Kirche in der Kurpfalz, in: Heinz Duchhardt (Hrsg.), Der Friede von Rijswijk 1697. Mainz 1998, S. 271–279. 237 Volker Press, Die wittelsbachischen Territorien: Die Pfälzischen Lande und Bayern, in: Kurt G. A. Jeserich/Hans Pohl/Georg-Christoph von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte. 6 Bde. Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Ende des alten Reiches. Stuttgart 1982–1988. Bd. 1. Stuttgart 1983, S. 552–599, bes. S. 566–568.
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Friedensvertrags von Rijskwijk und der Religionsdeklaration von 1705 waren. Personell bildete sich bis zum letzten Drittel des 18. Jahrhunderts diese Politik in der engen Verbindung zwischen dem Vikariat in Worms und dem pfälzischen Hof ab: Der Weihbischof von Worms war gleichzeitig Direktor des geistlichen Rates und geistlicher Geheimrat des Kurfürsten.238 Dennoch entstanden im Verlauf des 18. Jahrhunderts zunehmend Konflikte zwischen Bischöfen und katholischem Kurfürsten um die Kompetenzverteilung in geistlichen Sachen, die ihren Höhepunkt 1784 in der Einrichtung einer Münchner Nuntiatur unter Kurfürst Karl Theodor (1724–1799) erreichte. Mit diesem Schritt versuchte der Kurfürst dem Einfluss der Bischöfe – für die Kurpfalz allein waren sieben Diözesen zuständig – zu entgehen; der gesamte Verkehr mit der Kurie lief von nun an mittels neu eingerichteter, staatskirchlicher Instanzen in den einzelnen Landesteilen über diese Schnittstelle. Dem Protest der deutschen Erzbischöfe sowie der Vikariate in Worms und Speyer begegnete Karl Theodor mit der Anordnung, dass kirchliche Verordnungen in der Kurpfalz nur noch Gültigkeit haben sollten, wenn sie von der weltlichen Regierung gutgeheißen worden waren.239
3.2.2 Mischehen – Rechtsetzung als Handlungsanleitung Doch zunächst zurück zum Zeitpunkt der Machtübernahme der katholischen Pfalz-Neuburger. Ungeachtet der Einführung des Simultaneums, der straffen Behördenorganisation und der klaren Bevorzugung von Katholiken entstanden in der Praxis eine Reihe ungelöster Fragen, die zu Religionskonflikten im Alltag führten.240 Die kurpfälzische Regierung geriet angesichts dieser konfessionellen Spannungen zunehmend unter Handlungsdruck. Am 11. März 1688 fand eine Konferenz unter Vorsitz von Minister Yrsch sowie Vertretern der drei Konfessi onen statt, deren Aufgabe es war, Lösungen für die vorliegenden Streitfragen zu finden.241 Dabei ging es neben Konflikten bei der Kirchennutzung, der öffentlichen Begehung katholischer Feiertage, Prozessionen oder der Besoldung und Zuständigkeit von Pfarrern auch um Fragen der Ehegesetzgebung und Kompetenz in Ehesachen. Nach katholischem Recht war für Katholiken das Tridentinum aus-
238 Stamer, Kirchengeschichte der Pfalz, S. 143-147. 239 Ebd., S. 146. 240 Vgl. Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kapitel: Von dem Zustand der Religion unter Churfürst Johann Wilhelms Regierung. 241 GLA 77/8458; Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 12. Kapitel, hier S. 718.
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schlaggebend, wonach alle katholischen Ehepartner der Jurisdiktion des zuständigen Bischofs unterstanden. Ein protestantisches Ehegericht, bestehend aus Theologen und Laien, musste für Katholiken nach ihrer offiziellen Anerkennung in der Kurpfalz untragbar sein. Es galt zu entscheiden, ob die unter protestantischen Kurfürsten geltende Ehegesetzgebung weiterhin Bestand haben sollte. Für Protestanten wiederum war die Möglichkeit, dass das Ehegericht nun auch von katholischen Laien bestückt werden könnte, undenkbar. Die Konferenz empfahl daher, ein von allen Instanzen unabhängiges Ehegericht zu bilden, das aus Theologen und Laien der evangelisch-lutherischen und der reformierten Konfession bestehen sollte, und vor dem nur protestantische Ehesachen zur Verhandlung kommen sollten. Diese Empfehlung wurde allerdings von den Reformierten abgelehnt, die sich lutherische Eherichter ebenso wenig wie katholische vorstellen konnten.242 Ein noch größeres Problem stellte die zukünftige Behandlung religiös-konfessionell gemischter Ehen dar. Der Vorschlag, die Trauung durch den Pfarrer des Vaters vornehmen zu lassen, wurde trotz kritischer Einwände von Seiten der Katholiken – eine solche Regelung würde gegen die Vorschriften des Tridentinums verstoßen – schließlich befürwortet. Über die Frage der Kindererziehung konnte allerdings keine Einigkeit erzielt werden. Zur Disposition standen die Erziehung nach Geschlecht sowie das Festhalten am bisherigen Verfahren, nach dem die in privaten Eheverträgen getroffenen Entscheidungen bindend sein soll ten. Diesen ersten internen Überlegungen zum Umgang mit Mischehen wurde allerdings erst in den nächsten Jahren Beachtung zuteil, als bei der Suche nach Lösungen auf diese Vorschläge zurückgegriffen wurde. Der Nachfolger Philipp Wilhelms, Kurfürst Johann Wilhelm (1658–1716) sicherte am Tag seiner Regierungsübernahme den protestantischen Untertanen Religionsfreiheit zu und bestätigte das Religionspatent sowie frühere Religionsmandate.243 Den Umgang mit Mischehen regelte er in Anlehnung an die Vorschläge von 1688: Die Trauung und die Taufe der Kinder sollten in der Konfession des Vaters erfolgen. Protestanten unterlagen der kurpfälzischen Ehegerichtsordnung, Katholiken unterstanden dem Bischof. Streitfälle in Mischehen behielt der Kurfürst der eigenen Entscheidung in Rücksprache mit dem zuständigen Ordinariat und seiner Regierung vor.244 Probleme, wie beispielsweise der Urteilsspruch eines bischöflichen Gerichts gegenüber der reformierten Ehefrau eines Katholiken, der vom reformierten Kirchenrat nicht anerkannt wurde, weisen jedoch auf
242 GLA 77/7796, 6 und 18; Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration, S. 190. 243 GLA 77/8562, 115, Lit. C, Nr. 21 (2. September 1690). 244 GLA 77/7796, 3 (22. April 1691).
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die schwierige Rechtslage hin.245 Der Kirchenrat lehnte den Grundsatz „actor sequitur forum rei“ ab und forderte stattdessen die Einsetzung einer gemischten Kommission von Katholiken und Protestanten, die bei Ehestreitfällen in Mischehen tätig werden sollte.246 Gleichzeitig forderte die Regierung den Kurfürsten auf, eine generelle Verordnung zur Lösung dieser und ähnlich gelagerter Konflikte zu erlassen: damit welcher gestalt, man sich in der gleichen fallen da einer von den Eheleuthen Catholisch, daß ander aber Evangelisch reformiert oder Lutherisch , alß welche Ehestreitigkeiten große Beschwerlichkeiten verursachet, in decision derselben zu verhalten haben, eine General Verordnung, sobalt möglich ergehen möge.247
Die angeforderte Verordnung, die vor allem die Frage der Kindererziehung bei gemischten Ehen sowie die Zuständigkeit bei der Ehescheidung regeln sollte, blieb allerdings trotz der Forderung des Kurfürsten nach einem Regierungsgutachten aus.248 Dass die Haltung der beiden katholischen Regierungsräte Heuwel und Sickingen, die sich strikt gegen eine Generalverordnung aussprachen, da diese der katholischen Kirche nicht dienlich wäre249, sowie die streng katholische Erziehung des Kurfürsten hier ausschlaggebend waren, liegt nahe. Einen Monat zuvor hatte Kurfürst Johann Wilhelm die beiden Räte angewiesen und bevollmächtigt, gegenüber anderen Regierungsbeamten bei Konflikten in Mischehen Nachteile der Katholiken abzuwenden.250 Am 28. Juni 1694 wurde schließlich in einem kurfürstlichen Erlass in Anlehnung an die Konferenzbeschlüsse von 1688 festgelegt, dass die Taufe und die seelsorgerische Betreuung von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen durch den Pfarrer des Vaters erfolgen sollten.251 Obwohl diese Regelung größtenteils auf die Vorschläge des Kirchenrats zurückging, forderte dieser in einer Eingabe an den Kurfürsten, dass die Proklamation und Trauung sowie die Taufe der Kinder in der Konfession des Vaters nach Benachrichtigung des Pfarrers der Braut vorgenommen werden sollte, die
245 GLA 77/7796, 12 (16. Februar 1691) und 17 (22. März 1691). Die Frage der strittigen Zuständigkeit bei Amtshandlungen oder Streitfällen in Mischehen taucht in den Akten immer wieder auf. Vgl. beispielsweise GLA 77/4227: Die Taufe der Kinder aus gemischten Ehen betreffend, 1698–1749. 246 GLA 77/7796, 6 und 8 (Kopie des Kirchenratsprotokoll vom 1. März 1692) und undatiertes Gutachten des reformierten Kirchenrats zu dieser Frage GLA 77/7796, 61 sowie ein Gegengutachten von katholischer Seite, ebd.. 247 GLA 77/7796, 1 und 2 (10./11. März 1692). 248 GLA 77/7796, 51 (20. August 1692). 249 GLA 77/7786, 15 (8. August 1692). 250 GLA 77/7786, 9 (23. Juli 1692). 251 GLA 77/4405 (28. Juni 1694).
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weitere Erziehung der Kinder sollte allerdings nach Geschlecht erfolgen.252 Der Kirchenrat verwies in seiner Argumentation auf eine frühere Verordnung: Im übrigen kann Kirchenrath die hier bevor gemachte und in Observantz gebrachte Verordnung, daß die Söhne den Vättern, und die Töchtern den Müttern folgen, es sey den, daß Ehepacta oder gütliche conventiones den Eheleuth in wehrenden Ehestandt nie anders mit sich brachten, oder die Kinder, wan Sie ad annos discretiones kommen ein anders erwehlen, nicht änderen.253
Diese Verordnung schien auch katholischen Amtsinhabern geläufig, wie aus einem Schreiben des Landschreibers Scherer vom Oberamt Neustatt hervorging: Nachdem Ihro Churfürstliche Hoheit unsers gnädigsten Landesfürsten und Herrn gnädigsten Willensmeynung dahin gehet, daß wo der Vatter Catholisch gleichfalls der Sohn bey solcher Religion, wo aber die Frau sothanen Religion, also auch die Tochter Catholisch auferzogenn werden solle.254
Scherer ging davon aus, dass auch unter Katholiken „diese Verordnung schon nit unbekannt sein mag“, beklagte sich aber weiter, dass Sie jedoch so diesen als ihrer Elterlichen Schuldigkeit zuwieder ihres Geschlechts Kinder etwa auß ansehn des anderen Theils oder Freunde wieder Gottes Verbott im widrigen Glauben oder Religion aufferziehen und der protestanten Kinderlehr eingehen lassen.255
Diesem Missstand sollte unter Androhung von „50. R. Straf“ begegnet werden. Der katholische Elternteil war verpflichtet, so Scherer, die Kinder des eigenen Geschlechts in die „Catholische Kinderlehr“ zu schicken, auch wenn er damit Feindschaft und Verfolgung provozieren würde. In einer Generalverordnung vom 12. März 1698 an alle Oberämter und Städte wiederholte der Kurfürst angesichts lokaler Konflikte die Bestimmung, dass die Konfession des Vaters allein ausschlaggebend sein sollte für die Taufe und Erziehung von Kindern gemischter Ehen.256 Diese Vorschrift galt jedoch nicht in den ehemals von Frankreich besetzten Gebieten, die nach dem Frieden von Rijswijk 1697 an die Kurpfalz zurückgege-
252 GLA 77/4405 (27. Juli 1694). 253 GLA 77/4227 (7. September 1696 und 4. Mai 1697). 254 Vgl. die Erklärung des Kirchenrats zu dieser Frage GLA 77/4227 (7. September 1696 und 4. Mai 1697) sowie den Aktenhinweis in GLA 77/4227 (16. Februar 1698). 255 GLA 77/4227 (16. Februar 1698). 256 GLA 77/4227 (12. März 1698).
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ben wurden. Für diese Landesteile war in der sogenannten Rijswijker Klausel der erreichte Grad der Rekatholisierung festgeschrieben und geschützt. Das bedeutete für religiös-konfessionell gemischte Ehen, dass alle Kinder gemäß einer französischen Verordnung aus dem Jahr 1693 katholisch erzogen werden mussten, sobald ein Teil, Vater oder Mutter, der katholischen Konfession zugehörten. Diese Verordnung war in Artikel 4 des Rijswijker Friedensvertrags aufgenommen worden. Reformierte Pfarrer und Inspektoren führten regelmäßig Beschwerde über die rigorose Durchsetzung dieser Verordnung, die nicht selten mithilfe militärischer Exekution erfolgte.257 Lokale Konflikte in religiös-konfessionell gemischten Ehen und das Verhalten von Beamten weisen darauf hin, dass Amtsinhaber auch in anderen Ämtern angewiesen wurden oder aber aus eigener konfessioneller Überzeugung entschieden, dem Beispiel der Franzosen linksrheinisch zu folgen, Nichtkatholiken zur Konversion zu drängen und die Kinder für den Katholizismus zu gewinnen. Weihnachten im Jahr 1700 mussten alle katholischen und evangelischen Pfarrer öffentlich bekannt geben, dass sämtliche Kinder aus gemischten Ehen gemäß der französischen Verordnung von 1693 katholisch erzogen werden mussten. Bei Verstößen gegen diese Verordnung wurde mit schweren Geldstrafen und militärischer Exekution gedroht.258 Am 24. Februar 1701 erließ die kurfürstliche Regierung einen erneuten Befehl, in dem die genaue Überwachung der französischen Verordnung unter Strafe angemahnt wurde.259 Lutherische und reformierte Pfarrer weigerten sich dennoch, diese ursprünglich für die unter französischer Besatzung von Franzosen erlassene Verordnung zu akzeptieren und hielten sich stattdessen an den früheren kurfürstlichen Erlass, der die Kindererziehung in der Konfession des Vaters vorschrieb. Falls sich die Eltern nicht einigen konnten, sollte die Erziehung nach Geschlecht aufgeteilt werden.260 Bereits während der Friedensverhandlungen mit Frankreich hatte sich der reformierte Kirchenrat mit der Bitte um Hilfe direkt an den Kurfürsten von Bran-
257 Verweise auf diese Verordnung und Artikel IV des Ryswyker Friedensvertrags in zahlreichen Beschwerden des Kirchenrats um die Jahrhundertwende, vgl. GLA 77/4227. Siehe auch Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, Kapitel 13. 258 GLA 77/4227 (Dezember 1700). 259 GLA 77/4406 (24. Februar 1701). 260 Vgl. die Äußerung von Inspektor Heucher, Oppenheim, dass für die Reformierten die frühere Verordnung des Kurfürsten, nicht die der Franzosen, Gültigkeit habe: GLA 77/4227 (20. Januar 1701). Siehe auch den Forderungs- und Fragekatalog des reformierten Pfarrers und Inspektors zu Neustadt, Desloch, zum Umgang mit gemischten Ehen: GLA 77/4227 (12. Juni 1701).
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denburg gewandt und damit bei konfessionellen, innerterritorialen Konflikten unter Umgehung des eigenen Landesfürsten eine dritte Macht eingeschaltet.261 Angesichts der Verschärfung der Konfessionskonflikte, verbunden mit der zunehmend offenen Bevorzugung von Katholiken durch Kurfürst Johann Wil helm, wandte sich der reformierte Kirchenrat schließlich mit ausführlichen Darstellungen der Religionsverstöße an den Reichstag. Viele dieser Gravamina wurden sofort gedruckt, wodurch die Kritik an der Politik des Kurfürsten vor eine breite Reichsöffentlichkeit getragen wurde, was scharfen Protest der Kurpfalz auslöste und Johann Wilhelm sowie seinen Nachfolger zu öffentlichen Gegendarstellungen nötigte.262 Die katholische Erziehung von evangelischen Kindern in Waisenhäusern ungeachtet der Religion der Eltern beispielsweise war ein wiederkehrender Vorwurf in der Mainzer Postzeitung und anderen Nachrichtenblättern und lässt sich in einer ganzen Reihe von Fällen nachweisen.263 Laut Anweisung aus dem Jahr 1699 sollten Waisenkinder, deren Vater katholisch gewesen war, im gleichen Glauben erzogen werden.264 Die Konfessionszugehörigkeit von Waisenkindern, unehelichen Kindern und Findlingskindern sowie daraus resultierende Konflikte beschäftigten die kurfürstliche Regierung allerdings das gesamte 18. Jahrhundert hindurch.265 Bis zur Religionsdeklaration von 1705 erfolgten noch zwei weitere Anordnungen zu konfessionell gemischten Ehen. Zu nennen ist zum einen die Religionsdeklaration vom 29. April 1701, die den Untertanen völlige Gewissensfreiheit gewährte und damit den Widerspruch von Regierung und katholischer Beamtenschaft erntete.266 Zu Mischehen hieß es:
261 Schaab, Geschichte der Kurpfalz, Bd. 2, S. 155. 262 Die Religionsbeschwerden der Reformierten in der Kurpfalz durchziehen das gesamte 18. Jahrhundert und wurden in unterschiedlichen zeitgenössischen Drucken und Sammlungen verbreitet. Vgl. auch Kapitel V, Der Fall von Staritz. 263 GLA 77/8457, 333 Auszug aus dem vom kursächsischen Gesandten in der Mainzer Postzeitung vom 16. Dezember 1700 veröffentlichten Bericht über Gewissenszwänge gegenüber Protestanten, darunter der Vorwurf, evangelische Waisenkinder im ehemaligen Kloster Neuburg bei Heidelberg katholisch erziehen zu lassen. 264 GLA 77/7786 (30. Dezember 1699). Vgl. auch Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kapitel, S. 1009. 265 GLA 77/7784 Behandlung der Frage: Ob letztwillige Bestimmungen der Eltern wegen der religiösen Erziehung ihrer Kinder Beachtung finden sollen 1692; GLA 77/411 Die Erziehung und Verpflegung der Findlingskinder 1753–1786; GLA 77/6533 Die Erziehung und Verpflegung von Kindern von Vagabunden und Delinquenten 1758. 266 Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration, S. 176–180.
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Belangend die Education der in matrimoniis mixtis erzielter Kinder, habt ihr in allen unser Churfürstlichen Landen indistincte auf den von unsers in Gott ruhenden gnädigst geliebten Herrn Vatters Churfürstliche Durchlaucht hochgestellte Gedächtnis beschehener Verordnung fürphin festiglich zu halten, und alle wiedrige Beschwerden, in was Ort die auch seynd, abzustellen; wornach ihr die behörige Befehl ergehen zulassen.267
Gemeint war die Taufe und Erziehung der Kinder in der Konfession des Vaters, die erstmals unter Philipp Wilhelm 1688 festgelegt und von Johann Wilhelm 1694 und 1698 bestätigt worden war. Eheverträge sollten weiterhin zulässig sein und nach Erreichen der Religionsmündigkeit durften Kinder die Konfession ändern. Seine katholischen Beamten wies der Kurfürst allerdings an, das Wohl der Katholiken im Auge zu behalten und darauf hinzuwirken, die katholische Konfession weiter zu verbreiten: Hingegen haben Unsere jeder orths sich befindende Catholische beambte, vor welchen in futurum dergleichen pacta gemacht werden, hierunter guete obacht zu haben, damit der Catholischen religion so gueth möglich prospicirt werde; vornehmblich aber wird denen Seelsorgern und sambtlichen Geistlichkeit von ordens Personen sowohl als dem Clero obgelegen seyn, durch guete bewegliche ermahnungen und Lehren, gebrauchenden discreten eyfer und führenden exemplarischen Wandel die gemüther zu gewinnen und an sich zu ziehen.268
Zu nennen ist eine weitere Verordnung vom 23. September 1703, mit welcher Kurfürst Johann Wilhelm offensichtlich aufgrund ständiger Beschwerden den Forderungen des reformierten Kirchenrats folgte und die Erziehung von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen nach Geschlecht vorschrieb.269 Auf dem Hintergrund des Spanischen Erbfolgekriegs, in dem der pfälzische Kurfürst auf Bundesgenossen angewiesen war, und unter dem Druck vor allem des preußischen Königs und des Reichstags kam schließlich die Religionsdeklaration vom 21. November 1705 zustande, die die Religionsfreiheit aller drei Konfessionen in der Kurpfalz garantieren sollte.270 Ein eigener Paragraph war der Frage der Erziehung von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen, der Proklamation von Mischehen, der Trauung und schließlich der Vormundschaft gewidmet. Der Wortlaut wird im Folgenden wiedergegeben:
267 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kapitel, hier S. 1048– 1049. 268 GLA 77/4406, 13 (8. Juni 1701). 269 Hans, Die Kurpfälzische Religionsdeklaration, S. 209. GLA 77/4406, 393 (23. September 1701). 270 Churpfälzische Religionsdeclaration vom 21. November 1705 (gedruckt). GLA 77/8246 und Zc 1004, 8.
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§ 3. In Matrimoniis mixtis, stehet denen Eltern frey, ihre Kinder, in der Religion tauffen zu lassen, und zu erziehen, wie es die Ehegerichts=Ordnungs=mässige Ehe=Pacta, oder ihre stante Matrimonio beschehene authentische Abrede mit sich bringet; Wo aber weder Ehe=Pacta noch dergleichen Abrede so viel diesen Punct angehet, befindlich, da folgen die Kinder dem Capiti Familiae, jedoch bleibt den Kindern, wie obgedacht, die vollkommene Gewissens=Freyheit, wann sie ad annos discretionis kommen, auch dem letztlebenden Vatter, oder Mutter bevor, die Kinder, nach Belieben, in ihrer Religion zu erziehen. Wann von unterschiedlichen Religions=Genossen Heyrathen geschehen, sollen die Proclamationes in eines jeden seiner Religions=Kirchen, ob sie gleich in einer Stadt, oder Kirch=Spiel wohnhaft, ordentlich verrichtet, Dimissoriales gefordert, jedoch unbedinglich, und unweigerlich, auch unentgeltlich gegeben werden, und soll in Puncto der Copulation die Braut dem Bräutigam folgen, sonsten aber die Catholische Geistlichkeit, und Pastores keine Evangelische Religionsverwandte, und vice versa die Evangelische prediger keine Römische Catholische, ohne dimissorialibus ihrer Priestern, Pastoren, oder Predigern zusammen geben. Denen Pupillen werden Vormünder von der Religion verordnet, welcher sie, nach denen Ehe= Pacten, oder his deficientibus, nach der hiebevor gesetzten Regul erzogen werden müssen.271
Mit den Bestimmungen zur religiösen Erziehung der Kinder aus gemischten Ehen übernahm die Kurpfalz die 1650 auf dem Nürnberger Reichsexekutionstag festgelegte Regel,272 wonach die Konfession des Vaters allein ausschlaggebend sein sollte, es sei denn, in Eheverträgen wurde ein anderes Verfahren beschlossen. Die ordnungsgemäße Abfassung von Eheverträgen zur Festlegung der religiösen Kindererziehung in Mischehen wurde seit 1724 unter Kurfürst Karl Philipp (1661– 1742) zur Pflicht.273 Den Anlass gaben „vielfältige Irrungen und Zwistigkeiten“ bei Erbfällen und bei der religiösen Kindererziehung in Mischehen, die aufgrund nur mündlicher Eheverträge entstanden waren. In Zukunft sollten Eheverträge mit Angaben zur religiösen Kindererziehung schriftlich verfasst werden und vor dem „Schultheissen und Gerichten beyderseiths Religionen unterzeichnet und durch die Verlobte bey jedes Orths ordentlich insinuirt= und angezeigt [werden]“. Ausdrücklich wurde darauf verwiesen, dass der Vertrag eindeutig und ohne Beeinflussung entstanden sein musste und „alle Intimidirungen und Sportulen Exaction unterlassen werden soll(t)en“, damit sichergestellt sei, dass die Verträge den freien und „ungezwungenen Willen“ der Brautleute wiedergaben. Besonders die Amtspersonen wurden angewiesen, sich jeglicher Einflussnahme zu enthalten.
271 GLA Zc 1004, 8, hier S. 7–10. 272 Vgl. unten. 273 GLA 77/4363 (13. März 1744; im Text Verweise auf frühere Verordnungen in gleicher Sache vom 5. Mai 1724 und 20. März 1727).
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Am 25. Januar 1749 wurde diese Verordnung unter seinem Nachfolger, dem Wittelsbacher Karl Theodor (1724–1799) erneuert und verschärft nachdeme man missfällig vernohmen, was massen die unterm dreyzehenden Martii ein tausend sieben hundert vier und vierzig Emanirte General-Verordnung wie es mit denen Ehe Pactis in Matrimoniis Mixtis zu halten, behörend nicht observiret= mithin dadurch allerhand Klagden und Unordnungen, nach wie vor, erwecket worden.274
Die Proklamationsscheine sollten erst ausgegeben werden, nachdem die Eheverträge bei dem zuständigen Oberamt eingegangen und dort sorgfältig überprüft worden waren. Am 28. Juni 1763 wurden gedruckte Ehevertragsformulare an die Schultheißen und Gerichte sämtlicher Oberämter zur Austeilung versand, da „die bisherige Erfahrenheit belehret [...], daß Jene Eheberedungen, die zu der Churfürstlichen Regierung gelangen, mehrenteils mangelbahr, ohnvollkommen, und denen Edicten gemäß ganz und gar nicht gefasset“.275 Aufgrund dieser Erfahrung wurden die Oberämter nochmals angewiesen, keine „ohnförmlich seyenden Ehe=Beredungen weder bestättigen, noch durch die Gerichts=Vorstände bestättigen zu lassen“.276 Bevor die Eheverträge „verordneter massen“ an die kurfürstliche Regierung geschickt wurden, sollten alle Mängel beseitigt worden sein. Am 19. Dezember 1775 schließlich wurde die Verordnung noch einmal erneuert mit der Begründung, dass aufgrund mangelhafter Eheverträge „vielfältige heftige Zankereyen, ärgerliche(r) Zwispalt, und Klagden“ wegen der religiösen Kindererziehung vor allem nach Ableben eines Elternteils vorkamen, obwohl bereits in den Jahren 1726, 1727, 1744, 1749 und 1766 „die deutlichste(n) Vorschriften erlassen worden (waren)“. Die Religionsdeklaration von 1705 hatte dem „letzt lebenden Vatter, oder Mutter“ das Recht zugesprochen „die Kinder nach Belieben in ihrer Religion zu erziehen“.277 Konflikte entbrannten jedoch, wenn der überlebende Elternteil einer anderen Konfession als der ihrer Kinder angehörten, und die Erziehung in der eigenen Konfession vornehmen wollte. Ein Wechsel der Konfession war den Kindern zumindest nach protestantischer Auffassung erst nach Erreichen der annos dis cretionis, normalerweise das 14. Lebensjahr, erlaubt.278 In einer Aktennotiz an das pfalzgräfliche Vikariat vom 13. Oktober 1758 wurde auf ein in „hiesigen Landen“
274 GLA 77/4363 (25. Januar 1749). 275 GLA 77/4363, fol. 59 (4. Juni 1766). 276 GLA 77/4363, fol. 77-80 (19. Dezember 1775). 277 Ebd. 278 Auf Reichsebene kam es Mitte des 18. Jahrhunderts zu einer mehrere Jahre andauernden Kontroverse um die Frage der Konversion von Kindern aus gemischten Ehen. Vgl. Kapitel V.
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bestehendes Verfahren für die Konversion von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen hingewiesen, namentlich die Befragung von Kindern durch drei Räte oder Gerichtsverwandte verschiedener Konfession, um die „wahre Willensmeynung solcher Kindern [...] ad protocollum und also judicialer“ zu ermitteln.279 Dieses Verfahren wurde auch bei strittigen Fällen angewandt. Das Problem des Konfessionswechsels vor der Mündigkeit wurde in der Religionsdeklaration vom 9. Mai 1799, die Kurfürst Maximilian Joseph (1756–1825) unmittelbar nach Regierungsantritt erlassen hatte, bewusst umgangen.280 Bei „künftigen vermischten heurathen“ sollte den Eheleuten „in Absicht der künftigen Erziehung ihrer Kinder“ die „unbeschränkte Freyheit gelassen werden“, mit „Beyrath der Eltern oder Vormünder das Nöthige in ordnungsmäßigen Ehepakten zu bestimmen“.281 Falls die Eheleute keine Eheverträge abschließen wollten, sollte die Kindererziehung nach Geschlecht erfolgen. Vormünder durften nur von der gleichen Konfession bestellt werden. Die annos discretionis, nach Vollendung derer die Konversion erlaubt war, wurden auf das achtzehnte Lebensjahr festgelegt. Auf die Frage, „ob dem letztlebenden Ehegemächte zustehe, gegen den Inhalt der Ehepacten, die Kinder in seiner Religion zu erziehen“, erteilte das kurpfälzisch-rheinpfälzische General Landeskomissariat am 16. Februar 1802 eine klare, abschlägige Antwort, die allen Oberämtern, Stadträten und Hauptstädten zugestellt werden sollte.282 Bis zur Erlangung der annos discretionis sollten die Kinder aus religiöskonfessionell gemischten Ehen ausschließlich in der Konfession erzogen werden, die entweder in einem Ehevertrag bestimmt oder durch Geschlecht festgelegt worden war. Die anderslautende Formulierung aus dem Jahre 1705 wurde als „zweideutig“ bezeichnet und bewusst nicht wiederaufgenommen. Damit gehörte die Kurpfalz an der Wende zum 19. Jahrhundert für eine kurze Dauer zu den wenigen Territorien, in denen die konfessionelle Parität bei der Erziehung von Kindern aus religiös-konfessionell gemischten Ehen aufgrund der Konfessionszugehörigkeit nach Geschlecht richtungsweisend war und nicht die hausväterliche Gewalt. Nachdem wesentliche Landesteile der Kurpfalz im Zuge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 als badische Pfalzgrafschaft an das Großherzogtum Baden fielen, bekräftigte der neue Landesherr Karl Friedrich von Baden (1728–1811) zwar, sich überwiegend nach der 1799 verabschiedeten Religionsdeklaration richten zu wollen, bei der Erziehung von Kindern religiöskonfessionell gemischter Ehen legte er allerdings die Konfession des Vaters ohne
279 GLA 77/4363, 42–45. 280 Churpfälzische Religionsdeclaration vom 9ten May 1799. GLA 77/4363 (gedruckt). 281 Ebd., § 1 c, S. 6. 282 GLA 77/4363, 118–120 (16. Feburar 1802).
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Unterschied des Geschlechts fest. Diesen Beschluss begründete der Markgraf damit, dass eine einheitliche Religionserziehung entscheidend für die Familien einheit, für den guten Erziehungseindruck und das bürgerliche Fortkommen der Kinder sei, da Abweichungen von der Religion des Wohnorts nur Nachteile mit sich bringen würden.283
3.2.3 Umgangsweisen mit religiöser Pluralität im Alltag Lenkt man den Blick auf die Kurpfalz und fragt nach den konfessionellen Grenzziehungen vor und nach 1648, so lässt sich im 16. Jahrhundert ein Wechsel obrigkeitlicher lutherischer und reformierter Konfessionalisierungsbemühungen konstatieren. Im 17. Jahrhundert setzte im Verlauf des dreißigjährigen Kriegs je nach Belagerung eine rigorose Bekehrungspolitik zum katholischen Glauben ein, die nur durch die schwedische Belagerung zeitweise unterbrochen wurde. Nach 1648 am Ende mühsamer Verhandlungen – die Kurpfalz war bei Kriegsende in den Händen Spaniens und Bayerns – erfolgte die Bestätigung der reformierten Kon fession und mit der Herrschaftsübernahme der Pfalz-Neuburger 1685 begann die systematische Rekatholisierung der Kurpfalz, reichsrechtlich ‚legitimiert‘, wenn auch umstritten, durch die Religionsklausel im Frieden von Rijswijk. Gehörten die Katholiken bis 1685 einer geduldeten Minderheit an, die ihren Glauben lediglich privat ausüben durfte, abgesehen von einigen Enklaven, in denen die Religionsausübung durch spezielle Verträge gesichert worden war, so setzte das neue katholische Herrscherhaus alles daran, seinen Glaubensgenossen zu einer stärkeren Stellung in der Kurpfalz zu verhelfen und die Ausbreitung des katholischen Glaubens zu begünstigen.
a) Rekatholisierung und religiös-konfessionelle Grenzformationen im Alltag Dazu gehörte als erster Schritt die Zulassung der öffentlichen Religionsausübung der Katholiken durch ein Religionsmandat vom 13. Oktober 1685 und die Rückholung von Ordensbrüdern, mit deren Hilfe die katholische Seelsorge aufgebaut und die Rekatholisierung durchgeführt werden sollte. Zahlenmäßig und wirtschaftlich waren die Katholiken den Reformierten Ende des 17. Jahrhunderts deutlich unterlegen. Die rigorose, wenn auch zwischenzeitlich unterbrochene Rekatholi-
283 Badensches Religions=Edikt vom 11. Februar 1803. In Auszügen abgedruckt in: Kunstmann, Die gemischten Ehen, S. 66–69.
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sierung zwischen 1629 und 1648 hatte keine großen Früchte getragen. Die Heidelberger Regierung berichtete 1640 an Maximilian von Bayern (1573–1651) über die Halbherzigkeit, mit der die Reformierten sich zum Katholizismus bekannten. Gleichzeitig geht aus dem Bericht die Härte hervor, mit der die Bekehrung vor der schwedischen Belagerung vorangetrieben worden war: Vorm schwedischen Unwesen wurde die Reformation [d.h. Gegenreformation] durch wirkliche Exekution unmittel vorgenommen, die Unterthanen haben sich zur alleinseeligmachenden Religion dem Schein nach mehrenteils eingestellt, sind aber alsbald nach Ankunft Pfalzgraf Ludwigs davon abgefallen. Trotz sie seither auf verschiedentlich ergangenen Befehl an Sonn- und Feiertagen beim Amt der hl. Meß und der Predig fleißig erschienen, sich jedoch kaum der 3. Teil realiter im Herzen catholisch befindet, ob wir auch hinwiederum sie dahin zu bringen vermeint und deswegen alls Patres Soc. Jesu, Capucini, Franziscani, Dominicani zur Kanzel beeinander gefordert und Rats gepflogen, sie der Meinung gewesen, daß in gegenwärtigen dubiosen belli statu nit rätlich mit Rigor zu verfahren.284
Nur in einigen Orten „bei sich überschneidenden Territorialrechten und von den Häusern des Deutschen Ordens“ waren größere Teile der Bevölkerung seit der Reformation katholisch geblieben.285 Der Anstieg des katholischen Bevölkerungsanteils im späten 17. und im 18. Jahrhundert beruhte abgesehen von der linksrheinischen Kurpfalz nur zum geringeren Teil auf Konversionen, auch wenn sich diese punktuell bei der Bewerbung um Ämter oder in Mischehen mit einem katholischen Ehepartner nachweisen lassen286, sondern vor allem auf der Zuwanderung von Katholiken in die von Kriegen völlig ausgeblutete Kurpfalz.287 Darüber hinaus wuchs Anfang des 18. Jahrhunderts in einigen Städten wie Dilsberg oder in der zukünftigen Residenzstadt Mannheim der katholische Bevölkerungsanteil durch die Aufstellung der Garnison. Nach einer Zählung aus dem Jahre 1727 betrug der Anteil der Katholiken bereits nahezu 25 Prozent der Bevölkerung.288 In Heidelberg, 1727 noch Residenzstadt, waren die Katholiken mit 4 137 bei 3 295 Reformierten und 2 396 Lutheranern die stärkste Konfession.289 Im Oberamt Heidelberg betrug ihr Anteil 32 Prozent der Gesamtbevölkerung. Vor allem in Orten, wo bereits Katholiken ansässig waren
284 Zitiert nach Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, hier S. 153–154. 285 Ebd., S. 153. 286 Ebd., S. 169–170. 287 Die Immigranten kamen zumeist aus den umliegenden katholischen vor allem geistlichen Gebieten, darüber hinaus aus Franken, Schwaben, Bayern und Tirol. 288 13 705 Reformierte, 5 553 Lutheraner, 6 223 Katholiken und 337 Juden. Vgl. Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, S. 160. 289 Ebd., S. 161.
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wie Brühl, Ladenburg oder Neckarshausen stieg die Zahl der katholischen Religionsangehörigen im 18. Jahrhundert deutlich an. Im Oberamt Ladenburg machten die Katholiken 45,8 Prozent der Bevölkerung aus. Linksrheinisch war die Rekatholisierung unter der französischen Besatzung erfolgreich und nachhaltiger gewesen, vor allem im Oberamt Germersheim. In der Amtsstadt selbst waren drei Viertel der dort lebenden Menschen katholisch. Gegen sogenannte „Relapsi“, „so zu Zeiten der Französischen Reunion Catholisch geworden, jetzt aber wider abgefallen wären“ wurde in den Orten Seebach und Schleythal im Amt Germersheim mit besonderer Härte vorgegangen; sie waren „in Chur Pfälzischen Landen nicht geduldet“. Flüchtige, die zurückkehrten, sollten für „vogelfrey“ erklärt werden. Eine weitere Strafandrohung bestand darin, dass „sie in einer Ochsenhaut umwickelt geschleift werden“ sollten.290 Mit Ausnahme von neun Familien gaben die Einwohner, die sich teilweise bis zu acht Wochen dem Drängen der Kapuziner widersetzt hatten, „aus Furcht, die Erndte und alle Haabseeligkeiten zu verliehren“ auf und unterschrieben ein Dokument, aus dem hervorging, dass sie sich freiwillig zum katholischen Glauben bekannt hätten.291 Allerdings wollte niemand dieser „Neubekehrten“ die Messe oder katholische Kirche besuchen. Selbst im Bereich der Oberämter Lautern und Neustadt, wo die Rekatholisierung weniger erfolgreich war, bildete sich in einigen Orten eine knappe Mehrheit von Katholiken. Die wirtschaftlich schwache Position der Katholiken auf dem Lande wie auch in den Städten292 änderte sich kaum durch die Einwanderung, da vor allem ärmere Bevölkerungsschichten in die Kurpfalz kamen. Allerdings entstand seit der Herrschaft der Neuburger Kurpfälzischen Linie eine neue katholische Adels- und Beamtenschicht, vor allem im Umfeld des Hofes. Auch in den niederen Ämtern wurden ausschließlich Katholiken eingesetzt, was teilweise aufgrund ihrer schwachen sozialen Stellung, geringen Bildung und ihrer unzureichenden finanziellen Mittel zu Protesten führte.293 Nicht allein das Anwachsen des katholischen Bevölkerungsanteils, der in einigen Orten schnell die ansässige Bevölkerung überflügelte, veränderte das Verhältnis der Menschen mit verschiedener Religionszugehörigkeit zueinander, sondern vor allem die Rekatholisierungspolitik, die die bisherigen Bedingungen religiös-konfessionellen Zusammenlebens weitgehend außer Kraft setzte. Die gravierendsten Auswirkungen hatten Verschiebungen des religiös-konfessionel-
290 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 1004. 291 Ebd., S. 1003. 292 Vgl. hierzu die Angaben in Zschunke, Konfession und Alltag; Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt; Heller-Karneth, Drei Konfessionen. 293 Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, S. 167.
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len Status Quo im Alltag, indem eingespielte Praktiken religiös-konfessioneller Ko-Existenz ausgehebelt wurden, Misstrauen und Verunsicherung geschürt und aus dem vertrauten ‚Anderen‘ Gegner und Religionsfeinde konstruiert wurden, gegenüber denen man sich abgrenzen musste. In dem Maße, wie die Katholiken aus ihrer bisherigen Minderheitenposition in der Kurpfalz in die Offensive gelangten, vor allem auch aufgrund der eindeutigen Bevorzugung ihrer Glaubensanhänger bei der Ämtervergabe und in Konfessionskonflikten, gerieten die Anhänger der reformierten und lutherischen Konfession, in sich uneins, in die Defensive und waren gezwungen, ihren konfessionellen Besitzstand gegen Übergriffe zu verteidigen. Damit waren die Grundlagen eines friedlichen Zusammenlebens und gegenseitiger Duldung, die der Westfälische Friedensvertrag gewährleisten sollte, zerstört, da das, was als Garant betrachtet worden war – die Festlegung des konfessionellen Status Quo und die Gewissensfreiheit –, ganz augenscheinlich außer Kraft gesetzt werden konnte. Ein entscheidender Schritt, der die bisherigen Bedingungen des konfessionellen Zusammenlebens in der Kurpfalz nach 1648 außer Kraft setzte, war die Simultaneumsverordnung vom 26. Oktober 1698: Ihre Churfürstliche Durchl. [...] mit rechtem Bedacht gnädigst resolvirt, sämmtlichen denen dreyen im Heiligen Römischen Reich tolerierenden Religionen Zugewandten, in soweit Ihro Churfürstl. Durchl. Der Rysswiekischen Friedens-Tractat hierinn nicht im Wege stehet, den gemeinsamen Gebrauch in dero Gottesdienst sämmtlich in ihren Chur Pfältzischen Landen befindliche Pfarr- und anderer Kirchen, auch Friedhöfe, dermahlen in Gnaden verstatten.294
Das bedeutete faktisch, dass die Protestanten den Katholiken ihre Kirchen öffnen mussten, der Besitzstand der Katholiken, geschützt durch die Religionsklausel des Rijswijker Vertrags, blieb allerdings unangetastet. Dort, wo das Simultaneum eingeführt worden war, sollten die Geistlichen der drei Konfessionen ihren „Gottesdienst in solche Zeiten vertheilen, und solcher Gestalt anstellen, damit ein Theil dem andern an dessen freyer ungehinderter Übung nicht beeinträchtiget“.295 Dieser Verordnung waren bereits etliche Streitigkeiten zwischen Protestanten und Katholiken über die Nutzung von Kirchen vorangegangen. Schon 1686 hatte Kurfürst Philip Wilhelm in einem Brief an den Mainzer Kurfürsten geschrieben, dass er ständig von Katholiken gedrängt werde, das Simultaneum einzurich-
294 Zitiert nach Kurt Rosendorn, Die rheinhessischen Simultankirchen bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung. Speyer 1958, S. 67. 295 Ebd.
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ten.296 In den Augen der Protestanten bedeutete die Simultaneumsverordnung einen Eingriff in ihre religiöse Freiheit und beeinträchtigte zudem ihre religiöse Praxis, da sie sich mit den Katholiken am Ort gegen ihren Willen über die Nutzung der eigenen Kirchen einigen mussten. Aus katholischer Sicht erhielten die Katho liken durch diese Verordnung die durch die Reformation verloren gegangenen Gotteshäuser und das Recht der öffentlichen Religionsübung zurück.
b) Religiöse Praktiken und Grenzüberschreitungen: Räume, Klänge, Artefakte Nicht selten kam es zu massiven Störungen des Gottesdienstes, über die sich Anfang des 18. Jahrhunderts immer wieder die Reformierten beklagten: Also kommen nicht allein die gemeinen Leute, sondern auch die Catholischen Priester, öffters während der Predigt in die Kirche hinein, lassen die Glocken läuten, machen Praeparatoria zu ihrer Meß, und lauffen aus und ein; und geschiehet dieses sonderlich, wann das heil. Abendmahl gehalten wird.297
In Meckenheim im Amt Neustadt wurde beklagt, dass die Katholiken den Gottesdienst der Reformierten durch „ein groß Gespött“ störten und „mit gottlosen Reden [über] das Heilige Abendmahl“ lästerten. Ähnliches trug sich im Nachbarort zu, wo der katholische Priester zusammen mit einigen Leuten „unter der Predigt einen solchen Tumult“ veranstaltete, „daß alles in confusion gerathen“.298 Beide Vorfälle wurden dem Landschreiber gemeldet, der eine Untersuchungskommission einsetzte. Die Störenfriede wurden allerdings zum Unwillen der Reformierten nicht weiter belangt. Aus dem Oberamt Simmern wurde katholischen Geistlichen vorgeworfen, sich nicht an die vereinbarten Zeiten zur Kirchennutzung zu halten und die Messe derart zu überziehen, „damit die beede Reformirte Gemeinden nur an ihrem Gottesdienst gehindert werden mögen“.299 Gleichzeitig wurde verlangt, dass die evangelischen Bettage unter Verletzung der kurfürstlichen Versicherung auf die katholischen Feiertage verlegt wurden.300 In Mannheim wurden die Protestanten am 31. August 1700 vom kurpfälzischen Rat und Stadtschultheiß Johann Leonhard Lipp angewiesen, zur besseren „Einrichtung unserer Policey- und Stadtwesen“ ihre „wöchentlichen Bethtage auf die
296 Ebd., S. 65. 297 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 850. 298 Ebd., S. 1003. 299 Ebd., S. 1011. 300 Ebd., S. 997.
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einfallende Fest- und Feyertage zu verlegen, und an solchen ihren gewöhnlichen Gottesdienst zu verrichten“.301 Darüber hinaus erlebten reformierte und lutherische Gläubige, dass an Orten, in denen Katholiken lebten und die Kirchen mit den Protestanten teilten, Wegkreuze und Heiligenbilder aufgestellt wurden.302 Wallfahrten und Prozessionen, an denen teilweise Katholiken aus Nachbargebieten teilnahmen, fanden großen Zulauf.303 Zog an katholischen Feiertagen eine Prozession durch den Ort, so wurde laut Verordnung aus dem Jahre 1699 in Weinheim von den Protestanten verlangt, dass sie entweder in ihren Häusern blieben oder sich umgehend in das nächst gelegene Haus zurückzogen. Gelang ihnen dies nicht mehr, so mussten sie beim Anblick des Venerabile den Hut ziehen und niederknien.304 Die Einhaltung dieser Anordnung wurde teilweise streng überwacht und Fehlverhalten mit Arrest bestraft; lutherische und reformierte Pfarrer wurden angehalten, diese Verordnung von den Kanzeln zu verkünden. Wie bereits für das Fürstbistum Osnabrück gezeigt werden konnte, wurde in der Kurpfalz öffentli cher Raum von den Katholiken konfessionell besetzt und die Verhaltensweisen innerhalb dieser neu definierten konfessionellen Grenzen festgelegt und kontrolliert. In der Kurpfalz taten die Katholiken unter der Anleitung der Ordensleute [...] alles, um durch die Errichtung von Wegkreuzen, Hausmadonnen, die Stiftung von Bildstöcken und kleinen Kapellen dem Land ein katholisches Aussehen zu verleihen. Wallfahrten, Bruderschaften, Missionspredigten, ja selbst Versehgänge gerieten leicht zur Demonstration katholischer Präsenz und katholischen Machtanspruchs im Lande.305
Gleichzeitig hatten Lutheraner und Reformierte eigene Mittel, sich dieser Vereinnahmung entweder durch Worte und Gesten oder auch durch direkte Verweigerung zu entziehen, was zu ständigen Reibereien zwischen den Konfessionen führte. Der Kirchenrat in Heidelberg äußerte am 27. Mai 1687 große Bedenken gegen die erstmals geplante Fronleichnamsprozession von der Schlosskirche zur Hospitalkirche (Dominikanerkoster), da er befürchtete, dass nicht nur die Reformierten durch die Prozession „betrübt würden“, sondern auch die Katholiken durch das Verhalten der Reformierten in ihrer Andacht gestört werden könn-
301 Ebd., S. 1001. 302 Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, S. 201. 303 Ebd. 304 Faber, Europäische Staats-Cantzley. Tl. 5. Ulm 1701, Kap. 2, S. 78 (Weinheim 28. Oktober 1699). 305 Schaab, Geschichte der Kurpfalz. Bd. 2: Neuzeit, S. 160.
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ten.306 Der Bürgermeister von Wiesloch ließ 1687 einfach die Tore sperren, als die Fronleichnamprozession mit dem Rauenberger Pfarrer einziehen wollte.307 Manche Verweigerungshaltung führte zu offenen Konflikten zwischen alten und neuen mittleren und niederen Amtsträgern. So weigerte sich beispielsweise der Schultheiß in Oberlustatt, Georg Simon Leer, die Kirche auf Befehl des mit viel Gefolge angereisten Landschreibers aus Germersheim für den katholischen Gottesdienst und einen katholischen Geistlichen zu öffnen mit den Worten „Es wäre der Gemeinde zuwider, und könnte solches nicht verantworten“.308 Im anschließenden Wortwechsel erklärte der Schultheiss, es sei nicht der Wille und die Meinung des Kurfürsten, gegen den Willen der Untertanen einen katholischen Geistlichen einzusetzen, „noch vielweniger, daß durch dero Bediente hochgemeldter Sr. Hochfl. Gn. In dero Dörffern habende Jurisdiction und Gerechtsame der geringste Eintrag beschehe, noch zuwider gelebt werde“. Die Dörfer Oberund Niederlustatt gehörten nämlich in den Herrschaftsbereich des Johanniter Obristen Meisters und unterstanden damit dem Malteser Ritterorden. Als der Schultheiss schließlich dem angereisten Landschreiber vorwarf, er übergehe die Anweisungen des Kurfürsten und hielte sich nicht an die „von so grossen Herren gemachte Friedens Tractaten“, erwiderte der Landschreiber, er habe mit ihm nichts zu disputieren, und drohte an, ihn ins Gefängnis zu werfen. Dem Schultheiss blieb angesichts der Übermacht nichts übrig, als den Schlüssel zu holen, wobei ihm allerdings die Flucht gelang. Dennoch wurde ein katholischer Geistlicher in dem Ort eingesetzt und dem bisherigen reformierten Pfarrer die Bezüge gestrichen. Der Amtmann Johann Ludwig Koch legte im Namen seines Herrn gegen das Vorgehen des Oberamts Germersheim am 28. September 1700 schriftlichen Protest ein und beschwerte sich über die Verletzung seiner Hoheitsrechte.309 Obwohl nur wenige Katholiken in den beiden Dorfschaften lebten, wurde an dem katholischen Geistlichen festgehalten, der reformierte Schulmeister mit seiner Familie vertrieben, und der Widerstand der Gemeinde gewaltsam unter Einsatz von Militär gebrochen. Mit der Kompetenzüberschreitung in Religionssachen einiger katholischer Amtsträger im Oberamt Oppenheim befasste sich auch eine Kirchenratsreso lution, die den Widerstand reformierter Pfarrer gegen amtliche Anweisungen – es ging um die katholische Erziehung eines Jungen, der nach dem Tod seines katholischen Vaters bei seiner reformierten Mutter lebte – rechtfertigte unter
306 Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, S. 201. 307 Ebd. 308 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 1024. 309 Ebd., S. 1022–1023.
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Verweis auf ihre Amtspflicht als Geistliche und auf ihr Gewissen. Ferner hieß es in der Resolution „und keinem Ober Amt niemalen gebühret, schon etlichmal remonstrirter massen wider die Churf. Landes-Ordnung Cap. 14. Tit. 3 mit Straffen gegen Pfarrer und Kirchen eigenmächtig zu verfahren“.310 Demnach sollten alle Unterbedienten als auch die Oberämter selbst in Religionssachen bei Strafe keine eigenständigen Entscheidungen treffen, sondern zunächst einen ausführlichen Bericht an die Landesregierung schicken und um Anweisungen zum weiteren Verfahren bitten. Die Dynamik von Rekatholisierung und Besitzstandswahrung schuf unter geistlichen und weltlichen Amtsträgern eine Atmosphäre argwöhnischer gegenseitiger Beobachtung und eine geringe Bereitschaft, religiöse Praktiken der anderen Konfession zu tolerieren, eine Haltung, die auch auf die Gläubigen übertragen wurde. Die konfessionellen und politischen Veränderungen gingen nicht spurlos an der Bevölkerung vorbei und zerstörten zunächst auf beiden Seiten die Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben ungeachtet religiöser und konfessioneller Differenzerfahrungen im Alltag. In der Kurpfalz noch mehr als im Fürstbistum Osnabrück wurde das konfessionelle Gleichgewicht vor allem gestört durch das Verhalten von Geistlichen aller drei Konfessionen, wobei die Katholiken durch die Unterstützung von Ordensträgern und religiösen Eiferern und vor allem niederer und mittlerer Amtsträger an vielen Orten schnell die Oberhand gewannen. Ob sich die ländliche Bevölkerung selbst aus religiös-konfessionellen Gründen im späten 17. und im 18. Jahrhundert deutlich voneinander abgrenzte, können erst mikrohistorische Studien einzelner Ortschaften zeigen. Die Quellen zeugen von „konfessioneller Migration“, die sich entweder innerhalb der Kurpfalz zwischen mehrheitlich katholischen und protestantischen Ortschaften bewegte, in Nachbarterritorien führte oder zur Emigration nach Nordamerika.311 c) Konfessionen im Konkurrenzmodus – Die religiöse Formbarkeit von Kindern Anders als im Fürstbistum Osnabrück handelte es sich in der Kurpfalz um eine teilweise neu zusammengewürfelte Einwohnerschaft aufgrund starker Einwanderung nach den Bevölkerungsverlusten des Dreißigjährigen Krieges. Die religiö sen und konfessionellen Grenzformationen waren allerdings auch in der ländli-
310 Faber, Europäische Staats-Cantzley, Tl. 6. Ulm 1702, S. 104. 311 Zum Begriff „konfessionelle Migration“ vgl. Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefüge und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 187). Gütersloh 1972; ders., Die frühneuzeitliche Konfessionsmigration, in: IMIS-Beiträge 20/2002. Themenheft: Migration in der europäischen Geschichte seit dem späten Mittelalter, S. 67–89.
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chen Bevölkerung nicht nur bei der gemeinsamen Kirchennutzung, dem neuen Rhythmus katholischer Feiertage oder dem verordneten Verhaltenskodex bei Prozessionen spürbar, sondern wirkten sich auch in anderen ursprünglich nicht konfessionell besetzten Bereichen aus. Wie auch in anderen religiös-konfessionell gemischten Regionen wurde das Potential von Kindern für Praktiken religiöser Formbarkeit und (Selbst)Bildung entdeckt. Eine exponierte Rolle in den religiösen und konfessionellen Streitigkeiten spielten Hebammen, die aufgrund ihrer unmittelbaren Nähe zu dem Neugeborenen die Möglichkeit hatten, das Kind unter einem Vorwand der Nottaufe zu unterziehen und durch diesen Akt die Konfession zu bestimmen. Dies nutzten einzelne Gemeinden aus und versuchten, nur noch Hebammen der eigenen Konfession die Zulassung zu gewähren. So hat der Amtmann zu Landecken im Unteramt Germersheim am 10. Juni 1700 befohlen, „daß man sich keiner andern als der neu angenommenen Catholischen Heb Amme, bey 10. Rhtlr. Straff vor die Amme, so sonst beruffen würde, und 5. Rhtlr. Vor den, so eine andere beruffet, gebrauchen solle“.312 Dieses Mittel, die Konfessionszugehörigkeit Neugeborener zu beeinflussen, wurde von beiden Konfessionen noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eingesetzt, wie Beschwerden über die von reformierten Hebammen erzwungene Nottaufe von Kindern katholischer Wöchnerinnen von 1787 belegen.313 Dass die Initiative nicht immer bei den Hebammen lag, sondern auch die Wöchnerinnen gegen den Willen eines andersgläubigen Ehepartners oder zur Umgehung konfessioneller Vorschriften vollendete Tatsachen schaffen wollten, hat Eva Labouvie für die religiös-konfessionell gemischte Saar-Pfalz Region gezeigt.314 Dass die Gläubigen teilweise weniger Berührungsängste mit einer anderen Religion oder Konfession hatten als die Geistlichen, zeigt sich am Beispiel der reformierten Minderheit im Toggenburg in der Schweiz. Im 17. Jahrhundert ließen Reformierte vermehrt Nottaufen von Kindern durch katholische Hebammen durchführen, da nur Getaufte auf dem gemeinsam mit den Katholiken genutzten Friedhof bestattet werden durften. Teilweise gegen den Widerstand des eigenen Pfarrers setzten sie im Todesfall des Neugeborenen die Bestattung auf geweihter Erde und unter Glockengeläut durch.315
312 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 992. 313 Vgl. beispielsweise den Bestand die von reformierten Hebammen erzwungene Nottaufe von Kindern katholischer Wöchnerinnen GLA 77/4201 (1787). 314 Eva Labouvie, Andere Umstände. Eine Kulturgeschichte der Geburt. Köln 1998, S. 217–220. 315 Frauke Volkland, Reformiert sein „unter“ Katholiken. Zur religiösen Praxis reformiert Gläubiger in gemischtkonfessionellen Gemeinden der Alten Eidgenossenschaft im 17. Jahrhundert, in: Norbert Haag (Hrsg.), Ländliche Frömmigkeit. Konfessionskulturen und Lebenswelten 1500– 1850. Stuttgart 2002, S. 159–177, hier S. 168.
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Ein weiterer Streitpunkt in der Kurpfalz war die konfessionelle Formung und (Selbst)Bildung von Kindern, für die von katholischer Seite vor allem Ordensleute eingesetzt wurden, die reformierten oder lutherischen Schulmeistern ihre Aufgabe streitig machten. Auch Hospitäler, Armen- und Waisenhäuser kamen unter katholische Aufsicht, wie beispielsweise das evangelische Waisenhaus in Handschuhsheim im Oberamt Heidelberg. Dem reformierten Pfarrer wurde von dem Landschreiber zu Heidelberg verboten, die zumeist von reformierten Eltern stammenden Waisenkinder weiter in der reformierten Religion zu unterweisen, da sie nun katholisch erzogen werden sollten.316 In Mannheim nahm man z.B. reformirter Eltern Kinder in das katholische Waisenhaus [...] auf, um sie in der katholischen Religion erziehen zu lassen, ohne auf den Widerspruch ihrer Vormünder oder Verwandten zu achten oder man verlieh protestantischen Eltern das Bürgerrecht nur unter der Bedingung, ihre Kinder insgesamt katholisch werden zu lassen.317
Kinder religiös-konfessionell gemischter Familien mit einem katholischen Elternteil wurden noch im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts in Waisenhäuser zur katholischen Erziehung gegen den Willen der Angehörigen eingewiesen, wenn ihre katholische Erziehung gefährdet schien.318 Am 10. Oktober 1760 erließ die kurfürstliche Regierung eine Verordnung, nach der alle Findelkinder, als auch die verwaisten Kinder hingerichteter Vagabunden katholisch erzogen werden sollten.319 Diese Regelung wurde auch auf die Kinder hingerichteter Juden gegen die Eingaben jüdischer Vorsteher und Mannheimer Hofjuden 1760 angewandt.320 Unehelich geborene Kinder sollten dagegen der Konfession ihrer Mutter angehören.
316 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 803. 317 Johann Stephan Pütter, Systematische Darstellung der Pfälzischen Religions-Beschwerden nach der Lage, worin sie jetzt sind. Göttingen 1793, S. 251. Für ausführliche Fallschilderungen vgl. die Kapitel IV und V. 318 Für Beispiele vgl. Kapitel IV. 319 GLA 77/4180, fol. 16 (1760). 320 Dagmar Freist, Zwangsbekehrung jüdischer Kinder in der Kurpfalz im 18. Jahrhundert – Zur Frage der Toleranz in der Zeit der Aufklärung, in: Horst Lademacher/Renate Loos/Simon Groenveld (Hrsg.), Ablehnung–Duldung–Anerkennung. Toleranz in der deutschen und nieder ländischen Gesellschaft 16.–19. Jhd. (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, 2). Münster u.a. 2004, S. 400–421.
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d) E inquartierungen als obrigkeitliche Umgangsweise mit religiöser Differenz in der Familie Gerade die zu Beginn des 18. Jahrhunderts teilweise massiven Übergriffe von katholischer Seite provozierten das Festhalten an der reformierten oder lutherischen Konfession und stärkten das Zusammengehörigkeitsgefühl und den Widerstand, wie bereits an einigen Beispielen gezeigt werden konnte. Die größte Unruhe unter den Einwohnern kleinerer Ortschaften auf dem Lande brachte um die Jahrhundertwende der Einsatz von Kommissionen, die mit Reitern gezielt durch die Orte zogen und vor allem religiös-konfessionell gemischten Familien und Witwen mit ihren Kindern durch militärische Exekution zur Konversion zwangen. Ein Memorial der reformierten Gemeinde zu Lautern vom 14. Januar 1700 schilderte, wie Versuche der Kapuziner, Kinder gemischter Ehen sowie Kinder, deren Eltern in der ersten Generation reformiert waren, zum katholischen Glauben zu bewegen, eskalieren konnten. Nachdem ein von den Kapuzinern erwirkter Erlass des Oberamts, nach dem sich die Kinder bei Strafe von 50 fl. in der katholischen Kirche und Schule einfinden sollten, ohne Erfolg geblieben war, wurde am 1. Januar eine „militärische Exekution“ vorgenommen, indeme sie solchen vermischten Eheleuthen und von Catholischen Männern hinterlassenen Reformirten Witwen, unterschiedene Musquetier hiesiger Garnison anheim schickten, biß die minderjährigen Kinder zur Schulen und die Erwachsene zur Meß anzuhalten versprechen würden.321
Am 15. Dezember 1699 hatte das Oberamt Lautern die Schultheißen von Ramstein und Steinwenden bei Strafe von 50 fl. angewiesen, eine kurfürstliche Verordnung zu publizieren, nach der alle Kinder, deren Vater oder Mutter katholisch waren, in derselben Religion erzogen werden sollten. Am 29. Januar 1700 wurde diese Verordnung ergänzt durch eine Anweisung daß wegen der halsstarrigkeit von Eltern, wo eines im hause catholisch, die kinder in derselben Schul schicken, eine Execution ausgehen muß; dahero sie ihre Angehörige, dafür sich vorzusehen, zu warnen, und vor Schaden hüten können.322
Die angedrohte Exekution wurde am 3., 4. und 5. Februar durchgeführt. Der katholische Pfarrer Mörlin ging in Begleitung von zwei Reitern nach Wadenbach, wo er insgesamt vier Familien aufsuchte, zwei katholische Männer verheiratet mit zwei evangelisch-lutherischen Frauen und zwei reformierte Männer verhei-
321 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 851. 322 Ebd., S. 855.
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ratet mit zwei katholischen Frauen. Pfarrer und Reiter gingen in jedes Haus, wo die Reiter je einen halben Gulden und einen Simmer Haber einforderten. Die Eheleute mussten versprechen, die Kinder in die katholische Schule und Kirche zu schicken, dem katholischen Schulmeister das sogenannte „Glocken Korn“ zu überbringen und dem katholischen Pfarrer das Kirchengeld abzustatten. Der gleiche Vorgang wiederholte sich in Wiesenbach, in Nickel, in Steinwenden, in Ober-Mohr und in Katzenbach, wo nochmals insgesamt sieben Familien aufgesucht wurden, die die Exekutionsgebühr bezahlen und überdies versprechen mussten, ihre Kinder in Zukunft in die katholische Kirche und Schule zu schicken. Zeigte sich Widerstand, so drohten die Reiter an, eine „gantze Compagnie Reuther ins Haus zu legen“.323 Nicht überall verlief die Exekution so reibungslos. In Ottersheim „hausten die Soldaten und Reuter sehr übel mit Betten Ausleeren, Wein-Frücht Verschütten und anderen Insolentia“. Beschwerten sich die Einwohner, so wurde ihnen erwidert, „sie müssten alle katholisch werden, dieses sey Churfürstlicher Befehl“.324 Aufgrund dieser Zuspitzung der Lage um die Jahrhundertwende war es wenig verwunderlich, dass sich die Protestanten mit ihren Religionsbeschwerden nicht nur an den eigenen Landesherrn wandten. Zuständig für Religionssachen in der kurfürstlichen Regierung waren der ehemalige Landschreiber des Oberamts Kreuznach, Nicolaus Quad, der nach dem Herrschaftswechsel zum Katholizismus konvertiert war, und Christian Ritmeyer, der 1693 bei den Jesuiten in Hildesheim den katholischen Glauben angenommen hatte.325 Für Lutheraner und Reformierte war es aufgrund der Ereignisse nicht der Kurfürst mit seinen katholischen Regierungsräten, der sich als Garant der Religions- und Gewissensfreiheit anrufen ließ, sondern zum Verdruss der Regierung und der katholischen Stände zunehmend in erster Instanz das Corpus Evangelicorum und der Reichstag.326 e) Religionsbeschwerden und Alltagshandeln Die Beschwerden der Reformierten bezogen sich neben Verletzungen religiöser Praktiken oder der Vereinnahmung durch fremde religiöse Praktiken auch auf das Alltagshandeln. Im Oberamt Oppenheim wurde das Arbeitsverbot auch häuslicher Verrichtungen an katholischen Feiertagen beklagt, die Verdrängung reformierter Schulmeister, die Absetzung reformierter Pfarrer und die Fortführung
323 Ebd., S. 856. 324 Ebd., S. 993. 325 Pütter, Systematische Darstellung, S. 248–249. 326 Vgl. Kapitel V.
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von militärischen Exekutionen, um die katholische Kindererziehung in religiöskonfessionell gemischten Familien zu erzwingen. Reformierte Pfarrer wurden mit einer Geldbuße von 20 Reichstalern bestraft, wenn sie ehemalige Katholiken, die zur reformierten Konfession konvertiert waren, zum Abendmahl zuließen. Einem katholischen Einwohner, dessen Frau den reformierten Glauben angenommen hatte, wurde eine Exekution über Monate ins Haus geschickt, die sein Hab und Gut verkaufte, bis die Exekution schließlich durch kurfürstlichen Befehl aufgehoben wurde. Stimmen im Oberamt ließen allerdings verlauten, der Oppenheimer Landschreiber hätte recht getan, die Exekution anzuordnen. Sie hätten die Exekution nicht aufgehoben, „wann es gleich der Churfürst oder die Regierung befohlen“.327 Im Oberamt Germersheim gab es im Jahre 1701 von den ehemals 24 reformierten Pfarrern nur noch fünf, und zwar in den Orten Impflingen, Siboldingen, Zeitzkam, Billichheim und Aldorf, während bereits 33 katholische Priester ihren Dienst taten.328 Weitere Beschwerden bezogen sich auf die ungleiche Verteilung der Armengelder zuungunsten der Protestanten, die Verpflichtung reformierter Glöckner auch das katholische Ave Maria zu läuten, obwohl katholische Glöckner am Ort vorhanden waren, die Niederstufung reformierter Pfarrstellen nach Absterben der Stelleninhaber zu Nebenstellen bei gleichzeitiger Aufstockung katholischer Priester oder die Verringerung der Gefälle reformierter Pfarrer und Prediger. Am häufigsten allerdings waren die bereits erwähnten militärischen Exekutionen in den späten 1690er Jahren und Anfang des 18. Jahrhunderts, mit denen religiös-konfessionell gemischte Familien gezwungen werden sollten, die Kinder der katholischen Konfession zuzusprechen und in die katholische Schule und Messe zu senden. Diese Exekutionen fanden nicht nur in den linksrheinischen Ämtern statt, sondern wurden auch in anderen Teilen der Kurpfalz beklagt und detailliert beschrieben. Die Exekutionen kamen zustande in einem Zusammenspiel von Amtsträgern auf der Ebene der Oberämter und katholischer Geistlicher vor Ort. Die Oberämter forderten die Untertanen in schriftlichen Befehlen auf, die Kinder aus religiös-konfessionell gemischten Familien dem katholischen Glauben zuzuführen und die Geistlichen lieferten die notwendigen Informationen und begleiteten mitunter Reiter und Militär, die sich in dem verarmten Land nicht selten an der wenigen Habe der betroffenen Familien bereicherten. Die Vorfälle wurden von reformierten Pfarrern oder Schultheißen, sofern noch im Amt, über den reformierten Kirchenrat dem Kurfürsten vorgetragen, doch wurde
327 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 1043; für Beispiele der oben angeführten Beschwerden aus verschiedenen Ämtern ebd. vgl. S. 1041–1063. 328 Ebd., S. 1044.
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offensichtlich wenig unternommen. Mitunter versuchten Betroffene auch selbst, Bittschriften und Beschwerden persönlich an höhergestellte Amtsträger zu übergeben bis, wie im Falle einiger Mosbacher Einwohner, „der Herr Landschreiber ihnen hat sagen lassen, wann sie wieder nach heydelberg oder zum Oberamt giengen, wollte er sie lassen einstecken“.329 Die militärische Exekution zur Vollstreckung obrigkeitlicher Befehle330 war kein seltenes Phänomen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft und wurde von der Forschung bislang beispielsweise in Zusammenhang mit Steuereintreibungen und der Durchsetzung von Fron- und Gesindediensten erwähnt331, ist aber insgesamt kaum untersucht worden.332 Militärische Exekutionen waren das letzte Glied in der Vollstreckung obrigkeitlicher Befehle, nachdem andere Disziplinierungsmaßnahmen ohne Wirkung geblieben waren. Die Untertanen wurden durch obrigkeitlichen Erlass vor einer militärischen Exekution gewarnt, falls sie sich nicht dem Befehl beugten. Wurde eine Exekution durchgeführt, mussten die betroffenen Untertanen Kontributionen zahlen und die eingelagerten Soldaten versorgen. Bei andauernder Befehlsverweigerung kam es zu Pfändungen von Einrichtungsgegenständen, Kleidung und Vieh.333 Mitunter wurde auch die Ernte in Mitleidenschaft gezogen. Die hier exemplarisch ausgewählten Fälle militärischer Exekution zur Durchsetzung konfessioneller Konformität im 18. Jahrhundert sind für die Kurpfalz aufgrund der rigorosen Rekatholisierung wenig überraschend und ließen sich durch weitere Beispiele ergänzen, doch auch im Fürstbistum Osnabrück und in Kursach-
329 Ebd., S. 1057. 330 Zedler, Universal-Lexikon. Bd. 8, Sp. 2349–2350 (Execution). 331 Helmut Schnitter/Thomas Schmidt, Absolutismus und Heer. Zur Entwicklung des Militärwesens im Spätfeudalismus. Berlin 1987, S. 49; Lieselotte Enders, Die Uckermark. Geschichte einer kurmärkischen Landschaft vom 12. bis zum 18. Jahrhundert. Weimar 1992, S. 354, 445f., 494f., 523, 564, 575; Heinrich Kaak, Vermittelte, selbsttätige und maternale Herrschaft. Formen gutsherrlicher Durchsetzung, Behauptung und Gestaltung in Quilitz-Friedland (Oberbarnim-Lebus), in: Jan Peters (Hrsg.), Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Über Resistenzund Herrschaftsverhalten in ländlichen Sozialgebilden der Frühen Neuzeit. Göttingen 1995, S. 54–117, hier S. 83 ff., 97 und 105 f. 332 Heinrich Kaak hat dieses Phänomen in der Brandenburgischen Landbevölkerung untersucht. Heinrich Kaak, Soldaten aus dem Dorf, Soldaten im Dorf, Soldaten gegen das Dorf – Militär in den Augen der Brandenburgischen Landbevölkerung 1725–1780, in: Stefan Kroll/Kersten Krüger (Hrsg.), Militär und ländliche Gesellschaft. Münster 2000, S. 297–326, hier S. 311–317. 333 Für eine Zusammenstellung der Kosten, die für die Reformierten in Seebach, Ottersheim, Knittelsheim, Schleytal, Belheim und Klingenmünster in der Kurpfalz durch militärische Exekutionen entstanden waren vgl. Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, 13. Kap., S. 1012–1015.
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sen finden sich im 18. Jahrhundert Beispiele militärischer Exekution, zumindest den Einsatz bewaffneter Schützen oder Reiter, um in Konflikten über die Konfessionszugehörigkeit von Kindern die obrigkeitlich für rechtmäßig befundene Konfession gegen den Widerstand der Untertanen gewaltsam durchzusetzen. f) O brigkeitliche Ansätze zur Überwindung innergesellschaftlicher Religionskonflikte In Reaktion auf die eingegangenen Beschwerden und angesichts des Drucks vor allem Kurbrandenburgs erließ Kurfürst Johann Wilhelm (1658–1716) am 1. Mai 1701 ein Edikt an alle Oberämter, wie auch die Städte Heidelberg, Mannheim und Frankenthal, in dem er die Amtsträger zur Einhaltung der Religionsfreiheit und Abstellung allen Gewissenszwangs ermahnte.334 In dem Edikt ist eine Reihe von Anweisungen enthalten, die sich direkt auf die religiöse Praxis und auf den Umgang mit Mischehen bezogen. Zunächst wurde festgehalten, dass allen Untertanen der Kurpfalz freistünde, sich zu einer der drei anerkannten Konfessionen zu bekennen. Auf diejenigen unter französischer Herrschaft zum Katholizismus konvertieren Untertanen linksrheinischer Ämter, die sich nach dem Friedensschluss wieder dem reformierten Glauben zugewandt hatten, sollte weiter kein Gewissenszwang ausgeübt werden. Um Konflikte bei Prozessionen im Vorfeld zu verhindern, sollte jedes Mal vor Herannahen des Venerabile ein Zeichen mit einer Glocke gegeben werden, damit sich die Protestanten rechtzeitig zurückziehen oder in ihren Häusern verbleiben konnten. Ebenso sollte verfahren werden, wenn das Venerabile zu Kranken gebracht würde. Geahndet werden sollte in Zukunft nur noch die von Protestanten vorsätzlich öffentlich gezeigte Verachtung des Umgangs. Vorgeschlagen wurde weiter, die Bürgerwachen durch Katholiken zu ersetzen. Für die Behandlung von Mischehen wurde die Verordnung von Philipp Wilhelm vom 28. Juni 1694 bestätigt, wonach sich die Konfession und Erziehung der Kinder nach der Konfession des caput familiae richten sollte. In einem Memorial an den Kurfürsten vom 17. Juli 1701 warf der reformierte Kirchenrat dem Kurfürsten vor, mit dieser Bestimmung sei der Umgang mit Mischehen „mehr verdunckelt und zweiffelhafftig gemacht worden“, da das Edikt von 1694 lediglich bestimmt hätte, dass sich die Gemeindezugehörigkeit der Familie nach der Konfession des Familienvaters richte, nun aber die Konfession des Vaters auch für die Erziehung der Kinder verantwortlich gemacht werde,
334 Faber, Europäische Staats-Cantzley. Tl. 6. Ulm 1702, S. 78.
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und darauf scharffer Zwang mit Straffen und Thurnen, und verderblichen schweren Reuter Executionen angelegt werden will, solches in Fällen, wo die Kinder schon annos discretionis erreichet, oder auch schon die Reformirte Religion begriffen, und darinnen Profession getan, grosses lamentiren und Wehklagen verursachet.335
Wie stark der Handlungsdruck vor allem auch mit Blick auf die Behandlung reli giös-konfessionell gemischter Familien geworden war, zeigte sich neben den Religionsbeschwerden nicht zuletzt in der kurpfälzischen Religionsdeklaration von 1705. Unmittelbar nach der Garantie allgemeiner Gewissensfreiheit und dem Verbot zuwider stehender Verordnungen wurde unter § 3 der zukünftige Umgang mit Mischehen und die Bestimmung der Konfession von Kindern aus gemischten Ehen geregelt. Durch eine weitere Bestimmung der Religionsdeklaration, die Aufteilung des Kirchenvermögens sowie die Verteilung von Schulen und Kirchen auf die drei Konfessionen, sollten die Konflikte über die Kirchennutzung beigelegt werden. Dies bedeutete jedoch in den Augen der Protestanten eine weitere Verletzung der Bedingungen, die ursprünglich das Verhältnis der Konfessionen in der Kurpfalz nach 1648 bestimmt hatten.336 Die Religionsdeklaration sah die Durchführung der Teilungen durch eine paritätisch besetzte Religions-Exekutions-Kommission vor, die aus den katholischen Regierungsräten Nikolaus Quad und Christian Ritmeyer und den evangelischen Kirchenräten Franz Daniel Heyles und Johann Ludwig Creutz bestand. Mit Hilfe von Inspektionen wurden die Teilungen Oberamt für Oberamt über einen Zeitraum von zwei Jahren durchgeführt. Das Verfahren war nicht immer widerspruchsfrei und spätere Konflikte waren vorprogrammiert. Nach Abschluss der Teilung bestanden in der gesamten Kurpfalz 212 reformierte Kirchen, 113 katholische Kirchen und 130 Simultankirchen.337 Faktisch waren den Katholiken deutlich mehr Kirchen zugefallen, da eine ganze Reihe von Gebieten, Gotteshäuser wie auch die Klöster von der Kirchenteilung ausgenommen worden waren. Dort, wo die Katholiken nicht zum Zuge gekommen waren, blieben ihnen herrschaftliche Gebäude als Gottesdiensträume. Auch der Adel hat die Wiedererrichtung katholischer Kirchen gefördert. Die Reformierten hatten nicht immer eine glückliche Wahl getroffen. „Manche Kirchen konnten sie mangels einer entsprechenden Gemeinde gar nicht antreten und verloren sie an die überwiegend katholische Bevölkerung wie die Kapellen
335 Struve, Ausführlicher Bericht von der Pfälzischen Kirchen-Historie, S. 1050–1051. 336 Churpfälzische Religionsdeklaration vom 21. November 1705, § 16 ff. GLA Zc 1004. 337 Für diese Zahlen sowie eine detaillierte Schilderung des Teilungsverfahrens einschließlich Tabellen vgl. Schaab, Die Wiederherstellung des Katholizismus, S. 183–197.
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zu Niedergondershausen und Liesenfeld im Oberamt Simmern.“338 Andere lagen nicht mehr auf pfälzischem Territorium. Darüber hinaus verzögerten die Katholiken vielerorts die Räumung der Simultankirchen, was zu weiteren Spannungen zwischen den Konfessionen führte. Die katholischen Gemeinden selbst legten große Energie an den Tag, in Selbsthilfe „noch zahlreiche rechtswidrige Okkupationen von Kirchentrümmern, kleinen Kapellen und Schulgebäuden“ vorzunehmen, wobei sie meist nachträglich Rückhalt von den Behörden erfuhren. Nicht „zuletzt diese Methoden waren die Ursache für zahlreiche der auch nach 1707 nicht abbrechenden Religionsbeschwerden“.339 Auch wenn militärische Exekutionen nicht mehr in gleichem Umfang wie um die Jahrhundertwende zum Alltag der ländlichen Gesellschaft mit religiös-konfessionell gemischten Familien gehörten, so ereigneten sich auch nach 1705 noch Übergriffe auf Mischehen, die vor allem von der mittleren Ebene von Amtsträgern ausgingen, jedoch häufig die Rückendeckung der kurpfälzischen Regierung fanden. Zusammenfassend kann für die Kurpfalz gesagt werden, dass nach den rigorosen Mitteln der Rekatholisierung, die unter anderem durch militärische Exekutionen deutliche Spuren in einzelnen Gemeinden hinterließ und vor allem in Mischehen Zwangskonversionen nichtkatholischer Familienmitglieder oder deren Flucht nach sich zog, die Bedingungen des religiös-konfessionellen Zusammenlebens im 18. Jahrhundert neu definiert werden mussten. Die Grundlage bildete zwar die Religionsdeklaration von 1705, doch in der politischen und sozialen Praxis wurde vor allem auf der Ebene mittlerer Amtsträger unterstützt durch Geistliche die katholische Konfession auch im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts begünstigt. Da sich der katholische Bevölkerungsanteil nachweislich nur äußerst gering über Konversionen (abgesehen von Zwangsbekehrungen) vergrößerte, lässt sich daraus eine relative innergesellschaftliche Stabilität der reformierten und lutherischen Konfession schließen. Gleiches gilt für die katholische Minderheit, die sich nach der lutherischen und reformierten Konfessionalisierung im Lande hielt. Dennoch waren angesichts der religiösen und konfessionellen Durchmischung der Kurpfalz in der ländlichen Gesellschaft Mischehen im 17. und frühen 18. Jahrhundert durchaus keine Seltenheit, auch wenn darüber keine Zahlen vorliegen.340 Die oben angeführten Beispiele militärischer Exekutionen haben in
338 Ebd., S. 196. 339 Ebd., S. 199. 340 Aufgrund der Kriegseinwirkungen in der Kurpfalz wurde die Erfassung der Einwohner in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts unterbrochen. Für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts liegen Zählungen nur einzelner Ämter vor, darunter die oben bereits angeführte Zählung von
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einzelnen kleinen Dörfern Ende des 17. Jahrhunderts bis zu sechs Mischehen zwischen katholischen und lutherischen oder reformierten Partnern aufgelistet. Die Heftigkeit, mit der die Mischehefrage in der Kurpfalz Ende des 17. und Anfang des 18. Jahrhunderts diskutiert wurde, und die Konflikte, die hier vor allem geschürt durch Geistliche und mittlere Amtsträger, auftraten und in Einzelfällen bis vor den Reichstag gelangten341, deuten auf ein weitverbreitetes Phänomen hin, das für die Kirchen auf der einen Seite den Boden für Bekehrungen bereitete, auf der anderen Seite dem Streben nach konfessioneller Konformität statt „Lauigkeit“ entgegen stand. Wie „verletzbar“ Mischehen gegenüber Eingriffen von außen im Verlauf des 18. Jahrhunderts blieben, zeigen die wiederholten Erlasse zur Abfassung von Eheverträgen mit der Festlegung der Konfessionszugehörigkeit von Kindern vor der Eheschließung verbunden mit der Ermahnung, diese Verträge ohne Druck durch die zumeist katholischen Beamten abfassen zu lassen. Diese Eheverträge sollten in Konflikten die Rechtsgrundlage bilden. Folgt man der Darstellung Pütters, so ebnete gerade die Verpflichtung religiös-konfessionell gemischter Paare, vor dem örtlichen Amtsträger die Konfessionsbestimmung der Kinder vertraglich festzulegen, dem Missbrauch Tür und Tor. Katholische Beamte hätten nun direkten Zugriff auf die Konfessionsbestimmung zukünftiger Untertanen durch Ausübung von Zwang und Drohungen.342 In welchem Maße andauernde Konfessionskonflikte über die Nutzung von Kirchen oder über die Erziehung von Kindern religiös-konfessionell gemischter Paare das Zusammenleben der Konfessionen auf dem Lande im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts beeinträchtigte, können erst mikrohistorische Studien einzelner Dorfschaften klären. Noch stärker als in anderen Gegenden war die Kultur der drei Konfessionen im Alltag geprägt durch Konfrontation auf der einen Seite und räumliche Nähe und Durchmischung der Konfessionen auf der anderen Seite.
1671 im Oberamt Heidelberg. Von ersten statistischen Versuchen ist nur die „Jährliche Generaltabelle über das Oberamt Heidelberg“ von 1727 überliefert. Generaltabellen, die laut kurfürstlichem Befehl seit 1770 angefertigt werden mussten, liegen nur für die Jahre 1774 und 1777 vor. Die Gesamteinwohnerzahlen von 1784 sind veröffentlicht in Johann G. Widder, Versuch einer vollständigen Geographisch-Historischen Beschreibung der Kurfürstlichen Pfalz am Rheine. 4 Bde. Mannheim/Leipzig 1786/1788. Vgl. Meinrad Schaab, Die Anfänge einer Landesstatistik im Herzogtum Württemberg in den Badischen Markgrafschaften und in der Kurpfalz, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 26 (1967), S. 89–112. 341 Vgl. Kapitel V. 342 Pütter, Systematische Darstellung, S. 252.
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3.3 Kursachsen 3.3.1 Religiös-konfessionelle Zusammensetzung Das Albertinische Sachsen, seit 1547 Kurfürstentum, war im 16. Jahrhundert gekennzeichnet von einer erstarkenden Landesherrschaft gegenüber einer eher schwachen Position der Stände343, die allerdings im 17. und im 18. Jahrhundert vor allem durch ihr Steuerbewilligungsrecht auf den Landtagen sowie aufgrund von innerdynastischen Problemen noch einmal deutlich an Macht zugewinnen konnten.344 Darüber hinaus verhinderte die relative Abgeschlossenheit des sächsischen Adels sowohl gegenüber bürgerlichen Rittergutsbesitzern345 als auch gegenüber eingewanderten Adelsfamilien weitgehend einen Austausch der Eliten, wie er beispielsweise in Brandenburg-Preußen im Zuge der Konversion des Kurfürsten stattgefunden hatte, was zu einem weiteren Anwachsen der politischen Machtstellung weniger alteingesessener Adelsfamilien führte.346 Zu den Charakteristika des Territoriums gehörten ein relativ hoher Grad der Verstädte rung – der Anteil der Stadtbevölkerung betrug 1565 bereits 32 Prozent347 –, darunter geistige Zentren wie die Universität Leipzig – sowie im wirtschaftlichen Bereich der Bergbau, Gewerbe und Handel. Reformatorische Ideen trafen in Kursachsen schnell auf fruchtbaren Boden und bereits im 16. Jahrhundert – ungeachtet heftiger Lehrstreitigkeiten unter den Theologen – wurde das Kurfürstentum
343 Hellmuth Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit seit Mitte des 16. Jahrhunderts, in: Rudolf Kötzschke/ders., Sächsische Geschichte. ND der Ausg. Dresden 1935. Augsburg 1995, S. 211–402, hier S. 225 ff.; Karl Czok/Werner Bramke, Geschichte Sachsens. Weimar 1989, S. 228 ff. 344 Vgl. beispielsweise Frank Göse, Zwischen „Ständestaat“ und „Absolutismus“. Zur Geschichte des kursächsischen Adels im 17. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Ständetum und Landesherrschaft, in: Katrin Keller/Josef Matzerath (Hrsg.), Geschichte des sächsischen Adels. Köln u.a. 1997, S. 139–160; Für den Aufbau des Territorialstaats vgl. Thomas Klein, Kursachsen, in: Jeserich/Pohl/von Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1, S. 803–843. 345 Katrin Keller, Der Hof als Zentrum adliger Existenz? Der Dresdner Hof und der sächsische Adel im 17. und 18. Jahrhundert, in: Ronald G. Asch (Hrsg.), Der europäische Adel im Ancien Régime. Von der Krise der ständischen Monarchien bis zur Revolution (ca. 1600–1789). Köln u.a. 2001, S. 207–233, hier S. 211–212; grundlegend Axel Flügel, Bürgerliche Rittergüter. Sozialer Wandel und politische Reform in Kursachsen (1680–1844) (Bürgertum. Beiträge zur europäischen Gesellschaftsgeschichte, 16). Göttingen 2000. 346 Göse, Zwischen „Ständestaat“ und „Absolutismus“, S. 149–150. 347 Volkmar Weiss, Bevölkerungsentwicklung und Mobilität in Sachsen von 1550 bis 1880, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 64 (1993), S. 53–60, hier S. 55; Karlheinz Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen bis zur industriellen Revolution. Weimar 1967, S. 130–142.
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zum Kernland der lutherischen Orthodoxie.348 Die Grundlage schon früh einsetzender lutherischer Konfessionalisierung bildete eine detaillierte Kirchen- und Schulordnung aus dem Jahre 1580 mit dem Ziel, die neue Lehre in den Bereich der Erziehung und religiösen Praxis einfließen zu lassen, sowie die Einrichtung eines Oberkonsistoriums in Dresden und die Durchführung umfassender Visitationen.349 Auch die Ausbildung von Geistlichen wurde streng nach lutherischen Vorgaben ausgerichtet; die Professoren an den beiden Universitäten mussten sich auf das Konkordienbuch verpflichten und die Lehre wurde durch neu eingerichtete Instanzen überwacht. Durch diese hier nur grob skizzierten Maßnahmen grenzte sich die kursächsische Kirche nicht nur vom Katholizismus, sondern auch bewusst und deutlich vom Calvinismus ab. Dem vorsichtigen Versuch einer Annäherung an den Calvinismus Ende des 16. Jahrhunderts unter Kurfürst Christian I. (1586–1591), der sich unter anderem in seiner Personalpolitik niederschlug und in die Historiographie als „Zweite Reformation“ einging, war letztlich kein Erfolg beschieden.350 Die Abgrenzungsmechanismen gerade auch gegen den Calvinismus wurden nach der Konversion Johann Sigismunds (1572–1619) 1613 im benachbarten Brandenburg noch verschärft.351 Der Westfälische Frieden erkannte im Kurfürstentum Sachsen mit Ausnahme der Lausitz die evangelisch-lutherische Kirche als Landeskonfession an. Katholischer oder reformierter Gottesdienst durften ausschließlich privat ausgeübt werden. Taufhandlungen, Trauungen und Beerdigungen konnten nur von evangelisch-lutherischen Pfarrern vorgenommen
348 Karlheinz Blaschke, Sachsen im Zeitalter der Reformation (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 185). Gütersloh 1970, S. 121. 349 Heribert Smolinsky, Albertinisches Sachsen, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hrsg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 2: Der Nordosten. 3. Aufl., Münster 1993, S. 8–32, hier S. 25. 350 Allgemein Karlheinz Blaschke, Religion und Politik in Kursachsen 1586–1591, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“ (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 195). Gütersloh 1986, S. 79– 97; Thomas Klein, Der Kampf um die zweite Reformation in Kursachsen 1586–1591. Köln/Graz 1962; für Einzelaspekte vgl. beispielsweise Henning Steinführer, Der Leipziger Calvinistensturm von 1593. Einige Anmerkungen zu Forschungsstand und Quellenlage, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 68 (1997), S. 335–349. 351 Umfassende Studien zu Fragen konfessioneller Identität der Bevölkerung und einzelner sozialer Gruppen fehlen bislang. Für Beispiele anticalvinistischer Haltungen von Stadt, Universität und Landständen vgl. Katharina Middell, Hugenotten in Leipzig. Streifzüge durch Alltag und Kultur. Leipzig 1998. In seiner Untersuchung von Testamenten des kursächsischen Landadels konnte Wieland Held ein klares konfessionspolitisches Engagement einiger Familien im 16. und 17. Jahrhundert feststellen, darunter starke anticalvinistische Grundhaltungen: Wieland Held, Selbstverständnis und Lebensauffassung des kursächsischen Landadels in der beginnenden Frühneuzeit, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 65 (1994), S. 39–59, hier S. 55–56.
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werden, waren diese jedoch bereit, die Amtshandlung einem Geistlichen anderer Konfessionszugehörigkeit zu überlassen, so mussten die Stolgebühren an die evangelische Ortsgemeinde gezahlt werden.352 Das Nebeneinander des katholischen und evangelisch-lutherischen Glaubensbekenntnisses in den Markgrafentümern Ober- und Niederlausitz blieb auch nach dem Übergang an Kursachsen bewahrt, da der Bestand des Katholizismus in den Traditionsrezessen 1635/36 gesichert wurde.353 Das Konsistorium in Lübben war für evangelische Geistliche und Ehesachen in der Niederlausitz zuständig, die Oberamtsregierung übernahm in der Oberlausitz die Aufgaben des fehlenden Konsistoriums.354 Während sich in der Landbevölkerung nur langsam und in äußerst geringem Umfang eine konfessionelle Durchmischung abzeichnete, entstanden vor allem durch Zuwanderung in einigen größeren Städten reformierte und katholische Gemeinden.355 Bis in jüngste Zeit galt Kursachsen nahezu unstrittig in der Forschung als lutherisches Territorium par excellence, das gekennzeichnet war durch eine strenge lutherische Orthodoxie und ein nahezu geschlossenes lutherisches Kon fessionsmilieu, das auch nach der Konversion des sächsischen Kurfürsten Friedrich August I. (1670–1733) zum katholischen Glauben im Jahre 1697 Bestand haben sollte.356 Die Konversion des sächsischen Kurfürsten am 27. Juli 1697 und die Annahme der polnischen Königskrone wurde begleitet von dem Erlass und der Verbreitung weitreichender Religionssicherheiten.357 Der Kurfürst ordnete an, dass die Religionsversicherung „überall im Land im Druck angeschlagen und verlesen werden sollte“.358 Friedrich August I. bekräftigte gegenüber seinen Unterta-
352 Paul Franz Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche in Sachsen im 18. Jahrhundert (Studien zur katholischen Bistums- und Klostergeschichte, 2). Leipzig 1961, S. 75–76. 353 Smolinsky, Albertinisches Sachsen, S. 30. 354 Klein, Kursachsen, S. 814. 355 Vgl. unten Kapitel V. 356 Für einen Forschungsüberblick vgl. Katrin Keller, Landesgeschichte Sachsen. Stuttgart 2002, S. 171–177. Für eine leichte Abkehr von dieser Position vgl. Alexander Schunka, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert (Pluralisierung & Autorität, 7). Münster 2006. 357 Teile dieses Abschnittes sind erschienen in Dagmar Freist, Religionssicherheiten und Gefahren für das „Seelenheil“ – Religiös-politische Befindlichkeiten in Kursachsen seit dem Übertritt Augusts des Starken zum Katholizismus, in: Ulrich Rosseaux/Gerhard Poppe (Hrsg.), Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Münster 2012, S. 35–53. 358 Hauptstaatsarchiv Dresden (HStAD), Geheimes Kabinett, Religionsversicherungen, loc 754 fol. 15–16; in Auszügen abgedruckt in Johannes Ziekursch, August der Starke und die katholische Kirche in den Jahren 1697–1720, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 24 (1903), S. 105–106;
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nen, dass bei der Vergabe von Ämtern Katholiken nicht bevorzugt werden sollten und dass er „auch niemanden zu unserer einst angenommenen Catholischen Religion zwingen werde, sondern jedermann sein Gewissen frey lassen“ wolle.359 Ungeachtet dieser Zusicherungen verfassten 41 ständische Delegierte, die sich im „Brühhahnhaus“ in Dresden um den sächsischen Erbmarschall Hans Löser versammelt hatten, ein Gratulationsmemorial, in dem sie auf die tiefe Sorge von Adel und Stadtbevölkerung um ihre evangelisch-lutherische Religionsausübung aufmerksam machten.360 Dem Schreiben beigefügt war eine lange Liste früherer Religionsversicherungen, die die Unantastbarkeit der evangelisch-lutherischen Landeskonfession untermauern sollte. Auf den ersten Blick überrascht die Sorge von Adel und Stadtbevölkerung, hatte doch der Westfälische Frieden den religiösen Status quo im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation unter Bezugnahme auf das sogenannte Normaljahr (1. Januar 1624) festgeschrieben. Kaum ein anderes Territorium schien ein so klares konfessionelles Profil verbunden mit einer darauf fußenden starken Stellung auf Reichsebene als Inhaber des Direktoriums des Corpus Evangelicorum zu haben wie Kursachsen. Zudem war Kursachsen ein konfessionell vergleichsweise homogenes Territorium, geprägt von einer frühen Konfessionalisierung und einer streng bewachten lutherischen Orthodoxie. Die Zahl der Andersgläubigen im 17. Jahrhundert war verschwindend gering. Dennoch wurden bereits wenige Jahre nach dem Westfälischen Friedensschluss 1648 Stimmen unter der lutherischen Geistlichkeit in Kursachsen laut, die die Gefahr einer ‚fremd-konfessionellen‘ Unterwanderung des Landes beschworen und ihre Befürchtungen mit theologischen Gutachten unterlegten.361 Die „nahezu durchgängig kaiser- und habsburgertreue Politik der sächsischen Kurfürsten“ hatte „Konversionshoffnungen und Rekatholisierungspläne“ geweckt, die den Ständen nicht verborgen geblieben
für einen Überblick über die verschiedenen Religionsversicherungen vgl. Franz Blanckmeister, Sächsische Kirchengeschichte. Dresden 1899, S. 279 ff.; Günther Christ, Hof – Territorium – Untertanen. Beobachtungen zur Stellung zum Katholizismus konvertierter Fürsten im 17. und 18. Jahrhundert, in: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 13 (1994), S. 25–62. Detailliert zur Problematik von Religionsversicherungen Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 177. 359 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754, fol. 15–17. 360 Wieland Held, Der Adel und August der Starke. Konflikt und Konfliktaustragung zwischen 1694 und 1707 in Kursachsen. Köln u.a. 1999, S. 55. 361 Seit 1657 wurden Religionsversicherungen erlassen, aus denen die Sorge vor einer konfessionellen Überfremdung spricht. Vgl. dazu HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754.
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waren.362 Weiterhin zeugen die Akten von einer genauen Beobachtung religiöser Minderheiten im Land und deren „Religionsirrungen“. Neben Katholiken und Reformierten wird auf die Herrnhuter, auf Baptisten aus London, auf Mennoniten, auf barmherzige Schwestern, auf Waldenser und auf Juden verwiesen, um nur einige religiöse Gruppen in diesem bunten Spektrum zu benennen. Unter besonderer Beobachtung standen Exulanten und Emigranten.363 Diese Sorgen und Beobachtungen fanden 1694 ihren Niederschlag in einer Religionsversicherung, die Kurfürst Johann Georg IV. (1668–1694) noch auf der sächsischen Landund Ausschusstagsversammlung verabschieden ließ. Hier wurde gefordert: Mithin alle hierzu dienlichen Mittel vorkehren, und solche zugängliche Anstalt verfügen, daß weder ein öffentliches Exercitium fremder Religionen, noch auch sonst gefährliche [...] Schwärmerei in unseren Landen heimlich eingeführet, vielmehr, da sich dergleichen nach einbezogener Erkundigung ereignen würde, allso fort abgestellet und gehörig geahndet werden [solle].364
Waren die Reaktionen von Adel und Stadtbevölkerung auf die Konversion ihres neuen Landesherrn, Friedrich August I., also nur Ausdruck diffuser Rekatholisierungsängste und irrationaler „Befindlichkeiten“, also „Gemüts Beunruhigen“ wie es in den Quellen heißt, die jeglicher realer Grundlage entbehrten? Ging es insbesondere mit Blick auf den Adel um die Sorge weiteren Machtverlusts angesichts eines absolutistisch regierenden Fürsten und zukünftigen polnischen Königs? Oder gab es auch im überwiegend lutherischen Kursachsen die Erfahrungen religiöser Differenz und Pluralisierung, die nach der Konversion des Landesherrn die Sorge begründeten, dass der Status quo im Miteinander der verschiedenen Konfessionen gefährdet werden könnte? Und welche Rolle schließlich spielte die Religionspolitik Roms, das sich mit der Errichtung der Propaganda Kongregation unmissverständlich der Rekatholisierung protestantisch gewordener Länder in ganz Europa verschrieben hatte? Das zentrale Problem, das sich innenpolitisch durch die Konversion des Kurfürsten gestellt hatte, war die Frage nach der zukünftigen landesherrlichen Oberaufsicht über die evangelisch-lutherische Landeskirche und damit verbunden die
362 Jochen Vötsch, Kursachsen, das Reich und der mitteldeutsche Raum zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 67 (1996), S. 311–322, hier S. 22. 363 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 2210 fol. 23 ff., vgl. dazu auch Schunka, Gäste die bleiben. 364 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754 fol. 10–15.
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Frage nach der Position des katholischen Herrn im evangelischen Territorium.365 Die sächsischen Stände ließen sich im September 1697 von ihrem katholischen Landesherrn nicht nur die bestehende Kirchenverfassung bestätigen, sondern auch die sich darauf gründende politische Verfassung. Der Religions-Eid auf das evangelisch-lutherische Bekenntnis war und blieb eine Voraussetzung für die Übernahme von Ämtern.366 1699 übergab der Kurfürst die Kirchenaufsicht einschließlich der Durchführung von Visitationen und der Oberaufsicht der Schulen an den Geheimen Rat unter Ausschluss des katholischen Statthalters Fürst Anton Egon von Fürstenberg, womit er faktisch zentrale landesherrliche Hoheitsrechte zur Disposition stellte.367 Nominell blieben die katholischen Landesherrn Kursachsens allerdings das Oberhaupt der evangelisch-lutherischen Landeskirche. Schwieriger gestaltete sich die traditionelle Rolle Kursachsens als „Hüter des Protestantismus“ im Reich, die dem Kurfürsten gleichsam als Inhaber des Direktoriums des Corpus Evangelicorum zukam. Mit der Begründung, sein Glaubenswechsel sei nur privater Natur, schloss der Kurfürst und König einen Vergleich mit dem evangelisch-lutherischen Herzog von Weißenfels über die zukünftige Handhabung des Direktoriums des Corpus Evangelicorum, nachdem die Verhandlungen mit dem Herzog von Sachsen-Gotha gescheitert waren. „Per modum Commissionis“ wurde die Führung formal dem Weißenfelser übertragen, der König sicherte sich aber die Mitsprache über den ebenfalls am Direktorium beteiligten kursächsischen Geheimen Rat zu.368 Die Geschäfte des Direktoriums wurden weiter von Dresden aus mit kursächsischem Siegel geführt,369 ein Schritt, der von Rom keineswegs begrüßt wurde.370 Faktisch gab der Kurfürst allerdings durch die Konversion die Führungsrolle Sachsens unter den protestantischen Fürsten preis, auch wenn dies erst zwanzig Jahre später spürbar werden sollte, als sich die protestantischen Reichsstände unter der Führung Preußens und Hannovers reichsweit neu formierten.371 Nach Bekanntwerden der Konversion des kursächsischen Thronfolgers 1717 und seiner bevorstehenden Ehe mit der katholischen Kaisertochter Maria Josepha,
365 Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 177. 366 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754, fol. 17. 367 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754, fol. 19. 368 Vötsch, Kursachsen, S. 78–80. 369 Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 10, Neudr. der Ausg. Leipzig 1743. Osnabrück 1968, S. 67, Vergleiche im Wortlaut ebd., S. 67–69. Für reichspolitische Folgen der Konversion vgl. Vötsch, Kursachsen, S. 311–322. 370 Christ, Hof – Territorium – Untertanen, S. 45. 371 Kretschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 268. Zur Reichspolitik vgl. Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 477–482.
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gelang es Kurhannover und Kurbrandenburg die bislang noch eher „gemäßigten“ Protestanten auf Reichsebene in den Folgejahren zu einer wirkmächtigen Opposition zusammen zu fügen. Gleichzeitig entfachte dieses Ereignis heftige Kontroversen unter den Führungsmächten des Corpus Evangelicorum über die Fragwürdigkeit des sächsischen Anspruchs auf das Direktorium.372 Im Zuge dieser Auseinandersetzungen verlangten nun auch die evangelischen Reichsstände von Kurfürst Friedrich August I. Religionsversicherungen. Bis dahin sollte sich Kursachsen jeglicher Aktivitäten im Direktorium enthalten.373 Die Führungsrolle Kursachsens unter den protestantischen Mächten war damit endgültig verwirkt worden.374 Innenpolitisch versicherte der sächsische Kurfürst wiederholt, dass alles, was er 1694/95 auf seinem ersten Landtag zu Religionssachen gesagt habe, weiterhin gültig sei. „Zur völligen Beruhigung deren Land Ständen“ war allerdings von dem „unterthänigste(n) Ministerium sowohl vor sich, als zur völligen Beruhigung deren Land Ständen nur noch nöthig befunden, sich über einige Special Punkte Eur. Königl. Majestät allergnädigste Intention zu seiner Richtschnur und Regel [...] etwas näher zu erkunden“.375 Friedrich August I. wurde nach seiner Haltung zum Simultaneum sowie zu den Voraussetzungen zum Kauf von Rittergütern, zur Erlangung des Bürgerrechts und zur Ausübung der Vormundschaft, vor allem über evangelische Waisen befragt.376 Das kein Simultaneum exercitium der Catholischen Religion, als welchen die Disposition des Westfälischen Friedensschlusses und die bisherige Observanz entgegen setzet, nicht eingeführet werden sollte, außer was zur Pflegung Eurer Königl. Majest. Und dero Successoren Andacht bereits und Gebrauch üblich ist. Daß es auch nicht minder das unveränderte Verbleiben dabey haben solle, daß zur Ankaufung von Rittergütern und anderer Immobilien, Aufnehmung zur Bürgerschaft und in die Innungen, in gleich Vormundschaften evangelischer unmündiger Kinder keine anderer als dieser Religion zugethane Personen zugelassen werden sollen.
Am Rande der Akten besagt ein handschriftlicher Vermerk: „Königl. Majestät entscheiden hierauf, daß es dießfalls lediglich bey dem hergekommenen verblei-
372 Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 10, S. 70–138; vgl. auch Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 466. 373 vgl. Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 10, S. 71. 374 Haug-Moritz, Kaisertum und Parität, S. 468. 375 HStAD loc 754, fol. 43. 376 Ebd.
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ben solle“.377 In dem Landtagsabschied vom 28. Mai 1718 wurde folgende Klausel aufgenommen: „Und es hiernach bey dem an das geheime Consilium zu denen Religions=Angelegenheiten in und ausserhalb dieser Lande im Reich gethanen Auftrag [...] sein unveränderliches Bewenden hat.“378 Der König gab darüber hinaus dem Drängen der Ständeversammlung nach – in ihren Religionsbeschwerden hatten die Stände wiederholt auf die Mischeheproblematik hingewiesen – und ordnete an, dass ausschließlich bei beiderseits katholischen Eheleuten die katholische Trauung und Kindererziehung erlaubt waren.379 Die Landstände und Städte allerdings beobachteten die Religionspolitik ihres katholischen Landesherrn sehr genau und brachten sämtliche Verstöße gegen die Religionsversicherungen des Kurfürsten in Eingaben und Beschwerdeschriften zu Papier.380 Gewissermaßen spiegelbildlich zu der Beschwerdeliteratur der protestantischen Landstände und Städte entstanden die Erfolgsmeldungen der Jesuiten, die Anfang des 18. Jahrhunderts nach Kursachsen kamen. In dem „Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae“, dessen Aufzeichnungen von 1710 bis 1844 reichen, lässt sich verfolgen, wie sich die konfessionelle Gemengelage in Kursachsen nach der Konversion Friedrich August I. aus katholischer Perspektive änderte.381 Nach der Konversion des Kurfürsten nutzte Rom jede Gelegenheit, durch eine aktive Politik und personelle Präsenz in Kursachsen die missionarische Tätigkeit, der sich in protestantischen Gebieten vor allem die Propaganda Kongregation in Rom, die Nuntien und die eigens dafür eingerichteten apostolischen Vikariate
377 Ebd. 378 Moser, Teutsches Staatsrecht, Bd. 10, S. 95. 379 Originalakten Kriegsverlust (Bestand HStAD loc 2211). Vgl. Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 64. 380 Fritz Kaphahn, Kurfürst und kursächsische Stände im 17. und beginnenden 18. Jahrhundert, in: Neues Archiv für Sächsische Geschichte und Altertumskunde 43 (1922), S. 62–79; Vötsch, Kursachsen, S. 28–45. 381 Bislang wurde dieser Quellenbestand vor allem aus musikwissenschaftlicher Perspektive ausgewertet. Eine Auswertung aus historischer Perspektive steht noch aus. Vgl. dazu Wolfgang Reich, Das Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae als Quelle für die kirchenmusikalische Praxis, in: Günter Gattermann (Hrsg.), Zelenka-Studien II. Referate und Materialien der 2. Internationalen Fachkonferenz Jan Dismas Zelenka. Dresden/Prag 1995, S. 43–57 und S. 315–379; Gerhard Poppe, Ein weiteres Faszikel aus dem Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae wieder aufgefunden, in: Peter Wollny (Hrsg.), Ständige Konferenz Mitteldeutsche Barockmusik in Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen e.V., Jahrbuch 2006. Die Oberlausitz – eine Grenzregion der mitteldeutschen Barockmusik. Gotha 2006, S. 193–204.
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verschrieben hatten, gezielt voran zu treiben.382 Die Konversion eines Reichsfürsten bedeutete für Rom nicht nur einen Prestigegewinn, sondern eröffnete auch neue politische Optionen für die Rekatholisierungsbestrebungen der Kurie in den protestantischen Gebieten Europas.383 Zunächst forcierte Rom den Aufbau einer informellen Infrastruktur der katholischen Kirche in Sachsen im Umfeld des katholischen Hofes, für deren Aufbau der Kurfürst nicht nur umgehend personelle Unterstützung aus Rom erhielt, sondern die von ihm auch aus Sicht des Heiligen Stuhls erwartet wurde.384 Durch einen Beschluss der Propaganda Kongregation im Juni 1708 erhielt der königliche Beichtvater, der Jesuit Karl Moritz Vota, „die gewöhnlichen Vollmachten mit dem Titel eines „Apostolischen Präfekten der Mission in Dresden und in ganz Sachsen“ und war damit allein befugt, Vollmachten für geistliche Amtshandlungen in Sachsen an katholische Geistliche zu erteilen.385 War durch diesen Schritt zunächst die Aufsicht durch den eigentlich zuständigen apostolischen Vikar des Nordens umgangen und die katholischen Belange Sachsens allein Rom unterstellt, so ergingen die Vollmachten nach dem Tode Votas an den apostolischen Vikar des Nordens, übergangsweise auch an den Kölner Nuntius. Unter der Regentschaft August III. (1750-1827) wurden dem jeweiligen königlichen Beichtvater seit 1775 endgültig die Vollmachten eines apostolischen Vikariats mit Ausnahme der bischöflichen Weihen übertragen.386
382 Ausführlich mit Dokumenten Philipp Hiltebrandt, Die Polnische Königswahl von 1697 und die Konversion August des Starken, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 10 (1907), S. 152–215; Eric-Oliver Mader (Hrsg.), Fürstenkonversionen zum Katholizismus in Mitteleuropa im 17. Jahrhundert: Ein systematischer Ansatz in fallorientierter Perspektive, in: Zeitschrift für Historische Forschung 34/3 (2007), S. 403–440. 383 Vötsch, Kursachsen, S. 22 und Johannes Burkhardt, Abschied vom Religionskrieg. Der Siebenjährige Krieg und die päpstliche Diplomatie. Tübingen 1985, S. 67; Matthias Schnettger, Die römische Kurie und die Fürstenkonversionen – Wahrnehmung und Handlungsstrategien, in: Ricarda Matheus/Elisabeth Oy-Marra/Klaus Pietschmann (Hrsg.), Barocke Bekehrungen. Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit (Mainzer Historische Kulturwissenschaften, 6). Bielefeld 2013, S. 117–148. 384 Ziekursch, August der Starke, S. 86–135, 232–280; Siegfried Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg der katholischen Kirche in Sachsen 1517–1773. Leipzig 1964; Karl Czok, August der Starke und Kursachsen. Leipzig 1987; anders Hiltebrandt, der argumentiert, die Kurie habe anfangs nur die Praxis des katholischen Glaubens innerhalb der königlichen Familie gefordert, vgl. Hiltebrandt, Die Polnische Königswahl, S. 193. 385 Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 92. 386 Ebd., S. 91–101.
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Zu den zentralen Forderungen Roms zählten die Konversion der Kurfürstin Christiane Eberhardine, Ehefrau August Friedrich I. und Angehörige des evangelischlutherischen Glaubens, sowie die katholische Erziehung des Erbprinzen.387 Nachdem sich die Konversion der Kurfürstin als aussichtslos erwiesen hatte, konzentrierte sich Rom auf die Konversion des Prinzen, der von seiner Mutter und Großmutter lutherisch erzogen worden war.388 Im Jahre 1712 konvertierte der Kurprinz Friedrich August nach einer mehrjährigen Kavalierstour in Rom. Erst sechs Jahre später wurde die geheim gehaltene Konversion bekannt gemacht.389 Nach der Rückkehr des Kurprinzen nach Dresden am 23. März 1719 ernannte ihn sein Vater zum Statthalter in Sachsen. Noch im gleichen Jahr wurde die Ehe zwischen dem Kurprinzen und der katholischen Erzherzogin Maria Josepha, Tochter Kaiser Joseph I., geschlossen. Diese Ereignisse führten landesweit zu politischer Verunsicherung und Protesten, verbunden mit der Sorge vor einer Rekatholisierung. Auch wenn diese Sorge angesichts der religiös-konfessionellen Verhältnisse in Kursachsen unbegründet war, so ist die politische Wachsamkeit zurückzuführen auf die offenkundigen Interessen Roms, den konfessionellen Status quo zugunsten der Katholiken zu verändern. In einem Schreiben des Papstes an den sächsischen Kurfürsten und polnischen König aus dem Jahre 1718 sicherte der Papst anlässlich der nun öffentlich bestätigten Konversion des Kronprinzen nochmals jegliche Unterstützung und Schutz der Katholiken zu. Er bot an, Sachverstand und Mittel bereit zu stellen, damit der König die katholische Religion in seinem Lande propagieren könne. Des Weiteren wurde die „Schenkung“ von Kirchengütern in Aussicht gestellt390, was bedeutete, auf die Rückforderung der in der Reformation säkularisierten Güter zu verzichten. Ein weiteres Ziel Roms war die möglichst schnelle Einführung katholischer Gottesdienste in Kursachsen, was allerderings an dem Widerstand der evangelisch-lutherischen Stände scheiterte. Der päpstliche Nuntius Giovanni Antonio Davia, der dem König 1699 von Polen nach Dresden gefolgt war, erwirkte von Friedrich August I. lediglich die Übereignung der Kapelle von Moritzburg für die Abhaltung katholischer Gottesdienste und setzte unter Vermittlung des königlichen Beichtvaters Karl Moritz Vota durch, dass die Kapelle mit einem ständi-
387 Hiltebrandt, Die Polnische Königswahl, S. 193, 196 388 Seifert: Niedergang und Wiederaufstieg, S. 137–139; Franz Blanckmeister/Christiane Eberhardine, Die letzte Kurfürstin von Sachsen, und die konfessionellen Kämpfe ihrer Tage, in: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 6 (1891), S. 1–84, hier: S. 24–28 und 35–41. 389 Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 272. 390 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 10330/22, fol. 64 ff.
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gen Geistlichen besetzt wurde. Die Weihnachtsmesse wurde noch im gleichen Jahr durch den Nuntius unter Mitwirkung eines Kapuziners, P. Benignus, sowie Johann Paldamus, der von der Kongregation für die Ausbreitung des Glaubens in Rom als kaiserlicher Gesandtschaftskaplan nach Dresden gesandt worden war, zelebriert.391 Papst Clemens XI dankte dem Kurfürsten und polnischen König sowie seinem Statthalter, dem katholischen Fürsten Egon von Fürstenberg, in einem Breve. Bei der Übergabe der Dankesworte durch den päpstlichen Nuntius schloss dieser sogleich die Forderung an, die katholische Kirche in Sachsen auch weiterhin zu fördern und den Katholiken in der Residenzstadt selbst einen Gottesdienstraum zur Verfügung zu stellen. Der päpstliche Nuntius trat gleichfalls als Vermittler für die in Leipzig wohnhaften Katholiken, vor allem italienische Kaufleute, auf, die nun ebenfalls die öffentliche Religionsübung sowie ein eigenes Gotteshaus forderten.392 Am 5. April 1708 wurde in Dresden schließlich das alte Opernhaus am Taschenberg als erste katholische Hofkapelle nach der Reformation in Kursachsen in einem öffentlichen Gottesdienst geweiht. Die Geistlichen, die mehrheitlich aus Böhmen stammten, gehörten dem Jesuitenorden an. Zu der noch kleinen katholischen Gemeinde zählten katholische Hofbedienstete und in Dresden ansässige katholische Künstler und Kaufleute. Die katholischen Kapellen und Kirchen, die im 18. Jahrhundert vor allem in Dresden, aber auch in Leipzig393, Hubertusburg394 und Meißen entstanden, einige davon mit fest angestellten Geistlichen, verfügten zunächst über keine landesherrlich anerkannten Parochialrechte; Amtshandlungen mussten durch evangelische Geistliche durchgeführt werden. Dies sollte sich zumindest für die Hofkirche in Dresden ändern. Im Jahr der Eröffnung der Hofkapelle erließ Friedrich August I. ein von Karl Moritz Vota verfasstes Dekret, das den Katholiken mehr Rechte einräumen sollte. Punkt 14 der Verordnung lautete: Es ist des Königs Wille und Befehl, daß die Ausübung der katholischen Religion vollständig frei sei. Man darf sie auf keine Weise stören oder belästigen. Auch sollen die Anhänger der Augsburgischen Konfession, Geistliche wie Behörden, den Katholiken in keiner Weise hinderlich sein; sie dürfen von den Katholiken keine Gebühren erheben für Trauungen, Taufen und Begräbnisse oder dgl. Den katholischen Priestern soll es erlaubt sein, den Kranken
391 Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 19; Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 136. 392 Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 20. 393 Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 163–165. 394 Ebd., S. 166–169.
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und Sterbenden beizustehen und ihnen die Sakramente zu spenden, und niemand darf sie hindern.395
Gegen die öffentliche Ausübung des katholischen Gottesdienstes sowie die Zuerkennung von Parochialrechten legte das Oberkonsistorium in Dresden umgehend und wiederholt Beschwerde ein und berief sich dabei auf den Westfälischen Religionsfrieden und die Religionsversicherungen des Königs, nach denen er „nicht bedacht [war], die Landeskirche gegen dero hergebrachte alte Privilegia in ein oder anderm zu graviren, sondern vielmehr [...] bey allen ihren Freiheiten allergnädigst zu erhalten“.396 Nach weiterer Fürsprache, dieses Mal durch den nach Dresden gereisten Kardinal Annibale Albani bewilligte der Kurfürst schließlich 1710 den Leipziger Katholiken einen öffentlichen Gottesdienstraum außerhalb der Stadt in der kurfürstlichen Festung Pleißenburg. An dieser Entscheidung konnte auch die umfassende Beschwerdeschrift der Geheimen Räte, die dem König Verletzung der Religionsversicherungen vorwarfen, nichts mehr ändern.397 Unter dem Einfluss des katholischen Kurprinzenpaares löste die katholische Messe langsam die dominierende Stellung des evangelischen Gottesdienstes innerhalb des höfischen Lebens ab.398 Erst im Jahr 1807 erhielten die Katholiken das Recht auf öffentliche Ausübung des römisch-katholischen Gottesdienstes, und es erfolgte die rechtliche Gleichstellung mit den Lutheranern; 1812 wurden den Reformierten die gleichen Rechte zuerkannt.399 Dennoch entspannte sich das Verhältnis der Lutheraner zu den religiösen Minderheiten in Sachsen nur unmerklich. Zumindest in der Mischehefrage wurde noch im 19. Jahrhundert heftig auf den Landtagen gestritten. Friedrich August I. selbst, dem eher religiöse Indifferenz nachgesagt wurde, hatte keine ernsthaften Pläne für eine Rekatholisierung des Landes.400 Dennoch trennte der Konfessionswechsel den Landesherrn von dem Glauben seiner Unter
395 Die Originalakte gehörte in den Bestand HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 2211, der, wie der gesamte 2000er Bestand des Hauptstaatsarchivs Dresden, im Krieg vernichtet wurde. Zitiert nach Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 27. 396 Originalakte Kriegsverlust (HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 2210). Zitiert nach Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 63. 397 Ebd., S. 131–132. 398 Gerhard Poppe, Das Te Deum laudamus in der Dresdner Hofkirchenmusik: liturgische und zeremonielle Voraussetzungen, Repertoire und musikalische Fraktur, in: Archiv für Musikwissenschaft 63/3 (2006), S. 186–214, S. 193 und 195. 399 Blaschke, Bevölkerungsgeschichte von Sachsen, S. 221. 400 Paul Haake, August der Starke. Berlin/Leipzig 1926, S. 64–65; Ziekursch, August der Starke, S. 91–93; Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 132.
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tanen und die Befürchtungen vor einer geplanten Rückführung der Bevölkerung zum Katholizismus konnten auch in der Folgezeit nie völlig ausgeräumt wer den.401 Insgesamt schwächte die Konversion des Kurfürsten und der damit provozierte Widerstand der Stände sowohl die Position Kursachsens im Reichsverband als auch die Stellung des Herrschers im Inneren. Deutliche Einbußen im Ansehen verbuchte Friedrich August darüber hinaus im Nordischen Krieg, in dem ihm neben finanziellen Verlusten durch die pro-evangelischen schwedischen Interventionen im Frieden von Altranstäd 1706/07 die polnische Krone streitig gemacht wurde.402 Während diese landes- und reichspolitischen Auswirkungen der Konversion für die kursächsische Bevölkerung eher abstrakt blieben und sie im Alltag nicht tangierten, spielte die sichtbare Präsenz religiöser Minderheiten in Kursachsen und die zunehmende Visualisierung des Katholizismus eine bedeutende Rolle für die Wahrnehmung religiöser Differenz und Pluralisierung. Diese Visualisierung bezog sich auf Gebäude und Orte, auf Handlungen und Rituale, auf Personen, auf Verfolgung und Proteste und schließlich, bezogen auf den Hof, auf die Repräsentation eines bestimmten Lebensstils verbunden mit Formen von Geselligkeit, die den Anspruch von Exklusivität beanspruchten oder als solche wahrgenommen wurden.
3.3.2 Mischehen – Rechtsetzung als Handlungsanleitung Vor diesem Hintergrund schien die eheliche Verbindung verschiedener Religionszugehöriger in Kursachsen im 17. und 18. Jahrhundert ein mögliches und zugleich beunruhigendes Szenario zu werden, jedenfalls beschäftigte dieses Phänomen Theologen und juristische Fakultäten und ist ein weiterer Beleg dafür, dass religiöse Pluralisierung in Kursachsen ganz offensichtlich wahrgenommen wurde und zumindest unter Theologen und protestantischen Ständen für Beunruhigung sorgte. Zugleich gehörten Mischehen zum Alltag in Gegenden, in denen Angehörige verschiedener Religionszugehörigkeit zusammenlebten. Auch in Kursachsen sind religiös-konfessionell gemischte Ehen nachgewiesen und zeugen auf der einen Seite von einem pragmatischen Miteinander verschiedener Religionszugehöriger, auf der anderen Seite von innerfamiliären Religionskonflikten, die sich vor allem an der Frage der Kindererziehung entzündeten.
401 Haake, August der Starke, S. 67–68; Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 268–269. 402 Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 139–142; Ziekursch, August der Starke, S. 117–122.
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In den Kompetenzstreitigkeiten zwischen katholischen und lutherischen Geist lichen, die mit der Konversion des Kurfürsten einsetzten, ging es unter anderem auch um das Problem der Mischehe. Bereits in den siebziger Jahren des 17. Jahr hunderts hatten sich die Konsistorien in Leipzig und Wittenberg, Ende des Jahrhunderts auch das Oberkonsistorium in Dresden, mit der Frage beschäftigt, ob konfessionell gemischte Ehen überhaupt zulässig sein sollten und wie damit in der Praxis zu verfahren sei. Dabei ging es nicht nur um Ehen zwischen Katholiken und Lutheranern, sondern auch zwischen Lutheranern und Reformierten. Im Jahre 1703 befasste sich der Geheime Rat offiziell mit der Frage der Verheiratung unterschiedener Personen von ungleicher Religion/Ob und wie die Ehe zwischen ungleichen Religionsverwandten zu verhindern oder allenfalls der besorgenden Seelengefahr, Gewissenszwang oder Verführung vorzubauen sei.403
Mit dieser Abhandlung sollte die Ausgestaltung einer Verordnung zu Mischehen beeinflusst werden, die angesichts der Gesuche um Eheschließung verschiedener Religionszugehöriger in Kursachsen unabdinglich wurde. Die ablehnende Haltung der Verfasser gegenüber Mischehen intonierte alle Argumente, die auch schon die Forderungen nach Religionsversicherungen geprägt hatten: Angst vor Verführung, Angst vor religiöser Durchmischung, Sorge um das Seelenheil lutherischer Untertanen und generell, dass religiös-konfessionell gemischte Ehen nicht glücklich verlaufen würden. Im Kern ging es allerdings um die so nicht artikulierte Sorge vor Kontrollverlust über den Glauben und die konfessionelle Ausrichtung der kursächsischen Bevölkerung. Die Verfasser positionierten sich gegen Mischehen und schrieben, diese Haltung [gründe] sich […] auf die Seelengefahr wegen besorgter Verführung […], welche eher zu besorgen, von denen, die zwar Christen heißen, aber im Grunde des Glaubens irren, und ihre Irrthümer mit Missbrauch des Wortes Gottes scheinbarlich wissen zu bemänteln als ein Heid oder Ungläubige.404
Die Aufgabe der Obrigkeit erläuterten die Verfasser im frühen 18. Jahrhundert so: Der Herrscher war nicht nur verantwortlich, für das leibliche Wohl der Untertanen zu sorgen, sondern er trug vor allem auch die Verantwortung, für „die geistliche und ewige Wohlfahrt ihrer Unterthanen“.405 Daraus ergebe sich die Pflicht, eine „heilsame Verordnung (doch ohne Gewissenszwang, welcher in solcher unglei-
403 HStAD, Geheimer Rat, loc 4587. 404 HStAD, Geheimer Rat, loc 4587, fol. 19. 405 Ebd., fol. 21.
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chen Ehe sowohl wegen der nichtgläubigen Ehegatten als Kinder zu besorgen) [zu] befördern“. Dabei müsse es zentral um die Frage gehen „wie und auf was maßen solchen Ehen und der dabey besorgenden Seelengefahr vorzubauen“.406 Mischehen könnten zwar aufgrund der im Westfälischen Frieden garantierten Gewissensfreiheit nicht einfach verboten werden, so die weitere Überlegung, jedennoch weil solche dem Worte Gottes zu wider, und so große Gefahr mit sich führen, ist darauf zusehen, daß so viel immer möglich, dieselben hintertrieben, oder denen Gewissen Ruhe und Sicherheit verschaffet werden.407
Dort, wo nur einer Konfession das „öffentliche exercitium nach dessen fundamental Gesetzen und Verfassung“ gewährt worden sei, müsse umso genauer darauf geachtet werden, „daß nicht über die particular Gefahr der also contrahirenden Personen [Schließung einer Mischehe], auch die ganze Kirche durch Vermengung allzu vieler Personen, so anderer Religion zugethan, Schaden leide“.408 Grundsätzlich, meinten die Verfasser, müsste ein Landesherr, der „lauter Evangelische Unterthanen hätte“ [...] „dergleichen unglückliche Ehen“ verbieten, doch dies wäre kaum durchsetzbar.409 Stattdessen sollten nun konkrete Maßnahmen verabschiedet werden, um dem aus solchen Ehen drohenden Unheil vorzubeugen. Die erste von drei Maßnahmen bezog sich auf die Rolle der Konsistorien. Die Anbahnung einer Ehe zwischen Lutheranern und Katholiken oder Reformierten sollte sofort gemeldet werden; die Superintendenten wurden beauftragt, die ihnen unterstehenden Pastoren anzuweisen, die Gemeindeglieder mithilfe einschlägiger Literatur auf die Gefahren einer solchen Ehe hinzuweisen und davor zu warnen. Im Wortlaut hieß es: daß weil man in erfahrung käme, daß hin und wieder gethane Mannespersonen evangelische Weiber heiraten, oder auch evangelische Mannespersonen mit päbstischen oder Reformierten Weibspersonen sich in eheliche Verbündnis einließen, woraus allerhand Verführung, gewissens Noth und Seelengefahr sowohl für diejenigen Eheleuthe selbst, so der Evangelischen Religion zugethan, als auch für die in solcher Ehe gezeugten Kinder zu besorgen als hätten sie durch die ihnen untergeordneten Superintendenten den sämbtlichen Pastoribus anzudeuten, daß sie für dergleichen Verlöbnißen tunlich warnen, und
406 Ebd. 407 Ebd. 408 Ebd., fol. 21-22. 409 Ebd., fol. 22.
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ihren Zuhörern nach anleitung abgemelter und anderer Auctorum so sie daher Nachricht geben, die Gefahr und Unheil so ihnen daher fleißig und beweglich vorstellen sollten.410
In einem zweiten Schritt schlugen die Verfasser Maßnahmen vor, die ergriffen werden sollten, wenn sich eine religiös-konfessionell gemischte Ehe nicht verhindern ließ. Eine solche Ehe sollte erst eingesegnet werden, wenn der widriger Religion zugethane Theil sich durch zulängliche Caution dahin verbinden, daß er weder den Evangelischen Theil zur widrigen Religion zwingen, oder bereden, noch auch die Kinder beyderley Geschlechts anders, alß in der Evangelischen Religion auferziehen lassen, deshalben auch so der Mann Päbstlich oder Reformiret, er weder das Weib, noch die Kinder an Päbstliche oder Reformirte Örthe führen, oder so er andergleichen sich begebe, unter einigen praetext, wie er Nahmen haben möchte, die Kinder zu sich zuziehen, oder auch ihnen die Alimenta, wenn sie nicht folgen, zu versagen, nicht befugt seyn sollte.411
Rechtlich schwieriger zu handhaben war die Frage der Konversion in evangelischem Territorium geborener Kinder einer Mischehe, und hier vor allem die Frage, ob katholische Väter „sub praetextu patriae potestatis“ die Kinder an „Päbstische Örter“ bringen durften, um sie dem katholischen Glauben zuzuführen. Die Verfasser verwiesen auf ein umfangreiches juristisches und theologisches Gutachten vom 15. April 1672, das zu eben dieser Problematik in Auftrag gegeben worden war und den Kindern um ihrer Gewissensfreiheit willen als auch dem Landesherrn als Schutzherr der Religionsfreiheit weitreichende Rechte gegenüber den Eltern eingeräumt hatte.412 In diesem Zusammenhang wurde auf die unsichere Rechtslage der abverlangten Kaution und des Eides verwiesen und vorgeschlagen, die Religionsversicherung des nicht-lutherischen Ehepartners in jedem Einzelfall vor der Obrigkeit ableisten zu lassen, um in Konfliktfällen in der Lage zu sein, „dem Evangelischen Theil Schutz und Hülffe zu schaffen“.413 Die Verfasser schlossen ihren Bericht mit der Empfehlung – „weil Sache von großer Wichtigkeit“ – Gutachten der beiden Konsistorien sowie der theologischen Fakultäten des Landes einzufordern, um zwei offene Fragen grundlegend erörtern zu lassen. Erstens, „ob die Ehe zwischen Päbstischen oder Reformirten und Evangelisch Lutherischen Personen in diesen Landen zu verstatten, da die oben angeführte Rationes und sonderlich die augenscheinliche Seelengefahr entgegen stehen?“ Und zweitens, „wenn solche zuzulassen, wie den Besorgnissen wegen
410 Ebd. 411 Ebd., fol. 23. 412 Für Details vgl. Teil IV. 413 HStAD, Geheimer Rat, loc 4587, fol. 24.
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der Seelengefahr und Verführung sowohl an Seiten des Evangelischen Ehegatten, alß auch deren Kinder zulänglich vorzubauen und abzulassen?“414 Ob dieses Gutachten angefertigt wurde, lässt sich nicht feststellen, das Verfahren zum Umgang mit Mischehen in Sachsen, das im 17. und 18. Jahrhundert praktiziert wurde, trug allerdings deutlich die Handschrift dieser Vorschläge: Die Verpflichtung, über das Konsistorium die Dispens des Landesherrn für die Schließung einer religiös-konfessionell gemischten Ehe einzuholen, wurde in Kursachsen eingeführt. Bis weit in das 18. Jahrhundert bildete sich für Mischehen ein förmlicher Instanzenzug heraus, der sich „vom Ortsgeistlichen über das untere Konsistorium, den Superintendenten bis zum ‚Consistorium Supremum‘ und den Landesherrn erstreckte und der den Primat der Staatsreligion zu sichern hatte“.415 Über diesen Instanzenzug musste die Genehmigung einer Mischehe und Dispensationen bei abweichender Kindererziehung verhandelt werden. Solche Dispense waren an die Bedingung geknüpft, dass der lutherische Ehepartner konfessionell so gefestigt war, dass ein Abfall der Religion nicht zu befürchten war. Gleichzeitig musste die Erziehung aller Kinder ausschließlich in der lutherischen Religion zugesichert werden. Pfarrer wurden angewiesen, alles zu tun, um konfessionell gemischte Ehen im Vorfeld zu verhindern. Für neuen Konfliktstoff sorgte ein Dekret Friedrich August II. (1696–1763), das er auf Grundlage einer Denkschrift der Jesuiten bei seinem Regierungsantritt 1733 erließ. Darin wurde katholischen Geistlichen unter anderem gestattet, eine religiös-konfessionell gemischte Ehe zu trauen sowie die Kinder aus dieser Ehe katholisch zu taufen, wenn beide Eheleute dies wünschten. Aufgrund des vehementen Protestes von lutherischer Seite stieß die Anwendung dieses Dekrets in der alltäglichen Praxis allerdings auf großen Widerstand.416 Als Gründe wurden Ängste vor einer konfessionellen Überfremdung angeführt, die seit dem Westfälischen Frieden aufgrund der Glaubensfreiheit zugenommen hätte. In immer neuen Eingaben des Oberkonsistoriums an den König wurde moniert, dass religiös-konfessionell gemischte Ehen durch katholische Priester, teilweise außer Landes, geschlossen und die Kinder aus diesen Ehen katholisch erzogen werden würden. Mischehen sollten, so die wiederholte Forderung, ausnahmslos nach erteilter Dispens durch das Oberkonsistorium und den Landesherrn gestattet und nur bei Vorlage ausreichender Religionssicherheiten, die die lutherische Erziehung aller Kinder garantierten, geschlossen werden. In
414 Ebd. 415 Buchholz, Recht, Religion und Ehe, S. 354; Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico, S. 63. 416 Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 69–71.
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Bittschriften konnten allerdings mitunter Fremde eine Ausnahme bewirken.417 Außer bei Krieg und Aufruhr war es einem katholischen Ehemann verboten, sich zu „katholischen Orten“ zu begeben, weil sich seine Frau dort äußerster Seelengefahr und der Verletzung ihres Gewissens aussetzen würde. Amtsleute im ganzen Land waren angewiesen, die korrekte Aufzucht von Kindern aus Mischehen zu überwachen. Falls auch nur der geringste Anlass zu Zweifel gegeben sei, sollten die Kinder vor ihren Eltern geschützt werden. In der Praxis konnte das die Abstellung von Wachen in das Haus der Familie zum Schutz der Kinder und die Befragung der Kinder – in Abwesenheit der Eltern – über die eigenen religiösen Ansichten und die der Eltern bedeuten. Diese Einmischung von Amtsleuten in die Sphäre der Familie wurde oftmals von dem ‚pater familias‘ als Angriff auf seine Ehre und auf seine öffentliche Stellung in der Dorfgemeinschaft empfunden. Allerdings war auch die Landesregierung mit derartig rigoroser Vorgehensweise nicht einverstanden und versuchte in Einzelfällen, das Vorgehen des Oberkonsistoriums in feste politische Bahnen zu lenken. Die Haltung zu Mischehen im Alltag war allerdings wesentlich komplexer und gibt einen Einblick in die sehr unterschiedliche Bedeutung, die religiöse Pluralisierung für das Zusammenleben einzelner Menschen in der Praxis hatte.
3.3.3 Umgangsweisen mit religiöser Pluralität im Alltag Religiöse Pluralisierung lässt sich auf sehr unterschiedliche Weise darstellen und in ihren gesellschaftlichen Auswirkungen analysieren und die Forschung hat inzwischen eine Reihe von Studien zu diesem Thema vorgelegt. Bezogen auf Kursachsen lässt sich eine ganz offensichtliche Diskrepanz zwischen faktischer Präsenz religiöser Minderheiten und einer als bedrohlich empfundenen Gegenwart beobachten. Zum ersten: Kursachsen war ein religiös-konfessionell vergleichsweise homo genes Territorium geprägt von einer frühen Konfessionalisierung und einer streng bewachten lutherischen Orthodoxie. Die Zahl der Andersgläubigen im 17. Jahrhundert war verschwindend gering. Nur in den Kapellen der französischen und kaiserlichen Gesandten in Dresden fanden sich katholische Untertanen zu Gottesdiensten und zur seelsorgerlichen Betreuung ein.418 Darüber hinaus wurde die Versorgung der Katholiken bis in das frühe 18. Jahrhundert in privaten Haushal-
417 Vgl. Teil IV. 418 Johann Chr. Hasche, Diplomatische Geschichte der Stadt Dresden. Dresden 1817. Bd. 3, S. 282–284.
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ten durch Dominikaner und Franziskaner aus dem Bistum Halberstadt übernommen.419 Sicherlich auch aufgrund geringerer Bevölkerungsverluste im 30-jährigen Krieg betrieb die kursächsische Regierung im Vergleich zum benachbarten Brandenburg-Preußen keine auf Zuwanderung ausgerichtete Bevölkerungspolitik, so dass sich die Zuwanderung auf einem sehr geringen Niveau bewegte. Zu nennen sind neben den böhmischen Emigranten vor allem reformierte Handelsleute, die sich im 18. Jahrhundert vermehrt in Leipzig ansiedelten, an der Wende zum 18. Jahrhundert katholische Bedienstete und deren Angehörige im Umfeld des Dresdner Hofes sowie katholische Kaufleute, Handwerker und Künstler aus Frankreich und Italien in der lutherischen Metropole Leipzig.420 Lediglich die Lausitzen verzeichneten eine konfessionell durchmischte Bevölkerung von Katho liken und Lutheranern. Aus der Ferne betrachtet galt Kursachsen vor der Konversion des Landesherrn in den Augen von Lutheranern als sicherer Hort ihres Glaubens und bedrängte Lutheraner baten den Landesherrn um Religionsschutz. So zog Kursachsen vor allem Lutheraner aus rekatholisierten Territorien wie die österreichischen Erblande, oder Böhmen mit den Nebenländern Mähren, Schlesien und Oberungarn an.421 a) Außenansichten – Kursachsen als Schutzraum bedrohter lutherischer Kinder Darunter gab es eine Reihe dramatischer Fälle, in denen Eltern versuchten, die katholische Zwangserziehung ihrer Kinder nach ihrem Tod in katholischen Territorien und Ländern zu vermeiden und die Waisen nach Kursachsen schickten. So etwa wandte sich Heinrich Siechmüller aus Reinhardsdorf in Österreich in einem Brief an den sächsischen Kurfürsten mit der Bitte, seinen minderjährigen Sohn nach seinem nahen Tod in Sachsen aufzunehmen und in der evangelischlutherischen Religion erziehen zu lassen.422 Kurz vor seinem Ableben schickte er
419 Franz Wilhelm Woker, Aus Norddeutschen Missionen des 17. und 18. Jahrhunderts. Franziscaner, Dominicaner und andere Missionare (Vereinsschrift der Görresgesellschaft, 1). Köln 1884, S. 2–3. 420 Allgemein Uwe Schirmer, Wirtschaftspolitik und Bevölkerungsentwicklung in Kursachsen (1648–1756), in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 68 (1997), S. 125–155; Weiss, Bevölkerungsentwicklung und Mobilität. Zu Leipzig Middell, Hugenotten in Leipzig. Über die Zahl der in Sachsen im 17. und 18. Jahrhundert wohnenden Andersgläubigen liegen keine genauen Zahlen vor. Für einige Zahlenangaben aus dem 18. Jahrhundert vgl. die Angaben zur Seelsorgestatistik in Dresden, Leipzig und Hubertusburg in Saft, Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 156–161. 421 Schunka, Gäste, die bleiben, S. 20–31. 422 HStAD, Geheimer Rat, loc. 10333. Für weitere Schutzgesuche vgl. u.a. HStAD, Geheimer Rat, loc 10330, loc 10333/18 und loc 8309/13.
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seinen Sohn mit einem Boten nach Kursachsen, wo er eine Landschule besuchen sollte, damit er nach seinem Tod nicht in die Hände „deren Papisten“ in Österreich geriet, sondern weiter im evangelischen Glauben erzogen werde: Unter dem Vorwand der Vormundschaft würden die Kinder verstorbener „Vassalen und Untersassen“ zur päpstlichen Religion gezogen. Der Fall wurde 1679 aktenkundig, da die Auslieferung des Kindes nach dem Tod des Vaters von Österreich verlangt wurde, wenn der Junge nicht sein Erbe verlieren wollte.423 Der evangelische Freiherr Weickhardt Achilles Herr zu Polheim aus Österreich suchte 1677 ebenfalls um Religionsschutz für seine einzige Tochter, Susanna Barbara, bei dem sächsischen Kurfürsten nach. Dieses Gesuch wiederholte nach dem Tod Polheims 1683 dessen Frau, Freiherrin von Polheim, geborene von Schiffer. Sie hatte das Kind noch bei Lebzeiten ihres Mannes, „umb sie bei der evangelischen Religion zu erhalten“, nach Coburg gebracht und bat darum, „ihre verfolgte Tochter mit dem höchsten Schutz zu begnaden“. Wenn ihr dieser Religionsschutz gewährt würde, wollte sie ihr Kind nach Dresden bringen lassen, wo es standesgemäß in der evangelischen Religion erzogen werden sollte.424 Auch die in einem böhmischen Dorf wohnhafte Soldatenfrau Anna Maria Kramer wandte sich 1712 an den Kurfürsten und König mit der Bitte um Hilfe. Als ihr Mann, Georg Kramer, leibeigener Bauer von Christian Carl von Platz vor fünf Jahren bei einem Aufenthalt in Görlitz gewaltsam von Major Hagen ohne Landgeld eingezogen worden war, nahm von Platz ihren acht Jahre alten Sohn und ihre sechsjährige Tochter „zum Unterpfand vor meinen Mann“. Obwohl weder die Kramerin noch ihr Mann Schuld trugen an seinem Ausbleiben, behielt der Leibherr die Kinder, drängte sie, den katholischen Glauben anzunehmen und wollte die Mutter „ohne Schutzgeld“ nicht weiter dulden. Da ihr Mann aus „deren Landen weggenommen worden“, flehte sie den sächsischen Landesherrn an, ihr ihre Kinder zurück zu geben und Aufenthaltsrecht zu gewähren: um durch dere hochgültige Intercessionaler, welche ich meiner betrübten Zuversicht mit tausendfachen [...] fußhaltig und hochflehentlich mir aufbitte, bey dem Herrn von Platz zu gedachten [...] Landes, diese Sache dahin zu disponieren, daß mir doch sonderlich meine armen zwei Kinder, welche Tag und Nacht ein sehnliches Verlangen nach mir haben, und an geistlich. und leibl. Gott erbarm es! Leiden müssen, mir zu meines großen Freude mögen
423 HStAD loc 10333 (1679). Der Fall wurde aktenkundig, da nach dem Tod des alten Siegmüller die Auslieferung des Jungen verlangt wurde, weil er sonst sein väterliches Erbe verlieren würde. 424 HStAD loc 8309 (1677–1683), fol. 7r–l.
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abgeholet, und ich in hiesig Land ohne Schutzgeld als ein armes Soldaten Weib möge geduldet werden.425
Neben Religionsflüchtlingen kamen vor allem reformierte Handelsleute nach Kursachsen, die sich seit dem späten 17. Jahrhundert in Leipzig und Hoyerswerda ansiedelten und das Recht zur privaten Religionsausübung – „privatum exercitium religionis“ – erhielten. Zugleich sind Gesuche französischer Reformierter erhalten, die um Aufenthaltsgenehmigung ersuchten.426 Bereits im 17. Jahrhundert gab es eine kleine katholische Minderheit im Umkreis katholischer Diplomaten und Künstler in Dresden. b) I nnenansichten – Migration und Angst vor religiös-konfessioneller Überfremdung Ungeachtet dieser Bevölkerungsentwicklung schien die „gefühlte“ Präsenz religiöser Minderheiten eine andere Dimension einzunehmen und stand in einem Missverhältnis zu der tatsächlichen, eher geringen Präsenz anderer Konfessionen und Religionen. Das zeigt sich nicht zuletzt in Bittschriften von Städten und Ritterschaften Anfang des 18. Jahrhunderts, die sich in ihren religiösen Freiheiten durch rechtliche Zugeständnisse an religiöse Minderheiten bedroht sahen. So beklagten die Ritterschaft und Städte im März 1713, dass sie angesichts jüngster Entwicklungen – gemeint war die Übertragung von Parochialrechten an katholische Geistliche – „keine stattsame Gemüths Beruhigung die Religion betreffend hätten“.427 Moniert wurden „Änderungen“ und „Eingriffe“ sogar in „Jurisdictionalibus tam ecclesiasticis quam civilius“, die „eine Kränkung unserer evangelischen lutherischen Kirchenverfassung und disciplin“ bedeuteten und den „Genuß unseres unschätzbaren Gewissen Freiheit“ beeinträchtigten.428 Die Gewährung von Religionsfreiheiten und Privilegien für religiöse Minderheiten veränderte den Status quo des religiösen Miteinanders, was potentiell als bedrohlich empfunden und in Folge politisch als Bedrohung konstruiert wurde. Die regelmäßig von dem konvertierten Landesherrn abverlangten Religionsversicherungen als auch die Beschwerdeschriften mit Details über das Verhalten der Katholiken und anderer religiöser Minderheiten im Lande gewähren Einbli-
425 HStAD loc 10333 (1712). Das Gnadengesuch wurde von Anna Maria Kramerin selbst unterzeichnet. 426 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc. 2210 und Paul Weinmeister, Beiträge zur Geschichte der evangelisch-reformierten Gemeinde zu Leipzig 1700–1900. Leipzig 1900, S. 1; Middell, Hugenotten in Leipzig. 427 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754, fol. 32–35. 428 Ebd.
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cke in die religiös-konfessionellen Spannungen, die durch die wenn auch geringe Präsenz konfessioneller und religiöser Minderheiten von lutherischer Seite wahrgenommen, wenn nicht projektiert wurden, und bezeugen den Willen, an dem konfessionellen Status quo unverrückbar festzuhalten.429 Eine systematische Durchsicht dieser Akten erlaubt es, die politische Konstruktion der „religiösen Befindlichkeiten“ im lutherischen Kursachsen nachzuzeichnen. c) Religionsbeschwerden als Ausdruck von „Gemüths Beunruhigungen“ Ein wiederkehrender Vorwurf war der des Proselytismus. „Fremde Religions Verwandte“ hätten „bis anhero nicht nachgelassen, in denen evangelischen Kirchensachen durch exercitium ihren Actum Ministerialum Anrichtung gewisser Seminare, Anlockung derer Leute zu ihren Glaubensbekenntnis“ Unruhe zu stiften.430 Eng verbunden mit Proselytismus war der Vorwurf, Kinder würden entführt und zum katholischen Glauben gezwungen. In Kursachsen wie in anderen Territorien im Reich wurde insbesondere die „Hinwegnehmung derer Waysenkinder“ durch fremde Glaubensangehörige beklagt.431 So waren etwa in Dresden laut Beschwerdeschrift drei lutherische Waisenkinder des verstorbenen Dresdner Hauptmanns und Witwers Mattheus Uslenghi heimlich zu einem katholischen Musikanten und von dort weiter in die Sakristei des katholischen Glöckners Minetti gebracht, der sie versteckt hielt.432 Die Verfasser der Schrift führten darüber hinaus an, dass häufig „ein und anderer aus Armuth und vermangelnden Lebensmitteln, oder auch andern Ursachen verleitet werden möchten, zu deren Pontificorum Religion zu treten“.433 Konvertierte nur ein Ehepartner, so würde der andere lutherischen Glaubens „in steter Gewissensfurcht gelassen“, dass „dessen Kinder entweder bey seinem Leben oder doch nach ihrem Todte, von denen widrigen Glaubens Verwandten dem Schoß der Evangelischen Kirche leicht entreißen werden könnten“.434 Derartigen Vorfällen gerichtlich nachzuge-
429 Acta die bezüglich der Religionsversicherungen bei den churfürstlich königlich sächsischen Land- und Ausschuss Tags Versammlungen vorgekommenen, theils extractweise, theils chronologisch collegierten Schriften betr. Acto 1570–1824. Geh Kab Canzley. HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754. 430 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754, fol. 32–35. 431 Dagmar Freist, Kinderkonversionen in der Frühen Neuzeit, in: Ute Lotz-Heumann/JanFriedrich Missfelder/Matthias Pohlig (Hrsg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit (Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte, 205). Gütersloh 2007, S. 393–429. 432 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754, fol. 32–35. 433 Ebd. 434 Ebd.
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hen sei deshalb so schwierig, weil die katholischen Geistlichen nicht vor weltliche Gerichte zitiert werden könnten. Das Schreiben schloss mit der Forderung, daß vor allen Dingen gedachte Kinder wieder herbey geschaffet und in vorigen Stand wie und wo sie gewesen restituiret, das Verbrechen gebührend bestraffet und zur Rettung Gottes Ehre mithin alle sowohl deren Kirchen als Policey Verfassung höchst nachtheilige Verordnung abgestellet werden
sollte.435 Auch wenn Kindsentführungen im Verborgenen geschahen, so machten die behördlichen Ermittlungen und die Befragung potentieller Zeugen diese Entführungen zu einem öffentlichen Akt, nicht selten begleitet von Flugblättern.436 Weitere „Gemüths Beunruhigungen“ riefen die seelsorgerliche Tätigkeit Andersgläubiger und die damit verbundenen religiösen Praktiken hervor.437 Wie ein roter Faden durchzog sämtliche theologische Bedenken angesichts der religiösen Pluralisierung die Frage nach der Eheschließung zwischen andersgläubigen Ehe partnern, welche Auswirkungen solche religiös-konfessionell gemischten Ehen haben würden und wie sie am besten zu verhindern wären. d) Visualisierungen religiöser Differenz und Grenzformationen Neben den Beschwerdeschriften lassen sich drei Kristallisationspunkte einer wachsenden Verunsicherung angesichts religiöser Pluralisierung ausmachen: die Ausschreitungen bei der Bekanntgabe der Konversion des Thronfolgers und dessen Heiratsplänen, die mysteriöse Ermordung des Predigers der Dresdner Kreuzkirche, Magister Hermann Joachim Hahn 1726438, die einem Katholiken zugeschrieben wurde, und der Baubeginn der Hofkirche 1739 sowie deren Eröffnung im Jahre 1751.439 Hintergrund dieser wachsenden Verunsicherung war die zunehmende Visualisierung religiöser Differenz, mit der Handlungen, Dinge und Orte konfessionell aufgeladen wurden.440 Zugleich wurde versucht, die konfessionelle Aufladung des öffentlichen Raumes herunterzuspielen. So melde-
435 Geh Kab Canzley. HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 754, fol. 32r–35l. 436 Vgl. Teil V. 437 HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 2210 und 2211. 438 Gerd Schwerhoff, Konfessionskonflikte um 1700 zwischen instrumenteller Religionspolitik und konfessioneller Mobilisierung, in: Ulrich Rousseaux/Gerhard Poppe (Hrsg.), Konfession und Konflikt. Religiöse Pluralisierung in Sachsen im 18. und 19. Jahrhundert. Münster 2012, S. 17–34. 439 Saft, Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 62, 83; Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 272; Verweis auf Schwerhoff, Hahn 440 Für einen ähnlichen Prozess mit vergleichbarem Engagement Roms vgl. Dagmar Freist, Popery in Perfection.
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ten die „Dresdner Merckwürdigkeiten“ die zeremonielle Grundsteinlegung der katholischen Hofkirche mit folgenden Worten: „Den 28. Juli Vormittags ward der Erste Stein zu dem neuen Gebäude an der Elbbrücke dem Schlosse gegenüber gelegt.“441 Die Visualisierung des Katholizismus beruhte zum einen auf einer gezielten Inszenierung, wie etwa die Einweihung der Hofkirche, zum anderen auf der „Verhüllung“ religiöser Artefakte und Praktiken. Eben durch derartige Akte des Nichtsichtbarmachens wurden Orte und Handlungen mit Sinn aufgeladen. Vor der katholischen Hofkirche wurden zur Einweihung drei kostbar ausgestattete Zelte errichtet, die für den königlichen Hof und die Geistlichkeit bestimmt waren. Diese Zelte markierten ein besonderes Ereignis und waren deutlich sichtbar. Zugleich verhüllten Sie den Hofstaat und die katholische Geistlichkeit. Nach der äußeren Weihe der Kirche begann die katholische Messe im Kirchenraum unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Sämtliche Eingänge des Gebäudes wurden seit vier Uhr morgens von bewaffneten Soldaten bewacht. Die Zeremonien der Kirchen- und Altarweihe, das heilige Messopfer und die musikalische Ausgestaltung der Messe blieben vor den Augen und Ohren der Bevölkerung verborgen.442 Die Visualisierung des Katholizismus vollzog sich aber auch als ein schleichender Prozess und führte schrittweise zu einer Konfessionalisierung des öffent lichen Raums. So wurden beispielsweise katholische Kapellen und Kirchen in Dresden, in Leipzig443, Hubertusburg444 und Meißen geweiht, einige davon mit fest angestellten Geistlichen. Der König verlieh diesen Kapellen Bedeutung, indem er selbst mit seinem Hofstaat an katholischen Messen teilnahm wie etwa an der Weihnachtsmesse 1699 in der Moritzkapelle in Meißen. An der Weihe der katholischen Kapelle in Dresden im April 1708 nahmen nicht nur der König und sein Hofstaat teil, sondern es kamen über hundert katholische Gläubige.445 Auch katholische Gottesdienste und Amtshandlungen in den Kapellen und Privathäusern von Gesandten wurden nicht länger verheimlicht und lutherische Geistliche beschwerten sich über katholische Amtshandlungen und formulierten den Vorwurf, katholische Gottesdienste würden öffentlich abgehalten. Mit der Gewährung, in der Hofkirche sowie in einzelnen Kapellen den katholischen Gottesdienst feiern zu dürfen und der Errichtung eines katholischen Friedhof wenige
441 August Forwerk, Geschichte und Beschreibung der Königl. Katholischen Hof- und Pfarrkirche zu Dresden: nebst einer kurzen Geschichte der Katholischen Kirche in Sachsen vom Religionswechsel des Churfürsten Friedrich August I. an bis auf unsere Tage, 1851, S. 37. 442 Ebd., S. 43–45. 443 Seifert, Niedergang und Wiederaufstieg, S. 163–165 444 Ebd., S. 166–169. 445 Forwerk, Geschichte und Beschreibung, S. 11.
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Jahre später wurden auch religiöse Praktiken Teil des öffentlichen und halböffentlichen Raumes: Trauungen, Taufen, Beerdigungen, Besuche am Sterbebett und die Spende der Sakramente.446 Eine Besonderheit in Dresden war die Orchestrierung der Geschützsalven zwischen den evangelisch-lutherischen Kirchen und der katholischen Hofkapelle an Feier- und Gedenktagen, die jedes Mal schwierige protokollarische Fragen aufwarf.447 Bis in die 1730er Jahre gab die traditionelle protestantische Ordnung den Rhythmus vor, bestimmte das höfische Zeremoniell an Fest- und Dankestagen und die katholische Hofkapelle musste sich anpassen. Die Herausforderung bestand in der „Abstimmung zwischen den Gottesdiensten beider Konfessionen und dem höfischen Zeremoniell“. 448 Ziel war es, Gottesdienste an Feiertagen, Kirchenmusik und Messen in ihrem zeitlichen Ablauf so zu planen, dass die weithin hörbaren Geschützsalven an der evangelischen Schlosskapelle und der katholischen Hofkirche zeitgleich ertönten. Dies änderte sich in den 1730er Jahren unter dem Einfluss des Kurprinzen und die Geschützsalven hatten sich in Zukunft nach dem Rhythmus der katholischen Messe in der katholischen Hofkapelle zu richten.449 Allerdings ließen sich die Inhalte von Fürbitten nicht durch obrigkeitliche Intervention beeinflussen. Im Krieg gegen die Türken hatte der König vor Schlacht beginn bei Belgrad ein Bittgebet für den Sieg gegen die Türken angeordnet. Die Protestanten hatten allerdings nicht nur für den Sieg gegen die Türken, sondern zugleich auch für einen Sieg gegen die Katholiken Fürbitte gesprochen. So jedenfalls notierte es der Chronist im August 1717 in dem „Diarium Missionis Societatis Jesu Dresdae“.450 Ungeachtet solcher Spannungen und der abwehrenden Hal tung der Obrigkeit gab es im Alltag vor allem in den größeren Städten alltägliche Berührungspunkte zwischen Katholiken, Lutheranern und Reformierten. Auch Mischehen waren dort, wo mehrere Konfessionen auf engerem Raum lebten, keine Seltenheit. Die detaillierte Darstellung des Ringens um landesherrliche Gesetzgebung zu religiös-konfessionell gemischten Ehen sowie deviantes Verhalten im Alltag hat die Interessenkollision geistlicher und weltlicher Macht sowie der betroffenen Ehe-
446 Die Originalakte gehörte in den Bestand HStAD, Geheimes Kabinett, Religionssachen, loc 2211, der, wie der gesamte 2000er Bestand des Hauptstaatsarchiv Dresden, im Krieg vernichtet wurde. Zitiert nach Saft: Der Neuaufbau der katholischen Kirche, S. 27. 447 Für eine spannende Analyse vgl. Poppe, Das Te Deum, S. 186–214. 448 Ebd., S. 193–196. 449 Ebd., S. 199. 450 Ebd., S. 194, Anm. 21.
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leute und Familien in den verschiedenen Territorien vor Augen geführt. Die Konflikte zeichneten sich nicht nur allgemein zwischen Staat und Kirche ab, sondern hatten jeweils ein eigenes konfessionspolitisches Gepräge, bedingt durch den jeweiligen Landesherrn oder, im Falle Kursachsens, protestantische Stände, aber auch bedingt durch die beteiligten Konfessionskirchen. Je nach Status im Territorium versuchten die großen Konfessionskirchen auf unterschiedliche Weise Einfluss auf die Gesetzgebung zur Wahrung oder Mehrung von „Besitzstandsrechten“ zu nehmen. In der Kurpfalz waren vor allem Reformierte bemüht, in der Mischehefrage die Rekatholisierungsbestrebungen des Landesherrn abzuwehren und zumindest die Erziehung nach Geschlecht durchzusetzen. Aufgrund alltäglicher Religionskonflikte vor allem um die religiöse Kindererziehung, bei der katholische Amtsleute unterstützt durch Geistliche einseitig die katholische Seite begünstigten, schlugen reformierte Geistliche den Weg an den Reichstag in Regensburg sowie an eine größere Öffentlichkeit ein, um die Unterstützung für ihre bedrängten Glaubensverwandten zu erreichen. Anders jedoch als beispielsweise in Kursachsen oder Württemberg gab es in der Kurpfalz keine Stände und keinen landsässigen Adel, der sich den Rekatholisierungs Bestrebungen des Landesherrn widersetzen konnte. Darüber hinaus schwächten die Spannungen zwischen Lutheranern und Reformierten ein einheitliches politisches Handeln. Im Fürstbistum Osnabrück waren es wiederum die protestantischen Stände, die sich Mitte des 18. Jahrhunderts unter der Herrschaft des katholischen Fürstbischofs Clemens August über Übergriffe katholischer Geistlicher gegenüber Kindern aus gemischten Ehen vor dem Reichstag beschwerten. In dem entstehenden Schriftwechsel trug die katholische Seite gleichfalls Beispiele protestantischen Fehlverhaltens im Umgang mit religiös-konfessionell gemischten Ehen vor. Im Terri torium selbst wurde von Amtsseite versucht, sich in Konflikten an die geltende Rechtslage für Mischehen sowie an die in der Capitulatio perpetua garantierte Gewissensfreiheit zu halten, wobei je nach Landesherrn konfessionspolitische Interessen sichtbar wurden. Wieweit diese eine Folge unmittelbarer landesherrlicher Begünstigungen von Glaubensgenossen waren oder eher auf ein grundsätzlich selbstbewussteres Auftreten von geistlichen und weltlichen Amtsinhabern unter einem konfessionsgleichen Landesherrn zurückzuführen ist, wird in der Auseinandersetzung mit der rechtlichen Praxis zu klären sein. In Kursachsen gelang es den Ständen aufgrund ihrer Machtstellung, eine Rekatholisierung des Landes zu verhindern, wobei anzumerken ist, dass zumindest von Seiten Friedrich Augusts keine ernsthafte Rekatholisierung zu befürchten war. Dennoch hatten vereinzelte Zugeständnisse an die Katholiken im Lande wiederholt zu Beschwerden und der Forderung nach neuen Religionsversicherungen geführt. Konfessionspolitische Konflikte in Kursachsen wurden überwiegend innerterritorial ausgetragen und waren regelmäßig Thema der Landtage.
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4 Glaube – Liebe – Zwietracht 4.1 Glaube – Liebe In der frühneuzeitlichen Auseinandersetzung mit Mischehen wurde eine enge Verbindung zwischen Glauben im Sinne der Konfessionszugehörigkeit und „Lie besgemeinschaft“1 hergestellt. Dabei gab es zwei konträre Positionen: eine Argumentationslinie sah in einer religiös-konfessionell gemischten Ehe die Chance und die Verpflichtung der Ehefrau, ihren andersgläubigen Ehemann mit allen Künsten der Verführung zum wahren Glauben zu bringen.2 Was für die eine Konfession als Chance wahrgenommen wurde, war für die andere allerdings eine Gefahr: Eben diese weibliche Verführungskunst konnte dazu führen, dass der Ehepartner vom wahren Glauben abfiel. Eine zweite Argumentationslinie beschäftigte sich mit den Gefahren, die eine Mischehe für die vor allem im Protestantismus idealisierte christliche Hausgemeinschaft als Ort religiöser Formung und Subjektivierung bedeutete.3 Im Mittelpunkt stand die Sorge, dass der Hausfrieden aufgrund unterschiedlicher religiöser Praktiken gestört, die Religionsfreiheit der Ehepartner eingeschränkt, und die rechtlich festgeschriebene Unterordnung der Ehefrau unter ihren Ehemann mit Verweis auf das religiöse Gewissen im Alltagshandeln unterlaufen werden könnte. Diese Beurteilung teilten die Gutachter der Spruchkollegien, sie findet sich detailliert in theologischen Schriften zu religiöskonfessionell gemischten Ehen und in der Argumentation vor den Landes- und Reichsgerichten in Mischehekonflikten. Religiös-konfessionell gemischte Ehen, so könnte man die Argumente zusammenfassen, verletzten das Ideal der frühneuzeitlichen Hausgemeinschaft und Ehe als eine Einheit in Geist und Leib, die durch Liebe im Geist Christi geformt wurde: Zu den in diesem Zusammenhang häufig zitierten Bibelstellen zählt der Brief des Paulus an die Epheser, auch wenn es hier nicht um Fragen der Ehe geht: „ein Herr, ein Glaube, eine Taufe, ein Gott und Vater aller“.4
1 Müller, Fang des edlen Lebens, S. 99. 2 Ausführlich zu Diskursen über die Verführungskunst von Frauen und ihre missionarische Rolle in Mischehen am Beispiel der Ehe zwischen Henrietta Maria und Karl I. von England mit weiterführenden Literaturhinweisen: Freist, Popery in Perfection, hier S. 40–44; Ebenfalls zu der missionarischen Rolle von Frauen in Mischehen Cristellon, ‚Unable and Weak-minded‘ or a Missionary?, hier S. 90–91. 3 Tara Hamling, Die Gestaltung des frommen Hauses im protestantischen Europa, in: Joachim Eibach/Inken Schmidt-Voges (Hrsg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch. München 2015, S. 195–214. 4 Epheser 4,5–6.
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Auffallend bei den theologischen Warnungen vor einer Mischehe ist immer wieder der Verweis, dass die Verschiedenheit im Glauben die „eheliche Liebe“ gefährde. In Anlehnung an die christliche Vorstellung der Nächstenliebe ist hier mit im ehelichen Kontext zunächst ein „vom Herzen wohl wollen“ gemeint, was sich in „freundlichen Gebärden“ und „liebreichem Zuspruch“ zeigt, in einem bedingungslosen Füreinander-Da-Sein, in dem wechselseitig Schaden vonein ander abgewendet wird.5 Dieses Verständnis von Liebe in der Ehe war nicht zuletzt von Martin Luthers Schriften über die Ehe geprägt, in denen er das Verhältnis von Mann und Frau durch das Gebot der gegenseitigen Achtung und Wertschätzung der Eheleute aufwertete. Zugleich wurde die christliche Ehe verstanden als „Abbild des Liebesverhältnisses zwischen Christus und der Kirche“.6 In den Alltagspraktiken von Frauen und Männern wird allerdings deutlich, dass sich die zeitgenössische Vorstellung von Liebe nicht auf dieses christliche Ideal von Liebe als Nächstenliebe reduzieren lässt. Auch wenn die Forschung für das 16., 17. und auch noch das 18. Jahrhundert ein überwiegend ökonomisch und zweckrational bestimmtes Heiratsverhalten herausgearbeitet hat, so zeigt sich in sozialen Praktiken, insbesondere in Praktiken der Eheanbahnung, welchen gesellschaftlichen Stellenwert die Beglaubigung von Zuneigung in Gesten und Ritualen hatte.7 Im 17. Jahrhundert entstanden die ersten Ratgeber zur Liebeswerbung8, und selbst Theologen setzten sich mit der Bedeutung von Liebesgesten und so etwas wie dem Zauber der Liebe auseinander.9 Schließlich zeugen Liebeszauberpraktiken,
5 Art. Liebe, in: Zedler, Universal-Lexicon, Bd. 17, S. 498. 6 Erik Margraf, Die Hochzeitspredigt der Frühen Neuzeit. München 2007, hier S. 377–379. Vgl. auch Albrecht Classen, Der Liebes- und Ehediskurs vom hohen Mittelalter bis zum frühen 17. Jahr hundert. Münster 2005. 7 Marion Lischka, Liebe als Ritual. Eheanbahnung und Brautwerbung in der frühneuzeitlichen Grafschaft Lippe. Paderborn 2006, hier S. 171; Sylvia Schraut, „Die Ehen werden in dem Himmel gemacht“. Ehe- und Liebeskonzepte der katholischen Reichsritterschaft im 17. und 18. Jahrhundert, in: Claudia Opitz/Ulrike Weckel/Elke Kleinau (Hrsg.), Tugend, Vernunft und Gefühl. Geschlechterdiskurse der Aufklärung und weibliche Lebenswelten. Münster 2000, S. 15–32; vgl. auch Richard van Dülmen, Fest der Liebe. Heirat und Ehe in der frühen Neuzeit, in: ders. (Hrsg.), Armut, Liebe, Ehre. Studien zur historischen Kulturforschung. Frankfurt a.M. 1988, S. 67–106. 8 Zu den bekanntesten gehört Anonym., Aristotle's Masterpiece or The Secrets of Generation Display'd in all Parts thereof. London 1600. Vgl. auch Roy Porter/Lesley Hall, The Facts of Life. The creation of sexual knowledge, 1650–1950. Avon 1995. 9 Vgl. dazu die Ausführungen des englischen Puritaners Robert Burton über die von der Liebe verursachte Melancholie und die Körperpraktiken der Liebeswerbung: Robert Burton, The Anatomy of Melancholy, What it is: With all the Kinds, Causes, Symptomes, Prognostickes, and Several Cures of it. In Three Maine Partitions with their several Sections, Members, and Subsections. Philosophically, Medicinally, Historically, Opened and Cut Up. London 1621.
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um noch ein weiteres Phänomen zu benennen, ebenfalls von der emotionalen Dimension in den Beziehungen zwischen Männern und Frauen vor dem sogenannten Zeitalter romantischer Liebe10. Doch auch in theologischen Schriften zu Mischehen, vor allem aus der Feder katholischer Autoren, wurde die verführe rische Macht der Liebe und der Liebeskünste von Frauen beschworen, die in missionarischer Absicht ihre Ehemänner zur Konversion bewegen sollten.11 Vor diesem Hintergrund soll auch die Verwendung des Begriffs der Liebe in den nachfolgenden Schriften in dieser Mehrdeutigkeit verstanden werden. Eng verbunden mit dem Gebot der Einheit im Glauben war außerdem die ausgesprochene Sorge, dass bei Religionsverschiedenheit der Hausfrieden gestört werde. Die einzelnen Autoren beschreiben teilweise detailliert, welche Praktiken, die sich aus der Religionsverschiedenheit ergaben, den Hausfrieden bedrohten. 12 Dabei ging es nicht nur um religiöse Praktiken innerhalb und außerhalb des Hauses, etwa Kirchgang, Schulbesuch oder die Teilnahme an Prozessionen, sondern auch um die Strukturierung des Alltags durch die Einhaltung unterschiedlicher Feiertage, Essensgewohnheiten, den Umgang mit Kindern oder im Verhältnis von Mann und Frau. Der erste bedeutende frühchristliche Verfasser kirchenrechtlicher Schriften hat bereits in seinen dogmatischen polemischen Schriften gemahnt, sich nur mit Anhängern des christlichen Glaubens zu verehelichen: Welch schönes Zweigespann ist ein gläubiges Ehepaar, das eine Hoffnung, ein Bekenntnis und eine Lebensweise hat, das sich gemeinsam zum Gebet auf die Knie wirft, zusammen fastet, zusammen in die Kirche geht und zum Tische des Herrn, das in Bedrängnis und Verfolgung, in schlimmen wie in guten Tagen beieinander aushält, das sich ruhig an den Übungen christlicher Nächstenliebe und am heiligen Opfer beteiligen kann und nicht zu Heimlichkeiten seine Zuflucht nehmen und sich bloß verstohlen zu bekreuzen, nur insgeheim zu beten und wortlos zu segnen braucht, sondern gemeinsam Psalmen und Hymnen singt und in heiligem Wetteifer Gott lobpreist! Wo Christus solches sieht und hört, da sendet er den Eheleuten seinen Frieden und weilt mitten unter ihnen.13
Auch für Martin Luther galt die Einheit im Glauben als eine entscheidende Voraussetzung für ein friedliches und geordnetes Familienleben und eine harmoni-
10 Daniela Hacke, Women, Sex and Marriage in Early Modern Venice (St. Andrews Studies in Reformation History). Aldershot 2004. 11 Freist, Popery in Perfection. 12 Zur Bedeutung des Hausfriedens in der Ehe vgl. Inken Schmidt-Voges, Mikropolitiken des Friedens: Semantiken und Praktiken des Hausfriedens im 18. Jahrhundert. München 2015, hier S. 23 sowie Tl. 3 zu Hausfrieden und Ehe. 13 Tertullian, Ad Uxorem 1.2, 9. Zitiert in Knecht, Handbuch des katholischen Eherechts, S. 299.
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sche Ehe.14 Einen eindrucksvollen Einblick in die alltäglichen Belastungen einer Mischehe, die viele Zeitgenossen befürchteten, gewährt Philip Müller in seinem Traktat „Der Fang des edlen Lebens“, das er in Reaktion auf die Eheanbahnung zwischen dem lutherischen Herzog zu Sachsen-Zeitz und der reformierten Toch ter des späteren König Friedrich I. von Preußen verfasst hatte.15 Müller war 1663 zum Professor der Beredsamkeit und später zum außerordentlichen Professor der Theologie an die Universität Jena berufen worden. Als er obige Schrift verfasste, war er Propst in Magdeburg. Die Publikation seines Traktats führte zu seiner Verhaftung in Magdeburg. Erst 1702 kehrte er als ordentlicher Professor nach Jena zurück.16 Seine Bedenken stützten sich vor allem auf die zu erwartende Disharmonie unter den Eheleuten, zu befürchtende Gewissenszwänge und den Autoritätsverlust des Familienvaters. Die Quelle von Konflikten in Mischehen sah Müller wie viele seiner Zeitgenossen in der Unvereinbarkeit von Geist und Leib. Die ideale christliche Ehe beruhte auf einem christlichen Haushalt und vorbildlichen christlichem Lebenswandel unter Führung des Hausvaters. Harmonie, Liebe und gegen seitiger Respekt, die Aufzucht der Kinder und die Unterweisung des Gesindes wur den, so Müller, von beiden Ehepartnern erwartet. Dieses Gebot der Einheit im Geist konnten Mischehen nicht erfüllen und Müller fragte: „Wie besteht solche Not und Verachtung ihrer Lehr und Gewissens mit der Liebesgemeinschaft?“17 In seinen weiteren Ausführungen gibt der Theologe ein eindrückliches Bild von den alltäglichen Mühen eines gemischt religiös-konfessionellen Haushalts angesichts unterschiedlicher religiöser Praktiken und religiöser Subjektivierung: Eben dieses macht gar ein schwer Leben. Dies sucht seinen Gott hie/ jenes dort: Kinder solten von der lieben Mutter/ als Küchelein zur Sonne und Nahrung/ zu dem guten angeführet werden; Dieß lleidet sich nicht; Des Vaters Lehre und Wille hindert. Er solte sie gern nach vermeinter Gottseligkeit gewehnen; Die Mutter aber bemerkt nach ihrer Andacht nicht weniger/ und schwätzt es ihnen anders vor. Was dem Manne für Gott Segen heisst/ ist bey Ihr verflucht. So wehlt jedes Gesind und Diener nach seiner Religion am liebsten [...] die Gesellschaft ist verstellt.18
14 Luther, Ein Sermon vom ehlichen Stand; ders., Eine Predigt vom Ehestand WA 17,1 (1907), S. 22–29. 15 Müller, Der Fang des edlen Lebens. 16 Allgemeine Deutsche Biographie. 56 Bde. Ndr. der 1. Ausg. Leipzig 1875–1912. Berlin 1967– 1971. Bd. 22. Berlin 1970 (Nachdr. der 1. Ausg. 1885), S. 668. 17 Müller, Fang des edlen Lebens, S. 99. 18 Ebd., S. 68–69.
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Auf die Frage „ob man sich an Personen, die nicht reiner Lehre sind, befreyen [...] solle“ hatten auch andere lutherische Theologen ähnliche Beobachtungen angestellt und betonten, dass bei der Verschiedenheit im Glauben weder Liebe noch Freundschaft in einer Ehe entstehen könnten: Endlich gebieret und verursachet solcher maßen ungleicher Zeug der ungleichen Ehegatten viel unsäglichen Unrath und Schaden: Einmal kann keine wahre herzliche Liebe und Freundschaft zwischen ihnen beständig scheben und hafften: Wo bleibt alsdann Idem velle, idem nolle: Cor unam, una anima? Quomodo potest cogruere charitas, si discrepet fides? Nochmals werden hiedurch die Übungen der wahren ungefärbten Gottseligkeit in mit und durch Gebet/ Geduld/ Hoffnung/ Kinderzucht zur Einigkeit und Reinigkeit des Glaubens merklich verstümmelt und verhindert.19
Bereits im Jahr 1616 empfahl die theologische Fakultät in Rostock eine Predigt gegen Mischehen, da diese den Anspruch der Ehe, Gott zu ehren, und in ehelicher Liebe zusammen zu leben, nicht erfüllten. Wörtlich heißt es: Wie kann aber Gott im Ehestand geehrt werden/ wenn die Eheleute nicht einig seyn im Glauben? Ja es muss daselbst ein Theil anhören wie vom anderen Theil Gott gelästert und geschändet wird/ was auch für eheliche Liebe daselbst seyn könne/ ist auch leicht zu erachten.20
Pfarrer waren grundsätzlich verpflichtet, ihre Gemeinde auf die Gefahren von Mischehen hinzuweisen. In einer Predigt gegen Mischehen begründete ein lutherischer Pfarrer Anfang des 17. Jahrhunderts seine Warnungen mit der Gefahr der Verführung, dem Verstoß gegen das Gebot Gottes und drohenden häuslichen Konflikten bei der Religionsausübung und Kindererziehung: Wann der Vater Papistisch ist, nimmt er seine Söhne mit zur Messe, die Mutter nimmt ihre Töchter mit zur reinen Kirchen. Da ist keine rechte Liebe, oder man hält wenig von der Religion, und folget ein Epikurisch Leben darauf.21
In seinen Überlegungen über das Verhältnis von Glaube und Liebe in Mischehen setzt sich Müller nicht nur mit religiösen Differenzen und den Folgen für den ehelichen Frieden und die Kindererziehung auseinander, sondern ebenso mit der Frage der Geschlechterhierarchie in Haushalt und Familie. Fehlendes Einvernehmen im Glauben schließt eine friedliche Ehe und die Anerkennung der väter-
19 Dedeken, Thesauri consiliorum, Bd. 3: Mixta et inprimis Matrimonialia Continens, S. 173. 20 Ebd., S. 175. 21 Ebd., S. 174f.
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lichen Gewalt durch Frau und Kinder aus: „Eine jede christliche Frau soll des Herrn wahrnehmen. Wie kann sie aber zweien Herrn dienen/ Christo und dem heidnischen Ehemanne?“22 In religiös-konfessionell gemischter Hausgemeinschaft waren konfessionsspezifische religiöse Praktiken wie die Teilnahme an Prozessionen oder der Kirchgang nicht zuletzt aufgrund verschiedener zeitlicher Rhythmen unvereinbar mit der Erfüllung häuslicher Pflichten. Gewislich, sie kann dem Herrn der Regul nach nicht Genüge thun/ indem sie an ihrer Seite des Teufels Knecht hat [...]. Als wenn sie in der Kirche mit stehen solte/ sagt ihr der Mann an/ ins Bad mit zugehen: Wenn sie fasten mit soll halten/ stellt ihr Mann so denn Gasterey an: Wenn sie den Umgang mit zu thun hat/ gibts eben so denn im Hause am meisten zu thun.23
Eng verknüpft mit der Frage von Gehorsam war die Frage, ob Frauen sich ohne ihren Mann außerhalb des Hauses bewegen durften – zum Beispiel, um Kranke zu besuchen –, ohne ihren guten Ruf und damit ihre Ehre zu gefährden. Müller fragt weiter, wie sich ein Mann zu dem christlichen Bruderkuss verhalten sollte, der bei Begrüßungen üblich war und Frauen einschloss? Dass sich heiratswillige Frauen und Männer im Alltag ganz praktisch mit diesen potentiellen Konflikten einer religiös-konfessionell gemischten Ehe auseinandersetzten, zeigt sich ansatzweise an den Vorkehrungen, die sie in Eheverträgen trafen sowie in Strategien im Umgang mit innerfamiliären Religionskonflikten vor Gericht.24 Eheverträge, in denen die zukünftigen Eheleute gegenseitige Glaubensfreiheit garantierten und die Kindererziehung einvernehmlich festschrieben, zeugen von der Bereitschaft, ein gemischt religiös-konfessionelles Familienleben im Alltag pragmatisch gestalten zu wollen. Gleichzeitig zeugen diese Verträge davon, dass Eheleuten die möglichen Gefahren einer Mischehe zumindest nicht unbekannt gewesen zu sein schienen und sie durch Eheverträge spätere Eingriffe in die Gestaltung des religiösen Alltags verhindern wollten. Solche Eheverträge wurden nicht nur in Territorien abgefasst, in denen dies bei Mischehen verpflichtend war wie in der Kurpfalz, oder in denen ein landesherrliches Dispensverfahren wie in Kursachsen die Religionszugehörigkeit von Kindern bestimmte, sondern wurden auch freiwillig geschlossen. So in dem folgenden Beispiel.
22 Müller, Fang des edlen Lebens, S. 74. 23 Ebd., S. 75. 24 Eheverträge wurden bislang vor allem in Bezug auf erbrechtliche Fragen und Vormundschaftsfragen untersucht, so etwa Margareth Lanzinger u.a. (Hrsg.), Aushandeln von Ehe. Heiratsverträge in der Neuzeit im europäischen Vergleich. Köln 2010.
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Als sich die lutherische Wilhelmina geborene Steinmeyer und der Katholik Conrad Fischer, beide aus dem Fürstbistum Osnabrück, entschlossen zu heiraten, war keiner von beiden bereit, die Konfession des anderen anzunehmen. Im Blick auf zukünftige Kinder einigten sie sich über die Religionsausübung in ihrer Familie. Im zweiten Teil ihres Ehevertrags hielten sie fest: nach hiesigen Landes Gebrauch nemlich daß, wenn ihnen Gott eine oder mehr Töchter bescheren wird, solche der Mutter folgen, und in der evangelischen Religion erzogen werden sollen, und wenn Gott Söhne bescheren wird, solche dem Vater folgen, und in der katholischen Religion erzogen werden sollen, und das weder Conrad Fischer ihr, noch sie ihm daran jemals hinderlich noch auf einige Art zuwider seyn solle noch wolle.25
Für ihr eigenes religiöses Leben haben die Eheleute „noch überdem versprochen und gelobet, sich einander in ihrer Religions Übung nicht zu verhindern, sondern sich einander selber dazu, nach Möglichkeit ihrer Umstände anzutreiben“.26 Der Ehevertrag, den die Eheleute Maria Susanne Dangen, reformiert, und Peter Monzlinger, katholisch, aus dem Oberamt Simmern, Kurpfalz, am 1. Februar 1779 schriftlich geschlossen hatten, bezog in seinen Bestimmungen über die religiöse Erziehung der Kinder nicht nur die Eheleute ein, sondern auch die nächsten Anverwandten, falls ein Elternteil sterben sollte.27 Die zukünftigen Eltern hatten bestimmt, dass ihre Kinder ungeachtet ihres Geschlechts, der Religion des Vaters, des „capiti familiae“ folgen sollten. Söhne und Töchter sollten ohne Ausnahme katholisch getauft werden, eine katholische Schule besuchen und in der christlichen Lehre unterwiesen werden. Darüber hinaus beteuerte die Braut, „und von ihr die kinder mit eben der Lieb der nemlichen mütterlichen sorgfalt und gleichen fleißes , als wenn solche in ihrer religion erzogen würden, erziehen wollen, sie in keinem fall darinnen vernachlässigen noch weniger verhinderlich fallen wolle“.28 Falls ihr Mann sterben sollte, würde sie „als letztlebende Mutter die Kinder nicht an sich ziehen, sondern in des Vatters religion versprochener maßen fort zu erziehen, und weder durch sich, noch der ihrigen anverwandten hierinn hinderlich zu betragen aufs feierlichste angelobt“.29 Als der Vater allerdings tatsächlich früher starb, erzog die Mutter mit Unterstützung ihres Bruders das Kind im reformierten Glauben, ein Hinweis, dass die jeweilige religiöse Zugehörigkeit auch in einer Mischehe wichtig blieb. Allerdings schalteten sich katholische Verwandte und der
25 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/20, fol. 4 (1775/1777). 26 Ebd. 27 GLA 77/4344, fol. 21–23 (1793–1794). 28 GLA 77/4344, fol. 23 (1793–1794). 29 Ebd.
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Ortspfarrer ein, und das Mädchen wurde in ein Kloster zur katholischen Unterweisung gebracht. Dass sich zukünftige Eheleute verschiedener Konfessionszugehörigkeit mit Fragen der Kindererziehung, dem religiösen Gewissen und der Rolle des Hausherrn in einer Mischehe auseinandersetzten, wird schließlich in Gesuchen um eine Ehedispens deutlich, die in Kursachsen verlangt wurde. Hier waren es vor allem die zukünftigen katholischen oder reformierten Ehemänner, die darauf hinwirkten, unter Berufung auf ihre Rolle als Hausherr die Erlaubnis zu erhalten, wenigstens die Kinder in der eigenen Religion erziehen zu dürfen, wenn schon die Ehefrau nicht konvertieren würde.30 Ausdruck der Bereitschaft zu friedlichem Zusammenleben war weiterhin der schon vor dem Westfälischen Frieden etablierte Brauch, der in eine Reihe von Landesgesetzen zur Mischehe übernommen und bei Konflikten regelmäßig zitiert wurde, die in einer Mischehe erzeugten leiblichen Kinder nach Geschlecht, das bedeutete, die Mädchen in der Konfession der Mutter, die Jungen in der Konfession des Vaters, zu erziehen.31 Hinweise auf den Ursprung dieses Verfahrens sind nicht bekannt – dass das Verfahren unter Kanonikern umstritten war, wurde bereits gezeigt32 –, aber in Rechtstreitigkeiten finden sich vereinzelt Begründungen. So rechtfertigte das Konsistorium in Hessen-Kassel die nach Geschlecht differenzierende Landesgesetzgebung zu Mischehen Mitte des 18. Jahrhunderts damit, dass die Erfahrung gelehrt habe, „daß zuweilen die Mütter theils durch Drohungen, theils durch Schmeicheleyen ihrer Ehemänner ein anderes zu gestatten sich bewegen lassen, denenselben weiter hierinnen etwas nachzugeben untersaget ist“.33 Beispiele wie das Nachfolgende deuten zumindest an, dass die Frage der Kindererziehung vor der Eheschließung nicht nur intensiv besprochen wurde, sondern dass Ehepartner, die sich ihrem jeweiligen Glauben verpflichtet fühlten, nach Lösungen suchten. Die Brautleute Johann Hünen, katholisch und Catharina Margaretha Hrentzell, lutherisch, beide aus dem Fürstbistum Osnabrück, einigten sich Anfang des 18. Jahrhunderts in ihrer schriftlich verfassten Eheberedung den punctum religionis betreffend, sollten die Söhne dem Mann, und die Töchter der Frauen folgen, falß aber lauter Söhne, oder contra lauter Töchter gebohren und erzeuget würden, sollte die Halbscheid in jeder religion einen jeden Ehegatten folgen. Alles ohne Gefehrde und Argliß.34
30 Ausführlich dazu s.u. 31 Zur Gesetzeslage vgl. Kapitel I. 32 Vgl. ebd. 33 Anton Faber, Neue Europäische Staatscanzley. Tl. 5. Ulm 1761, Kap. 6, S. 321. 34 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/1 (1715).
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Dort, wo die Verfassung von Eheverträgen für Mischehen von der landesherrlichen Obrigkeit vorgeschrieben wurde, wurde dieses Verfahren mit den häufigen Konflikten und der Ausübung von ‚Gewissenszwang‘ in Mischehen begründet.35. Worauf sich diese Besorgnis bezog, wird kaum deutlicher als in den formelhaften Beteuerungen verpflichtend abzufassender Eheverträge in der Kurpfalz. Hier wird wie in zeitgenössischen Gutachten und theologischen Abhandlungen die „beybehaltung Ehelicher christlicher Liebe, Fried und Einigkeit“ betont: weilen ich der bräutigam der Catholischen, die braut aber der lutherischen Religion zugethan, wegen Erziehung derer künftigen unserer Ehe durch Gottes Segen und dessen aller weisesten Anordnungen aller etwa besorglichen zwistig- und streitselligkeiten, uns dahin gütlich und aus freyen ungezwungenen willen verabredet und beschlossen, daß zu beybehaltung Ehelicher christlicher Liebe, Fried und Einigkeit die erziehlenden Söhne sambt Töchter in des Vatters der catholischen Religion getauft und erzogen, ohne weiteren Anstand belassen, werden sollen.36
Die gleichen formelhaften Beteuerungen zur Aufrechterhaltung christlicher Liebe und zur Verhinderung von Streit wurden eingesetzt, wenn die Brautleute die Erziehung der Kinder nach Geschlecht, also die Söhne jeweils in der Konfession des Vaters, die Töchter in der Konfession der Mutter beschlossen.37 Eine statistische Auswertung von Eheverträgen und die dort festgehaltenen Bestimmungen über die Konfessionszugehörigkeit der Kinder, oder die Auswertung von Kirchenbüchern, wie dies Heller-Karneth für Alzey vorgenommen hat, zeigt zwar quantitativ interessante Entwicklungen bezogen auf die Religionsbestimmung von Kindern in Mischehen auf, ist qualitativ jedoch nur begrenzt aussagekräftig, da diese Zahlen keine Rückschlüsse erlauben auf externe Faktoren, die die Entscheidung beeinflusst haben konnten. Zu nennen sind hier das jeweilige konfessionelle und religiöse Umfeld, der soziale und wirtschaftliche Status der Ehepartner, bestehende familiäre oder wirtschaftliche Netzwerke, der Einfluss des Familienverbandes, der Einfluss von Geistlichen und das Kräfteverhältnis der Geschlechter. Die problematische Auswertung der statistischen Erhebung von Heller-Karneth selbst verdeutlicht die angesprochene Problematik, interpretiert sie doch die überwiegend am Vater orientierte Konfessionsbestimmung aller
35 Vgl. Dagmar Freist, One Body, Two Confessions: Mixed Marriages in Germany, in: Ulinka Rublack (Hrsg.), Gender in Early Modern German History (Past and Present Publications). Cambridge 2002, S. 275–305. 36 Angenannte Religions und Ehesachen, d.h. Verträge welche zwischen neu angehenden Eheleuten wegen ihrer Religionsverschiedenheit rücksichtlich der confessionellen Erziehung ihrer Kinder abgeschlossen worden v. 1759–1797. GLA 229/16521, fol. 4. 37 Ebd.
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Kinder fälschlicherweise als konform mit der Religionsdeklaration von 1705. Nach dieser Deklaration wurde die Konfession des Vaters allerdings nur zu Grunde gelegt, wenn in Eheverträgen keine anderen Bestimmungen getroffen worden waren, abweichende Entscheidungen waren also ausdrücklich möglich. Der auffallende Befund, dass in Ehen zwischen katholischen Frauen und lutherischen oder reformierten Ehemännern alle Kinder katholisch erzogen wurden, während bei innerprotestantischen Mischehen die Konfession des Vaters, allenfalls die geschlechtsspezifische Erziehung auftrat, lässt sich nach Heller-Karneth darauf zurückführen, dass katholische „Frauen hartnäckiger und erfolgreicher in der Verteidigung und Weitergabe ihres Glaubens waren als die protestantischen“.38 Diese Folgerung unterschätzt den Einfluss katholischer Geistlicher und Amts leute in diesem Zusammenhang, wie er sich aus Gerichtsakten rekonstruieren lässt, und ignoriert die Verpflichtung für Katholiken, bei Mischehen alle Kinder katholisch zu erziehen. Heller-Karneth und auch Zschunke weisen in ihrer statistischen Erhebung übereinstimmend nach, dass in den untersuchten pfälzischen Städten der lutherische Ehemann eher geneigt gewesen zu sein schien, einer nach Geschlecht aufgeteilten konfessionellen Kindererziehung zuzustimmen, während ein reformierter oder katholischer Ehepartner, bei den Katholiken auch die Ehefrau, die eigene Konfession bei der Kindererziehung durchsetzte.39 Aus diesem Befund allerdings eine ‚konfessionelle Mentalität‘ etwa in dem Sinne, das Reformierte oder Katholiken ihren eigenen Glauben nach strengeren Regeln lebten, ableiten zu wollen, wäre angesichts der konfessionellen Verhältnisse in der Kurpfalz vereinfacht. Zschunke selbst bietet denn auch die Minderheitensi tuation der Reformierten in Oppenheim als Erklärung an, „die in dieser Defensiv position bestrebt waren, sich in ihrer Konfession zu behaupten“.40 Seit etwa Mitte des 18. Jahrhunderts kann Zschunke für Oppenheim einen Anstieg in der getrennt konfessionellen Kindererziehung und entsprechend einen Rückgang in der einseitigen Konfessionsbestimmung durch den Vater erkennen, die er als Zeichen wachsender Toleranz zwischen den Konfessionen deutet. Offensichtlich gab es jedoch eine weitere Landesverordnung zu Mischehen Mitte des 18. Jahrhunderts, die die geschlechtsspezifische Kindererziehung festlegte, es sei denn, in Eheverträgen wurde eine andere Konfessionszugehörigkeit für die Kinder bestimmt.41
38 Heller-Karneth, Drei Konfessionen, S. 224; zur Gesetzeslage in der Kurpfalz vgl. Kapitel III. 39 Zschunke, Konfession und Alltag, S. 105. 40 Ebd. 41 Die Verordnung konnte bislang nicht aufgefunden werden, entspricht inhaltlich aber der unter Kurfürst Maximilian Joseph 1799 erlassenen Religionsdeklaration (vgl. Kapitel 1) und spiegelt die bayerische Landesgesetzgebung zu Mischehen wider. Karl Theodor hatte diese vermutlich 1777 übernommen, als er Kurfürst von Bayern wurde.
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Auf diese Landesverordnung wurde in Eheverträgen überwiegend lutherischreformierter Eheleute, die für den Ort Daisbach im Oberamt Heidelberg für den Zeitraum von 1759 bis 1797 überliefert sind, regelmäßig hingewiesen und die Brautleute legten fast ausschließlich die geschlechtsspezifische Kindererziehung fest.42 Der Hinweis in einer kurpfälzischen Verordnung von 1724, mit der die Abfassung von Eheverträgen und die schriftliche Konfessionsbestimmung der Kinder vor Eingehung einer Mischehe zur Pflicht gemacht wurden43, dass jegliche gewaltsame Einflussnahme auch von Beamten auf die Entscheidungsfindung verboten war, deutet an, wie brisant die Angelegenheit sein konnte. Dass auch die eigene Familie Einfluss auf das religiöse Verhalten ihrer Mitglieder haben konnte, deutet sich in Verhaltensweisen wie die einer lutherischen Frau in Oppenheim in der Kurpfalz an, die einen Katholiken geheiratet hatte und in der Ehe zur Konversion gedrängt wurde. Sie erklärte sich erst nach dem Tod ihrer Mutter zur Annahme des katholischen Glaubens bereit.44 Gewissermaßen an die Oberfläche traten innerfamiliäre Vorbehalte gegen Mischehen, wenn nach dem Ableben eines Ehepartners der Familienverband versuchte, die Konfession des oder der Verstorbenen bei den Kindern gegen den Willen des überlebenden Partners, meist der Ehefrau, durchzusetzen und diese schließlich gerichtliche Schritte ergriff.45 Nicht alle heiratswilligen Paare vertrauten darauf, dass sich mögliche Religionskonflikte in Mischehen schon irgendwie regeln lassen würden. Sowohl die Eltern potentieller Brautleute als auch sie selbst lehnten eine solche Eheschließung aus religiösen Gründen ab, bis die Bedingungen des Zusammenlebens geklärt worden waren. Die katholische Maria Catharina Hölpers aus dem katholischen Kirchspiel Ostercappeln im Fürstbistum Osnabrück lehnte die Ehe mit dem lutherischen Johann Meyer „wegen die religion“ ab. Erst nachdem er ihr „zu unterschiedlichen Mahlen versprochen, daß alle Kinder welche Gott ihnen geben würde, mit Ihr zu ihrer religion gehen sollten, und catholisch werden“, willigte sie in die Ehe ein.46
42 Angenannte Religions und Ehesachen, d.h. Verträge welche zwischen neu angehenden Eheleuten wegen ihrer Religionsverschiedenheit rücksichtlich der confessionellen Erziehung ihrer Kinder abgeschlossen worden v. 1759–1797. GLA 229/16521. 43 GLA 77/4363 (13. März 1744; im Text Verweise auf frühere Verordnungen in gleicher Sache vom 5. Mai 1724 und 20. März 1727). Diese Verordnung war Heller-Karneth offensichtlich nicht bekannt, denn sie spekuliert darüber, warum so viele Eheverträge auch noch Ende des 18. Jahrhunderts abgeschlossen wurden. Heller-Karneth, Drei Konfessionen, S. 225. 44 Zschunke, Konfession und Alltag, S. 102–103. 45 Beispiele unten. 46 StAOS Rep 100, Abschnitt 375/36 (1755–1756), fol. 2.
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Vor religiöser Indifferenz warnten die Zeitgenossen. So wurde die Konversion eines Augsburger Ehepaars im Jahre 1756, die offensichtlich aus materieller Not erfolgte und in der religiösen Praxis nicht wirklich gelebt wurde – die Frau behielt ihr katholisches Gebetbuch und Heiligenbilder bei sich – mit den Worten angeprangert „daß sie auf solche weis weder catholisch noch evangelisch, mithin nicht kalt und nicht warm seyen. Folgsam nach den anspruch Christi selbst: wer nicht kalt noch warm ist, den werde ich aus meinem mund ausspeyen, nothwendig ewig zu grund gehen müssen“.47 Ähnliche Vorwürfe wurden auch gegenüber Mischehen wiederholt vorgebracht, besonders wenn die konfessionelle Erziehung der Kinder nach Geschlecht getrennt wurde, da „bey derley ungleichen Erziehun gen zu geschehen pfleget, beyde Theile lau, und halb Catholisch und halb Refor mirt werden“.48 Die Motivation, tatsächlich eine religiös-konfessionell gemischte Ehe angesichts der formalen und innerfamiliären Hindernisse sowie der vielfach artikulierten Abschreckung einzugehen, lässt sich angesichts der Quellenlage nur sehr schwer greifen. Pierre Bourdieu hat in seiner Studie über Heiratsstrategien im frühneuzeitlichen Frankreich die entscheidende Bedeutung des materiellen und symbolischen Familienerbes für eine Heirat und die Wahl der Ehepartner betont, also Besitz und Status der beteiligten Familien.49 Dieses Kalkül wurde insbesondere für dynastisches Heiratsverhalten betont, konnte aber dennoch zu massiven Konflikten in religiös-konfessionell gemischten Ehen des Adels50 sowie mit der römischen Kirche führen, wenn die Dispens für eine solche Eheschließung verweigert wurde.51 Doch auch im städtischen Bereich oder im Adel war die Eheschließung nicht selten strategisch motiviert, und die Ehe mit Angehörigen einer anderen Konfession wurde akzeptiert, wenn damit der Zugang zu bislang geschlossenen sozialen Kreisen oder auch Ämtern eröffnet wurde.52 Die Gründe,
47 Zitiert nach Wüst, Konfession, Kanzel und Kontroverse, S. 134. 48 Anton Faber, Neue Europäische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762, Kap. 4, S. 291. 49 Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft. Frankfurt a.M. 1987, S. 264– 287 (franz. Orig.: Le sens pratique. Paris 1980). 50 Zuletzt Martin Wrede, Der Feind in meinem Haus. Unversöhnte Konfessionsverschiedenheit im französischen Hochadel des 17. Jahrhunderts: Das Beispiel der Herzöge von La Trèmoille, in: Johannes Paulmann/Matthias Schnettger/Thomas Weller (Hrsg.), Unversöhnte Verschiedenheit. Verfahren zur Bewältigung religiös-konfessioneller Differenz in der europäischen Neuzeit. Göttingen 2016, S. 141–160; Freist, Popery in Perfection; Anne-Simone Knöfel, Dynastie und Prestige. Die Heiratspolitik der Wettiner. Köln 2009; Hufschmidt, „Den Krieg im Braut-Bette schlichten“. 51 Cristellon, Die römische Inquisition, S. 283–306. 52 Vgl. beispielsweise das Heiratsverhalten der Welser und der Langenmantel in Augsburg. Warmbrunn, Zwei Konfessionen in einer Stadt, S. 333–344; auch Wüst, Konfession, Kanzel und Kontroverse, S. 134.
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eine religiös-konfessionell gemischte Ehe im ländlichen Bereich einzugehen, bezogen sich neben wirtschaftlichen Aspekten vor allem auf die Beschaffenheit des Heiratsmarktes und die Verfügbarkeit geeigneter Heiratspartner. Aufgrund des bislang nur punktuell vorliegenden statistischen Materials zu geschlossenen Mischehen im Vergleich zu dokumentierten Mischehekonflikten kann davon ausgegangen werden, dass eine große Zahl von Mischehen relativ friedfertig geführt wurde, zumindest, dass Konflikte außergerichtlich und innerfamiliär gelöst – oder unterdrückt wurden.53 Ob Religionsverschiedenheit in Familien in der ersten Generation nach der Reformation gewissermaßen zum Alltag gehörte und als unproblematisch empfunden wurde im Vergleich zu den nachfolgenden Generationen lässt sich angesichts der deutlich weniger aktenkundig gewordenen Konfliktfälle nicht beantworten.54 Die obrigkeitliche Gesetzgebung zur Regelung religiös-konfessioneller Ehen setzte zeitlich verzögert im auslaufenden 17. Jahrhundert an, so dass Religionskonflikte in einer Mischehe auch erst dann gerichtlich aktenkundig werden konnten.55 Da diese friedlich verlaufenden Mischehen selten dokumentiert sind, lässt sich nur vermuten, dass die Grundlage des Zusammenlebens entweder religiöse Indifferenz, eine konfessionsübergreifende christliche Frömmigkeit oder aber die Duldung der religiösen Praktiken der jeweiligen Partner darstellte. Dass die Voraussetzung, eine religiös-konfessionell gemischte Ehe einzugehen, nicht zwingend religiöse Indifferenz war, haben bereits die Absprachen vor der Ehe gezeigt. Auch die Religionskonflikte, die in Mischehen immer wieder auftraten, belegen, welchen Stellenwert die Bewahrung der eigenen Religionszugehörigkeit in einem religiös-konfessionell gemischten Haushalt hatte.56 Selten überliefert ist die emotionale Motivation, eine religiös-konfessionell gemischte Ehe einzugehen. Eines der wenigen Beispiele bieten die autobiographischen Schriften des kurpfälzischen Magister Friedrich Christian Laukhard (1757–1822) aus dem 18. Jahrhundert. Laukhard stammte aus einem relativ toleranten protestantischen Elternhaus,
53 Für die Auswertung einer umfangreichen obrigkeitlichen Erhebung zu Mischehen, in denen nicht nur Konflikte dokumentiert wurden, vgl. die Studie von Kaplan, Intimate Negotiations, hier S. 228–229. 54 Zu der These weitgehender Indifferenz in der ersten Generation nach der Reformation vgl. Forclaz, The Emergence of Confessional Identities, S. 250. 55 Auch in den Niederlanden setzte die Gesetzgebung zu Mischehen im auslaufenden 17. Jahrhundert ein. Kaplan, Intimate Negotiations, S. 225–227. Zur Gesetzgebung vgl. Kapitel I. 56 Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie von Benjamin Kaplan für die Niederlande. Kaplan, Intimate Negotiations, S. 232.
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sein Vater hatte ihm „keinen Haß gegen andere Kirchensysteme eingeflößt“.57 Kurz vor seinem Studienbeginn verliebte sich Laukhard in eine junge katholische Frau, und nachdem eine erste Begegnung im Geheimen erfolgreich zustande gekommen war, versprach er, „die katholische Religion näher zu prüfen und mich ganz von ihr und ihrem Vater leiten zu lassen. Wer einmal wirklich verliebt ist, würde gewiß alles tun, was ich tat, wenn er auch viel weniger Leichtsinn besitzen sollte, als Mutter Natur mir mitgeteilt“.58 Laukhard war bereit, um der Ehe willen zum katholischen Glauben überzutreten, und hatte sich bereits mit Hilfe des katholischen Pfarrers in Erbesbüdesheim mit der katholischen Lehre auseinandergesetzt, doch dann entdeckte sein Vater die geheimen Briefe und das Vorhaben wurde vereitelt. Die Pflichten und Rechte von Eheleuten in einem christlichen Hausstand, die Müller und mit ihm viele Zeitgenossen durch eine religiös-konfessionell gemischte Ehe gefährdet sahen, wurden breit in der sogenannten Hausväterlite ratur diskutiert und in einem vor allem protestantisch geprägten Bild von Ehe und Familie fest geschrieben.59 Dabei ging es allerdings nicht nur um ein harmonisches Eheleben, die Rechte und Pflichten innerhalb der Hausgemeinschaft und die Einheit im Glauben, sondern die soziale Formation des Hauses hatte auch eine politische Dimension.
4.1.1 Christlicher Hausstand: Eintracht und Unterordnung „Die Sorge der Obrigkeit für eine gute Verwaltung des Gemeinwesens begann in der frühen Neuzeit bei der kleinsten sozialen Einheit, der Familie.“60 Dass das „Haus in der Frühen Neuzeit eine große Strahlkraft als Modell sozialer Ordnung
57 Magister F. Ch. Laukhards Leben und Schicksale von ihm selbst beschrieben. Deutsche und französische Kultur- und Sittenbilder aus dem 18. Jahrhundert, bearb. von Viktor Petersen, 4. unveränd. Aufl. (Memoirenbibliothek. 2. Reihe, 14). Stuttgart 1908, S. 37. 58 Ebd., S. 36. 59 Vgl. Julius Hoffmann, Die „Hausväterliteratur“ und die „Predigten über den christlichen Hausstand“. Lehre vom Hause und Bildung für das häusliche Leben im 16., 17. und 18. Jahrhundert (Göttinger Studien zur Paedagogik, 37). Weinheim 1959. Ferner: Harrington, Reordering Marriage; Steven Ozment, When Fathers Ruled. Family Life in Reformation Europe (Studies in Cultural History). Cambridge (Mass.) 1983; Roper, The Holy Household; Heide Wunder, „Er ist die Sonn', sie ist der Mond.“ Frauen in der Frühen Neuzeit. München 1992; Siegrid Westphal/Inken Schmidt-Voges/Anette Baumann, Venus und Vulcanus. München 2011, hier S. 133–135. 60 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland. 2 Bde. Bd. 1: Reichspublizistik und Policeywissenschaft 1600–1800. München 1988, S. 338.
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entfaltete“, ist jüngst von der Forschung bestätigt worden.61 Die Familie und das von ihr geformte „ganze Haus“ begründeten seit Aristoteles bei allen nachfol genden Verfassern von politischen Lehren den Ursprung der Gesellschaft. Staat, Kirche, selbst das Verhältnis des Menschen zu Gott wurden in dem Modell erfasst. Zu den am weitesten verbreiteten Schriften zu diesem Phänomen gehörte zwischen 1600 und 1800 die sogenannte Hausväter- und Hausmütterliteratur, die detaillierte Anleitungen über die wirtschaftliche und politische Führung eines wohlfunktionierenden Haushaltes gab.62 Neben Autoren wie Johannes Coler, Georg Andreas Böckler oder Andreas Glorez war einer ihrer bekanntesten Verfasser Wolf Helmhard von Hohberg.63 In seinem Werk „Georgica curiosa oder Adeliges Land- und Feldleben“ von 1682 widmete er der Rolle des Hausvaters und der Hausmutter jeweils ein eigenes Kapitel, in denen ihre Aufgaben und vor allem ihr Verhältnis zu den übrigen Personen des Hausstandes, Kinder und Gesinde, beschrieben wurden. In den übrigen Teilen ging es um die Gutsherrschaft sowie landwirtschaftliche Fragen. Das Werk Colers verwies bereits im Titel auf „das gantz Ampt“ sowohl des Hausvaters als auch der Hausmutter.64 Diese komplementäre Arbeitsteilung lässt sich auch in der sozialen Praxis für die Frühe Neuzeit nachweisen65; allerdings haben jüngere Arbeiten mit Recht auf das funktionale Zusammenspiel von Ehe, Familie und Haus, und die Verflechtung des Hauses mit zahlreichen sozialen Konstellationen hingewiesen.66 Diese soziale Verflechtung des Hauses zeigt sich besonders in religiösen Praktiken in Mischehen, die das Haus mit der Dorfgemeinschaft in Beziehung setzten, religi-
61 Philip Hahn, Trends der deutschsprachigen historischen Forschung nach 1945: Vom ,ganzen Haus‘ zum ‚offenen Haus‘, in: Joachim Eibach/Inken Schmidt-Voges (Hrsg.), Das Haus in der Ge schichte Europas. Ein Handbuch. München 2015, S. 47–64, hier S. 53. 62 Für eine gattungsgeschichtliche Einordnung vgl. Marian Szyrocki, Die deutsche Literatur des Barock. Stuttgart 1979, S. 101. Für eine Sensibilisierung der Rolle der Hausmütter bereits Hoffmann, Die „Hausväterliteratur“; Claudia Opitz, Hausmutter und Landesfürstin, in: Rosario Villari (Hrsg.), Der Mensch des Barock. Frankfurt u.a. 1997, S. 344–394. 63 Otto Brunner, Adeliges Landleben und europäischer Geist. Leben und Werk Wolf Helmhards von Hohberg 1612–1688. Salzburg 1949. 64 Johannes Coler, Oeconomia ruralis domestica. Darinn das gantz Ampt aller trewen HaussVätter und Hauss-Mütter bestandiges und allgemeines Hauss-Buch etc. Frankfurt 1680. 65 Heide Wunder, „Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert.“ Zur geschlechtsspezifischen Teilung und Bewertung von Arbeit in der Frühen Neuzeit, in: Karin Hausen (Hrsg.), Geschlechterhierarchie und Arbeitsteilung. Zur Geschichte ungleicher Erwerbschancen von Frauen und Männern. Göttingen 1993, S. 19–39. 66 Für einen aktuellen Überblick über die Haus-Forschung vgl. den Forschungsüberblick von Hahn, Trends der deutschsprachigen historischen Forschung; Eibach, Das offene Haus; SchmidtVoges, Mikropolitiken des Friedens, hier S. 9.
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öse und damit häufig auch soziale Zugehörigkeiten und Abgrenzungen hervorbrachten, unter gemeinschaftlicher Beobachtung standen und Interventionen provozierten.67 Die sozialen Praktiken, die das Haus erst als erkennbaren und in der Gesellschaft anerkennbaren Ort hervorbrachten68, waren geprägt von der Einlösung normativer Vorstellungen eines geordneten Hauses und den situativ spezifischen und konkreten Umgangsweisen mit alltäglichen Herausforderungen. Gerade in Konfliktsituationen religiös-konfessionell gemischter Ehen wird dieses Zusammenspiel greifbar: auf der einen Seite das Rekurrieren auf Normen wie etwa die Rolle des Hausvaters als Hausvorstand oder die Erziehungspflicht der Eltern, auf der anderen Seite die Fokussierung auf soziale Praktiken, die öffentlich beobachtbar waren und über Anerkennung oder Ablehnung der soziokulturellen Lebenswelt eines Hauses und seiner Menschen entschieden. Dieses Zusammenspiel zeigt sich auch in normativen Quellen zu Mischehen wie Predigten oder Kirchenordnungen, in Gutachten, die zwischen Normen und sozialer Praxis verhandelten und schließlich in Strategien vor Gericht. Ein beredtes Beispiel des Hauses als „offenes Haus“69 und den funktionalen Zusammenhängen von Ehe, Familie, Haus und Dorfgemeinschaft bietet die Essener Kirchenordnung von 1705. Hier klingen Streit und Zwietracht innerhalb der Hausgemeinschaft an, Strategien zur Vermeidung von Konflikten, Interventionen von außen durch Pfarrer in Form von „Privat-Visitationen“, die normative Rolle von Predigten, die Vorbildrolle der Eheleute für Mägde und Knechte und die erwartete Einheit im Glau ben des gesamten Hauses, die häusliche religiöse Unterweisung der Kinder mit „Ernst, Fleiß und Sanftmut“, Disziplinierungsmaßnahmen und schließlich „Anlei tung und Mittel“, mit denen „das falschgläubige Teil“ gewonnen und bekehrt werden könnte: Dieweil auch die Erfahrung bezeuget, daß durch das Heyrathen an wiederwärtige Religion, viel Streit, Zanck, gottloses verücktes Leben entstehet, auch oftmahls Abfall oder Lauigkeit in der Lehre, bey sich selbst oder den Seinigen herkömmt, und das einmüthige Gebet dadurch verhindert wird: als wollen wir, daß die Herren Prediger, so viel an Ihnen ist, ihre Zuhörer, sowohl in offenen Predigten, als Privat-Visitationen, mit Vorhaltung der wichtigsten und begreiflichsten Argumenten, offtmals nachdrücklich von Verlöbniß- und Heyrathen mit wiederwärtiger Religionszugethanen abmahnen, und sie daby erinnern, daß sie von ihrer Religion Knechte und Mägde annehmen möchten. Falls die Abmahnung von wiederwärtiger Religion Heyrathen nicht verfangen wolte, soll ein solcher vorm Consistorio
67 Für Beispiele dieser Verflechtung des Hauses über religiöse und kommunikative Praktiken und Konfliktlösungsstrategien vgl. unten Zwietracht und Kapitel III. 68 Zu sozialen Praktiken und Anerkennung vgl. Freist, Historische Praxeologie als Mikro-Historie, S. 70–71. 69 Eibach, Das offene Haus.
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citiret, bestraffet, und zur Beständigkeit erinnert [...] Diejenigen aber, so bereits an Wiederwärtige geheyrathet, sollen sie mit allem Ernst, Fleiß und Sanfftmuth ermahnen, beständig bey ihrer Religion zu bleiben, ihre Kinder darinnen in der Zucht und Vermahnung zum Herrn aufzuerziehen zu lassen, und ihnen Anleitung und Mittel [...] zu zeigen, wie sie das falschgläubige Teil [...] gewinnen und bekehren möchten.70
Die Funktionen des „Hauses“ wurden bei nahezu allen frühneuzeitlichen Autoren bekanntlich mit Begriffen beschrieben, die der politischen Sphäre entliehen waren und zugleich die Pflichten eines „Christlichen Haushalters“ unterstrichen.71 An der Spitze dieses Mikrokosmos stand, so die Theorie, unbestritten der Hausvater, der „in einem pyramidal konstruierten Bezugssystem zum Landesvater, dieser wiederum zum Kaiser – und alle zu Gott-Vater standen“.72 Ihm waren in einer streng patriarchalischen Gesellschaftsordnung alle Hausangehörigen einschließlich der Ehefrau zu Unterordnung und Gehorsam verpflichtet – ungeachtet komplementärer Arbeitsteilung und des Gebotes gegenseitiger Achtung und Liebe. Die übergeordnete Stellung des Hausvaters und seine Herrschaft über die Hausgenossen speiste sich wie auch in der Predigtliteratur über den christlichen Hausstand und der von Protestanten vorgebrachten Heiligung des Haus- und Ehestandes aus „der Analogie von himmlischem und irdischem Hausvater“.73 Vor allem in der protestantisch geprägten Literatur wurde eine Synthese zwischen Hausherrschaft und den Beziehungen der Geschlechter im Ehestand hergestellt.74 Eine besondere Aufgabe kam dem Haus als Ort religiöser Selbstvergewisserung und Subjektivierung zu.75 Ein zentrales Gebot des christlichen Hausstandes war die religiöse Unterweisung von Kindern. In dieser religiösen Unterweisung
70 Zitiert in Carpzov, Dissertatio Altera Ex iure ecclesiastico, S. 70. 71 Gotthardt Frühsorge, Die Begründung der „väterlichen Gesellschaft“ in der europäischen oeco nomia christiana, in: Hubertus Tellenbach (Hrsg.), Das Vaterbild im Abendland I. Rom, Frühes Christentum, Mittelalter, Neuzeit, Gegenwart. Mainz 1978, S. 110–123, hier S. 118. Zum „Ganzen Haus“ Otto Brunner, Das „ganze Haus“ und die alteuropäische „Ökonomik“, in: ders. u.a. , Neue Wege der Verfassungs- und Sozialgeschichte. Göttingen 1968, S. 103–127; ders., Art.: Familie, in: ders. (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. 8 Bde. Stuttgart 1972–1997, Bd. 2, S. 253–301. 72 Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, S. 339; Paul Münch, Die „Obrigkeit im Vaterstand“. Zur Definition und Kritik des „Landesvaters“ während der frühen Neuzeit, in: Daphnis 11 (1982), S. 15–40. 73 Frühsorge, Begründung der „väterlichen Gesellschaft“, S. 116. 74 Vgl. Susan Karant-Nunn, Kinder, Küche, Kirche: Social Ideology in the Sermons of Johannes Mathesius, in: Andrew C. Fix/Dies. (Hrsg.), Germania illustrata: essays on early modern Germany presented to Gerald Strauss. Kirksville/Miss. 1992, S. 121–140. 75 Kaspar von Greyerz, Das Haus als Ort der Andacht, in: Joachim Eibach/Inken Schmidt-Voges (Hrsg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch. München 2015, S. 537–552.
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sollten die Bewohner des Hauses mit verschiedenen Institutionen zusammenarbeiten und standen damit zugleich unter Beobachtung. Johannes Brenz, neben Luther einer der bedeutendsten protestantischen Katechisten, der sehr früh die Notwendigkeit der Kindererziehung betonte76, hat in seinen Katechismen das Elternhaus, die Schule und das Predigeramt als die Institutionen hervorgehoben, denen diese Aufgabe zufiel.77 Wurde diesen Pflichten nicht nachgekommen, folgten Ermahnungen der Ortsgeistlichen und Pfarrer. Verstieß die religiöse Unterweisung gegen familiäre Absprachen oder Wünsche, intervenierten in der Regel nicht nur Familienangehörige, sondern auch Pfarrer und Geistliche, mitunter auch Nachbarn und Amtsleute.78 Die Motive für die Überwachung der religiösen Erziehung der Kinder waren bei den verschiedenen Akteuren sehr unterschiedlich und reichten von konfessionspolitisch ausgerichteten obrigkeitlichen oder kirchlichen Interessen, theologisch-pädagogischen Argumenten bis hin zu Wünschen nach religiöser Homogenität in der Familie. In seiner pädagogisch-katechetischen Programmschrift De instituendis pueris (1527) begründete Brenz die Notwendigkeit und die Nützlichkeit der Erziehung mit der Beziehung zwischen der Vaterschaft Gottes und der irdischen Vaterschaft. Martin Luther hat in seinem Kleinen Katechismus nicht nur sehr detailliert in Frage- und Antwortform beschrieben, welche Lehrsätze gelernt und verstanden werden sollten, sondern darüber hinaus die Verantwortung des Hausvaters für die Überwachung des Unterrichts und der religiösen Praxis betont. In den Worten Martin Luthers las sich diese Aufforderung an die Eltern so: Da mercke da bey: wenn man nicht kinder zeucht zur lere und kunst, sondern eitel freslinge und sewferckel machet, die allein nach dem futter trachten, wo will man pfarher, prediger [...] nehmen? Wo wollen könige, fursten und herrn, stedte und lender nehmen Cantzler, rethe, schreiber, amptleute?79
Die religiöse Unterweisung von Kindern im wahren Glauben war aus theologischer Sicht die Hauptaufgabe der Eltern. Auch hier fehlte es Martin Luther nicht an deutlichen Worten: Wie eine selige ehe were das, wo solchs ehevolck beysamen were und stunde also yhren kindlin für, Fürwar yhr haus were eine rechte kirche, ein auserwelet klöster, ja ein Paradiss,
76 Weismann, Katechismen des Johannes Brenz. Bd. 1, S. 43–51. 77 Ebd., S. 43. 78 Vgl. Kapitel III. 79 Martin Luther, Vorrede zu Justus Menius' Oeconomia Christiana 1529. WA 30 II (1909), S. 49– 63, hier S. 61. Vgl. auch Brunner, Art.: Familie, S. 263.
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Denn Vatter und Mutter werden Gott hie gleich, denn sie sind Regenten, Bisschoff, Bapst, Doctor, Pfarrer, Prediger, Schulmeister, Richter und Herr, der Vatter hat alle namen und ampt Gottes uber seine kinder.80
In Ehepredigten, die nach der Perikopenordnung regelmäßig am zweiten Sonntag nach Epiphanias zu halten waren, wurden grundlegende Vorstellungen eines christlichen Hausstandes aus protestantischer Perspektive über den Ehestand, die herrschaftlich-hierarchische Ordnung des Hauses, die Gehorsamspflicht der Ehefrau gegenüber ihrem Mann, die Kindererziehung und das Gebot der Eintracht verkündet. Mischehen, vor denen Prediger immer wieder warnten, drohten genau diese Vorgaben zu unterlaufen, Zwietracht statt Eintracht zu säen und die Gehorsamspflicht der Frau gegenüber ihrem Mann und die religiöse Unterweisung der Kinder zu schwächen.81 In Hochzeitspredigten wurde das Verhältnis der Geschlechter thematisiert82, wobei Susan Karant-Nunn einen Wandel in der Darstellung der Beziehungen zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert feststellen konnte.83 Wurde im 16. Jahrhundert noch die Gehorsamspflicht der Ehefrau gegenüber ihrem Ehemann betont, so legten Pfarrer im 17. Jahrhundert mehr Gewicht auf Gefühle und Liebe zwischen den Eheleuten. Im 18. Jahrhundert zeichnete sich die Tendenz ab, dass in Hochzeitspredigten die Ehemänner aufgerufen wurden, durch ihr Verhalten nicht die Stabilität der Ehe zu gefährden. Die Herrschaft des Mannes über seine Ehefrau ergab sich schöpfungstheologisch aus der Unterordnung der Frau unter den Mann, da sie körperlich, geistig und moralisch als minderwertig erachtet wurde, eine Vorstellung, die sich in wissenschaftlichen Diskursen, der rechtlichen Stellung von Frauen und politischem und sozialem Ordnungsdenken widerspiegelte.84 Hier nahm die Ehe zunehmend eine Schlüsselstellung ein. War die Ehe ungeachtet der christlichen Idealisierung eines zölibatären Lebens bereits im Mittelalter neben vielen anderen Lebensformen als sittliche Ordnung geschätzt, so wurde sie mit der Reformation als die einzige gottgewollte Lebensform endgültig aufgewertet.85 An die Stelle sexueller Askese und Spiritualität, wie sie im Mittelalter propagiert wurden, traten nun die
80 Martin Luther, Predigten über das 2. Buch Mose, 1524–1527. WA 16 (1899), S. 490. 81 Rublack, Lutherische Predigt und soziale Wirklichkeiten, S. 348–355. 82 Margraf, Die Hochzeitspredigt. 83 Susan C. Karant-Nunn, ‚Fragrant Wedding Roses‘: Lutheran Wedding Sermons and Gender in Early Modern Germany, in: German History 17 (1999), S. 25–40. 84 Die Auseinandersetzung mit dem Wesen der Frau entwickelte sich seit dem späten Mittelalter zu einer Kontroverse unter Gelehrten, an der sich auch Frauen beteiligten. Zur Einführung vgl. Einleitung, in: Gisela Bock/Margarete Zimmermann (Hrsg.), Die europäische Querelle des Femmes: Geschlechterdebatten seit dem 15. Jahrhundert. Stuttgart 1997, S. 9–38. 85 Harrington, Reordering Marriage.
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„Heiligung“ ehelicher sexueller Beziehungen und die natürliche Bestimmung der Frau zur Mutterschaft.86 Diese Zuschreibung natürlicher Mutterschaft, die nicht erst ein Phänomen des 18. Jahrhunderts war, konnte einen immensen Druck auf Frauen in dörflichen Gemeinschaften ausüben, und brachte zugleich ein Bündel sozialer Praktiken hervor, in denen sich Mutterschaft zeigte und kollektiv beglaubigt wurde.87 Gleichzeitig wurden alternative weibliche Lebensformen nicht nur moralisch abgewertet, sondern regelrecht durch die Säkularisierung von Frauenklöstern und die endgültige Verdrängung der Prostitution in die Illegalität beseitigt.88 Charakterisiert durch eine streng patriarchale Geschlechterhierarchie, wurde die Ehe im Verlauf von Reformation und Konfessionalisierung zum idealisierten Fundament der politischen Ordnung.89 Die katholische Kirche hielt zwar an der Vorstellung gottgewollter sexueller Enthaltsamkeit und dem sakralen Charakter der Ehe fest – eine Scheidung wie bei den Protestanten war nicht möglich – verschärfte aber auch die Verfolgung illegitimer sexueller Beziehungen. Das Gebot gegenseitiger Achtung und Fürsorgepflicht der Eheleute, wie es in frühneuzeitlichen Ehebüchern formuliert wurde, spiegelte die von den Humanis ten geforderte geistige Gefährtenschaft von Frauen und Männern wider.90 Dieses Gebot wurde jedoch mit der Pflicht der Ehefrau verknüpft, sich der Macht des Ehemannes – die sogenannte patria potestas – zu unterwerfen, wie es beispielsweise in der erwähnten Hausväter- und Hausmütterliteratur beschrieben wurde und sich in der rechtlichen Vormundschaft von Vater und Ehemann und ihrem Züchtigungsrecht niederschlug.91 Auch unter dem Einfluss des Naturrechts und der deutschen Aufklärung, beispielsweise in „der restlos rationalisierten Begründung der naturrechtlich abgeleiteten Politik“ bei Christian Wolff, wurde das Prinzip paternalistischer Herrschaft in einer „häuslichen Regierung“ in Anspruch genommen92, auch wenn das Haus „als soziale Formation (keine)
86 Merry E. Wiesner, Gender, Church, and State in Early Modern Germany. London u.a.1998. 87 Vgl. hierzu den Aufsatz von Christina Beckers, Die Puppenkinder der Margaretha Kahlen. Eine Geschichte der Inszenierung von Weiblichkeit zwischen körperlichem Eigensinn und sozialen Praktiken in ausgehenden 18. Jahrhundert, in: Dagmar Freist (Hrsg.), Diskurse – Körper – Artefakte. Historische Praxeologie in der Frühneuzeitforschung. Bielefeld 2015, S. 187–220 sowie weiterführende Literatur ebenda. 88 Roper, The Holy Household. 89 Für eine kritische Bestandsaufnahme vgl. Susanna Burghartz, Umordnung statt Unordnung? Ehe, Geschlecht und Reformationsgeschichte, in: Helmut Puff/Christopher Wild (Hrsg.), Zwischen den Disziplinen? Perspektiven der Frühneuzeitforschung. Göttingen 2003, S. 165–185. 90 Wunder, „Er ist die Sonn', sie ist der Mond“. 91 Ute Gerhard (Hrsg.), Frauen in der Geschichte des Rechts. Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. München 1997. 92 Frühsorge, Die Begründung der „väterlichen Gesellschaft“, S. 117.
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eigene juristische Normierung“ kannte.93 In seiner Gesellschaftslehre, die er in philosophischer Tradition systematisch zwischen Sittenlehre und Staatslehre stellte, beschrieb Wolff utilitaristisch die einfachen und natürlichen Gesellschaften des „Ehestandes“, der „väterlichen Gesellschaft“ und der „herrschaftlichen Gesellschaft“, die in die Einheit des „Hauses“ mündeten. Unter der Überschrift „von dem Hause“ heißt es entsprechend: Durch das Haus versteht man eine Gesellschaft, die auf verschiedene Weise aus den vorhergehenden einfachen zusammengesetzt wird: denn sie kann bestehen aus der ehelichen, der väterlichen, aus der ehelichen und herrschaftlichen, aus der väterlichen und herrschaftlichen, oder endlich aus allen dreyen zugleich. Die Manns-Person, welche in der väterlichen Vater, in der herrschaftlichen Herr, ist, wird im Hause der Haus-Vater genennet.94
In dieser normativ entworfenen sozialen Formation des Hauses verbanden sich demnach drei Rechtsverhältnisse: die Herrschaft des Mannes über seine Ehefrau, des Vaters über seine Kinder und des Hausherrn über das Gesinde.95 Diese lange dominante Betonung der ordnungspolitischen Dimension des Hauses und der Stellung des Hausvaters ist zwar immer wieder kritisiert und ansatzweise überwunden worden, ohne dass allerdings eine neue analytische Perspektive ausformuliert worden ist.96 Erst jüngere Arbeiten haben mit der Fokussierung auf soziale Praktiken und Materialitäten, die das Haus als materielle und soziale Formation überhaupt erst hervorbringen und in seiner Kontingenz und Diversität beobachtbar machen, methodisch und theoretisch spannende Sichtweisen auf die Mehrdimensionalität des Haus aufgezeigt.97 Damit wurden zugleich gängige Periodisierungen hinterfragt und die These, dass im 18. Jahrhundert der herrschaftliche Begriff des Hauses durch den Begriff der „Familie“ abgelöst worden sei,98 wird in aktuellen Arbeiten differenzierter beurteilt. Während sich die Hausväter- und Hausmütterliteratur des 16.–18. Jahrhunderts mit dem normativen Modell des „Hauses“ als autarke Einheit vor allem auf den Adel oder bürgerliche Schichten bezog und damit nur einen kleinen gesell-
93 Schmidt-Voges, Das Haus in der Vormoderne, S. 14. 94 Christian Wolff, Vernünfftige Gedancken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen und in sonderheit dem gemeinen Wesen, in: ders., Gesammelte Werke. I. Abt.: Deutsche Schriften. Bd. 5. Ndr. der Aufl. Frankfurt 1736, Hildesheim 1975, I. Th. Cap. 5, S. 135. 95 Ebd. 96 Claudia Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte? Ein kritischer Blick auf Otto Brunners Konzept des „ganzen Hauses“, in: Geschichte und Gesellschaft 20 (1994), S. 88–98. 97 Schmidt-Voges, Das Haus in der Vormoderne, S. 1. 98 Brunner, Art.: Familie; Michael Mitterauer, Art.: Familie, in: Richard van Dülmen (Hrsg.), Das Fischer Lexikon Geschichte. Frankfurt a.M. 1990, S. 161–176.
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schaftlichen Ausschnitt idealtypisch und überdies statisch erfassen konnte99, umschrieben frühneuzeitliche Rechtsvorstellungen, die auf das Haus übertragen wurden, die Binnenstruktur von Familien für alle gesellschaftlichen Gruppen. Ungeachtet partikularrechtlicher oder standesabhängiger Unterschiede im frühneuzeitlichen Rechtssystem bildete der Patriarchalismus eine alle Stände umfassende Grundnorm der frühneuzeitlichen Gesellschaft auch noch im 18. Jahrhundert. Der tradierte soziale Begriff des „Hausvaters“ spielte auch im rechtlichen Normengefüge als ein dem römischen Recht entlehnter Rechtsbegriff – pater familias – eine zentrale Rolle und wurde sowohl bei der weltlichen Gesetzgebung zu Mischehen verankert als auch strategisch bei der Konfliktaustragung vor Gericht verwendet.
4.1.2 Väterliche Gewalt In den Rechtsverhältnissen der Familie bildete sich normativ das Verhältnis der Eheleute zueinander sowie von Kindern und Eltern ab. War das Verhältnis bis zum Spätmittelalter normativ bestimmt durch die Rechte des Vaters über seinen Hausstand, die sich aus der Vatermunt (Schutz, Vormundschaft) ergaben, so war die Beziehung der einzelnen Familienmitglieder unter dem Einfluss des Naturrechts geprägt von Rechten und Pflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern und Pflichten der Kinder gegenüber ihren Eltern, wobei sich die Rechte zwischen den Eheleuten asymmetrisch zu Gunsten des männlichen Hausvorstandes darstellten. Mit dem Begriff der Vatermunt wurde im System des deutschen Privatrechts die Schutz- und Herrschaftsgewalt des Vaters über seine Kinder und deren Vermögen umschrieben.100 Zu den wesentlichen Inhalten der Vatermunt zählten das Recht des Vaters, sein Kind zu verheiraten, die Vertretung der Kinder vor Gericht und die Nutzung des Kindesvermögens, wobei die Substanz nur in besonderen Ausnahmen angegriffen werden durfte. Darüber hinaus musste der Vater die Ver antwortung für Delikte seiner Schutzbefohlenen übernehmen und gegebenen falls mit seinem Vermögen für Schäden haften. Die Munt endete bei Söhnen, wenn sie einen eigenen Hausstand gründeten, und bei Töchtern mit der Verhei-
99 Zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem undifferenzierten Umgang des Konzepts des „Ganzen Hauses“ vgl. Opitz, Neue Wege der Sozialgeschichte?. 100 Werner Gris/Thomas Olechowski, Art.: Munt, Muntwalt, in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hrsg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte. 5 Bde. Berlin 1984, Bd. 3, Sp. 750–761, hier Sp. 756.
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ratung. Mit der Rezeption des römischen Rechts trat der Ausdruck der väterlichen Gewalt oder patria potestas an die Stelle der Munt.101 Seine Schutzfunktion und Herrschaft über sein Haus erstreckte sich auch auf seine Ehefrau, die er vor Gericht vertreten musste und die ihm zu Gehorsam verpflichtet war.102 Darüber, ob die Geschlechtsvormundschaft des Ehemanns über seine Ehefrau ein Instrument der Diskriminierung oder des Rechtsschutzes war, scheiden sich die Geister der Gelehrten damals wie heute. Eine tatsächliche Bewertung der Geschlechtsvormundschaft lässt sich nur durch eine detaillierte Analyse der sozialen Praxis ermitteln, wie es beispielsweise Gabriela Signori für das Spätmittelalter am Beispiel Basler Frauen versucht hat.103 Die Rechte, die sich aus der väterlichen Gewalt aufgrund göttlichen und natür lichen Rechts ergaben, wurden ergänzt durch Pflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern. Aus der Sicht von Theologie und Staatslehre war die entscheidende Auf gabe die Aufzucht der Kinder zu einem gottgefälligen Lebenswandel sowie, unter dem Einfluss des Naturrechts, zu nützlichen Bürgern der Gesellschaft, die in der Lage waren, eigenständig ihren Lebensunterhalt durch eine „ehrliche Kunst“ zu verdienen.104 Wie weit auch die Kindererziehung in der Frühen Neuzeit von beiden Eheleuten gemeinsam wahrgenommen werden sollte, war unter Zeitgenossen umstritten. Nach Thomas Hobbes lag die Aufzucht der Kinder allein in der Verantwortung der Mutter, da sie das Kind zur Welt gebracht hatte.105 Spätere Autoren, darunter Samuel Pufendorf, Christian Thomasius oder Christian Wolff, leiteten das Recht der Kindererziehung aus der väterlichen Gewalt ab und erklärten den Vater als allein weisungsbefugt, da „der Vater über die Mutter selbst eine Herrschaft habe und das Haupt der Familie sey“, eine Sicht, die sich auch in der gängigen Rechtsmeinung widerspiegelte.106 Ein Blick in die Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts macht jedoch deutlich, dass unter den Publizisten keine Einigkeit über den Grad der Zuständigkeit von Vater und Mutter bei der Kindererziehung bestand. Auch wenn beide Eltern relativ gleichwertig die zentrale Aufgabe der Kindererziehung wahrnehmen sollten, so wird die Gewalt des Vaters aufgrund seiner Rolle als Hausvorstand dennoch bei den meisten Autoren
101 Zur Rezeption des römischen Rechts vgl. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts, Bd. 1, bes. S. 58–68. 102 Für einen allgemeinen Überblick vgl. Gerhard, Frauen in der Geschichte des Rechts. 103 Gabriela Signori, Geschlechtsvormundschaft und Gesellschaft. Die Basler „Fertigungen“ (1450 bis 1500), in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Germ. Abt. 116 (1999), S. 119–151. 104 Art. Eltern, in: Zedler, Universal-Lexikon, Bd. 8, Sp. 936–946, hier Sp. 941. 105 Ebd. , Sp. 937–940, hier Sp. 938. 106 Ebd., Sp. 936–946, hier Sp. 938, vgl. auch Sp. 939 und 941. Vgl. auch die Deduktionen der Fallstudien unten.
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über die der Ehefrau gestellt. Johann Jacob Moser fasste die Debatte so zusammen: „Es seye Juris Divini et Gentium, auch Herkommens in Teutschland, daß die Mutter sich keines mehreren oder länger anmassen könne, als ihro vom Vater ausdrücklich oder stillschweigend überlassen wird“.107 Im Konfliktfall war sein Wort ausschlaggebend. Der Vater hatte beispielsweise das Recht, seiner Ehefrau testamentarisch die Erziehung der Kinder zu verbieten, wenn er sie nicht für tauglich hielt.108 Allerdings finden sich im 18. Jahrhundert auch Stimmen, die beiden Eltern „bey der Erziehung derer Kinder ein gleiches Recht, und eine gleiche Verbindlichkeit“ zustanden.109 Faktisch war das Kräfteverhältnis in der Ehe, der Familie und im Haus das Ergebnis ständigen Auslotens von Handlungsspielräumen.110 Zu den klassischen frühneuzeitlichen Topoi zählt der „Kampf um die Hosen“, ein Motiv, das sich in vielen bildlichen Darstellungen der Zeit findet. Frauen und Männer ringen um die Herrschaft im Haus, symbolisiert durch den Besitz der Hose.111 In populären und gelehrten Schriften wurde eifrig über weibliche Herrschaft und Eigenschaften wie Geschwätzigkeit, unstillbare sexuelle Lust oder Unbeständigkeit debattiert. Diese Auseinandersetzung, an der sich seit dem 15. Jahrhundert auch Frauen beteiligten, ging als Querelle de femmes in die Geschichte ein.112 Doch nicht nur Texte und Drucke zeichneten ein Bild ständig neu auszuhandelnder Geschlechterbeziehungen in einem grundsätzlich patriarchalisch geprägten Ordnungsgefüge. Lokale Rügebräuche entwickelten ihre eigenen symbolischen Handlungen wie das Abdecken eines Hausdaches oder den demütigenden Ritt eines gehörnten Ehemannes durch den Ort, um die bedrohte soziale Ordnung in Gestalt eines schwachen Ehemannes und einer dominierenden Ehefrau anzuprangern. In der Praxis agierten beide Eheleute mit eigenständigen Kompetenzen in der sozialen Formation des Hauses sowie in damit verbundenen Netzwerken, waren
107 Johann Jacob Moser, Teutsches Staatsrecht. Teil 22, Neudr. der Ausg. 1746. Osnabrück 1968, S. 195. 108 Zur väterlichen Gewalt bei ebd., S. 184–195. 109 Ebd. 110 Alexandra Lutz, Ehepaare vor Gericht. Konflikt und Lebenswelten in der Frühen Neuzeit (Geschichte und Geschlechter, 51). Frankfurt a.M. 2006; Heinrich Richard Schmidt, Hausväter vor Gericht. Der Patriarchalismus als zweischneidiges Schwert, in: Martin Dinges (Hrsg.), Hausväter, Priester, Kastraten. Zur Konstruktion von Männlichkeit im Spätmittelalter und früher Neuzeit. Göttingen 1998, S. 213–236. 111 Für ein Beispiel etwa Joachim Eibach, Der Kampf um die Hosen und die Justiz. Ehekonflikte in Frankreich im 18. Jahrhundert, in: Sylvia Kesper-Biermann (Hrsg.), Kriminalität in Mittelalter und Früher Neuzeit. Wiesbaden 2007, S. 167–189. 112 Bock/Zimmermann, Die europäische Querelle.
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wirtschaftlich aufeinander angewiesen und für die christliche Erziehung der Kinder und den sittlichen Lebenswandel dazugehörender Knechte und Mägde sowie Lehrlinge verantwortlich. Mit ehrbarem Lebenswandel und Sparsamkeit bürgte die Ehefrau für das öffentliche Ansehen des Ehemannes. Von dem Ehe mann wurden die ordnungsgemäße Führung seines Hauses und die Repräsen tation nach Außen erwartet; er wurde für Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen.113 In der Praxis erwiesen sich diese normativ gesetzten Ehrvorstellungen allerdings als ambivalent: Die Aberkennung von Ehre erfolgte nicht allein durch die Verletzung einer Norm, sondern war das Ergebnis komplexer Prozesse von Anerkennung und Aberkennung von Ehre im weiteren sozialen Umfeld des Hauses.114 Die Ehre wurde gewissermaßen zum symbolischen Kapital, das bestimmte Verhaltensweisen voraussetzte und zugleich die Voraussetzung darstellte, bestimmte Aufgaben und Funktionen erfüllen zu dürfen. Bei Konflikten um die religiöse Erziehung von Kindern in Mischehen wurde die Ehre der Mutter wiederholt zum Verhandlungsgegenstand erhoben mit dem Ziel, ihr die Fähigkeit zur Kindererziehung aufgrund ihres schlechten Lebenswandels abzuerkennen.115 Mit der Ablösung der sozialen Formation des Hauses durch die bürgerliche Familie mit den ihr eigenen Tugenden, aufgrund zunehmender beruflicher Professionalisierung, von der Frauen ausgeschlossen waren, und schließlich aufgrund der fortschreitenden Trennung von Produktion und Reproduktion im 18. Jahrhundert wurde der Handlungsspielraum von Frauen sowie ihr Betätigungsfeld enger auf den familiären Rahmen beschränkt. Die Zeit zwischen 1750–1850 wird von der Forschung als die Formierungsphase der bürgerlichen Familie und den Übergang vom „Haus“ zur „Familie“ als privater Raum beschrieben. Dieser Interpretation halten jüngere Arbeiten entgegen, dass es gerade im 18. Jahrhundert „zu einer Intensivierung der Praktiken in der häuslichen Sphäre kam“, die das Familienleben und das Haus in der Praxis mit größeren sozialen Zusammenhängen verflochten hat.116 Für religiös-konfessionell gemischte Ehen und Familien lässt sich diese Beobachtung auf der Grundlage der vorhandenen Überlieferung bestätigen, wird hier doch die Familie von Mischehen und ihr Haus in den großen Mischehekonflikten des 18. Jahrhunderts an den Maßstäben des Westfälischen Friedens und dem dort festgelegtem Recht auf Religionsfreiheit
113 Sibylle Backmann (Hrsg.), Ehrkonzepte in der Frühen Neuzeit. Identitäten und Abgrenzungen. Berlin 1998. 114 Schmidt-Voges, Das Haus in der Vormoderne, S. 11. 115 Vgl. unten in diesem Kapitel Teil 4 der Fall Barbara Maurer. 116 David Sabean, Geleitwort, in: Joachim Eibach/Inken Schmidt-Voges (Hrsg.), Das Haus in der Geschichte Europas. Ein Handbuch. München 2015, S. XIV–XVI, hier S. XV.
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gemessen. Zugleich werden in diesen Konflikten die Grenzen der väterlichen Gewalt sichtbar.117 Dem Verhalten des Hausvaters waren allerdings auch in anderen gesellschaftlichen Zusammenhängen soziale und rechtliche Grenzen gesetzt, indem genau überwacht wurde, dass er den Ansprüchen und Erwartungen, die an sein „Amt“ als Hausherr gestellt wurden, auch erfüllte. Nicht selten konnte dieses Amt zur Bürde, das Recht zur belastenden Pflicht werden, wenn ein „Hausvater“ den Ansprüchen nicht genügen konnte. Die „Definitionsmacht“ darüber, was einen guten Ehemann und Hausherrn ausmachte, lag nicht selten bei den Frauen, wenn sie vor Gericht gegen ihren Ehemann wegen Pflichtverletzung Klage führten. Dass hier nicht selten die Obrigkeit aus ordnungspolitischen Gründen mit den Klägerinnen zusammenarbeitete, hat Heinrich Richard Schmidt in seiner Analyse von „Hausvätern vor Gericht“ herausgearbeitet.118 „Für eine beträchtliche Anzahl von Hausvätern wurde das Ideologem, dem sie ihr Amt verdankten, zu einer schweren Hypothek. Sie wurden von Herren zu Untertanen der Hausväterideologie, die sich damit als ein zweischneidiges Schwert erweist.“119 Diese Beobachtung trifft auch auf religiös-konfessionell gemischte Ehen zu, wenn die väterliche Gewalt, die sich auch auf die Erziehung der Kinder erstreckte, durch Landesgesetze oder durch kirchliche Bestimmungen gewissermaßen außer Kraft gesetzt wurde, das soziale Umfeld allerdings erwartete, dass sich der Haus herr in konfessionellen Streitfragen durchsetzte und der Vater sich vergeblich vor Gericht auf sein natürliches und bürgerliches Recht, über die Konfession seiner Kinder allein verfügen zu dürfen, berief.120 Neben Konflikten, die sich in religiöskonfessionell gemischten Ehen an der Frage der Kindererziehung entzündeten, konnte auch die Einforderung religiöser Freiheit durch die Ehefrau in einer Mischehe zu Verwerfungen führen, den Hausfrieden bedrohen und die Stellung des Hausvaters als Vorstand des Hauses unterlaufen. Ein beredtes Zeugnis bietet der nachfolgende Fall aus dem Fürstbistum Osnabrück. Am 16. Februar 1609 hatte der Katholik Cordes von Amelunxen die lutherische Catharina von Borchorst, genannt Kerstapel, geheiratet. Wenige Jahre später floh sie vor den Misshandlungen ihres Ehemanns in ein Stift, und ihr Bruder ersuchte in ihrem Namen um die Scheidung. Als von Amelunxen eine Kopie des Schreibens seines Schwagers erhielt, wies er alle Spekulationen zurück, dass
117 Vgl. Kapitel V. 118 Schmidt, Hausväter vor Gericht. 119 Ebd., S. 230. 120 Diese Problematik spielt eine zentrale Rolle in den anschließenden Fallstudien.
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durch „Anstiftung böser Leute [...] der Missverstand zwischen mir und sie [!] hergeflossen und entstanden“ sei.121 Vielmehr sei Catharinas religiöses Verhalten und ihre Einmischung in seine Geschäfte Schuld an allem Übel, und er habe „auf genugsam Verursachung [...] sie einmal oder zwei doch eher auf eine Zeit, mit flacher Hand an den Hals geschlagen“, was seiner Meinung nach nicht „so hoch gesündigt“ war und schon gar nicht eine Scheidung rechtfertigte. Dass er sie „übel tractiret, gestossen, geschlagen und mit blossen Messern sie zu erstechen gedrohet und sie deswegen Leibes Gefahr bei mir ausgestanden haben sollte“, wies er als „mit Wahrheit angedichtet“ zurück. Freunde, die versucht hatten, zwischen den Eheleuten zu vermitteln, hätten schnell erkannt, „daß nicht ich, sondern sie, meine Hausfrau, allen Missverstand verursachet“. In ihrem Ehevertrag hatten sie ursprünglich eine klare Vereinbarung über ihr künftiges Zusammenleben getroffen, die Catharina im Ehe-Alltag verletzt hatte. Von Amelunxen rief in Erinnerung, dass meine Hausfrau sich gutwillig verpflichtet, daß sie sich meines Glaubens, der katholischen Religion bequemen, mich Untertan sein und wie einem getreuen Weibe geziemt und gebührt Gehorsam leisten sollte und wollte. Ob sie nun solche Verpflichtung [...] nach göttlichem und weltlichem Recht verbunden, billig nachgekommen sein sollte. So ist gleichwohl in facto wahr, daß dann [...] sie sich der katholischen Religion nicht allein nicht bequemen wolle, sondern auf dieselbe auch aufs Heftigste zu schimpfen sich unterstanden, ihre Religionsbücher bei sich behalten und mir zum Trotz dieselben täglich gelesen.122
Die Entscheidung, durch wen und wie die Pflichtverletzung gegenüber Kindern und Ehefrau letztendlich definiert und vor allem nachgewiesen wurde, wurde an Gerichte delegiert, wenn innerfamiliäre Konfliktlösungen nicht mehr griffen. Dass in einem solchen Verfahren der Hausherr unterliegen konnte, wurde bereits erwähnt. Mit der Straffung und Disziplinierung des Herrschaftsapparates im Verlauf der Frühen Neuzeit wuchs die Bedeutung der „Guten Policey“ und das Streben der Obrigkeit, ethische, ökonomische und politische Normen in konkrete Gebote umzusetzen, verbunden mit einem intensiveren Durchsetzungswillen, der entsprechende Sanktions- und Reaktionsmechanismen hervorbrachte.123 Dass dies kein einseitiger Prozess von oben nach unten war, sondern die Obrigkeit mit
121 StAOS, Dep. 6 b 9/25 (1609–1612). 122 Ebd. 123 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts. Bd. 1, S. 337.
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ihrer Gesetzgebung auch auf Beschwerden der Bevölkerung reagierte, haben zahlreiche Studien über lokale Herrschaftspraktiken inzwischen belegt.124 Auch die Landesgesetzgebung zu Mischehen war das Ergebnis von Beschwerden einzelner konfessioneller Gruppen über Missstände, wie besonders am Bei spiel der Kurpfalz und Kursachsen gezeigt werden konnte, und setzte je nach Konfliktlage und Argumentation die väterliche Gewalt außer Kraft. An diesen Grenzen der väterlichen Gewalt wird besonders deutlich, dass die Familie sich an den Schnittstellen von privatem und öffentlichem Recht bewegte und die Obrigkeit sich eine Kontrolle auch des Hausherrn und seiner Herrschaft offen hielt.125 „Wäre aber der Vater so unbillig und wollte die Kinder mit Unterhalt und Kleidung nicht versorgen, so daß sie genöthiget würden, wider ihren Willen, bey fremden Leuten sich aufzuhalten“, so verlor der Vater seine Rechte über die Kinder.126 Mit der gleichen Argumentation väterlicher Pflichtverletzung wurde die obrigkeitlich legitimierte Trennung der Kinder von ihren Eltern und die Einweisung in Waisenhäuser oder die Übergabe an Pflegeeltern aus religiösen Gründen gerechtfertigt, eine Vorgehensweise, die bereits als Möglichkeit in Gutachten ausbuchstabiert worden war127, und die im Alltag insbesondere in der Kurpfalz nachweisbar ist. Dieser öffentliche Charakter der Familie und des Hauses als kleinste Einheit im Staat wird in einer wesentlich älteren Rechtsform deutlich, die in Mischehekonflikten zur Anwendung kam, und zwar in der Obervormundschaft des Kaisers und entsprechend des Landesherrn über Waisen und Witwen. Die dann in Kraft tretende Obervormundschaft bestand neben der Vormundschaft, die im Wesentlichen ein Rechtsinstitut des Privatrechts128 war, auch wenn Reichsvormundschafts ordnungen das Verfahren bei der Benennung von Vormündern und deren Rechte
124 Zur Durchsetzung lokaler Herrschaft in Ansätzen bereits David Sabean, Das zweischnei dige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit. Frankfurt 1986 und Richard von Dülmen/Norbert Schindler (Hrsg.), Widerspenstige Leute. Studien zur Volkskultur der frühen Neuzeit. Frankfurt 1992; Mark Häberlein (Hrsg.), Devianz, Widerstand und Herrschaftspraxis in der Vormoderne: Studien zu Konflikten im südwestdeutschen Raum (15.–18. Jahrhundert). Konstanz 1999; Ronald Asch/ Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/ Weimar/Wien 2005. 125 In den Bereich des Privat- und Zivilrechts, der hier nicht weiter behandelt wird, fallen u.a. Erbschaftsfragen. 126 Art.: Vormundschaft, in: Zedler, Universal-Lexikon, Bd. 50, hier Sp. 979. Für ein Beispiel vgl. unten den Fall Centgraf. 127 Vgl. unten in diesem Abschnitt 128 Adalbert Erler, Art.: Vormundschaft, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Sp. 1050–1055, hier Sp. 1053.
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und Pflichten ordneten und im Verlauf der Frühen Neuzeit die Überwachung des Vormundschaftsamts von obrigkeitlicher Seite verschärft wurde. Dem König und seinen Amtsträgern oblag der Schutz der sogenannten Miserables oder elenden Personen. Die Umsetzung des herrschaftlichen Defensoren Amtes erfolgte allerdings nur sehr beschränkt. Über die Lehnsvormundschaft des Herrschers über Fürsten und Stände beanspruchte der Kaiser die Obervormundschaft über fürstliche Familien und konnte vor allem über den Reichshofrat die Einsetzung von Vormündern bestimmen.129 Teilweise wurden diese Privilegien weitergegeben. So gestand Kaiser Leopold I. (1640–1705) beispielsweise am 21. Juli 1688 der Reichsritterschaft durch kaiserliches Privileg das Recht zu, selbstständig Vormünder für die Kinder verstorbener Reichsfreier einzusetzen.130 Die Obervormundschaft eines Fürsten über Witwen und Waisen gewinnt im Kontext der Mischehefrage an Bedeutung bei Konflikten über die Konfessions zugehörigkeit von Waisen oder Halbwaisen. Vor allem in der Kurpfalz wird unter Verweis auf die Obervormundschaft des Kurfürsten die katholische Erziehung von Waisen oder Halbwaisen in Konfliktfällen gegen den Willen sowohl der Mutter als auch des Vaters angeordnet, erstreckt sich in Einzelfällen sogar auf die Bekehrung und Taufe jüdischer Waisenkinder im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts.131 Eine entscheidende Rolle in den rechtlichen Auseinandersetzungen um Religionskonflikte in Mischehen nahm die Frage der väterlichen Gewalt bei der Konfessionsbestimmung der Kinder ein. Rechtlich unbestritten hatte der Vater als Hausherr, als pater familias, weitreichende Rechte über seine Kinder und über seine Ehefrau, auch wenn die soziale Praxis diese rechtliche Norm modifizieren oder unterlaufen konnte.132 Im Kontext von Konflikten in religiös-konfessionell gemischten Ehen wurde auch vor Gericht die Reichweite der väterlichen Gewalt angesichts von Eheverträgen, Landesgesetzen oder der Freiheit des religiösen Gewissens eingeschränkt. Damit wurde ein Grundpfeiler der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die Herrschaft des Hausvaters über die Familie und das Haus als kleinste Einheit im Staat, zur Disposition gestellt. Aus konfessionellen Gründen wurde die Hausherrschaft rechtlich eingeschränkt, sobald das „Simultaneum“ einer religiös-konfessionell gemischten Familie verletzt wurde, vergleichbar,
129 Insgesamt zu dieser Frage Werner Tetzlaff, Der Kaiser als Obervormund der Fürsten. Frankfurt a.M. 1966; Johann Jacob Moser, Darinn der Rest der Materie von dem Herkommen in denen Häusern derer weltlichen Reichs-Stände in Ansehung der Vormundschafften vorgetragen. ND der Ausg. Leipzig 1745. Osnabrück 1968. 130 Faber, Europäische Staats-Cantzley. Tl. 55. Ulm 1730, S. 28–29. 131 Freist, Zwangsbekehrung jüdischer Kinder in der Kurpfalz. 132 Vgl. unten.
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auch in den gewählten Begrifflichkeiten, der Kontrolle von Landesherren, die das Paritätsgebot des Westfälischen Friedensvertrages in ihrem Territorium verletzten.
4.2 Zwietracht 4.2.1 Religionsfreiheit und die Grenzen väterlicher Gewalt Der Stellenwert der väterlichen Gewalt für die Bestimmung der religiösen Zugehörigkeit von Kindern in Mischehen war in dem Moment strittig, in dem Gesetze vorab die Konfession von Kindern festlegten oder Eheleute das Recht hatten, in Eheverträgen selbständig über die religiöse Erziehung ihrer Kinder zu verfügen. Darüber hinaus war aus theologischer Sicht konfessionsübergreifend der „wahre Glaube“ entscheidend, und das Argument des religiösen Seelenheils der Ehefrau konnte die Autorität des andersgläubigen Ehemanns untergraben. Daher verwundert es wenig, dass diese Frage immer wieder kontrovers in Rechtsstreitigkeiten sowohl auf Territorial- als auch auf Landesebene diskutiert und neu verhandelt wurde.133 Erstaunlich ist allerdings, mit welcher Ausführlichkeit die Grenzen der väterlichen Gewalt bei der religiösen Unterweisung von Kindern in Kursachsen im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts gutachterlich beraten wurden. Dieses umfangreiche Gutachten soll den Ausgangspunkt für weitere Überlegungen zu der Frage der väterlichen Gewalt in religiös-konfessionell gemischten Ehen bilden. Am 18. Dezember 1671 wandte sich der sächsische Kurfürst Johann Georg II. (1613–1680) in einem Brief an den Geheimen Rat Dr. Augustin Strauchen mit der Bitte um Unterstützung. Unter „Verwendung des Iuris Patriae Potestatis“ oder auch „sub praetextu patriae potestatis“ würden Eltern, die erst kürzlich zum katholischen Glauben konvertiert seien, ihre evangelisch getauften Kinder zwin gen, ihnen im Glauben zu folgen. „Ja diese Väterliche Gewalt“, so der Wortlaut des Briefes, „auch diejenigen Kinder in puncto educationis et Religionis zu exercieren befugt zu seyn vermeinet, welche doch darwieder mündlich und schriftlich bey der hohen Obrigkeit iegliches Ortts wehmüthigest geflehet (bei ihrem Glauben bleiben zu dürfen).“134 Mit Verweis auf die sich häufenden Fälle bat der Kurfürst seinen Geheimen Rat mit Nachdruck darum, die Meinung der gesamten evangelischen (Reichs-)
133 S.u. 134 HStAD, loc 10333.
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Stände einzuholen, und selbst in Religionsakten und anderem Material zu recherchieren, um ein Verfahren vorzuschlagen. Des Weiteren sollte sich der Rat zu fünf Fragen detailliert äußern und ein Gutachten zur Behandlung der jüngsten Vorkommnisse anfordern. Am 2. Januar 1672 forderte der Kurfürst das Oberkonsistorium zu Dresden auf, eine Kommission aus weltlichen und geistlichen Räten „auch Professoren bey unseren Universitäten“ einzusetzen. „Nach anleitung gewisser Puncte“ – die Fragen, die bereits Strauchen vorlagen – sollte die Kommission „hierüber reiflich deliberiren“, ob Väter, die vom evangelischen zum katholischen Glauben übergetreten sind, ihre evangelisch getauften Kinder kraft väterlicher Gewalt im Glauben nach sich ziehen dürften.135 Die Behandlung dieser Fragen sei „an sich selbst, und den bey gegenwertigen sich häuffenden fällen dabey erreignenden Umbständen halber von großer Wichtigkeit“.136 Der genaue Wortlaut der vorgelegten Fragen war wie folgt: 1. Wie bey dem ersten Fall sich wegen der aus fremden Römisch Katholischen Gebiethe salvirenden Kinder, deren Väter verstorben, auf fall der hohen Obrigkeit ex capite juris territorii ac supremi Tutorii wieder erfordern, oder gegen die jenigen Elteren selbst welche erst neulich die Religion geändert, und derer Evangelisch geborene Kinder, welche bey unserer Religion zu verbleiben gedenken, und Schutz suchen, im fall die Eltern ex capite patriae potestatis solche wieder begehren, sich zu bezeugen 2. Wie es mit denen zu halten, oder bißher bey anderen Evangelischen Ständen gehalten worden, welche in Territoris und subditi die Religion post Instrumentum Pacis ändern, und ob 3. dieselben aus der väterlichen Gewalt ihre Kinder gleichfalls ohngehindert in der widrigen Religion aufziehen, und informieren lassen mögen? Vornehmlich aber und wie die hohe Landesfürstliche Obrigkeit im Fall dergleichen Kinder ihren Schutz wider die Eltern suchen, über dieselben, wegen nöthigung sive Directo sive per indirectum zu anderer Religion klage führen, und als controversia zwischen Eltern und Kindern in Territorio diesfalls entstehet, zu verfahren? 4. Wie die jenigen, welche in Territorio gelegen, die Religion geändert und derer Kinder von ihnen sich weg begeben, und anderer Orten, doch nicht außer Landes, ihre Freyheit in Religione zu erhalten, bey ihren freunden oder sonst, zuflucht und bey der hohen Landes Obrigkeit Protection suchen, die Väter aber hergegen sich erbieten, durch Revers Versicherung zu thun oder wirkliche caution zu bestellen, nichts widriges der Religion wegen denen Kindern durch Zwang zuzumuthen, noch dieselbe außer Landes zuführen zu bescheiden.
135 Ebd. 136 Ebd.
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Im Kern geht es bei diesen Fragen um die Religionsfreiheit unmündiger Kinder und das Weisungs- und Erziehungsrecht der Eltern, in erster Linie des Vaters. Besonders brisant ist die Frage, ob unmündige Kinder gegen ihre Eltern bei religiösen Differenzen vor dem Landesherren klagen durften. Im Fall von Waisenkindern aus Emigranten-Familien entstand die Frage, ob der Landesherr, aus dessen Territorium die Kinder ursprünglich stammten, über die religiöse Erziehung der Waisen verfügen durfte, diese also in sein Land zurückholen konnte. Schließlich wurde erörtert, ob ein Revers oder sogar eine Kaution mit der Verpflichtung, nichts gegen die religiöse Überzeugung der Kinder zu unternehmen, sie vor allem nicht außer Landes zu bringen, für die Obrigkeit Grund genug sei, die Kinder aus ihrem Zufluchtsort zu holen und den Eltern zurückzugeben. Diese Fragen, die sich alle aus aktuellen innerfamiliären religiösen Streitfällen in Kursachsen – aber auch in anderen Territorien – ergaben, lassen die politische, ja oftmals reichspolitische Dimension des „Streits um Kinder“ aus religiös-konfessionellen Gründen bereits erahnen.137 In ihrer Erörterung betonten die Gutachter ausdrücklich „wie so wohl laut göttlicher auch natürlicher und gemeinen Völkerrechts, Eltern über Kinder mit sonderbarer Gewalt begabet, also daß sie selbigen in allem zu folgen schuldig (sind).“ Das gemeine Recht sah Rechtsmittel vor, um Kinder, die sich der väterlichen Gewalt entziehen wollten, „zur Schuldigkeit zu bringen, und daß ein Sohn bey (seinem) Vater wohnen müsse, wenn dieser sich des juris patriae potestatis gebrauchen wolle“. „Ratione cultus divini“ sollten sich die Kinder nach römischem Recht nach den Eltern richten. Allerdings, so die Gutachter weiter, galt die väterliche Gewalt nur für Kinder, die das tempus infantia, dass sie etwas ungenau zwischen 12 und 14 Jahren ansiedelten, noch nicht überschritten hätten. Doch auch bei den unmündigen Kindern wurde eine Ausnahme gemacht und die väterliche Gewalt eingeschränkt, wenn sie gegen das Gewissen des Kindes verstieß: die patria potestas sollte nach gemeinem römischen Recht in pietate, nicht aber in atrocitate bestehen. Und kraft erwehnten Rechts ein Vater, der seinen Sohn mit savitien beschweret, zur emancipation compellirt werden mag, hingegen keine größere atrocität und saevitia seyn kann, alß einen Menschen mit Gewalt zu einer Religion davor er einen Abscheu trägt zu zwingen.138
Auch wenn das Band der Natur zwischen Eltern und Kindern stärker als zwischen Obrigkeit und Untertanen war, so war es die Pflicht der Obrigkeit, den Kindern im
137 Für die reichspolitische Dimension vgl. Kapitel V. 138 HStAD, loc 10333.
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Fall von Gewissenszwang, der durch die Eltern unter Verletzung des Religions friedens verübt wurde, Schutz zu gewähren. Die Gutachter stellten fest, dass Glaubensfragen von der väterlichen Gewalt ausgeschlossen seien, und Kinder den Gehorsam verweigern durften, wenn sie gegen ihr religiöses Gewissen zu einer Religionszugehörigkeit gezwungen wurden: Denn obwohl das Band der Natur zwischen Eltern und Kindern [...] gewissermaßen stärker und fester ist, als zwischen Obrigkeit und Unterthanen, solches auch dahero von den Kindern nach ihrer Beheben nicht aufgelöst werden mag und es mit der väterlichen Gewalt dergestallt belassen, dass dieselbige ohne Verletzung göttlicher und natürlicher Rechte nicht wohl gekennet, viel weniger denen Eltern verboten oder durch Hinwegnehmung der Kinder gänzlich entzogen werden kann. So ist doch hingegen zu bedenken, dass so wenig die Eltern ihre Kinder, alß die Obrigkeit der Unterthanen Gewissen zu beschweren oder mit einigen Zwang denselben zuzusetzen und die Freiheit, so Ihnen die Natur und in Sonderheit der im hl. Röm. Reich Deutscher Nation eingeführte Religionsfrieden gegönnt zu benehmen befugt, oder da dieße de facto geschehen sollte, ist die Obrigkeit schuldig, solches mit allen Ernstes zu verwehren und die Kinder bei der Gewissensfreiheit zu schützen in mehrerer Erwägung, dass potestas patriae dem intellectui nicht imperiren, noch einige Gewalt anlegen kann, auch dahero das object um credendum von solcher väterlicher Gewalt ganz und gar eximiret und soferne privilegiret ist, dass die Kinder, wenn die Eltern daßselben halber durch zwang etwas von Ihnen begehren, keineswegs zu Gehorsam, sondern vielmehr ihr Gewissen wahrzunehmen, und ihre aus göttlicher Schrift erlangte Wissenschaft schuldig sind.139
Die Frage, ob Kinder gegen ihre Eltern vor dem Landesherrn Klage führen durf ten, und dieser bei unmündigen Kindern berechtigt war, die Klage anzunehmen, bejahten die Gutachter unter der Bedingung, dass es sich um einen Fall der Gewis sensverletzung handelte: ein Sohn der sich unter väterlicher Gewalt befindet, ist eine Klage nicht zuzulassen, dem nach aber und die weil solches sowohl durch Canonisches Recht geändert auch durch eine General Observanz [...] limitiret, so ist der hohen Landesobrigkeit, wenn ein Kind sich über Eltern wegen des Gewissenszwanges beklaget, solche Klage anzunehmen, so demselben, so es unter 12 oder 14 Jahre, eine Curatorem juxta dispoditionem [...] zu verordnen und den Reichs Tagungen gemäß Weißung zu thun unbenommen.140
In ihrer Stellungnahme sprachen sich die Gutachter zwar einerseits eindeutig für den absoluten und natürlichen Gehorsam von Kindern gegenüber ihren Eltern aus, stellten aber andererseits die Gewissensfreiheit der Kinder über die „elterliche“ oder „väterliche Gewalt“. Die „hohe Obrigkeit“ sorge, so eine Formulierung
139 Ebd. 140 HStAD, loc 10333.
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an anderer Stelle, für „die Seeligkeit der Unterthanen“ und müsse sie vor Gewissenszwang schützen. Die Empfehlungen sind deutlich vom naturrechtlichen Denken der Zeit beein flusst: niemand kann zu einer Religion gezwungen werden. Kinder müssen so offen christlich erzogen werden, dass sie mittels eigener Vernunft zur wahren Religion finden können. Ein über allem Streit der Religionsparteien geltendes Recht, gestützt auf das individuelle Gewissen, sollte maßgeblich sein.141 Allerdings wurden die Kinder durch eine solche Legitimation obrigkeitlicher Intervention häufig zum Spielball konfessionspolitischer Interessen. Insbesondere in der Kurpfalz beanspruchte, wie bereits oben ausgeführt, der Kurfürst bei Religionskonflikten in Mischehen die Entscheidungsgewalt über die Religionszugehörigkeit von Kindern unter Berufung auf die Obervormundschaft des Landesherrn und wies sie gegen den Willen der Eltern in katholische Waisenhäuser zur Religionserziehung ein. Zwietracht in Mischehen entstand, sobald die einmal vereinbarte Übereinkunft über die Gestaltung gemischt religiös-konfessionellen Zusammenlebens aufgrund innerfamiliärer Religionskonflikte, aufgrund der Einmischung von Verwandten, Pfarrern oder Priestern, oder aufgrund obrigkeitlicher Intervention außer Kraft gesetzt zu werden drohte. In allen Konfliktkonstellationen ging es um Kompetenzstreitigkeiten angesichts der Frage religiöser Zugehörigkeit der einzelnen Familienmitglieder, um die praktische Religionsausübung und um die bereits erfolgte religiöse Subjektivierung und Fähigkeit zu religiöser Selbstverortung. Argumentativ gerieten das Recht auf Religions- und Gewissensfreiheit in Konflikt mit der väterlichen Gewalt und dem daraus abgeleiteten Anspruch des Hausherrn auf sein Weisungsrecht auch in Religionsfragen. Dieses Recht konnte und wurde aus konfessionspolitischen Interessen vom Landesherrn „ex jure Supremo Tutela“ beansprucht und in Konfliktfällen regelmäßig angeführt.142 Die nachfolgenden Fallstudien zu der Entstehung von und den Umgangsweisen mit Zwietracht in Mischehen verweisen eindringlich auf die komplexen Aushandlungsprozesse religiöser Zugehörigkeit im häuslichen Leben, die Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft, Ämter und schließlich Gerichte mit einbezogen. In den Konflikten und Argumentationsmustern wird zudem das Spannungsfeld zwischen ordnungspolitischen Normen häuslichen Lebens und den alltäglichen sozialen Praktiken greifbar.
141 Heinrich Boye, Erörterung der Frage: In wie ferne die Ehe verschiedener Religionsverwandter den Gesetzen gemäß seyn könnte? Jena 1756; Michael Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker im 17. und 18. Jahrhundert. Reichspublizistik Politik Naturrecht. 2. Aufl. Frankfurt a.M. 1987, S. 21–24. 142 GLA 77/4180 (1760), fol. 8–10.
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4.2.2 Streit um die Religion von Kindern: Fürstbistum Osnabrück In einem Eintrag im Codex Constitutionis Osnabrugensis 1738 übernahm das Fürstbistum unter Verweis auf den „von allen Reichsständen beider Religion“ anerkannten Grundsatz, dass für die religiöse Erziehung der Kinder in Mischehen kraft patria potestas, also väterlicher Gewalt, die Konfession des Vaters ausschlaggebend war, es sei denn, in Eheverträgen wurden andere Regelungen getroffen. Amtsinhaber, die im 18. Jahrhundert mit Konflikten bei der Kindererziehung in Mischehen konfrontiert wurden, verwiesen in ihrem Schriftverkehr auf die in dieser Materie von beiden Religions Theilen in unseren Zeiten angenommenen Prin cipiis der väterlichen Gewalt sämtliche Kinder ohne Unterschied des Geschlechts, sofern vom Vater nichts anders nicht pactiret oder verordnet worden, in dessen Religion erzogen werden müssen.143
Kannten die Menschen auf dem Dorfe und in den einzelnen Bauernschaften und Gutshöfen derartige Vorschriften? a) R eligiöse Praktiken in der Familie und der Streit um die Religions zugehörigkeit von Kindern: Die Witwe Appelbaum Diese Frage stellten sich auch die Consistorialräte im Februar 1778, als sie mit dem Verhalten der katholischen Witwe Appelbaum aus Neuenkirchen bei Melle konfrontiert wurden. Melle-Neuenkirchen gehörte zu den zweipfarrigen Kirchspielen, am Ort war eine lutherische und eine katholische Pfarrei. Der protestantische Pfarrer hatte nicht ohne eigenes konfessionelles Interesse angezeigt, dass die Witwe ihre drei Töchter und ihren Sohn nicht in der lutherischen Religion ihres verstorbenen Gatten aufziehen, sondern in ihrem Glauben katholisch unterweisen wollte. Für die Räte stand fest, dass die Witwe, falls sie nicht mit dem Gesetz der Kindererziehung in Mischehen vertraut war, nach dem die Religionszugehörigkeit des Vaters aufgrund väterlicher Gewalt ausschlaggebend für die Konfession der Kinder war, doch zumindest folgenden Brauch kennen müsse: So war doch wenigstens der – im hiesigen Hochstift vormahls gleichsam zur Observanz gediehen gewesen, auf jetzo fast überall noch aus dem Munde des gemeinen Mannes zu hörende Satz, dass nemlich die Söhne dem Vater, die Töchter aber der Mutter folgen, ihr
143 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/22 (1778).
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gewiss nicht verborgen; lediglich nach diesem Satz hätte sie also schon jenes Beginnen sich enthalten sollen.144
Der Verweis auf diesen Brauch der Bevölkerung ist mindestens so häufig wie der auf die Rechtslage, die sich an der hausväterlichen Gewalt orientierte. Grundlage dieser geschlechtsspezifischen Kindererziehung bildeten Eheverträge, die im Fürstbistum Osnabrück freiwillig geschlossen werden konnten und offiziell im Beisein von Zeugen geschlossen werden mussten. Bei nur mündlichen, privaten Verabredungen fehlten im Konfliktfall die notwendigen Beweise, so dass in solchen Fällen auf das geschriebene Recht zurückgegriffen wurde: die Erziehung aller Kinder in der Religion des Vaters. Dies wurde auch von der Witwe Appelbaum verlangt, mit dem Zugeständnis allerdings, dass sie „nach der unter hiesigen Landleuten sehr üblichen Verfahrungs Art“, ihre Töchter katholisch aufziehen dürfe, den Sohn aber einem evangelischen Anverwandten in die Vormundschaft übergeben müsse.145 Angeboten hatte sich bereits ein Schäfer namens Schadwinckel. Bei einer Befragung auf dem Amt in Melle am 18. Februar 1778 widersetzte sich die Witwe dieser Forderung: Als ihr der Inhalt des von hoher Landesregierung unterm 12. [dieses Monats] erlassenen Reskripts bekannt gemacht wie auch bedenket würde, die mit ihrem verstorbenen evangelischen Manne vor ihrer Verheiratung und vor ihrer zu Dissen geschehen Copulation /: als woher ihr Mann gebürtig gewesen:/ die Verabredung getroffen, dass wenn ihnen Gott Erben geben würde, selbige ihr in ihrer Religion folgen und darin erzogen werden sollten. Etwas Schriftliches wäre über diese Verabredung zwar nicht gemacht.146
Sie benannte weiter einen evangelischen und zwei katholische Zeugen, die diese Verabredung bezeugen und Aussagen über die religiöse Praxis in der Familie treffen könnten. Ungeachtet dieser Aussage wurde beschlossen: Es ist dieses una cum prioribus dem Advocato Fisci zuzustellen, um im Namen des bestellten Vormundes Schadwinkel bey Fürstlicher Land und Justizkanzlei die Auslieferung des Knaben von der Mutter zu verlangen, damit derselbe in der Religion seines Vaters erzogen werde. Resolutum in Regimine. Osnabrück, den 7. May 1778.147
144 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/22, fol. 2–3 (1778). 145 Ebd., fol. 8. 146 Ebd., fol. 13. 147 Ebd., fol. 26.
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Die Mutter, die das Kind anfangs ausgeliefert hatte, weigerte sich, den Beschluss zu akzeptieren und hatte offensichtlich die Unterstützung von Verwandten und Glaubensgenossen. Eines Tages sehr früh, sein [ des Vormunds] Knecht war nicht da, die Frau allein im Haus, kamen 6 bis 8 Kerls, einer holte vom Hof den Jungen, der dort mit dem Kind des Schäfers spielte, und mit Flüchen und Schimpfwörtern wurde das Kind mitgenommen.148
Der Vormund erstattete Anzeige, doch wenige Stunden später kam der Bruder der Witwe, bat darum, die Anzeige zurückzuziehen, damit nicht noch mehr Schwie rigkeiten für seine Schwester entstünden – sie bereue die Tat und der Junge würde zurückgebracht. Als dieses Versprechen nicht eingelöst und der Junge weiter versteckt wurde, kam es schließlich zu einer erneuten Anzeige gegen die verwitwete Mutter der Kinder. Der Fall nahm dennoch eine unerwartete Wende: Es kam zur Vernehmung von Zeugen – früheren Knechten und Mägden im Appelbaumschen Hause – die unter Beantwortung eines ganzen Fragenkatalogs bestätigten, dass der Vater Appelbaum eigentlich nie Interesse an der religiösen Unterweisung seiner Kinder gehabt habe – und es offensichtlich wirklich Einvernehmen gegeben hatte, alle Kinder in der Religion der Mutter zu erziehen. Als Belege wurden angeführt, dass das „Vater Unser“ nach evangelischem Brauch gebetet wurde, und dass evangelische Bücher im Haushalt vorhanden waren. Aufschlussreich ist der Rechtfindungsprozess in diesem Fall, der sich zuerst am Recht, dann am Brauch und schließlich an der religiösen Praxis orientierte und danach entschied. In Konflikten um die religiöse Zugehörigkeit von Kindern wurden die betroffenen Kinder selbst bei unklaren Verhältnissen vom Amtsrichter nach ihrer religiösen Selbstverortung gefragt – „zu welcher Religion sie am meisten inclinire“ – um davon weitere Schritte in der Auseinandersetzung mit Eltern und Familienangehörigen abhängig zu machen.149 Während einige Kinder klar ihr Bekenntnis unter Beweis stellen konnten, waren nicht alle Befragungen von Erfolg gekrönt und die Richter kamen zu der Erkenntnis, dass die Kinder die Konfessionen nicht klar unterscheiden konnten. Auch erlebten Kinder bei diesen Befragungen, dass sie zumeist gegen einen Elternteil ausgespielt wurden und Partei ergreifen mussten. In einem Streitfall in Quakenbrück wurde von dem Geheimen Rat in Osnabrück angeordnet
148 Ebd., fol. 27. 149 Vgl. beispielsweise StAOS Rep 100 Abschnitt 374,/2, fol. 6. (1719–1722).
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Dass es den Knaben ad protocollum zu befragen hätte, ob dem also sey, dass seine Mutter wie angegeben werden wollte, ihn zum Catholischen Glauben habe nöthigen wollen und in welchen Umständen diese zu Nöthigung allenfalls bestanden? Wie weniger nicht, dass der Richter danach zu halten hätte, das die Wittib Cramer bey Erziehung ihrer Kinder nichts zur Hand zu nehmen hätte, welches die immerwährende Capitulation auf einige Weise kränken könnte.150
Der Verweis der Obrigkeit auf die Capitulatio Perpetua geschah häufig, doch auch Betroffene selbst gründeten ihre Forderungen nach Gewissensfreiheit auf das hier verbriefte Recht freier Religionsausübung. Ein anschauliches Beispiel bietet der nachfolgende Fall. b) R eligiöse Gewissensfreiheit, Kindererziehung und die Grenzen väterlicher Gewalt: die lutherische Wilhelmina nee Steinmeyer und der Katholik Conrad Fischer Als sich die lutherische Wilhelmina nee Steinmeyer und der Katholik Conrad Fischer entschlossen zu heiraten, war keiner von beiden bereit, die Konfession des anderen anzunehmen.151 Im Blick auf zukünftige Kinder einigten sie sich über die Religionsausübung in ihrer Familie. Im zweiten Teil ihres Ehevertrags hielten sie fest: nach hiesigen Landes Gebrauch nemlich daß, wenn ihnen Gott eine oder mehr Töchter bescheren wird, solche der Mutter folgen, und in der evangelischen Religion erzogen werden sollen, und wenn Gott Söhne bescheren wird, solche dem Vater folgen, und in der katholischen Religion erzogen werden sollen, und das weder Conrad Fischer ihr, noch sie ihm daran jemals hinderlich noch auf einige Art zuwider seyn solle noch wolle.152
Für ihr eigenes religiöses Leben haben die Eheleute „noch überdem versprochen und gelobet, sich einander in ihrer Religions Übung nicht zu verhindern, sondern sich einander selber dazu, nach Möglichkeit ihrer Umstände anzutrei ben“.153 In einem konfessionell gemischten Territorium wie dem Fürstbistum Osnabrück schien das nicht allzu schwierig zu sein. In dem Dorf Hunteburg, wo Wilhelmina und Conrad Fischer lebten, gab es 60 Prozent Katholiken, 40 Prozent Protestanten. Es gab zwar nur eine katholische Kirche am Ort, Lutheranern war es aber freigestellt, lutherische Kirchen in benachbarten Dörfern zu besuchen.
150 StAOS Rep 100 Abschnitt, 374/12, fol. 27 (1748). 151 Freist, One Body, Two Confessions. 152 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/20, fol. 4 (1775). 153 Ebd.
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Auch in Bohmte, Wilhelminas Heimatort, gab es nur eine katholische Kirche, obwohl es hier mehr Protestanten als Katholiken gab. In dem benachbarten Gut Arenshorst, in Astrup und auf der Schelenburg wurden private lutherische Gottesdienste abgehalten, was katholische Fürstbischöfe allerdings zu unterbinden suchten. Daher war es nicht unüblich, dass Lutheraner die katholische Kirche ihres Dorfes besuchten, zumal sie hierfür auch Stollgebühren zu zahlen hatten. Selbst Taufen, Hochzeiten und Beerdigungen wurden oftmals von dem ansässigen katholischen Priester durchgeführt. Anders sah es bei der katholischen Bevölkerung aus, die sich stärker absonderte und angehalten war, die katholische Messe zu besuchen. Trotz dieser Kompromisse im Alltag war der ländlichen Bevölkerung ihre eigene Religionszugehörigkeit durchaus bewusst, was sich insbesondere bei Konflikten zeigte. Die richtige religiöse Erziehung der Kinder war eine wichtige Voraussetzung, um den jeweils für wahr angenommenen Glauben zu erhalten. 1772 wurde in Hunteburg eine lutherische Privatschule auf Initiative einiger Familien errichtet.154 In der Praxis war das gemischtkonfessionelle Leben jedoch nicht immer so einfach und die Duldung anderer Konfessionszugehöriger bedeutete mitunter eine schwierige Aufgabe. Dieser Herausforderung gemischtkonfessionellen Zusammenlebens sahen sich auch Wilhelmina und Conrad im Verlauf ihrer Ehe gegenüber. Der Konflikt spitzte sich bei der Frage der religiösen Zugehörigkeit ihrer Kinder zu. Über mehrere Jahre hatte Wilhelmina Fischer erfolgreich den Versuchen ihres Mannes widerstanden, zu konvertieren und ihre Kinder auf die lokale katholische Schule zu schicken. Als die Gewalt ihres Mannes gegen sie jedoch eskalierte, floh Wilhelmina. Die Begründung lautete, die Flucht sei nicht erfolgt „in der Absicht ihren Mann zu verlassen“, sondern sie habe sich „bloß um Trost und Hylfe zu suchen, (...) nach ihrem Bruder Meinungen in Bohmte gewandt“.155 In einer Petition an den Geheimen Rat in Osnabrück bat sie um eine Verfügung, dass ihre Töchter nach Vorschrift der Ehepacten zur Beruhigung ihres Gewissens in der Evangelischen Religion ungehindert erzogen werden können und ihr Mann dahin Sicherheit leiste, daß sothan ihre Töchter ihr nicht gedrohter Maßen heimlich entwandt und solcher Gestalt der Friede im Hause wieder hergestellt werde.156
Obwohl der Geheime Rat die Einhaltung der Eheverträge verlangte und die Eheleute sich in Gegenwart des Rentmeisters von Wittlage und Hunteburg versöhnen
154 Vgl. Hoberg, Die Gemeinschaft der Bekenntnisse. 155 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/20, fol. 2l (1775). 156 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/20, fol. 2–3 (1775).
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mussten, hielt der Frieden nicht lang. Wegen „seiner bösen Gemüthsart“ sei der Mann zu keiner Besserung fähig.157 Der Konflikt wurde jedoch auch von außen geschürt. Conrad Fischer erhielt regelmäßig zur Nachtzeit Besuch von einem Dominikanermönch, der sich bei dem Hunteburger Priester aufhielt. Dieser Mönch, so ein Zeugenbericht, hat dem Fischer Glauben gemacht, daß er den gemachten Contract zu halten, Gott weiß aus was für einer übelgegriffenen Moral zu halten nicht schuldig sey, welches mir Fischer selbst bey meiner Rückkehr [...] zu verstehen gab.158
Zugleich machte der Vorwurf die Runde, dass der Dominikaner auch andere katholische Ehemänner in gemischten Ehen zu dieser Verweigerungshaltung aufgerufen habe. Dieses missionarische Verhalten katholischer Geistlicher war konform mit dem Ziel der 1622 in Rom gegründeten Sacra Congregatio de Propaganda Fide, möglichst viele „Ungläubige“ für die katholische Kirche zurück zu gewinnen. Mischehen wurden immer wieder Ziel solcher Interventionen.159 Conrad Fischer schickte seine Töchter unter Missachtung seines Ehevertrages gewaltsam auf die katholische Schule. 1777 schließlich wurde der Dominikanermönch auf Drängen des Rates in ein Kloster zurückbeordert, da er „den gemeinen Frieden störe und dem evangelischen Theile in Absicht der aus solchen Ehen erzeugten Kinder der Genuß seines reichsconstitutionsmäßigen Rechtes entzogen wird.“160 Erst nach Vorladung auf das Amt und unter Strafandrohung konnte Conrad Fischer dazu bewogen werden, der evangelischen Erziehung seiner beiden Töchter zuzustimmen. Bis zuletzt hatte er versucht, wenigstens eine Tochter katholisch erziehen zu dürfen. Damit verlor Fischer sein Recht als Hausherr, die religiöse Erziehung seiner Kinder zu bestimmen. Obwohl er zu der religiösen Mehrheit seines Dorfes gehörte, war er in seiner Familie in der Minderheit. Sowohl die ursprünglich aus dem Ehevertrag sprechende Bereitschaft, die religiös-konfessionell gemischte Ehe für beide Partner gleichberechtigt zu gestalten, als auch die reichsrechtlich verbriefte Parität der Konfessionen unterliefen seine patria potestas. Ein Problem war für Fischer, dass er keine Söhne hatte, die er wenigstens nach Landesbrauch und gemäß dem Ehevertrag in seiner eigenen Konfession erziehen konnte. Diese Notlage provozierte ihn offensichtlich, mit Gewalt sein hausväterliches Recht
157 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/20, fol. 22 (5. Juni 1777). 158 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/20, fol. 22–23 (5. Juni 1777). 159 Zur Propaganda Congregation vgl. Kapitel I. Cristellon, ‚Unable and Weak-minded‘; vgl. auch für die Einmischung katholischer Geistlicher Luria, Sacred Boundaries, S. 58–60. 160 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/20, fol. 24 (1777).
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als Oberhaupt der Familie durchzusetzen. Sein Vorgehen wurde anfangs sowohl durch Amtsleute als auch durch den katholischen Priester unterstützt, der die Ehefrau von Conrad Fischer als streitsüchtig verleumdete. Auch der Geheime Rat, der mit dem Fall befasst wurde, hatte dem Anliegen der Frau anfangs kein Gehör gegeben. In einer frühen Anweisung wurde ihr sogar vorgeworfen, sich unter Verweis auf ihre Religionszugehörigkeit der Unterordnung unter ihren Ehemann entziehen zu wollen. Der Geheime Rat argumentierte: Bei Gelegenheit sollte die Frau zurechtgewiesen werden, den Hausfrieden nicht weiter zu stören und die rechtmäßige Züchtigung (potestas) durch ihren Ehemann nicht als Religionsverfolgung auszulegen. 161 Ungeachtet ihrer geschwächten Position als Frau mit einem „schlechten Leumund“, als Zugezogene und als Angehörige einer konfessionellen Minderheit im Dorf, war sich Wilhelmina ihrer Rechte sicher und fühlte sich durch ihren Ehevertrag und ihr religiöses Gewissen im Recht. Unter Berufung auf das „reichsconstitutionsmäßige Recht“ konfessioneller Parität hatte sie sich letztendlich vor Gericht durchsetzen können. c) Gutsherrschaft und die Religionszugehörigkeit von Kindern Das Rechtsprivileg des Adels auf seinen Gütern, das angrenzende Ämter oder der Landesherr nicht antasten konnten, wurde in Einzelfällen herangezogen, um die Bestimmung der Religionszugehörigkeit von Kindern auf diesen Gütern gegen die Interessen des Landesherrn zu verteidigen.162 Auf eben dieses Recht berief sich der Lutheraner Ludwig August von Schele auf der Schelenburg im Fürstbistum Osnabrück, als es um die Anhörung von Anwohnern seiner Güter, den sogenann ten „Cronsunder Leuthen“, vor dem Amt zu Iburg ging. Die Anklage lautete auf
161 Für die Unterscheidung zwischen legitimer und illegitimer Gewalt – potestas und violentia – vgl. den Beitrag von Michaela Hohkamp, Grausamkeit blutet – Gerechtigkeit zwackt. Überlegungen zu Grenzziehungen zwischen legitimer und nicht-legitimer Gewalt, in: Magnus Eriksson/Barbara Krug-Richter (Hrsg.), Streitkulturen. Gewalt, Konflikt und Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft der frühen Neuzeit. Köln 2003, S. 59–79. 162 Vgl. zur Thematik von adeliger und landesherrlicher Justiz die Fallstudie von Gudrun Gersmann über das benachbarte Fürstbistum Münster. Gudrun Gersmann, Konflikte, Krisen, Provokationen im Fürstbistum Münster. Kriminalgerichtsbarkeit im Spannungsfeld zwischen adeliger und landesherrlicher Justiz, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hrsg.), Mit den Waffen der Justiz. Zur Kriminalitätsgeschichte des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Frankfurt 1999, S. 423–446; für eine umfassende Einführung die beiden von Jan Peters herausgegebenen Bände: Jan Peters, Konflikt und Kontrolle in Gutsherrschaftsgesellschaften. Göttingen 1995 und ders., Gutsherrschaft als soziales Modell. Vergleichende Betrachtungen zur Funktionsweise frühneuzeitlicher Agrargesellschaften (Beihefte der HZ, Neue Folge, 18). München 1995.
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Kindsentführung und das katholische Amt bestand darauf, den lutherisch erzogenen Jungen nach dem Tod seines lutherischen Vaters der katholischen Mutter zur weiteren katholischen Aufzucht zu übergeben. Um dieser obrigkeitlichen Maßnahme zu entgehen, hatten die „Cronsunder Leute“ den Jungen in das Haus des freien Bauern Althoff, eines Bruders des Toten, gebracht, wo er von mehreren Frauen und Männern gegen den Vogt Ernst zu Bissendorf, der die katholische Unterweisung des Jungen verlangte, verteidigt wurde. Die Leute widersetzten sich dem landesfürstlichen Befehl zur Auslieferung des Kindes an die katholische Mutter und ließen sich von den anwesenden Schützen nicht beeindrucken, sondern feuerten vielmehr mitten in die Abordnung hinein. Nun drohte ihnen eine Bestrafung von „vierzehntägiger Einlagerung im Turm bei Brot und Wasser“.163 Angesichts dieser Entwicklung setzte sich von Schele für die Bewohner seiner Güter ein, betonte in einem Schreiben seines Verwalters an den Kurfürsten den adligen Schutz seiner Bewohner und argumentierte, er könne sie nicht vor das Amt Iburg zitieren lassen, da so ein Präzedenzfall geschaffen würde, zumal der Vogt nicht schriftlich die „causa citationis“ vorzeigen konnte. Die Leute stünden unter seiner Gerichtsbarkeit und die Drohung, sobald sie die „Adelichen Freyheiten“ verlassen würden, würden sie gefangen und zum Amt Iburg gebracht, wies er als unhaltbar zurück. Das Schreiben schließt mit dem Gesuch an den „Kurfürsten“, dass er gegenüber den Beamten zu Iburg und dem Vogt zu Bissendorf die Freiheit und den Schutz der Leute auf Adelsgütern bestätige und diese auch nicht außerhalb dieser Güter verfolgt würden.164 Ein Blick auf die konfessionellen Verhältnisse des Gutes und Kirchspiels verdeutlicht die religiösen Motive im Verhalten der Beteiligten: die Familie von Schele auf der Schelenburg in Schledehausen war lutherisch. Schledehausen aber war ungeachtet der überwiegend lutherischen Einwohner 1624 als katholisches Kirchspiel eingestuft worden, so dass die Schelenburg durch die Jahre hindurch für viele Lutheraner eine wichtige Rolle in der Wahrung lutherischer Interessen darstellte, sei es durch private Gottesdienste, den Einsatz für die Errichtung eines Simultaneums oder, wie im obigen Fall, durch den Schutz der lutherischen Untertanen gegen Übergriffe des katholischen Amtes bei der Frage der Religionszugehörigkeit von Kindern.
163 StAOS Rep. 100 Abschnitt 375/22, fol. 27–30 (1729–1732). 164 StAOS Rep. 100 Abschnitt 375/22, fol. 41–44 und 49 ff. Factum in Causa von Schelens zur Schelenburg und Vogt Ernst zu Bissendorf in puncto violirter Adelicher Freyheit (1729–1732).
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d) O brigkeitliche Interventionen und die Religionszugehörigkeit von Kindern: Der Fall von Nehem Ebenfalls um adlige Privilegien in einer religiös-konfessionell gemischten Ehe ging es bei der Auseinandersetzung des Katholiken von Nehem zu Sondermühlen, Nachkomme eines alten westfälischen Geschlechts, mit dem katholischen Fürstbischof Clemens August, Landesherr zu Osnabrück, anlässlich der Vermählung von Nehems mit der evangelischen Charlotte Elisabeth von Vette. Die Trauung war privat von einem evangelischen Pfarrer und ohne vorherige Dispensation durch den Vicarius Generalis, Wilhelm Anton von der Asseburg (1707–1782), einzuholen, durchgeführt worden. In der Folge sollte von Nehem eine Geldbuße zahlen; die Eheschließung wurde als skandalös und unrechtmäßig bezeichnet. In einem Brief an Clemens August wies von Nehem alle Vorwürfe zurück und betonte seinen Status als Adliger. Er verteidigte die Eheschließung als rechtmäßig, wies die Drohung zurück, dass die Ehe separiert werden und Soldaten als Wachen vor seinem Haus abgestellt werden sollten und verwahrte sich vor allem gegen die Beschuldigung der „Fornication“, womit seine Ehe in den Schmutz gezogen würde.165 Von Nehem hatte sich inzwischen an die preußische Regierung gewandt und um Vermittlung gebeten. Die Antwort aus Köln war klar und unmissverständlich: die Adligen im Fürstbistum Osnabrück seien ebenso wie die Bürger und Bauern den Gesetzen der Römisch-Katholischen Kirche unterworfen. Dort gebe es keinen Unterschied. Es sei für das Fürstbistum Osnabrück eine „unerhörte Sache [...] dass Catholische von Adel“ ohne vorherige Proklamation und Dispensation heiraten würden.166 Doch wollte Clemens August Milde vor Strenge walten lassen und nicht auf der Auflösung der Ehe bestehen. Allerdings sollte von Nehem einen Eid schwören, dass er alle seine Kinder katholisch erziehen lassen würde. Dieser Vorschlag des Fürstbischofs war in Einklang mit weit verbreiteten Praktiken katholischer Bischöfe und Missionare im Nordwesten, eine Mischehe als Chance für die Konversion weiterer Familienmitglieder zu tolerieren.167 Dies lehnte von Nehem ab unter Berufung auf die katholische Tradition seines Geschlechts und damit seine Festigkeit im Glauben, mit Verweis auf andere Mischehen im Adel, bei denen es nicht zur Konversion des katholischen Teils gekommen sei, und vor allem mit der Beteuerung, er wolle alles tun, um seine Kinder katholisch zu erziehen, er kenne aber nicht Gottes Vorhersehung und könne daher auch keinen Eid ableisten. Im Übrigen, so entrüstete er sich,
165 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/11, fol. 6–7, 26–28, 31 ff. (1747). 166 Zur Frage der Dispenspraxis ausführlich Kapitel I mit weiterführender Literatur. 167 Vgl. detailliert dazu Kapitel I; siehe auch Cristellon, ‚Unable and Weak-minded‘, hier S. 88–90.
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habe er noch nie zuvor von einer solchen Forderung gehört. Die ganze Angelegenheit eskalierte, als Clemens August den inzwischen geborenen kleinen Sohn von Nehems mit einem besonderen Privileg beglückte: er wurde zum Edelknaben auserwählt und der Fürstbischof verlangte, dass dieser nun „ohne Verzug unter erforderter fleißiger und guter [Bemühung] unfehlbar nach dem churfürstlichen Lager geführt werden solle“.168 Begründet wurde dieser Vorstoß damit, dass „es aus mehreren Ursachen sehr nötig zu sein scheint, alle mögliche Vorsorge bey Zeiten dahin vorzukehren, dass dessen Sohn in dem katholischen Glauben erzogen werde“.169 Von Nehem soll in einer längeren Unterredung mit Ferdinand von Kerssenbrock, Domprobst und Statthalter im Fürstbistum Osnabrück, die in Form eines Diarium überliefert ist, erwidert haben: Es scheine wohl, man stünde bei Hofe in Sorge, dass sein Söhnlein in dem lutherischen Glauben erzogen werden dörffte. Der liebe Gott würde ihn wohl davor behüten, dass er das nicht geschehen ließe; Er hätte wirklich die hiesigen Patres Societatis darum begehret, dass sie ihm einen guten Catholischen Informatorem verschaften oder zur Hand geben mögten, welchen er so dann bey sich nehmen und dahin wohl sehen würde, dass sein Söhnlein in dem Catholischen Glauben erzogen würde.170
Abgesehen davon finde er es „sehr bedenklich, ein so junges Kind als Pagen an einen Hof zu geben“.171 Der Gegenvorschlag kam umgehend – dann eben nicht zu Hofe, sondern erst einmal nach Bonn zu guten Leuten in die Kost solle das Kind gegeben werden.172 Dieser Vorschlag wurde auch begründet. Seine Frau Gemahlin hätte diesen ihren Sohn beständig umb und bey sich, und wie ich hörte so hätte dieses Kind sehr vielen Verstand, fölglich würde es seiner Frau Gemahlin
168 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/11, fol. 6–7, 26–28, 31 ff., fol. 77–79 (1747). 169 Ebd. 170 Ebd., fol. 81. 171 Zur Tradition von Pagen am Hof im Fürstbistum Osnabrück vgl. Volker Arnke u.a.: „Edle Knaben in Tugend und Sitten“. Qualifikation und Aufgaben der Pagen am Hofe Franz Wilhelms von Wartenberg, in: Susanne Tauss (Hrsg.), Der Rittersaal der Iburg. Zur fürstbischöflichen Residenz Franz Wilhelms von Wartenberg. Beiträge der wissenschaftlichen Konferenz vom 7. bis 9. Oktober 2004 auf Schloss Iburg. Göttingen 2007, S. 195–212. Zu Praktiken religiöser Subjektivierung von Pagen Dagmar Freist, „Ich will Dir selbst ein Bild von mir entwerfen“ – Praktiken der Selbst-Bildung im Spannungsfeld ständischer Normen und gesellschaftlicher Dynamik, in: Thomas Alkemeyer/Gunilla Budde/Dagmar Freist (Hrsg.), Selbst-Bildungen. Soziale und kulturelle Praktiken der Subjektivierung. Bielefeld 2013, S. 151–174, hier S. 167, 170. 172 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/11, fol. 82 (1747).
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desto leichter seyn, diesem ihrem Söhnlein widrige Principia beybringen zu können da er der Herr von Nehem sehr oft von zu Hause abwesend.173
Von Nehem wehrte sich weiter gegen diesen Vorschlag und gab zu Bedenken, dass sein Sohn derzeit noch zu klein für religiöse Unterweisung sei, also auch kein Fall von Periculum in mora (Gefahr im Verzug) bestehe.174 Doch auch hier erntete er Widerspruch und ihm wurde vorgehalten, dass seine Frau aus einer eifrigen lutherischen Familie stamme, ihr Bruder sogar als Kabinettssekretär dem preußischen König in Berlin diene. Eine neue Wende nahm die Auseinandersetzung, als sich die Mutter angesichts des wachsenden politischen Drucks mit ihrem Kind über die Landesgrenze nach Preußen begab und ihre Rückkehr von der Garantie abhängig machte, dass ihr das Kind nicht weggenommen werden würde. Von Nehem richtete ein Bittschreiben an Clemens August und bat darum, das Kind zumindest noch ein Jahr bei sich behalten zu dürfen; als Gegenleistung werde er sofort einen katholischen Informanten einstellen, was vom Domprobst überwacht werden könne. Nur wenn der Fürstbischof ihr und ihrem Kind Sicherheit und Schutz garantierte, könne er seine Frau zu Rückkehr bewegen. Ob diesem Gesuch stattgegeben wurde, muss angesichts der Aktenlage offenbleiben.
4.2.3 Obrigkeitliche Interventionen: Kurpfalz Die im folgenden ausgewählten Fallbeispiele belegen die wiederkehrende Praxis in der Kurpfalz, im Zuge der Rekatholisierung seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert bei religiösen Konflikten in der Familie von obrigkeitlicher Seite die Partei der katholischen Seite zu ergreifen. Ging es um Streitigkeiten über die konfessionelle Zugehörigkeit unmündiger Kinder, so war es nicht selten, dass diese auf obrigkeitliche Anordnung mit Unterstützung der Geistlichkeit, in erster Linie der Jesuiten, in katholische Waisenhäuser überwiesen, dort unterrichtet, getauft und zur Kommunion gebracht wurden.175 Gleichzeitig wurde durch eine Mischung aus Gunstbeweisen, Drohungen und tatsächlichen Repressalien versucht, Untertanen zur Annahme des katholischen Glaubens zu bewegen. Die Beispiele legen weiter Zeugnis ab von der Aufmerksamkeit, mit der seit dem Rijswijker Frieden 1697 reichsweit die Religionskonflikte in der Kurpfalz und der landesherrliche
173 Ebd. 174 Ebd., fol. 83. 175 Vergleichbare Fälle häufen sich im Fürstbistum Osnabrück Mitte des 18. Jahrhunderts, hier allerdings mit den Vorwürfen, Kinder würden gegen den Willen der Eltern zur katholischen Erziehung in Klöster eingewiesen werden.
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Umgang mit konfessionellen und religiösen Minderheiten kritisch beobachtet wurden. Nicht selten gelangten innerterritoriale Streitfälle vor den Reichstag und das Corpus Evangelicorum, das den Kurfürsten zu Stellungnahmen aufforderte, ein politisches Vorgehen, das der kurpfälzische Landesherr wiederholt sichtlich irritiert zu ignorieren versuchte, was ihm allerdings postwendend die Kritik einflussreicher protestantischer Territorialherren über ihre Vertretungen am Reichstag in Regensburg oder in direktem Schriftverkehr einbrachte.176 Doch auch Lutheraner und Reformierte strebten danach, allerdings ohne obrigkeitliche Unterstützung, Kinder ihrer Religion zuzuführen. Auch darüber geben die ausgewählten Beispiele Auskunft. a) B arbara Maurerin – Kampf einer Mennonitin um die Religionsfreiheit ihrer Kinder Der „vor einigen Monathen verstorbene Müller, gewesene Mennonit, Johann Peter Maurer“ aus Trippstatt, Oberamt Lautern in der Kurpfalz, hatte sich im Jahre 1766 kurz vor seinem „Ableben zur katholischen Religion mittelst gehaltener heiliger Taufe ordentlich bekannt“ und zugleich verfügt, dass seine drei Kinder ebenfalls den katholischen Glauben annehmen sollten.177 Seine Frau Barbara Maurer, geb. Ullmann, die auch den Mennoniten angehörte, weigerte sich allerdings, diesem Wunsch nachzukommen.178 Die Ermittlungen hatten ergeben, dass sie ihren Mann vor drei Jahren verlassen hatte, mit ihren drei Kindern zunächst „in die Gegend Weißenburg“ gezogen war und nun bei ihrem Bruder Jacob Ullmann auf dem Lüstertaler Hof im Oberamt Germersheim lebte.179 Unsicher, wie der Fall zu lösen war, wandte sich der zuständige ortsansässige Hauptmann aus Trippstatt an den „oberappelations gericht Rath“ Herrn von Hertling in Mannheim und bat um eine „gutachterliche Veranlassung“.180 Nach einer Lesung des Falles im Rat im Oktober 1767 ordnete Hertling an, die Kinder „auf eine friedliche arth in die dorthige Oberamtsstatt an einen sicheren Orth also gleich verbringen“, sie dort bis auf weitere Anordnung „verwahrlich auch behalten“ und binnen acht Tagen über das Geschlecht der Kinder, ihr Alter und die näheren Umstände Bericht zu erstatten.181 Zehn Tage später folgte die Antwort des Haupt- und Landschreibers: „daß unter erwehnten drey kindern zwey mägdlein, wovon Eines nahmens vero-
176 Vgl. dazu Kapitel V. 177 GLA 77/4236, fol. 3 (16. Oktober 1766). 178 Freist, Religious Difference and the Experience of Widowhood, S. 164–178. 179 GLA 77/4236, fol. 9 (3 Oktober 1767). 180 GLA 77/4236, fol. 3 (16. Oktober 1766). 181 GLA 77/4236, fol. 9–10 (3 Oktober 1767).
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nica, 11 Jahre 9 monathe und das andere benamtlich Elisabetha 8 Jahre, sodann ein knäblein, so sich caspar nennet, 5 Jahre alt seuye“ verbunden mit der Bitte um weitere Anweisung, insbesondere was die Verpflegung der Kinder betraf.182 Zunächst hatte von Hertling angeordnet, die „drey Kinder zur weiteren ihren Erziehung in dahiesiges Waysenhaus verbringen (zu) lassen“.183 Um „die Kinder zu übernehmen, selbige in Geistlicher und der Stiftenlehr unterweisen, dorth zu schicklichen arbeithen anführen zu lassen“, sollte das väterliche Vermögen verwendet und an das Oberamt Germersheim übergeben werden.184 Am 28. Oktober 1767 schließlich erging ein Befehl der „Churfürstlichen Durchlaucht Hohen Regierung“, „daß die dahier in Verwahr befindlichen 3 Kinder des verstorbenen Menonisten Petro Maueres in das mannheimer waysenhaus zur weiteren erziehung Verbracht“ und Unterbringung und Kost aus dem Vermögen des Vaters bestritten werden sollten.185 Die Mutter, so wurde in einem Pro Memoria festgehalten, dürfe ihre Kinder täglich einmal in dem Waisenhaus besuchen.186 In der Praxis sah das offensichtlich anders aus, und Barbara Maurer richtete sich mit einer Bittschrift an die kurpfälzische Regierung. Einleitend schreibt sie, dass einer Mutter „die Obsorg ihrer kinder lediglich überlassen“ sei und erklärt sich mit der Verfügung einverstanden, dass ihre drei Kinder katholisch erzogen werden sollten. Ihr Herzenswunsch sei aber, die Kinder aus dem Waisenhaus herausnehmen zu dürfen. Sie lebten dort jämmerlich, ihr sei schon zweimal der Zutritt zu ihnen verweigert worden, und sie würden dort ihrem Lebensende entgegen sehen. Ihr Söhnlein sei bereits einer Krankheit ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund bat sie darum, die Kinder außerhalb des Waisenhauses bei dem Pfarrer zu Dörrenbach unterweisen zu lassen „in Ansehung meiner in diesem Ort nah gelegenen Wohnung“. So könnten sie katholisch erzogen werden, und sie könnte sie „in ihrem Wachstum und in ihrer Gesundheit täglich“ sehen.187 In einem Bericht des Oberamts Lautern an die kurpfälzische Regierung wird diese „demüthigste bitte“ der Mutter erwähnt188, ihre „in dem Waysenhaus zu
182 GLA 77/4236, fol. 10 (3 Oktober 1767). Nach der Taufe erhalten die Kinder neue Namen und werden von da an in den Akten mit diesen Namen geführt: Maria Josepha, Maria Theresia, Josephus Carolus. Auszug aus dem Taufbuch, in dem die Taufe und die Konversion der Kinder zum katholischen Glauben aufgeführt werden sowie die neuen Namen GLA 77/4236, fol. 36 (13. April 1780). 183 GLA 77/4236, fol. 14 (ohne Datum). 184 Ebd. 185 GLA 77/4236, fol. 16 ( 28. Oktober 1767). 186 GLA 77/4236, fol. 20 (ohne Datum). 187 GLA 77/4236, fol. 24–25 (24. Oktober 1767). 188 Für die erste Supplik der Mutter Ebd.
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Mannheim in unrath und gräußlichen umbständen angetroffene drey Kinder“ aus den unsäglichen Zuständen des Waisenhauses zu entlassen. 189 Auf kurfürst lichen Befehl sollte der Pfarrer Dörrenbach vernommen und seine Eignung geprüft werden, das Oberamt teilte jedoch mit, dass der Ort Dörrenbach nicht „in hiesigem Oberamt situiert ist, sondern dem Vernehmen nach ohnfern Germersheim unter Löwensteinische jurisdiction gelegen sein solle.“ Die Kinder seien aus dem Oberamt Germersheim in das Waisenhaus gebracht worden.190 Ihrer Bitte wurde nicht nachgegeben und Barbara Maurer richtete im Januar 1768 eine zweite, ausführlichere Bittschrift an die kurpfälzische Regierung, in der sie erneut den jämmerlichen Zustand ihrer Kinder im Waisenhaus und ihren Schmerz, von den Kindern getrennt zu sein, beklagte: (...) nun aber mir nichts empfindlicheres fallet, als das mich meiner kinder so lang entsetzet und dieselbe in einem so elenden Zustand sehen muß, sintemahlen das kleinste mit einem solchen Grätz191 befallen, daß mir dessen bloßes ansehen jedesmahlen fast tödlichen stich in mein Mutterhertz gibt, und ich also für lauter Leydwesen mich fast zu Tod kräncke, ja lieber sterben als leben mögte.192
In dieser Bittschrift erwähnte sie eine kurpfälzische Verfügung, in der ihrer Bitte, die Kinder in ihrer Nähe durch einen katholischen Pfarrer erziehen zu lassen, nachgekommen worden sei, und verwies zugleich auf einen abschlägigen Bericht des Oberamtes Lautern. Die Kinder würden ihr daher weiter vorenthalten werden, obwohl sie inzwischen sogar getauft und im katholischen Glauben weitgehend unterwiesen worden seien.193 Sie appellierte mehrfach an die „Mildeste Compassion“ der hohen Landesregierung, und bat, dass sie den gnädigsten befehl erlassen sollte, womit mir meine drey kinder zu meiner selbst eigenen Erziehung umb so mehr baldigst angefolget werden mögten, als mich nicht stündlich und augenblicklich offerieren, sondern auch hab und guth verpfände. Das dieselbe, da sie bereits auf Catharina tag christlich catholischen Gebrauch nach in hiesiger Pfarr-kirch getaufet, und in denen catholischen Glaubensregeln schon ziemlich unterrichtet seyen.194
189 GLA 77/4236, fol. 22 (16. Dezember 1767). 190 Ebd. 191 Gemeint ist vermutlich die im 18. Jahrhundert weit verbreitete Krätze. Robert Jütte, Hautnah. Anmerkungen aus medizinhistorischer Sicht, in: Villigster Werkstatt Interdisziplinarität (Hrsg.), Haut – Zwischen Innen und Außen. Münster 2009, S. 15–28, hier S. 20. 192 GLA 77/4236, fol. 29 (1. Januar 1768). 193 GLA 77/4236, fol. 28–30, fol. 28, 29 (5. Januar 1768). 194 GLA 77/4236, fol. 29 (5. Januar 1768).
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Neben ihren Bitten macht Barbara Maurer wie auch schon in ihrer ersten Supplik konkrete Vorschläge: Die Kinder könnten entweder in Eisentahl, das nur eine dreiviertel Stunde von ihrem Aufenthalt auf dem Pfalzhof bei ihrem Bruder entfernt sei, wohnen, oder besser noch in dem Ort Dörrenbach, der nur einen Steinwurf von ihrer Bleibe entfernt sei. Die Kinder könnten dort die katholische Schule besuchen und sich „in dieser Religion vollständig unterrichten lassen“.195 Das Oberamt Germersheim könne die seelsorgerliche Unterweisung, die in beiden Orten garantiert sei, überwachen. Die kurpfälzische Regierung ordnete schließlich die Entlassung der Kinder aus dem Waisenhaus an. Einem Bericht des Stadtpfarrers Toller zufolge war der kleine Junge inzwischen gestorben, das ältere Mädchen, Maria Josepha, hatte sich nach der Entlassung aus dem Hospital eine Zeit lang „katholisch betragen“, sei dann aber auf den Hof der Mutter gegangen. Das zweite Mädchen, Josepha Theresia, hatte sich ebenfalls in „hiesige Dienste begeben und katholisch sich aufgeführet“, sei dann aber wie ihre Schwester zur Mutter gezogen.196 Beide Mädchen hätten sich wieder zu den Mennoniten bekannt. Maria Theresia sei nun „gestern hier aufgebracht“ und zu ihm gebracht worden. Er habe sie zum Rathaus gebracht, wo der Regierungsrat und Stadtdirektor Gobin sie sicherheitshalber aufbewahren lasse, bis der Fall geklärt sei.197 In seinen weiteren Ausführungen zeigte sich der Stadtpfarrer Tolles zuversichtlich, dass „dieses Mägdlein vielmehr durch äußerliche Verführung, als innerliche Überzeugung diesen Fehltritt gemacht habe“. Er sei überzeugt, dass „selbe leicht wiederum umgekehrt werden könne, wenn nur selbes in das churfürstliche hospital so lang aufgenommen würde, bis der nothwendige unterricht beigebracht werden könnte“.198 Aus einem weiteren Schreiben von Tolles geht hervor, dass beide Mädchen nach der Intervention von Gobin und Tolles tatsächlich auf Befehl der kurfürstlichen Regierung wieder in ein Hospital eingewiesen worden waren, damit sie „durch gründlichen unterricht von dem irrwege mögten abgezogen werden“.199 Zugleich begannen Ermittlungen über die „Wiedertäufer“ in der Kurpfalz, ihre religiösen Vorstellungen, ihre Zahl, Namen und Wohnorte. Hartnäckig wurden einzelne Mitglieder der Mennoniten im Oberamt Germersheim befragt, was die beiden Mädchen veranlasst hätte, sich während einer Zusammenkunft
195 GLA 77/4236, fol. 30 (5. Januar 1768). 196 GLA 77/4236, fol. 34–35 (13. April 1780). 197 GLA 77/4236, fol. 34 (13. April 1780). Stadtdirektor Gobin spielte eine ähnliche Rolle in dem Konflikt um die religiöse Erziehung der Tochter von Staritz, vgl. dazu Kapitel V. 198 GLA 77/4236, fol. 35 (13. April 1780). 199 GLA 77/4236, fol. 39–40, fol. 39 (April 1780).
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der Mennoniten von dem Ältesten taufen zu lassen. Die Tatsache, dass sie nach ihrer Rückkehr auf den Hof ihres Onkels, Jakob Ullmann, für fast zwei Jahre die katholische Kirche in Lingenfeld besucht hatten, stimmte die Ermittler misstrauisch, dass dieser Glaubenswechsel freiwillig gewesen sei.200 In den Korrespondenzen zwischen den Ämtern wurde der Fokus zunehmend auf den Status der Mennoniten als nur unter bestimmten Bedingungen geduldete religiöse Gruppe gerichtet, weshalb es ihnen auch unter Strafe verboten war, andere Menschen für ihren Glauben zu werben und Taufhandlungen zu begehen.201 Als sich laut Bericht des „Stadtdechanten“ abzeichnete, dass die beiden Mädchen trotz erneuter katholischer Unterweisung im Mannheimer Hospital nicht bereit waren, den katholischen Glauben wieder anzunehmen, wurde im Rat der kurpfälzischen Regierung beschlossen, ein Gutachten der Universität Heidelberg anzufordern. Geklärt werden sollte die Frage, ob nicht ein Fall der „apostatia“ (Glaubensabfall) vorliege, und es sich damit um ein politisches Vergehen handle, das härter bestraft werden müsse.202 Zugleich drang das Oberamt Germersheim in einem Schreiben an die kurpfälzische Regierung im Juli 1780 darauf, den Ältesten und Prediger der Mennoniten, Johannes Mastzeiger, der die beiden Mädchen getauft hatte, zu bestrafen.203 Da Johannes Mastzeiger aber seinen Wohnort in den Zuständigkeitsbereich eines anderen Amtes verlegt hatte, entwickelte sich wie auch in ähnlich gelagerten Fällen eine ausführliche Korrespondenz über die Möglichkeiten seiner Auslieferung und Bestrafung.204 In seiner Befragung vor Gericht wies Mastzeiger alle Vorwürfe einer erzwungenen Konversion der beiden Mädchen zurück, er habe das Verbrechen, das ihm zur Last gelegt werde, nicht begangen, und erklärte, die Zugehörigkeit zu den Mennoniten sei eine freiwillige Entscheidung und Willensbekundung gewesen, „in welchem fall dann derselbe sein freywilliges darbiethen mittelst Gebung seiner hand verspreche, daß er gott und der gemeinschaft treu sein wolle“.205 In seinen weiteren Ausführungen, die als Auszug von einem Geschichtsschreiber überliefert sind, beschrieb er den Prozess der Konversion, betonte die „Großjährigkeit“ der beiden Mädchen zum Zeitpunkt der Aufnahme in die Gemeinschaft der Mennoniten, und belastete den Vater der Mädchen, Johannes Maurer206. Er sei aufgrund seiner „schlechten haushaltung und ein solchen liederlichen lebenswandels“ aus ihrer Gemeinschaft zur
200 GLA 77/4236, fol. 61–62 (ohne Datum, der Bericht zu dem Protokoll stammt vom Mai 1780). 201 GLA 77/4236, fol. 66–68 (1780, ohne weiteres Datum). 202 GLA 77/4236, fol. 79–81 (ohne Datum). 203 GLA 77/4236, fol. 81 (Juli 1780). 204 Vgl. z.B. GLA 77/4236, fol. 140 (19. August 1780). 205 GLA 77/4236, fol. 143–161, fol. 144 (4. Juli 1780). 206 Nach der Taufe und Annahme des katholischen Glaubens nahm er den Vornamen Peter an.
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Strafe ausgeschlossen worden.207 Johannes Maurer sei bald darauf erkrankt und während seiner Krankheit, so die Aussage des katholischen Pfarrers aus Trippstatt, zum katholischen Glauben übergetreten, „in welcher er 4 Wochen und 3 Tage annoch gelebt habe“.208 An seinem Krankenbett hätten ihn sowohl der katholische Pfarrer aus Trippstatt als auch Geistliche des nahe gelegenen Klosters besucht, und er hätte schließlich „auf seinem krankenbett verordnet“, seine Kinder katholisch zu erziehen. Darüber hätten die Geistlichen umgehend die weltliche Obrigkeit informiert. Darauf seien sechs Männer losgezogen, hätten die Kinder zur Nachtzeit vom Hof abgeholt und dem „dahiesigen Diener zur Verwahrung in den Thurm gebracht“.209 Er, Mastzeiger, sowie der Bruder der Barbara Maurer, seien umgehend nach Mannheim gereist, wo sie „bei hoher Regierung“ den Vorfall mündlich vortragen konnten. Hier sei festgehalten worden, dass die drei Kinder in der katholischen Religion erzogen werden müssten, dass ihnen aber zugleich freigestellt sei, „daß denen selben, wenn sie zu ihrer Großjährigkeit und vollkommenen Verstand kommen werden, demnächst ihnen ihr freyer Wille belaßen werden sollte“.210 Insgesamt seien sie fünf Jahre in dem Mannheimer Hospital gewesen, der Junge sei mit 11 Jahren gestorben. Aus dem Protokollauszug geht weiter hervor, dass die beiden Mädchen nach der Entlassung aus dem Hospital Mitte der 1770er Jahre zu ihrer inzwischen kranken Mutter zurückgekehrt waren, sie gepflegt und für ihren Unterhalt gesorgt hatten. Sie seien von den Mennoniten angehalten worden, an ihrem katholischen Glauben festzuhalten und während der Gemeinschaftsgebete der Mennoniten morgens, mittags und abends, die katholischen Gebete zu sprechen und auch weiter die katholische Kirche zu besuchen, statt an ihren Versammlungen teilzunehmen. Der wiederholten Bitte der beiden Mädchen, wie ihre Mutter in die Gemeinschaft aufgenommen zu werden, sei nicht nachgekommen worden, sie seien stattdessen angewiesen worden, fleißig für ihre „Seeligkeit“ zu beten „und solches bei Gott suchen“.211 Unter Verweis auf ihre „Großjährigkeit und vollkommenen Verstand“ und das „mündliche Versprechen von Kurpfälzischer hohen Regierung“, bei „Großjährigkeit“ den Glauben wechseln zu dürfen, sei ihnen schließlich nach wiederholter Warnung und Abweisung ihr „freyer Wille“ belassen, und sie seien in die Gemeinschaft aufgenommen worden.212
207 GLA 77/4236, fol. 145–146 (4. Juli 1780). 208 GLA 77/4236, fol. 143–161, fol. 146 (4. Juli 1780). 209 Ebd., fol. 147. 210 Ebd., fol. 149. 211 Ebd., fol. 153. 212 Ebd.
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Dennoch seien die Mädchen nicht „zu wirklich Abschwörung der Katholischen religion angehalten, sondern dieselbe nur dahin angewiesen, daß dieselbe nach ihrer Lehr und Grundsatz die Grundsätze der Heiligen Schrift beobachten und denselben nachkommen sollten“.213 Nach der neuerlichen Einweisung ihrer beiden Töchter in das Mannheimer Hospital wandte sich Barbara Maurer, unterstützt durch einen Advokaten Kleinschmidt, erneut mit umfangreichen juristischen Ausführungen, mit religiösen Argumenten, in denen die Mennoniten als Teil der christlichen Konfessionen im Unterschied zu Juden und Heiden bezeichnet wurden, und flehenden Briefen als kranke und schwache, von Leid gezeichnete Mutter an die kurpfälzische Regierung. Sie „flehte“ die kurpfälzische Regierung „abermahlen“ an, ihre beiden „noch immer aufbewahret sitzenden töchter“ freizulassen, die sie unter ihrem Herzen getragen habe.214 In seinem Plädoyer für die Freilassung der beiden Mädchen und gegen den Vorwurf, die Rückkehr zu den Mennoniten sei ein Verbrechen, brachte der Advo kat umfangreiche Gründe vor, die auch aus anderen Gerichtsverfahren bei Mischehekonflikten bekannt sind: darunter der Verweis auf die bereits erreichte Religionsmündigkeit der Kinder und das Recht auf Gewissensfreiheit bei der Wahl der Religion, oder die verschiedenen Gesetze über die Kindererziehung in Mischehen, darunter die Regel, dass die Töchter in der Religion der Mutter, die Söhne in der Religion des Vaters erzogen werden müssten, wenn kein Ehevertrag vorläge. Weiter äußerte er sich zu dem Status der Mennoniten als im Reich weitgehend geduldete Konfession, da sie anders als Juden und Heiden den christlichen Konfessionen angehörten, ihren Glauben im Stillen und sittsam leben würden, und, wenn auch nicht erwähnt, dennoch unter die im Westfälischen Frieden geregelte Glaubensfreiheit fielen. Darüber hinaus betonte er die Fürsorgepflicht der Töchter ihrer Mutter gegenüber und ihre große Not und körperliches Leiden.215 Seine umfangreiche, 49 Seiten umfassende juristisch, religionspolitisch und aufklärerisch argumentierende Schrift eröffnete er mit einem Verweis auf die katas trophalen Bedingungen der Haft und die Notlage der Mutter: Das Weheklagen der beiden in dahiesigem Hospital wegen zurückkehr zur Versammlung der Mennonisten noch immer aufbewahrt sitzenden Maurischen Töchter, dass ihnen die nöthigen Kleidungsstücke ihre blöße zu decken und sich vor hitze und frost zu bewahren, von Directions wegen entziehet, die Mutter aber als eine im Schweiß ihres angesichts sich
213 Ebd., fol. 154. 214 GLA 77/4236, fol. 163–165, fol. 163 (15. Oktober 1780). 215 Es liegen eine ganze Reihe von Eingaben und Briefen vor. Für die ausführlichste Argumentation vgl. GLA 77/4236 (1780), fol. 85–124.
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kümmerlich ernährende diesen beyschuß zu leisten nicht vermögende, wohl eher aber selbst in einem hohen alter by abgenommen kräften des beistands der Töchter benöthigende frau solches nicht fournieren kann, fordert dieshalben abermahlen auf, Eure Kurfürstliche Durchlaucht hohe Landesregierung um die Loslassung dieser Töchter demüthigst zu bitten.216
Zwischenzeitlich hatte der katholische Pfarrer Tolles schriftlich bestätigt, dass die katholische Unterweisung der beiden Mädchen viel Mühe und Zeit kosten werde, da die Mädchen ihm „bekennet“ hätten, dass sie von den Mennoniten erneut getauft worden seien und einen Eid abgelegt hätten, „diese Sect, sollte es auch ihnen das leben kosten, niemahlen mehr zu verlassen“.217 Die Mennoniten gehörten nicht zu den im Heiligen Römischen Reich geduldeten Sekten, so sein Argument, daher könne den beiden Mädchen auch nicht das Recht auf Gewissensfreiheit gestattet werden, nach dem sie sich nach der einmal angenommenen katholischen Religion „sich zu solcher Sect wiederum bekennen dürften“.218 Mit dieser Bemerkung provozierte Tolles unterstützt vom Oberamt Germersheim, dass ein langwieriges und immer komplexer werdendes Gutachterverfahren in Gang gesetzt wurde, in dem es um den Status der Mennoniten, die Details der „Verführung“ der Mädchen zu den Mennoniten trotz erfolgter katholischer Taufe und Unterweisung, und die Frage, ob es gelingen könnte, die beiden Mäd chen erneut dem katholischen Glauben durch gründliche Unterweisung unter katholischer und obrigkeitlicher Aufsicht, getrennt von der Mutter, zuzuführen. Zunächst wurde die Universität Heidelberg um ein Gutachten über diesen Vorgang gebeten und sollte nachfolgende Frage erläutern: Ob, da die Mennoniten dann doch nur einen sehr beschränkten Schutz in dem Lande geniessen, die beyden Mägdlein, und in wiefern sich durch das crimen apostalia auch im politischen betracht strafbahr gemacht haben, und zu strafen, juris et prudentia, seyn möge.219
Die Universität unterschied in ihrer Antwort zwischen zwei Fragen, erstens, ob der „Zurückfall auf ihre vorige Mennonisten Sect“ strafbar sei, und zweitens, ob dadurch ein „crimen apostalia“ (Glaubensabfall) eingetreten sei.220 In einer aufwendigen Argumentation wurden zunächst die Argumente, die in den Suppliken von Barbara Maurer und dem Advokaten Kleinschmid sowie von einzelnen Mennoniten in Verhören vorgebracht worden waren, wiederholt, um dann 216 GLA 77/4236, fol. 85–86 (1780). 217 GLA 77/4236, fol. 39–40 (23. April 1780). 218 Ebd., fol. 40. 219 GLA 77/4236, fol. 143–161, fol. 173 (4. Juli 1780). 220 Ebd.
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eine Gegenargumentation aufzubauen. Die Gutachter bezeichneten die Rückkehr zu den Mennoniten als eine strafbare Handlung und urteilten, dass in diesem speziellen Fall sogar der Strafbestand der Abtrünnigkeit vom wahren Glauben Bestand habe und nach Gesetzeslage die Todesstrafe angewandt werden müsse. Dann erörterten sie den Landesverweis und sprachen sich angesichts der drohenden Seelengefahr für die beiden Mädchen für eine lebenslange Einweisung in ein Arbeitshaus aus, um die weitere katholische Unterweisung verfolgen zu können. Im Falle der Beugung der Kinder könne die kurpfälzische Regierung das Strafmaß mildern.221 Weitere Gutachten befassten sich mit der Frage, ob die Mennoniten zur protestantischen Kirche zu zählen seien und welche Relevanz diese Zugehörigkeit für die Frage der Konversion und Gewissensfreiheit der beiden Mädchen habe. Weder die umfangreich erstellten theologischen Gutachten, noch die Suppliken von Barbara Maurer oder ihres Anwalts konnten das Schicksal von Mutter und Töchtern ändern: die Kinder wurden in ein Zuchthaus gebracht und später des Landes verwiesen. Dieser Fall ist nicht nur aufschlussreich für die Art und Weise obrigkeitlicher Intervention und politischen Handelns sowie für den Stellenwert theologischer Gutachten bei der Bestimmung der Religionszugehörigkeit von Kindern in Mischehen, sondern gibt zugleich einen Einblick in die Stellung und das Religionsverständnis von Mennoniten in der Kurpfalz. In den verschiedenen theologischen Gutachten und den Stellungnahmen des Anwalts von Barbara Maurer prallen, so der Eindruck, verschiedene Welten aufeinander: auf der einen Seite das unbeugsame Festhalten an einer katholischen Dogmatik, mit der die Konversion der Kinder als ein Verbrechen gegen den wahren Glauben und eine Entweihung des heiligen Sakraments der Taufe verurteilt wurde ungeachtet allen menschlichen Leidens, das damit verursacht wurde, auf der anderen Seite ein Appell an die Gewissensfreiheit und die Religionsmündigkeit der beiden Kinder, die ihnen auch als Mennoniten zugestanden werden sollte, verbunden mit der Forderung des Freispruchs. Schließlich wird in den umfangreichen Fallschilderungen zumindest ein Eindruck vermittelt über die alltäglichen Lebensbedingungen, den beschwerlichen alltäglichen Kampf um die Religionszugehörigkeit der eigenen Kinder und schließlich über die Ohnmacht gegenüber den Ämtern und der katholischen Geistlichkeit trotz Bittschriften und juristischen Beistands. Auch in dem nachfolgenden Fall wird deutlich, welchen Einfluss die katholische Geistlichkeit
221 GLA 77/4236, 4. Juli 1780, fol. 174–200, fol. 198–200 (4. Juli 1780).
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Ende des 18. Jahrhunderts auf Entscheidungen in Mischehekonflikten zugunsten der eigenen Konfession hatte.222 Zu den sicher spektakulärsten Konflikten, die in der Kurpfalz über die Religionszugehörigkeit von Kindern überliefert sind gehörte die katholische Unterweisung jüdischer Kinder in der Kurpfalz gegen den Willen der jüdischen Gemeinde. b) Zwangskonversion jüdischer Kinder zum katholischen Glauben Im Jahr 1759 wurde der Jude Jacob Simon, genannt der blaue Jacob, hingerichtet. Er hinterließ drei Kinder im Alter von acht, sechs und drei Jahren, die während seiner Haftzeit der Mannheimer Judenschaft zur Versorgung übergeben worden waren. Die Vorsteher der Juden hatten angesichts des bevorstehenden „unglücklichen Endes der Eltern“ bereits Vorsorge getroffen, um die Kinder nach „Obliegenheit unseres Gesetzes“ bis zur Volljährigkeit „unter der Judenschaft zu einem ehrbaren lebenswandel“ erziehen zu können, der es ihnen später ermöglichen sollte, „ihr stück brod mit ehrlicher handthierung verdienen zu können“.223 Nach Vollstreckung des Urteils waren die jüdischen Kinder allerdings auf Geheiß des Mannheimer Rates den Juden genommen und unter die Aufsicht des Büttels gestellt worden. Hintergrund dieser Vorgehensweise war der Plan, die Kinder im Mannheimer St. Michael Waisenhaus, das unter der Leitung der barmherzigen Brüder stand, katholisch zu erziehen. In den Augen der jüdischen Vorsteher sollte hiermit erstmals ein „Exempel eingeführet werden“, jüdische Kinder, die „bey ermangelnden judicio discretionis sich nicht zu erklären wissen“ zum katholischen Glauben zu ziehen.224 In einer Bittschrift vom 19. Oktober 1759 verwiesen die Vorsteher auf einen ähnlich gelagerten Fall aus dem Jahre 1749, bei dem die Kinder des „justifizierten Moyses Sulzberger“ schließlich doch „uns Vorstehern gegen unseren ausgestellten revers, zur Anerziehung verabfolget worden sind, wie aus dem Stadtrathsprotokoll zu ersehen sein wird“.225
222 Neben dem Fall der Zwangskonversion jüdischer Kinder vgl. auch Kapitel V der Fall von Staritz. 223 GLA 77/4215, fol. 3 (1759). 224 Für eine detaillierte Analyse dieses Falls im Kontext theologischer Positionen zur Taufe von Juden, dem Einfluss der Aufklärung und der soziokulturellen Lebensbedingungen von Juden in Mannheim und in der Kurpfalz vgl. mit weiter führender Literatur Freist, Zwangsbekehrung jüdischer Kinder in der Kurpfalz – Zur Frage der Toleranz in der Zeit der Aufklärung, in: Horst Lademacher u.a. (Hrsg.), Toleranz in der deutschen und niederländischen Gesellschaft 16.–19. Jhd. (Studien zur Geschichte und Kultur Nordwesteuropas, 2). Münster u.a. 2004, S. 400–421. 225 GLA 77/4215, S. 10. Der erwähnte Eintrag im Mannheimer Stadtratsprotokoll vom 19. August 1749 ließ sich nicht nachweisen.
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Angesichts weiterer Suppliken der Juden an die kurfürstliche Regierung, die von den Vorstehern226 der Mannheimer jüdischen Gemeinde unterzeichnet worden waren, entschied die Regierung, ihren Beschluss durch zwei Gutachten, von der theologischen Fakultät in Heidelberg und vom Wormser Vikariat, abzusichern. In ihren Schreiben an den Kurfürsten bezogen sich die Juden vor allem auf die geltende Rechtslage, nach der die verwaisten Kinder von Vagabunden und Delinquenten aus ihrem Umfeld herausgenommen und zu einem besseren und gottgefälligen Leben unter obrigkeitlicher Aufsicht erzogen werden müssten.227 Hier handele es sich aber nicht um einen Fall, der zu der „ratione fiscali“ (staatliche finanzielle Belange) gehöre, so die Juden, da sie sich verpflichten würden, die Kinder selbst innerhalb der Judenschaft bis zu ihrem 15. oder 16. Lebensjahr zu betreuen und zu versorgen und sie zu einem ehrbaren Leben zu erziehen, damit sie später selbst ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen könnten.228 Verbunden mit dieser Absage an die Rechtsgültigkeit der Forderung war der Verweis auf das Alter der Kinder, dass angesichts mangelnden „Judicium discretionis“229 keinen Religionswechsel zulasse. Die Juden baten noch einmal darum, ihren Fall auf der Grundlage des Beschlusses von 1749 zu ihren Gunsten zu entscheiden und das „hochwürdige Vicariat“ zu bitten, ob bey unseren gethanen unterthänigsten erbitten diese 3 Kinder, da dieselbe noch kein Judicium discretionis besitzen, uns zur Aufferziehung und künftigen Versorgung nicht überlassen werden können? Hintenmahl doch der Fiscus über unmündige Kinder abgestrafter Jüdischer delinquenten, kein solches Jus quaesitum haben kann, dass dergleichen ohnschuldiger Kinder, ehe und bevor sie ad annos discretionis kommen, in solche Umstände wirklich zu versetzen seyen, bey den sie unter der hand von der religion ihrer Eltern und Voreltern sollten mögen abgezogen werden.230
Mit dem Verweis auf das „Jus quaesitum“231 deuteten die Judenvorsteher an, dass die Zwangsbekehrung der jüdischen Kinder nach ihrer Auffassung nicht unter die von den Landesherrn im Verlauf der Frühen Neuzeit „wohlerworbenen Rechte“
226 Feibel Levi, Elias Haium, Samson Hirsch, Michael Flesch, Mayer Ullman, Säckhel Levi und Gabriel Michael May. 227 Vgl. Kapitel III. 228 GLA 77/4215, S. 10. 229 Gemeint ist hier die Reife, eigenständig über die Religionszugehörigkeit zu entscheiden. 230 GLA 77/4215, S. 11–12. 231 Wohlerworbene Rechte (Judenregal).
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über die Juden falle.232 Die Juden baten darüber hinaus, dass die drei Kinder bei dem Büttel bleiben und von den Juden mit koscherem Fleisch versorgt werden dürften, bis das Gutachten aus Worms eingetroffen sei. Dieser Bitte wurde offensichtlich stattgegeben.233 Das Gutachten des bischöflichen Vikariats zu Worms vom 13. Oktober 1759 war kurz und eindeutig: die Entscheidung der kurpfälzischen Regierung zur katholischen Auferziehung der Kinder wurde begrüßt. Begründet wurde diese Haltung mit der Fürsorgepflicht der Landesobrigkeit, die nun an die Stelle der Eltern treten würde und die an Eltern statt „im Gewissen verbunden (sei), deren Seelen Heil zu besorgen“.234 Die „extradiction zur Erziehung im Judenthumb (wäre) eine vor Gott unverantwortliche sache“, so die weiteren Ausführungen.235 Die Gutachter empfahlen die sofortige Taufe der beiden jüngeren Kinder im Alter von zwei und vier Jahren.236 Das achtjährige Kind allerdings dürfe nur getauft werden, wenn nach sorgfältiger christlicher Unterweisung „bey eifrigen catholischen Leuten“ sicher gestellt wäre, dass man „das Judenthumb aus dem Kopf bringen könne, sollte er demnach bey etwaiger erreichung eines materioris Judity noch alle Repugnance gegen das Christentum zeigen“, so dürfe die Taufe allerdings nicht vollzogen werden, da so das Sakrament beschmutzt würde. Abschließend empfahl das bischöfliche Vikariat zu Worms aufs dringlichste, alle drei Kinder „wegen besorglicher Verführung dahisiger Juden von Mannheim in geheim hinweg“ und voneinander getrennt großziehen zu lassen, „damit alle Gelegenheit abgeschieden werde, den alten Geist ihnen beyzubringen, Gott wird diesen Seelen eyfer ohnselben belohnen“.237 Das Heidelberger Gutachten ist etwas ausführlicher und differenzierter, unter scheidet sich in der letztendlichen Empfehlung allerdings nicht von der Wormser Stellungnahme, auch wenn die Gutachter vorsichtig eine abweichende Meinung
232 Damit wird auf die im Verlauf der Frühen Neuzeit von dem Landesherrn erworbenen Judenprivilegien hingewiesen, die ursprünglich ausschließlich dem Schutz des Kaisers (Reichskammerknechte) unterstanden. Die Juden hatten das Recht, vor den Reichsgerichten ihre Privilegien einzuklagen. Neben der Forschungsliteratur zu Judenprivilegien und Reichskammerknechtschaft der Juden – beispielsweise der Aufsatz von Battenberg, Kammerknechte – vgl. den äußerst instruktiven Artikel über Juden in J. Weizke, Rechtslexikon, 8 Bde., Bd. 5, 1844. Für diesen Literaturhinweis danke ich Andreas Bauer. 233 GLA 77/4215 (Ulterior Propositio). 234 GLA 77/4215, S. 18–19. 235 Ebd. 236 An anderer Stelle wurde das Alter der beiden jüngeren Kinder mit 3 und 6 oder 7 Jahren angegeben. 237 GLA 77/4215, S. 19.
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anklingen ließen.238 Allerdings fällt auf, dass der theologischen Fakultät offensichtlich die Suppliken der Judenvorsteher vorlagen, denn sie bezogen sich gezielt auf einzelne Äußerungen, die in diesen Bittschriften enthalten waren. Unter Punkt eins verwiesen die Verfasser darauf, dass „ein guter Teil von Theologen und Canonisten“ lehre, dass unmündige Kinder ungetaufter Eltern, „auch stante potestate patria, auf höchsten Befehl des Landesherrn, dem sie allein civiliter et politice unterwürfig, ipsis invitis, zur heiligen Taufe können gebracht werden“.239 Aufschlussreich ist die anschließende Aussage, „wiewohlen wir nun dieser Lehre nicht beipflichten, als welche bishero nicht üblich gewesen, so kann sie doch zweifelsohn statt finden“ bei straffällig gewordenen Eltern. Punkt zwei befasste sich mit der Frage der väterlichen Gewalt, die „in gegenwärtigen casu cessiret“ war. Da aufgrund der christlichen Erziehung der Kinder in einem Waisenhaus eine „periculum perversionis und Apostasiae“ nicht zu befürchten sei, so ist nach der gewissen und allgemeinen Lehr aller Theologorum und Canonisten gänzlich entschieden, dass Euro Churfürstliche Durchlaucht dero gnädigste resolution zur Vollziehung zu bringen bemächtiget seyen, ohnangesehen das etwan auch Tutories vorhanden seyn sollten, als welche hierinfalls Euer Churdurchlaucht als höchsten Tutori kein vorweisliches Recht haben können.240
Die Argumentation der Judenvorsteher, dass durch ihr Anerbieten, die Kinder im jüdischen Glauben und zu ehrlichem Brotverdienst zu erziehen, die „ratio Fiscalis“ entfalle, wiesen die Gutachter als „ungereimbt“ zurück. Sindemahlen der landesherr hauptsächlich darumb berechtiget ist, dergleichen Kinder beyzubehalten, weilen cessante patriae potestate daß Göttliche Gebott der Tauff anzunehmen Vordringt und ob defectum rationis bey Unmündigen Kindern alle diejenigen, deren Gewalt und Sorg sie heimfallen, verbürget, ihnen darzu verfüglich zu seyn.241
Die Gutachter gingen auch auf den Hinweis der Judenvorsteher ein, im Jahre 1749 seien jüdische Kinder eines hingerichteten straffälligen Juden der jüdischen
238 Responsum Facultatis Theologicae Heidelberg. Betreffend die von jüngsthin justifizierter Juden hinterlassener Kinder. Dekan der Fakultät, 17. November 1759. GLA 77/4215, S. 22–24. 239 Ebenda, S. 22. Mit der Formulierung „ipsis invitis“ bezogen sich die Gutachter auf die In struktion Postremo mense Benedikts XIV. vom 28. Februar 1747. Ausführlich zu der Haltung der christlichen Kirchen zur Taufe von Juden sowie zu weiteren Fällen: Dagmar Freist, Recht und Rechtspraxis im Zeitalter der Aufklärung am Beispiel der Taufe jüdischer Kinder, in: Andreas Gotzmann/Stefan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 39 (2007), S. 109–137. 240 Ebd., hier S. 22–23. 241 Ebd., hier S. 23.
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Gemeinde nach Intervention verschiedener Fürsprecher zur Erziehung überlassen worden. Dieser Fall, hieß es in der Stellungnahme, müsse gänzlich anders gelagert gewesen sein, aber selbst wenn es sich vor zehn Jahren um einen Gnadenbeweis gehandelt haben sollte, so könnten die Juden daraus kein Recht ableiten. Ein weiteres Argument der Juden, der Landesherr könne über unmündige Kinder der von ihm bestraften Delinquenten nicht das Recht beanspruchen, sie „von der Religion ihrer Eltern ab(zu)ziehen“, wurde ebenfalls „als irrige Einbildung von ihrer vermeinten Religion“ zu entkräften gesucht.242 Von der Religionsfreiheit im Reich schlossen die Gutachter die Juden völlig aus. „Worauf dan von selbsten erhellet, daß es unnöthig sey, Annos discretionis zu erwarten: ja auch unvorsichlich wäre es, weilen sie alsdan ohne selbst eigene Bewilligung, wohl vielleicht schwerlich erfolgen würde, nicht könnten getaufet werden.“243 Die Heidelberger theologische Fakultät schloss ihre Stellungnahme allerdings mit dem Hinweis, dass das bereits achtjährige Kind, das in diesem Alter nach allgemeiner Auffassung bereits über Vernunft verfüge, ohne Einwilligung nicht getauft werden dürfe. Allerdings empfahl das Gutachten die Separierung des Kindes von der Judenschaft, um die christliche Unterweisung versuchsweise vornehmen lassen zu können. In einer vergleichenden Stellungnahme vom 16. Januar 1760 wurde der gesamte Fall abschließend verhandelt und die Vorgehensweise der kurfürstlichen Regierung begründet und festgelegt.244 Die Kinder, so die Ausgangssituation, sollten sofort in das St. Michael Waisenhaus gebracht, dort verpflegt „und successive im Christenthum informiret“ werden. Auf diese Weise sollten die Kinder „zur Abwendung von künftigen vagabund diebischen Leben zur heiligen Taufe“ vorbereitet werden. Die Intervention der Mannheimer Juden bei dem Kurfürsten und eine anschließende „churfürstliche geheimbde conferenz“ bewirkten, dass die Kinder vorübergehend bei dem Büttel untergebracht und von den Juden weiter koscher verpflegt wurden. Die Fürsprache der Juden hatte weiterhin Anlass gegeben, Gutachten in Worms und Heidelberg einzuholen, deren Meynung dahin gehet, daß Ihro Churfürst aus landesherrlicher Machtvollkommenheit zumahlen auch die Juden ohnedem kein toleriertes Religionsexercitium hätten, wohlbefugt, ja alß in deren Eltern Stelle tretend allerdings im Gewissen verbunden wären, diese 3 Judenkinder (....) zu ihrer Seelen heyl
242 Ebd. 243 Ebd., hier S. 24. Die Frage des zulässigen Konversionsalters war auch unter den christlichen Konfessionen noch Mitte des 18. Jahrhunderts strittig. Vgl. Freist, Zwischen Glaubensfreiheit und Gewissenszwang, hier S. 309–310. 244 GLA 77/4215 (Ulterior Propositia, 16. Januar 1760).
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entweder in das St Michael Waisenhaus zu bringen oder „vielmehr, wie das Vicariat dargestellt“ die Kinder in „ein sonstig entfernt und separates orth“ aufgrund der Gefahr der Verführung durch die Juden zu bringen und alsbald taufen zu lassen. Alle drei Kinder sollten nun sofort aus der Obhut des Büttels genommen und in das Waisenhaus zur christlichen Unterweisung gebracht werden. Entsprechendes sei umgehend zu veranlassen. Das jüngste Kind im Alter von ungefähr zwei oder drei Jahren konnte nach Aussage der Gutachten unbedenklich getauft werden. Der älteste Junge im Alter von acht oder neun Jahren allerdings, so die Stellungnahme von Regierungsseite, könne erst nach gründlicher Unterweisung im Christentum und freiwillig – „seinen consens selbsten darzu geben“ – getauft werden. Schwieriger gestaltete sich die Frage der Taufe bei dem mittleren Kind, dessen Alter mit sechs oder sieben Jahren angegeben wurde, da es bereits „im jüdischen Unglauben“ verwurzelt zu sein schien. Entsprechend wurde eine Befragung des Jungen durch Geheimrat von Öchsel im Beisein des Patris Capucini, dem Vorsteher des Zucht- und Waisenhauses, angeordnet. Das jüdische Kind sollte gefragt werden, ob es ein Christ werden und sich taufen lassen wolle. Falls das Kind dies ablehnte, sollte es wie sein älterer Bruder „successive in sancta religione catholicae“ unterwiesen und erst dann getauft werden. Der Stadtrat von Mannheim wurde am 16. Januar 1760 angewiesen, die drei jüdischen Kinder aus der Wohnung des Büttels zu holen und in das St. Michael Waisenhaus zu bringen.245 Mit dieser Anweisung schließt die Akte. c) K onfessionspolitischer Streit um das Seelenheil von Kindern: Peter Eckstein Ähnlich ihren katholischen Amtskollegen, wenngleich ohne Rückendeckung des katholischen Kurfürsten und vor allem der überwiegend katholischen Beamtenschaft in der Kurpfalz, bemühten sich auch lutherische und reformierte Pfarrer um die Kinder Verstorbener sowie um Halbwaise. Ihren Bemühungen wurde allerdings aufgrund der Landespolitik weniger Erfolg beschieden. Exemplarisch sei hier abschließend auf nachfolgenden Fall verwiesen, der aufgrund einer Beschwerde des kurpfälzischen reformierten Kirchenrats und des daraus entstandenen Schriftverkehrs mit der kurpfälzischen Regierung überliefert ist. Der zehnjährige Peter Eckstein, Kind eines katholischen Vaters und einer reformierten Mutter, wurde bis zum Tod seiner Eltern 1778 von einem katholischen Schweinehirten in Heidelberg katholisch aufgezogen.246 Nach dem Tod der Eltern
245 GLA 77/4215. 246 GLA 77/4196 (25. November 1778).
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nahm sich ein reformierter Pate des Waisenkindes an und brachte es mit Hilfe des reformierten Pfarrers zu einer reformierten Witwe in Heidelberg, wo der Junge im reformierten Glauben unterwiesen und erzogen werden sollte. Mit der Begründung, der Junge habe noch nicht die „religiösen Unterschei dungsjahre“247 erreicht und könne somit nicht zum reformierten Glauben konvertieren, erteilte die kurpfälzische Regierung den Befehl an das Oberamt Heidel berg, das Kind, das inzwischen versteckt worden war, ausfindig zu machen. Der Junge wurde schließlich in Neuenheim entdeckt und in ein Waisenhaus gebracht, um weiter im katholischen Glauben unterwiesen zu werden, bis er die annos discretionis erreicht habe und selbst über seine Religionszugehörigkeit entscheiden könne.248 Diesen Schritt begründete die Regierung mit Verweis auf die Religionsdeklaration. Die fortlaufenden Beschwerden des kurpfälzischen reformierten Kirchenrats über die „gewaltsame Wegnahme des Peter Eckstein“249 wurden in einem Regierungsbericht scharf zurückgewiesen. Es handele sich eben nicht um einen „Jüngling, welcher die annos discretionis erlangt habe, und also eine religion zu wählen vermöge, sondern um einen elternlosen 10 jährigen Knaben zu tun sei, in welcher religion dieser bis zu deren Unterscheidungsjahren erzogen werden solle“.250 Der Junge sei bereits zu Lebzeiten der reformierten Mutter und des katholischen Vaters von dem Schweinehirten Winderling zwei Jahre lang katholisch aufgezogen worden, dies sei ohne Einwilligung der Mutter mit Sicherheit nicht möglich gewesen. Während dieser Zeit hätte sich niemand von reformierter Seite um das Kind gekümmert. Erst nach dem Tod der Mutter hätten sich reformierte Angehörige um das Kind bemüht und zu einer reformierten Witwe gebracht, damit er in der Religion der reformierten Mutter erzogen werde. Die „Regierung habe also die Abwanderung dieses Knaben unter denen Unterscheidungsjahren von der katholischen zur reformierten Religion nicht nachsehen können, sondern von den Stadt Directoren den Befehl erlassen, gedachten Knaben aus der reformierten Witwe heraus zu nehmen.“251 Des Weiteren verbat sich die kurpfälzische Regierung „unbegründete Behelligungen“ durch den Kirchenrat und warf ihm zudem
247 Ausführlich zu der juristischen und theologischen Kontroverse um die Unterscheidungsjahre (annos discretionis) vgl. Kapitel I, IV und V. 248 GLA 77/4196 (3. November 1778). 249 GLA 77/4196 (1778/79). 250 GLA 77/4196 (3. November 1778). 251 GLA 77/4196 (3. November 1778).
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Verfahrensfehler vor.252 Der Junge solle selbst „bei Volljährigkeit entscheiden, bis dahin soll der Kirchenrat Ruhe bewahren und abwarten“.253
4.2.4 Das Aushandeln religiöser Zugehörigkeit: Kursachsen Das lutherische Kursachsen kontrollierte die Schließung von Mischehen im 17. und 18. Jahrhundert in einem klar strukturierten Dispensverfahren. Als Gründe für die Einrichtung dieses Verfahrens wurden Ängste vor einer konfessionellen Überfremdung angeführt, die seit dem Westfälischen Frieden aufgrund der Glaubensfreiheit zugenommen hätte. Mischehen wurden nur nach erteilter Dispens durch das Oberkonsistorium und den Landesherrn gestattet und nur bei Vorlage ausreichender Religionssicherheiten, die die lutherische Erziehung aller Kinder garantierten. Außer bei Krieg und Aufruhr war es einem katholischen Ehemann verboten, sich zu „katholischen Orten“ zu begeben, weil sich seine Frau dort äußerster Seelengefahr und der Verletzung ihres Gewissens aussetzen würde. Amtsleute im ganzen Land waren angewiesen, die korrekte Aufzucht von Kindern aus Mischehen zu überwachen. Falls auch nur der geringste Anlass zu Zweifel gegeben sei, sollten die Kinder vor ihren Eltern geschützt werden. In der Praxis konnte das die Abstellung von Wachen in das Haus der Familie zum Schutz der Kinder und die Befragung der Kinder – in Abwesenheit der Eltern – über die eigenen religiösen Ansichten und die der Eltern bedeuten. Diese Einmischung von Amtsleuten in die Sphäre der Familie wurde oftmals von dem Familienvater als Angriff auf seine Ehre und auf seine öffentliche Stellung in der Dorfgemeinschaft empfunden. Allerdings war auch die Landesregierung mit derartig rigoroser Vorgehensweise nicht einverstanden und versuchte in Einzelfällen, das Vorgehen des Oberkonsistoriums in feste politische Bahnen zu lenken.254 Ausnahmen von dieser Dispenspraxis, soweit aufgrund der begrenzten Überlieferung noch zu ermitteln255, waren eher selten.
252 GLA 77/4196 (25. November 1778). 253 GLA 77/4196 (1778). 254 Vgl. die folgenden Fallstudie über den katholischen königlichen Kammerdiener Dionysius Baum und dessen evangelische Tochter. 255 Die Akten sind Kriegsverlust. Nur vereinzelte Akten über Mischehekonflikte und die Vergabe von Dispensen sind im Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden noch vorhanden. Auf diese Fälle muss sich die Studie zwangsläufig beschränken.
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a) R eligionsverschiedenheit in der Ehe und das Aushandeln der Kindererziehung: Dispensgesuche des reformierten Händlers Amy Dumont und des katholischen Händlers Hilarius Musacci In Bittschriften konnten mitunter Fremde eine Ausnahme erwirken und die Kindererziehung nach eigenen Vorstellungen regeln.256 Diesen Weg hatte der reformierte Kaufmann Amy Dumont, späterer Vorsteher der reformierten Gemeinde in Leipzig,257 erfolgreich beschritten. Bei seinem Ehegesuch mit der lutherischen Catherina Margaretha Robin vor dem Konsistorium in Kursachsen 1749 wurde ihm zunächst ein „Abgelöbnis“ abgefordert, die zukünftigen Kinder in der lutherischen Religion erziehen zu lassen. Als seine Bitte, „ihn mit dergleichen Abgelöbnis zu verschonen“, kein Gehör fand, wandte er sich direkt an den sächsischen Kurfürsten und polnischen König mit der Bitte, die Söhne in der reformierten, die Töchter in der lutherischen Religion erziehen zu dürfen. Dem Schreiben lag eine schriftliche Einverständniserklärung seiner Verlobten bei. Dumont argumentierte, dass eine solche Regelung doch „nach der im römischen Recht, bei Verheiratung derer Personen von unterschiedlichen in doch nach denen Reichsgesetzen erlaubten Religionen“ Konvention sei. Die erfolgte Ausnahmeregelung des Konsistoriums wurde damit begründet, dass weder er noch seine Verlobte gebürtig aus Kursachsen stammten.258 Um eine solche Dispens bemühte sich im Jahre 1702 auch der katholische Händler Hilarius Musacci, ursprünglich aus Neapel, der seit einigen Jahren in Dresden wohnte und Handel trieb. Musacci wandte sich an das Oberkonsistorium und bat um eine Ehedispens, um seine Verlobte, die lutherische Christiane Sophie Duschin, heiraten zu können.259 Dispensationen für Mischehen wurden grundsätzlich nur gewährt, wenn ausreichend Religionssicherheiten vorlagen, die die lutherische Erziehung aller Kinder garantierten. Hilarius Musacci widersetzte sich dieser Forderung allerdings und verlangte stattdessen, die Söhne katholisch wie der Vater, die Töchter lutherisch wie die Mutter – „so wie es auch an anderen Orten üblich sei“ – erziehen zu dürfen. Die Dispensation wurde verweigert und der Fall wurde an den Geheimen Rat verwiesen. Angesichts dieser Umstände schien Musaccis Ehegesuch wenig Erfolg beschert gewesen zu sein, lehnte er doch weiter die lutherische Erziehung seiner Kinder ab. Die Risiken, die er bereit war, auf sich zu nehmen
256 HStAD, Geh. Archiv, Consistorialsachen, loc 7442 (1749–1752). 257 Weinmeister, Beiträge zur Geschichte, S. 180. 258 HStAD, Geh. Archiv, Consistorialsachen, Loc. 7442 (1749–1752). 259 Verheirathung unter verschiedener Personen von ungleicher Religion A. 1700–1709. HStAD loc 4587, fol. 17 r–l (Gesuch um eine Dispens von Musacci, 23. Januar 1703).
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einschließlich des Geschäftsausfalls angesichts seiner Wartezeit, den er bereits beklagte, zeigt, wie entscheidend der Schutz des religiösen Gewissens in einer Mischehe und die Machtverteilung unter den Eheleuten war. Die Aufzucht aller Kinder unter alleiniger Aufsicht seiner lutherischen Frau, wie vom Oberkonsistorium entsprechend der Landesgesetze zu Mischehen gefordert und unter Eid bekräftigt werden sollte, war für Musacci untragbar.260 In einem ausführlichen Brief an den Kurfürsten und König von Polen breitete er seine Gründe aus. Die Forderungen des Konsistoriums bedeuteten für ihn einen Gewissenszwang. Es gebe in Dresden viele Mischehen in allen gesellschaftlichen Schichten, aber keiner von ihnen würde Ähnliches abverlangt. Musacci appellierte an den König, der wie er Katholik sei, und bat ihn als Glaubensgenossen um Vermittlung. Ähnliche Argumentationsmuster finden sich auch in anderen Fällen, in denen sich katholische Untertanen an den König, nach 1722 auch an die katholische Prinzessin als Glaubensverbündete wandten. Aus Gewissensgründen forderte Musacci weiter, privat in seinem Hause heiraten zu dürfen.261 Über die Einstellung der Verlobten, Christiane Sophie gibt es keine Aufzeichnungen. Ihr Vater jedoch hatte – ebenfalls mit Verweis auf das religiöse Gewissen – verlangt, dass Musacci unter Eid schwur, alle Kinder lutherisch aufzuziehen.262 Die Dispens wurde nur unter der Bedingung gewährt, dass sich der Händler sowohl bereit erklärte, seine mündlichen Beteuerungen, den Kindern keinen Gewissenszwang anzutun und sie bis zur Volljährigkeit lutherisch erziehen zu lassen, als auch seine Familie außer im Kriegsfall nicht an einen katholischen Ort zu bringen, zu beeiden und damit eine juristisch stichhaltige Religionsversicherung abzugeben. Weitere Gesuche um Dispens zeugen von dem Willen der Paare, auf der einen Seite eigene religiöse Vorstellungen in der Ehe verwirklichen zu können, auf der anderen Seite die Ehe trotz Schwierigkeiten eingehen zu wollen und schließlich von der kompromisslosen Haltung des Oberkonsistoriums in dieser Sache. Wie weit sich der Landesherr in allen Einzelfällen an die Landesgesetze zu Mischehen hielt oder Ausnahmen von der Dispenspraxis billigte, lässt sich aufgrund der Aktenlage nicht mehr im Detail rekonstruieren. Allerdings erlaubt die Analyse der politischen und rechtlichen Auseinandersetzung mit Konflikten in Mischehen einen Einblick in das Verhältnis von Oberkonsistorium und Geheimen Rat in Kursachsen sowie in ihre jeweils eigenen Kompetenzen und durchaus unterschiedlichen Prioritäten im Umgang mit solchen Streitpunkten.
260 Ebd., fol. 28r–29l und fol. 33r–34l. 261 Ebd., fol. 40r–41l. 262 Ebd., fol. 38r–l.
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b) K onversion und väterliche Gewalt: der katholische Witwer Dionysios Baum und seine evangelisch-lutherische Tochter Maria Johanna Anfang Oktober 1722 suchten der Rats-Actuarius und Stadtwachtmeister Rothe mit zwei Wächtern und drei Bauern den ehemaligen königlichen Kammerdiener Dionysios Baum auf seinem Gut zu Prink bei Dresden auf.263 Rothe befragte den katholischen Gutsherrn nach seinen Plänen, seine evangelisch-lutherische Tochter Maria Johanna in ein katholisches Kloster zur weiteren Erziehung schicken zu wollen. Als Baum mit dem Hinweis, dass er als königlicher Bediensteter nicht der Jurisdiktion der Stadt unterliege, jegliche Aussage verweigerte, postierte Rothe kurzerhand Wachen zum Schutz des Mädchens vor den Türen und zog wieder ab. Hintergrund dieser Maßnahme war ein Bericht des Superintendenten Dr. Valentin Ernst an den Stadtrat gewesen, aus dem hervorging, dass Baum ernste Pläne hegte, seine Tochter gegen ihren Willen zur katholischen Religion zu bewegen und sie deshalb in ein Kloster einweisen wollte. Da ganz offensichtlich ein Fall von Periculum in mora (Gefahr im Verzug) vorlag, entschloss sich der Stadtrat gewissermaßen interimistisch zum Schutz eines evangelischen Untertanen sofort zu handeln, ohne einen Befehl des Geheimen Rats abzuwarten. An einem Samstagmittag, als Dionysios Baum sich nicht zu Hause aufhielt, erschien Stadt-Actuarius Rothe erneut auf dem Gut, dieses Mal in Begleitung eines Stadtmagistrats sowie drei „Bauergerichten“.264 Sie unterzogen das Mädchen einem „formalen Inquisition Process“265 gegen ihren Vater. Aufgrund der sich abzeichnenden Ereignisse hatte der Rat eine solche Befragung für nötig befunden, um herauszubekommen, „ob sie bey der lutherischen Religion verbleiben wollte“.266 Da sie dies bejahte, sah sich der Rat in seinem Vorgehen bestätigt. Baum beschwerte sich später darüber, „so an einem unschuldigen Kind, wel ches weder eine Hure noch Diebin noch Mörderin ist, denn auf solche Arth verfährt man mit solchen Leuten“, umzugehen, ansonsten hätte er von einer solchen „Inquisition und procedur noch niemahlen gehört“.267 Auch sei durch diese Befragung „das Recht des Vaters über mein Kind“ verletzt worden.268 An anderer Stelle hatte Baum argumentiert, dass er als Vater das Recht habe, nach eigener Konversion zum Katholizismus seine Tochter ebenfalls in diesem Glauben erziehen zu können und sie ihm Gehorsam schuldig sei.269 Dieser Meinung wurde von
263 HStAD, Geheime Cantzley, loc 4555 (1722), 264 HStAD, Geheime Cantzley, loc 4555, fol. 22r (1722). 265 Ebd. 266 Ebd., fol. 27l. 267 Ebd., fol. 17l. 268 Ebd. 269 Ebd., fol. 29r.
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Seiten des Konsistoriums begegnet, dass die väterliche Gewalt sich nicht auf ein Kind erstrecken würde, das bereits die annos discretionis erreicht habe. Ein Vater also auch nicht das Recht für sich beanspruchen könne, die eigene Tochter gegen ihren Willen zum Glaubenswechsel zu zwingen. In einer solchen Situation würde eine Evangelisch lutherische Obrigkeit wider Gewissen handeln [...], wenn sie einer solchen Persohn, welche in Furcht lebet, vom Vater weggeführet und zur Annehmung Römisch Catholischen Religion verleitet zu werden, Schutz und Hülffe [...] versagen zu wollen.270
Entsprechend bat der Superintendent den König in einem persönlichen Schreiben um Zustimmung, das Kind vor dem Vater in Sicherheit bringen zu dürfen und handelte damit so, wie in dem oben vorgestellten Gutachten zur Frage nach den Grenzen der väterlichen Gewalt über die eigenen Kinder in Glaubenssachen empfohlen wurde.271 Die Befragung hatte nämlich ergeben, dass der Vater sie wider ihren Willen in ein römisch-katholisches Kloster schaffen wollen, auch zu dem Ende einige Tage zuvor ihre Sachen bereits habe einpacken lassen und ihr befohlen, sich zur Kirche fertig zu machen, und obwohl derselbe sein Vorhaben hernachen in etwas geändert, so wusste sie die Tochter das nicht, wie weit ihm zu trauen wäre.272
Bereits im September des gleichen Jahres hatte das Mädchen ihre Paten eingeschaltet, als der Vater ihr gegen ihren Wunsch weiter verweigerte, das heilige Abendmahl in der lutherischen Gemeinde zu feiern, sie im Haus verschlossen hielt, dem lutherischen Ortspfarrer den Zugang verweigerte und den Glaubenswechsel androhte.273 In seiner Not hatte sich Dionysios Baum sofort mit einem Memorial an die katholische Prinzessin Maria Josepha, Ehefrau des nächsten sächsischen Kurfürsten und polnischen Thronfolgers, gewandt und von ihr Schutz und Rechtshilfe erbeten. Dieser Schritt zog das Unbehagen und den Ärger des Geheimen Rats nach sich, als dieser schließlich ebenfalls von den Vorfällen in Kenntnis gesetzt wurde. Nachdem Kabinettsminister und Reichsgraf August Christoph von Wackerbarth (1662–1734) durch Baum über die Ereignisse informiert worden war, übernahm er und mit ihm der Geheime Rat die Führung im weiteren Umgang mit dem Konflikt. Zunächst wurden alle beteiligten Amtsträger, der Bürgermeis-
270 Ebd. 271 Ebd. 272 Ebd., fol. 28r. 273 Ebd., fol. 33l.
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ter von Dresden, der Superintendent und der Präsident des Oberkonsistoriums zur Berichterstattung einbestellt. Bei seiner nächsten Zusammenkunft befasste sich der Geheime Rat mit dem Fall. Vorab verlangte allerdings von Wackerbarth nach Absprache mit zwei weiteren anwesenden Geheimräten dem Bürgermeister das Versprechen ab, die Wachen vom Gut des ehemaligen Kammerdieners sofort wieder abzuziehen. Die Akten wurden schließlich an den Kurfürsten und polnischen König nach Warschau geschickt, um Anweisungen zur weiteren Vorgehensweise zu erhalten. Von dort wiederum wurden zunächst weitere Nachforschungen angeordnet. Interessant in diesem Zusammenhang ist nicht nur die Tatsache, dass lokale Amtsträger ohne eine Anordnung des Geheimen Rats abzuwarten, politische Entscheidungen in einem Fall trafen, der nach Auffassung des Rats ein „statum publicum“ darstellte und schwerwiegende Konsequenzen nach sich ziehen konnte, sondern auch die Argumente, mit denen die einzelnen Amtsträger im Nachhinein noch ihr „eigenmächtiges Handeln“ rechtfertigten. Schließlich werden im Verlauf der Auseinandersetzung eindeutige Unterschiede in der Bewertung des Vorfalls und den angemessenen obrigkeitlichen Reaktionen darauf deutlich. Darum soll es abschließend gehen. Rechtlich problematisch war zunächst eine Reihe von Punkten. Dazu gehörte, dass sich der Stadtmagistrat zu Dresden die Jurisdiktion über einen ehemaligen königlichen Bediensteten angemaßt hatte. Weiter moniert wurde vom Geheimen Rat, dass der Magistrat ohne Befehl des eigentlich zuständigen Forums, nämlich des Geheimen Rates und der Landesregierung, in einer so delikaten Angelegenheit tätig geworden war. Der Magistrat hatte auf Anordnung des Superintendenten gehandelt, der wiederum in Abwesenheit des Präsidenten des Oberkonsistoriums Anweisungen gegeben hatte. Schließlich wurde Baum vorgeworfen, dass er sich grundlos sofort an die Prinzessin anstatt den Geheimen Rat gewandt habe, bevor ihm überhaupt Recht in der Sache widerfahren konnte. Der Stadtmagistrat räumte angesichts der geäußerten Kritik ein, zunächst Bedenken gehabt zu haben, dem Ansinnen des Superintendenten zu folgen und das Mädchen in so massiver Form durch Abstellung von Wachen zu schützen. Nach genauer Untersuchung des Sachverhalts hätte der Stadtrat allerdings die drohende Gefahr des bevorstehenden Gewissenszwangs bestätigt gefunden und sich aus Verantwortung zu sofortigem Handeln veranlasst gesehen. [...] wenn auch besagter Rath in modo precedendi verstoßen hätte, selbigen doch ein solches bey solcher der Sache Beschaffenheit, und da zur Genüge bekannt ist, daß wann sich ein
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dergleichen Casus an einem katholischen Orte begeben sollte, daselbsten viel härter verfahren werden würde.274
Aufgabe der Wachen sei es gewesen, mit „aller Behutsamkeit Obsicht zu halten, damit niemand an der Baumschen Tochter sich vergreiffen und selbige an einen andern Orth wegschaffen möchte“.275 Das Gut zu Prink liege in einem Dorf, über das dem Stadtrat „das Ober- und Erbgericht zustünde“. Die Maßnahmen seien ergriffen worden in Erwegung Eur. Königl. Majest, durch die im Land emanirten Versicherungen, niemand in der Evangelischen Religion gekränket wissen wollten, auch in denen Religions Frieden solcher hauptsächlich versehen wäre, und dero Ober Consistorium ermittelst der Verordnung fol. 7 ihnen beigetreten.276
Vor allem nach Bekanntwerden der über mehrere Jahre geheim gehaltenen Konversion des kursächsischen Thronfolgers 1717 und seiner bevorstehenden Ehe mit der katholischen Kaisertochter Maria Josepha277 wurden in Kursachsen erneut Ängste unter den Lutheranern vor Rekatholisierungsmaßnahmen geschürt und erneute Religionsversicherungen des Landesherrn zur Wahrung des Status quo abverlangt. Diese Stimmung spiegelt sich in dem Verhalten und der Argumentation des Dresdner Stadtrats wider. Dass der Superintendent sowie das Oberkonsistorium es als eine Gewissenspflicht ansahen, eine Glaubensangehörige selbst vor dem eigenen Vater zu schützen, ist weniger verwunderlich. Aufschlussreich ist allerdings, dass in Verhalten und Argumentation die strenge gesetzlich vorgeschriebene Handhabung von Mischehen und der Schutz von Kindern von zum Katholizismus konvertierter Eltern, vor allem die Überwachung der lutherischen Kindererziehung, hier in der praktischen Anwendung nachvollziehbar wird. Das Oberkonsistorium verstand seine Aufgabe offensichtlich darin, auch weltliche Amtsträger gemäß den Vorgaben der Mischehegesetze zur Überwachung von Untertanen einzuspannen, wenn ein begründeter Verdacht auf Gewissenszwang oder Zwangsbekehrung vorlag. Und weltliche Amtsträger, wie in diesem Fall der Stadtmagistrat und Bürgermeister von Dresden, leisteten solchen Aufforderungen Folge, wenn sich der Verdacht erhärtete.
274 Ebd., fol. 34l–35r. 275 Ebd., fol. 32l–33r. 276 Ebd., fol. 33r. 277 Kretzschmar, Geschichte der Neuzeit, S. 272. Kretzschmar verweist auf die landesweite politische Verunsicherung und auf die Proteste, die die Konversion des Thronfolgers und die damit verbundene Angst vor einer Rekatholisierung ausgelöst hatte.
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Diese Amtsauffassung teilten die Mitglieder des Geheimen Rats allerdings ganz und gar nicht und forderten vom Präsidenten des Oberkonsistoriums, der vor den Rat zitiert worden war, in Zukunft mit vergleichbaren Fällen, „die zumahl in statum publicum mit einschlagen und allerhand nachtheilige Consequenzien nach sich ziehen können“ behutsamer umzugehen und keine Schritte einzuleiten, bevor nicht der Geheime Rat davon Kenntnis erhalten und Anordnungen getroffen habe.278 Der Fall endete mit einem Schreiben des Königs und Kurfürsten Friedrich August I. vom 16. November 1722 an die Landesregierung und an das Oberkonsistorium, in dem die Durchsicht der zugesandten Akten sowie die Einholung weiterer Informationen erwähnt wurden mit dem Ergebnis, dass festgestellt worden sei „alles, was in den ad Acta gebrachten Registraturen steht, habe sich als falsch erwiesen, die Baumsche Tochter auch schriftlich bezeugete, daß was ihrem Vater wegen eines Gewissenszwanges beygemeßen werden wollen, ungegründet sey“. Immerhin wurde zugestanden, dass sich die Sache ursprünglich anders dargestellt habe und die Landesregierung sowie das Oberkonsistorium in Zukunft „auch bey unserem Evangelischen Geheimen Consilio, als auch welches ihr in dergleichen Sachen ohnedies hauptsächlich angewisen seyd, geziehemnde Anfrage gethan und von daher Befehl erwartet“.279 Angesichts der zuvor attestierten Aussagen lässt die unerwartete Umdeutung des Geschehens viele Fragen offen und provoziert Spekulationen, dass hier ein ehemaliger königlicher Bediensteter, der zum Katholizismus konvertiert war, unter den besonderen Schutz des katholischen Hofes gekommen war, was wiederum nicht ungewöhnlich wäre. c) K onversion, Religionszugehörigkeit von Kindern und Vormundschaft: die zum katholischen Glauben konvertierte Witwe Marie Elisabeth Anecken und ihre evangelisch-lutherische Tochter Weniger Unterstützung erfuhr die Witwe Marie Elisabeth Anecken, als sie sich Anfang 1722 mit einer Bittschrift an die kursächsische Landesregierung und schließlich 1724 an den König persönlich wandte280 und die Rückgabe ihres Kindes verlangte, das vom Rat der Stadt Dresden in ein evangelisches Waisenhaus eingewiesen worden war, „damit er nicht auch verbothener Religion mögte von der Mutter verführet und gebracht werden“.281 Marie Elisabeth war vor zwei Jahren zum katholischen Glauben übergetreten. Nach Schilderung der Mutter
278 HStAD, Geheime Cantzley, loc 4555, fol. 41r–41l (1722). 279 Ebd., fol. 43r. 280 HStAD loc 9836, fol. 7 und fol. 17r-l (1717/1724) 281 Ebd., fol. 5l.
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war ihr elfjähriger Sohn Georg Friedrich auf offener Straße von einem ihrer Verwandten ergriffen und anschließend vom Rat der Stadt Dresden in das Waisenhaus gebracht worden.282 Der Geheime Rat ordnete an, die Hintergründe des Vorgangs zu ermitteln und schickte bereits am 9. März des Jahres einen ausführlichen Bericht sowie ein „Gutachten“ über die Supplikantin an den Kurfürsten und König mit der Bitte um Anweisungen zum weiteren Verfahren.283 Die Nachforschungen hatten ergeben, dass der Junge am 15. Januar 1722 dem Wärter des Waisenhauses laut Registratur übergeben worden war. Sein Vater war ein Buchdruckergeselle, der „wegen seines Eheweibes bösen Lebens sich abstentirete“ und unauffindbar war, auch die Großmutter, bei der sich der Junge aufgehalten hatte, „der Armuth halber“ den Jungen nicht versorgen konnte. Die Verwandten hatten sich um die Aufnahme ins Waisenhaus bemüht, „damit er von seiner Mutter die sich vor zwei Jahren zu einer anderen Religion gewendet, nicht auch zu solcher gebracht würde“.284 Dem Stadtrat sei im Übrigen das „böse Leben“ der Anecken nicht unbekannt, da sie bereits 1717 wegen Unzucht angeklagt worden war und 1720 ihre leibliche Mutter sie wiederum vor dem Stadtgericht wegen Unzucht verklagt hatte. Der Akte liegt ein mehrere Seiten starkes Protokoll über die Vernehmung des Jungen im Alter von sechs Jahren über den Lebenswandel der Mutter bei, der im weiteren Verfahren im Mittelpunkt stand. Der Junge „wird befraget, warum er außer dem Bette liegen müssen?“.285 Der Junge beschrieb, dass er normalerweise das Bett seiner Mutter teilen würde, aber immer, wenn ein Mann namens Klumm kam, musste er in einem Loch unter einem Bogen in der Wand direkt neben dem Bette liegen. Der Mann hätte sich ausgezogen, auch die Hosen, und die Kleider auf ihn geworfen, „daß er sich erwärmen sollen“. Auch seine Mutter wäre bis auf das Hemd unbekleidet gewesen. Andere Herren, teils in grauen, teils in zerrissenen Kleidern, wären gekommen und hätten sich im Laden mit Branntwein betrunken und mit der Mutter zu tun gehabt. Nur einmal sei ein „schöner herr“ darunter gewesen „mit reinen Kleidern“, welcher der Mutter Geld geben wollte, das sie aber nicht angenommen hätte. Nach den Aussagen des Jungen hatte die Mutter regelmäßig Besuch von Männern, allerdings nur Klumm blieb über Nacht, und auch nur dann musste das Kind das Bett verlassen. Die Tatsache, dass der Junge Zeuge dieser Vorgänge geworden war und der Lebenswandel der Frau wurden in dem weiteren Verfahren als Begründung herangezogen, um die Einweisung des Kindes in das Waisen-
282 Ebd., fol. 7. 283 Ebd., fol. 80. 284 Ebd., fol. 9r. 285 Ebd., fol. 1r (1717).
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haus zu rechtfertigen. Der Vorwurf, dies sei aus religiösen Gründen geschehen, wurde strikt zurückgewiesen und den Bitten der Mutter wurde weiter kein Gehör geschenkt. Wie auch für die Kurpfalz gezeigt, wurde hier durch die Obrigkeit einem Elternteil die Fähigkeit zur Kinderaufzucht abgesprochen unter Verweis auf den devianten Lebenswandel. Im weiteren Verfahrensverlauf wurde die Klage der Mutter vollständig ignoriert, dass mit der Einweisung des Jungen in ein Waisenhaus zugleich sein Glaubenswechsel zur Landeskonfession vollzogen wurde, statt im Glauben der Mutter weiter erzogen zu werden. Angesichts der Aktenlage lässt sich nicht endgültig klären, ob der streng lutherische Magistrat der Stadt Dresden hier mit dem Vorwurf der Devianz eine Strategie verfolgte, um das Kind vor dem Übertritt zum Katholizismus zu bewahren, oder ob die Mutter die Konfession ins Spiel brachte, um die Stadtobrigkeit, die Landesregierung und schließlich den König selbst politisch unter Druck zu setzen. Dass derartige Fälle immer wieder Aufsehen und politische Irritationen über die eigenen Territorialgrenzen hinaus erreichten, wird in den nachfolgenden Konflikten, die vor den Reichsgerichten ausgefochten oder dem Corpus Evangelicorum vorgetragen wurden, noch deutlicher.286
286 Siehe Kapitel V.
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Glaube – Liebe – Zwietracht
5 R eligionskonflikte in Mischehen – Ein Politikum auf Reichsebene Religionskonflikte in Mischehen, das ist bereits in den vorangegangenen Kapiteln deutlich geworden, waren nicht nur eine familiäre Angelegenheit, sondern sie hatten immer auch eine politische und konfessionspolitische Dimension, in der die lokale, die territoriale und die Reichsebene ineinandergriffen. Das zeigte sich zum einen an dem aufwendigen Aktenversand an theologische und juristische Fakultäten, an der Einbeziehung der Reichsgerichte in lokale und territoriale Konflikte1, an Verweisen lokaler und territorialer Amtsträger auf Vergleichsfälle an den Reichsgerichten und schließlich an der Einschaltung des Corpus Evangelicorum als Schutzmacht für die Rechte der Protestanten im Heiligen Römischen Reich. Mit der Einschaltung des Corpus Evangelicorum wurde nicht nur der politische Druck auf die Konfliktparteien verstärkt, sondern lokale Religionskonflikte erhielten eine reichspolitische Dimension durch den Vorwurf, die Reichsreligionsgesetze würden verletzt werden.2 So wurden unter Verweis auf den Westfälischen Friedensvertrag die Verletzung religiöser Gewissensfreiheit und eines einmal festgelegten religiösen Status quo in der Familie – etwa die religiöse Erziehung der Kinder – dargestellt als Bedrohung der religiösen Gewissensfreiheit und des religiösen Status quo auf Reichsebene.3 Bei diesen im Ursprung innerfamiliären Religionskonflikten ging es im Verlauf der Auseinandersetzungen nicht nur um eine rechtliche Klärung der Vorwürfe, sondern die Religionskonflikte wurden zu einem Politikum auf Reichsebene stilisiert. Durch die Publikation der
1 Allgemein dazu der Forschungsüberblick in Edgar Liebmann, Reichs- und Territorialgerichtsbarkeit im Spiegel der Forschung, in: Anja Amend-Traut/Anette Baumann, Stephan Wendehorst/ Siegrid Westphal (Hrsg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 52). Köln/Weimar/Wien 2007, S. 151–172. 2 Freist, Zwischen Glaubensfreiheit und Gewissenszwang; Dagmar Freist, Between Conscience and Coercion: Mixed Marriages, Church, Secular Authority, and Family, in: Mary Lindemann/ David Luebke (Hrsg.), Mixed Matches: Transgressive Unions in Early Modern Germany. New York/Oxford 2014, S. 185–212; in eine ähnliche Richtung argumentiert Andreas Kalipke, „Weitläufftigkeiten“ und „Bedencklichkeiten“; vgl. auch Frank Kleinhagenbrock, Die Erhaltung des Religionsfriedens: konfessionelle Konflikte und ihre Beilegung im Alten Reich nach 1648, in: Historisches Jahrbuch 126 (2006), S. 135–156; Peter Brachwitz, Die Autorität des Sichtbaren. Religionsgravamina im Reich des 18. Jahrhunderts (Pluralisierung & Autorität, Bd. 23). München 2011. 3 Dagmar Freist, Der Fall von Albini – Rechtsstreitigkeiten um die väterliche Gewalt in konfessionell gemischten Ehen, in: Siegrid Westphal (Hrsg.), In eigener Sache. Frauen vor den höchsten Gerichten des Alten Reiches. Köln/Wien 2005, S. 245–270.
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Beschwerden wurde gezielt an eine Öffentlichkeit appelliert, die über die Funktionsträger an Gerichten und Ämtern hinausging. Der performative Appell an eine imaginierte Öffentlichkeit sowie intratextuelle Referenzen an ähnliche Religionskonflikte belegen, dass eine Öffentlichkeit nicht nur angerufen wurde, sondern verweisen auch auf eine Aufmerksamkeit, die diesen Konflikten offenkundig gezollt wurde.4 Konflikte, die in religiös-konfessionell gemischten Ehen auftraten und vor die Reichsgerichte, das Corpus Evangelicorum, den Reichstag oder den Kaiser gebracht wurden, entsprangen fast ausschließlich dem Streit um die Erziehung der Kinder in religiös-konfessionell gemischten Familien. Dieser Streit konnte bereits zu Lebzeiten beider Eltern entstehen. Konflikte entwickelten sich häufig jedoch auch nach Ableben eines Elternteils, wenn es um die zukünftige Erziehung der Waisen ging, auf die Vormünder und Geistliche, mitunter auch Landesherren, Einfluss zu nehmen trachteten. Die tatsächliche oder befürchtete Entführung von Kindern spielte in nahezu allen Fällen eine zentrale Rolle. Kern der Konflikte war der Vorwurf, ursprünglich getroffene Abmachungen zur konfessionellen Erziehung der Kinder verletzt zu haben. Aufgabe der Gerichte war somit festzustellen, ob die Erziehung der Kinder den Grundsätzen für die konfessionelle Unterweisung von Kindern aus gemischten Ehen entsprach oder ob gegen diese Grundsätze verstoßen worden war. Dabei galt, wie bereits dargestellt, der 1650 in Nürnberg gefasste Beschluss, nach dem die väterliche Gewalt allein ausschlaggebend für die Konfessionsbestimmung der Kinder sein sollte, es sei denn, Landesgesetze sahen eine andere Regelung vor oder in Eheverträgen war die Konfession der Kinder hiervon abweichend festgelegt worden. Mündliche „Eheberedungen“ oder die bis zum Ausbruch des Konflikts nachweisbare Praxis der konfessionellen Kindererziehung, die in einigen Fällen ins Spiel gebracht wurden, konnten aufgrund der fehlenden Rechtsverbindlichkeit nicht anerkannt werden. Die Beweisaufnahme gestaltete sich oft äußerst schwierig, da aufgrund des offenen Streits zwischen katholischen und protestantischen Reichsständen über ein angemessenes Konversionsalter von Kindern5 die Frage, ob ein Konfessionswechsel von Kindern bis zu einem bestimmten Alter überhaupt zulässig sein konnte, ungelöst geblieben war. Darüber hinaus bedeutete es für die Reichsrichter ein schier unmögliches Unterfangen, in Erfahrung zu bringen, ob die Konversion der Kinder freiwillig oder unter Zwang erfolgt war. Zur Beweisaufnahme wurden
4 Zur medialen Sichtbarkeit der Religionskonflikte vgl. Brachwitz, Die Autorität des Sichtbaren, S. 15–59. 5 Vgl. Kapitel I.
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regelmäßig kaiserliche Kommissionen eingesetzt, die, teilweise in Kooperation mit den Reichskreisen6, vor Ort ermitteln und Berichte erstellen sollten. Entsprechend dramatisch und detailliert gestalteten sich oftmals die Schilderungen der Kläger oder Klägerinnen über Gewalt, die den Kindern in diesem Zusammenhang angetan worden war. Erschwerend für das Verfahren war weiterhin, dass die Gesetzgebung zu Mischehen partikularrechtlich bestimmt und in der Praxis stets umstritten war aufgrund der unvereinbaren Positionen der Konfessionen untereinander und in ihrem Verhältnis zu den Landesgesetzen. Die Kläger beriefen sich nicht selten auf konkurrierende und damit widersprüchliche Rechtslagen, nach denen sie die konfessionelle Unterweisung der Kinder ausgerichtet hätten. Schließlich unterminierten unverhohlen konfessionspolitische Interessen und Einflussnahmen immer wieder den Rechtsfindungsprozess und erschwerten eine objektive Urteilsfindung. Die Forschung hat zu Recht Fragen nach den politischen Einflussmöglichkei ten auf Reichskammergerichtsprozesse und nach dem ständischen Charakter des Reichskammergerichts im Unterschied zum Reichshofrat gestellt sowie auf das Ringen um Unabhängigkeit und Parität verwiesen.7 Gleichzeitig wurde die wachsende Bedeutung des Reichshofrats im Streben des Kaisers nach einer Konzentration aller noch vorhandenen Einfluss- und Machtmittel seit Ende des 16. Jahrhunderts hervorgehoben.8 Eine Verbindung politischer und rechtlicher Einwirkungsmöglichkeiten des Kaisers im Reich war in diesem Zusammenhang naheliegend.9 Dem Reichshofrat wurde von protestantischer Seite wiederholt vorgeworfen, ein Verfahren bei Mischehestreitigkeiten so lange herauszuziehen, bis der Fall juristisch wirkungslos geworden war, da die Kinder zwischenzeitlich ein Alter erreicht hätten, in dem sie frei über ihren Glauben verfügen konnten
6 Allgemein dazu Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637–1657). Köln/Wien/Weimar 2001, S. 39–47. 7 Vgl. beispielsweise Ruthmann, Das richterliche Personal am Reichskammergericht, S. 1–26; zum ständischen Charakter Barbara Stollberg-Rilinger, Die Frühe Neuzeit – eine Epoche der Formalisierung?, in: Andreas Höfele/Jan-Dirk Müller/Wulf Oesterreicher (Hrsg.), Die Frühe Neuzeit. Revisionen einer Epoche (Pluralisierung & Autorität, Bd. 40). Berlin/Boston 2013, S. 3–27. Für einen Forschungsüberblick vgl. Edgar Liebmann, Reichskammergericht und Reichshofrat in der historischen Forschung 1866 bis zur Gegenwart, in: Jahrbuch der Juristischen Zeitgeschichte 6 (2004/2005), S. 81–103. 8 So etwa die Thesen von Patrick Milton zu gezielter politischer Einmischung des Kaisers durch Interventionen mithilfe des Reichshofrats. Patrick Milton, Intervening Against Tyrannical Rule in the Holy Roman Empire during the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: German History 33/1 (2015), S. 1–29. 9 Ehrenpreis, Die Tätigkeit des Reichshofrats, S. 30.
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und aufgrund der ins Land gegangenen Jahre die Bekehrung der Kinder ohnehin längst vollzogen worden war.10 Mit diesem Vorwurf wandte sich das Corpus Evangelicorum beispielsweise im Streit um die konfessionelle Erziehung des Sohnes der Familie von Aufsess in einem „Intercessional Schreiben“ an den Kaiser, und verwies auf die Gefahren, die ein solches Verhalten des Reichshofrats nicht nur für die Mutter, sondern auch für die religiöse Freiheit evangelischer Untertanen im Reich bedeute, für die angesichts solcher Prozessverschleppung „wenig Trost und Schutz übrig“ bleibe. Weiter hieß es: Letztern Falls aber möchte es bey nahe scheinen als wäre die Sache durch ungleiche Vorstellungen schon ein gantzes Jahr lang aufgehalten worden man auch selbige fernerhin zu verzögern gemeynet biß etwann das kind annos pubertatis und discretionis überkomme und sich so dann itziger Education zur Folge gleichsam freywillig in effectu aber gezwungen und dahero der Mutter ja Evangelicis überhaupt wohl abermahls zu verdencken wann sie zu Beybehaltung der theuren im Reiche darauf beharren daß zu förderst mit Beyfall aller Rechte vermittelst Re-Exhibition des Kindes die sache wiederum in denjenigen Stand gesetzet werde in welchem sie sich vor des Kindes Land= und Religions Friedens brüchiger Entraubung befunden.11
Diese Mischung konfessioneller und politischer Parteinahme und Situationsdramatik von Mischehekonflikten mit dem Vorwurf der Kindsentführung erschwerte nicht nur die Arbeit der Reichsgerichte, sondern gelangte häufig gezielt im Umfeld des Reichstags durch die Unterstützung von Gesandten an eine breitere Öffentlichkeit.12 Auch dies erschwerte naturgemäß das Bemühen um eine objektive Lösung der Fälle.
5.1 Mischehen zwischen Politik, Recht und Öffentlichkeit 5.1.1 R eichsgerichte, Reichstag und Corpus Evangelicorum – Kompetenzen und Strategien Für ein Verständnis dafür, wie auf Reichsebene mit Mischehekonflikten umgegangen wurde, sind die jeweiligen Zuständigkeiten von Reichshofrat und
10 Näheres dazu unten bei den Einzelfallstudien. 11 Allerunterthänigstes Intercessional Schreiben an Ihro Röm. Kayserl. Majestät vom Corpore Evangelicorum sub dato Regensburg den 12. Juli 1729, in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Teil 55, Ulm 1730, Kap. 1, S. 63–72, hier S. 69. Für eine ausführliche Schilderung des Falles vgl. unten. 12 Für Beispiele vgl. unten.
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Reichskammergericht, die Rolle des Corpus Evangelicorum und schließlich den im 18. Jahrhundert zu beobachtenden wachsenden Rekurs an den Reichstag als gewissermaßen „neutrale Instanz“ auf dem Hintergrund „kaiserlich-ständischer Rivalität um Verfassungskompetenzen“13 sowie der „faktischen Verköniglichung beider Reichsgerichte“14 von Bedeutung.15 Zunächst stellt sich die Frage nach der theoretischen und tatsächlichen Zuständigkeit der Reichsgerichte bei konfessionell geprägten Streitigkeiten zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert. Vor beiden Reichsgerichten wurden Religionsprozesse geführt und entschieden, allerdings war die Jurisdiktion von Reichskammergericht und Reichshofrat in geistlichen Sachen nicht unumstritten, vor allem was Ehesachen betraf. Dies traf weniger die Katholiken als die Protestanten, unterstanden katholische Eheleute doch aufgrund des Sakramentscharakters der Ehe eindeutig der geistlichen Jurisdiktion, während die Ehe im protestantischen Eherecht eine weltliche Sache darstellte und demnach weltlicher Gerichtsbarkeit unterstellt war.16 Die protestantischen Reichsstände wehrten sich allerdings gegen die Verhandlung von Ehesachen vor den Reichsgerichten und rechtfertigten ihre ablehnende Haltung mit der Suspension geistlicher Jurisdiktion. Die Reichsgerichte seien überwiegend, der Reichshofrat nahezu ausschließlich, mit katholischen Räten besetzt, die, selbst der katholischen Gerichtsbarkeit in geistlichen Angelegenheiten unterstellt, nicht über evangelische Ehesachen befinden dürften. Für das Reichskammergericht fasste Moser die Debatte mit den Worten zusammen „es ist und bleibet also die Regel: Das Cammergericht hat ordentlicher Weise in eigentlichen Ehesachen nicht zu sprechen, und zwar es mag Evangelische oder Catholische Betreffen: Doch leidet dieselbige Abfälle.“17 Im Bericht der Reichskammergerichtsvisitation von 1713 erregte ein Passus den Unwillen von Kaiser Karl VI. (1685–1740), in dem der parteiische Umgang
13 Ehrenpreis, Die Tätigkeit des Reichshofrats, S. 28. 14 Duchhardt, Das Reichskammergericht, S. 11. 15 Für einen Überblick über die thematische Vielfalt der Forschung zur höchsten Reichsgerichtsbarkeit sowie Interdependenzen zwischen den verschiedenen Organen vgl. Stefan Ehrenpreis, Gerichtskollegien, Verfahren und juristische Parteien: Neue Forschungen zur Reichsgerichtsbarkeit 2000–2014, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 37 (2015), S. 143–154 sowie die Einleitung in Alexander Denzler/Ellen Franke/Britta Schneider (Hrsg.), Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen. Höchstgerichtsbarkeit in der Mitte Europas vom 15. bis 19. Jahrhundert. München 2015, S. 1–29, jeweils mit weiterführender Literatur. 16 Vgl. Kapitel I. 17 Johann Jacob Moser, Von der Teutschen Justiz=Verfassung, S. 726 (Neues Teutsches Staatsrecht, Teil 8.I., 2. Hälfte).
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mit Religionssachen, darunter auch Ehesachen, vor dem Reichskammergericht zu Gunsten der Katholiken moniert wurde, verbunden mit der Forderung, unter Beobachtung der Reichsgesetze „ohnpartheyische Justiz“ zu administrieren.18 In einem Kommissionsdekret vom 24. Mai 1719 verurteilte der Kaiser den Beschluss des Corpus Evangelicorum als einseitig und erklärte ihn für nichtig. Die „in re et forma ungebührliche Schrift“ widerspräche der kaiserlichen Autorität sowie der „des gesammten Reichs innerliche[n] Verfassung“.19 Das Corpus Evangelicorum wies die Vorwürfe in einem Vorstellungsschreiben an den Kaiser vom 8. April 1720 zurück – der Bericht sei auf spezielle Instruktion der Prinzipalkommissare verfasst worden – und klagte erneut über die einseitige Rechtsprechung am Reichskammergericht zu Lasten der Evangelischen. Dabei kam zum wiederholten Mal die Frage der Reichsgerichtsbarkeit in Ehesachen über Protestanten zur Sprache.20 „Nachdeme aber dieser geistliche Gerichtsbarkeit über die Evangelische suspendiert worden, würden die Evangelischen schlechten Nutzen davon haben, wenn sie sich hingegen denen Reichs=Gerichten darinn untergeben sollten.“21 In zunehmend schärferen Ton wird katholischen Reichskammerrichtern von verschiedener Seite nicht nur die Kompetenz, sondern auch die Fähigkeit zur Rechtsprechung in geistlichen Sachen abgesprochen: Am wenigsten komme Catholischen Gerichts=Personen, die selbst unter der Geistlichen Gewalt stehen, und deren nicht fähig, ja nicht einmal im Stande seyen, in diversis principiis nach denen Evangelischen Gründen gewissenhaft zu urtheilen, oder zu richten, zu, sich hierunter etwas anzumassen.22
Die Zuständigkeit des Reichshofrats bei Streitfällen in geistlichen Sachen war in der juristischen Literatur im 16. und 17. Jahrhundert umstritten. In seiner Funktion als oberster Richter und als Reichsoberhaupt war der Kaiser verpflichtet, den Land- bzw. Reichsfrieden zu wahren und demnach befugt, kraft autoritate
18 Conclusorum in Conferentia Evangelicorum Wetzlariae die 19. Dec. 1713. Die Jurisdictionem Cameralem in Ecclesiasticis und Cammer-Richterliche Votum decisivum betreffend, in: Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 1, S. 285–286, hier S. 286; Moser, Von der Teutschen Justiz = Verfassung, S. 796–797. 19 Ebd., S. 799. 20 Allerunterthänigste Vorstellung an Kayserl. Majestät. Wegen des von denen Evangelischen tempore ultimae Visitationis Cameralis gemachten und von Kayserl. Majestät null und nichtig declarirten Conclusi, die Jurisdictionem Cameralem in Ecclesiasticis- und Cammer=Richterliche Votum decisivum betreffend. Regensburg 8. April 1720, in: Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 1, S. 286–292. 21 Moser, Von der Teutschen Justiz = Verfassung, S. 800. 22 Ebd.
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Caesarea auch in Ehesachen mithilfe einer kaiserlichen Kommission zu vermitteln. Die protestantischen Reichsstände argumentierten, dass „gleichwie die Catholischen weder schuldig noch willig seyen, in Ehe=Sachen vor denen höchsten Reichs=Gerichten Recht zu nehmen und zu geben, also auch ihnen nichts dergleichen zugemuthet werden könne“.23 Anders war es mit sogenannten „Neben=Puncten“, also Streitfällen, die sich aus Ehestreitigkeiten ergeben konnten, aber nicht geistlicher Natur waren, sondern zum Zivilrecht gehörten. Dazu zählten auch Konflikte, die sich aus religiös-konfessionell gemischten Ehen ergeben konnten, namentlich über die religiöse Erziehung der Kinder. Zusammenfassend für beide Reichsgerichte kann in Anlehnung an Schauroths Sammlung aller Beschlüsse des Corpus Evangelicorum festgehalten werden „um zwischen beyderseits Religions=Verwandten Gleichheit zu halten, sollen die Reichs=Gerichte keine Geistliche= und Ehe=Sachen an sich ziehen“.24 Wie verhielt es sich aber mit den Reichsgerichten in der Praxis? a) Reichskammergericht Mit der Gründung des Reichskammergerichts 1495 wurde bekanntlich ein in Europa einmaliges Zentralgericht zur Wahrung des Landfriedens geschaffen, das aus der Opposition der Stände gegen das Königtum erwachsen und auch räumlich losgelöst vom Königshof eindeutig ständisch ausgerichtet war.25 Damit wurden die Weichen gestellt für eine Aufteilung der zentralen Gerichtshoheit zwischen Kaiser und Reichsständen, auch wenn einzelne Kaiser immer wieder versuchten, das Reichskammergericht unter ihre Kontrolle zu bringen.26 Das Gericht war in erster Instanz zuständig für Klagen wegen Landfriedensbruchs. Neben der Landfriedenswahrung bewährte sich das Reichskammergericht als erste Instanz zum Schutz von Individualrechten und spielte eine wichtige Rolle bei der Konfliktregulierung auf rechtlichem Weg. Dies zeigte sich vor allem in den sogenannten Untertanenprozessen27, sowie in Prozessen von Reichsunmittelbaren gegen-
23 Ebd., S. 729. Für weitere Beschwerden vgl. Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 1, S. 765 und S. 767, Bd. 2, S. 102. 24 Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 3. Register (Religions-Gravaminum Abdruck), S. 101. 25 Duchhardt, Das Reichskammergericht, S. 3. Zuletzt auch Stollberg-Rilinger, Die Frühe Neuzeit – eine Epoche der Formalisierung? 26 Bernhard Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem Alten Reich. Denkwürdige Prozesse vor dem Reichskammergericht. München 1995, S. 16. 27 Zu den sogenannten Untertanenprozessen vgl. Winfried Schulze, Bäuerlicher Widerstand und feudale Herrschaft in der frühen Neuzeit. Stuttgart/Bad Cannstatt 1980; ders. (Hrsg.), Aufstände, Revolten, Prozesse. Beiträge zu bäuerlichen Widerstandsbewegungen im frühneuzeitlichen Eu-
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einander. Dass auch andere gesellschaftliche Konfliktherde wie beispielsweise Ehrhändel vor das Reichskammergericht gelangten, hat die Forschung gezeigt.28 Als Appellationsinstanz kam dem Reichskammergericht eine gewisse Kontrollfunktion über territoriale oder reichsstädtische Obergerichte zu, bei Klagen wegen Rechtsverweigerung oder Rechtsverzögerung fungierte es zudem als Kon trollinstanz über Untergerichte.29 Es ist vor allem den Arbeiten von Bernhard Diestelkamp zu verdanken, dass das Reichskammergericht nicht nur als For schungsfeld wiederentdeckt wurde, sondern vor allem auch, dass die lange vorherrschende Sicht über die Wirkungslosigkeit dieses Gerichts als „Spielball in der politischen Auseinandersetzung zwischen Kaiser und Reichsständen“ einer kritischen Revision unterzogen wurde. Inzwischen gibt es eine interdisziplinär ausgerichtete, thematisch breit angelegte Reichsgerichtsforschung.30 Entscheidend für Religionskonflikte in Mischehen ist der rechtliche Umgang mit diesen Konflikten am Reichskammergericht, die sich aufgrund religiöser oder konfessioneller Differenzen ergaben. Die konfessionspolitischen Voraussetzun-
ropa. Stuttgart 1983; Werner Trossbach, Widerstand als Normalfall: Bauernunruhen in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein 1696–1806, in: Westfälische Zeitschrift 135 (1985), S. 25–111; ders., Bauern 1648–1806 (Enzyklopädie Deutsche Geschichte, 19). München 1993; Karl S. Bader/Gerhard Dilcher, Deutsche Rechtsgeschichte. Land und Stadt. Bürger und Bauern im Alten Europa. Berlin u.a. 1999; Rita Sailer, Untertanenprozesse vor dem Reichskammergericht. Rechtsschutz der Obrigkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert. (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 33). Köln/Wien/Weimar 1999 sowie jüngere Arbeiten insbesondere zu Juden vor den Reichsgerichten, u.a. Andreas Gotzmann/Stefan Wendehorst (Hrsg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Zeitschrift für Historische Forschung Beiheft 39 (2007); Stefan Ehrenpreis/Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hrsg.), Kaiser und Reich in der jüdischen Lokalgeschichte (Bibliothek Altes Reich, 7). München 2013. 28 Vgl. exemplarisch Ralf-Peter Fuchs, Um die Ehre. Westfälische Beleidigungsprozesse vor dem Reichskammergericht 1525–1805. Paderborn 1999, sowie folgende Forschungsberichte: Karl Härter, Neue Literatur zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, in: Jus Commune 21 (1994), S. 215–240; Siegrid Westphal/Stefan Ehrenpreis, Einleitung: Stand und Tendenzen der Reichsgerichtsforschung, in: Anette Baumann/Siegrid Westphal/Stephan Wendehorst/Stefan Ehrenpreis (Hrsg.), Prozessakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich. Köln u.a. 2001, S. 13; Ehrenpreis, Gerichtskollegien, Verfahren und juristische Parteien; Denzler, Einleitung, in: Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen. 29 Adolf Laufs, Reichskammergericht, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4. Berlin 1990, S. 655–662. 30 Vgl. vor allem Bernhard Diestelkamp, Das Reichskammergericht im Rechtsleben des 16. Jahrhunderts, in: Hans Jürgen Becker/Gerhard Dilcher/Gunter Gudian/Wolfgang Sellert (Hrsg.), Rechtsgeschichte als Kulturgeschichte. Festschrift für Adalbert Erler zum 70. Geburtstag. Aalen 1976, S. 435–480. Für einen Überblick über die aktuelle Forschung mit weiterführender Literatur vgl. Ehrenpreis, Gerichtskollegien, Verfahren und juristische Parteien und Denzler, Einleitung, in: Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen.
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gen mit Blick auf die konfessionelle Ausrichtung der Kammerrichter und Assessoren sprachen eher gegen ausgewogene Entscheidungsfindungen. Vor 1648 gab es keine konfessionelle Bindung für die Assessorate, so dass es abhängig von der Präsentationsstruktur (Kurfürsten und kreisausschreibende Fürsten) und der Annahmepraxis am Reichskammergericht zu erheblichen Fluktuationen in der Konfessionsverteilung kam.31 Bis in die 1530er Jahre wurde das ursprünglich rein katholische Reichskammergericht von den Protestanten wegen Befangenheit abgelehnt. Im Regensburger Reichsabschied von 1541 wurden die gegen die Protestanten gerichteten Religionsprozesse und Achterklärungen suspendiert und die Präsentation evangelischer Assessoren gestattet. Damit gewann das Gericht in der zweiten Jahrhunderthälfte das Vertrauen der evangelischen Reichsstände.32 Seit 1560 wurden die Reichskammergerichts-Senate, die eigens eingesetzt wurden, um Religionsstreitigkeiten zu schlichten, paritätisch nach Konfessionen besetzt. In der Praxis führte das allerdings häufig zu Pattsituationen, paria vota, was eine Lähmung der Gerichtstätigkeit zur Folge hatte. Dieser Problematik sowie erneuten Beschwerden der Protestanten seit 1576 über die Parteilichkeit der Reichsgerichte bei Konfessionsstreitigkeiten verbunden mit Forderungen nach numerischer Parität mit den Katholiken33 wurde im Westfälischen Friedensvertrag vorab durch die Festschreibung numerischer Parität von Katholiken und Protestanten bei der Besetzung von Reichsinstitutionen begegnet.34 Eine umfassendere Reform der Reichsgerichtsbarkeit wurde allerdings auf den nächsten Reichstag verschoben. Konkret bedeuteten die Vorgaben des Friedensvertrags, dass „auf ordentlichen Reichstagen die Zahl der Deputierten der Stände beider Bekenntnisse gleich sein“ sollte.35 Außerordentliche Kommissionen, die sich mit Reichsgeschäften befassten, sollten je nach Konfliktparteien entweder nur mit
31 Ruthmann, Das richterliche Personal am Reichskammergericht, S. 93 (mit Angaben zur Konfessionsverteilung). Zur Präsentation von Assessoren am Reichskammergericht und am Reichshofrat vgl. Wolfgang Sellert, Die Bedeutung der Reichskreise für die höchste Gerichtsbarkeit im alten Reich, in: Peter Claus Hartmann (Hrsg.), Regionen in der Frühen Neuzeit. Berlin 1994, S. 145–78, bes. S. 165–170. Für eine Erfassung des Personals Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter. Verfassung und Sozialstruktur eines höchsten Gerichts im Alten Reich. Köln/Weimar/Wien 2011. 32 Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem Alten Reich, S. 22–23. Vgl. zur Rekusation des Reichskammergerichts durch die protestantischen Reichsstände auch Albrecht Pius Luttenberger, Glaubenseinheit und Reichsfriede. Konzeptionen und Wege konfessionsneutraler Reichspolitik 1530–1552. (Kurpfalz, Jülich, Kurbrandenburg). Göttingen 1982, S. 35–37 und S. 64. 33 Heinz Duchhardt, Der Kampf um die Parität im Kammerrichteramt zwischen Augsburger Religionsfrieden und 30-jährigem Krieg, in: Archiv für Reformationsgeschichte 69 (1987), S. 201–218. 34 IPO Art. V, §§ 51–57. Vgl. etwa in: Buschmann, Kaiser und Reich, S. 331–336. 35 IPO Art. V, § 51.
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Angehörigen einer Konfession oder paritätisch besetzt werden.36 Für Religionssachen wurde die Stimmenmehrheit verboten. Stattdessen wurde verlangt, den Streit durch einen gütlichen Vergleich beizulegen.37 Die Zahl der Assessoren am Reichskammergericht sollte auf 50 erhöht werden. Den katholischen Reichsständen waren 26 Assessoren vorbehalten einschließlich der beiden, deren Präsentation dem Kaiser oblag. Die Reichsstände der Augsburger Konfession konnten 24 Assessoren präsentieren. Reichskreise mit gemischtem Bekenntnis wurden verpflichtet, neben zwei katholischen auch zwei Angehörige der Augsburger Konfession vorzuschlagen.38 Im Verlauf der Friedensverhandlungen waren die protestantischen Gesandten von ihrer ursprünglichen Forderung nach einer konfessionellen Alternation an der Spitze des Reichskammergerichts abgerückt, um wenigstens bei den Assessoren und (Senats-) Präsidenten numerische Parität zu erreichen.39 In der Praxis wurde allerdings aus Finanznot und aufgrund des Prestigeverlusts des Gerichts weder die absolute Zahl der Assessoren noch die konfessionelle Parität erreicht. Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert griff der Kaiser zudem durch Visita tionen und durch eine gezielte Personalpolitik stärker in das Gefüge des Reichskammergerichts ein, wodurch das ohnehin geschwächte Gericht weiter an Eigenständigkeit zu verlieren drohte.40 Zwischen 1670 und 1767 hatten sich die Konfessionsparteien mit Vorwürfen der Parteilichkeit des Reichskammergerichts mindestens 81mal an den Reichstag gewandt, wobei etwa dreifünftel der Beschwerden vom Corpus Evangelicorum vorgetragen wurden, die verbleibenden zweifünftel betrafen Beschwerden des Corpus Catholicorum.41 Die Rechtsprechung konnte im besten Fall „eine Milderung der konfessionellen Konflikte“ bewirken, was einem formalen Vergleich der Parteien oder zumindest einer „langandauernden Schwebelage“, in der die Streitfrage ruhte, entsprach.42 Zu den strittigen Jurisdiktionsrechten, die im Kontext der Mischehekonflikte von Interesse sind, zählte insbesondere die im Augsburger Religionsfrieden festgeschriebene Suspension der geistlichen Jurisdiktion, wobei der
36 Ebd. 37 IPO Art. V, § 52. 38 IPO Art. V, § 53. 39 Duchhardt, Der Kampf um die Parität, S. 215–216. 40 Duchhardt, Das Reichskammergericht, S. 10. 41 Ebd., S. 101. Zur unbedeutenden Rolle des Corpus Catholicorum in der Medialisierung von Religionskonflikten vgl. Brachwitz, Die Autorität des Sichtbaren, S. 60–96. 42 Bernhard Ruthmann, Die Religionsprozesse am Reichskammergericht (1555–1648). Eine Analyse anhand ausgewählter Prozesse (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 28). Köln/Wien/Weimar 1996, S. 578.
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Interpretationsrahmen dieser Bestimmung von Katholiken und Protestanten unterschiedlich weit gefasst wurde. In der Praxis entstanden vor allem durch die Wiederbelebung der Offizialatsgerichte im Zuge der katholischen Konfessionalisierung Kompetenzstreitigkeiten über die richterliche Zuständigkeit unter anderem in Ehesachen, die vor dem Reichskammergericht ausgetragen wurden. Auch nach 1648 kamen religiöse oder konfessionelle Streitigkeiten vor das Reichskammergericht. Gemäß einer von Kaiser Karl VI. am 31. Mai 1721 angeforderten Liste anhängiger Religionssachen wurden 28 Religionsprozesse zwischen 1658 und 1721 am Reichskammergericht geführt43, wobei zu berücksichtigen ist, dass in dem Zeitraum zwischen 1704 und 1710 aufgrund interner Konflikte um die Benennung der beiden Senatspräsidenten gar keine Prozesse eingegangen waren.44 Eine aussagekräftige Zusammenstellung über die einzelnen Inhalte der Prozesse in Form von Inventarbänden ist weit fortgeschritten und wird statistische Erhebungen erleichtern45; die bislang vorliegenden statistischen Erhebungen beruhen lediglich auf den Einträgen der Findbücher, die naturgemäß nur begrenzt aussagekräftig sind.46 Insgesamt wurden am Reichskammergericht im 18. Jahrhundert nach einem anfänglichen jährlichen Volumen von 400 Prozessen durchschnittlich etwa 200 neue Prozesse im Jahr angestrengt.47 Für die Durchsetzung von Urteilen waren die Reichskreise zuständig. Das Verfahren am Gericht war seit 1495 durch mehr als fünfzehn Reichskammergerichtsordnungen gesetzlich geregelt, deren bedeutendste die von 1555 war. Darüber hinaus wurde die weitere Ausgestaltung des Gerichts durch Reichs-, Deputations- und Visitationsabschiede geformt.48 Die Grundlage des Kameralprozesses bildeten die Maximen des römisch-kanonischen Gerichtsverfahrens. Dazu zählt die Schriftlichkeit des Verfahrens. Ohne die verfahrenstechnischen
43 Ebd., S. 10, Anm. 32. 44 Diestelkamp, Rechtsfälle aus dem Alten Reich, S. 24; Anette Baumann, Das Reichskammergericht in Wetzlar (1693–1806) und seine Prokuratoren, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte GA 115 (1998), S. 474–497, hier S. 476. 45 Denzler, Einleitung, in: Prozessakten, Parteien und Partikularinteressen, S. 9. 46 Vgl. Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 36). Köln/Wien/Weimar 2001, Anhang IV, S. 170–171. 47 Filippo Ranieri, Die Arbeit des Reichskammergerichts in Wetzlar, Kontinuität und Diskontinuität im Vergleich zur Speyrer Zeit (Schriftenreihe der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, 4). Wetzlar 1988, S. 11. 48 Wolfgang Sellert, Prozeß des Reichskammergerichts, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4. Berlin 1990, S. 30–35, hier S. 30.
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Einzeleinheiten an dieser Stelle abhandeln zu wollen, sollen zumindest die drei zentralen Verfahrensarten, namentlich das Zitations-, das Appellations- und das Mandatsverfahren kurz benannt werden, da diese Anwendung in Mischehekonflikten vor Gericht fanden. Das Appelationsverfahren nutzte das Reichskammergericht als Berufungs- und Kontrollinstanz der territorialen Gerichte.49 Wurde das Reichskammergericht erstinstanzlich angerufen, gab es das ordentliche Zita tionsverfahren, in dem ein Rechtsstreit umfassend entschieden wurde, und den außerordentlichen Mandatsprozess, der eine vorläufige Regelung darstellte.50 Das Mandatsverfahren als summarischer Prozess unterlag Sonderregelungen und hatte das Ziel, den vielfältigen Möglichkeiten der Prozessverschleppung, die die anderen Verfahren boten, entgegen zu wirken. Unterschieden wurde zwischen dem bedingten Mandat, mandatum cum clausula justificatoria und dem unbedingten Mandat, mandatum sine clausula justificatoria. Die Verschiedenheit der Verfahren ergab sich aus dem Ausmaß der zugestandenen Verteidigungschancen.51 In Streitfragen um die Erziehung von Kindern aus Mischehen wurde von den Klägern beziehungsweise deren Vertretern wiederholt ein unbedingtes Mandatsverfahren gefordert unter Berufung auf einen der vier Fälle, nach denen dieses Verfahren zulässig war, namentlich da Gefahr im Verzug sei, ob periculum in mora. b) Reichshofrat Im Unterschied zum Reichskammergericht war die Funktion des Reichshofrats aufgrund seiner unmittelbaren Stellung unter der Oberhoheit des Kaisers nicht nur rechtlicher, sondern auch politischer Natur.52 Während für das Reichskammergericht zumindest in den Reichskammergerichtsordnungen durch entsprechende Bestimmungen versucht wurde, die Unabhängigkeit des Gerichts vom Kaiser sowie Überparteilichkeit zu garantieren, so wurde für den Reichshofrat die Machtstellung des Kaisers als oberstem Richter explizit festgeschrieben.53 Der
49 Annette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse: eine sozialgeschichtliche Untersuchung zum 17. und 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 36). Köln/Wien/Weimar 2001, S. 62. 50 Ebd., S. 61. 51 Michael Hinz, Mandatsprozess, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 3. Berlin 1984, S. 232–240. 52 Sellert, Die Bedeutung der Reichskreise, S. 159. Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806. Wien 1942. 53 Wolfgang Sellert, Richterliche Unabhängigkeit am Reichskammergericht und am Reichshofrat, in: Otto Behrends/Ralf Dreier (Hrsg.), Gerechtigkeit und Geschichte. Symposium zum 65. Ge burtstag von Malte Diesselhorst. Göttingen 1996, S. 118–132.
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Kaiser allein ernannte und entließ die Reichshofräte und hatte als oberster Richter das Recht, durch die sogenannte vota ad imperatorem selbst in einen anhängigen Rechtsstreit einzugreifen oder dem Geheimen Rat zur Stellungnahme vorlegen zu lassen, bevor ein endgültiges Urteil gesprochen werden konnte.54 Zwar wurde von den Reichsständen versucht, die direkte Einflussnahme des Kaisers auf das Prozessgeschehen durch entsprechende Bestimmungen in einzelnen Wahlkapitulationen einzuschränken, oder zumindest die Praxis des votum decisivum, der Urteilsfindung durch den Kaiser ohne Hinzuziehung von Mitgliedern des Reichshofrats, zu verhindern, doch allen Vorstößen in diese Richtung war nur geringer Erfolg beschieden und der Kaiser handelte sich den Vorwurf ein, den Reichshofrat zu reiner Kabinettsjustiz zu missbrauchen.55 Neben der Rechtsprechung bewältigte der Reichshofrat bis Ende des 16. Jahrhunderts auch „ein beachtliches Maß an politischer Tagesarbeit“.56 Die Richtlinien über die Verfassung des Reichshofrats finden sich in den vom Kaiser erlassenen Reichshofratsordnungen sowie in einzelnen Wahlkapitulationen.57 Im Unterschied zum Reichskammergericht gründete sich das Verfahren am Reichshofrat nicht auf eine rechtlich detaillierte Verfahrensordnung, selbst nicht nach 1648, als im Westfälischen Friedensvertrag explizit die Verfassung einer Reichshofratsordnung in Anlehnung an die Reichskammergerichtsordnung gefordert wurde.58 In der Reichshofratsordnung von 1654, die die Zuständigkeiten des Reichshofrats abschließend regelte, wurde lediglich wiederholt, dass die Reichshofräte nicht an „unnöthige Gerichts-Solemnia gebunden sein, sondern vielmehr auf den gemeinen Nutzen und Förderung der heilsamen Justiz“ achten sollten.59 Die geforderte Anlehnung an die Reichskammergerichtsordnung wurde reduziert auf die Aussage, dass der Reichshofrat von der Reichskammergerichts-
54 Wolfgang Sellert, Der Reichshofrat, in: Bernhard Diestelkamp (Hrsg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 29). Köln/Wien/Weimar 1996, S. 15–44, hier S. 29. 55 Ebd. 56 Sellert, Die Bedeutung der Reichskreise, S. 159; ders., Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens. Aalen 1973, S. 44. 57 von Gschließer, Der Reichshofrat, S. 65; vgl. auch Wolfgang Sellert, Die Ordnungen des Reichshofrats 1550–1766 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 8). 2 Halbbde. Köln/Wien 1980/1990. 58 IPO Art. V, § 55. Sellert, Prozessgrundsätze, S. 42–44 und S. 50, S. 59–77. 59 Zitiert nach Wolfgang Sellert, Prozess des Reichshofrats, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 4. Berlin 1990, Sp. 22–29, hier Sp. 23.
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ordnung nur „in substantialibus requisitis processus nicht abweichen“ sollte.60 Strittige Rechtsfälle wurden häufig nicht auf rechtlichem Weg, sondern politischdiplomatisch gelöst. Neben dem summarischen Prozess, hier vor allem in der Form des mandatum sine clausula, bildete der sogenannte Kommunikationsprozess, processus communicativus, eine Besonderheit am Reichshofrat. Nach der Klageerhebung erfolgte statt der Ladung zunächst eine vorprozessuale Klärung, indem weitere Informationen und Beweisstücke eingeholt wurden mit dem Ziel, den Rechtsstreit im Vorfeld beizulegen.61 1617 wurden am Reichshofrat die Audienzen abgeschafft und es herrschte von da an ein absolutes Schriftlichkeitsprinzip. Der Klagestoff war in einfacher Geschichtserzählung vorzubringen, und erst nach Vorbringung eines schlüssigen Sachverhalts hatte eine Klage Aussicht auf Erfolg.62 Ein weiteres wichtiges Kennzeichen der gerichtlichen Aktivitäten des Reichshofrats und zugleich ständiger Streitpunkt zwischen Kaiser und Ständen waren kaiserliche Kommissionen, hier vor allem Untersuchungs- und Vergleichskommissionen, die vom Reichshofrat zu jedem Zeitpunkt eines Verfahrens eingesetzt und auch wieder aufgelöst werden konnten und die strittige Sachverhalte vor Ort untersuchten.63 Die überwiegend nicht gelehrten Mitglieder genossen umfangreiche gerichtliche Befugnisse und versahen ihre Aufgaben im Namen des Kaisers und an seiner Stelle.64 In seinem Selbstverständnis als oberster Richter verstand sich der Kaiser und mit ihm der Reichshofrat zugleich als Schutzherr und nahm für sich in Anspruch, zugunsten bedrängter Fürsten, Stände oder Untertanen zu intervenieren65 und als Mediator aufzutreten.66 Dass diese Interventionen nicht immer auf Gegenliebe stießen, ist bekannt. Die zunehmende Bedeutung der Reichshofratsjurisdiktion seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert sowie die unmittelbare Einmischung des Kaisers in reichsständische Auseinandersetzungen mit Hilfe von Kommissionen
60 Ebd. 61 Ders., Kommunikationsprozess, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, Bd. 2. Berlin 1978, Sp. 987–988. 62 Ders., Prozess des Reichshofrats, Sp. 25. 63 Ders., Prozessgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF, 18). Aalen 1973, S. 194–216. 64 Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers, S. 39–47; Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648–1806 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, 43). Köln/ Wien/Weimar 2002. 65 Patrick Milton, Intervening Against Tyrannical Rule in the Holy Roman Empire during the Seventeenth and Eighteenth Centuries, in: German History 33/1 (2015), S. 1–29, S.4. 66 Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung, S. 180–248.
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erweckten den Unmut vor allem protestantischer Reichsstände.67 Einen Teilerfolg errangen sie 1596, als Kaiser Rudolf II. (1552–1612) in einem Dekret zugestand, dass gegen Entscheidungen einer Kommission an das Reichskammergericht appelliert werden durfte. Nur in Fällen, in denen der Reichshofrat ausschließlich zuständig war, behielt sich der Kaiser die letzte Entscheidung vor. In den ausschließlichen Zuständigkeitsbereich des Reichshofrats fielen die Sachen, die zu den sogenannten Reservatrechten des Kaisers gehörten, namentlich die Erteilung und Aberkennung kaiserlicher Privilegien, die Standeserhöhungen, die Volljährigkeitserklärung, die Erteilung von Schutz- und Schirmbriefen und die Bekräftigung der Primogenitur, wobei letztere auch in den Rechtsbereich des Reichskammergerichts fallen konnte.68 Aufgrund der Machtstellung des Kaisers und der besonderen Verfahrensart am Reichshofrat wurde nicht nur die Rechtsmäßigkeit des Reichshofrats als Gerichtsstand in einzelnen Verfahren angezweifelt, sondern auch die Überparteilichkeit des Gerichts. Umfangreiche Gravamina wurden an den Kaiser geschickt mit der Aufforderung, auch evangelische Reichshofräte zu benennen.69 Lagen Entscheidungen weltlicher oder geistlicher Rechtsstreitigkeiten am Reichshofrat an, so die Bestimmungen des Westfälischen Friedensvertrags, und entstand Stimmengleichheit zwischen paritätisch besetzten konfessionellen Blöcken, so „sollte die ganze Streitsache vor einen allgemeinen Reichstag“ gebracht werden.70 Verliefen die Meinungsverschiedenheiten jedoch quer zu den konfessionellen Blöcken, sollte der Streit nach der Reichskammergerichtsordnung entschieden werden. Auf dem Reichstag 1654 wurde schließlich in Anlehnung an die Bestimmungen des Westfälischen Friedensvertrags auf Drängen der protestantischen Reichsstände beschlossen, die Zahl der Reichshofräte evangelischer Konfession auf insgesamt sechs festzusetzen. Wurden geistliche und weltliche Rechtssachen erörtert, an denen Parteien beider Konfessionen beteiligt waren, so sollten gleich viele Beisitzer aus beiden Konfessionen herangezogen werden. Die Stimmen aller evangelischer Reichshofräte, vorausgesetzt, sie votierten einmütig, sollten ebenso viel Gewicht haben wie die der katholischen Räte. Bei Stimmengleichheit sollte der Fall allerdings dem Kaiser zur Entscheidung vorgelegt werden.71 Da in der Praxis diese Vorgaben so gut wie nie berücksichtigt wurden, rissen die
67 Ehrenpreis, Die Tätigkeit des Reichshofrats, S. 34; Sellert, Prozessgrundsätze, S. 200–202. 68 Wolfgang Sellert, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF, 4). Aalen 1965, S. 107–111. 69 Ehrenpreis, Tätigkeit des Reichshofrats, S. 34; Sellert, Prozessgrundsätze, S. 202. 70 IPO Art. V, § 56. 71 von Gschließer, Der Reichshofrat, S. 74–76.
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Beschwerden der protestantischen Reichsstände über ihre Benachteiligung auch im 18. Jahrhundert nicht ab. Zunehmend strittig waren auch die kaiserlichen Jurisdiktionsrechte und das Verhältnis von Reichshofrat und Reichskammergericht. Die protestantischen Reichsstände waren darauf bedacht, zum einen die Kompetenzen des Reichskammergerichts nicht zu schmälern, zum anderen dem Reichshofrat nicht selbst „die Definitionsmacht über seine konkurrierende Kompetenz zum Reichskammergericht“ zu überlassen.72 Im Kern ging es darum, wem die Interpretation nicht nur sich widersprechender Reichsgesetze, sondern vor allem auch des von widerstreitender Auslegung geprägten Religionsfriedens zugesprochen werden sollte. Da die weitgehende Entmachtung des kaiserlichen Amtes politisch nicht durchsetzbar war, im Gegenteil, der Kaiser seit Ende des 17. Jahrhunderts seinen politischen Einfluss im Reich auszubauen verstanden hatte, blieb für die Konfliktparteien schließlich nur der Weg an den Reichstag und an eine größere Öffentlichkeit, um eine konfessionell einseitige Interpretation des Reichsfriedens zu umgehen.73 c) Reichstag und Öffentlichkeit Das Ausmaß der politischen Wirksamkeit und der Eigenständigkeit des Reichstags im 18. Jahrhundert ist in der Forschung nach wie vor umstritten und soll hier zunächst an zwei älteren, gegensätzlichen Positionen skizziert werden. Zu nennen ist auf der einen Seite Volker Press, der die Institution des Immerwährenden Reichstags nach 1663 als Forum zur Verstärkung des kaiserlichen Einflusses im Reich interpretiert hat. Die Machtstellung des Kaisers gründete sich nach Press auf die erfolgreiche Organisation eines Gesandtschaftswesens, die Bedeutung der kaiserlichen Prinzipalgesandtschaft und seiner Satelliten am Reichstag und auf den Einfluss im Kurfürstenkolleg nach der Wiederzulassung Böhmens.74 Johannes Burkhardt dagegen sieht die Bedeutung der Permanenz des Reichstags
72 Ehrenpreis, Tätigkeit des Reichshofrats, S. 36. 73 Vgl. zur kaiserlichen Stellung Volker Press, Die kaiserliche Stellung im Reich zwischen 1648 und 1740. Versuch einer Neubewertung, in: ders. (Hrsg.), Das Alte Reich. Ausgewählte Aufsätze (Historische Forschungen, 59). Berlin 1997, S. 189–222. Press allerdings sieht selbst den Reichstag der Kontrolle des Kaisers durch den Prinzipalkommissar sowie die formalisierte Verfahrensweise unterworfen und damit geschwächt; zu der Bedeutung des Zeremonialwesens und der damit verbundenen politischen Schwächung des Reichstags vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider: Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reiches. München 2013. 74 Press, Die kaiserliche Stellung im Reich, S. 207–209; Anton Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags zu Regensburg. Ständevertretung und Staatskunst nach dem Westfälischen Frieden. Mainz 1991, S. 224–226.
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in einer „Verstetigung für die Institutionalisierung des Gremiums“, die von den Zeitgenossen allerdings erst im 18. Jahrhundert positiv gewürdigt worden sei.75 Die Tatsache, dass der Reichstag keine Reichsabschiede vorlegte, was seine Auflösung bis zur Wiedereinberufung bedeutet hätte, sondern sich regelmäßig beratend und durch Reichsschlüsse mit zentralen Fragen der Reichspolitik befasste, „sicherte dem Reichstag auch für die Zukunft die oberste Verfassungskompetenz“ zu, eine Funktion, die durch die Appellationen von den Reichsgerichten an den Reichstag „zur authentischen Gesetzesauslegung“ noch verstärkt wurde.76 Die jüngere, am Ansatz der politischen Kultur orientierte Reichstagsforschung kommt ebenfalls zu unterschiedlichen Bewertungen über die politische Relevanz und Wirkmächtigkeit des Reichstags.77 So hat Barbara Stollberg-Rilinger argumentiert, dass der Reichstag aufgrund einer durch ständige Zeremonialkonflikte geprägten Krise als Institution weitgehend an politischer Bedeutung verloren habe, was sich etwa an der Entsendung von Diplomaten niederen Ranges zeige.78 Studien zu informellen politischen Handlungen und Austauschprozessen im Umfeld des Reichstag79, zum Aufbau von Klientelnetzwerken80, um bestimmte politische Prozesse zu beeinflussen, sowie zu Ämterverzeichnissen81 konnten dagegen aufzeigen, dass der Reichstag in Regensburg durchaus als Ort politischer Einflussnahme und Gestaltungsmöglichkeit genutzt wurde. Insbesondere jüngere Studien zu Arbeitsweisen des Reichstags und zur gezielten Instrumen-
75 Johannes Burkhardt, Verfassungsprofil und Leistungsbilanz des immerwährenden Reichstags. Zur Evaluation einer frühmodernen Institution, in: Heinz Duchhardt/Matthias Schnettger (Hrsg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum. Mainz 1999, S. 151–183, hier S. 154 und S. 159. 76 Ebd., S. 160; Aretin, Das Alte Reich, Bd. 1, S. 135. Grundlegend zum Immerwährenden Reichstag Schindling, Die Anfänge des Immerwährenden Reichstags. 77 Für einen aktuellen Forschungsüberblick vgl. Harriet Rudolph, Einleitung, in: dies./Astrid von Schlachta (Hrsg.), Reichsstadt – Reich – Europa. Neue Perspektiven auf den Immerwährenden Reichstag zu Regensburg (1663–1806). Regensburg 2015, S. 11–36. 78 Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider. 79 Anuschka Tischer, Der Immerwährende Reichstag als Forum öffentlicher Kriegsdiskurse in den ersten Jahrzehnten seiner Entstehung, in: Rudolph/von Schlachta (Hrsg.), Reichsstadt – Reich – Europa, S. 253–266. 80 Michael Rohrschneider, Klientelpolitik auf dem Immerwährenden Reichstag. Das Beispiel der Introduktion des Fürsten von Thurn und Taxis in den Reichsfürstenrat 1754, in: Rudolph/von Schlachta (Hrsg.), Reichsstadt – Reich – Europa, S. 139–152. 81 Volker Bauer, Der Rang des Reichstags im Rahmen von Fürstenherrschaft und Fürstengesellschaft: Auskünfte des Ämterverzeichnisses, in: Rudolph/von Schlachta (Hrsg.), Reichsstadt – Reich – Europa, S. 267–286.
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talisierung einer „Reichstagsöffentlichkeit“ 82 haben verdeutlicht, dass die politische Wirkmächtigkeit des Reichstags im 18. Jahrhundert wahrgenommen und auch genutzt wurde.83 Die verschiedenen Akteure beobachteten sich in ihrem politischen Handeln in einem durch Druckmedien hergestellten öffentlichen Raum.84 Welche Rolle eine solche „Reichstagsöffentlichkeit“ in den immer wieder auftretenden Konflikten um „authentische Gesetzesauslegung“ vor allem in konfessionellen Streitfragen spielte, ist im Unterschied zu anderen politischen Konflikten erst in Ansätzen erforscht.85 Einen Ansatz bietet die Auswertung der umfangreichen, in der Regel gedruckt vorliegenden Religions-Gravamina sowie der Berichte von Reichstagsgesandten an ihren Hof, in denen detailliert Religionskonflikte bis auf die lokale Ebene hinunter geschildert und die verschiedenen Konfliktparteien und konfessionspolitischen Positionen am Reichstag beschrieben wurden und um Handlungsanweisung gebeten wurde.86 Je nach Umfang der
82 Andreas Gestrich, Absolutismus und Öffentlichkeit: Politische Kommunikation in Deutschland zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1994; Volker Bauer, Nachrichtenmedien und höfische Gesellschaft, in: Johannes Arndt/Esther-Beate Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen 2010, S. 173–194. 83 Dagmar Freist, Öffentlichkeit und Herrschaftslegitimation in der Frühen Neuzeit: Deutschland und England im Vergleich, in: Ronald G. Asch/Dagmar Freist (Hrsg.), Staatsbildung als kultureller Prozess. Strukturwandel und Legitimation von Herrschaft in der Frühen Neuzeit. Köln/ Weimar/Wien 2005, S. 322–351, hier S. 344–349; Susanne Friedrich, Drehscheibe Regensburg. Das Kommunikations- und Informationssystem des Immerwährenden Reichstags um 1700 (Colloquia Augustana, 23). Berlin 2007; Arndt Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich; Johannes Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich 1648–1750. Göttingen 2013, bes. Teil 2. 84 Susanne Friedrich, Beobachten und beobachtet werden. Zum wechselseitigen Verhältnis von gedruckter Zeitung und Immerwährendem Reichstag, in: Holger Böhning/Volker Bauer (Hrsg.), Zeitung. Ein neues Medium und die Folgen (Presse und Geschichte – Neue Beiträge, 54). Bremen 2011, S. 159–178. 85 Vgl. die Fallstudie zu dem Konfessionskonflikt im Fürstentum Nassau-Siegen 1702–1743 in Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit, S. 395–429; Kalipke, „Weitläufftigkeiten“ und „Bedencklichkeiten“; Alexander Weber, Konfessionelle Konflikte nach dem Westfälischen Frieden: die Religionsbeschwerden der katholischen Kirche des Herzogtums Kleve im 18. Jahrhundert (Studien zur Geschichtsforschung der Neuzeit, 77). Hamburg 2013 sowie Brachwitz, Die Autorität des Unsichtbaren, S. 97 ff. 86 Zu dem durch das Direktorialamt Kursachsens bedingte umfangreiche Corpus von Berichten kursächsischer Reichstagsgesandter vgl. den Aufsatz von Andreas Kalipke, „Weitläufftigkeiten“ und „Bedencklichkeiten“.
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Fälle konnte eine Vertagung ihrer Behandlung auf dem Reichstag erwirkt werden, bis die Reichstagsgesandten Rückmeldungen ihrer Fürsten erhielten.87 Zensurrechtlich bietet Regensburg einen Sonderfall und ein hochspannen des Forschungsfeld, da den dort ansässigen Druckern durch ein Privileg 1709 gestattet war, alle für den Reichstag benötigten Schriften ohne Vorzensur drucken zu lassen.88 Dass in diesem Umfeld unter dem Deckmantel gesandtschaftlicher Erlaubnis auch Drucke entstanden, die mit der eigentlichen Tätigkeit der Gesandtschaften und dem Reichstag nichts oder nur am Rande zu tun hatten, ist wenig überraschend.89 Aber gerade diese publizistische Tätigkeit über die politische Agenda des Reichstags hinaus, verdeutlicht, dass der Immerwährende Reichstag wahrgenommen wurde als ein Ort, über den eine über den Reichstag hinaus gehende politische „Reichs-Öffentlichkeit“ imaginiert und durch den Druck von Nachrichten hergestellt wurde.90 Zu den Akteuren gehörten in dieser erweiterten Perspektive nicht nur die auf dem Reichstag vertretenen Stände und Gesandten, die durch gezielte Veröffentlichungen die politische Meinungsbildung zu beeinflussen suchten, sondern auch einfache Untertanen, die ihre Konflikte mit städtischen oder territorialen Obrigkeiten einer größeren Öffentlichkeit im Aufmerksamkeitsumfeld des Reichstages präsentierten. Eine detaillierte Rekonstruktion des Netzwerkes von Druckern und „Nachrichtenhändlern“ im Schatten der Zensur, wie sie für andere Städte im Umfeld frühneuzeitlicher Parlamente bereits vorliegt91, liegt für den Reichstag in Regensburg erst ansatzweise vor.92
87 Vgl. unten der Fall von Staritz. 88 Reichstägliche Verordnung wegen der von den Reichsgesandtschaften zum offenen Druck anlangenden Sachen vom 19. Oktober 1709. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserliche Aufsicht über Buchdruck, Buchhandel und Presse im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation (1496– 1806). Karlsruhe 1970, S. 51–52. 89 Ebd., S. 52. 90 Georg Schmid, Das Reich und Europa in deutschsprachigen Flugschriften. Überlegungen zur räsonierenden Öffentlichkeit und politischen Kultur im 17. Jahrhundert, in: Klaus Bußmann/Elke Anna Werner (Hrsg.), Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004, S. 119–148. 91 Vgl. für London Freist, Governed by Opinion, bes. S. 77–124; Arlette Farge, Subversive words: public opinion in eigtheenth-century France. Cambridge 1994; Robert Darnton, Poesie und Polizei: öffentliche Meinung und Kommunikationsnetzwerke im Paris des 18. Jahrhunderts. Frankfurt 2002. 92 Friedrich, Drehscheibe Regensburg, bes. Kap. 5; Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. bes. Tl. 2; Arndt/ Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich; Freist, Öffentlichkeit und Herrschaftslegitimation.
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Die Publikation von Beschwerdeschriften und deren Präsentation auf dem Reichstag sorgte regelmäßig für Verärgerung, wenn landesherrliche Interessen berührt waren, und verstieß, so der Vorwurf, gegen die üblichen Gepflogenheiten. So reagierte die Kurpfalz mit einem Pro memoria und mit der Anordnung zu öffentlicher Gegendarstellung auf den privat veranlassten Druck und die „öffentliche Austeilung“ der Beschwerdeschrift eines „sich so nennenden herrenlosen Hauptmann Joachim Peter von Staritz“.93 Von Staritz hatte sich 1759 über das kursächsische Direktorium an das Corpus Evangelicorum gewandt, da er „mithin keine andere Zuflucht und Hülfe mehr zu suchen“ wusste, nachdem seine nach der Konversion der Mutter im evangelischem Glauben erzogene Stieftochter gewaltsam in das katholische Hospital zu Mannheim zur weiteren Erziehung im katholischen Glauben gebracht worden war. Die detaillierten Vorwürfe wurden gedruckt und in „Zeitungsblättern ausgestreut“.94 Die kurpfälzische Regierung verurteilte den Druck der Beschwerde und die Anrufung des Corpus Evangelicorum durch von Staritz als „eine vermessene und reichsgrundsatzungswidrige Art“ und wandte sich vor allem gegen die Kühnheit, den „Höchsten Landes Regenten selbsten“ öffentlich in Unehre zu bringen: Und um diesem schmählichen Abdruck die Farbe zu geben, hat er nicht nur die Pfalz-Neuburgische Regierung überhaupt, und benebens nahmentlich den Chur-Pfälzischen würcklichen Geheimen Rath, Geheimen Cantzley Directoren [usw.] mit vermessenster Andichtung solcher Aeusserungen, davon dieses seine Eigenschafften weitest entfernt seynd, dann auch den Regierungs=Rath, und Mannheimer Stadt=Director Gobin mit gröblichne Beschuldigungen durch zu ziehen, sondern weiters andurch Publico den ungegründeten Argwohn einer gehäßigten Religions=Bedruckung zu abgeziehlten Unehren des Höchsten Landes Regenten selbsten mit noch weit schwererer Vermessenheit unfertigst beyzubringen erkühnet.95
In den dann folgenden Ausführungen rechtfertigte die Regierung dennoch im Detail die einzelnen Schritte, die sie im Umgang mit den Vorwürfen der Zwangsbekehrung unternommen hatte, und suchte sich durch die Vorlage von Urkunden und Zeugenverhören abzusichern96. Der bereits erwähnte Fall der Familie von Aufsess wurde ebenfalls zum Ärger der Beteiligten in Regensburg im Januar 1729 unter dem Titel „Facti Species der
93 GLA 77/4194 (14. Oktober 1759 und 19. Januar 1760). Die Organisation des Drucks der kurfürstlichen Position wurde durch den kurpfälzischen Regierungsrat und Regensburger LegationsSekretär von Brentano übernommen. 94 GLA 77/4194 (13. Oktober 1759). 95 GLA 77/4193 (Pro Memoria, Druckversion) 19. Januar 1760. 96 Für Details vgl. unten.
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verwittibten Frau von Aufsess auf das neue in Bamberg bey vorgehabter Besuchung ihres Söhnleins zugestossener Beleidigung“ gedruckt.97 Die Verteidiger des angeklagten Bruders des verstorbenen von Aufsess stellten die strittige katholische Unterweisung des Halbwaisen Jungen als normal hin und lasteten allein der breiten Öffentlichkeitswirkung des Falles eine Dramatisierung der Angelegenheit an. Während ähnliche Verfahren früher niemandem „zu Sinne gestiegen, so publique Bewegungen, wie es anjetzo durch eine dritte Unterstützung, und durch ein in öffentlichen Druck heraus gekommenes und fast aller Orten in der breit und weiten Welt dispergiertes vermeintliches Gravamen, die Religions=Trummel gleichfalls offenbahr rühren, geschiehet, zu erwecken“.98
Die prozessbegleitende Veröffentlichung des Streits um die väterliche Gewalt in der Familie des Reichskammergerichtsassessors von Albini in der Frankfurter Gelehrtenzeitung zog einen aufwendigen Reichskammergerichtsprozess gegen den verantwortlichen Frankfurter Buchhändler Heinrich Ludwig Brönner nach sich.99 Dies sind keine Einzelfälle und eine systematische Untersuchung verspricht, die politische Funktion von Öffentlichkeit und den damit erzeugbaren Legitimationszwang von Untertanen und ihrem rechtlichen Beistand gegenüber einzelnen Landesherren oder der Reichsgerichte vor der Reichsöffentlichkeit als auch vor innenpolitischen Gegnern noch näher beleuchten zu können.100 Für den vorliegenden Kontext kann für die vor den Reichsgerichten verhandelten Mischehekonflikte von einer breiten öffentlichen Rezeption der Fälle sowie einer gezielten Lancierung des Geschehens an die Öffentlichkeit mit Sicherheit ausgegangen werden, was sich nicht zuletzt in den wechselseitigen Bezugnahmen der Drucke untereinander zeigt. d) Corpus Evangelicorum Die politische Rolle des Corpus Evangelicorum, das neben der Vertretung der Interessen evangelischer Landesherren und Reichsstände vor dem Reichstag über das
97 Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 56. Ulm 1730, Kap. 5, S. 180. 98 Ebd., S. 172. 99 RKG, Frankfurter Bestand, F 64/2801 (1761–1767). Ich danke Inge Kaltwasser für diesen Hinweis. 100 Vgl. zu gezielten Diffamierungen mittels Indiskretionen auf intergouvernementaler Ebene Wolfgang Burgdorf, Der intergouvernementale publizistische Diskurs. Agitation und Emanzipation, politische Gelegenheitsschriften und ihre Bedeutung für die Entstehung politischer Öffentlichkeit im Alten Reich, in: Johannes Arndt/Esther-Beate Körber, Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750). Göttingen 2010, S. 75–98.
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von Kursachsen geführte Direktorium als Anlaufstelle für Religionsbeschwerden auch von Untertanen fungierte und in Verhandlungen mit dem Reichstag und dem Kaiser trat, ist bislang nicht erschöpfend untersucht worden.101 Als politischer Zusammenschluss der lutherischen und reformierten Reichsstände beanspruchte das Corpus Evangelicorum unter Berufung auf den Westfälischen Friedensvertrag das Recht, als Fürsprecher reichsmittel- und unmittelbarer Stände und Untertanen aufzutreten, die sich in ihrem Recht freier Religionsausübung beeinträchtigt sahen.102 In Mischehekonflikten wurde das Corpus Evangelicorum regelmäßig von protestantischer Seite als Fürsprecher lutherischer oder reformierter Konfliktparteien einbezogen. Zugleich zeigen die unten angeführten Religionskonflikte in Mischehen, dass das Corpus Evangelicorum nicht nur als Anlaufstelle für Religionsbeschwerden von Protestanten wahrgenommen und genutzt wurde, sondern sich selbstbewusst als politischer Akteur innerhalb der Reichsinstitutionen aufstellte, eigeninitiativ auf Religionsbedrückungen durch katholische Landesherren und Amtsinhaber hinwies, die Einhaltung der Gesetze verlangte und aufgrund des wachsenden Gewichts auch als politischer Verhandlungspartner zwangsläufig anerkannt wurde. Auch hier stellt sich die Frage, in welcher Form durch die gezielte Veröffentlichung von Beschwerden und politischen Stellungnahmen politischer Druck auf die beteiligten Konfliktparteien ausgeübt wurde. Symptomatisch ist die Auseinandersetzung zwischen der Kurpfalz und dem Corpus Evangelicorum über das Gebot der Schriftlichkeit sämtlicher Verhandlungen über Religionskonflikte, die die Kurpfalz aus Sorge um Veröffentlichung nur mündlich führen wollte.103 Mischehekonflikte, die auf Reichs ebene zur Verhandlung kamen, erreichten allein schon aufgrund der detailliert geschilderten Situationsdramatik eine größere öffentliche Aufmerksamkeit, auf die punktuell in den Akten immer wieder hingewiesen wurde. Abgesehen von der Veröffentlichung von Fällen zu Mischehekonflikten, um politischen Druck
101 Für Arbeiten, die die wachsende politische Bedeutung des Corpus Evangelicorum betonen, vgl. Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus. Kalipke, „Weitläufftigkeiten“ und „Bedencklichkeiten“ sowie ders., Verfahren im Konflikt. Brachewitz, Die Autorität des Sichtbaren, S. 60–63, 92–96 und S. 98–108. Für katholische Religionsbeschwerden als Vergleich siehe auch Weber, Konfessionelle Konflikte. 102 Für Beispiele vgl. Kapitel I sowie die unten folgenden Fallstudien. Zur verfassungsrechtlichen Verankerung des Corpus Evangelicorum Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 341 f. vgl. Martin Heckel, Itio in partes. Zur Religionsverfassung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in: Zeitschrift für Rechtsgeschichte, GA 64 (1978), S. 180–308; wieder abgedruckt in: Klaus Schlaich (Hrsg.), Gesammelte Schriften. Staat, Kirche, Recht, Geschichte (Jus Ecclesiasticum, 38). 4 Bde. Bd. 2. Tübingen 1989, S. 636–736. 103 Vgl. unten der Fall von Aufsess.
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auszuüben, waren einzelne Beschlüsse der Reichsgerichte auch territorialen Untergerichten bekannt, die sich an den Urteilen für die eigene Rechtsfindung orientierten. Eine solche paradigmatische Wirkung kam dem vom Reichshofrat 1728 gefällten Urteil in der Mischehestreitsache von Aufsess zu. In einem Reskript hatte Kaiser Karl VI. am 13. Mai 1728 angeordnet, bei dem Versuch, die rechtmäßige konfessionelle Unterweisung des Halbwaisen Jungen zu ermitteln, folgende Maßnahmen zu ergreifen. Zunächst sollte überprüft werden, ob im väterlichen Testament oder in Eheverträgen, falls vorhanden, etwas über die Konfessionsbestimmung des Jungen zu finden sei. Weiterhin sollte die maßgebliche Ritterordnung eingesehen werden, um hier mögliche Anweisungen zum Umgang mit konfessionell gemischten Ehen zu berücksichtigen. Schließlich sollte der Frage nachgegangen werden, ob das Kind schon zu Lebzeiten des Vaters katholisch erzogen worden war. Falls Letzteres der Fall war, so sollte der Junge auch in Zukunft katholisch erzogen werden.104 Im Folgenden geht es um die Analyse des praktischen Umgangs mit diesen Konflikten auf Reichsebene innerhalb der rechtlichen Rahmenbedingungen. Im Mittelpunkt steht hier eine Reihe von Fällen, die aufgrund der Publikation der Akten schon in ihrer Zeit für Aufsehen gesorgt und eine gewisse Öffentlichkeit erreicht hatten und über die Reichsgerichte hinaus auch die Gesandten auf dem Reichstag in Regensburg beschäftigten.105 Während die Auseinandersetzung mit Mischehekonflikten auf dem Reichstag in der Regel zu einer politischen Frage stilisiert wurde, nämlich die Wahrung der konfessionellen Parität gemäß der Vorgaben des Westfälischen Friedensvertrags, ging es vor dem Reichshofrat um die unterschiedlichen Rechtspositionen, die Haltung und Einstellung der einzelnen Parteien, vor allem der Eltern und, soweit die Quellenlage dies erlaubt, die religi-
104 Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 55. Ulm 1730, Kap. 1, S. 20–21. Neben diesen öffentlichkeitswirksam inszenierten Mischehekonflikten vor Gericht gab es von den drei hier exemplarisch untersuchten Territorien vor allem im Fürstbistum Osnabrück Rechtsstreitigkeiten über die Religionszugehörigkeit in Mischehen, die vor die Reichsgerichte gebracht wurden. Diese Fälle sind hier nicht berücksichtigt. 105 Die Fallstudien beruhen zum einen auf dem Abdruck der Gerichtsakten und des dazugehörigen Schriftverkehrs in Faber, Europaeische Staats-Cantzley; Ders., Neue Europaeische Staatscanzley sowie auf den Originalakten der vor dem Reichshofrat (RHR) verhandelten Klagen, die im Österreichischen Staatsarchiv, Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv unter ÖstA HHStA RHR Decisa abgelegt sind. Die Zitate stammen aus Faber’s Staatscanzley sowie aus den RHR Decisa und sind entsprechend ausgewiesen. Weiterhin wurde hinzugezogen: Vollständige Sammlung aller Conclusorum.
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öse Überzeugung und die ‚religiöse Mündigkeit‘ der Kinder. Doch auch bei diesen Familien bezogenen Fragen beriefen sich die Prozessparteien auf die im Westfälischen Friedensvertrag verbriefte Gewissens- und Religionsfreiheit und forderten diese für die religiöse Parität in der Familie ein. Für die Frage der Reichweite väterlicher Gewalt, wie sie in den Gesetzen zur religiösen Kindererziehung in den einzelnen Territorien verankert war, und den Verhaltensweisen der Betroffenen, ist die Frage der sozialen Praxis und der unterschiedlichen Handlungsspielräume von Eltern und Kindern verbunden mit der Rechtspraxis von entscheidender Bedeutung. Konnten Konflikte nicht außergerichtlich gelöst werden, oder führten die von den Betroffenen gewählten Konfliktlösungen zu gerichtlicher Verfolgung, wie beispielsweise die Kindsentführung oder Landesflucht, so gelangten Religionskonflikte in Mischehen vor den Landesherren oder sogar vor die Reichsgerichte und den Reichstag. Diese Fälle sind reich dokumentiert und gewähren Einblick in die Rechtspraxis der Reichsgerichte, das Verhalten des Corpus Evangelicorum und des Reichstags. Die nachfolgenden Fallschilderungen sind chronologisch angeordnet.
5.2 Mischehen vor Gericht 5.2.1 G laubenswechsel und väterliche Gewalt – Die Fälle von Castell und van Zelst Im Januar 1690 mischte sich das Corpus Evangelicorum in die Wahl des zukünftigen römischen Königs, Joseph I. (1678–1711), über die brandenburgische und kursächsische Gesandtschaft in Augsburg ein. Die Evangelischen Stände verwiesen auf ihr Recht angesichts der „gegenwärtigen Beschaffenheit der vorhandenen Wahl eines Römischen Königs“ Sicherheiten für die evangelischen Untertanen einfordern zu können und forderten von dem „künfftigen Herrn Successore“, auch in Zukunft „so vielfältig geklagte und benannte Religions=Bedruckungen, endlich nach denen Legibus Imperii Pragmaticis die Justiz“ zu administrieren.106 Die Vorwürfe richteten sich vor allem gegen die Untätigkeit des gegenwärtigen Kaisers, Leopold I. (1640–1703), der unter anderem mit ansehe, wie in den eigenen Erblanden die Religionsgesetze nach Belieben ausgelegt würden, um evangelischen Eltern „ihre Kinder zu nehmen, sie zu einer anderen Religion zwingen oder erziehen zu lassen, und ihnen ihre wenigen Güter vorzuenthalten“.107 Auch
106 Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 2, S. 528–532, hier S. 528. 107 Ebd., S. 529.
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in katholischen Landen müssten evangelische Untertanen das Recht auf private Religionsübung und entsprechende Unterweisung ihrer Kinder genießen, und wenn sie emigrieren wollten oder vertrieben würden, so dürfe nicht zugelassen werden, dass evangelische Eltern gezwungen werden „ihre Kinder darum zuruck zu lassen, und selbe quoad patriam potestatem, educationem, und sonst so zu sagen völlig zu verlieren gehalten seyn sollten“.108 Die in Tirol vor der Auswanderung stehenden evangelischen Untertanen müssten entsprechend der Bestim mungen des Westfälischen Friedens behandelt, und das „mit Thränen und Wehe klagen nach ihren Kindern seuffzenden Eltern billigstes Verlangen“ müsste erhört werden.109 Weitere Beschwerden richteten sich gegen das Verfahren, dem „Bücher=Com missaro zu Franckfurt“ die alleinige Gewalt zu erteilen, nach eigenem Willen die von Evangelischen herausgegeben Bücher zu konfiszieren, die Schmähschriften der Katholiken gegen Evangelische allerdings zu ignorieren. Auch die Parität im Reichskammergericht, so eine weitere Klage, würde ständig verletzt. Nach einer Aufzählung weiterer „Religionsbedrückungen“ evangelischer Untertanen bezog sich die Schrift auf konfessionell gemischte Ehen, und die Verfasser beklagten die ungescholtene Verletzung von Eheverträgen zum Nachteil des evangelischen Eheteils. „Ja es dahin kommen will, daß keine zwischen ungleicher Religion Personen aufgerichtete Ehe=Pacte fast mehr gelten wollen, sondern darwider und die gantz klar verglichene Ehe=Stifftungen und gethane Versprechen ein Ehegatt so gar dem andern die Kinder heimlich zu entführen sich unternimmt.“110 Als Beispiel wurde das Verhalten des kaiserlichen General-Majors und Obristen eines Dragoner Regiments, Graf von Castell, angeführt, dem vorgeworfen wurde, seinen evangelisch erzogenen Sohn entführt zu haben. Für alle genannten Beschwerdepunkte wurde Abhilfe verlangt, „absonderlich auch der Gräfin von Castell auf ihr geziemendes Ansuchen Justiz zu administriren und Hülffe wiederfahren zu lassen“.111 Das erbetene Gerichtsverfahren am Reichshofrat blieb allerdings aus und die Gräfin schaltete das Corpus Evangelicorum ein. Dieses wandte sich am 14. Mai 1690 in einem Intercessionalschreiben an den Kaiser. In dem Dokument verlangten die evangelischen Stände auf Gesuch der Herzogin von Württemberg und der Gräfin Susanna Johanna zu Castell, dass letzterer „ihr dero von ihrem Gemahl gegen die errichteten Ehe=Pacten“ gewaltsam entführter
108 Ebd., S. 530. 109 Ebd. 110 Ebd., S. 531. 111 Ebd.
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Sohn, um selbigen, dem Versprechen zuwider, in der Catholischen Religion aufzuziehen, wiederum möge abgefolget werden“.112 Gräfin Susanna Johanna, geborene von Oettingen, hatte sich 1678 mit Friedrich Magnus Graf und Herr zu Castell vermählt. Vor der Heirat verfassten die Brautleute einen Ehevertrag, in dem sie sich verpflichteten, alle Kinder beiderlei Geschlechts im evangelischen Glauben zu erziehen. Ein Jahr nach der Hochzeit wurde ein Sohn namens Leopold Friedrich geboren, der mit Zustimmung des Vaters von der verwitweten Herzogin von Württemberg, einer Schwester der Gräfin, in Kirchheim „mit fleißigster Information, beydes in der Religion Augsburgischer Confession als auch, in Studiis und Exercitiis, so weit man mit solchen Jahren damit kommen können“ aufgezogen wurde.113 Die Mutter hatte bereits die weitere Erziehung am Hof des württembergischen Landesherrn erwirkt, als ihr Ehemann, der zum katholischen Glauben übergetreten war, den Jungen nach einem Besuch auf seiner Herrschaft in Remlingen nicht mehr zurückreisen ließ, sondern ihn mit sich nach Regensburg nahm. Dort wurde er im Quartier des kaiserlichen Prinzipalkommissars, des Markgrafen von Baden, untergebracht. Die Gräfin von Castell reiste ihrem Ehemann mit der Post nach, konnte aber auch in Regensburg, wo sie ihr Kind noch mehrmals sah, nicht verhindern, dass Graf von Castell seinen Sohn mit nach Wien nahm. Er versprach, den Sohn zu keiner anderen Religion zwingen zu wollen und ihm die Gewissensfreiheit zu lassen.114 Seine Frau hegte jedoch die berechtigte Befürchtung, dass ihrem Sohn, „welches die Annos discretionis noch nicht erreicht und die gefasste Fundamenta leichtlich wieder vergessen können, nunmehro entzogen und es würcklich R. Catholischen Informatoribus untergeben worden seye“.115 Daher forderte sie den Jungen zurück, um ihm am Württembergischen Hof eine evangelische Erziehung angedeihen lassen zu können. Das Corpus Evangelicorum gründete die Forderung nach Rückgabe des Sohnes rechtlich auf die schriftlichen Eheverträge und verwies gleichzeitig auf den gutachterlichen Schluss, der 1650 in Nürnberg gefasst worden war. Der Beschluss gab zwar der väterlichen Gewalt bei der Konfessionsbestimmung der Kinder gemischter Ehen eindeutig den Vorrang, aber nur, sofern keine Eheverträge vorlagen.116 Der Graf könne die „vorgeschützte potestas patria bey diesen
112 Ebd., Bd. 1, S. 317–321, hier S. 317. 113 Ebd., S. 318. 114 Moser, Teutsches Staatsrecht, S. 177–183, hier S. 178. 115 Ebd. 116 Ebd., S. 179.
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Umständen nicht [...] allegieren“.117 Noch im gleichen Jahr wandte sich die Gräfin erneut an den Reichshofrat, der die wiederholt vorgebrachte Klage allerdings lediglich an den Grafen weitergab mit der Bitte, Stellung zu beziehen.118 Der Graf rechtfertigte sein Verhalten, indem er argumentierte, dass er sich strikt an die Eheverträge gehalten habe. Die inzwischen erfolgte Konversion seines zehnjährigen Sohnes sei eine freie Entscheidung gewesen, der er aus Gewissensgründen Folge geleistet habe. Den Vorwurf der gewaltsamen Kindsentführung wies er ebenfalls zurück. Er habe das Kind aus seinem eigenen Haus mit sich genommen, was kaum als eine gewaltsame Tat bewertet werden könne. In einem erneuten Schreiben an den Kaiser vom 30. August 1691 bat die Gräfin inständigst um Rückgabe ihres Sohnes, warf ihrem Mann erneut die Verletzung der Eheverträge vor und beschuldigte ihn, „den Lauff der Justiz zu hemmen“.119 Die Gräfin reiste schließlich nach Wien, wo ihr Sohn inzwischen in der „Landschaffts=Academie“ unterrichtet wurde. Trotz mehrerer Gesuche an den Grafen von Traun, Landmarschall und Inspektor der Akademie, wurde ihr der Zugang zu ihrem Sohn verweigert und sie musste unverrichteter Dinge wieder abreisen. Der Fall nahm mit dem Tod des Jungen in Parma, wo ihn sein Vater noch während des laufenden Verfahrens hingebracht hatte, ein plötzliches Ende.120 Der Konflikt zwischen den Eheleuten war durch die Konversion des Ehemanns und dem nun folgenden Streben des Vaters, sein einziges Kind in der eigenen Konfession erziehen zu lassen, entstanden. Da der Ehevertrag die evangelische Unterweisung aller Kinder beiderlei Geschlechts, die in der Ehe geboren werden sollten, verlangte, und seine Ehefrau sich bereits sehr um die Erziehung im evangelischen Glauben bemüht hatte, ja der Wechsel des Knaben an den Hof des Württembergischen Herzogs unmittelbar bevorstand, bestand keine Aussicht auf eine einvernehmliche Lösung, zumal das Kind nach evangelischem Recht noch nicht volljährig war. Über die Gründe zur Konversion des Vaters kann nur spekuliert werden. Katholiken im Dienst des Kaisers genossen erhöhte Aufstiegschancen und ein Glaubenswechsel zur katholischen Konfession, sicherlich auch gefördert durch die große Ausstrahlung des Wiener Hofes, sowie die gezielte Konversionspolitik der Kurie waren Ende des 17. Jahrhunderts verbreitete Phänomene inner-
117 Ebd. 118 Susanna Johanna Gräfin von Castell contra Magnus Graf von Castell, restitutionis filii, 1690–1692: V. Castel contra V. Castel In p. restitutionis Filiy restitutionis filli, Lit 6 Num. 1 decisior. ÖStA HHStA RHR Decisa K. 834, fol. 222–412 (alte Kartonnummer Decisa 1151); Moser, Teutsches Staatsrecht, S. 180–181. 119 Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 1, S. 321. 120 Moser, Teutsches Staatsrecht, S. 183.
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halb des deutschen Adels.121 Graf von Castell war kaiserlicher Oberwachtmeister und Marshall eines Dragoner Regiments. Dass es gezielte Absprachen bezüglich der konfessionellen Erziehung des Jungen gegeben hatte, lässt sich angesichts der Unterbringung des Kindes im Quartier des kaiserlichen Prinzipalkommissars in Regensburg und der anschließenden Reise nach Wien, wo die weitere Erziehung in der Landschaftsakademie erfolgte, mit Recht vermuten und wäre kein Einzelfall dieser Art. Darauf deutet zudem die zurückhaltende Rolle des Reichshofrats hin, der dem Fall keine Beachtung schenkte. Die Argumentation des Vaters, der zum einen auf seine Rechte aufgrund der väterlichen Gewalt pochte, zum anderen das von evangelischer Seite geforderte Konversionsalter von 14 Jahren missachtete und von freiwilligem Glaubenswechsel seines Sohnes sprach, weist die zentralen Konfliktfelder gemischter Ehen im Streit um die Kindererziehung aus: väterliche Gewalt, die bindende Kraft von Eheverträgen und die Frage der Religionsmündigkeit von Kindern. Nahezu zeitgleich ereignete sich ein auf den ersten Blick sehr ähnlich gelagerter Fall, ging es doch auch um die einseitige Konversion des Ehemanns zum Katholizismus und Versuchen, die bislang reformiert erzogenen Kinder dem katholischen Glauben zuzuführen. Im Jahre 1661 heiratete Graf Ernst Wilhelm von Bent heim im Alter von 38 Jahren die Hofdame seiner Schwester Anna Amalia. Die Braut, Gertrud van Zelst, kam aus einer angesehenen niederländischen Familie, war allerdings nicht adliger Herkunft. Erste Spannungen in der Ehe entstanden, als Gertrud van Zelst erfuhr, dass sie und die in der Ehe zu erwartenden Kinder nicht in der Erbfolge berücksichtigt worden waren.122 Graf von Bentheim hatte ohne das Wissen seiner Frau einen Erbvertrag im Jahre 1663 erneuert, den er 1656 mit seinem jüngeren Bruder, Philipp Conrad zu Steinfurt, geschlossen hatte, und
121 Angelika Schaser, „Zurück zur heiligen Kirche“. Konversionen zum Katholizismus im säkularisierten Zeitalter, in: Historische Anthropologie 15 ( 2007), S. 1–23; Mader, Fürstenkonversionen zum Katholizismus; Schnettger, Die römische Kurie. 122 Ich danke Johannes Arndt für den Hinweis auf diesen Fall. Die folgenden Ausführungen beruhen, wenn nicht gesondert ausgewiesen, auf folgenden Arbeiten: Willy Kohl, Der Übertritt des Grafen Ernst Wilhelm von Bentheim zur katholischen Kirche, in: Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte 48 (1955), S. 47–96; Johann Caspar Möller, Geschichte der Grafschaft Bentheim. Der vormaligen Grafschaft Bentheim von den ältesten Zeiten bis auf unsere Tage. ND der Ausg. Lingen 1879, Osnabrück 1975; vgl. auch Ronald G. Asch, Zwischen Münster, Oranien, Preußen und Hannover: Die Grafschaft Bentheim und ihre Verpfändung im 18. Jahrhundert, in: Bentheimer Jahrbuch 159 (2003), S. 37–54. Bad Bentheim 2002, S. 37–54. Vgl. auch Stephanie Marra, Allianzen des Adels. Dynastisches Handeln im Grafenhaus Bentheim im 16. und 17. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2007.
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der diesem die Nachfolge in der Grafschaft Bentheim sicherte, falls Ernst Wilhelm kinderlos starb. Als seine Frau davon erfuhr, begab sie sich noch im gleichen Jahr unter den Schutz des Fürstbischofs Christoph Bernhard von Galen und übertrug ihm die Vormundschaft über ihre Kinder. In dem Briefwechsel wurde noch einmal bekräftigt, dass die Ehe rechtskräftig von einem reformierten Pfarrer geschlossen worden war und vor allem, dass sie mit Blick auf die Abstammung van Zelsts ebenbürtig sei. Ihr Schwager hatte die Vollgültigkeit der Ehe, weil unebenbürtig, angezweifelt und unterstrichen, dass durch die Ehe seine Erbfolgerechte nicht gefährdet seien.123 Offensichtlich um den Fürstbischof in den zu erwartenden Auseinandersetzungen an sich zu binden, stellte Gertrud van Zelst ihre eigene als auch die Konversion ihres Mannes in Aussicht. Ein Glaubenswechsel des Grafenpaares hätte die Möglichkeit eröffnet, die gesamte Grafschaft Bentheim zu rekatholisieren, ein Vorgang, der dem politischen Kalkül des Fürstbischofs im Streben um Ausdehnung seines Einflusses im Grenzbereich zu den Niederlanden entgegen kam. Diese machtpolitischen Interessen des Münsteraner Bischofs erklärten nicht zuletzt seinen Einsatz um die Standeserhebung Gertrud van Zelsts zur Reichsgräfin, die durch die Vermittlung seines Beichtvaters in Wien am 23. Januar 1666 versprochen und nach weiteren zähen Verhandlungen schließlich am 25. August 1666 urkundlich erfolgte. In den sich anschließenden Bemühungen, das Grafenhaus zur Konversion zu bewegen, kristallisierte sich zunehmend eine eindeutig ablehnende Haltung Gertrud van Zelsts gegenüber diesen Plänen heraus. Sie wandte sich gegen die von Münster gesandten katholischen Räte Veit Hildebrand von Wiedenbrück und Lic. Volbier am Bentheimer Hof und versuchte, auch ihren Mann dem wachsenden katholischen Druck zu entziehen. Inzwischen waren in der Ehe vier Söhne geboren worden. Die Lage spitzte sich politisch zu, als das Fürstbistum Münster Soldaten zum möglichen Schutz der Katholiken in der Grafschaft Bentheim bereit stellte, während die Niederlande beabsichtigten, eine Gesandtschaft zu schicken, nach dem sie Kunde von den Konversionsplänen des Grafenhauses erhalten hatten. Fürstbischof Christoph Bernhard von Galen erwarb den Titel eines kaiserlichen Kämmerers und Rats für Ernst Wilhelm im Ringen um die Konfession des Grafen, doch auch dieser Schritt führte noch nicht zum gewünschten Ziel. Schließlich nötigte der Fürstbischof den Grafen, ihm zunächst auf sein Schloss in Ahaus, dann nach Coesfeld zu folgen, wo er – in ständiger Begleitung Pater Körlers, des
123 Zu ungleichen Ehen vgl. Michael Sikora, Ungleiche Verbindlichkeiten. Gestaltungsspielräume standesverschiedener Partnerschaften im deutschen Hochadel der Frühen Neuzeit, in: zeitenblicke 4, 2005, Nr. 3 [13.12.2005].
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bischöflichen Beichtvaters, und des Domprobstes Korff-Schmiling – schließlich am 21. August 1668 in der Hofkapelle öffentlich das katholische Glaubensbekenntnis ablegte. Als die Nachricht von der Konversion ihres Mannes Gertrud van Zelst erreichte, sandte sie ihre Söhne umgehend über die nahe gelegene Grenze in das Haus des Drosten von Twente, Goswin von Raesfeld, um sie dem befürchteten Zugriff des Fürstbischofs von Galen zu entziehen.124 Von dort wurden die Kinder weiter nach Den Haag und nach Kampen gebracht. Fürstbischof von Galen berief sich auf seine vormundschaftlichen Rechte über die Kinder, forderte ihre katholische Erziehung und verlangte von der Gräfin, die Kinder zurück zu bringen. Nachdem alle Versuche, Gertrud van Zelst zu einer Aussage über den Aufenthaltsort ihrer Kinder zu bewegen, nicht gefruchtet hatten, wurde sie schließlich gewaltsam nach Münster gebracht, wo sie sich jedoch weiter jeglichem Verhör verschloss. Auch auf diplomatischem Weg gelang es von Galen nicht, die Kinder zurückzuholen. Die Situation spitzte sich noch einmal zu, als die Gräfin gezwungen wurde, in einem Brief an die Generalstaaten um die Rücksendung der Kinder zu bitten mit dem Hinweis, sie habe sich mit ihrem Mann über die zukünftige Kindererziehung verglichen. In ihrer Not floh die Gräfin schließlich verkleidet aus der Stadt. Der kaiserliche Resident in Den Haag berichtete von dieser Flucht: „dass die Gräfin sich in der still und verkleidet auß der Stadt Münster ... gemacht und sambt ihrenm jüngsten söhnlein und dessen ammel sich nach Deventer in der Provinz ... salviert habe“.125 Ihre Rückkehr machte sie von der schriftlichen Garantie abhängig, dass sie und ihre Kinder die freie Ausübung ihres reformierten Glaubens genießen dürften. Dies wurde abgelehnt, in einem späteren Schreiben wurde ihr die freie Religionsausübung garantiert, die Kinder sollten jedoch katholisch erzogen werden. Überlegungen des Grafen und des Fürstbischofs von Galen, die Angelegenheit vor den Kaiser oder den Reichshofrat zu bringen, wurde mit der Begründung, der Kaiser habe keine Rechtsbefugnisse in Holland verworfen. Schließlich wandte sich Ernst Wilhelm Graf von Bentheim doch an den Reichshofrat und verklagte seine Frau „wegen der entführten Kinder“.126 Es gelang ihm schließlich, vom Kaiser ein Mandat gegen die Gräfin zu erwirken, das dem kaiserlichen Gesandten in Den Haag übersandt wurde mit der Aufforderung, für die Auslieferung der
124 Ernst Wilhelm Graf von Bentheim contra van Zelst, Gräfin von Bentheim, wegen der entführten Kinder, 1668–1679: ÖStA HHStA RHR Decisa K. 375 (alte Kartonnummer 556). Extractus (Relation von Johann Krampich über die Konversion des Grafen und Entführung der Kinder). 125 ÖStA HHStA RHR Decisa K. 375. Nr. 15 Extract schreibens des kayserl Residenten im Haag Johann Raeven vom 22. Nov 1668. 126 Ernst Wilhelm Graf von Bentheim contra van Zelst, Gräfin von Bentheim, wegen der entführten Kinder, 1668–1679: ÖStA HHStA RHR Decisa K. 375 (alte Kartonnummer 556).
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Kinder zu sorgen.127 Einem Versuch des Reichskammergerichtsnotars Everhard Brockhoff im Februar 1670, der Gräfin das Mandat persönlich auszuhändigen, war kein Erfolg beschieden. Holländische Notare verweigerten jegliche Kooperation, und eine Eingabe an den Hof blieb unbeantwortet. Die Gräfin stand unter dem besonderen Schutz der Generalstaaten. Als der diplomatische Druck auf die Niederlande wuchs, wurden die Kinder vorübergehend nach England gebracht, ein Kind, so der Bericht, sei noch sehr zart gewesen, habe das Meer nicht ertragen können und sei gestorben.128 Während der ganzen Zeit schrieb die Gräfin Briefe an ihren Gemahl, in denen sie ihn aufforderte, sich aus den Fängen des katholischen Fürstbischofs zu befreien und an das Wohl und die Zuneigung seiner Kinder zu denken. Zwei Entführungsversuche des ältesten Sohns Ernst wurden vereitelt, und auch die letzten diplomatischen Bemühungen um Rückgabe der Kinder während der Friedensverhandlungen in Aachen 1673 und in Nymwegen 1677 scheiterten. Das erwartete kaiserliche Mandat, das die Gräfin verurteilen und ihr die gräfliche Würde aberkennen sollte, ließ auf sich warten. Als das Mandat schließlich 1679 ausgestellt wurde, war Getrud van Zelst bereits verstorben. Nach ihrem Tod übernahmen die Generalstaaten die Obervormundschaft über ihre Kinder und verweigerten die Rückgabe.129 Als die Rückgabe der Kinder aussichtslos schien, ließ Graf Ernst Wilhelm seine Ehe mit Gertrud van Zelst für ungültig erklären und heiratete eine wesentlich jüngere katholische Adlige. In der Ehe wurde eine Tochter geboren. Ungewöhnlich an dem vorliegenden Fall sind die diplomatischen Verwicklungen und die Hartnäckigkeit, mit der nicht der Vater, sondern an seiner statt der Fürstbischof von Münster die Auslieferung der Kinder verfolgte, auch wenn sich das Verhalten aus der Machtpolitik von Galens sowie seiner Vormundschaft über die Kinder erklären lässt. Weniger ungewöhnlich war die Entscheidung der Mutter, die Grenze zu überschreiten, um die Kinder vor dem Zugriff ihrer Widersacher zu schützen und die konfessionelle Erziehung in ihrem Sinne fortsetzen zu können.130 Für Gertrud van Zelst war die Rückkehr in die Niederlande naheliegend. Doch auch Grenzüberschreitungen innerhalb des Reiches aus konfessionellen Gründen lösten Fragen danach aus, ob der neue Landesherr oder der
127 ÖStA HHStA RHR Decisa K. 375. Nr. 25 Copia Kayserl. Mandat de restituendo liberos in sachen bentheim con sui Eheweib 22 Oct 1669. 128 Ebd. 129 ÖStA HHStA RHR Decisa K. 375 (alte Kartonnummer 556). Nr. 67. 130 Vgl. Kapitel III, den Fall von Nehem.
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alte zuständig war für die Flüchtigen. War der neue Landesherr verpflichtet, die Flüchtigen auszuliefern, oder war es seine Pflicht, die eigenen Glaubensangehörigen zu schützen? Die brisanten diplomatischen Verhandlungen, die diesen Konflikt um die Religionszugehörigkeit der Kinder begleiteten, spielten sich auch im Kleinen zwischen einzelnen Territorien ab, wenn es darum ging, Kinder, die im Streitfall aus konfessionellen Gründen über die Landesgrenze gebracht worden waren, zurückzugewinnen. Auch innerterritorial war derartigen Bemühungen selten Erfolg beschieden und Amtsleute warnten bei der Anbahnung von Streitigkeiten über die konfessionelle Ausrichtung der Kinder in Mischehen vor eben einem solchen Schritt – der Landesflucht. Wie viele Frauen in ihrer Situation, erwog auch die Witwe Appelbaum aus dem Fürstbistum Osnabrück seit Ausbruch des Konflikts um die Religionszugehörigkeit ihrer Kinder, in das benachbarte Stift nach Münster zu entfliehen, um ihre Kinder ungestört katholisch erziehen zu können. Damit rechneten auch die Räte und Geistlichen und geben mit ihren Erfahrungen Einblick in eine Rechtswirklichkeit, die für das römische Reich typisch war: der Wechsel von einem Rechts- und Herrschaftsbereich in einen anderen, um gerichtlicher Verfolgung zu entgehen: Es ist dieselbe nur eine Heuersfrau, die auf der äußersten Grenze des Stiftes wohnet. Folglich durch Vorschub ihrer bemittelten Anverwandten sich mit ihren Kindern und Habseligkeiten bald außerhalb Landes entfernen kann, da der katholische Besitzer des Guts Overkamp ihr darunter vermutlich Beihilfeleisten mögte [...] in der Vogtey Berge [...] geschah vor einigen Jahren auf eine solche – einer katholischen Witwe gemachte Bedeutung [gemeint ist die Ankündigung, das die Kinder evangelisch erzogen werden müssten] – eben dies: und so wenig man meines Erinnerns, die von dort ins Hochstift Münster damals gebrachten Kinder nachgehend wieder erhalten hat, so wenig dürfte auch selbiges hier zu erwarten sein, wenn nemlich jener Schritt von der Appelbaumschen Witwe einmal ausgeführet wäre.131
Der Selbsthilfe Gertrud van Zelsts, die sich mit ihren Kindern an einen sicheren Ort reformierten Glaubensbekenntnisses begab, war offensichtlich mehr Erfolg beschieden, als den Versuchen der Gräfin von Castell, die Auslieferung ihres Sohnes auf dem rechtlichen Weg mit Hilfe des Reichshofrats zu erreichen. Oder anders herum betrachtet: Auch die Strategie des Grafen von Castell, mit seinem Sohn aus konfessionellen Gründen in ein katholisches Gebiet auszuwandern, war letztlich aufgegangen. Der Sohn blieb bis zu seinem Tod unter der Obhut des Vaters, der Mutter gelang es auch mit rechtlichen Mitteln nicht, ihres Kindes wieder habhaft zu werden. Auch in den zwei folgenden Fällen geht es um die
131 StAOS Rep. 100 Abschnitt 374/22, fol. 2–3 (1778).
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Entführung von Kindern, den Versuchen, die Kinder auf dem Rechtsweg zurückzuerhalten und die rechtliche Praxis im Umgang mit den Konflikten.
5.2.2 Kindsentführung und Religionszwang – Der Fall von Aufsess Der Entführungsfall des Knaben Friedrich Christoph von Aufsess hatte reichsweit für Aufsehen gesorgt und die Anweisungen des Kaisers vom 13. Mai 1728 zur Beweisführung in diesem Konflikt – Bestimmungen über die religiöse Kinder erziehung in Eheverträgen oder Landesgesetzen bzw. Ritterordnungen haben Vorrang vor der väterlichen Gewalt – wurden unter anderem in Fabers Europae ischer Staatscanzley abgedruckt und hatten in dieser veröffentlichten Fassung paradigmatische Wirkung bis in die Provinz.132 Die Prozessführung war äußerst aufwendig und involvierte den Reichshofrat, die Reichsritterschaft in Franken, kaiserliche Kommissionen, die fränkischen kreisausschreibenden Fürsten, das Hochstift Bamberg und das Corpus Evangelicorum.133 Noch während des laufenden Verfahrens wurde ein zweiter Entführungsfall aus der Familie von Aufsess – es handelte sich um den zwölfjährigen Waisen Friedrich Ludwig von Aufsess, der bei seinem evangelischen Großvater und Tutor lebte – zur Anzeige gebracht und dem Corpus Evangelicorum vorgetragen. Auf die Veröffentlichung des ersten Falls in den Druckmedien und den daraus resultierenden Unmut der Verklagten angesichts des öffentlichen moralischen Drucks wurde bereits verwiesen. Abgesehen von dem Fall selbst sind hier Verfahrensfragen am Reichshofrat und die Handlungsstrategien der Beteiligten von besonderem Interesse: In ihrer Argumentation übertrugen sie die Rolle des Reichsreligionsfriedens für die Gleichberechtigung der Konfessionen im Reich auf die Friedenswahrung in einer religiös-konfessionell gemischten Familie. Es ging um die Wahrung und den Schutz vertraglich festgelegter Freiheiten der in der Familie vertretenen Konfessionen. Auslöser des Konflikts war ein Streit um die Vormundschaft des dreijährigen Halbwaisen Friedrich Christoph. Nach dem Tod des Vaters, Carl Christoph, Freiherr von Aufsess, wurde der Witwe, Johanna Gottlieb, Freifrau von Aufsess,
132 Der Fall wurde einschließlich aller Beilagen in Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Bde. 55–60. Ulm 1730–32, abgedruckt. Der Fall wurde in Fabers Druckversion beispielsweise im Verfahren um die Erziehung der Kinder der Witwe Appelbaum im Fürstbistum Osnabrück herangezogen. Weitere Druckversion allerdings nur ausgewählter Dokumente des Falles: Aufsess und Erthalische gewaltsame Entführungen, in: Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 1, S. 3–35. Erwähnt ist der Fall von Aufsess in Küppers-Braun, „Kinder-Abpracticirung“. 133 Freifrau von Aufseß, geb. von Berlichingen contra von Aufseß, Mandati in puncto eines Kinderraubs, 1728–1731: ÖstA HHStA RHR Decisa K. 159 (alte Kartonnummer 254).
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geborene von Berlichingen, am 26. November 1726 die Vormundschaft übergeben. Ihr zur Seite gestellt wurde der Freiherr Georg Friedrich von Hülß von und zum Rathsberg. Die Entscheidung basierte auf der „Ritter=Orths Gebürgische Austrags=Ordnung“, die vorsah, dass bei Hinterlassung unmündiger Kinder der Mutter die Vormundschaft zustehe und ihr freistehe, „ob sie die Bestellung entweder immediate an Kayserlichen Hof= und Cammer=Gericht/oder wenn die/so dazu denominieren/zu den löblichen Ritter=Orth gehören/allhier suchen und taugliche Personen von Freunden/oder Fremden darzu denominieren wollen“.134 Die Verordnung ging zurück auf ein kaiserliches Privileg Leopolds I. (1640–1705) vom 21. Juli 1688, in dem er der Reichsritterschaft das Recht zugestand, selbständig Vormünder für die Kinder verstorbener Reichsfreier einzusetzen.135 In den nachfolgenden Jahren erzog die Freifrau von Aufsess mangels väterlichen Erbteils den Jungen auf eigene Kosten im evangelischen Glauben, ohne dass die katholischen Verwandten ihres verstorbenen Mannes daran Anstoß genommen hätten. Die Situation änderte sich, als der Bruder des Verstorbenen, Freiherr Christian Ernst von Aufsess, die Vormundschaft über seinen Neffen beanspruchte und verlangte, dass er katholisch erzogen werde sollte. Als seiner Forderung nicht stattgegeben wurde, wandte er sich mit einer Klage an den Reichshofrat. In einem Rescript vom 13. Mai 1728 befahl Kaiser Karl VI., unter Einsicht der Eheverträge, der Ritterschaftsordnung und angesichts der religiösen Praxis zu Lebzeiten des Vaters den Konflikt zwischen der Freifrau von Aufsess und ihrem Schwager beizulegen. Falls ein gütlicher Vergleich mittels kaiserlicher Kommission nicht möglich sein sollte, so müsste binnen zwei Monaten ein Gutachten erstellt werden.136 Noch bevor die Kommission ins Leben gerufen war, entführte von Aufsess den Jungen am 12. Mai 1728 auf offener Straße. Als das Kind mit seiner Mutter, der Köchin Sybilla Hirschin und der Witwe von Muffel, geborene von Brandenstein, nach Bayreuth unterwegs war, überfiel der Freiherr die Kutsche in dem Dorf Sicherizberg im Bistum Bamberg „mit bewehrter Mannschaft“.137 Die Witwe erstattete sofort Anzeige in dem Ritterort in Gebürg, worauf ein Schreiben an von Aufsess erging, den Jungen – der auf „fremdem Territorium“ geraubt worden war – auszuliefern, doch ohne Erfolg.138 In den „Facti Species, in causa Mandati de reexhibendo matri et tutrici vi raptum filium etc. etc. s.c.“, die sodann an den Reichshofrat gingen, wurde der Vorgang wie folgt beschrieben:
134 Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 55. Ulm 1730, S. 24–28, hier S. 27–28. 135 Ebd., S. 28–29. 136 Ebd., S. 19–21 137 Ebd., S. 7. 138 Ebd., S. 22–23.
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Hiernächst sogleich nur gedachte durch diese Land=Fried=brüchige Invasion in den äussersten Schrecken und Todes=Angst versetzte Wittib selbsten sowohl/als ihr minderjähriges Söhnlein aus der Chaise gewaltthätig heraus zu reissen/anbey jene unter evomirten abscheulichen Fluchen/Schwören/Schmähen und ärgsten Beschimpfungen so man hier wiederholen billig Scheu trägt/auf das ärgerlichste zu tractiren; sondern auch das geängstigte Kind/welches sich auf eine recht erbärmliche Weise der zugegen gewesten Frauen von Muffel um den Hals geschlungen und um Rettung geruffen/mit Beyhülffe der dabey gestandenen bewaffneten Leute der leiblichen Mutter aus den Händen reissen/und so fort unter entsetzlichen Lamentieren/Schreyen und Wehklagen/mit Blossen Kopff auf und davon zu führen.139
Die Anklage lautete auf Landfriedensbruch und Kindsraub. Die Tat, so die weiteren Ausführungen, verstoße gegen das „natürliche und Völcker=Recht“ und verletze „nicht nur den öffentlichen Religions=Frieden, sondern auch das Ins trumentum Pacis Westphalicae“ selbst.140 Der Sohn sei noch nicht mündig, und „mitfolglich ausser Stande [...] dem Gewissen nach mit erforderten Bedacht ein oder andere Religion seiner in matrimonio mixto gelebter Eltern zu erwählen“.141 Der Versuch, das Kind gewaltsam einem katholischen Vormund zu unterstellen, bedeutete eine Missachtung der Ritterschaftlichen Gebürgischen Verfassungsund Austrags-Ordnung, die der Mutter die Vormundschaft und die Benennung von Mitvormündern zugestand. Dieser Akt verletze das kaiserliche Privileg der Reichsritterschaft zur Wahl von Vormündern, dass bestimme, dass die verwaisten Kinder in der Religion der Eltern erzogen werden müssten. Aus diesem Grund wandte sich die Freifrau von Aufsess an den Reichshofrat und bat ihn, ihr „als leiblicher Mutter“ das Kind, das „mit Reichs=verbothener höchst=sträfflicher Gewalt“ entführt worden sei, zurückzugeben. Darüber hinaus verlangte sie aufgrund der erlittenen Beschimpfungen, dass ihr „hinlängliche Satisfaction verschafft“ werde und sie keine weitere „Behinderung in educando pupillo“ erdulden müsse. Schließlich verlangte sie, dass „solcher Pupill auch künfftighin wieder Willen zu einer Religion mit Gewalt nicht gezwungen, sondern in desselben im Religions- und dem Profan Frieden so theuer stabilsirten Gewissens=Freyheit ohnvergewaltiget gelassen“.142 Am 28. Juni 1728 erging ein Reichshofrats-Conclusum in dem Streitfall Johanna Gottlieb von Aufsess, geborene Freifrau von Berlichingen contra Major Christian Ernst von Aufsess „in puncto eines Kinder=Raubes“.143 Ein Mandat sine
139 Ebd., S. 7–8. 140 Ebd., S. 8 und S. 9. 141 Ebd., S. 90. 142 Ebd., S. 11. 143 Ebd., S. 29–32.
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clausula wurde auf Rückgabe des geraubten Kindes und auf Entschädigung der Freifrau mit zehn Goldmark aufgrund der erlittenen Beleidigungen ausgestellt. Weitere zehn Goldmark sollten zur Strafe in die kaiserliche Kasse gezahlt werden. Innerhalb von zwei Monaten musste das Mandat umgesetzt werden. Eine Kopie des Mandats wurde an den Freiherrn Christian Ernst von Aufsess geschickt mit der Aufforderung, „Authoritate nostra Caesare ohne Verweilung, und alsofort ohne Gestattung einer Ausrede, diese mag beschaffen seyn, wie sie wolle, anzuhalten, damit er der Wittib ihr weggenommenes Kind“ nach Erfüllung aller Bedingungen zurückgebe.144 Der Mutter wurde vor „Restitution ihres Kindes“ zur Auflage gemacht, bei den ausschreibenden Fürsten des fränkischen Kreises einen schriftlichen Revers zu hinterlegen, mit dem sie sich verpflichtete, „daß sie das Kind ausser den Ort, wo es zur Zeit des Aussterbens seines Vaters gewesen, und ausser der Ritterschaft Bothmässigkeit nicht anders wohin bringen wolle“. Darüber hinaus wurde sie für das weitere Verfahren zur Konfessionsbestimmung des Kindes an das kaiserliche Rescript vom 13. Mai des gleichen Jahres erinnert. Die vom Kaiser eingesetzte ritterliche Kommission schließlich wurde angewiesen, das „Geschäfft nach Möglichkeit zu beschleunigen“.145 Die Ausstellung des verlangten Revers bereitete der Freiherrin einige Schwierigkeiten, da die Güter, auf denen sich ihr Ehemann vor seinem Ableben aufgehalten hatte, nicht sein eigener Besitz waren und ihm nach dem Tod seines Vaters auch nicht zugefallen waren. So gebe es nichts, „wo sich das Kind zur Education bequem aufhalten könnte“.146 In ihrem dennoch verfassten Revers wies sie auf diese Problematik hin und versicherte noch einmal, dass sich in den vergangenen Jahren niemand außer ihr des Kindes angenommen, und sie es allein aus eigenen Mitteln aufgezogen hatte und dies auch in Zukunft tun werde. Wenn sie das Kind zurückerhielte, wollte sie es „unter die speziale anhoffende Obsorge, Hauss und Kost des Ritterschafftlichen Hauptmanns, Baron Carl Maximilian von Eggloffstein“ stellen.147 Darüber hinaus versicherte sie, das Kind bis zum endgültigen Gerichtsurteil an keinen anderen Ort zu bringen. Als das Mandat dem Freiherrn von Aufsess durch einen kaiserlichen Notar, Daniel Hanauer, in Begleitung zweier Zeugen persönlich überbracht wurde und dieser die Herausgabe des Kindes forderte, weigerte sich von Aufsess, dem Mandat Folge zu leisten. Stattdessen argumentierte er, dass sein Bruder ihm auf
144 Ebd., S. 37–42, hier S. 38. 145 Ebd., S. 31. 146 Ebd., S. 34–37, hier S. 35. 147 Ebd., S. 36.
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seinem Totenbett die Fürsorge seines Sohnes anbefohlen habe.148 Diese Nachricht drang auch zu der Mutter, die sich umgehend in einer Supplik an die kreisausschreibenden Fürsten im Fränkischen Reichskreis wandte. Nach ihrer Darstellung hatte ihr Schwager den Jungen nach Bamberg gebracht. Dort wäre das Kind „zur katholischen Religion aufgeschworen“ und bereits Domherr. Ihr Schwager habe ihr zu verstehen gegeben, dass alle weiteren Verhandlungen von nun an mit dem Domkapitel geführt werden müssten, er selbst werde alles Notwendige schon am Kaiserhof besorgen.149 Noch im selben Jahr, am 7. Dezember 1728, reichte er eine Klage am Reichshofrat ein, in der sein Anwalt der Mutter des geraubten Jungen vorwarf, das Mandat gegen ihn „per sinistra asserta [...] ex Fundamentis supra allegatis“ erschlichen zu haben. Er verlangte, dass die Witwe durch ein mandatum sine clausula angewiesen würde, keine weiteren gerichtlichen Schritte gegen ihn einzuleiten.150 Zur Begründung wurde eine Reihe von Argumenten angeführt. Entscheidend war, dass der verstorbene Vater des Jungen noch zu Lebzeiten zum Katholizismus konvertiert war und „bey seinen Lebzeiten und noch vor dem tödtlichen Hintritt seine Willens=Meynung dahin erkläret, daß dessen Söhnlein zu Bamberg erzogen und zur Catholischen Religion angewiesen werden sollte“.151 Doch selbst, wenn der Vater die Erziehung seines Sohnes im katholischen Glauben nicht bestimmt hätte, so sei „in deme so zu nennen beliebten Matrimonio mixto unverneintlich Herkommens“, die Söhne im Glauben des Vaters, die Töchter im Glauben der Mutter zu erziehen. Und in schärferer Tonart fuhr er fort, „daß sich ja keine Adeliche Dame, die bekanntlich in Rebus familiae nichts zu ordonniren hat, auf keine Weise beyfallen lassen darff, Söhne und Töchter utriusque alleine nach ihrer Glaubens=Confession zu regulieren“.152 Die gewaltsame Hinwegnahme des Kindes sei überdies erlogen, am „allerwenigstens aber ist wahr, daß der junge Herr bey seiner Annehmung auf dem Pferd sehr geschrien und so viel wie möglich sich widersetzt“ habe.153 Im Gegenteil, der Junge sei bereitwillig mit nach Bamberg gegangen, wo er dem Domkapitular und Kantor Carl Dietrich Freiherr zu Aufsess, dem eine „Bambergische Praebende zugefallen“ sei, übergeben worden sei, und „wo er sich auch mit einer vollständigen Zufriedenheit in
148 Ebd., S. 42–51, hier S. 50. 149 Ebd., S. 52–54, hier S. 53. 150 Ebd., Tl. 56, Ulm 1730, Kap. 5, S. 162–176. 151 Ebd., S. 165. 152 Ebd., S. 167. 153 Ebd.
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Qualität eines aufgeschworenen Bambergerischen Domicellar Dohm=Herrns zur Stunde allda vergnüglich befindet“.154 Weder der Vorwurf des Landfriedensbruchs, der Verletzung des Religionsfriedens noch die Injurienklage seien haltbar. Einzige Motivation für sein Verhalten sei die Bitte seines Bruders gewesen, für das Glück und die Wohlfahrt des Kindes zu sorgen. Die Mutter müsse ihm dankbar sein, dass er ihrem unbemittelten Sohn zu einem standesgemäßen Unterhalt verhelfe. Er hätte sich nie träumen lassen, dass ihm sein wohlmeinendes Verhalten je als kriminelle Tat ausgelegt werden würde. Im Übrigen sei er fest überzeugt, dass die Freifrau von Aufsess längst den Vorteil der jetzt gefundenen Regelung auch für sich erkannt hätte und unnötig prozessieren würde, zumal sie bekanntlich aufgrund ihrer Besitzverhältnisse den Prozess nicht bezahlen könne. In der Tat sei es nicht das erste Mal, dass Kinder aus der Familie von Aufsess von ihren Eltern weg nach Bamberg oder Würzburg in ähnlicher Weise „zu ihrem Dohm Stiffts Praebenden befördert worden“. Dies sei auch der Freifrau bekannt, und so sei ihr Verhalten nur damit zu erklären, dass „mit Vorstreckung der Feder und anderen wichtigen Persuasionen der Lust wäre gemacht worden, zu dergleichen intendirenden odiosen Weiterungen“ ihren Namen auf schändliche Weise herzugeben.155 Mit dieser Äußerung spielte von Aufsess auf die Veröffentlichung des Falles an und suggerierte, dass sich seine Schwägerin für eine derartige Öffentlichkeit im Sinne der evangelischen Stände instrumentalisieren ließ. Vergleichbare Fälle – „so viele frische Exempel“ – einer solchen Verhaltensweise gebe es ausreichend.156 Die Zeugenaussagen zugunsten der Freifrau von Aufsess seien zudem wenig überzeugend. Die Aussage ihrer Vertrauten, der Witwe von Muffel, geborene von Brandenstein, die besagte, dass der verstorbene Freiherr von Aufsess der evangelischen Unterweisung seines Sohnes zugestimmt hätte, sei „von geringfügigem Schlag“.157 Es sei wenig glaubwürdig, dass ein katholischer Vater seinen Sohn „zu einer anderen Religion, als die er selbst profitiret, destiniren, und dadurch der Welt zu erkennen geben werde, daß er die widrige Religion für besser als die Seinige, worinnen er lebet, achten werde“.158 Das erwähnte Bekenntnis zum evangelischen Glauben seines Sohnes sei wenig aussagekräftig, da es gewissermaßen auf dem Totenbett gemacht und nur von den Anwesenden, darunter der evangelische Verwalter Spranger, bezeugt worden sei; diesen Aus-
154 Ebd., S. 168. 155 Ebd., S. 171. 156 Ebd., S. 172. 157 Ebd., S. 173. 158 Ebd., S. 174.
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sagen stünden mehrere Bezeugungen für die katholische Glaubenserziehung gegenüber, die wesentlich glaubhafter seien, da sie aus einer Zeit stammten, als der Verstorbene noch frei von Zweifeln und Skrupeln angesichts des nahen Todes war.159 Das Kind wurde nicht zurückgegeben. Am 8. Juni 1729 wandte sich die Freiherrin von Aufsess schließlich an das Corpus Evangelicorum mit der Bitte, durch ein Intercessionalschreiben an den Kaiser die Auslieferung ihres Kindes zu erwirken. Dem folgte ein weiteres ReichshofratsConclusum vom 21. Juni des gleichen Jahres, in dem bilanziert wurde, „es haben bey gegenwärtig sich äussernden Umständen beyder Theilen Begehren nicht statt, sondern es werden dieselbe an die Kayserliche Commission der Reichsritterschaft in Francken Orts Gebürg und Steigerwald“ gewiesen.160 Die Kommission sollte weiter „rechtliche Behülffe“ leisten und Urkunden und Beweise sammeln, die die rechtmäßige Vormundschaft klären können. In dem Conclusum wurde weiter vermerkt, dass die bislang vorliegenden Berichte zeigten, dass „keine gewisse Ordnung oder beständige Observanz sich finde, zu welcher Religion die in einem Matrimonio mixto erzeugte Kinder nach Absterben des Vatters, so zur Catholischen Religion sich bekannt, und seine Ehe=Consortin, die der A.C. zugethan“ erzogen werden sollten, wenn keine Eheverträge, wie im vorliegenden Fall, vorhanden seien.161 Neben der genauen Klärung dieser Frage sollte für die Zukunft eine klare Ordnung erstellt werden, um „allem ärgerlichen Stritt und Disputat“ entgegen wirken zu können. Das Conclusum endete mit dem Zusatz „Fiat Votum ad Imperatorem“. Mit diesem Beschluss und dem erneuten Einsatz einer kaiserlichen Kommission wurde das Verfahren nicht nur verlängert, sondern das ursprüngliche Mandat zur Auslieferung des Kindes wurde zurückgestellt. Das Rechtsverfahren konzentrierte sich jetzt allein auf die Frage der Vormundschaft, die Vorwürfe des Kindraubs und des Landfriedensbruchs wurden ignoriert. Genau diese Verfahrensänderung wurde in einem erneuten Intercessionalschreiben des Corpus Evangelicorum angegriffen: Wenn angesichts der eindeutigen Tatbestände kein Eilprozess stattfinde, dann würde er nie stattfinden, „wo Catholici mit Evangelicis dergestalt verfahren, und sich vor der Hand keines andern Zwangs oder Ahndung denn eines langwierigen Processus Ordinarii besorgen dürffen, bleibt pro Evangelicis wenig Trost und Sicherheit übrig.“162 Angesichts der nun entstehenden
159 Ebd. 160 Ebd., Kap. 1, S. 59–62, hier S. 59–60. 161 Ebd. 162 Intercessionalschreiben vom 12. Juli 1729, in: ebd., S. 63–74, hier S. 68.
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Verzögerungen wurde die Gefahr beschworen, dass das Kind zwischenzeitlich unwiederbringlich zum katholischen Glauben wechseln und im schlimmsten Fall noch vor der Urteilsprechung mündig werden könnte.163 Aus diesem Grunde sollte die kaiserliche Kommission bis zur Auslieferung des Kindes suspendiert werden.164 Ungeachtet der Eingabe wurde in einem weiteren ReichshofratsConclusum am 26. September 1729 an der kaiserlichen Verordnung vom 21. Juni desselben Jahres festgehalten. Die Kommission wurde nochmals angewiesen, die Untersuchung ohne „unnöthige Weitläufigkeit“ durchzuführen. Der Freifrau von Aufsess wurde ein evangelischer Curator zu Seite gestellt, der sich nach Akteneinsicht ein eigenes Urteil über die Ansprüche und Intentionen der Mutter bilden sollte.165 Ein Jahr später, am 6. September 1730 wandte sich das Corpus Evangelicorum zum wiederholten Mal mit einem Intercessionalschreiben an den Kaiser, um auf eine Entscheidung im Fall von Aufsess und von Erthal, einem weiteren ähnlich gearteten und viel Unruhe stiftenden Entführungsdelikt, zu drängen.166 Die Einzelfälle wurden nun noch deutlicher mit allgemeinen Religionsgravamina gleichgesetzt, die den Protestanten von Katholiken zugefügt wurden. Mit deutlichen Worten wurde die Entführung unmündiger Kinder zwecks Bekehrung verurteilt und ihr Gewahrsam fern von den Eltern oder obrigkeitlich bestimmten Vormündern mit dem Gefängnis verglichen. Darüber hinaus wurde harsche Kritik an dem Einsatz einer „arbitrarischen Commission“ geübt, deren Tätigkeit als unfruchtbar und schädlich bezeichnet wurde.167 Die Unzufriedenheit mit der Haltung des Reichshofrats in dieser Sache, der langwierigen und ergebnislosen Arbeit der eingesetzten Kommission und der rechtlichen und politischen Bewertung des Vorgefallenen durch das höchste Reichsgericht war unüberhörbar. Es ging zweifellos nicht nur um die genannten Entführungsfälle, sondern es ging um wesentlich grundsätzlichere Fragen – die Anwendung effektiver und unparteiischer Rechtsverfahren in Religionssachen durch den Reichshofrat und die Definitionsmacht darüber, was eine Verletzung des Religionsfriedens bedeutete und was nicht. Mit der Verfassung von Intercessionalschreiben an den Kaiser, die Kritikpunkte an Verfahrensfragen des Reichshofrats beinhalteten, beanspruchte das Corpus Evangelicorum nicht nur die Rolle des verlängerten
163 Freist, Lebensalter und Konfession. 164 Intercessionalschreiben vom 12. Juli 1729, in: ebd., S. 63–74, hier S. 71. 165 Ebd., S. 74–76, hier S. 76. 166 Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Teil 57, Ulm 1731, Kap. 3, S. 58–78. Fallschilderung von Erthal s.u. 167 Ebd., S. 71.
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Sprachrohrs bedrängter Untertanen, sondern es beanspruchte darüber hinaus politisch pointiert unter Einbeziehung der Öffentlichkeit die Rolle des Wächters über die Einhaltung des Religionsfriedens und scheute in dieser Funktion auch nicht vor Kritik am Kaiser zurück. Dass diese Rolle nicht immer geschätzt wurde, zeigt sich an gelegentlichen Unmutsäußerungen über das Vorgehen des Corpus Evangelicorum bis hin zu der Verweigerung, Schriften überhaupt in Empfang zu nehmen, wie oben im Fall Centgraf ausgeführt.168 Auch der Druck der Beschwerdeschriften und die Verbreitung in zeitgenössischen Zeitungen und Sammlungen von Staatsakten wie die Londorps, Schauroths, Lünigs oder Fabers erregten immer wieder Anstoß, vor allem bei der schwer in die Kritik geratenen Kurpfalz, die sich wiederholt für nur mündlich vorgetragene Beschwerden aussprach und auf den Druck völlig verzichten wollte – allerdings ohne Erfolg.169 Die politischen und rechtlichen Strategien der Protagonisten zeigen, dass mit dem Schritt an das Corpus Evangelicorum eine größere Öffentlichkeit einkalkuliert wurde und individuelle Fälle von Religionsbedrückungen zu einer politischen, das ganze Reich betreffenden Frage stilisiert wurden. Es ging um die Wahrung des Reichsreligionsfriedens, der gerade durch individuelle Verstöße bedroht schien – wenn sich schon kleine, zwischenmenschliche Konflikte nicht lösen ließen, so war der Lösung schwerwiegender Gravamina erst recht kein Erfolg beschert, so lässt sich in nahezu jedem Intercessionalschreiben des Corpus Evangelicorum nachlesen. Noch vor Beendigung dieses Falls kam, wie bereits angedeutet, ein zweiter Entführungsfall aus der Familie von Aufsess vor das höchste Reichsgericht, der hier aufgrund gewisser Parallelen nur noch erwähnt werden soll. Im Alter von zwölf Jahren entwich Friedrich Ludwig aus dem Hause seines Großvaters und Vormunds, des Ritterhauptmanns Hans Ludwig von Brandenstein zu Wüstenstein, wo er seit dem Tod seiner Eltern lebte und evangelisch erzogen wurde. So hatte es das väterliche Testament vorgesehen. Sein Vater war Ludwig Carl, Freiherr von und zu Aufsess, hochfürstlich Brandenburgisch-Bayreutischer Fähnrich, seine Mutter war Catharina Barbara von und zu Aufsess, geborene von Brandenstein zu Wüstenstein. Der Junge begab sich – nach Darstellung des Großvaters – womöglich aufgrund „sträflicher Verleitung“ zu dem Bruder seines verstorbenen Vaters,
168 Vgl. beispielsweise Schreiben von dem Corpore Evangelicorum an Se. Churfürstl. Durchl. Zu Pfalz, de dato den 17. Junii 1730, in: Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 1, S. 322–328, hier S. 323. 169 Ebd.
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dem Bambergischen Grenadier Hauptmann Carl Dietrich Jobst Bernhard von Aufsess.170 Dieser weigerte sich trotz offiziellen Gesuchs, den Jungen zurückzugeben. Mit Verweis auf den bereits anhängigen Fall unterstellte die Mutter, geborene von Brandenstein, dass das Kind zum Katholizismus verleitet werden sollte. Die Reichsritter aus Gebürg forderten von Aufsess in drei Schreiben zwischen August 1730 und April 1731 auf, den Jungen an den rechtmäßigen Vormund zurückzugeben, und schickten mehrmals berittene Beamte nach Bamberg, um das Kind abzuholen.171 Neben dem Rechtsbestand der Vormundschaft wurde argumentiert, dass unbotmäßiges Verhalten von Kindern gegenüber Eltern oder Vormündern, ja sogar das Davonlaufen aus der vormundschaftlichen Gewalt nicht unterstützt werden dürfe und es die Pflicht des Onkels sei, seinen Neffen zurückzugeben. Die Sachlage wurde dadurch kompliziert, dass der Junge sich weigerte, wieder bei seinem Großvater zu leben. Nach Aussage der Zeugen von Brandensteins hatte der Junge bei dem Versuch, ihn zum Mitkommen zu bewegen „mit grosser Animosität von ihm versetzet, was er ferner in Wüstenstein machen sollte, da er nunmehro Catholisch worden sey? Sein Herr Groß-Papa sollte nur die Vormundschafft aufgeben und sich um ihn weiter nicht bekümmern“.172 Der Fall scheint nicht vor den Reichshofrat gelangt zu sein. Eine letzte überlieferte Bittschrift von Johanna Gottlieb von Aufsess, geborene von Berlichingen, an das Corpus Evangelicorum mit der Bitte, noch einmal beim Kaiser vorstellig zu werden, verhallte ungehört am 11. Juli 1732. Das Corpus Evangelicorum wandte sich zwar noch einmal in ihrem Namen an den Kaiser, aber dort fand der Fall weiter keine Beachtung, obwohl sich zwischenzeitlich sowohl der König von Großbritannien als auch der König von Preußen durch ihre Gesandtschaften in Wien mit besonderer Vorstellung beim Kaiser für die Rückgabe des Kindes eingesetzt hatten. In der letzten Bittschrift der Freiherrin an die evangelischen Reichsstände verlieh sie, abgesehen von erneuter Verfahrenskritik, ihren ganz persönlichen Gefühlen als Mutter, die um den Verlust ihres einzigen Kindes
170 Schreiben an ein hochlöbliches Corpus Evangelicorum von Herrn Hans Ludwig von Brandenstein sub dato 29. May 1731 (mit Beilagen), in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 59. Ulm 1732, S. 116–34. 171 Copia Verfügung von Löblichen Reichs=Ritter=Orth Gebürg an Herrn Hauptmann Baron von Auffsess in Materia dicta de dato 26. Aug. 1730, in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 60. Ulm 1732, S. 349–351; Copia Verfügung von Löblichen Reichs=Ritter=Orth Gebürg an Herrn Hauptmann Baron von Auffsess in Materia dicta de dato 24. Novembris 1730, in: ebd., S. 351–353; Copia Verfügung von Löblichen Reichs=Ritter=Orth Gebürg an Herrn Hauptmann Baron von Auffsess in Materia dicta de dato 20. April 1731, in: ebd., S. 353–355. 172 Lit. D. Relatio Notarii in ermeldter Sache. Actum Bamberg den 5. Januarii 1731, in: ebd., S. 356–360, hier S. 359.
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trauerte, Ausdruck. Da dieser emotionale Bereich der Kindsentführung bislang nahezu völlig ausgeblendet wurde, soll ihr Brief mit einem größeren Ausschnitt auch die Analyse dieses Falles beenden. Dass – bei aller quellenkritischen Vorsicht – in diesem speziellen Kontext die Darstellung von Gefühlen allein als weibliche Strategie vor Gericht gewertet werden sollte, wäre wenig überzeugend. Nach einem erfolglosen Rechtsstreit um die Zurückgewinnung eines Kindes scheint der Ausdruck wahrer Verzweiflung einer leiblichen Mutter die emotionale Dimension derartiger Konflikte, wie sie besonders deutlich in dem Fall der Barbara Maurer geworden war173, auch hier zu verdeutlichen. Nach Kritik an dem schleppenden Verfahren, durch das ihr Sohn bald die Volljährigkeit erreicht haben werde, ohne dass sie an seiner Erziehung beteiligt gewesen sei, fuhr sie fort: Am Ende hingegen mir das leere nachsehen zu lassen, gleich als wann kein Recht oder Richter in der Welt mehr wäre, an das oder den er sich zu kehren habe. Mein Herz mögte mir bey so gefährlichen Auffschub vor Jammer und Wehmuth meine Augen aber in Thränen zerfliessen, da ja die Sache, je weiter sie hinaus trainiret, je desperater wird, bevorab über das alles noch mit äusserster Bestürzung vernehmen muß, daß gedachter mein Sohn, so offt er in den Dohm zu Bamberg oder daraus gehet, allemahl mit einer Ohnmacht befallen werde, zum handgreifflichen Zeichen, daß seine Anführung zur Catholischen Religion nicht ohn erlaubten Zwang und mit seinem mercklichen Wieder=Willen geschehe, mithin Gott selbst missfällig sey. Ewr. Excellenzien und meine hochgeehrteste Herren werden demnach mir bekümmert und hülffloser Mutter, die ich sonst keinen Rath, noch irgends wohin meine Zuflucht zu nehmen weiß, nicht ungütig deuten, daß dieselbe abermahls angehe, und um fernere Vorschrifft an Kayserliche Majestät inständigst ersuche, damit doch einmal Recht und Gerechtigkeit auch in meiner Sache gehandhabt.174
5.2.3 D iplomatische Irritationen und die Religionszugehörigkeit von Kindern – Der Fall Georg Christoph Centgraf Am 27. April 1730 gegen elf Uhr wurde der kursächsische Legationssekretär Augustus Herrich in den Empfangsraum des Freiherrn von Francken, des kurpfälzischen Gesandten in Regensburg, vorgelassen.175 Er war gekommen, um dem Gesandten ein Pro Memoria des Corpus Evangelicorum zu übergeben, in dem die umgehende
173 Vgl. Kapitel 3. 174 Abermahlig unterthäniges Memoriale ad Corpus Evangelicorum, von der verwittibten Frau Baronne von Aufsess [...] zur Wieder=Erlangung deren gewaltthätig entraubten und dato vorenthaltenen Sohns betreffend. 11. Juli 1732, in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 60. Ulm 1732, S. 363–366. 175 Relation des Chur-Sächsischen Legations-Secretarij Herrich, von der Ausrichtung, wegen des an des Chur-Pfälzischen Herrn Gesandtens Excellenz zu insinuiren gewillten, aber nicht an-
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Auslieferung von drei unmündigen evangelischen Kindern verlangt wurde, die bei Abwesenheit des Vaters, eines armen Schneiders namens Georg Christoph Centgraf, in der Kurpfalz zum katholischen Glauben gebracht worden waren. Der Vater stammte ursprünglich aus Nordenstadt in der Herrschaft Epstein in HessenDarmstadt, war aber mit seiner Familie vor etlichen Jahren nach Ungarn ausgewandert.176 Nach dem Tod seiner Frau kehrte er mit seinen drei kleinen Kindern zurück, um in Pfalz-Neuburg das Erbe seiner Frau von 1000 Gulden in Empfang zu nehmen. Verarmt und ohne festen Wohnsitz fand er bei einem Bauern in Unbestall, einem kleinen Dorf bei Neuburg Unterschlupf, wo er mit seinen Kindern im Schafstall hauste. Von dort machte er sich auf nach Hessen-Darmstadt, um die für den Erhalt des Erbes notwendigen Dokumente zu besorgen. Die Kinder blieben in erbärmlichem Zustand, so die Schilderung, zurück und begaben sich schließlich nach Neuburg, wo sie bettelten. Dort wurden sie von der katholischen Geistlichkeit aufgegriffen und einem katholischen Schulmeister zum Unterricht übergeben. Mehrere Monate waren ins Land gegangen, bevor der Vater nach Neuburg zurückkehrte, um seine Kinder abzuholen. Als die Kinder ihm nicht übergeben wurden, schaltete sich die Regierung von Hessen-Darmstadt auf sein Gesuch hin ein und forderte in einem direkten Schreiben an den Kurfürsten der Pfalz, die noch unmündigen Kinder zurückzugeben und das rechtmäßige Erbe auszuzahlen.177 Die Neuburgische Regierung versprach, diesem Ansinnen Folge zu leisten. Die drei Kinder wurden vor dem Landvogtsamt in Gegenwart der Geistlichen gefragt, ob sie zu ihrem Vater zurückkehren oder ob sie weiter katholisch bleiben wollten. Laut Protokoll weigerten sich die Kinder, mit ihrem Vater zu gehen. Auch ein zweites Intercessionalschreiben aus Hessen-Darmstadt konnte an diesem Verfahren nichts ändern. Zwischenzeitlich wurden die Kinder über die Grenze nach Bayern in ein katholisches Stift gebracht und waren damit dem Zugriff der Kurpfalz zumindest formal entzogen. Mit der Verweigerungshaltung der Kinder und diesem Tatbestand sollte die Kurpfalz zu einem späteren Zeitpunkt des Verfahrens die Nichtzuständigkeit der Regierung begründen. Die Angelegenheit war dem kurpfälzischen Gesandten von Francken bereits zu Ohren gekommen. Centgraf hatte bei ihm in Regensburg Beschwerde wegen
genommenen, Pro Memoria des Evangelischen Corporis in der Cent-Gräflichen Sache, in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 57. Ulm 1731, S. 101–103. 176 Species Facti In schon gedachter Cent-Gräflichen Sache, die Vorenthaltung dreyer unmündiger Kinder betreffend, in: ebd., S. 84–92. 177 Copia Intercessionsschreiben an Ihro Churfürstl. Durchl. zu Pfalz von des Herren Land-Grafens zu Hessen-Darmstadt Hochfürstl. Durchl., in Materia dicta, in: ebd., S. 92–95.
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Vorenthaltung seiner Kinder eingelegt, worauf er ihm angeraten hatte, sich direkt an den Kurfürsten der Pfalz und Neuburg zu wenden. Dass Centgraf sich nun aber an das Corpus Evangelicorum gewandt hatte, überraschte den Gesandten. Von Francken weigerte sich angesichts der Umstände, das Pro Memoria anzunehmen und stellte dem kursächsischen Legationssekretär Herrich in Aussicht, bei der nächsten Gelegenheit mündlich über die Sache zu reden. Herrich blieb nichts anderes übrig, als unverrichteter Dinge von dannen zu ziehen und sogleich einen Bericht über die ablehnende Haltung des kurpfälzischen Gesandten zu verfassen, der seine Weigerung damit begründet hatte, ihm liege kein Befehl vor, ein Pro Memoria in Empfang zu nehmen.178 Das Corpus Evangelicorum drückte umgehend sein Befremden gegenüber dem kurpfälzischen Landesherrn über das Verhalten seines Gesandten aus und erinnerte ihn daran, dass das Corpus Evangelicorum, „welches seiner bedrängten Glaubens Genossen im Reiche sich kräfftigst anzunehmen, durch den Westphälischen Frieden implicite et explicite so ohnlaugbar und deutlich authorisiret ist, sive in facto sive in jure nöthig befundene Vorstellungen sich nicht missfallen zu lassen“179. Im Jahre 1716 hatte das Corpus Evangelicorum erstmals den Grundsatz aufgestellt, dass die Angehörigen der evangelischen Konfession berechtigt seien, auf ihren „in denen Reichssatzungen klar fundirten Juris interveniendi et intercedendi für diejenigen Stände, so sich etwa in ein und anderem, tam circa ecclesiastica, quam politica für gravirt gehalten“, zu bestehen.180 Auch in späteren Konflikten wiederholte das Corpus Evangelicorum diesen Grundsatz der Interventionsberechtigung als Legitimationsgrundlage für politisches Handeln. Im Umgang mit konfessionellen Konflikten ging es nicht nur um konfessionelle Streitfragen, sondern diese wurden exemplarisch genutzt, um das Mächteverhältnis zwischen Kaiser und Ständen, vor allem den protestantischen Reichsständen immer wieder neu auszutarieren, ein Unterfangen, dass im 18. Jahrhundert an Schärfe gewann. Ob es hier nur um das Verhältnis von „kaiserlichem, oberstrichterlichem Amt und protestantischem Selbsthilfeanspruch“ ging, wie es Haug-Moritz in ihrer Arbeit umschrieb,
178 Relation des Chur-Sächsischen Legations Secretarij Herrichs, von der Ausrichtung, wegen des an des Chur Pfälzischen Herrn Gesandten Excellenz zu insinuiren gewillten, aber nicht angenommenen, Pro Memoria des Evangelischen Corporis in der Cent gräflichen Sache. Actum Regensburg, den 27. April 1730, in: ebd., S. 101–103. 179 Schreiben vom Corpore Evangelicorum an Ihro Churfürstliche Durchlaucht zu Pfalz, de dato den 17. Junij 1730, in: ebd., S. 104–116, hier S. 105. 180 Haug-Moritz, Württembergischer Ständekonflikt und deutscher Dualismus, S. 157. Jetzt auch mit Fallstudien Kalipke, Verfahren im Konflikt.
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ist zu bezweifeln.181 Das Corpus Evangelicorum agierte vielmehr selbstbewusst innerhalb der Verfassungsstruktur des Reiches, denn hier hatte es sich selbst verortet und übernahm damit nach eigenem Selbstverständnis die Garantie des Friedensvertrages, der durch einzelne Reichsglieder immer wieder bedroht wurde. Die Bitte des kurpfälzischen Gesandten, den vorgetragenen Fall nur mündlich zu erörtern, ging auf die missliebige Erfahrung zurück, dass Schriftwechsel Gefahr liefen, gedruckt zu werden; das wollte die Kurpfalz vermeiden.182 Diese Haltung stieß bei dem Corpus Evangelicorum auf wenig Verständnis, im Gegenteil, wer für eine gerechte Sache eintrete, müsse auch den Druck nicht scheuen, „letzterer auch ohne dieß am ersten unterbleiben würde, woferne nur die Gravamina cessirten“.183 Der Schriftverkehr in der Politik sei im Übrigen völlig üblich. Nach einer ausführlichen Fallbeschreibung verlangte das Corpus Evangelicorum erneut die Auslieferung der Kinder und forderte weiterhin Dero hiesige Gesandtschafft aber dahin gnädigst zu instruiren, daß selbige jederzeit non in Politicis tantum, sed etiam in Causis Religionis bey etwan vorkommenden Beschwerden freundschafftliche Communication mit uns pflegen, und mündlich oder schrifftlicher Vorstellungen sich künfftighin nicht entziehe.184
Wie politisch schwerwiegend die Verweigerungshaltung der kurpfälzischen Gesandtschaft, die in einem Antwortschreiben vom Kurfürsten gerechtfertigt und unterstützt wurde185, in den Augen der Protestanten war, zeigt nicht nur das Protestschreiben des preußischen Königs vom 8. Juli 1730186, sondern vor allem auch die Einmischung der Generalstaaten der Niederlande am 19. Juli 1730187. Man wisse zwar keine Details, so das Schreiben der Generalstaaten, über die Beweggründe des kurpfälzischen Gesandten, das Pro Memoria nicht anzunehmen, aber „im ersten Anblick dieser Sachen“ sei die „Behandlung Ihro ungewöhnlich
181 Ebd., S. 159. 182 Schreiben vom Corpore Evangelicorum an Ihro Churfürstliche Durchlaucht zu Pfalz, de dato den 17. Junij 1730, in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 57, Ulm 1731, S. 104–116, hier S. 106. 183 Ebd., S. 107. 184 Ebd., S. 113. 185 Copia Antwort-Schreibens an Ihro Königliche Majestät in Preußen von Chur-Pfalz, in Materia dicta, in: ebd., S. 120–122. 186 Copia Schreibens von Ihro Königl. Majestät in Preußen an Ihro Chur-Fürstl. Durchl. Zu Pfalz, d.d. Berlin den 8. Julii 1730, in der Centgräfischen Sache abgelassen, in: ebd., S. 117–120. 187 Extractus Protocolli von Ihro hochmögenden derer Herren General-Staaten der vereinigten Niederlanden, Mercurii den 19. Julii 1730, in: ebd., S. 122–125.
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und irregulair vorgekommen“188. Der Gesandte der Niederlande, von Bilderbeck, wurde angewiesen, sich bei dem Kurfürsten der Pfalz für die Annahme des Pro Memoria einzusetzen. Gleichzeitig wurde in dem besagten Schreiben der herkömmliche Umgang mit Religionskonflikten „zwischen den Gliedern des Teutschen Reichs wiewohln in puncto Religionis unterschiedliche Meynungen“ ausdrücklich gelobt und jegliche Änderung an dem Verfahren als Bedrohung des Friedens gewertet: so einige Ursachen von Klagen oder Beschwerden zu haben vermeynte, man selbige auf eine ordentliche Weise an denjenigen, von welchem die Redressirung nach Billigkeit erwartet werden muß, vorzutragen hätte, und wann sothane Mittel weggenommen werden, es sehr zu beförchten daß daraus nichts anders, als Missvergnügen, Misshelligkeiten und Verweiterungen entstehen möchten.189
Ihr Schreiben begründeten die Generalstaaten damit, dass sie es als ihre Pflicht ansähen, ihren Glaubensgenossen beizuspringen. Inzwischen lag von katholischer Seite eine Gegendarstellung über die Bekehrung und die Vorenthaltung der Centgrafischen Kinder vor. Durch seine Emigration nach Ungarn habe Georg Christoph Centgraf „ipso facto et Animo aufgehört, ein Subditus et Concivis Imperii zu seyn“.190 Als er nach Deutschland zurückkehrte, hatte er keine Bleibe und musste bei einem Bauern Unterschlupf finden. Im Schriftverkehr der kurpfälzischen Regierung wurde er als Durchreisender und als Fremdling bezeichnet. Dass der Vater seine Kinder zweimal über einen längeren Zeitraum allein gelassen hatte und sie sich nur durch Betteln ernähren konnten, lasteten die Verfasser Centgraf schwer an und sprachen ihm aufgrund dieses unmenschlichen Verhaltens das Recht auf die väterliche Gewalt ab.191 Die Versorgung der Kinder durch die Geistlichkeit in Neuburg wurde mit dem Erbe der Mutter bestritten; dem Vater wurden alle Rechte auf das Vermögen abgesprochen, da er ohne die Kinder darauf keinen Anspruch mehr habe. Als die Kinder sich im Verhör vor dem Landsamtsvogt weigerten, zu ihrem Vater zurückzukehren, wurden sie heimlich ohne das Wissen oder die Anordnung des Kurfürsten oder des Geheimen Rats an einen sicheren Ort in eine „ausser diesem Herzog thum liegenden Abtey“ gebracht. Daher könne die kurpfälzische Regierung von
188 Ebd., S. 124. 189 Ebd., S. 123. 190 Facti Species So wegen derer Centgrafischer Kinder ex parte Catholicorum zum Vorschein gebracht worden, worinnen die Detentio dictorum Liberorum zu defendiren gesucht wird, in: ebd., S. 128–132, hier S. 129. 191 Ebd., S. 130.
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diesem Fremdling nicht belangt werden. Auch im weiteren Schriftverkehr mit den Niederlanden und Preußen bedauerte die Kurpfalz zwar, dass die Kinder ohne Wissen der Regierung außer Landes gebracht worden seien, erklärte den Fall damit allerdings aufgrund mangelnder Zuständigkeit für abgeschlossen.
5.2.4 Streit um die Mündigkeit von Kindern – Der Fall von Erthal „So ungerne Ewr. Kayserl. Majestät Ihre Königl. Majestät in Preußen aus höchstdringenden Umständen behelligen, so sehr finden sich Dieselbe dazu Necessitirt, durch eine das gantze Evangelische Corpus, und dessen An- und Zugehörige also empfindlichst betreffende Sache“. 192 Mit diesen Worten eröffnete der Königlich Preußische Minister von Brand sein Pro Memoria an Kaiser Karl VI. (1685– 1740), um fortzufahren „dieses ist die Reichs bekante Gewissens Zwangs Sache, weiland Friedrichs von Erthal nachgelassene Evangelisch gebohrner unerzogener Kinder“.193 Unter Bezug auf eine frühere Vorstellung194 forderte von Brandt ein mandatum sine clausula zur umgehenden Rückgabe der vier von ihrem katholischen Onkel entführten evangelischen Kinder an ihren rechtmäßigen Vormund, der Großmutter mütterlicherseits. Vorausgegangen waren diesem Pro Memoria bereits ein beachtlicher Schriftwechsel sowie die Arbeit der Bambergischen und Sachsen-Gothaischen Untersuchungskommissionen, die durch kaiserliches Reskript vom 29. September 1728 eingesetzt worden waren. Am Anfang stand eine Klage der verwitweten Freifrau von Schaumberg, geborene Marschallin von Ebenet, Großmutter der Kinder mütterlicherseits, vor dem Reichshofrat wegen der Entführung ihrer vier Enkelsöhne am 15. September 1726 durch den Bruder ihres verstorbenen Schwiegersohns, den Domherrn Dietrich Carl von Erthal nach Würzburg.195 Dem folgten zwei kaiserliche Reskripte zum Einsatz der genannten Untersuchungskommissionen sowie am 1. September 1729 zur Bestrafung Diet-
192 Copia eines Pro Memoria, die Erthalische Kinder betreffend, so zu Wien, Kayserl. Majestät von dem Königl. Preußischen Minister Herrn von Brand, übergeben worden, in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 57. Ulm 1731, S. 80–83, hier S. 81. 193 Ebd. 194 Vom 3. Mai 1729. 195 Weiland Karl Friedrich von Erthals Kinder Vormundschaft betreffend, 1726–1751: ÖStA HHStA RHR Reichshofrat, Decisa K. 1519 und K. 1520. v. Erthal Hinterley derren kinder Vormundschaft betreff.
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rich Carl von Erthals wegen Widersetzung gegenüber einer kaiserlichen Anordnung.196 Aufgrund der Verfahrensverzögerung wandte sich die Freifrau von Schaumberg im Jahre 1730 schließlich mit einem ausführlichen Schreiben an das Corpus Evangelicorum, angeregt, wie sie zugab, von dem Beispiel der Freifrau von Aufsess, die den gleichen Weg beschritten hatte.197 Ihrer Eingabe folgte ein umfassendes Intercessionalschreiben des Corpus Evangelicorum im September 1730, in dem neben der Kritik am Verfahren – unter anderem an dem Einsatz katholischer Subdelegierter in den Untersuchungskommissionen, die die Kinder nur ungenügend über ihren katholischen Glauben befragt hätten – dem Domherrn moralischer Gewissenszwang vorgeworfen wurde.198 Vor allem die Bambergische Kommission wurde mit Verweis auf das Protokoll belastet, einseitig die Interessen des Domherrn von Erthal zu vertreten.199 Es sei schon erstaunlich „wie verwegen heutiges Tages manche Geist- und Weltliche Persohnen unter dem Praetext der Anverwandtschafft ohnmündige entweder von beyderseits Evangelischen Eltern oder doch wenigstens aus vermischten Ehen gebohrne“, die evangelisch erzogen worden waren, nach dem Tod der Eltern „eigenmächtig, ja zum theil gewaltsam entführen und hinwegnehmen“ und diese „bey noch ganz kindischem Alter“ zur katholischen Konfession „directe vel indirecte“ bewegten.200 Die Bekehrung sei die „Haupt Ursache und Absicht derer Kinder Entführung und Gefangenschafft“.201 Den kaiserlichen Anordnungen würde unter allerlei Vorwänden ausgewichen, „bis endlich lite pendente die Kinder der mehrere Jahre erlangen, und man auf ihr vermeintliches Judicium discretivum als dann provocirende, eo ipso die ohnjustificirlich angefangene Sache glücklich beendiget“.202
196 Copia Kayserl. Rescripti an Carl Dieterichen von Erthal in Sachen von Erthal weyland Carl Friedrich nachgelassener Kinder Vormundschafft betreffend, in: Faber, Europaeische StaatsCantzley, Tl. 57, Ulm 1731, S. 56–57. 197 Was wegen der annoch continuirenden Vorenthaltung derer jungen Herren von Erthal und Aufsess so wohl bey dem höchst=preißlichen Corpore Evangelicorum, als auch bey Ihro Kayserl. Majest. Erheblichst vorgestellet, und publiciret worden. Dictatum per Chur-Sachsen 28. Juli 1730, in: ebd., S. 48–55. 198 Allerunterthänigstes Vorstellungsschreiben an Ihro Röm. Kayserl. Majestät etc. vom Corpore Evangelicorum, sub dato Regensburg den 6. September 1730 abgelassen, in: ebd., S. 58–80. 199 Ebd., S. 62. 200 Ebd., S. 59–60. 201 Ebd., S. 60. 202 Ebd., S. 60–61.
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Und um eben diese Frage, die Frage des Urteilsvermögens und damit der Mündigkeit von Kindern, die allein erst einen Glaubenswechsel zulasse, ging es in diesem Fall.203 Bereits das besagte Intercessionalschreiben des Corpus Evangelicorum stellte diese Problematik in den Mittelpunkt und warf von Erthal vor, dass der freiwillige Glaubenswechsel der vier Kinder nach nur dreimonatiger Unterweisung durch Jesuiten an einem rein katholischen Ort schlicht undenkbar sei und „bey so imbecillen Alter nicht alleine ohnstreitigst einen moralischen Gewissens-Zwang involvirt, sondern auch noch auf mehrere mit der Religion und Christenthum incompatible Begebenheiten hinaus laufft“.204 Die Abschottung völlig hilfloser Kinder von jeglicher Information der „angebohrnen Väterlichen und Mütterlichen Religion“ mit allen Begleitumständen der Festnahme an einem rein katholischen Ort „distrahiren, schwächen und verdunckeln auch den Verstand, welchen man sonsten in wahrer ohnumschrenckter Freyhheit befindlicher Kindern von 12, 13 und 14 Jahren nach Gelegenheit etwan bemessen mag“.205 Als die Kinder 1726 nach Würzburg gebracht wurden, waren die beiden jüngsten Erthalischen Kinder erst sieben und neun Jahre alt und nicht fähig, eine so schwerwiegende Entscheidung wie einen Glaubenswechsel beurteilen zu können. Den Einwurf des Erthalischen Advokaten, der Glaube sei eine Gabe Gottes, die Folge einer unmittelbaren Erleuchtung, lehnten die evangelischen Stände ab, da das dann auch für noch weit kleinere Kinder, „die kaum reden gelernt, gelten müste“. „Welches zu statuiren sich jedoch unsers Wissens noch niemand einfallen lassen.“206 Gerade weil im Westfälischen Friedensvertrag das Konversionsalter nicht festgeschrieben worden war, müsste man sich daran orientieren, „was die Natur und die Erfahrung an die Hand geben“, und Entscheidungen über „wichtige ihr zeitliches und ewiges Wohl oder Wehe betreffende Sachen“ Kindern erst überlassen, „da ein reiffes Judicium sich erst zu äussern pflegt, auch würcklich sich äussert“.207 Doch wann genau war dieses Alter erreicht? Diese Frage trieb vor allem die evangelischen Reichsstände seit 1650 um, als sie erstmals versuchten, in diesem Punkt eine einheitliche Regelung mit den katholischen Reichsständen zu erstreiten. Nach ersten Annäherungen zogen sich die damaligen katholischen Gutachter schließlich auf die Position zurück, dass es sich hier um eine Frage handelte,
203 Zu der Frage religiöser Subjektivierung und Religionsmündigkeit vgl. Kapitel 2. 204 Allerunterthänigstes Vorstellungsschreiben an Ihro Röm. Kayserl. Majestät etc. vom Corpore Evangelicorum, sub dato Regensburg den 6. September 1730 abgelassen, in: ebd., S. 58–80, S. 68. 205 Ebd. 206 Ebd., S. 69. 207 Ebd.
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die ausschließlich geistlicher Natur und also von weltlichen Ständen nicht zu entscheiden sei. Dabei blieb es, und im vorliegenden Fall wurden neue Gutachten bemüht, zunächst jeweils eines aus Würzburg und eines aus Halle, und nachdem sich beide gegenseitig hoffnungslos widerlegt hatten, nochmals je eines der beiden juristischen Fakultäten208. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die Gutachter aus Würzburg den Glaubenswechsel als einen freiwilligen Akt bewerteten, da die Kinder die Möglichkeit, zu ihren evangelischen Vormündern zurückzukehren, ungenutzt gelassen hätten und in einer Befragung durch die kaiserliche Kommission sogar ganz klar ihre Abneigung gegenüber der evangelischen Konfession zum Ausdruck gebracht hätten. In ihrem Elternhaus seien die Jungen immer auch von Katholiken umgeben gewesen, so dass sie sehr wohl im Stande gewesen waren, zwischen den Konfessionen zu unterscheiden. Darüber hinaus betrage das Alter der Kinder inzwischen siebzehn, sechzehn, zwölf und elf Jahre, die ältesten Kinder hätten also inzwischen das Judicium discretivum erreicht. Die Forderung aus Halle, erst nachdem die evangelische Unterweisung nachgeholt worden sei und die Kinder über vergleichbare Kenntnisse beider Konfessionen verfügten, könnten sie wirklich entscheiden, welcher Konfession sie angehören wollten, wurde abgelehnt. Die Gutachter der Juristischen Fakultät an der Universität Halle hatten nun die Aufgabe, noch einmal die Darstellung des Gutachtens aus Würzburg zu widerlegen.209 Dazu gehörten zunächst formale Mängel, die angeprangert worden waren, wie beispielsweise ungenügende Akteneinsicht, auszuräumen, um dann aber auf die Kernstücke, nämlich die Rechtmäßigkeit und Freiwilligkeit des Glaubenswechsels, einzugehen. Nach evangelischer Auffassung waren die Kinder unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters, noch bevor die Frage der Vormundschaft endgültig geklärt werden konnte, „übereilt“ an einen rein katholischen Ort, Würzburg, gebracht worden, wo sie völlig isoliert von ihrem ursprünglichen evangelischen Umfeld von Jesuiten nach strengem Stundenplan in den katholischen Glauben eingewiesen wurden. Die Tatsache, dass die „unverständigen“ Kinder schon nach drei Monaten öffentlich ihren katholischen Glauben bekannten, weise eindeutig auf einen „moralischen Gewissenszwang“ hin.210 Es sei nun Aufgabe des Kaisers zu entscheiden, ob der Religionswechsel der Kinder, wie von
208 Vgl. Kapitel I und II. 209 Befestigung des Erläuterten Rechts derer Evangelischer Anverwandten, bey der Education und Vormundschafft Evangelischer Pupillen, gegen allen moralischen Religions-Zwang [...] durch ein drittes Responsum Juris der Königl. Preussischen Juristen Facultät zu Halle abgefasset, in: Faber, Europaeische Staats-Cantzley, Tl. 59. Ulm 1732, S. 209. 210 Ebd., S. 37.
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katholischer Seite dargestellt, sich konform zum Reichsreligionsfrieden verhalte und damit endgültig sei, oder aber, ob er rückgängig gemacht und die Kinder wieder evangelisch werden müssten, wie von evangelischer Seite gefordert.211 Um diese Frage wirklich klären zu können, musste überprüft werden, unter welchen Bedingungen sich der Glaubenswechsel vollzogen hatte und wie die Kinder selbst über ihre Konfessionszugehörigkeit urteilten. Mit diesem Auftrag ausgestattet übernahmen zwei kaiserliche Untersuchungskommissionen die Aufgabe, eben diese Zusammenhänge zu ergründen. Im Mittelpunkt stand dabei die Vernehmung der Kinder, die verfahrenstechnisch sehr kritikanfällig war. Die erste Befragung durch einen Notar zu Rottenbauer wurde von evangelischer Seite nicht akzeptiert, da die Kinder hier ganz offensichtlich mit den Fragen im Vorfeld vertraut waren und lediglich auswendig gelernte Antworten wiedergegeben hatten. Da dies nicht ganz von der Hand zu weisen war, wurde eine zweite Befragung vor einer kaiserlichen Kommission angeordnet, die sich allerdings nicht die „Fragen des Notarii zu Rottenbauer wiederholen wolle, als wozu eine so kostbare Kommission allerdings unnöthig gewesen seyn“.212 Stattdessen forderte die Sachsen-Gothaische Subdelegation am 9. März 1730, die kaiserliche Intention genau zu befolgen, was nur zu bewerkstelligen sei „Als daß Sie diese Religions – Anderung allenthalben gründlich untersuchen sollten, und also man von der Religion nothwendig reden müste“.213 Nur so könnte ein Urteil über das Judicio Discretivo der vier Kinder gefällt werden „Daß sie gegenwärtig geschickt wären, aus unterschiedlichen Religionen mit Verstand eine zu erwehlen, wenn Sie sich schon vor drei Jahren übereilet haben sollen“.214 Da die Kinder nach Aussage der Katholiken schon unmittelbar nach dem Tod des Vaters „sattsame Vernunfft haben, das Gute vom Bösen zu disceniren, und den Unterschied der Religionen zu machen“, so müssten sie nun erst recht in der Lage sein, ihren Glaubenswechsel zu begründen.215 Das beinhaltete konkret, dass ihnen die Hauptunterschiede der Konfessionen bekannt waren, und „was Sie bey einer wahr bey der andern falsch, also bey einer gut, und bey der andern böse befunden, verstanden haben, welches aber ja in facto beruhet, und durch leeres raisonniren [...] sich nicht ausmachen lässet“.216 Es müsse also
211 Ebd., S. 25. 212 Ebd., S. 34. 213 Ebd. 214 Ebd., S. 35. 215 Ebd., S. 36. 216 Ebd.
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eine Probe aufs Exemplum statuiert werden, verlangte die Sachsen-Gothaische Subdelegation, „weil sonsten, wie das Protocollum ferner lautet, Wenn Sie wider aller Verhoffen in der allgemeinen Christlichen Religion nicht sattsam gegründet seyn sollten, man keinen auch den allerpartheyischten Menschen nicht bereden können würde, zu glauben, daß sie vor 3 Jahren eine freye, verständige und reiffliche bedachte Wahl, zwischen denen Christlichen im Reich recipierten Religionen hätten treffen können.217
Diesem Vorschlag widersetzte sich die Bambergische Subdelegation und forderte, Fragen wie die folgende nicht in das Protokoll aufzunehmen: „Ob ihm denn damahls bey seiner zarten Jugend die Evangelische Religion sattsam bekandt gewesen“?218 Dies gehöre „vor die Kirchen und nicht vor die Commission“219. Die Einsilbigkeit, mit welcher der älteste Junge die Fragen beantwortete oder eine Aussage verweigerte – „Das wüsste er für sich, und behielte es auch für sich allein“220 – wertete die evangelische Seite als Beweis für den Unverstand der Kinder. Dadurch werde der Verdacht vermehrt, daß auf eine unerlaubte Art er in seiner Unschuld und Unwissenheit, da er als ein Evangelisch-gebohrner und erzogener unter Evangelischer Education denen Rechten noch stehen sollen, zur Catholischen Religion in seiner Bestrickung gezogen, nicht aber durch göttliche Erleuchtung, wie die Habermannische Responsa behaupten, darzu gebracht ist.221
Die Fragen, die dennoch zu den einzelnen Konfessionen gestellt und von den Kindern beantwortet wurden, schienen ein weiteres Mal zu bestätigen, dass die Kinder von den Jesuiten „in ihrer zarten Jugend“ gegen den evangelischen Glauben aufgehetzt worden waren.222 Der dritte Junge hatte auf die Frage nach seiner Einstellung zum evangelischen Glauben geantwortet: „Es wäre die Evangelische Religion Ihme zuwider gewesen, und hätte einen Schauer darvor gehabt“.223 Der damals siebenjährige jüngste Sohn hatte auf die gleiche Frage geantwortet: „Er habe seinen Scrupel gemachet und vermeinet, er sey der wahre Glaubet (die Augspurgische Confession meinend) nicht, und führe der Catholi-
217 Ebd., S. 37. 218 Ebd., S. 38–39. 219 Ebd., S. 39. 220 Ebd., S. 41. 221 Ebd., S. 42. 222 Ebd., S. 43. 223 Ebd., S. 42.
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sche Glauben zur Seeligkeit“.224 Für die Gutachter aus Halle stand fest, dass der Glaubenswechsel der Kinder die Folge von Gewissenszwang und massiver Beeinflussung zu Ungunsten der evangelischen Konfession war. So lange sie nicht die Freiheit erhielten, sich über beide Konfessionen gleichberechtigt zu informieren, provozierten die Befragungen bloßes „Papageiengeschwätz“ und auch das Bekenntnis zum katholischen Glauben sei nicht ernst zu nehmen.225 Noch einmal fassten die Gutachter ihren ganzen Unmut über die Bekehrung zusammen: Wenn man setzet, daß jemand unschuldige Kinder von Ihres Vatters Hause in unverständigem Alter entführet, Ihnen nachgehends weißmachet, daß es in Ihres Vatters Hause hefftig spückete, und nicht richtig sey, ja alle Ihre Verwandten und die Groß-Mutter selbsten die ärgsten Hexen wären, welche sie sofort behexen, und denen Gespenstern zu plagen übergeben würden, und was dergleichen Dinge, welche man 3. bis 4. Jahr Ihnen vorgehalten, mehr seyn können, so ist leicht zu begreiffen, daß so lange die Kinder in dieser persuasion stehen, und darvon nicht befreyet, und eines andern überführet werden, sie alle einen Abscheu vor Ihres Vatters Haus, und Ihre Anverwandten haben, ja die Großmutter selbst verdammen.226
Der hier geschilderte Streit über die Rechtmäßigkeit des Glaubenswechsels unmündiger Kinder war, wie bereits an anderer Stelle angedeutet, kein Einzelfall. Auch der Vorwurf von evangelischer Seite, die katholischen Verwandten hätten sich die Unwissenheit der Kinder zu Nutze gemacht und diese zum katholischen Glauben durch allerlei Versprechungen und Drohungen verleitet, tauchte im 17. und 18. Jahrhundert immer wieder auf. Besonders gravierend waren die Ausschreitungen gegen die Salzburger Emigranten im frühen 18. Jahrhundert, denen häufig die Kinder vorenthalten wurden, um sie im katholischen Glauben erziehen zu lassen.227
5.2.5 Zwangskonversion und die Macht der Öffentlichkeit – Der Fall von Staritz Der Konflikt über die religiöse Erziehung eines achtjährigen, katholisch getauften Mädchens namens Maria Antonia Walpurgis von Woyda begann, als sich die Familie nach Pfalz-Neuburg begab, wo die Mutter, Maria Josepha Theresia von Staritz, geb. von Mackh, in erster Ehe von Woyda, ihr väterliches Vermögen von
224 Ebd., S. 44. 225 Ebd., S. 41. 226 Ebd., S. 56–57. 227 Für Beispiele vgl. Vollständige Sammlung aller Conclusorum, Bd. 3, S. 64, die Einträge im Register unter der Überschrift „Kinder – Entführung, Vorenthaltung und Verleitung zur katholischen Religion“ sowie die bereits geschilderten Fälle in diesem Teil.
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10.000 Gulden, das ihr bislang vorenthalten worden war, einklagen wollte.228 Ihr Vater, Johann Franz Mackh, war kurpfälzischer landschaftlicher Regierungsrat zu Neuburg an der Donau gewesen.229 Maria Josepha Theresia, katholisch aufgewachsen und erzogen, hatte nach dem Tod ihres ersten Ehemanns, von Woyda, den lutherischen Hauptmann Johann Peter von Staritz geheiratet und war ebenfalls zum lutherischen Glauben übergetreten. Aus erster Ehe hatte von neun Kindern nur eine Tochter, Maria Antonia Walpurgis, überlebt, die in Neuburg an der Donau in der St. Peterkirche katholisch getauft und bis zu dem Tod ihres ersten Ehemanns auch katholisch erzogen worden war. Nach der erneuten Eheschließung hatte Maria Josepha Theresia nach eigener Aussage ihre Tochter mit in den evangelisch-lutherischen Gottesdienst genommen und „seither zum lutherischen Vater unser, und dergleichen gebetten angehalten“.230 Während die Familie in Pfalz-Neuburg auf Justizhilfe wartete, verarmte sie, machte Schulden, wurde zunächst von der Mutter mütterlicherseits unterstützt und als diese Unterstützung ausblieb, verpfändete sie nach eigener Aussage ihre Kleider231 und lebte schließlich von Betteln und Almosen.232 Gerüchte verbreiteten sich über ihren liederlichen Lebenswandel und ihr ärmliches Aussehen. In dieser Zeit ging ein Gesuch der Pfalz-Neuburgischen Regierung an den Kurfürsten „die gnädigste verfügung zu thun, daß erdachter von Staritz Ihr töchterlein. Weilen sie sich eben annoch in Mannheim befinden solle, abgenohmen, in das allhiesige Hospital oder Waisenhaus zur Christ Catholischen Erziehung über-
228 Acta aus der Pfalz Neuburger Regierung bericht dasselbe zu Neuburg gebürtige Mackin ehemahlig verehelichte von Woyda jetzo von Staritz nebst ihrem 9 oder 10 jährigen Töchterlein dahier sich befinde, und in gefahr seye, von der Väterlichen catholischen ab und zur protestantischen religion erzogen zu werden, GLA 77/4185 (1758–1759). 229 GLA 77/4185 (1758–1759), hier fol. 13 (21. Februar 1758). Hinweis in einer Befragung von Maria Josepha Theresia von Staritz, geb. von Mackh, ehemals in erster Ehe von Woyda. 230 GLA 77/4185, fol. 13–23, hier fol. 19 (21. Februar 1758). Befragung von Maria Josepha Theresia von Staritz, geb. von Mackh, ehemals in erster Ehe von Woyda. 231 Acta was zu Regensburg bei der Versammlung A.C. Verwandten Ständen vorgebrachte Beschwerde des sich also nennenden Hauptmanns Joachim Peter von Staritz wegen seiner ehemals catholisch zum Lutherischen Glaub übergegangenen frau präbentierten Vätterlichen Erbtheils und Erziehung des Kindes von ersterer Ehe in vormalig beider Eltern katholischer Religion betr. GLA 77/4193 (1758–1759). Extractus dem mit der von Woyda zu Neuburg unterm 13. August abgehaltene Constituta, GLA 77/4193 (1758–1759), fol. 58 (13. August 1751). 232 Extractus Churpfälzisches Regierungs Raths Protocoll, GLA 77/4193, fol. 4 (4. März 1758).
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geben, und dadurch etwa von der seduction in dem glauben, und anständigen Lebens Wandel erretet werden möchte“.233 Dem Gesuch war ein geheim gehaltener Versuch vorausgegangen, das zehnjährige Kind in die Obhut eines katholischen Verwandten, Geheimrat Philipp zu geben. In einer kurpfälzischen Resolution wurde der Regierungsrat und Stadtdirektor Gobin angewiesen, Mutter und Kind ausfindig zu machen und bereits am 17. Februar ging sein erster Bericht an die Regierung mit der Bitte um weitere Anweisungen ein: Mutter und Kind habe er in Gewahrsam genommen.234 Zunächst wurde angeordnet, die Mutter über ihr Alter, ihre Familie, ihre Religion, die Gründe ihres Religionswechsels, und die religiöse Unterweisung ihrer Tochter zu befragen. Auf die Frage, in welcher Religion ihre Tochter aus erster Ehe zu Lebzeiten ihres Mannes erzogen worden war, antwortete sie „In der Catholischen Religion“. Gefragt, „In was für einer eigentlichen religion solches dermahlen erzogen würde“, erwiderte die Mutter „Noch zur zeit in keiner religion, weder catholischer noch lutherischer religion, und in so lang selbige nicht im stande seye, zum heiligen abendmahl zu gehen“.235 Darauf wurde sie gefragt, welche Schule und Kirche das Kind nach Ableben ihres Mannes besucht, welche Gebete sie das Kind gelehrt, und ob es bereits ein Glaubensbekenntnis abgelegt habe. Die Mutter räumte die lutherische Unterweisung ein, verneinte aber, dass sich das Mädchen bereits zu einer Religion bekannt habe, es sei noch „von zarter Jugend und (könne) aus eigener Vernunft einige Erkenntnis im Glauben nicht haben“.236 Auf die Frage, ob sie denn vor Gott verantworten könne, ihre Tochter, die katholisch getauft sei wie sie selbst und ihr verstorbener Vater, in einer anderen Religion zu erziehen, erwiderte Maria Josepha Theresia, sie habe alles „bishero aus desperation gethan, weilen sie von ihren freunden umb das ihrige gebracht worden, und wenn hinwieder zu dem ihrigen geholfen werde, so werde sie nicht allein ein anderes mit ihrem kind sondern auch mit ihrer eigenen person, und vielleicht auch mit ihrem dermahligen Mann anfangen.“237 Abschließend wurde Maria Josepha Theresia gefragt, was sie entgegnen würde, wenn die kurpfälzische Regierung ihre Tochter, die katholisch geboren sei, auch katholisch erziehen lassen würde. Darauf deutete sie an, dass sowohl sie selbst als auch ihr
233 Remistatur praesentum Pfalz-Neuburgische Regierung, GLA 77/4185, fol. 2–4, hier fol. 3 (9. Januar 1758). 234 GLA 77/4185, fol. 7–9 (17. Februar 1758). Ohne Titel; Brief des Regierungsrats und Stadtdirektors Gobin an den Kurfürsten. 235 GLA 77/4185, fol. 13–23, hier fol. 18 (21. Februar 1758). Befragung von Maria Josepha Theresia von Staritz. 236 GLA 77/4185, fol. 20 (21. Februar 1758). 237 GLA 77/4185, fol. 21 (21. Februar 1758).
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Mann unter bestimmten Bedingungen bereit wären, den katholischen Glauben anzunehmen: Es seye einer natürlichen Mutter sehr hart, ihr Kind von sich zu geben, jedoch im fall sie die Mutter auch aus ihrer Noth gerettet würde, inmaßen sie sonsten vor hunger verkümmern müsste, wäre sie solches zu frieden, und wann ihren dermahl sich hier auch anweßend befindlichen Ehe Mann, welcher ein vollbürtig guter Cavalier, und mehr nicht als 50 Jahr alt folglich zu allen diensten fähig seyn, auch in Reichs Diensten bereits etliche 30 Jahr gestanden, geholfen würde, sich dießer auch nicht abgeneigt bezeigen würde, sich eines anderen zu bedienen.238
Dennoch meldete der Mannheimer Regierungsrat und Stadtdirektor Gobin am 25. Februar 1758, dass er auf Resolution der kurpfälzischen Regierung das zehnjährige Mädchen, das zunächst „zum Lutherischen Pfarrer Böttger geflüchtet“ war, in das Hospital zur katholischen Unterweisung gebracht habe.239 Über die Eltern zeichnete er ein düsteres Bild völliger Verarmung und Verwahrlosung, sie würden „denen hohen Herrschaften mit Suchung eines Almosen beschwerlich fallen“ und hätten ihre Kost nicht „den Gastgebern zum rothen Haus“ in Mannheim gezahlt.240 Gobin schlug vor, die Eltern „von hier fort zu schaffen“.241 Der Fall nahm eine plötzliche Wende, als es dem Mädchen gelang, aus dem Hospital zu fliehen. Das Hospital informierte die kurpfälzische Regierung am 22. November 1758, dass sich das Kind „absentiret“ habe und das Mädchen trotz „allen angewandten nachforsch- und nachsehung ohngeachtet, aber nicht beigebracht werden können“.242 Ein Jahr später wurde in Regierungskreisen der Kurpfalz die Vermutung verbreitet, das Kind würde sich in Regensburg aufhalten und sei im Quartier der kursächsischen Gesandten untergebracht worden.243 Dieser Verdacht erhärtete sich. Johann Peter von Staritz hatte sich gezielt mit dem Kind und der Mutter nach Regensburg begeben, wo er zu einem eher ungewöhnlichen Mittel griff: Er publizierte den gesamten Vorfall in Regensburg. Seine Argumentation war sehr persönlich und gleichzeitig hochpolitisch. Er berief sich auf die
238 GLA 77/4185, fol. 22 (21. Februar 1758). 239 GLA 77/4185, fol. 24–25, hier fol. 25 (25. Februar 1758). Bericht des Regierungsrats und Stadtdirektors Gobin an den Kurfürsten. 240 Ad Serenissimum, Mannheim den 7 Martiy 1758, GLA 77/4185, fol. 30 (7. März 1758). 241 GLA 77/4185, fol. 24–25, hier fol. 25 (25. Februar 1758). Bericht des Regierungsrats und Stadtdirektors Gobin an den Kurfürsten. 242 GLA 77/4185, fol. 36 (22. November 1758). Bericht der Hospital Kommission an den Kurfürsten. 243 GLA 77/4185, fol. 56 (28. Juni 1759). Schreiben „Ad mandatum Serenissimi Domini Electoris probrium“.
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im Westfälischen Frieden verbriefte Glaubensfreiheit, schilderte detailliert die Leiden seiner Frau und Stieftochter und die Brutalität, mit der ihnen das Kind genommen worden war. Sichtlich ungehalten beklagte die kurpfälzische Regierung im Dezember 1759 in einem Pro Memoria „Die falsche und lasterhafte Beschwehrung des Johann Peter von Staritz wider die angebliche Vorenthaltung seiner frau vätterlichen Erbschafft und derselben ersterer Ehe Kindes in der katholischen religion betr“.244 Dieser „herrenlose Hauptmann“, so der Hauptvorwurf, habe gemeinsam mit seinem „liederlichen Weib“, das am Bettelstab lebe, „sogar am 9 May des zu Ende neigenden Jahres zu öffentlicher Austheilung gekommener Eingabe an die daselbst Versammelten fürstlichen Herren Räthe, Botschaften und Gesandten, der A.C. Anverwandten des H.R.R. Churfürsten, Fürsten und Stände lästerlicher Weise vorzubilden“, dass seiner Frau nicht nur das Erbe ihres ersten verstorbenen Mannes vorenthalten worden sei, sondern in diesem „schmählichen Abdruck“ werde auch behauptet, ihm sei seine Tochter „aus den Armen gerissen“ und in das Catholische Hospital zu Mannheim „wider ihren Willen zu dieser Religion zu zwingen mit gleicher unbefugter Gewalt fortgeschafft worden“.245 Die kurpfälzische Regierung reagierte sichtlich irritiert auf diese umfassende gedruckte Anklage246, die auch in Zeitungen verbreitet wurde, und ordnete sofort eine ausführliche Gegendarstellung an. Teilweise typographisch in zwei Spalten angeordnet, wurden „Contenta Memoralis“ und „Gegen-Anmerckungen“ gegenübergestellt. Die Regierung beschuldigte von Staritz neben der unerlaubten Veröffentlichung des Falls, den Kindsraub zu dramatisieren und „bald auf diese, bald aber auf jene nur einig Christlich Mitleyden erwecken sollende Art angeführet werden wollen“.247 In dem gedruckten Pro Memoria sowie Facti Species sollten die „vermessene und Reichs-Grundgesetzt-widrige Art“ des von Staritz an den Pranger gestellt und zugleich die Vorwürfe als haltlos zurück gewiesen werden.248
244 Pro Memoria, GLA 77/4185, fol. 67–73, hier fol. 67 (1759). 245 GLA 77/4185, fol. 67–73, hier fol. 67–68 (1759). 246 An ein hochpreißliches Corpus Evangelicorum unterthäniges Memorial und Species Facti des Hauptmanns Joachim Peter von Staritz, de dato 25. April 1759, GLA 77/4194. 247 Pro Memoria und Facti Species. Kurze jedoch standhafte Abfertigung des bey der Versammlung A.C. Verwandte Stände zu Regensburg von Tit. Joachim hr. von Staritz in puncto der seiner Ehegattin einer ehemaligen von Woyda und gebohrnen Mackin, durch die Chur-Pfalz-Neuburgische Regierung und Stadt Director zu Mannheim vermeintlich vorenthaltene Erbschafft, und ungebührend weggenommen worden seyn sollenden kindes eingerichteten Memorials, dann beygebogener so betitelter Facti Specie, GLA 77/4185, fol. 81–122, fol. 82 (1759). Druckversion. 248 GLA 77/4185, fol. 81–122 (1759). Druckversion des Pro Memoria und der Facti Species.
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In den Facti Species waren neben einer ausführlichen Fallschilderung unter anderem die Gegendarstellung des Regierungsrats und Stadtdirektors Gobin enthalten, der die Einweisung in das katholische Waisenhaus umgesetzt hatte, Auszüge von Stellungnahmen des Geheimrats und Landvogts Leopold Joseph Frey und Herrn von Coreth in Rumo, des Hospitalverwalters Gerhard Dochtermann, des Stadtrats und Stadtgerichtsdieners Johann Georg Fordenbach, des Almosenpflegers Johann Christoph Scherger, des Stadtwachtmeisters Rausch, Vertretern der kurpfälzischen Regierung, darunter Graf von Essern, sowie Auszüge umfangreicher Befragungen der Mutter des Kindes, Maria Josepha Theresia von Woyda, geborene Mack und schließlich verschiedener Personen aus dem Umfeld der Familie sowie von Wirtsleuten und Dienstmägden. Die kurpfälzische Regierung scheute keine Mühen, belastendes Material vor allem gegen die Mutter zusammen zu stellen und öffentlich zu machen. Die Ver höre von Dienstmägden, Wirtsleuten und Familienangehörigen, die extra angeordnet und durchgeführt wurden und sich auf die zurückliegenden Lebensjahre von Maria Josepha Theresia von Woyda sowohl in ihrer Familie als auch auf ihren Reisen erstreckten, bezogen sich ausnahmslos auf den Vorwurf des Ehebruchs und verbotenen Beischlafs, den sie wiederholt begangen haben soll. Detailliert wurde gefragt, ob sie sich bei der Einquartierung von Soldaten im Haus ihres Schwagers, wo sie während des Kriegsdienstes ihres inzwischen verstorbenen ersten Mannes von Woyda lebte, eingelassen habe, mit wem sie das Bett in Herbergen geteilt, wie weit sie angekleidet gewesen sei, ob das Laken ihres eigenen Bettes am Morgen zerwühlt gewesen, also benutzt worden war, und ob ihr Kind zwischen ihr und einem mit im Bett liegenden Mann gelegen habe, oder aber am Rand oder unter dem Bett.249 Maria Josepha Theresia von Woyda wurde mit den belastenden Antworten der Befragten konfrontiert und wies jedes Mal die Vorwürfe Punkt für Punkt zurück. Ihr Kind habe immer mitten im Bett gelegen aus Angst, es könne herausfallen, sie sei immer früh aufgewacht und habe ihr Bett selbst gemacht, sie „habe allzeit ihren Contusch oder Leibl“ angehabt, es sei denn sie habe „ihren weiblichen Zustand gehabt“.250 In der Vergangenheit war sie bereits im Zuchthaus in München wegen des Vorwurfs des Ehebruchs gewesen. Neben den beiden konkurrierenden Druckversionen ist der Fall aus-
249 Extractus des von der bey tit. Verwittibten Landschaffts Räthin Mackhin zu Diensten gestandenen Dienstmagd Maria Anna Müllerin ad protocollum, 2. Octb. 1749, GLA 77/4193, fol. 55–56 (1751). 250 GLA 77/4185, fol. 109. Verweis auf die Monatsblutung.
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führlich in handschriftlich verfassten Regierungsakten und Verhörprotokollen dokumentiert.251 In dieser so umfangreich zusammen gestellten Gegendarstellung warf die kurpfälzische Regierung von Staritz vor, er habe mit seiner Veröffentlichung „weiters andruch dem Publico den unbegründeten Argwohn einer gehäßigten Religions Bedruckung zu abgeziehlten Unehren des Höchsten Regenten selbsten mit noch weit schwerer Vermessenheit unfertigst beyzubringen erkühnet“.252 Der Bericht des von Staritz wurde als Verleumdung abgetan. Der Regierungsrat und Stadtdirektor von Mannheim, Gobin, der das Mädchen in das Waisenhaus zur katholischen Erziehung 1758 eingewiesen hatte253, rechtfertigte in seiner Gegendarstellung diesen Schritt und verwies zugleich darauf, dass er einen Befehl ausgeführt habe.254 Dabei verfolgte er ähnlich wie die kurpfälzische Regierung argumentativ eine Doppelstrategie: Er rechtfertigte die Einweisung des Mädchens in das Waisenhaus zur katholischen Erziehung damit, dass sie katholisch getauft sei und noch nicht die Religionsmündigkeit erreicht habe, ihre Mutter aber aufgrund der Konversion zur reformierten (sic) Religion und Eheschließung mit dem Reformierten (sic) von Staritz die katholische Erziehung gefährden würde. Zum anderen äußerte er sich herablassend über die Armut und den Lebenswandel beider Ehepartner, als Beleg dafür, dass sie unfähig seien, ein Kind zu erziehen. In Regensburg hätten sie sich in einer „verächtlichen Herberg – nach dem Sprichwort: wie der Wirth also auch die Gäste“ aufgehalten.255 Von Staritz habe einen „alten vertrennten, dem Tax nach ad 3 fl. Werth seyenden plüschen Manns-Rock, und sonstiger paar, s.v. alten Lumpen“ sowie einen keine „30 Kr. wehrten Rock“ angehabt und „dannoch eine Feder auf dem Huth“, seine Ehefrau „aber keine Sohlen an denen Strümpf habend, fort wegen allzu verisse-
251 Acta aus der Pfalz Neuburger Regierung bericht dasselbe zu Neuburg gebürtige Mackin ehemahlig verehelichte von Woyda jetzo von Staritz nebst ihrem 9 oder 10 jährigen Töchterlein dahier sich befinde, und in gefahr seye, von der Väterlichen catholischen ab und zur protestantischen religion erzogen zu werden, GLA 77/4185, fol. 1–79 und Acta was zu Regensburg bei der Versammlung A.C. Verwandten Ständen vorgebrachte Beschwerde des sich also nennenden Hauptmanns Joachim Peter von Staritz wegen seiner ehemals catholisch zum Lutherischen Glaub übergegangenen frau präbentierten Vätterlichen Erbtheils und Erziehung des Kindes von ersterer Ehe in vormalig beider Eltern katholischer Religion betr., GLA 77/4193, fol. 1–111. 252 GLA 77/4185, fol. 81–122, hier fol. 82 (1759). Druckversion des Pro Memoria und der Facti Species. 253 Regierungsrat und Stadtdirektor Gobin war auch verantwortlich für weitere Einweisungen im gleichen Zeitraum, so etwa die Kinder der Barbara Maurer. Vgl. Kapitel III. 254 GLA 77/4185, fol. 81–122, hier fol. 117 (1759). 255 Ebd., fol. 81–122, fol. 109–118, fol. 112.
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nen Schuhen, auf dem bloßen Boden gehend“.256 Gobin warf von Staritz vor, in seiner Veröffentlichung das Kind wie ein „Schlacht-Opfer“ darzustellen und ihm „rühren sollende Worte“ in den Mund zu legen und mehrere Ohnmachtsanfälle bei der Einweisung in das Hospital anzudichten.257 Die kurpfälzische Regierung setzte politisch und öffentlichkeitswirksam mit allen Mitteln darauf, die Dramatik des Falles herunter zu spielen und suchte den Vorwurf, ein Kind gegen den Willen der Eltern in ein katholisches Waisenhaus eingeliefert zu haben, mit dem aufwendig durch Zeugenaussagen dokumentierten „liederlichen Lebenswandel“ der Mutter zu entkräften. Von Staritz dagegen verfolgte mit seinem Memorial neben der öffentlichen Anklage die Strategie, sowohl die emotionale Seite der Kindeswegnahme zu bedienen als auch die reichspolitische Brisanz konfessioneller Übergriffe gegen die Protestanten ins Feld zu führen. In der Gegenüberstellung der achtjährigen258 Maria Anna Walpurgis und dem Mannheimer Regierungsrat und Stadtdirektor Gobin in seiner Amtsstube schilderte er, das Kind habe unter Tränen gesagt: „Ich will nicht katholisch werden, lieber nehme man mir mein Leben; warum will man mich von meinen lieben Eltern nehmen, und mich zu einem verlassenen Waysen machen, ehe man erwartet, bis Gott solches thut?“259 Gobin habe unmittelbar vor diesem Ausbruch die lutherische Mutter des Mädchens informiert, so der Bericht weiter, dass ein Befehl des Kurfürsten vorliege, wonach ihre Tochter von ihr getrennt werden müsse, um in einem Mannheimer Waisenhaus katholisch erzogen zu werden. Begleitet von einer bestürzten Menschenmenge, Wachtmeistern, einem Mitglied des Stadtrates und den Eltern, so die weitere Schilderung, wurde das schreiende Mädchen zum Waisenhaus gebracht und dort dem Spitalmeister und seiner Frau übergeben, wo sie hinter den Spitaltoren verschwand. Die ungewöhnliche politische Strategie von Staritz zeigt sich nicht nur in der Veröffentlichung des Vorfalls in Regensburg, sondern auch in seiner Argumentation, mit der er gezielt entscheidende protestantische Akteure auf Reichsebene als Schutzmacht adressierte, allerdings geschickt in den Worten des kleinen Mädchens. In seinem Memorial legte er dem Kind folgende Worte in den Mund: „Wenn niemand helfen will noch kann, so gehen sie doch zu Ihro Königl. Majest. in Preußen, und bitten Ihn um Gottes willen, daß Er sich meiner annehme und mir
256 Ebd. 257 Ebd., fol. 118. 258 An anderer Stelle wird das Alter des Mädchens im Jahre 1758 mit zehn Jahren angegeben. 259 Memorial und Species Facti des Hauptmanns Joachim Peter von Staritz, GLA 77/4194, fol. 7 (1759).
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aus so gewaltsamen händen heraus helfen wolle: denn ich will nicht C atholisch, 260 sondern lutherisch werden“. Diese Anrufung des preußischen Königs zeugt von einem Wissen um die konfessionellen und machtpolitischen Konstellationen im Reich, was vermuten lässt, dass von Staritz bei seinem Vorgehen die Unterstützung von Vertretern der protestantischen Stände hatte.261 Das Bild des preußischen Königs als Schützer der Protestanten wurde auch in anderen Mischehekonflikten in der Kurpfalz bemüht. Vor allem dann, wenn Streitfälle öffentlich vor das Corpus Evangelicorum oder den Reichstag gebracht und publiziert wurden, erhöhte sich der Druck auf die Regierung, sich zu rechtfertigen. Die Rolle, die Preußen dabei als zunehmend dominierende Macht innerhalb des Corpus Evangelicorum spielte, blieb auch protestantischen Untertanen offensichtlich nicht verborgen. Das Bild des preußischen Königs als Fürsprecher der Protestanten im Reich schien sich auch unter der protestantischen Bevölkerung in der Kurpfalz im 18. Jahrhundert verbreitet zu haben, wie die folgende Geschichte, die in einem Bericht des Oberamts Simmern vom 14. Mai 1793 enthalten ist, anschaulich zeigt. Unter der Obhut eines katholischen Pfarrers stand ein zwölfjähriges Mädchen, Maria Catharina Munzlinger aus Mengenscheid im Oberamt Simmern, das seiner reformierten Mutter von amtlicher Seite genommen worden war, als sie sich geweigert hatte, ihre Tochter weiter in der katholischen Konfession ihres verstorbenen Mannes, Peter Munzlinger, groß zu ziehen. Diese Aufgabe hatte nun besagter Pfarrer gegen den Willen von Mutter und Kind übernommen. Eines Tages erschien Jacob Dangen, der Bruder der Mutter, im Garten des Pfarrers, trat ziemlich ungestüm auf ihn zu und eröffnete ihm, „er sei von einem großen geschickt mich zu fragen, ob ich daß [...] Mägden herauß geben? Und ihm seine freyheit lassen wolte?“262 Der Pfarrer erkundigte sich, wer dieser große Herr sei und erhielt zur Antwort „es sey der König in Preussen, den er in Stromberg selbst gesprochen und dieser habe ihm solches mündlich auß zu richten befohlen, und
260 An ein hochpreißliches Corpus Evangelicorum unterthäniges Memorial und Species Facti des Hauptmanns Joachim Peter von Staritz, de dato 25. April 1759, GLA 77/4194, fol. 8. 261 Diese Vermutung lässt sich angesichts der Aktenlage nicht prüfen. Für die Anrufung des Königs von Preußen vgl. die Fallstudien oben sowie die Beispiele in Kalipke, Verfahren im Konflikt. 262 Acta Die Religions Erziehung der Monzlingerschen Tochter Maria Catharina von Mengerscheid betr. (1793–1794), GLA 77/4344, fol. 3–8, hier fol. 3 (4. Mai 1793). Bericht des katholischen Pfarrers Christian Farber, Präses des Klosters.
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im verweigerungs fall, sollte er mir bedeuten, daß mit mir geredet werden würde, und unannehmbliche dinge sollte zu erfahren haben“.263 Dem Pfarrer kam die ganze Geschichte zwar unglaublich vor, doch er ließ sich auf ein Gespräch mit Dangen ein. Seiner Meinung nach würde der König anders über die Sache denken, wenn er den gesamten Sachverhalt kennen würde, zumal das Vorgehen vollständig von der kurpfälzischen Religionsdeklaration gedeckt sei. Doch Dangen gab sich nicht zufrieden, erklärte, er habe dem König alles erzählt, auch von den Ehepakten, worauf der König nur geantwortet habe „waß ehe pacten!“, aber keine andere Anweisung gegeben habe.264 Nun wurde dem Pfarrer die ganze Angelegenheit doch zu „phantastisch“ und er forderte den Eindringling auf, seine Geschichte auf dem Oberamt Simmern vorzutragen. Dazu war Dangen sofort bereit, allerdings nur in Begleitung des Pfarrers. Als dieser sich weigerte, ging Dangen aus dem Garten hinaus geradewegs zum Haus und rief das Mädchen, das sofort aus dem großen Nebenzimmer kam und sich unter die Tür stellte. Dangen erklärte ihr „ich bin geschickt, um Dich zu fragen, wie Du werden willst“? Worauf sie antwortete „reformiert will ich werden“265, eine Aussage, die den Geistlichen nach seiner Darstellung überraschte, von dem Mädchen während des gesamten Verfahrens allerdings beibehalten wurde.266 Noch vor einem abschließenden Urteil im Fall von Staritz verstarb der Hauptmann, und seine Ehefrau musste sich allein um die Rückgabe ihres Kindes und die Auszahlung ihres väterlichen Erbes bemühen. Aus den Korrespondenzen, die im Sommer 1759 zwischen dem kurpfälzischen Hof, der sich zu der Zeit in Schwetzingen aufhielt, und dem kurpfälzischen Gesandten am Reichstag, Friedrich Carl Freiherr Karg von Bebenberg, geführt wurden, geht hervor, dass Mutter und Kind sich zunächst weiter in Regensburg aufgehalten hatten. Ihr Schicksal wurde nicht nur in der offiziellen Kommissionsarbeit thematisiert, sondern war auch Gesprächsgegenstand bei informellen Zusammenkünften der Gesandten. Während einer Spielgesellschaft im Quartier der böhmischen Gesandten, so berichtete von Bebenberg einen Tag später an den Kurfürsten der Kurpfalz, hatte ihn der kursächsische Gesandte von Ponickau267 „in ein besonderes Zimmer geführet, und nach meiner großen Praeambula von euerer Churfürstlichen Durchlaucht großmüthigsten und gerechtesten Gedenkensart mir zu verneh-
263 Ebd. 264 Ebd. 265 GLA 77/4344, fol. 4 (4. Mai 1793). 266 Für die Befragung des Mädchens über ihre Religionszugehörigkeit vgl. Kapitel II. 267 Baron von Ponickau saß dem kursächsischen Direktorium des Corpus Evangelicorum vor.
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men gegeben, was maßen das von dem Hauptmann von Staritz an das genannte Corpus Evangelicorum gebrachte Gravamen durch deßselben erfolgten Todt, und durch Entweichung des kindes/: welches sich zu Frankfurth befinden solle:/ von sich selbsten gehoben seye, und aufhöre“.268 Es bleibe nun nichts weiter übrig, als der sich auch nicht mehr in Regensburg befindenden Witwe ihre väterliche Verlassenschaft verabfolgen zu lassen, das ihr zustehe und ihr nicht weiter vorenthalten werden dürfe. Er, von Ponickau, habe dies bewusst nur mündlich mitteilen wollen „in der gesicherten Hoffnung“, dass die kurpfälzische Regierung ihrer Pflicht nachkomme. Dann sei auch das ita dictum des Corpus Evangelicorum nicht weiter notwendig und könne aufgehoben werden, dies werde er schriftlich anweisen.269 Die Überlieferung endet allerdings mit Ermahnungen an die kurpfälzische Regierung aus Regensburg, ihrer Verpflichtung nachzukommen. Ungeachtet der Religionsdeklaration des Jahres 1705 und ungeachtet wieder holter Anweisungen, bei Mischehen Andersgläubige nicht einzuschüchtern oder Zwang auszuüben, war der Fall von Staritz, seiner Ehefrau und Stieftochter von Drohungen, Bestechung und schließlich von Gewaltanwendung auf lokaler Ebene gekennzeichnet. Aufschlussreich sind die Verleumdungen der Mutter Maria Josepha Theresia durch die kurpfälzische Regierung. Durch den Vorwurf wiederholter Unzucht wurde der gesamte Fall umgemünzt in eine Frage guter Kindererziehung, die die Mutter nicht gewähren könne aufgrund ihres liederlichen Betragens und ihrer Verarmung. Die ursprünglichen Anliegen nach Glaubensfreiheit und religiösem Gewissen, die das Ehepaar vorgebracht hatte, wurden in der Argumentation der Kurpfalz als nichtig abgewiesen. Im Mittelpunkt stand bis zum Schluss der ehrlose Lebenswandel der Mutter bis zu ihrer Wiederverheiratung, der materialreich durch umfangreiche Zeugenaussagen, darunter Mägden und Wirtsleuten, in deren Räumen sie mit Männern genächtigt haben solle, untermauert wurde. Die Rechtspraxis und die in ihrem Verlauf vorgenommenen Etikettierungen in diesem Fall gründeten sich damit auf weitverbreitete Vorstellungen über illegitime weibliche Sexualität und den damit zusammenhängenden Ehrverlust von Frauen.270
268 GLA 77/4193, fol. 98–100, hier fol. 98 (13. Juli 1759). 269 Ebd., fol. 99. 270 Zu Sexualität und Ehrverlust vgl. Francisca Loetz, Sexualisierte Gewalt 1500–1850. Plädoyer für eine historische Gewaltforschung. Frankfurt a. M. 2012, S. 72 ff.; Ulrike Gleixner, „Das Mensch“ und „der Kerl“. Die Konstruktion von Geschlecht in Unzuchtsverfahren der Frühen Neuzeit (1700–1760) (Geschichte und Geschlechter 8). Frankfurt a.M./New York 1994.
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5.2.6 Väterliche Gewalt versus religiöse Gewissensfreiheit – Der Fall von Albini In einem aufsehenerregenden Streitfall vor dem Reichshofrat und dem Reichskammergericht in den 1760er Jahren über die religiöse Erziehung der Kinder des katholischen Reichskammergerichts Assessors von Albini und seiner reformierten Ehefrau argumentierten die Beistände Eleonore von Albinis gegen die bindende Kraft der väterlichen Gewalt. Mittels rechtlichem Beweis stellten sie fest, dass die Erziehung der Töchter in der reformierten Konfession von dem Ehemann weder verwehrt noch eingeschränkt werden dürfe.271 Frau von Albini hatte ihrem Mann vorgeworfen, die Kinder gegen ihren Willen katholisch zu erziehen und sich dabei allein auf die väterliche Gewalt zu stützen. Die väterliche Gewalt sei allerdings begrenzt, sobald „Landesgesetze und Gewohnheiten ein anders verordnen [...] und daß sich diese Exceptionen in dem gegenwärtigen Fall finden“.272 In einem Gegenbeweis konterte von Albini: „Das kayserliche gemeine Recht, ja die gesunde Vernunft leget dem Vater eine freye und vollkommene Macht über seine Kinder, auch quoad Religionem zu ordnen [...] zu.“273 Diese widerstreitenden Meinungen über die Reichweite der väterlichen Gewalt bei der Konfessionsbestimmung von Kindern, die sich hier andeuten, durch ziehen den gesamten Prozessverlauf von Albini. Stimmen, die sich wie oben für eine Beschränkung der väterlichen Gewalt bei der religiösen Kindererziehung zugunsten der Ehefrau aussprachen, rüttelten an der rechtlich unbestrittenen Auffassung, nach der der Vater als Hausherr, als pater familias, umfassende Rechte über seine Kinder und über seine Ehefrau hatte, auch wenn die soziale Praxis diese rechtliche Norm modifizieren oder unterlaufen konnte. Die Anwälte Frau von Albinis standen mit ihrer Argumentation nicht allein. Im Kontext von Konflikten in religiös-konfessionell gemischten Familien wurde im 17. und 18. Jahrhundert vor Gericht die Reichweite der väterlichen Gewalt angesichts
271 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin Albini an das Corpus Evangelicorum, vom 18ten März 1761, die Erziehung ihrer Töchter in der evangelisch-reformirten Religion betreffend, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 316–319, mit Beilagen bis S. 418. 272 Schluß der gründlichen Abfertigung des sogenannten Gegenbeweises die Erziehung der Albinischen Töchter in der reformirten Religion betreffend, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl 9. Ulm 1763. Kap. 1, S. 2–61, hier S. 22–23. 273 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchteren in der Reformirten Religion von Ihrem Gemahl des Kayserlichen und Reichs Cammer Gericht Assessoren mit größtem Fug gewehret werde, und das Erstere darzu weder in Possessorio noch in Petitorio das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 204–280, mit Beilagen bis S. 307, hier S. 234.
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von Eheverträgen, Landesgesetzen zu Mischehen oder der Freiheit des religiösen Gewissens regelmäßig eingeschränkt. Damit wurde ein Grundpfeiler der frühneuzeitlichen Gesellschaft, die Herrschaft des Hausvaters über die Familie als kleinste Einheit im Staat, zur Disposition gestellt. Aus konfessionellen Gründen wurde die Hausherrschaft rechtlich eingeschränkt, sobald das „Simultaneum“274 einer religiös-konfessionell gemischten Familie verletzt wurde, vergleichbar, auch in den gewählten Begrifflichkeiten, mit der Bindung eines Landesherrn an das Paritätsgebot des Westfälischen Friedensvertrages. Die rechtlich durchsetzbare Einschränkung der väterlichen Gewalt eröffnete Frauen nicht nur im Alltag Handlungsspielräume bei der Kindererziehung, son dern stärkte ihre Position bei innerfamiliären Konfessionskonflikten auch vor Gericht. Es war gerade die Herausbildung religiöser oder konfessioneller Zugehörigkeit, die auch Frauen in eigener Entscheidung zuerkannt wurde, die neben der lange „beachteten normativen Neuordnung der Geschlechterbeziehungen in der Ehe zugleich eine Dynamisierung der Geschlechterbeziehungen in der Ehe durch Religion und Kirche“ bewirkte.275 Diese Beobachtung wird besonders deutlich bei religiös-konfessionell gemischten Ehen, in denen Frauen, autorisiert durch die religiöse Gewissensfreiheit und gestärkt in ihrem Selbstbewusstsein, ihre religiösen Überzeugungen in der Familie auch gegen den Willen des Ehemanns durchzusetzen versuchten. Umgekehrt hatte die Beschneidung der „väterlichen Gewalt“ Auswirkungen auf die Stellung des Ehemannes in seiner unmittelbaren Umgebung mit Blick auf seine männliche Identität als Vorstand eines Haushalts, seine Akzeptanz innerhalb seines sozialen Umfelds und schließlich seine berufliche Stellung. Von Albini sah sich vor allem mit Nachteilen bei seinem beruflichen Werdegang konfrontiert, in den Anfangsjahren als Katholik im reformierten Umfeld, später als katholischer Vater reformierter Töchter. Hatte ihm die Ehe mit einer reformierten Frau offenbar noch den Zugang zu einer Kanzlei in Rheinfels geebnet, so schien diese Mischehe, vor allem die reformierte Erziehung seiner Töchter, das plötzliche Ende einer vielversprechenden beruflichen Karriere auszulösen. Dieser Umstand brachte Spannungen im gemischtkonfessionellen Zusammenleben der von Albinis zum Eskalieren und mündete schließlich in eine Klage der Ehefrau vor dem Reichskammergericht. Was waren die Hintergründe dieser Eskalation?
274 Für die Verwendung dieses Begriffs zur Beschreibung der Rechte in konfessionsverschiedenen Ehen vgl. unten. 275 Wunder, Frauen in der Reformation, S. 316.
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Der katholische Ratsteil des Reichskammergerichts hatte am 16. Mai 1760 einmütig die Berufung von Albinis zum Reichskammergerichts-Assessor abgelehnt, nachdem bekannt geworden war, dass er mit einer reformierten Ehefrau verheiratet war und seine Töchter von der Mutter in der reformierten Religion erziehen ließ.276 Dies widerspreche den Grundsätzen der katholischen Religion, von Albini sei aufgrund seines Verhaltens, das „factum immediate gegen die Principia der Catholischen Religion anlaufe,“ kein wahrer Katholik.277 Die katholischen Reichskammergerichtsmitglieder forderten mit Hinweis auf die notwendige konfessionelle Parität der Mitglieder, dass von Albini auch seine Töchter katholisch erziehen müsse. Nach der „Concept-Cammer = Gerichts Ordnung tit. 4“ war vorgesehen, „daß die Personen des Cammer = Gerichts sich ihrer Religion gemäß bezeigen, sonsten aber zu einem Cameral-Amt nicht fähig seyn sollen“.278 Bis zur endgültigen Klärung des Sachverhalts „könne er nicht admittiret“ werden.279 Wie bei den meisten Mischehekonflikten, die vor Gericht ausgetragen wurden und dokumentiert sind, ging es auch hier nicht nur um Ehestreitigkeiten, sondern die Religionskonflikte in der Familie wurden auch zu reichspolitischen Grundsatzfragen konfessioneller Parität und Gewissensfreiheit erhoben. Von Albini war bei der Eheanbahnung Kanzleirat des Landgrafen Ernst Christian zu Hessen-Rheinfels. Er hatte seine Ehe mit der Tochter des Hofrats Ludolph, der in Fürstlich-Rothenburgischen Privatdiensten tätig war, nach eigenem Zeug nis von der Zusage abhängig gemacht, dass die Kinder beiderlei Geschlechts in der katholischen Religion erzogen würden. Ihm hatten nach seiner Schilderung Mutter und Tochter damals geantwortet: Daß ja derlei vermischte Ehen nichts seltsames wären, und viele derselben ohngehindert der Religions-Ungleichheit, wohl und vergnügt ausgeschlagen wären, der Punct wegen Erziehung der Kinder die Sache auch nicht erschweren könnte, indem Sie ja glaubten, dass
276 Zum Werdegang Albinis vgl. Sigrid Jahns, Das Reichskammergericht und seine Richter, S. 1051–1065. 277 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. D. Pro Memoria, so der Herr Gerichts – Assessor von Albini an Ihro Kayserliche Majestät überreichen lassen, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 365–379, hier S. 373. Vgl. auch Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 72–74. 278 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. B. Erstes Schreiben des Catholischen Theils Celissimi Collegii Cameralis an den Herrn Praesentatum von Albini, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 361–363, hier S. 362. 279 Ebd.
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man in der Catholischen Religion eben so wohl, als in der Reformierten, welche Sie bekenneten, seelig werden könnte.280
Diese Aussage hatte von Albini als Zustimmung gewertet. Deshalb, so die spätere Beweisführung, habe er keinerlei schriftliche Vereinbarungen angefertigt.281 Mutter und Tochter widersprachen dieser Darstellung in dem späteren Rechtsstreit aufs heftigste und machten deutlich, dass es ihnen nicht zugestanden habe, über diese Forderung zu urteilen, sondern es alleiniges Recht des Vaters und Ehemanns gewesen sei, seine Zustimmung für die Eheschließung zu geben.282 Sie hätten lediglich gesagt: „Wir verdammen Sie nicht in ihrer Religion“.283 In seiner Gegendarstellung lehnte von Albini diese Argumentation ab, da es für die Eheschließung eines Katholiken keines elterlichen Konsenses bedürfe – „nach denen bekandten Catholischen Grund = Sätzen der Consensus Parentum de essentia nicht nöthig wäre“.284 An anderer Stelle hatte er allerdings noch argumentiert, die Zustimmung des Schwiegervaters für die Eheschließung erhalten zu haben und ihm ebenfalls seine spätere „convenable Placirung“ in der Kanzlei zu Rheinfels zu verdanken.285 Nach Darstellung von Ehefrau und Schwiegermutter hatte von Albini ein einseitiges Aufgebot angefordert, noch bevor der Konsens des Schwiegervaters eingeholt werden konnte und so die Familie unter Handlungsdruck gesetzt. Der verstorbene Hofrat Ludolph hatte seine Einwilligung in die Ehe gegenüber von Albini an zwei Bedingungen geknüpft, die zum Zeitpunkt des überraschenden Aufgebots noch nicht in schriftlicher Form vorlagen. Erstens dürfe sein zukünftiger Schwiegersohn „niemals eine Bedienung an einem purcatholischen Ort annehmen“. Zweitens sollten alle „aus dieser Ehe zu erzielende Töchter in der Reformirten Religion erzogen werden“.286
280 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 208. 281 Ebd., S. 249. 282 Ebd., Beilage Lit. G. Copia Schreibens Frau Hof Räthin Ludolph an Herrn Cantzley Rath Albini, S. 292–294, hier S. 293. 283 Ebd. 284 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 208. 285 Ebd., S. 209. 286 Gründliche Abfertigung des sogenannten Gegenbeweises, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Töchter in der Reformirten Religion von ihrem Gemahl, des Kayserlichen und Reichs Cammer Gerichts Assessoren, mit größtem Fug gewehret werde, und daß erstere dazu
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In der Ehe wurden drei Töchter und zwei Söhne geboren. Gemäß der Landesgesetzgebung in Hessen-Kassel wurden die Töchter reformiert, die Söhne katholisch getauft, und als sie heranwuchsen auf entsprechende Schulen geschickt.287 Die Landgrafschaft Hessen-Kassel hatte 1648 das reformierte Bekenntnis als Landeskonfession anerkannt,288 allerdings war sie zur Duldung der Lutheraner verpflichtet, während in der Landgrafschaft Hessen-Darmstadt die lutherische Landeskonfession bestätigt wurde.289 Sowohl durch den Anfall der Grafschaft Schaumburg als auch durch das Festhalten am Luthertum in Oberhessen blieb Hessen-Kassel letztlich ein bikonfessionelles Gebilde, in dem das Zustandekommen von Mischehen keine Ausnahme war und Konflikte schließlich nach gesetzlicher Regelung verlangten. Beschwerden darüber wurden laut, dass lutherische Ehemänner, deren Ehefrauen reformiert waren, alle Kinder lutherisch erziehen ließen. Daraufhin bestimmte ein „Landgräflich Hessen= Kasselsches Konsistorial Reskript“ vom 17. Juli 1758, dass die religiöse Erziehung von Kindern aus gemischten Ehen nach Geschlecht erfolgen sollte, es sei denn, in Eheverträgen sei eine andere Erziehung beschlossen worden.290 Die Befolgung dieser Regelung wurde eigens in einem Brief des Kasseler Konsistoriums vom 27. September 1750 an von Albini angemahnt. Im Wortlaut hieß es hier: Euch ist vorhin bekandt, wie daß der dortige Cantzley-Rath Albini des ehemals zu Eschwegen gestandenen Fürstlich-Rothenburgischen Rath Ludolph gestandenen Fürstlich-Rothenburgischen Rath Ludolph hinterlassene Tochter gehyrathet; Nachdem Wir nun, da jener der Römisch-Catholischen, und diese der Reformirten Religion zugethan ist, zu wissen verlan-
weder in Possessorio noch in Petitorio das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 8. Ulm 1762. Kap. 4, S. 332–371, hier S. 341–342. 287 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Rechtlicher Beweis, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6S. 317–344, hier S. 342. 288 Im Jahr 1605 hatte Landgraf Moritz von Hessen-Kassel den entscheidenden Schritt zur Einführung des reformierten Bekenntnisses in Hessen-Kassel vollzogen. Der institutionelle Schlussstein wurde mit der Schaffung des Konsistoriums 1610 gesetzt. Insgesamt stellte der Konfessionswechsel selbst aufgrund innerer Widerstände und äußerer Kritik einen komplexen Vorgang dar, der in der Historiographie eine umfangreiche Würdigung gefunden hat. Vgl. Gerhard Menk, Die „Zweite Reformation“ in Hessen-Kassel. Landgraf Moritz und die Einführung der Verbesserungspunkte, in: Heinz Schilling (Hrsg.), Die reformierte Konfessionalisierung in Deutschland – Das Problem der „Zweiten Reformation“. Gütersloh 1986, S. 154–183. 289 Für einen Überblick über die Territorial- und Kirchenpolitik der vier hessischen Landesteile nach 1555 sowie die Anfänge lutherischer und reformierter Konfessionalisierung vgl. Rudersdorf, Lutherische Erneuerung. 290 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. I. Copia Fürstl. Heßisches Consistorial Rescript an den Reservat-Commissarium zu St. Goar vom 15ten Julii 1758, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 391–392, hier S. 391.
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gen, ob bey sothaner zu Eschwegen getroffenen Heyrath Pacta dotalia errichtet und darin in puncto Religionis wegen Erziehung derer Kinder Vorsehung geschehen seye; so begehren an Euch hiermit, Euch dessen zu erkundigen, und da, Casu quo non, die Söhne dem Vatter, die Töchter aber der Mutter in der Religion folgen, dahin die Verfügung zu thun, und insbesondere die Albinische Ehe-Frau anzuweisen, daß die aus dieser Ehe vorhandenen Töchtere bey Zeiten zu der Reformirten Schule gehalten, und in dieser der Mutter zugethanen Religion erzogen werden müssen.291
Aufgrund der konfessionellen Machtverhältnisse vor Ort, seiner dienstlichen Stellung und familiärer Verpflichtungen entschloss sich von Albini nach eigenen Angaben, nichts zu unternehmen. Er ließ sich allerdings von katholischen Theologen ein Gutachten ausstellen, das ihm eine passive Haltung bei der Erziehung der Töchter zugestand.292 Ungeachtet der gegen ihn sprechenden Beweislage über die religiöse Praxis innerhalb der Familie, versuchte von Albini rückblickend seine Entschlossenheit, alle Kinder von Anfang an katholisch zu erziehen, zu demonstrieren. Seine älteste Tochter habe er „in ihrem dritten bis vierten Jahr ohne Widerrede allschon nach Catholischem Gebrauch, Morgens und Abends, vor- und nach dem Tisch, nebst Machung des Creutzes Zeichens, auf Catholische Art beten lassen“.293 Diese Darstellung war zwar richtig, die Anwälte von Frau von Albini unterstrichen jedoch, dass diese Versuche von Anfang an mit Nachdruck unterbunden worden waren.294 Die Konfessionszugehörigkeit der einzelnen Familienmitglieder von Albini spielte an unterschiedlichen Orten und zu unterschiedlichen Zeiten eine je andere Rolle, wodurch das Verhältnis der Eheleute und ihr Handlungsspielraum in Bezug auf die eigene religiöse Praxis und die Kindererziehung neu definiert wurden. In dieser frühen Phase der Ehe war aus Sicht des Ehemanns ein Nachgeben zugunsten der Konfession der Ehefrau offensichtlich opportun. Dem entsprechend stimmte von Albini der Erziehung seiner Töchter in der Konfession seiner Frau zu und befand sich damit im Einklang mit den Landesgesetzen zu Mischehen in
291 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe. Lit. B. Copia des Schreibens des Casselischen Consistorii an den Reservaten Commissarium Betza zu St Goar, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 282–283. 292 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 216. 293 Ebd., S. 210. 294 Gründliche Abfertigung des sogenannten Gegenbeweises, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 8. Ulm 1762. Kap. 4, S. 348.
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Hessen-Kassel. Doch eben diese Haltung wurde auf seinem Weg zum Amtsinhaber am Reichskammergericht zum Stolperstein. Der evangelische Teil des Reichskammergerichts hatte unmittelbar die Forderung der katholischen Reichskammerrichter kritisiert und auf übliche Absprachen bei der Erziehung von Kindern in gemischtkonfessionellen Ehen verwiesen, nach denen in der Regel beide Konfessionen geschlechtsspezifisch berücksichtigt würden. Hiervon unbeirrt machte die katholische Seite in einem zweiten Schreiben Herrn von Albini selbst für die Verzögerung seiner Aufnahme als Kammerrichter verantwortlich: „anbey auch sothane Vocation durch Dero selbsteigenes Verschulden nur erschweret und gestecket werden dörfte“.295 In seiner Erwiderung warf von Albini den Katholiken vor, sie seien über seine Ehe mit einer reformierten Frau und die nach Gesetzeslage in Hessen-Kassel erzwungene reformierte Erziehung seiner Töchter bei Beginn seiner Probezeit unterrichtet gewesen. Unbeeindruckt von dieser Argumentation forderten die Katholiken am Reichskammergericht seine Frau und Kinder sämtlich Catholisch zu sehen, würde auch, so viel die Kinder betreffe, (er) alles dasjenige thun, um solche zu seiner Religion zu bringen, was einem gut Catholischen Vatter die Gewissens-Pflicht auferlege, und die Reichsgesetze, besonders der Religions- und Westphälische Friede erlaubten. 296
Komme er diesem Wunsch nicht nach, so sei er kein „ächter Catholik.297 Von Albini wandte sich darauf erfolgreich mit einer Klage an den Reichshofrat und wurde offensichtlich auf Intervention des Kaisers als Assessor angenommen. Als er aber seine Familie anschließend zur Annahme des katholischen Glaubens bewegen wollte, drängt sich angesichts der dann einsetzenden Ereignisse der Verdacht auf, dass seine Zulassung an geheime Absprachen gebunden war.298 In dem nun folgendem Versuch, die konfessionellen Verhältnisse in seiner Familie zu seinen eigenen Gunsten zu verändern, untersagte von Albini seiner Frau die weitere Unterweisung der Töchter in der reformierten Religion, erteilte dem reformierten Geistlichen in Wetzlar Hausverbot und stellte seine Frau und seine
295 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. B. Erstes Schreiben des Catholischen Theils Celissimi Collegii Cameralis, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 362. 296 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. D. Pro Memoria, so der Herr Gerichts – Assessor von Albini an Ihro Kayserliche Majestät überreichen lassen, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 365–379, hier S. 369. 297 Ebd. 298 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 74.
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Töchter schließlich unter Hausarrest.299 Anlässlich tumultartiger Auseinandersetzungen im Hause der Familie von Albini, in deren Verlauf sich Frau von Albini mit Hilferufen aus dem Fenster wandte, verbreitete sich in der Stadt das Gerücht über die drohende Entführung der Mädchen. Frau von Albini hatte nach eigener Aussage ihre Töchter völlig verstört im oberen Teil des Hauses hinter verschlossenen Türen, die mit neuen Schlössern versehen worden waren, im Gewahrsam des Vaters aufgefunden, konnte aber nicht zu ihnen gelangen.300 „Die Kinder denen es grausete, wann sie von der Catholischen Religion höreten, wären alsobald von der Furcht, Ihrer Mutter entrissen zu werden, überfallen worden, und hätten angefangen bitterlich zu schreyen und zu weinen“.301 Auf Geheiß der Mutter sagte eine der beiden Töchter später aus: Daß man Ihr und ihrer Schwester Kuchen und neue Schlender [sic] versprochen, so sie ruhig wären, oben blieben, und nicht herunter zur Mama wollten, als welche jedoch manchmal zu ihnen hätte hinauf kommen sollen.302
In dieser Situation wandte sich Reichskammergerichtsassessorin Eleonora von Albini am 11. Dezember 1760 mit einer Klage an das Reichskammergericht. Sie forderte ein „Mandatum poenale de non contraveniendo Paci religiosae & Westphalicae [...] s.c. [sine clausula]“.303 Bereits am 18. März 1761 sandte sie darüber hinaus ein Memorial an das Corpus Evangelicorum, nachdem sie zu ihrer „äussersten Bestürzung und grössesten Schmerzen leider erfahren, daß keine Hoffnung ist, daß mir jemals zu meinem Recht werde verholfen werde“.304 Die Enttäuschung war umso größer, „ob ich nun wohl des zuversichtlichen Vertrauens gelebet, es würde dieses höchste Gericht mir in dieser gerechten, und vor mich in Possessorio so wohl als Petitorio ganz klaren Sache, ohne allen Aufenthalt Schutz angedeyen lassen“.305 Die Behandlung des Falls vor dem Reichskammergericht
299 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. E. Billet so der Herr Albini seiner Frau Gemahlin den 23sten Novemb. 1760 zustellen lassen, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 379–381, hier S. 379–380. 300 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. H. Actum Wetzlar Donnerstags den 22sten Januarii 1761, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 382–390. 301 Ebd., S. 386. 302 Ebd., S. 389. 303 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Rechtlicher Beweis, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 326. 304 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 317. 305 Ebd.
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war aufgrund der Stimmengleichheit, paria vota, zwischen den anwesenden evangelischen und katholischen Assessoren vorerst zum Erliegen gekommen. Die protestantischen Kammerrichter forderten vergeblich eine Rückkehr zu Plenarentscheidungen, vor allem Johann Wilhelm Riedesel plädierte für eine Votierungsfreiheit innerhalb des Richterkollegiums.306 Bereits an anderer Stelle hatte er kritisiert Votans weiß nicht anders, als daß die Assessores in Justitz-Sachen eben die VotirungsFreyheit, als die ReichsStändische Gesandten in Staats-Sachen genißen sollen. Ohne dieselbe ist keine membrum Collegii im Stande, sein Amt pflichtmäßig zu verrichten; sondern würde mit Zittern und Beben denen deliberationibus beywohnen. Zu dieser StimmungsFreyheit gehöret, nach Vorschrifft der Cammer-Gerichts-Ordnung, daß die Vota nicht interrumpiret, nicht vensuriret, noch syndiciret, noch der Votans comminiret werde. Man bescheidet sich, daß jeder mit Glimpf, Respect erga directorium, un decoro votiren solle; Aber deßwegen dürffe man doch Scapham Scapham nennen, das factum ungeheuchelt und ungeschmeichelt vortragen, und die ReichsGesetze anführen.307
Frau von Albini wandte sich angesichts des stagnierenden Verfahrens 1761 daher an das Corpus Evangelicorum mit der Bitte, dass sich das Corpus für ihre religiöse Gewissensfreiheit und die ihrer Töchter einsetze. Durch Dero Hohe Interposition dieses die Aufrechterhaltung des Religions- und Westfälischen Friedens so nahe betreffende Geschäfte in solche Wege zu leiten, daß endlich dem je länger je mehr unerträglich fallenden Arrest ein schleuniges Ende gemacht, und ich mit meinen Töchtern zu der freyen Ausübung unserer Evangelisch-Reformierten Religion ohne allen ferneren Verzug wieder gelassen werden müssen.308
Dieser Schritt wurde ihr äußerst übel genommen, und sie musste sich den Vorwurf gefallen lassen, durch die Anrufung des Corpus Evangelicorum „verbothene Selbsthülfe, ohne Abwartung des Richterlichen Ausspruchs“ geleistet zu haben.309
306 Karl-Heinz Welker, Johann Wilhelm Riedesel zu Eisenbach. Zur Persönlichkeit eines Reichskammergerichtsassessors. Unveröffentlichtes Manuskript. Ich danke Herrn Welker für die Überlassung des Manuskripts. 307 Zitiert nach ebd. 308 Memorial der Reichs Cammer Gerichts Assessorin, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 318. 309 Gründliche Abfertigung des sogenannten Gegenbeweises, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 8. Ulm 1762. Kap. 4, S. 335.
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Frau von Albini stand mit ihren Töchtern weiter unter strengem Hausarrest und ließ ihre Kinder aus Angst vor einer Entführung nicht einen Schritt von sich weichen. Ihrer Forderung nach einem Revers, in dem ihr Ehemann zusicherte, die Kinder nicht außer Landes zu bringen, kam er nicht nach. Im Gegenzug warf er seiner Frau vor, die Entführung der Kinder selbst zu planen und rechtfertigte damit den Hausarrest.310 Allerdings stellte er ihr in Aussicht, die Kinder von einem Freund bewachen zu lassen, damit sie so viel sie wolle, die Kirche besuchen könne – ein Vorschlag, den die Verteidiger von Frau von Albini als arglistig verwarfen, da ein solches Arrangement ja erst die besten Voraussetzungen schaffe, die Kinder in Abwesenheit der Mutter zu entführen.311 Ihre Angst vor einer Entführung der Kinder hielt von Albini für völlig unbegründet und unterstellte seiner Frau, mit diesem Vorwurf nur zu operieren, um die ganze Angelegenheit brisanter erscheinen zu lassen und so „vor dem unbelehrten Publico lamentieren und sich beschweren [zu] könne[n]“.312 Schließlich schränkte von Albini selbst die private Religionsübung in seinem Hause ein. Mit der Begründung „in seinem Quartier“ sei „Religio catholica dominans“ – innerhalb der evangelischen Reichs stadt Wetzlar wohlgemerkt – verweigerte er seiner Frau, in seinem Hause einen reformierten Privatgottesdienst abzuhalten und das Abendmahl zu Ostern einzunehmen.313 In ähnlicher an die Territorialpolitik angelehnte Terminologie hatte der evangelische Präsident des Reichskammergerichts, Graf von Wied, in einem Schreiben an den kursächsischen Direktorialgesandten von Ponikau ausgeführt, dass von Albini eine „Abänderung des Simultanei und Status Religionis in seinem Hause“ vorgenommen habe und verlangte, dass dieser Vorgang rückgängig gemacht werde.314 Ein Ausgleich in Güte schließlich wurde zunichte, weil Frau von Albini sich weigerte, den Vorschlag ihres Mannes, die Töchter bis zur Volljährigkeit gar nicht religiös zu unterweisen, ablehnte.
310 Memorial der Reichs Cammer Gerichts Assessorin. Lit. E. Billet, so der Herr Albini seiner Frau Gemahlin den 23ten November 1760 zustellen lassen, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 379–380. 311 Memorial der Reichs Cammer Gerichts Assessorin. Lit. L. Requisitions-Schedula, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 398–418, hier S. 398–399. 312 Ebd., S. 399–400. 313 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Lit. K. Kurzer Nachtrag zu dem den 17ten April 1761 bey dem Corpore Evangelico zur Dictatur gebrachten rechtlichen Beweis, , in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 394–397, hier S. 396. 314 Schreiben des Evangelischen Präsidenten des Kayserlichen Reichs Cammer Gerichts Herrn Grafen von Wied, an den Chursächsischen Evangelischen Herrn Directoral Gesandten, vom 19. Aug. 1761 in eben der Sache, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Kap. 4, S. 201– 203.
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In dieser augenscheinlich völlig festgefahrenen Situation war es nun Aufgabe von Klägerin und Beklagtem, mit Hilfe ihrer Anwälte eine schlüssige Argumentation und Beweisführung vorzulegen, mit der die jeweiligen Ansprüche auf die Kindererziehung gerechtfertigt werden konnten. Dabei bedienten sich die Streitparteien juristischer und theologischer Argumente, verwiesen auf vergleichbare Fälle und deren Urteile und rekonstruierten detailliert die eigene Familiengeschichte anhand von Briefen, Zeugenaussagen und Behauptungen, mit denen die tatsächliche religiöse Praxis nachgewiesen werden sollte. Politisch bedeutend an diesem Fall sind vor allem die Angriffe gegen von Albini von katholischer Seite, die den Streit konfessionspolitisch ausweiteten. Aufgrund der nicht-katholischen Erziehung der Albinischen Kinder sahen die Katholiken die Parität im Reichskammergericht – in Anlehnung an die Vorgaben des Westfälischen Friedens – durch die unklare konfessionelle Ausrichtung von Albini für gefährdet an. Darüber hinaus werden Einzelaspekte sichtbar, die immer wiederkehrende rechtliche und persönliche Konstellationen in Mischehekonflikten exemplarisch verdeutlichen, vor allem das Verhältnis der Geschlechter auf dem Hintergrund der Debatte um die väterliche Gewalt. In dem gesamten Verfahren standen sich gleichbleibende Argumente gegenüber, die in der mehrere Jahre andauernden Verhandlung weiter ausgeschmückt wurden. Von Albini gründete seine Argumentation ausschließlich auf seine rechtlich verankerte väterliche Gewalt, die ihm erlaube, allein über die konfessionelle Erziehung seiner Kinder zu bestimmen. Damit stützte sich von Albini einseitig auf Herrschaftsrechte des Mannes über seine Familie, ohne die Grenzen dieser Herrschaftsrechte zu respektieren, auf die sich seine Frau berief. Die widerstreitende Argumentation der Eheleute von Albini, an die hier abschließend noch einmal angeknüpft werden soll, zeigt, welche rechtlich begründeten Handlungsspielräume Frauen vor dem Reichskammergericht im Kontext konfessionspolitischer Auseinandersetzungen eingeräumt werden konnten, und mit welchen Grenzen ihrer Hausherrschaft sich Ehemänner konfrontiert sahen. Die Erziehung von Kindern aus einer gemischtkonfessionellen Ehe nach Geschlecht, also der Mädchen in der Konfession der Mutter, der Jungen in der Konfession des Vaters, wie sie in Hessen-Kassel festgelegt worden war, bewirkte nach Aussage der Anwälte von Albinis eine Beschneidung seiner väterlichen Rechte. Sie argumentierten, die Landesgesetzgebung gehe nicht konform mit den Reichsgesetzen, nach denen allein dem Vater die Konfessionsbestimmung der Kinder zustand, sofern in Eheverträgen keine andere Kindererziehung festgelegt worden
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war.315 Die Gegenseite rechtfertigte die geschlechtsspezifische Kindererziehung in Mischehen damit, dass auf diese Weise die Rechte der Mutter geschützt werden sollten. Die Erfahrung habe gelehrt, „daß zuweilen die Mütter theils durch Drohungen, theils durch Schmeicheleyen ihrer Ehemänner ein anderes zu gestatten sich bewegen lassen, denenselben weiter hierinnen etwas nachzugeben untersaget ist“.316 Dem Vorwurf, die Gesetzgebung in Hessen-Kassel verstoße gegen das reichsweit anerkannte Recht des Vaters, begegneten die Anwälte Frau von Albinis mit dem Hinweis, dass bekanntermaßen Willkür das Stadtrecht breche, Stadtrecht das Landesrecht und das Landesrecht das kaiserliche Recht.317 Die Berufung von Albinis auf seine väterliche Gewalt, die ihn berechtige, über die Erziehung auch seiner Töchter zu verfügen, zumal keine Eheverträge vorlägen, lehnten die Anwälte der Ehefrau unter Verweis auf die bindenden Landesgesetze des Territoriums ab, in dem die Ehe geschlossen wurde. Auch wenn Eheverträge die einzige Einschränkung der väterlichen Gewalt bei der religiösen Erziehung der Kinder darstellten, so bedeute „gleichwohl solches keine Ausschließung anderer rechtmäßiger Exceptionen (...), mithin vornehmlich auch Landesgesetze und Gewohnheiten juxta statum anni normalis, dergleichen man vielfältig in Deutschland antrifft, und solche zum Theil anführet“.318 Die rechtliche Argumentation in diesem materialreichen Fall nahm einen sehr komplizierten Verlauf in Auseinandersetzung mit den unterschiedlichen territorialen und konfessionellen rechtlichen Zuständigkeiten einschließlich der besonderen rechtlichen Stellung von Albinis in seiner jeweiligen beruflichen Position. So argumentierte er beispielsweise, als Kanzleirat der Landgrafen Ernst und Christian zu Hessen-Rheinfels sei für ihn „in dieser Qualität“, wie für andere Hof- und Kanzleiräte auch, ausschließlich das Forum sul Principis zuständig. Von dem „Hessen = Casselischen Gerichtszwang“ sei er „gänzlichen eximiret“.319 Als
315 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe, , in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 250–251 und S. 271. 316 Memorial der Reichs Cammer Gerichts Assessorin. Rechtlicher Beweis, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 321. 317 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 279. 318 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin. Rechtlicher Beweis, Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 349. 319 Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 257.
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Katholik habe das hessische Konsistorium weder über ihn noch über seine Kinder die geringste Jurisdiktion, zumal in Dingen, „so ad Religionem & ad Libertatem Conscientiae gehören“.320 Diese Argumentation wurde von den Anwälten Frau von Albinis entschieden zurückgewiesen. Sie hielten fest, dass das Hessen-Kasseler Konsistorium sehr wohl die Gerichtsbarkeit über Katholiken und Lutheraner in der Niedergrafschaft Katzenelnbogen innehatte, allerdings nicht – wie richtig bemerkt worden sei – in Fragen, die das religiöse Gewissen beeinträchtigten. Dennoch, und dies war entscheidend, sei „auch wiederum gewiß, daß Religion und Gewissen sich in solchen Handlungen, deren Determination von denen weltlichen Gesetzen abhanget, nicht allegieren lasse“.321 Und die Frage der väterlichen Gewalt „in Absicht auf die Erziehung derer Kinder bey gemischten Ehen“ falle unstrittig in diesen Bereich, so dass einem Landesherrn „iuxta statum anni normalis Verordnung zu thun ohnverwehrt bleibet“.322 Die Beobachtung, dass eine solche Regelung mitunter „gleichwohl denen Principiis der Catholischen Religion schnurgerad entgegen lauffe“ und ein katholischer Vater seine Kinder nicht in der eigenen, sondern in einer anderen Konfession erziehen müsse, und wenn er dies tue, nicht „pro vero catholico“ gehalten werde, würde nicht gegen die Rechtmäßigkeit genannter Landesgesetze zu Mischehen sprechen.323 Denn im Westfälischen Friedensvertrag seien drei Konfessionen, die katholische, die evangelisch-lutherische und die evangelisch-reformierte „auctorisirt worden, daß eine jede in sensu politico pro orthodoxa gehalten werden muß“.324 Orientiere man sich hingegen ausschließlich an den Grundsätzen der katholischen Konfession, wie im vorliegenden Fall gefordert, so würde sich daraus ergeben, dass in einer gemischten Ehe eine katholische Mutter das Recht haben müsste, alle Kinder beiderlei Geschlechts katholisch zu erziehen, „mithin das Ius patriae potestatis“, wovon Herr von Albini „jetzo ein grosses Aufsehen macht [...] gänzlich über den Hauffen fallen“.325 Mit dieser Argumentation stellten die Anwälte Frau von Albinis ein konfessionsneutrales Reichs- und Landesrecht über die Interessen der großen Konfessionskirchen mit der Begründung, im politischen Sinne könnten alle drei genannten Konfessionen den Wahrheitsanspruch für sich geltend machen und stünden
320 Ebd. 321 Schluss der gründlichen Abfertigung des sogenannten Gegenbeweises, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 8. Ulm 1762. Kap. 4, S. 23–24. 322 Ebd. 323 Ebd., S. 24. 324 Ebd. 325 Ebd., S. 25.
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sich damit gleichberechtigt gegenüber. Damit vertraten sie eine Ansicht, die von den Kirchen in der politischen Praxis noch lange nicht geteilt werden sollte. Die theologischen Argumente, mit denen Herr von Albini versuchte, die Ansprüche seiner Frau auf die Kindererziehung aufgrund der religiösen Praxis, namentlich der Taufe durch einen reformierten Geistlichen, des regelmäßigen Kirchgangs und des Besuchs einer reformierten Schule, waren für die Gegenseite nicht haltbar. Von Albini argumentierte, dass weder durch die Taufe, den Kirchgang noch durch die spätere reformierte Erziehung seiner Töchter auf der Grundlage des Hessischen und des Heidelberger Katechismus das Recht der Konfessionsbestimmung an die Mutter übergegangen sei.326 Taufe, Kirchgang und konfessionelle Unterweisung seien austauschbar und kein Beweis für die Konfession eines Kindes. Entscheidend sei allein die Konfirmation. Er beispielsweise sei gezwungen gewesen, wie auch viele andere religiöse Minderheiten in gemischtkonfessionellen Territorien, seine Kinder reformiert taufen zu lassen, „da in ganz Hessen einem Catholischen Geistlichen unter schwerer Strafe verbotten ist, einen Actum Parochialem zu verrichten“.327 Damit habe er allerdings keineswegs seinen Anspruch, alle Kinder katholisch zu erziehen, aufgegeben. Dass es ihm gelungen war, seine Söhne katholisch taufen und unterweisen zu lassen, verschwieg von Albini wohlweislich an dieser Stelle. Dies wurde ihm jedoch von seiner Frau vorgehalten. Noch vor Prozessende verstarb die schwer erkrankte, schon immer schwächlich gewesene Frau von Albini, die Erziehung ihrer Töchter wurde allerdings in der reformierten Konfession fortgesetzt.328 Von Albini konnte schließlich nach jahrelangem Streit sein Amt am Reichskammergericht versehen. Zentrale und kontrovers diskutierte Themen im Umgang mit Religionskonflikten in religiös-konfessionell gemischten Familien vor den Reichsgerichten, insbesondere dem Reichshofrat, sowie vor dem Reichstag und dem Corpus Evangelicorum waren die Frage nach der ‚väterlichen Gewalt‘ und nach den Rechten der Mutter, der Rechtsgültigkeit von Eheverträgen und der Rechtsgrundlage, wenn Eheverträge nicht vorlagen. Weiterhin beschäftigte Juristen und Theologen immer wieder die Frage der annos discretionis, also der Religionsmündigkeit von Kindern, die ihnen erlaubte, die Konfession zu wechseln. Auch hier kam es trotz mehrerer
326 Zur Abgabe des Erziehungsrechts in: Gegen Beweis, daß der Frau Assessorin Albini die Erziehung ihrer Fräulein Töchter in der Reformirten Religion ... das mindeste Recht habe, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley. Tl. 7. Ulm 1762. Kap. 4, S. 258. 327 Ebd., S. 237. 328 Moser, Von der Teutschen Religionsverfassung, S. 74.
Mischehen vor Gericht
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Anläufe von protestantischer Seite zu keiner verbindlichen Absprache zwischen den Konfessionen, und bei einem Religionswechsel von Kindern entstand die Frage der Rechtmäßigkeit. Schließlich sahen sich die Reichsgerichte konfrontiert mit angedrohten und tatsächlichen Kindsentführungen durch einen Elternteil, durch Verwandte und Vormünder, aber auch durch Amtsträger und Geistliche. Ursache dieser Entführungen waren in der Regel der Versuch, die Erziehung der Kinder in einer bestimmten Konfession gegen bestehende Verträge und Abmachungen durchzusetzen oder die Kinder vor einem erzwungenen Religionswechsel zu schützen. Die Verhandlung dieser Fälle auf oberster Reichsebene war nicht unumstritten, da die Prozesse oft sehr langwierig waren und die Gefahr bestand, dass die Kinder zwischenzeitlich in einer anderen Konfession erzogen und zum Abendmahl zugelassen wurden und die Urteilsfindung gewissermaßen zu spät erfolgte. Am Beispiel des Streits der Eheleute von Albini um die Konfessionsbestimmung ihrer Kinder konnte gezeigt werden, dass der Rechtsfindungsprozess auf Reichs ebene erschwert wurde aufgrund sich überschneidender Rechtsräume, sehr unterschiedlicher Landesgesetze zur Mischehefrage sowie divergierender weltlicher und geistlicher Gesetzgebung. Problematisch war weiter die unklare Rechtslage zur Frage elterlicher Gewalt, der Gültigkeit von Verträgen und der strittigen Festsetzung der annos discretionis. Die hieraus entstehende Rechtsunsicherheit wurde in den Verhandlungen durch die einzelnen Parteien ausgenutzt, um den eigenen rechtlichen Handlungsspielraum zumindest argumentativ zu erweitern, ein Prozess, der sich in langwierigen Deduktionen und Streitschriften niedergeschlagen hat. Konnte die Geschlechtergeschichte durch viele Einzelstudien aufzeigen, dass das Verhältnis der Geschlechter und mit ihr die unbestrittene Herrschaft des Mannes in Form der väterlichen Gewalt im Alltag immer wieder neu ausgehandelt wurde, so wird am Beispiel der Kindererziehungsrechte in religiöskonfessionell gemischten Ehen deutlich, dass im Kontext konfessionspolitischer Auseinandersetzungen Frauen erfolgreich ihre religiöse Gewissensfreiheit gegenüber ihren Ehemännern einklagen und eine Beschränkung der väterlichen Gewalt durchsetzen konnten. Diese Rechtsunsicherheit machte sich Frau von Albini, gestützt durch ihre Anwälte, erfolgreich zu Nutze, indem sie an der rechtlichen Einschränkung der väterlichen Gewalt bei der Erziehung ihrer Töchter festhielt, die durch die geschlechtsspezifische Gesetzgebung zu Mischehen in HessenKassel gegeben war. Obwohl keine Eheverträge über die Konfessionsbestimmung der Kinder vorlagen, kam der Nürnberger Beschluss zu Mischehen, nach dem in einem solchen Fall allein die väterliche Gewalt ausschlaggebend sein sollte, nicht zum Zuge: Landesrecht – so die Argumentation – brach Reichsrecht.
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Nicht alle gerichtlich ausgetragenen Konflikte um die Konfessionsbestimmung von Kindern aus Mischehen gingen allerdings zu Gunsten von Frauen aus. Vor allem Verfahren vor dem Reichshofrat, die sich mit Klagen über die Zwangskonversion von Kindern aus Mischehen befassten, wurden verschleppt, was von protestantischer Seite regelmäßig den Vorwurf provozierte, die Rechtsfindung würde bewusst so lange herausgezögert, bis die Kinder den katholischen Glauben angenommen hätten. Auch hier waren es häufig protestantische Frauen, die Klage führten und sich wie Eleonore von Albini schließlich an das Corpus Evangelicorum wandten, nachdem ihr Vertrauen in den Rechtsfindungsprozess zerstört worden war. Sie begründete ihren Schritt damit, dass sie mit der „äussersten Bestürzung und grössesten Schmerzen leider erfahren, daß keine Hoffnung ist, daß mir jemals zu meinem Recht werde verholfen werde“.329 Dass Frauen allerdings zunächst selbstbewusst von den höchsten Gerichten im Reich eine unparteiische Rechtsprechung erwarteten, zeigt sich in den Worten Frau von Albinis: „ob ich nun wohl des zuversichtlichen Vertrauens gelebet, es würde dieses höchste Gericht mir in dieser gerechten, und vor mich in Possessorio so wohl als Petitorio ganz klaren Sache, ohne allen Aufenthalt Schutz angedeyen lassen.“330
329 Memorial der Reichs Cammergerichts Assessorin, in: Faber, Neue Europaeische Staatscanzley, Tl. 5. Ulm 1761. Kap. 6, S. 316. 330 Ebd.
Schluss „Wann der Vater Papistisch ist, nimmt er seine Söhne mit zur Messe, die Mutter nimmt ihre Töchter mit zur reinen Kirchen. Da ist keine rechte Liebe, oder man hält wenig von der Religion …“1 Religiös-konfessionell gemischte Ehen waren in der Frühen Neuzeit aus Sicht der Obrigkeit, der Kirchen und Familien aus vieler lei Gründen unerwünscht. Konflikte um Glaubensfreiheit und Konversion, die Reichweite väterlicher Gewalt und religiöse Kindererziehung schienen unausweichlich und stellten Eheleute und Familien vor große Herausforderungen. Dennoch waren Mischehen kein seltenes Phänomen und geben Einblick in das spannungsvolle Beziehungsgeflecht von religionsübergreifender Alltagskultur und Geschlechterverhältnis, obrigkeitlicher Konfessionspolitik, Glaubensfreiheit und Gewissenszwang. Religiös-konfessionell gemischte Ehen waren spätestens seit dem frühen 17. Jahrhundert ein Störfaktor – in der christlichen Familie, die auf der Einheit von Geist und Körper im Glauben beruhen sollte, im Staat, der sich um einen konfessionell homogenen Untertanenverband bemühte, für die Kirchen, die mit ihrem Monopolanspruch auf die Heilsgewissheit um die Gläubigen warben, und für den Reichsreligionsfrieden, der auf das Recht der Gewissensfreiheit auf der einen Seite und auf unantastbare konfessionelle Grenzziehungen und Abgrenzungen auf der anderen Seite gegründet war. Die Herausforderungen religiös-konfessionell gemischten Zusammenlebens, die durch das Prisma der Mischehe beobachtbar werden, beleuchten die schwierige Aufgabe religiöser „Toleranz“ im Alltag – und die zögerliche Umsetzung der Forderungen nach religiös begründeter Gewissensfreiheit auf der Ebene von Staat und Kirche. Die Analyse von Mischehen eröffnet eine Forschungsperspektive, durch die eine Verknüpfung von mikro- und makrohistorischen Zugängen und von Landes- und Reichsgeschichte ermöglicht wird, und die es erlaubt, den Auswirkungen des Reichsreligionsgesetzes von 1648 in seiner politischen wie auch praktischen und alltäglichen Reichweite nachzugehen. Damit werden in dieser Studie Phänomene analytisch miteinander verbunden, die in der aktuellen Forschung zu Konfessionalisierung und religiöser Pluralisierung in der Regel getrennt verhandelt werden: die gesellschaftlichen, politischen und rechtlichen Bedingungen religiöser Ko-Existenz in ihrer lokalen, territorialen und reichsweiten Verschränkung, die Dynamik von Religionskonflikten und damit verbundene Handlungsmuster, und die Aushandlungsprozesse zur Herstellung religiösen Friedens im Alltag, auf Territorial- und auf Reichsebene.
1 Dedeken, Thesauri consiliorum, Bd. 3: Mixta et inprimis Matrimonialia Continens, S. 174
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Mit dem Religionsfrieden von 1648 wurde weder ein stabiler konfessioneller Status quo geschaffen, noch eine eindeutige konfessionelle Zugehörigkeit hergestellt, noch ein Frieden als gesellschaftlicher oder politischer Zustand gestiftet. Vielmehr werden am Beispiel von Mischehen die komplexen Mechanismen zur Friedenswahrung im Alltag, und das labile Gleichgewicht religiöser Koexistenz und religiöser Konflikte sichtbar, die die zweite Hälfte des 17. und das 18. Jahrhundert prägten. In der Analyse religiöser Koexistenz, religiöser Konflikte und der Aushandlungsprozesse zur Wiederherstellung des Friedens am Beispiel von Mischehen wird deutlich, dass subjektive religiöse Zugehörigkeit und konfessionelle Formung sich wechselseitig bedingten. Der Prozess religiöser Subjektivierung vollzog sich in Auseinandersetzung mit alltäglichen Herausforderungen. Er ist untrennbar verwoben mit dem Hineinwachsen in ein spezifisches sozial-kulturelles Milieu. Und der Prozess religiöser Subjektivierung ist zugleich geprägt von der Adaption identitätsstiftender konfessioneller Deutungsangebote an eigene Erfahrungs- und Wahrnehmungsmuster. Damit wird der lange von der Forschung diskutierte Dualismus zwischen Konfession und Volksglauben überwunden, Konfessionalisierungsforschung und die kulturwissenschaftlich ausgerichtete Erforschung religiöser Subjektivierung befruchten sich gegenseitig. In dieser Neuausrichtung werden vertraute Merkmale konfessioneller Zugehörigkeit, etwa die Teilnahme am Abendmahl oder der Kirchenbesuch, irritiert durch alltägliche religiöse Praktiken, die von der jüngeren Forschung als uneindeutig bezeichnet worden sind. Diese Beobachtung wirft mit Recht die Frage auf, aus welcher Position religiöse Praktiken als eindeutig oder als uneindeutig wahrgenommen wurden, und nach welchen Kriterien religiöse oder konfessionelle Zugehörigkeit definiert wird. Die Analyse religiös-konfessioneller Selbstverortung in Mischehen wie auch in religiös-konfessionell gemischten Regionen zeigt, wie konfessionelle Kernelemente von Zugehörigkeit an alltägliche Deutungsmuster und Herausforderungen angepasst wurden, ohne dass die religiös-konfessionelle Zugehörigkeit von den Betroffenen selbst in Zweifel gezogen wurde: Diese war aus subjektiver Wahrnehmung eindeutig. Schon die Zeitgenossen sahen sich daher mit der intensiv debattierten und kaum lösbaren Frage konfrontiert, ab welchem Alter eine eindeutige konfessionelle Zugehörigkeit ausgebildet und erkennbar wurde. Die drei exemplarisch untersuchten Territorien – das Fürstbistums Osnabrück, die Kurpfalz und Kursachsen – haben aus ganz unterschiedlichen Gründen, und ungeachtet ihrer politischen und konfessionellen Besonderheiten, gemeinsam, dass weder auf der politischen Ebene noch im Bewusstsein der Bevölkerung der konfessionelle Besitzstand, der durch die Normaljahrsregel von 1648 festgelegt worden war, eindeutig und unantastbar war. Vielmehr gehörte es auch im 18. Jahrhundert zu den alltäglichen Erfahrungen, dass die Bedingungen religiös-
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konfessionell gemischten Zusammenlebens verändert wurden. Diese Erfahrungen rührten in der Kurpfalz aus der rigorosen Rekatholisierung im 18. Jahrhundert und im Fürstbistum Osnabrück aus der Diskrepanz zwischen konfessionellen Grenzziehungen und konfessioneller Wirklichkeit sowie aus dem Bewusstsein einer ungerechten Konfessionsaufteilung des Fürstbistums. In dem vergleichsweise homogenen Kursachsen waren die Ängste vor konfessionellen Veränderungen im 18. Jahrhundert vor allem Projektionen der evangelisch-lutherischen Stände, die bereits vor der Konversion des Landesherrn im 17. Jahrhundert eine konfessionelle Überfremdung des Territoriums aufgrund der Religionsfreiheit, die im Westfälischen Frieden verankert war, befürchteten und thematisierten. Unabhängig von den Konfessionskonflikten in allen drei untersuchten Territorien unterschied sich das religiös-konfessionell gemischte Zusammenleben im Fürstbistum Osnabrück deutlich von dem in den anderen beiden Territorien. Das Besondere am Fürstbistum Osnabrück im Unterschied zu der Kurpfalz oder Kursachsen war, dass sich hier die Anhänger beider Konfessionen ihrer Rechte durch die in der Capitulatio perpetua speziell für das Fürstbistum festgeschriebenen Gebote der Parität und der Gewissensfreiheit sicher fühlten. In Konflikten beriefen sich beide Parteien immer wieder auf diese Vereinbarung, und die Konfessionsparteien waren gezwungen, miteinander zu verhandeln. Die Capitulatio perpetua konnte Konfessionskonflikte zwar nicht verhindern, sie spielte aber eine zentrale Rolle bei der Wiederherstellung des allgemeinen Friedens. Das Wissen um Parität und das Recht auf Gewissens- und Religionsfreiheit war auch in der Bevölkerung vorhanden, ungeachtet der Tatsache, dass regelmäßig Verletzungen dieser Rechte eintraten. In Kursachsen sahen sich die evangelischen Stände gezwungen, den zum Katholizismus konvertierten Landesherrn sowie dessen Nachfolger seit dem späten 17. Jahrhundert durch Verlangen regelmäßiger Religionsversicherungen auf die Bewahrung des konfessionellen Status Quo zu verpflichten. Die Forderungen nach diesen Religionsversicherungen wurden mit Hinweisen auf „Religionsirrungen“ untermauert. In Suppliken wurde die Beeinträchtigung lutherischer Glaubenspraxis durch Fremdgläubige, vor allem durch Katholiken im Land, mit konkreten Beispielen beschrieben. Zugleich monierten die lutherischen Verfasser, dass die Rechte, die ihnen in Religionssachen zugestanden worden waren, durch das Verhalten der Andersgläubigen und deren Duldung bedroht wurden und verlangten die Versicherung, dass der Status ihrer Konfession nicht verändert wurde. In der Kurpfalz verkehrten sich die Bedingungen religiös-konfessionell gemischten Zusammenlebens Ende des 17. Jahrhunderts zu Gunsten der Katholiken im Land. Religionsschutz suchten die Protestanten in der Kurpfalz zuneh-
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mend weniger bei ihrem eigenen katholischen Landesherrn, sondern vermehrt bei reformierten Fürsten, vor allem dem preußischen Kurfürsten und König, und den Reichsgerichten unter Berufung auf den Westfälischen Friedensvertrag. Mit der publizistischen Einschaltung des Corpus Evangelicorum wurde darüber hinaus versucht, die Aufmerksamkeit einer imaginierten Öffentlichkeit für die erfahrene Religionsverletzung zu gewinnen und die Konflikte damit zu einem Politikum zu stilisieren. Die Religionsversicherungen in Form der Religionsdeklaration von 1705 konnten protestantische Geistliche ihrem Landesherrn mangels fehlender Landstände in der Kurpfalz nicht aus eigener Kraft, sondern nur durch Einschaltung anderer protestantischer Mächte abringen. Ein erstaunlicher Befund ist, dass in der sozialen und politischen Praxis und im Bewusstsein der Menschen das politische Ziel eines stabilen konfessionellen Status Quo bis zum Ende des Alten Reiches nicht wirklich erreicht wurde. Konfessionelle Grenzen wurden im Großen und im Kleinen durch verschiedene Akteure neu hervorgebracht und verschoben, und die Bedingungen religiös-konfessionell gemischten Zusammenlebens wurden auf lokaler und territorialer Ebene immer wieder neu ausgehandelt. Der Westfälische Friedensvertrag diente argumentativ zur Abwehr und Ahndung konfessioneller Übergriffe, die hierdurch aber nicht zu verhindern waren. Am Beispiel des religiös-konfessionell gemischten Zusammenlebens im Fürst bistum Osnabrück, der Kurpfalz und Kursachsens konnte die Fortsetzung obrigkeitlicher Kontrolle der Religionsausübung auch nach 1648 bis weit in das späte 18. Jahrhundert hinein nachgewiesen werden. Dieses offensichtliche landesherr liche Interesse an dem konfessionellen Verhalten der Untertanen rückt die Frage nach den praktischen Auswirkungen der Glaubensfreiheit und dem „Duldungsgedanken“ in ein neues Licht. Wie gingen Herrscher und Untertanen mit der Forderung nach „Duldung“ Andersgläubiger um? Was bedeutete „Toleranz“ in diesem Kontext? Die Analyse von Mischehen hat gezeigt, dass der Westfälische Frieden nicht nur als eine Errungenschaft wahrgenommen wurde, sondern im Fall von Kursachsen sogar als eine Bedrohung, und als eine unzeitgemäße Pflicht, die wenig mit landesherrlichen Interessen übereinstimmte und unterlaufen wurde. Zugleich bot das Friedenswerk, insbesondere die religiöse Gewissensfreiheit, einen wirkmächtigen Argumentationsrahmen für Juristen und Theologen, die in Religionskonflikten vor Gericht Stellung beziehen mussten. Aber auch in religiös aufgeladenen Alltagskonflikten verhandelten Frauen und Männer ihr Recht auf religiöse oder konfessionelle Selbstbestimmung unter Berufung auf den Westfälischen Frieden. Das hatte auch Auswirkungen auf das Geschlechterverhältnis in der Familie und stellte die uneingeschränkte väterliche Gewalt um willen der Religionsfreiheit zur Disposition.
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Wenn verschiedene religiöse Praktiken in Familie und Haus im Alltag nicht vereinbar waren, entstand das Problem der religiös-konfessionellen Deutungshoheit und Handlungsmacht in der Familie. Konflikte entzündeten sich an der Frage der ‚väterlichen Gewalt‘, den Rechten der Mutter und der Rechtsgültigkeit von Eheverträgen. In Eheverträgen wurde die religiös-konfessionelle Zugehörigkeit der Eheleute und die der zukünftigen Kinder festgeschrieben. Lagen keine Eheverträge, sondern nur mündliche Absprachen vor, musste bei Meinungsver schiedenheiten über die konfessionelle Kindererziehung die dann gültige Rechtsgrundlage ermittelt, und zwischen rechtlichen Handlungsanleitungen und der religiösen Praxis abgewogen werden. Eskalierten die Konflikte, gingen die Eheleute vor Gericht. Je nach Konfliktlage griffen die Gerichte zu dem Mittel der Aktenversendung und baten Juristen und Theologen um Gutachten. Insbesondere der Vorwurf der Zwangskonversion von Kindern löste reichsweit eine Jahrzehnte dauernde Kontroverse um die annos discretionis, also die Religionsmündigkeit von Kindern, aus, die ihnen erlaubte, die Konfession zu wechseln. Hier kam es trotz mehrerer Anläufe von protestantischer Seite zu keiner verbindlichen Absprache zwischen den drei offiziell im Heiligen Reich Deutscher Nation anerkannten Konfessionen. Bei einem Religionswechsel der Kinder entstand daher das Problem der Rechtmäßigkeit der Konversion. Eng damit verbunden war die Frage, ab welchem Alter und in welchen religiösen Praktiken und Einstellungen sich die religiös-konfessionelle Selbstverortung überhaupt ausbildete und zeigte. Religiös-konfessionelle Subjektivierung erfolgte in einem Wechselspiel konfessioneller Formungsarbeit etwa durch Katechismen und die Einübung religiöser Praktiken, und Adaptionsprozessen, die sich situativ aus alltäglichen Erfahrungen, Wahrnehmungen und Herausforderungen speisten. Welchen hohen Stellenwert alltägliche Umstände und familiäre Beziehungen für die religiöse Subjektivierung hatten, wurde unter anderem in der Befragung von Kindern in Konfliktfällen um ihre religiös-konfessionelle Zugehörigkeit deutlich. Religionskonflikte in Familien konnten die Entführung der Kinder auslösen, sei es durch einen Elternteil, durch Verwandte und Vormünder, oder auch durch Amtsträger und Geistliche. Diese Entführungen wurden zur Legitimation einer verschärften landesherrlichen Gesetzgebung zur Kindererziehung in religiöskonfessionell gemischten Ehen angeführt. Die Ursache dieser Entführungen war in der Regel der Versuch, die Erziehung der Kinder in einer bestimmten Konfession gegen bestehende Verträge und Abmachungen durchzusetzen oder die Kinder vor einem erzwungenen Religionswechsel zu schützen. Die Verhandlung dieser Fälle vor Gericht war nicht unumstritten, da die Prozesse oft sehr langwierig waren und die Gefahr bestand, dass die Kinder zwischenzeitlich in einer anderen Konfession erzogen und zum Abendmahl zugelassen wurden und die
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Urteilsfindung gewissermaßen zu spät erfolgte. Der Rechtsfindungsprozess, der bis vor die Reichsgerichte gelangen konnte, war abgesehen von der unklaren Rechtslage zu der Frage elterlicher Gewalt, der Gültigkeit von Verträgen und der strittigen Festsetzung der annos discretionis erschwert durch sich überschneidende Rechtsräume, unterschiedliche Landesgesetze zur Mischehefrage sowie divergierender weltlicher und geistlicher Gesetzgebung. Bei der Frage des Umgangs mit Kindern, die Opfer von Religionskonflikten wurden, zeigten sich regelmäßig Kompetenzstreitigkeiten zwischen Staat und Kir chen sowie zwischen Reichs- und Territorialrecht und landesherrlichem Brauch. Die hieraus entstehende Rechtsunsicherheit wurde in Verhandlungen durch die einzelnen Parteien ausgenutzt, um den eigenen rechtlichen Handlungsspielraum zumindest argumentativ zu erweitern, ein Prozess, der sich in langwierigen Deduktionen und Streitschriften niedergeschlagen hat. Den Referenzrahmen bildeten dabei nicht nur die sukzessiv entwickelten Rechtsordnungen, die präventiv Handlungsmöglichkeiten vorschlugen, sondern auch das Reichsreligionsgesetz von Augsburg von 1555 und der Westfälische Frieden von 1648. Die direkt betroffenen Eltern forderten ihre religiöse Freiheit und die ihrer Kinder ebenfalls unter Berufung auf den Westfälischen Frieden und das Recht auf Gewissensfreiheit Zentral in nahezu allen Konflikten, sei es innerfamiliär in Alltagspraktiken oder im Rechtsstreit, war die letztlich umstrittene Frage nach der bindenden Kraft der väterlichen Gewalt bei der religiösen Kindererziehung. Sie konnte beispielsweise durch solche Eheverträge und Landesgesetze eingeschränkt werden, die die Religionserziehung für Kinder in religiös-konfessionell gemischten Familien geschlechtsspezifisch vorschrieben, also die Mädchen in der Konfession der Mutter, die Jungen in der des Vaters. Betroffenen Familienmitgliedern boten sich in Konfliktfällen eine Reihe unterschiedlicher sozialer und rechtlicher Handlungsmöglichkeiten. Das Recht auf Religionsfreiheit konnte die väterliche Gewalt bei innerfamiliären Religionskonflikten, die vor Gericht ausgefochten wurden, außer Kraft setzen. Zugleich wurde eben diese Gefahr der Unterhöhlung väterlicher Gewalt als Argument gegen die Schließung einer religiös-konfessionell gemischten Ehe vorgebracht. Mit diesen Beobachtungen leistet die Analyse von Mischehen einen Beitrag zu der jüngeren Genderforschung, die die Handlungsspielräume von Frauen aufgezeigt und die strategische Nutzung des Rechts betont hat. Dennoch wäre es falsch, der Bedeutung des rechtlichen und kulturellen Konstrukts „väterliche Gewalt“ keine Beachtung mehr zu schenken. Im Gegenteil verursachte der Autoritätsverlust des Hausvaters im Bereich der religiös-konfessionellen Kindererziehung Konflikte innerhalb und außerhalb der Familie.
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Im Alltag als auch in der Wahrnehmung der Familie durch Staat und Kirche wurde die herkömmliche Geschlechterhierarchie – zugespitzt formuliert – aufgelöst zu Gunsten konfessioneller Politik, religiösen Gewissens und dem Reichsrecht auf Religionsfreiheit für die Anhänger der im Reich anerkannten Konfessionen. In Konfliktfällen hatte dies teilweise weitreichende Folgen für das Beziehungsgeflecht innerhalb der Familie und konnte in Gewalt, Drohungen, Kindsentführung und gerichtliche Verfolgung münden. Konflikte erfassten auch die Dorfgemeinschaft und involvierten Geistliche, Nachbarn und Amtsleute. Die Geschlechterhierarchie wurde, wie exemplarisch gezeigt werden konnte, auf den Kopf gestellt, und schwächte die Position des Ehemanns und Vaters. Machtpositionen aufgrund gegenseitiger Unterstützung, wie es sie zwischen konfessionell unterlegenen Hausvätern, dem katholischen Ortsgeistlichen und einigen lokalen Amtsleuten gab, wurden schließlich durch das Recht der Religionsfreiheit ausgehebelt. Die berufliche Karriere des katholischen Reichskammergerichtsassessors von Albini beispielsweise war durch seine Unfähigkeit gefährdet, die katholische Erziehung seiner Töchter unter Berufung auf seine väterliche Gewalt gegenüber seiner reformierten Frau durchzusetzen. Diese nutzte mithilfe ihres Rechtsbeistand und unter Einbeziehung einer großen Öffentlichkeit alle rechtlichen und politischen Möglichkeiten, um ihre religiösen Vorstellungen in ihrer Familie durchzusetzen. Die intensive Beschäftigung von Theologen und Juristen mit der Bedeutung der väterlichen Gewalt in Mischehen in Kursachsen ist ein weiterer Beleg für die Akzeptanz von und das Wissen um traditionelle Geschlechterhierarchien innerhalb der Familie und deren Gefährdung aus religiösen Gründen. Konflikte in religiös-konfessionell gemischten Ehen erregten deshalb so viel poli tische und öffentliche Aufmerksamkeit, weil sich hier das schwierige Gleichgewicht der Konfessionen im Staat noch einmal im Kleinen in der Familie, dem Inbegriff des Staates im Staat abbildete, und jede Verletzung dieses Gleichgewichts paradigmatisch einer Verletzung des reichsweiten Religionsfriedens und der Gewissensfreiheit gleichkam. So wie der Religionsfriede das Nebeneinander der Konfessionen im Reich politisch regelte, theologisch die Parität aufgrund des nicht aufgegebenen Wahrheitsanspruchs aber nur begrenzt umsetzbar war, so beinhalteten Eheverträge religiös-konfessionell gemischter Paare die Bedingungen des religiös-konfessionell gemischten Zusammenlebens. Doch auch hier wurden Grenzen friedlicher Koexistenz bei der Wahrheitsfrage und der Anerkennung der anderen Konfession erreicht.
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Quellen und Literaturverzeichnis Ungedruckte Quellen Generallandesarchiv Karlsruhe (GLA)
GLA 77 (Akten Pfalz Generalia) GLA 74 (Akten Baden Generalia) GLA 78 (Bruchsal Generalia) GLA Abt. 229 Spezialakten der kleineren Ämter und Städte 229/16521, Daisbach (Verwaltungsachen); 229/42026, Heidesheim-Hemsbach (Weinheim) (Verwaltungssachen) GLA Zc (Gedruckte Verordnungen)
Staatsarchiv Osnabrück (StAO)
Rep. 100: Bestände der Regierung des Hochstifts Osnabrück bis 1803 Abschnitt 188–230 (Polizeisachen) Abschnitt 331–387 (Kirchliche Angelegenheiten) Rep. 110 II: Geheimer Rat zu Hannover und zu Osnabrück und Deutsche Kanzlei zu London betr. Das Fürstbistum Osnabrück Rep. 701 I Evangelisches Konsistorium zu Osnabrück Dep 3b VI Evangelisches Konsistorium
Bistumsarchiv Osnabrück (BAOS)
Kirchenbücher Ankum (Tauf- und Trauregister) Fiche 01-05/001 (1657–1675) Tauf- und Trauregister Fiche 01-05/201 (1725–1763) Trauregister
Hauptstaatsarchiv Sachsen (HStAD) Geheimes Archiv
loc 6133; loc 7422; loc 8309/13; loc 9836; loc 10327; loc 10330; loc 10330/13; loc 10330/14; loc 10330/22; loc 10331/1; loc 11003; loc 10333/18; loc 11003.
Geheimes Konsilium
loc 4555; loc 4587; loc 4571; loc 4603; loc 4760.
Geheimes Kabinett loc 754; loc 3023.
Österreichisches Staatsarchiv. Abteilung Haus-, Hof- und Staatsarchiv (ÖstA HHStA) Kaiserlicher Reichshofrat (RHR) ÖstA HHStA RHR Decisa
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Quellen- und Literaturverzeichnis
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Register Sachregister Abpracticiren, v. Kindern 110, siehe auch Entführung, v. Kindern Annos discretionis 35, 76, 82, 101, 108–110, 112f., 131, 174, 180, 202, 253–255, 271, 356, 359, 361, 366, 398, 450f., 457f., siehe auch Judicio Discretivo, siehe auch Konversionsalter Artefakte 8, 10, 130, 160, 176, 181, 187–189, 209, 212, 297 Augsburger Religionsfrieden 63, 66, 115, 118, 240, 382 Bekehrung 22, 42f., 257, 273, 329, 376, 412, 419, 421, 426 Capitulatio perpetua Osnabrugensis 199, 201, 207, 211, 220, 226f., 230, 232, 238 Code Civil 37, 84 Codex Constitutionis Osnabrugensis 202, 335 Confessio Augustana 59 Corpus Evangelicorum 12, 15, 17, 38, 66, 70, 76, 90, 98, 103, 105, 111, 113, 128, 175, 180, 205, 212, 222, 224, 267, 280, 346, 371, 373f., 376–379, 382, 392–394, 396–398, 404, 411–415, 417f., 421f., 434, 436, 444f., 450, 452, 456, Direktorium des 277, 279 Dekret 55, 69, 284, 290, 387 – Dekret Tametsi 40f., 52–54 – Dekret, d. congregatio concilii 54 Dispens 44–48, 50, 53, 55, 61, 70, 78, 80, 86, 90, 98, 100f., 116, 125f., 290, 312, 362–364, – Ehedispens 73, 308, 363 Dispensation 122, 290, 343, 363 Dispenspraxis 13, 19, 362, 364 Dispensverfahren 122, 306, 362 Disparitas Cultus 22, 61, 125 Eheberedung 81, 92, 254, 308, 374 – Ehevertrag 12f., 15f., 38f., 70, 74, 76–78, 80–84, 86–88, 92, 100, 104, 108, 111, 171, 203, 230, 244, 247, 252–255, 273, 306f., 309–311, 338–341, 398–400, 448, 450, 457–459
– Ehepacta 111, 249 Ehebruch 22, 29, 31f., 431 Eheordnung 62, 78 Eherecht 35f., 39, 57, 60, 118, 120, – kanonisch 35, 40f., 45, 60f., 63, 126 – katholisch 13, 29, 39, 62f., 101, 126, – tridentinisch 41, 53 – protestantisch 35, 56, 59–61, 377 Einquartierung, militärische 15, 431, siehe auch Exekution Entführung, v. Kindern 13, 15f., 212, 222, 223, 236, 296, 374, 403, 405, 412, 420f., 444, 446, 451, 457 – Kindsentführung 13, 17, 37, 66, 106, 111, 174, 296, 342, 376, 396, 399, 415, 451, 459 – Kindsraub 407, siehe auch Abracticiren Erziehung, v. Kindern 21, 80f., 87, 94, 108, 122, 249, 252, 255, 273, 325, 384, 441 Exekution 56, 250, 266–270, 272, siehe auch Einquartierung, militärische Fakultät – theologische 2, 28, 31–34, 62f., 289, 305, 356, 358f., 373 – juristische 2, 24f., 225, 286, 374, 423 Friedensvertrag 2, 8f., 11f., 16f., 20, 38, 64, 76, 89, 96, 103, 115, 118, 120, 124, 127f., 163, 193f., 199, 232, 241f., 246, 250, 259, 330, 373, 381, 385, 387, 394–396, 418, 422, 438, 449, 456 Ganze Haus 315, siehe auch Haus Gewalt 13, 16, 30, 33, 82, 89, 110, 112, 184, 205, 220f., 225, 231, 262, 270, 311, 332f., 339f., 358, 361, 375, 378, 392, 397, 399, 402, 407, 409, 421, 430, 434, 459 Gewissen 12, 14–16, 23, 26, 34, 59, 182, 214, 228, 237, 263, 277, 288, 291, 294 304, 308, 329, 332–334, 339, 341, 357, 359, 362,366, 407, 436, 438, 449, 459 – Religiöses Gewissen 20, 73, 301, 364, 449
500
Register
Gewissensfreiheit 2, 11f., 14, 16, 18, 20f., 38, 75, 83, 89, 98, 103, 107, 110, 112, 115, 121f., 128, 166, 199, 202, 205, 214, 228, 238f., 251, 253, 259, 267, 271, 288f., 299, 333f., 338, 352–354, 396, 398, 407, 439, 453, 455, 458f. Gewissenszwang 12, 16, 19, 24, 66, 129, 131, 180, 183, 211, 236–238, 270, 287, 304, 309, 333f., 364, 367f., 420–423, 426, 453 Glaubenswechsel 28, 44, 88, 107, 109–111, 125, 174, 181, 184, 279, 350, 366, 371, 399–401, 422–424, 426, siehe auch Konversion, siehe auch Religionswechsel Gregorianische Kalender 191 Grenze 4, 8, 123, 131, 141, 152, 159, 163, 165–168, 210, 231–233, 261, 456, 459 Grenzen, d. väterlichen Gewalt 326, 328, 330, 366, 447 Grenzformationen 19, 166, 171, 263 Gutachten 18, 21, 25, 111, 290, 316, 328, 330f., 370, 406, – Juristische Gutachten 2, 24–26, 289, 423, 457 – Rechtliche Gutachten 24, 202, 230 – Theologische Gutachten 2, 16, 26, 28f., 33f., 62, 109, 167, 175, 178, 277, 289, 309, 350, 353–354, 356f., 359f., 366, 423,442, 457 Haus 10, 14, 18, 20f., 129, 134, 139, 140, 142, 167, 209, 221f., 231, 291, 301, 303–306, 313–326, 328f., 334, 337, 457 – Hausfrieden 20f., 301, 303, 326, 341 – Hausgemeinschaft 301, 306, 314, 316, – Hausmutter 315 – Hausstand 14, 314f., 317, 319, 322, Hausvater 12, 231, 304, 315–318, 321f., 326, 329, 438, 458 Hebamme 74, 264 Hospital 232, 265, 349–352, 392, 427, 429f., 433, siehe auch Waisenhaus Immerwährender Reichstag 388, 391 Instrumentum Pacis Westphalicae 407, siehe auch Westfälischer Frieden Ius circa sacra 114, 123f. Ius emigrandi 11, 73, 118, 122, 241 Ius maiestas ecclesiasticum 123
Ius reformandi 85, 118, 124, 193, 242 Jesuiten 95, 106f., 134, 191f., 201, 267, 281, 290, 345, 422f., 425 Juden 8, 22, 42f., 172, 243, 265, 278, 352, 355–360 Judicio Discretivo 355, 424, siehe auch annos discretionis, siehe auch Konversionsalter Katechismus 86, 131–134, 136, 138, 139, 198, 227, 232, 318, 450, – Catechismus 133, 196 Kinderzucht 176, 305 Konkubinat 54, 197 – Concubine 195–197 Konversion 15, 19, 22, 25, 29, 31, 35, 38, 44, 46, 48, 50, 53, 61, 63, 95, 104, 108, 112f., 115f., 125–127, 174, 183, 201, 221, 227, 229, 241, 250, 255, 257, 266, 272, 274–276, 278f., 281–283, 286f., 289, 292, 296, 303, 311f., 343, 350, 354, 365, 368, 374, 392, 399–402, 432, 453, 455, 457, siehe auch Glaubenswechsel, siehe auch Religionswechsel Konversionsalter 108f., 374, 400, 422, siehe auch annos discretions, siehe auch Judicio Discretivo Konzil 40f., 43, 135, 138, 191 – Konzil von Trient 34f., 39–41, 53 – Trienter Konzil 142, 204, 245, siehe auch Tridentinum Mennoniten 7, 181–183, 243, 278, 346f., 349–354 – Menonisten 182f. Mikrohistorie 147, 153 – mikrohistorisch 3f., 154, 263, 273 Mündigkeit 255, 422, siehe auch Religionsmündigkeit, siehe auch Religionsreife Normaljahr 120, 193, 199, 207, 241, 277 – Normaljahrsregelung 9, 11, 76, 83, 90f., 120, 122, 124, 127, 194, 454 Nürnberger Friedensexecutionsdeputation 107 Nürnberger Reichsexekutionstag 253 Öffentlichkeit 17, 41, 113, 297, 299, 374, 376, 388, 391, 393, 395, 410, 413, 456, 459 – Dorföffentlichkeit 231 – Reichsöffentlichkeit 15, 251, 391, 393 – Reichstagsöffentlichkeit 390
Register Parität, konfessionelle 8, 11, 15, 38, 74, 104, 117, 128, 193, 207, 238f., 255, 340f., 382, 395f., 439 Patria Potestas 12, 14, 16, 38, 108f., 320, 323, 332, 335, 340, siehe auch Väterliche Gewalt Periculum in mora 345, 365, 384 Polizeiordnung 35 Propaganda Kongregation 192, 278, 281f., siehe auch Sacra Congregatio de Propaganda Fide Privilegium Paulinum 29f., 55 Reichsgericht 2, 12, 17, 38, 66, 103, 111, 113f., 118, 174, 183, 301, 371, 373f., 376f., 379–381, 389, 393, 395f., 412f., 450f., 456, 458 Reichshofrat 17, 90, 111, 128, 199, 203, 211f., 222, 235, 329, 375–378, 384.388, 395, 397, 399f., 402, 404–407, 409, 412, 414, 420, 437, 443, 450, 452 Reichskammergericht 71, 111, 119, 128, 199, 212, 237, 375, 377–385, 387–388, 397, 437–439, 443f., 446f., 450 Reichstag 12, 17, 38, 66, 69, 103, 113f., 118, 128, 192, 205, 240, 251f., 267, 273, 299, 346, 374, 376f., 381f., 387–396, 434f., 450 – zu Augsburg 54, 70, 106 – zu Nürnberg 38 – zu Regensburg 69, 71, 106f., 112, 299, 346, 389, 391, 395 Religionsbeschwerden 1, 17, 66, 69, 76, 103, 113, 205, 211, 220, 235, 239, 242, 267, 272, 281, 394 Religionsdeklaration, kurpfälzische 246, 251f., 254f., 271f., 310, 361, 435f., 456 Religionsfreiheit 20, 65, 76–78, 81, 88, 237, 247, 252, 270, 289, 294, 301, 325, 332, 359, 396, 455f., 458f. Religionsgravamina 55, 111–113, 205, 412 Religionskonflikte 1, 2, 11, 14f., 20, 76, 171, 183, 233, 246, 286, 299, 306, 311, 313, 329, 334, 345, 373f., 380, 390, 394, 396, 419, 439, 450, 453, 456–458 Religionsreife 177, siehe auch Mündigkeit, siehe auch Religionsmündigkeit Religionswechsel 83, 87, 177, 183, 356, 423,
501
428, 451, 457 Religiöse Gewissensfreiheit 2, 12, 99, 104, 199, 224, 338, 437f., 445, 451, 456 Religionsmündigkeit 11, 19, 101f., 130, 174f., 177, 184, 222, 252, 352, 354, 396, 400, 432, 450, 457, siehe auch Mündigkeit, siehe auch Religionsreife Religiöse Praktiken 20, 129, 131, 153, 157, 168f., 171, 187f., 193, 220, 263, 267, 298, 303, 306, 454, 457 Sacra Congregatio de Propaganda Fide 52, 192, 340, siehe auch Propagandakongregation Seelenheil 32, 73, 166, 287, 330 Sekten 162, 353, Secten 163 Selbstbildung 4, 18, 129f., 157 Selbstverortung 7–10, 19, 130f., 146, 151, 153, 156f., 161f., 166, 168f., 173f., 178, 181, 184f., 189, 209, 218, 334, 337, 454, 457 Scheidung 26, 29–35, 41, 55, 320, 326f. Simultaneum 10, 76, 212, 235, 246, 259, 280, 329, 342, 438 – Simultaneumsverordnung 259–260 Sola fide 138 Sola gratia 138 Sola scriptura 138 Subjektivierung 5, 7, 9f., 18f., 129–131, 161, 168, 173, 175, 177f., 181, 185, 187, 301, 304, 317, 334, 454, 457 Tridentinum 41f., 52, 190f., 246f., siehe auch Konzil von Trient Väterliche Gewalt 12, 39, 112, 224, 238, 255, 306f., 323, 326, 328, 330, 332f., 366, 374, 393, 396, 400, 419, 437, 447f., 451, 456, 458f., siehe auch patria potestas Verführung, z. Glauben 16, 26, 34, 42, 178, 220, 230, 287f., 290, 301, 305, 353, 357, 360 Vormundschaft 15, 241, 252, 280, 293, 320 322, 328, 336, 401, 403, 405–407, 411, 414, 423 – Geschlechtsvormundschaft 323 – Obervormundschaft 328–329, 334, 403 – Reichsvormundschaft 328 Waise 99, 206, 280, 292, 328–329, 332, 360, 374, 393, 395, 405,
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Register
– Waisenkind 38, 107–109, 251, 265, 295, 329, 332 Waisenhaus 16, 107f., 181, 222, 251, 265, 328, 334, 345, 347–349, 355, 358–361, 369–371, 427, 431–433, siehe auch Hospital Westfälischer Frieden 2–3, 8f., 11–13, 15–17, 20, 38, 64, 66, 71, 73, 75–78, 81, 85f., 89f., 93, 96, 98, 103, 105, 112, 115f., 119, 120–122, 124, 127f., 163, 184, 191, 193f., 199, 202, 207f., 232, 241f., 256, 259,
275, 277, 280, 285, 288, 290, 308, 325, 330, 352, 362, 373, 381, 383, 385, 387, 394–397, 422, 430, 438, 445, 447, 449, 453–456, 458, siehe auch Instrumentum Pacis Westphalicae Witwe 2, 3, 13, 93, 101, 179, 202, 206, 209, 221, 266, 295, 328f., 335–337, 361, 369, 404–406, 409f., 420, 436 Zwangsbekehrung 177, 272, 356, 368, 392 Zwangskonversion 21, 171, 174, 177, 272, 452, 457
Namenregister Albani, Annibale, Kardinal 285 Albini, Franz Joseph Freiherr von 167, 237, 393, 437–452, 459 Amelunxen, Cordes von 326–327 Asseburg, Wilhelm Anton von, Generalvikar 343 Aufsess, Barbara Catharina von, geb. von Brandenstein 413f. Aufsess, Carl Christoph, Freiherr von 405 Aufsess, Carl Dietrich, Freiherr von 409 Aufsess, Carl Dietrich Jobst Bernhard von 414 Aufsess, Christian Ernst von 406–408 Aufsess, Friedrich Christoph von 405 Aufsess, Friedrich Ludwig von 405, 413 Aufsess, Johanna Gottlieb, Freifrau/Freiherrin von, geb. von Berlichingen 405–407, 414 Aufsess, Ludwig Carl, Freiherr von 413 Bebenberg, Friedrich Carl Freiherr Karg von 435 Bentheim, Ernst Wilhelm, Graf von 400–403, Bonnus, Hermann 190 Borchorst, Catharina von, geb. Kerstapel 326 Böckler, Georg Andreas 315 Brandenstein, Hans Ludwig von, zu Wüstenstein 413f. Brenz, Johannes 133, 318 Brönner, Heinrich Ludwig 393 Bucer, Martin 58 Bullinger, Heinrich 58 Calvin, Johannes 58 Canisius, Petrus 134 Carpzov, Friedrich Benedikt 23, 30
Castell, Friedrich Magnus Graf zu 397–399 Castell, Susanna Johanna zu, geb. von Oettingen 397–399 Centgraf, Georg Christoph 416, 419 Christian I., Kurfürst, Kursachsen 275 Christian Ernst, Markgraf zu BrandenburgKulmbach 75 Christiane Eberhardine von BrandenburgBayreuth, Ehefrau von August Friedrich I., Kursachsen 283 Clemens VIII, Papst 58 Clemens XI, Papst 48, 58, 284 Clemens August von Bayern, Kurfürst, Erzbischof von Köln und Fürstbischof von Osnabrück 86, 163, 168, 200, 205, 211, 216f., 219–221, 224, 239, 299, 343–345 Coler, Johannes 327 Dedeken, Georg 26 De Leon, Basil Ponce 45, 51 De Lugo, Johannes 45, 51 Dilherrn, Johannes Michael 109 Eitel Friedrich von Hohenzollern, Fürstbischof 191 Elisabeth Stuart von England, Ehefrau von Kurfürst Friedrich V., Kurpfalz 241 Ernst August I., Kurfürst von Hannover und Fürstbischof von Osnabrück 91, 200 Ernst August II., Kurfürst von Hannover und Fürstbischof von Osnabrück 211, 213–216, 227f., 234, 299 Erthal, Dietrich Carl von 420–421 Erthal, Friedrich, von 420
Register Fürstenberg, Anton Egon von, Fürst 279 Fravius, Georg 192 Franz Graf von Waldeck, Fürstbischof 190 Friedrich I., König von Preußen 23, 304 Friedrich II., König von Preußen 100 Friedrich III., Kurfürst, Brandenburg 23 Friedrich III. (Pfalz-Simmern), Kurfürst, Kurpfalz 240f. Friedrich IV. (Pfalz-Simmern), Kurfürst, Kurpfalz 241 Friedrich V. (Pfalz-Simmern), Kurfürst, Kurpfalz 241 Friedrich VII Magnus, Markgraf von BadenDurlach 79 Friedrich August I., Kurfürst, Kursachsen (ab 1697 als August II./August der Starke König von Polen) 276, 280–285, 297, 369 Friedrich August II., Kurfürst, Kursachsen (ab 1733 als August III. König von Polen) 290 Friedrich Ludwig, Herzog von PfalzZweibrücken 83 Friedrich Wilhelm, Kurfürst, Brandenburg 96 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen 97f. Galen, Christoph Bernhard von, Fürstbischof 403 Georg I., Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien 91 Georg II., Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien 111 Georg III., Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien 91 Georg IV., König von Hannover und Großbritannien 93, 206, 238, 278 Georg XV., Papst 52 Glorez, Andreas 315 Gobat, Georg 50 Gobin, Jakob Friedrich, Stadtdirektor, Mannheim 349, 428f., 431–433 Gronefeld, Gerhard Nicolas 213, 215, 217 Grotius, Hugo 60 Gustav Samuel Leopold, Herzog von PfalzZweibrücken 83 Hahn, Hermann Joachim 296 Hemming, Nicolaus 30–32 Hobbes, Thomas 60, 323
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Hohberg, Wolf Helmhard von 315 Hülß, Georg Friedrich, Freiherr von 406 Innozenz X, Papst 44, 50 Jakob I., König von England 91, 241, Johann I., Herzog von Pfalz-Zweibrücken 83 Johann II., Herzog von Pfalz-Zweibrücken 83 Johann Casimir, Graf von Pfalz-Lautern 241 Johann Georg IV., Kurfürst, Kursachsen 278 Johann Sigismund, Kurfürst, Brandenburg 95, 275 Johann Wilhelm (Pfalz-Neuburg), Kurfürst, Kurpfalz 270 Joseph I., ungarischer und römisch-deutscher König (ab 1705 Kaiser des Hl. Röm. Reiches Deutscher Nation) 283, 396 Karl I., König von Großbritannien 46, 301 Karl Friedrich, Markgraf von Baden-Durlach 80, 255 Karl Ludwig (Pfalz-Simmern), Kurfürst, Kurpfalz 242 Karl Theodor (Pfalz-Sulzbach), Kurfürst, Kurpfalz 246, 254, 310 Kerssenbrock, Ferdinand von 344 Krimer, Ferdinand 50 Kugler, Johann 50f. Kunkel, Maria Margaretha Elisabeth, geb. Steinam, Hofrätin 180 Laukhard, Friedrich Christian 313f. Lampardius, Jacob 90 Leopold I., Kaiser des Hl. Röm. Reiches Deutscher Nation 329, 396, 406 Löser, Hans 277 Ludwig VI., Graf, Oberpfalz 241 Lucenius, Albert 194 Luther, Martin 29, 30, 36, 58–61, 68, 133, 137f., 197, 230, 302f., 318 Lüpke, Carl Anton 207 Mackh, Johann Franz von 426f. Marcellus, P., Jesuit aus Bamberg 109 Maria Henrietta von Frankreich, Ehefrau von König Karl I. von Großbritannien 46, 301 Maria Josepha von Österreich, Ehefrau von Kurfürst Friedrich August II., Kursachsen (ab 1733 als August III. König von Polen) 279, 283, 366, 380 Martyr, Petrus 30, 62 Melanchthon, Philipp 30, 59
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Register
Montaigne, Michel de 1 Moser, Johann Jacob 73f., 122–124, 242, 324, 377 Möser, Justus 230–237 Mueling, Michael M. 26, 28 Müller, Philip 23, 304–306, 314 Nehem, von 343–345 Nikolaus I., Papst 40 Paldamus, Johann 284 Paulus, Apostel 22, 25, 29–32, 42, 61, 125, 138, 301 Philipp Ernst, Graf von Hohenlohe 46 Philipp Wilhelm, Kurfürst, Kurpfalz 245, 247, 252, 270 Pichler, Vitus 44, 49–51 Pirhing, Ehrenreich 44, 50 Polheim, Weickhardt Achilles, Freiherr zu 293 Ponickau, Baron von 435f. Pufendorf, Samuel 323 Reiffenstuel, Anacletus 45, 50 Riedesel, Johann Wilhelm 236f., 445 Sachsen-Zeitz, Herzog zu 23, 304 Sanchez, Thomas 49, 51 Sarcer, Erasmus (Sarcerius, Erasmus) 58 Sartorius, Amelung 197
Schaumburg, Freifrau von, geb. Marschallin von Ebenet 420 Schele, Ludwig August von 200, 341f. Schmalzgrueber, Franz 49–51 Schmier, Franz 52 Serarius, Nicolaus 45, 51 Sophie Dorothea, von der Pfalz 91 Sporer, Patrizius 50 Staritz, Maria Josepha Theresa von, geb. von Mackh (in erster Ehe von Woyda) 426–428, 431, 436 Staritz, Johann Peter von 427, 430 Steinfurt, Philipp Conrad, Graf zu 400 Tanner, Adam 50 Theodor, Pfalzgraf von Sulzbach 76 Thomasius, Christian 23, 60, 66, 176, 323 Urban VIII., Papst 44, 46 Vette, Charlotte Elisabeth von 343 Vogelius, Karl von 235, 248 Vota, Karl Moritz 282–284, Wolff, Christian 176, 320f., 323 Woyda, Maria Antonia Walpurgis von 426f., 433 Wolfgang Wilhelm, Graf von Pfalz-Neuburg 95 Zanchius, Hieronymus 30, Zelst, Gertrud van 400–404