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German Pages 247 [248] Year 2012
Eva-Maria Jung Gewusst wie?
Ideen & Argumente
Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert
Eva-Maria Jung
Gewusst wie?
Eine Analyse praktischen Wissens
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Research School der Ruhr-Universität Bochum
isbn 978-3-11-025836-3 e-isbn 978-3-11-025862-2
Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Printed on acid-free paper Printed in Germany www.degruyter.com
Für meine Eltern Doris und Werner
Inhaltsverzeichnis 1 1.1 1.2 1.2.1 1.2.2 1.3 1.3.1 1.3.1.1 1.3.1.2 1.3.2 1.3.2.1 1.3.2.2 1.3.3 1.4 1.4.1 1.4.2 1.4.2.1 1.4.2.2 1.4.2.3 1.4.2.4 1.4.2.5 1.4.2.6 1.4.3 1.4.3.1 1.4.3.2 1.4.4 1.5 1.6
Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen 6 Formen des Wissens 6 Die Gegenüberstellung von praktischem und propositionalem Wissen 10 Die Reichweite propositionalen Wissens: Einige Kontroversen 10 Das Primat propositionalen Wissens in der Erkenntnistheorie 13 Zugänge zu praktischem Wissen: Gilbert Ryle und Michael Polanyi 18 Ryles „Knowing How“ und „Knowing That“ 19 Die Zurückweisung der „intellektualistischen Legende“ 19 Die dispositionale Analyse von „Knowing How“ 23 Polanyis „Personal Knowledge“ 26 Die Zurückweisung objektivistischer Wissenskonzeptionen 27 Die implizite Dimension des Wissens 28 Ryle und Polanyi: Parallelen und Unterschiede 30 Ist praktisches Wissen auf propositionales Wissen reduzierbar? 31 Dimensionen der aktuellen Debatte 31 Explikationskontroversen 33 Praktisches Wissen ohne Fähigkeit? 34 Die Unterbestimmtheit von Zuschreibungssätzen für praktisches Wissen 35 Fähigkeiten ohne praktisches Wissen? 39 Intellektualistische Explikationen 42 Anti-intellektualistische Explikationen 45 Herausforderungen für Intellektualisten und Anti-Intellektualisten 48 Reduktionskontroversen 49 Intellektualistische Reduktionen 51 Anti-Intellektualistische Reduktionen 64 Methodologische Kontroversen 67 Die Bedeutung praktischen Wissens für die Erkenntnistheorie 71 Konklusion: Für einen neuen theoretischen Zugang zur Analyse praktischer Wissensformen 76
VIII
Inhaltsverzeichnis
2 Die Rolle des Wissensbegriffs in der Erkenntnistheorie 78 2.1 Wissen als philosophischer Gegenstand 78 2.2 Das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen 82 2.3 Das „Gettier“-Problem und seine Folgen 86 2.3.1 Die Standardanalyse des Wissens 86 2.3.1.1 Die Bedingung der Wahrheit 87 2.3.1.2 Die Bedingung der Überzeugung 91 2.3.1.3 Die Bedingung der Rechtfertigung 94 2.3.2 Die „Gettier“-Fälle 96 2.3.3 Internalistische Positionen 100 2.3.4 Externalistische Positionen 105 2.3.5 Konsequenzen der Post-Gettier-Debatte für das Projekt der Begriffsanalyse 111 2.4 Beckermanns Plädoyer für die Verbannung des Wissensbegriffs aus der Erkenntnistheorie 114 2.4.1 Beckermanns Argument für die Inkohärenz des Wissensbegriffs 114 2.4.2 Beckermanns Argument für die Irrelevanz des Wissensbegriffs 119 2.4.3 Epistemische Ziele und Werte 120 2.4.4 Exkurs: Alternativen zur Standardanalyse 126 2.4.4.1 Craigs pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff 126 2.4.4.2 Williamson: Wissen als grundlegender mentaler Zustand 128 2.4.5 Fazit: Begriffsanalysen und der Wert des Wissens 130 2.5 Naturalistische Erkenntnistheorien 131 2.5.1 Quines „Naturalisierte Erkenntnistheorie“ 132 2.5.2 Neuere Naturalistische Erkenntnistheorien: Alvin I. Goldman und Hilary Kornblith 136 2.5.3 Die Bedeutung naturalistischer Erkenntnistheorien für das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen 143 2.6 Konklusion: Ausgangspunkte für eine Analyse praktischen Wissens 145 3 3.1 3.2 3.3 3.4
Wissensformen und Wissensformate – Ein neuer Blick auf praktische Wissensformen 147 Einleitung 147 Methode 149 Praktisches Wissen vs. propositionales Wissen – Eine Dichotomie neu betrachtet 153 Wissensformate 163
IX
Inhaltsverzeichnis
3.4.1 3.4.2 3.4.3 3.4.4 3.4.5 3.4.6 3.5 3.6 3.7 3.8
4 4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6
5 5.1 5.1.1
Propositionale Repräsentationen 163 Sprache als Medium des Wissens 165 Sensomotorische Repräsentationen 168 Praktische Fähigkeiten 173 Bildhafte Repräsentationen 177 Wissen, Lernen, Transformation 181 Praktisches Wissen ohne Repräsentation? – Die Phänomenologie des Fertigkeitserwerbs nach Dreyfus 182 Wissenssubjekte 189 Wissensformen in anderen Wissenschaften 192 Konklusion: Praktisches Wissen und propositionales Wissen – Eigenheiten und Verbindungen 195 Musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten – Ein Anwendungsbeispiel 197 Ein Blick auf die kognitive Psychologie der Musik 197 Rezeptive musikalische Fähigkeiten 198 Praktische musikalische Fähigkeiten 201 Musikalische Imagination 203 Das Zusammenspiel von propositionalem und praktischem Wissen 207 Konklusion: Musikalische Wissensformen als Paradebeispiel für die Vielfalt der menschlichen Kognition 209
5.1.2 5.2
Ausblick und Resümee 211 Ausblick auf angrenzende Problemfelder 211 Praktisches Wissen und das Argument des unvollständigen Wissens 211 Die Rolle praktischen Wissens in Wahrnehmungstheorien Resümee 217
6
Literaturverzeichnis
7
Personenregister
8
Sachregister
221 233
235
214
Einleitung Die Grammatik des Wortes „wissen“ ist offenbar eng verwandt der Grammatik der Worte „können“, „imstande sein“. (Ludwig Wittgenstein) 1
„Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“2 – mit diesen Worten lässt Aristoteles seine „Metaphysik“ beginnen. Mehr als 2000 Jahre nach seiner Entstehung drückt diese Aussage ein erstaunlich treffendes Bild unserer zeitgenössischen Gesellschaft aus. Die Schlagwörter der „Informationsrevolution“ und des „Wissenszeitalters“ spiegeln die ungeheure Bedeutung wider, die Wissen für unser soziales und ökonomisches Zusammenleben einnimmt. Und doch meinen wir oftmals völlig unterschiedliche Phänomene, wenn wir von Wissen sprechen: Manchmal verstehen wir darunter eine richtige Lösung in einem Frage-Antwort-Spiel, die beispielsweise bei einer Fernsehshow über eine große Menge Geld entscheiden kann; andere Male meinen wir damit fundierte Kenntnisse, die Experten zu einem bestimmten Thema abgeben und umfassend begründen können; und in einigen Situationen beziehen wir uns auf eine noch umfassendere und tiefgreifende Erkenntnis – man denke an die faustische Suche nach dem Wissen von dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“. Das Streben nach Wissen beschränkt sich bei weitem nicht auf Klassenräume und Hörsäle, sondern bestimmt unsere alltägliche Lebenswelt von Anfang an entscheidend mit. Etwas zu wissen spielt für uns eine zentrale Rolle und kann sich dabei auf ganz unterschiedliche Gegenstände beziehen: Das Wissen, dass Berlin die Hauptstadt der Bundesrepublik ist oder dass die Sonne scheint, gehört ebenso dazu wie das Wissen, wie sich Zahnschmerzen oder ein Bad im Toten Meer anfühlen. Der Wert des Wissens zeigt sich wesentlich darin, dass wir auf seiner Grundlage Handlungen und Verhaltensweisen ausrichten. In einigen Fällen verweisen wir mit dem Wissensbegriff sogar auf ein Wissenwie im Sinne einer praktischen Kompetenz oder eines Könnens, das sich auf unterschiedlichste Fähigkeiten beziehen kann, beispielsweise auf die des Autofahrens, des Schwimmens, des Kopfrechnens oder des Gedichtereimens. In dieser Arbeit stehen ebendiese praktischen Wissensformen im Zentrum.
1 Philosophische Untersuchungen § 150, Wittgenstein 1984, S. 315. 2 Aristoteles 1971, 980a21.
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Einleitung
Der Fokus der analytischen Erkenntnistheorie ist fast ausschließlich auf propositionales Wissen, das Wissen über Tatbestände, beschränkt, von welchem zumeist angenommen wird, dass es verbalisiert oder durch symbolische Gedanken repräsentiert werden kann. Praktische Wissensformen werden hingegen nur als Randerscheinungen diskutiert. Allerdings gewinnt die Frage, wie sich praktisches und theoretisches Wissen zueinander verhalten, in jüngster Zeit zunehmend an Bedeutung: Insbesondere die Kritik, die Jason Stanley und Timothy Williamson in einem im Jahr 2001 erschienenen Aufsatz gegen die von Gilbert Ryle begründete Unterscheidung von knowing how und knowing that vorbrachten, löste eine sehr hitzige Debatte über den Status praktischer Wissensformen aus, die sich über Fachgrenzen hinweg erstreckt. Stanley und Williamson argumentieren dafür, dass knowing how nicht mit praktischen Fähigkeiten gleichzusetzen ist, sondern eine bestimmte Form propositionalen Wissens markiert. Diese These ist auf Kritik aus unterschiedlichen Richtungen gestoßen. In diesem Zusammenhang sind verschiedene Fragen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt, auf die Philosophen, Psychologen und Kognitionswissenschaftler unterschiedliche Antworten geben: Welches Wissen schreiben wir Personen zu, wenn wir behaupten, sie verfügen über ein knowing how oder ein Wissen-wie? Unterscheidet sich dieses Wissen grundlegend von einem Faktenwissen? Welche Zustände des Geistes (oder des Gehirns) liegen praktischen Wissensformen zugrunde? Ich werde in dieser Arbeit dafür argumentieren, dass eine „echte“ Dichotomie zwischen praktischen und propositionalen Wissensformen vorliegt. Praktisches Wissen ist das Wissen, das uns dazu befähigt, intelligente Handlungen auszuführen. Es kann nicht mit einem propositionalen Wissen gleichgesetzt werden, weil es einige Merkmale aufweist, die sich einer solchen Reduktion entziehen. Zudem werde ich eine Theorie von „Wissensformaten“ entwickeln, welche die mentalen Zustände beschreiben, die Wissensphänomenen zugrunde liegen. Mithilfe dieser Theorie können wir einen neuen, differenzierten Blick auf praktisches und propositionales Wissen gewinnen: Beide werden als eigenständige, irreduzible Wissensformen aufgefasst, und dennoch können wesentliche Zusammenhänge zwischen ihnen aufgezeigt werden. Die Argumente und Thesen dieser Arbeit werden in fünf Kapiteln entwickelt: Im ersten Kapitel steht die aktuelle Debatte über praktische Wissensformen im Mittelpunkt. Mit den Positionen Gilbert Ryles und Michael Polanyis werde ich zunächst zwei verschiedene Zugänge zur praktischen Dimension unseres Wissens vorstellen, die für die Bewertung der in jüngerer Zeit vorgebrachten Argumente von zentraler Bedeutung sind. Ich werde aufzeigen, dass sich die aktuelle Debatte um praktische Wissensformen in eine Sackgasse begeben hat: Diejenigen Autoren, die ein solches Wissen auf ein propositionales
Einleitung
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Wissen reduzieren, liefern keinen überzeugenden Erklärungswert für seine spezifischen Merkmale. Diejenigen wiederum, die praktisches Wissen mit einer Fähigkeit gleichsetzen, sind mit dem Problem konfrontiert, dass sie zeigen müssen, warum ein solches Wissen überhaupt eine „echte“ Form des Wissens markiert und für die Erkenntnistheorie von Bedeutung ist. Wir werden zudem sehen, dass keine überzeugenden Argumente für eine Reduktion der einen Wissensform auf die jeweils andere vorgebracht werden. Darüber hinaus wird ein Blick auf die methodologischen Streitfragen innerhalb der Debatte offen legen, dass weder eine linguistische Analyse noch eine repräsentationalistische Theorie, die sich einer so genannten „Sprache des Geistes“ verschreibt, einen überzeugenden Ausgangspunkt für die Erklärung praktischen Wissens bieten können. Im zweiten Kapitel werde ich drei Diskussionsstränge der zeitgenössische Erkenntnistheorie in den Blickpunkt nehmen: (1) die Kontroverse um das so genannte „Gettier“-Problem, (2) die von Ansgar Beckermann angestoßene Diskussion um eine scheinbare Inkonsistenz und Irrelevanz des erkenntnistheoretischen Wissensbegriffs und (3) die Debatte um so genannte „naturalistische Erkenntnistheorien“. Bei der Betrachtung dieser unterschiedlichen Diskussionsstränge geht es mir um die Fragen, welche Konsequenzen sich für eine Analyse praktischen Wissens ergeben und welche Bedeutung praktische Wissensformen für diese Debatten spielen. Ich werde aufzeigen, dass sich das traditionelle Projekt der Begriffsanalyse für Wissen als aussichtslos erweist, solange es auf eine Suche nach allgemeinen notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen von Wissen ausgerichtet ist. Der Grund dafür ist, dass die Bedeutung des Begriffs wesentlich durch den Kontext der Zuschreibung und durch die Perspektive, die wir auf Wissensphänomene einnehmen, geprägt wird. Zudem werde ich dafür argumentieren, dass ein Blick auf die empirischen Wissenschaften, insbesondere auf die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaften, für eine Analyse praktischer und propositionaler Wissensformen vielversprechend ist. Die Überlegungen aus den ersten beiden Kapiteln dienen als Ausgangspunkt für eine neue Theorie praktischer Wissensformen, deren Grundzüge ich im dritten Kapitel vorstellen werde. Ich werde einige Argumente dafür vorbringen, weshalb wir praktisches und propostionales Wissen als irreduzible Formen des Wissens betrachten sollten. Da beide Wissensformen auf unterschiedliche Ziele bezogen sind, werde ich eine Charakterisierung anhand zweier idealtypischer Normen vorschlagen. Auf der Grundlage dieser Normen gewinnen wir Minimalbegriffe praktischen und propositionalen Wissens, die durch weitere, kontextabhängige Normen spezifiziert werden können. Durch eine Betrachtung von Wissensformaten, die charakterisieren, in welcher Weise wir Informationen
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Einleitung
repräsentieren, die praktischem und propositionalem Wissen zugrunde liegen, erfolgt ein differenzierterer Blick auf die Zusammenhänge zwischen beiden Wissensformen. Durch die Bezugnahme auf Forschungsergebnisse der Neuround Kognitionswissenschaften werde ich drei solcher Formate unterscheiden: (1) ein propositionales, (2) ein sensomotorisches und (3) ein bildhaftes. Im vierten Kapitel werde ich musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten als Anwendungsbeispiele herausgreifen. Anhand einiger Studien, die überwiegend aus der aktuellen Forschung der kognitiven Psychologie stammen, zeigt sich, dass die Unterscheidung der Wissensformate als hilfreiches Instrument für die Einordnung und Bewertung der jeweiligen kognitiven Situationen dienen kann. Ein Blick auf zwei angrenzende Problemfelder, in welchen der Bezug auf praktische Wissensformen eine zentrale Rolle einnimmt, zeigt im fünften Kapitel Anschlussstellen für die in dieser Arbeit vorgestellte Analyse praktischen Wissens auf. Innerhalb der Diskussion um das so genannte „Argument des unvollständigen Wissens“ wird das Wissen, wie es ist, bestimmte Erfahrungen oder Erlebnisse zu haben, oftmals als praktische Wissensform aufgefasst. Die Debatte um so genannte „enaktivistische“ Theorien der Wahrnehmung dreht sich hingegen um die Frage, welche Rolle praktisches Wissen für Wahrnehmungserlebnisse und -gehalte im Allgemeinen einnimmt. Ich werde einige offene Fragen dieser beiden Debatte herausstellen und skizzieren, in welcher Weise die in dieser Arbeit entwickelten theoretischen Grundlinien neue Impulse für die Diskussionen geben können. Dieses Buch ist aus meiner Dissertation hervorgegangen, die ich im März 2009 an der Ruhr-Universität Bochum eingereicht habe. An dieser Stelle möchte ich denjenigen danken, die mich in vielfältiger Form bei der Fertigstellung dieser Arbeit unterstützt haben. Meinem Doktorvater Albert Newen danke ich herzlich für wichtige inhaltliche Impulse und Literaturhinweise sowie für intensive Diskussionen und Ermutigungen, die die Entwicklung der Arbeit entscheidend geprägt und vorangetrieben haben. Oliver R. Scholz und Walter Schweidler sowie zwei anonymen Gutachtern für die Reihe „Ideen und Argumente“ gilt mein Dank für hilfreiche Hinweise und detaillierte Verbesserungsvorschläge. Meinen Kolleginnen und Kollegen danke ich für die fachlich und persönlich anregende und freundschaftliche Atmosphäre. Alva Noë möchte ich meinen Dank für interessante Gespräche und für seine offene Art aussprechen, die meinen Aufenthalt in Berkeley und die Fertigstellung der Arbeit bereichert haben. Für die finanzielle Unterstützung danke ich der Studienstiftung des deutschen Volkes, der Ruhr-University Research School und der VW-Stiftung. Ein herzliches Dankeschön geht an all diejenigen, die Teile dieser Arbeit gelesen und wertvolle Anmerkungen gegeben haben: Lucia an der Brügge, Anika Fie-
Einleitung
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bich, Vera Hoffmann, Dirk Koppelberg, Christoph Michel, Sabine Müller-Mall, Raphael van Riel, Tobias Schlicht, Gottfried Vosgerau und Johanna Winkler. Tamara Ann Köhler möchte ich für die Hilfe bei der Erstellung des Registers danken. Gertrud Grünkorn vom de Gruyter Verlag gilt mein Dank für ihre freundliche Betreuung und ihre Geduld. Ich danke außerdem allen Verwandten und Freunden, die für mich da waren. Ohne ihre moralische Unterstützung und ihren Rückhalt hätte ich diese Arbeit nicht fertigstellen können. Mein innigster Dank gilt meinen Eltern Doris und Werner und meinen Geschwistern Johanna und Andreas, die mich stets mit aller Tatkraft zur Fertigstellung der Arbeit ermutigt haben.
1 Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen 1.1 Formen des Wissens In der Alltagssprache verwenden wir den Wissensbegriff in sehr unterschiedlichen Situationen und zu verschiedenen Zwecken. Die folgenden Sätze spiegeln diese Vielfalt wider: (1) Johanna weiß, dass Caracas die Hauptstadt von Venezuela ist. (2) Elfriede weiß, wo der Bahnhof ist. (3) Thomas weiß, wann der Zug abfährt. (4) Heidi weiß, wer das Geheimnis verraten hat. (5) Fritz weiß, ob der FC Bayern München gewonnen hat. (6) Susanne weiß, warum die Banane krumm ist. (7) Charlotte weiß, wie spät es ist. (8) Angelika weiß, wie es ist, in einem Heißluftballon zu fliegen. (9) Marlene weiß, wie Guavensaft schmeckt. (10) Doris weiß, wie man Tango tanzt. Welches Wissen schreiben wir diesen Personen zu? Die Betrachtung der intuitiven, pragmatischen Bedeutungen, die diesen Sätzen in der Alltagssprache zukommen, soll als Ausgangspunkt für die Entwicklung und Einordnung inhaltlicher und methodischer Fragen im Bezug auf praktische Wissensformen dienen.1 Zunächst ist anzumerken, dass die oben angeführte Liste in anderen Sprachen, beispielsweise im Englischen, noch grundlegend erweitert werden kann, da hier „to know“ außerdem in einer Objektstruktur verwendet wird und in dieser Struktur gewöhnlich dem deutschen „kennen“ entspricht. Hier sind also auch Sätze der folgenden Art zu berücksichtigen: (11) Julia knows her sister Lisa very well. Die Alltagssprache bindet die Verwendung von „wissen“ folglich nicht ausschließlich an die Konstruktion „wissen, dass“, die im Zentrum des Projekts der Begriffsanalyse von Wissen steht, ist diese doch durch die Suche nach einer
1 Vergleichbare Überblicke über alltagssprachliche Sätze, mit denen wir auf Wissen verweisen, finden sich in Bieri 1987, S. 11f. und Grundmann 2008, S. 71ff.
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Explikation für „S weiß, dass p“ charakterisiert.2 Allerdings geht man in der Erkenntnistheorie davon aus, dass es sich bei propositionalem Wissen nicht um eine Randerscheinung der alltagssprachlichen Bedeutung von „wissen“ handelt. Vielmehr werden die meisten anderen Satzkonstruktionen als Verweise auf propositionales Wissen interpretiert, obwohl sie keine explizite „wissen, dass“Struktur enthalten. Hierbei liegt die Vorstellung zugrunde, dass die verschiedenen Verwendungsweisen zwar in unterschiedlichen Satzkonstruktionen ausgedrückt werden, dass sie aber dennoch dieselbe Art von Wissen zuschreiben wie ein entsprechender „wissen, dass“-Satz, in den sie umformuliert werden können – dass sie also eine bestimmte Beziehung zwischen einem Subjekt und einem gewussten Tatbestand bzw. einer Proposition ausdrücken. Durch eine geschickte Umformulierung in geeignete „wissen, dass“-Sätze kann die entsprechende Proposition sichtbar gemacht werden. Für die Sätze (2) bis (7) lässt sich dies leicht verständlich machen, sind hier doch Propositionen, auf die als Wissensgehalt verwiesen wird, unschwer erkennbar: Elfriede weiß, wo der Bahnhof ist, weil sie weiß, dass der Bahnhof sich an einem bestimmten Ort in der Stadt befindet – beispielsweise direkt an der Hauptstraße, gegenüber vom Marktplatz. Thomas weiß, dass der Zug zu einer bestimmten Uhrzeit abfährt, etwa um 10:03 Uhr, und Heidi weiß, dass Heinz das Geheimnis verraten hat. Fritz weiß, dass der FC Bayern München gewonnen hat (oder auch nicht); und Susannes Wissen, warum die Banane krumm ist, wird gewöhnlich darauf zurückgeführt, dass sie eine überzeugende Erklärung für die Krümmung der Banane liefern kann, die sie beispielsweise im Naturkunde-Unterricht gelernt hat. Susanne weiß, dass die Banane aus bestimmten biologischen Gründen krumm ist. Und Charlottes Wissen, wie spät es ist, können wir durch die Behauptung ausdrücken, dass Charlotte weiß, dass es jetzt 21:03 Uhr ist. Gewöhnlich werden die Sätze (2) bis (7) folglich als Sätze aufgefasst, die jeweils auf propositionales Wissen – auf ein Wissen über bestimmte Tatbestände – referieren, auch wenn keine explizite „wissen, dass“-Konstruktion gegeben ist. Wesentlich schwieriger gestaltet sich hingegen eine geeignete Umformulierung in „wissen, dass“-Konstruktionen für die Sätze (8) bis (11), stehen hier doch verschiedene Interpretationsmöglichkeiten einander gegenüber. Was mit diesen Sätzen ausgedrückt wird, hängt wesentlich davon ab, welchen Zweck sie in einer gegebenen Situation erfüllen. Vielleicht plane ich selbst eine Heißluftballonfahrt oder möchte Guavensaft in einem Restaurant bestellen, obwohl ich ihn noch nie zuvor getrunken habe. In diesen Situationen erhoffe ich mir, dass Angelika und Marlene wichtige Hinweise, wesentliche Informationen über die
2 Das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen wird im zweiten Kapitel im Zentrum stehen.
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Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen
Ballonfahrt bzw. den Geschmack von Guavensaft nennen und mir somit einige Anhaltspunkte für meine eigenen Pläne und Entscheidungen geben können, beispielsweise indem sie die Ballonfahrt bzw. den Geschmack von Guavensaft mit Erlebnissen und Erfahrungen vergleichen, die ich kenne. So könnte man behaupten, Angelika wisse, dass eine Heißluftballonfahrt mit einer Fahrt in einem Segelflugzeug vergleichbar ist, oder Marlene wisse, dass Guavensaft süßlich schmeckt und eine ähnliche Konsistenz aufweist wie Bananensaft. Hierbei spielt es keine große Rolle, ob Angelika und Marlene selbst schon einmal eine Heißluftballonfahrt unternommen bzw. Guavensaft getrunken haben. Sie könnten die entsprechenden Informationen auch von anderen Personen erhalten haben. In diesem Fall kann das Wissen, auf welches die Äußerungen Bezug nehmen, durchaus als propositional aufgefasst werden. Doch die Sätze können auch in einem anderen Sinne interpretiert werden, beispielsweise in der Situation, in der ich mit ihrer Äußerung betone, dass Angelika schon einmal selbst eine Ballonfahrt unternommen und Marlene schon einmal Guavensaft getrunken hat. Hier frage ich nicht nach bestimmten Informationen, sondern hebe hervor, dass die Wissenssubjekte bestimmte Erlebnisse oder Erfahrungen gemacht haben. In diesem Fall können Tatbestände, auf die sich die Sätze beziehen, nicht eindeutig herausgestellt werden; es ist sogar fraglich, ob es sich überhaupt um propositional strukturiertes Wissen handelt. Das dieser zweiten Bedeutungsweise entsprechende Wissen wird auch oft als „Wissen, wie es ist“ oder „phänomenales Wissen“ bezeichnet. Auf dieses Wissen wird in vielen unterschiedlichen Debatten der Erkenntnistheorie und der Philosophie des Geistes Bezug genommen: Ausgehend von Thomas Nagels Aufsatz „What is it like to be a bat?“ (1974) wird die Betrachtung phänomenalen Wissens zum Anstoß für die so genannte „Qualia“-Debatte. In Frank Jacksons berühmtem „Argument des unvollständigen Wissens“ (1982, 1986) kommt dem Wissen, wie es ist, etwas Rotes zu sehen, eine explanatorische Funktion für die Argumentation gegen den Physialismus zu.3 Ob das Wissen, worauf Jackson und Nagel sich jeweils beziehen, eine propositionale Struktur aufweist, wird kontrovers diskutiert. Eine Einordnung des Status dieser Wissensform hängt zumeist stark davon ab, wie propositionales Wissen aufgefasst bzw. expliziert wird. Auch die Bedeutung der Sätze (10) und (11) ist in der Alltagssprache nicht eindeutig festgelegt: Eine Umformulierung in geeignete „wissen, dass“-Sätze liegt hier zumindest auf den ersten Blick nicht auf der Hand. Mit Satz (11) wird
3 In Abschnitt 5.1.1 werde ich das Argument des unvollständigen Wissens („KnowledgeArgument“) noch einmal ausführlicher diskutieren. Für hilfreiche Überblicksdarstellungen zu diesem Argument und der damit verbundenen „Qualia“-Debatte vgl. Nida-Rümelin 2010, Tye 2009 und Walter 2001.
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wohl überwiegend ausgedrückt, dass Julia das Verhalten und die Persönlichkeit ihrer Schwester sehr gut einschätzen kann, weil sie mit ihr aufgewachsen ist und sie in den unterschiedlichsten Situationen erlebt hat. Das Kennen von Personen kann jedoch auch anders aufgefasst werden: In seinem sehr schwachen Sinne ist damit gemeint, dass jemandem ein Gesicht, beispielsweise das einer prominenten Person, oder ein Name bekannt sind. In einem stärkeren Sinne wird Kennen sehr viel umfassender verstanden und kann eine Menge propositionalen Wissens über eine Person ebenso wie bestimmte Fähigkeiten mit einschließen – beispielsweise Julias Wissen, dass Lisa rote Haare hat, dass sie gerne ins Theater geht, tanzt, turnt und Kriminalromane liest, oder aber ihre Fähigkeit, Lisas Stimme zu erkennen oder ihre Reaktionen in bestimmten Situationen einzuschätzen. Wird Kennen in einem umfassenden Sinne verstanden, so schließt es folglich weit mehr als das Wissen von bestimmten Tatsachen über eine Person ein. Analoges gilt auch, wenn sich das Kennen auf ein anderes Objekt bezieht, beispielsweise auf eine Stadt.4 Auch bezüglich des Satzes (10) ist die Bedeutung der Alltagssprache nicht eindeutig festgelegt. Es hängt vom Äußerungskontext ab, auf welches Wissen dieser Satz verweist. In einem geläufigen Sinne ist gemeint, dass Doris über eine bestimmte praktische Kompetenz – die des Tango-Tanzens – verfügt: Doris kann Tango tanzen; sie verfügt über praktisches Wissen. Man könnte mit der Äußerung dieses Satzes aber auch darauf verweisen, dass Doris sich durch eine Anleitung zum Tango-Tanzen Wissen angeeignet hat, ohne je eine Tanzfläche betreten zu haben, und einige Tatsachen und Regeln über das Tango-Tanzen benennen kann. In diesem Fall ließe sich Satz (11) problemlos in eine Reihe von „wissen, dass“-Sätze umformulieren.5 Es lässt sich festhalten, dass wir uns in der Alltagssprache mit dem Wissensbegriff im Wesentlichen auf vier verschiedene Wissensformen beziehen können:
4 Hier sei angemerkt, dass Bertrand Russell mit seinem so genannten „Wissen durch Bekanntschaft“ („knowledge by acquaintance“) eine dem „Wissen, wie etwas ist“ bzw. „Kennen“ ähnliche Wissensform herausstellt. Russell unterscheidet ein solches Wissen von einem „Wissen durch Beschreibung“ („knowledge by description“). Letzteres Wissen ist laut Russell propositionaler Struktur, während Wissen durch Bekanntschaft auf einem bestimmten perzeptuellen Verhältnis des Wissenssubjekts zu einer Person oder einem Gegenstand beruht und als unmittelbar, nicht-inferentiell und nicht-propositional aufgefasst wird. Meist wird Wissen durch Bekanntschaft somit als eine besondere Form von nicht-propositionalem Wissen verstanden. Allerdings wird eine vorschnelle Einordnung nicht der Komplexität und Reichhaltigkeit des Russell’schen Begriffs gerecht. So fasst er etwa auch das Bewusstwerden von Universalien, das er als „Begreifen“ bezeichnet, unter den Begriff des Wissens durch Bekanntschaft (vgl. Russell 1936, S. 72–92; Newen & von Savigny 1996, S. 52ff.). 5 Diese beiden Interpretationsarten von „wissen, wie“-Sätzen werden noch einmal in Abschnitt 1.4.2.2. aufgegriffen und ausführlich diskutiert.
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Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen
(1) auf propositionales Wissen: das Wissen über bestimmte Fakten oder Tatbestände, (2) auf phänomenales Wissen: das Wissen, wie es ist, etwas Bestimmtes zu tun, wahrzunehmen oder zu erleben, (3) auf das Kennen von Personen, Orten oder Gegenständen, und (4) auf praktisches Wissen: auf das Wissen, wie etwas zu tun ist. Im Zentrum dieser Arbeit stehen praktische Wissensformen. Das Ziel dieses Kapitels ist es, die aktuelle Debatte um solche Wissensformen zu analysieren und aus ihr wichtige Schlüsse für eine Analyse praktischen Wissens zu ziehen, die ich im dritten Kapitel vorstellen werde. Die jeweiligen Kontroversen dienen somit als Ausgangspunkt für einen neuen theoretischen Zugang, der einige Probleme, die sich in der aktuellen Debatte abzeichnen, aufzulösen versucht. Phänomenales Wissen und Kennen werden hierbei ausgeblendet – nicht deshalb, weil es sich hierbei um keine interessanten Wissensformen handelt, sondern weil ihre Berücksichtigung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde und für das Argumentationsziel nicht relevant ist. In der aktuellen Debatte über praktisches Wissen steht die Frage im Mittelpunkt, ob dieses eine eigenständige Wissensform darstellt oder auf propositionales Wissen reduziert werden kann. Bisher habe ich propositionales Wissen als ein Tatsachenwissen aufgefasst, das durch einen „wissen, dass“-Satz ausgedrückt wird. Doch dies ist nur eine sehr grobe Charakterisierung. Noch dazu gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie propositionales Wissen genauer bestimmt wird und was es heißt, einem Subjekt ein solches Wissen zuzuschreiben. Das macht die Diskussion um praktisches Wissen so komplex: Es gibt keinen einheitlichen Bezugspunkt, auf den dieses Wissen bezogen und mit dem es kontrastiert wird.
1.2 Die Gegenüberstellung von praktischem und propositionalem Wissen 1.2.1 Die Reichweite propositionalen Wissens: Einige Kontroversen Fragt man nach der Natur praktischer Wissensformen, bietet es sich zunächst an, diese mit theoretischem Wissen zu kontrastieren. Propositionales Wissen wird in der Tat oft als ein theoretisches Wissen aufgefasst. Allerdings ist diese Gleichsetzung nicht unproblematisch, da sie einen wichtige Punkt unbestimmt belässt: Das Begriffspaar Theorie/Praxis kann einerseits auf den Inhalt, andererseits auf die Struktur von Wissen bezogen werden. Im oben genannten Beispiel würde
Die Gegenüberstellung von praktischem und propositionalem Wissen
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man Doris, die ein Buch über das Tango-Tanzen gelesen hat, ein Wissen zuschreiben, das sich auf einen praktischen Gegenstand bezieht: Sie kann wahre Aussagen über die Regeln des Tango-Tanzens benennen, und Tanzen ist eine bestimmte Praxis. Dieses Wissen könnte man mit Doris’ Wissen, dass Langgöns ein hessisches Dorf oder dass 7 eine Primzahl ist, kontrastieren. Doch hierdurch wäre keine besonders interessante Gegenüberstellung von Wissensformen gewonnen. Denn das Wissen unterscheidet sich nur durch seinen Inhalt, nicht aber strukturell. In beiden Fällen kann Doris wahre Aussagen treffen, auch wenn diese in dem einen Fall etwas mit Praxis zu tun haben, in dem anderen Fall aber nicht. Daher wird, wie bereits erwähnt, Doris’ angelesenes Tango-Wissen gewöhnlich als propositionales Wissen aufgefasst. Man könnte auch behaupten, sie habe ein propositionales, theoretisches Wissen über eine praktische Fertigkeit. Wie kann aber nun eine strukturelle Unterscheidung von Wissensformen getroffen werden? Eine Möglichkeit wäre zu behaupten, dass praktisches Wissen genau das Wissen ist, über das Doris keine wahren Aussagen treffen kann, weil ihr schlicht die Worte fehlen und sie ihr Wissen nicht explizieren, sondern – bleiben wir bei dem Fall des Tango-Tanzens – nur auf dem Parkett vorführen kann. Dieses praktische Wissen würde so als Gegensatz zu Doris’ Wissen aufgefasst, das sich in ihren wahren Aussagen über bestimmte Dinge manifestiert. Doch auch diese Gegenüberstellung bleibt unterbestimmt. Denn allein die Tatsache, dass Doris keine wahren Aussagen über ihr Tango-Tanzen treffen kann, scheint noch nicht auszureichen, um einen wesentlichen strukturellen Unterschied des praktischen Wissens zu propositionalem Wissen zu konstatieren. Vielmehr geht man in der philosophischen Debatte davon aus, dass sich ein nicht-propositionales Wissen prinzipiell nicht explizieren lässt, da es die wesentlichen Strukturmerkmale von propositionalem Wissen nicht teilt. Propositionales Wissen wird als epistemische Relation aufgefasst, die eine bestimmte propositionale Einstellung (eine Überzeugung) eines Wissenssubjekts mit einer Proposition in Verbindung setzt. Ein solches Wissen ist folglich immer das Wissen über etwas, wobei der Gegenstand des Wissens völlig unterschiedliche Bereiche – Tatsachen über die Welt, Ereignisse oder Regeln bestimmter Handlungsweisen – umfassen kann. Hierbei wird angenommen, dass ein solches Wissen einen hinreichend objektivierbaren und spezifizierbaren Gehalt hat, der im Deutschen in der Regel durch einen „dass“-Satz wiedergegeben werden kann. Ein grundlegendes Merkmal des propositionalen Wissens ist somit der Umstand, dass es sich rezeptiv gegenüber seinen jeweiligen Wissensgegenständen verhält. Darüber hinaus geht man stets von einer Irrtumsmöglichkeit propositionalen Wissens aus: Die Aussagen über die Welt, die durch dieses Wissen ausgedrückt werden, können wahr oder falsch sein. Propositionen werden als Wahrheitsträger aufgefasst, und das entsprechende Wissen ist auf ein
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Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen
Bivalenzprinzip bezogen.6 Die entscheidende Frage im Bezug auf Wissensformen ist: Gibt es neben einem solchen propositional strukturierten Wissen auch andere Formen von Wissen, beispielsweise praktische, und welche Merkmale kommen diesen zu? In der philosophischen Diskussion ist man sich oft uneinig darüber, welche Argumente für die Behauptung, dass es sich bei praktischem Wissen um eine nicht-propositionale Wissensform handelt, schlagkräftig sind. Diesen Umstand werde ich in den nächsten Abschnitten detaillierter aufzeigen. An dieser Stelle soll es ausreichen, auf einen wichtigen Punkt hinzuweisen: Wie wir gesehen haben, wird propositionales Wissen in der Regel durch eine bestimmte semantische Struktur charakterisiert. Doch vor dem Hintergrund dieser Bestimmung bleiben verschiedene Antworten auf die Frage möglich, was es heißt, jemandem propositionales Wissen zuzuschreiben. Einerseits könnte man fordern, dass die Wissenssubjekte den Inhalt ihres Wissens prinzipiell sprachlich äußern oder zumindest begrifflich repräsentieren müssen. Man könnte aber auch behaupten, dass propositionales Wissen durch eine bestimmte Verhaltensweise zum Ausdruck gebracht werden kann, ohne dass dabei bestimmte sprachliche oder begriffliche Fähigkeiten erforderlich sind. Schreibt man mir etwa das Wissen zu, dass eine Treppe zu meinem Büro führt, weil ich jeden Tag den Weg zu meiner Arbeitsstelle finde, so könnte man behaupten, dass für die Zuschreibung dieses Wissens meine erfolgreiche praktische Handlung ausreicht. In diesem Fall wird nicht zwangsläufig gefordert, dass ich mein Wissen mit einem wahren Aussagensatz belegen oder zumindest über den Begriff einer Treppe verfügen muss. Wählt man eine solche Auffassung im Bezug auf die Zuschreibung von propositionalem Wissen, ist es fraglich, wie nicht-propositionale Wissensformen überhaupt identifiziert werden können. Auf dieses Problem werde ich bei der Diskussion der aktuellen Kontroversen um praktisches Wissen noch einmal genauer eingehen. In jedem Fall ist es für die weitere Betrachtung wichtig, sich die unterschiedlichen Auffassungen über propositionales Wissen immer wieder ins Gedächtnis zu rufen: Es gibt einen „engen“ Begriff, der nur sprachlich äußerbares Wissen als propositionales Wissen klassifiziert und einen „weiten“ Begriff, demzufolge propositionales Wissen durch eine bestimmte Struktur beschrieben wird, die auch ohne sprachliche Äußerungen bestehen kann. Viele Unstimmigkeiten im Hinblick auf praktische Wissensformen lassen sich, wie wir sehen werden, nur vor diesem Hintergrund erklären.
6 Es gibt unterschiedliche Auffassungen über die Natur von Propositionen. Insbesondere ihr ontologischer Status wird kontrovers diskutiert (vgl. hierzu Frege 1918, sowie Künne 2003, S. 249ff.). Diese Debatte ist für den weiteren Verlauf der Arbeit aber nicht wichtig.
Die Gegenüberstellung von praktischem und propositionalem Wissen
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1.2.2 Das Primat propositionalen Wissens in der Erkenntnistheorie In den meisten Lehrbüchern und Einführungswerken in die Erkenntnistheorie wird zu Beginn propositionales Wissen mit anderen Wissensformen kontrastiert und als primärer Gegenstand herausgestellt, auf den alle erkenntnistheoretischen Fragestellungen hin ausgerichtet sind. Die anderen Wissensformen – phänomenales Wissen, Kennen und praktisches Wissen – treten hingegen nur als Randerscheinungen auf und werden oftmals auf andere Bereiche der Philosophie, etwa auf die praktische Philosophie oder die Philosophie des Geistes verwiesen. Sie werden meist nicht als genuine Formen der Erkenntnis aufgefasst, sondern als Phänomene, die zwar in der Alltagssprache als „Wissen“ bezeichnet werden, aber kein „echtes“ Wissen, sondern nicht-kognitive Qualitäten beschreiben.7 Gegenüber dem Vorwurf, die Erkenntnistheorie beschränke sich ungerechtfertigter Weise auf propositionales Wissen und lasse mit praktischem Wissen eine wichtige Wissensform außer Acht, werden verschiedene Strategien zur Verteidigung gewählt. Sie können durch zwei Kernargumente unterschieden werden: Argument der Differenz: Praktisches Wissen ist essentiell verschieden von propositionalem Wissen. In der Erkenntnistheorie geht es ausschließlich um propositionales Wissen. Daher muss praktisches Wissen nicht berücksichtigt werden. Argument der Reduktion: Praktisches Wissen ist auf propositionales Wissen reduzierbar. Es muss daher nicht als eigenständige Wissensform betrachtet werden.
Auf das erste Argument stützt sich beispielsweise Franz von Kutschera, wenn er folgendes schreibt: Es gibt ein praktisches und ein theoretisches Verstehen. Im praktischen Sinn verstehen wir unser Handwerk, man versteht Deutsch, versteht sich auf etwas. Praktisches Verstehen besteht in einer Kompetenz, und da wir uns hier nur für Formen des Verstehens interessieren, die ein Erkennen darstellen, wollen wir darauf nicht eingehen.8
7 Ich möchte an dieser Stelle allerdings darauf verweisen, dass Andrea Kern die Bedeutung des Begriffs vernüntiger Erkenntnisfähigkeiten herausstellt (vgl. Kern 2006). Sie wählt für ihre Studie allerdings einen Ausgangspunkt, der von demjenigen in dieser Arbeit sehr verschieden ist. Daher werde ich ihre Position nicht in meine Überlegungen mit einbeziehen. 8 von Kutschera 1981, S. 80; Hervorhebungen im Original.
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Auch Peter Baumann verfolgt diese Argumentationslinie. Hierzu grenzt er zunächst Wissen-wie und Wissen-dass als grundlegend verschiedene Wissensformen voneinander ab: Man könnte hier einwenden, dass damit [mit der Beschränkung auf propositionales Wissen; Anm. d. Verf.] eine wichtige Art von Wissen ignoriert wird: das Wissen, wie man etwas tut, also etwas, das man „praktisches Wissen“ nennen kann. […] Albert weiß, wie man Posaune spielt, oder, wie man auch sagt, er weiß die Posaune zu spielen. Dieses Wissen ist nun sicherlich kein propositionales Wissen, dass sich etwas so und so verhält. Es ist ein „Wissen, wie“, kein „Wissen, dass“ (ein „knowing how“, kein „knowing that“). Es besteht in einer Fertigkeit, einem Können und nicht in einem (theoretischen) Wissen. Die Ausdrucksformen dieser beiden Arten des „Wissens“ sind dementsprechend sehr verschieden.9
Baumann betont, dass durchaus enge Verbindungen zwischen den beiden Wissensformen bestehen, da wir über sie normalerweise nicht unabhängig verfügen, sondern meist beide gleichzeitig erwerben und anwenden. Doch diese Verbindungen deuten nach Baumann keinesfalls darauf hin, dass die eine Wissensform auf die andere reduziert werden kann: Praktisches Wissen sei nicht deswegen aus der Erkenntnistheorie zu verbannen, weil es auf propositionales Wissen reduzierbar sei, sondern weil es wesensmäßig etwas völlig anderes sei und somit keinen Gegenstand der Erkenntnistheorie darstelle, der eine genauere Betrachtung verdiene: Aber das bedeutet nicht, dass das eine auf das andere reduzierbar wäre […]. Sie sind wesentlich verschieden. Und genau deshalb trifft auch der obige Vorwurf nicht, dass die Erkenntnistheorie mit dem praktischen Wissen eine wichtige Art des Wissens übergeht: In der Erkenntnistheorie geht es eben ausschließlich um das propositionale („theoretische“) Wissen.10
Auf das Argument der Reduktion berufen sich beispielsweise Jason Stanley und Timothy Williamson. Sie argumentieren dafür, dass praktisches Wissen propositional strukturiert ist und somit mit der Fokussierung auf propositionales Wissen keine andere genuine Wissensform unberücksichtigt bleibt.11 Auch Thomas Grundmann sympathisiert mit dieser Argumentationslinie, wenn er schreibt:
9 Baumann 2006, S. 30; Hervorhebungen im Original. 10 Ebd., S. 31. 11 Vgl. Stanley & Williamson 2001. Aus welchen Gründen Stanley und Williamson annehmen, dass praktisches Wissen („knowing how“) auf propositionales Wissen reduziert werden kann, wird in Abschnitt 1.4.3 ausführlich dargelegt.
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Es deutet sich hier also an, dass alle Formen des Wissens auf propositionales Wissen-dass reduzierbar sein könnten. Damit hätten wir eine gute Erklärung für die exklusive Stellung dieser Form des Wissens in der Erkenntnistheorie.12
Allerdings lässt Grundmann auch der Möglichkeit Raum, dass eine solche Reduktion misslingt. In diesem Fall gelte aber wiederum das Argument der Differenz, da es gute Gründe gebe, propositionalem Wissen aufgrund bestimmter Vorzüge, die praktischem Wissen nicht zukommen, eine privilegierte Stellung einzuräumen. Hierzu zählen gemäß Grundmann zwei Merkmale: Erstens nehme propositionales Wissen eine zentrale Funktion für die Kommunikation ein. Propositionales Wissen sei verbalisierbar und könne deswegen einfach vermittelt werden, weshalb es eine wesentliche Rolle für Lern- und Lehrprozesse einnehme. Für praktisches Wissen – falls es denn eine eigenständige irreduzierbare Wissensform darstellt – gelte dies nicht. Zweitens, so Grundmann, sei nur propositionales Wissen relevant, wenn man Wahrheit als das zentrale erkenntnistheoretische Ziel setzt; Propositionen als Träger von Wahrheitswerten seien für praktische Kompetenzen aber nicht gegeben.13 Die Argumente, die Grundmann hier anführt, stoßen in der analytischen Erkenntnistheorie weitestgehend auf Konsens. Allerdings ist eine ausschließliche Fokussierung auf propositionales Wissen aus philosophiegeschichtlicher Perspektive keineswegs kontinuierlich feststellbar. Der Wissensbegriff bei den antiken Griechen – epistêmê – weist einen deutlich weiteren Skopus auf als in der zeitgenössischen Erkenntnistheorie. Neben sprachlich äußerbarem Wissen werden auch praktische Fähigkeiten und Fertigkeiten unter diesem Begriff zusammengefasst.14 Auch etymologisch ist eine praktische Dimension des antiken Wissensbegriffs unverkennbar. So wird das Verb epistasthai, in dem der Begriff epistêmê wurzelt, treffend mit „wissen, wie man etwas tut“ übersetzt. Diese enge Verbindung von Wissen und praktischen Fähigkeiten findet bei den antiken Griechen nicht nur in der vorwiegend dispositionalen Auffassung von Wissen und der engen Anbindung jeglichen Wissens an praktische Zwecke und Handlungserfolge ihren Ausdruck, sondern auch in der Fokussierung praktischer Handwerkstätigkeiten, die insbesondere bei Platon und Aristoteles im-
12 Grundmann 2008, S. 85f. 13 Vgl. Grundmann 2008, S. 84ff. An dieser Stelle zeigt sich, dass die Frage nach epistemischen Zielen und Werten, die ich in Abschnitt 2.4.3 aufgreifen werde, eine zentrale Rolle in der erkenntnistheoretischen Diskussion um praktische Wissensformen spielt. 14 Vgl. Rapp 2008, S. 147.
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mer wieder als Beispiele für Erkenntnis herangezogen werden. Epistêmê wird häufig in einer engen Ausrichtung an den Begriff der technê diskutiert.15 Auch wenn Platon mit seiner Ideenlehre durchaus theoretische Wissensformen in den Mittelpunkt stellt, ist für ihn das Wissen, welches nicht in Aussagen gefasst werden kann, stets relevant. Die dialogische Form seiner Werke sowie seine explizite Schriftkritik belegen dies.16 Wissen wird von Platon nicht auf wahre Sätze reduziert, sondern stets im Bezug auf das Wissenssubjekt diskutiert, indem die Fragen aufgegriffen werden, welche Bedeutung das Wissen für den Wissenden hat und an welche praktischen Belange es gebunden ist. Die oftmals angeführte Behauptung, das Ideal des Wissens der griechischen Philosophie sei abstraktes, theoretisches, mit jeglicher Technologie unverbundenes Wissen, kann, zumindest für den frühen Platon, nicht bestätigt werden.17 Es scheint hier vielmehr das Gegenteil zu gelten: Eines der wichtigsten begrifflichen Paradigmen ist das eines Handwerkers, der Produkte erzeugt, und als Vorbild für perfektes, ideales Wissen fungieren die technai, das spezielle Können etablierter handwerklicher und wissenschaftlicher Disziplinen. Auch Aristoteles führt in seiner „Nikomachischen Ethik“ bei der Unterscheidung der zum moralischen Handeln gehörenden Wissensformen die Kunstfertigkeit (technê) neben Wissen (epistêmê), Klugheit (phronêsis), Weisheit (sophia) und Geist (nous) als Verstandestugend auf.18 Es bleibt zu beachten, dass sich die in den aktuellen Debatten fokussierte Frage, ob praktische Wissensformen auf propositionale reduziert werden können, Platon und Aristoteles nicht explizit stellte. Der Begriff des propositionalen Wissens und die ihm zugeschriebene semantische Struktur war beiden Autoren fremd, und so wird Wissen nicht im Bezug auf die Frage diskutiert, ob es von dieser Struktur erfasst werden kann oder nicht.19 An dieser Stelle ist es mir lediglich wichtig zu zeigen, dass in der Antike wesentlich mehr Phänomene, und darunter eine Reihe praktischer Fertigkeiten, unter dem Begriff von Wissen und Erkenntnis diskutiert werden. Dieser weite Fokus des griechischen Wissensbegriffs scheint in der zeitgenössischen Erkenntnistheorie verloren gegangen zu sein.20
15 Vgl. Parry 2008. 16 Vgl. Wieland 1982. 17 Vgl. Parry 2008. 18 Vgl. Aristoteles 2001, 1139b15–17. 19 Meine Charakterisierung der Ansätze von Platon und Aristoteles muss hier aus Platzgründen leider sehr oberflächlich bleiben. Für eine detaillierte Analyse der platonischen Auffassungen siehe beispielsweise Wieland 1982, insb. S. 224ff., sowie Hintikka 1974, insb. S. 31ff. 20 Um den Rahmen dieser Arbeit nicht zu sprengen, werde ich das Problem von Wissensformen nur im Bezug auf die analytische Erkenntnistheorie diskutieren. Auf andere Zugänge,
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Doch auch in jüngerer Zeit kann zumindest eine Anbindung des Wissensbegriffs an praktisches Handeln von Seiten einiger Erkenntnistheoretiker festgestellt werden: Auch wenn Jason Stanley und Timothy Williamson sich in einem gemeinsamen Aufsatz für das Argument der Reduktion stark machen, indem sie dafür argumentieren, dass es sich bei praktischem Wissen (knowing how) um eine bestimmte Form propositionalen Wissens handelt, verneinen sie keineswegs, dass Praxis und Handeln für Wissen von großer Bedeutung sind. Beide entwickeln Wissenstheorien, die den Bezug propositionalen Wissens zu praktischen Belangen in den Vordergrund stellen: Stanley fasst Wissen als „interessenrelative Beziehung“ („interest-relative relation“) auf.21 Dieser Konzeption liegt die Vorstellung zugrunde, dass so genannte „praktische Fakten“ („practical facts“) – Fakten, die sich auf Kosten und Nutzen von Handlungen beziehen, die dem Subjekt offen stehen – eine Schlüsselrolle für Erkenntnisprozesse einnehmen. Da Wissen von ebendiesen Fakten wesentlich abhängt, besteht nach Stanley eine konzeptionelle Verbindung zwischen Wissen und Handeln; zudem liege der Wert von Wissen darin begründet, dass es eine führende Rolle bei der Ausführung und Wahl praktischer Tätigkeiten spiele. Darüber hinaus plädiert Stanley in einem gemeinsamen Aufsatz mit John Hawthorne für ein so genanntes „Wissen-Handlung-Prinzip“ („Knowledge-Action-Principle“), das die intuitive Idee einfangen soll, dass Wissen eine wesentliche Grundlage für Handlungen darstellt. Als Handlungsgrund kann nach diesem Prinzip nur eine Proposition gelten, über die wir Wissen haben: The Knowledge-Action Principle: If you know that p, then it should not be a problem to act as if p.22
Auch für Williamson sind Wissen und Handeln wesentlich aufeinander bezogen. Williamson bestimmt Wissen als mentalen Zustand, der für die Ausrichtung unserer Handlungen von großer Bedeutung ist. Er richtet sich gegen die Auf-
etwa kontruktivistische oder kulturalistische, werde ich nicht eingehen. Für diese Ansätze kann in der Regel nicht der von mir vorgebrachte Einwand erhoben werden. Für einen alternativen Zugang zu Wissen und Erkenntnis siehe beispielsweise Janich 2000. An dieser Stelle sei angemerkt, dass ich auch den Amerikanischen Pragmatismus, der die Zusammenhänge zwischen Wissen und Handeln thematisiert, aus Platzgründen nicht berücksichtigen kann (vgl. hierzu Bieri 1987, S. 56ff.). 21 Vgl. Stanley 2005a sowie 2007, S. 169. 22 Hawthorne & Stanley 2008, S. 574. Dieses Prinzip wird von den beiden Autoren noch verfeinert, indem einige begriffliche Spezifizierungen vorgenommen werden. An dieser Stelle reicht es aber aus, die Grundidee aufzuzeigen.
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fassung, dass „Überzeugung“ ein grundlegenderer Begriff ist als „Wissen“. Wissen und Handlung stellen für ihn die zentralen Verbindungen zwischen Geist und Welt dar, wie schon mit den ersten Worten seiner im Jahr 2000 erschienenen Monographie „Knowledge and Its Limits“ bekundet wird: Knowledge and action are the central relations between mind and world. In action, world is adapted to mind. In knowledge, mind is adapted to world. When world is maladapted to mind, there is a residue of desire. When mind is maladapted to world, there is a residue of belief. Desire aspires to action; belief aspires to knowledge. The point of desire is action; the point of belief is knowledge.23
Die beiden Wissenskonzeptionen sollen hier nicht ausführlicher diskutiert werden. Auf die Position Williamsons werde ich im zweiten Kapitel noch einmal zurückkommen. An dieser Stelle soll nur Folgendes festgehalten werden: In der analytischen Erkenntnistheorie steht fast ausschließlich propositionales Wissen im Fokus der Aufmerksamkeit. Allerdings lässt sich zumindest ein Handlungsbzw. Praxisbezug zeitgenössischer Erkenntnistheorien feststellen. Hierbei wird propositionales Wissen durch eine enge Anbindung an Handlungen und praktische Zwecke charakterisiert. Praktische Wissensformen werden in der Regel aber nicht als eigenständige Formen der Erkenntnis aufgefasst.
1.3 Zugänge zu praktischem Wissen: Gilbert Ryle und Michael Polanyi Gilbert Ryle und Michael Polanyi entwickelten fast zur gleichen Zeit Konzepte, welche die praktische Dimension von Wissen in den Mittelpunkt stellen. Ryles Plädoyer für eine Unterscheidung von knowing how und knowing that ist der wichtigste Bezugspunkt für die aktuelle philosophische Debatte um praktisches Wissen.24 Polanyis Konzept des impliziten Wissens wird als terminus technicus zwar in zahlreichen Fachgebieten verwendet, etwa der Informatik, der Psychologie, der Linguistik und im Wissensmanagement. Doch der Gebrauch des Begriffs
23 Williamson 2000, S. 1. 24 Auf eine Übersetzung von Ryles Begriffspaar „knowing how“/„knowing that“ soll hier verzichtet werden, changiert diese Übersetzung doch zwangsläufig zwischen „wissen, wie“/ „wissen, dass“ und „können“/„wissen“ und müsste daher an Präzision einbüßen. Zu der Schwierigkeit, die mit einer treffenden Übersetzung verbunden ist, betrachte auch die Fußnote in der Übersetzung von Ryles „The Concept of Mind“ von Kurt Baier (vgl. Ryle 1969, S. 26). Es wird sich zeigen, dass das Problem der Übersetzung einen nicht unerheblichen Bestandteil der aktuellen Debatte ausmacht.
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hat sich weitestgehend von dem Entstehungskontext in Polanyis Werken und seiner ursprünglichen Bedeutung gelöst. Ryles und Polanyis Auffassungen sind für die von mir vorgestellte Analyse praktischer Wissensformen von großer Bedeutung, und ich werde immer wieder auf einige ihrer Argumente und Begrifflichkeiten zurückgreifen. Beide Theorien weisen zahlreiche Parallelen auf, obwohl sie aus völlig unterschiedlichen Kontexten heraus entwickelt werden: Während Ryle seine Konzeption im Rahmen einer Kritik an der vom cartesianischen Dualismus geprägten Philosophie des Geistes entwirft, argumentiert Polanyi gegen eine „objektivistische“ Wissenschaftsphilosophie, die persönliche und implizite Momente des Wissens unberücksichtigt belässt. In den nächsten beiden Abschnitten werde ich die Grundlinien beider Positionen aufzeigen und ihre Zusammenhänge wie Unterschiede diskutieren.
1.3.1 Ryles „Knowing How“ und „Knowing That“ Gilbert Ryle greift als erster praktisches Wissen als ein zentrales Thema der analytischen Philosophie des 20. Jahrhunderts auf. In seinem 1945 vor der Aristotelian Society gehaltenen Vortrag „Knowing How and Knowing That“ sowie im zweiten Kapitel seiner 1949 veröffentlichten Monographie „The Concept of Mind“ (dt. „Der Begriff des Geistes“ 1969), das denselben Titel trägt, entwickelt Ryle seine Position, der in jüngster Zeit sehr viel Aufmerksamkeit zukommt. Ich werde Ryles Theorie in zwei Schritten diskutieren: Im ersten Schritt wird seine negative These (die Zurückweisung einer Reduktion von knowing how auf knowing that), im zweiten Schritt seine positive These (die dispositionale Analyse von knowing how) untersucht.
1.3.1.1 Die Zurückweisung der „intellektualistischen Legende“ Ryle argumentiert gegen eine bestimmte Vorstellung von knowing how, die er als „intellektualistische Legende“25 bezeichnet und der er eine Verwandtschaft zum – von ihm spöttisch als „Dogma vom Gespenst in der Maschine“ bezeichneten – cartesianischen Dualismus nachsagt.26 Diese Legende zeichnet sich gemäß Ryle durch eine bestimmte Vorstellung von intelligentem Verhalten aus, die seiner Auffassung nach auf einem völlig falschen Bild vom menschlichen Geist sowie von Intelligenz und Kognition fußt: Intelligente Handlungen werden als Zusammen-
25 Vgl. Ryle 1949, S. 29. 26 Vgl. Ebd., S. 32.
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spiel von zwei disjunkten Tätigkeiten aufgefasst, die einer chronologischen Ordnung gehorchen. Zunächst erwägt das betreffende Wissenssubjekt bestimmte „regulative Propositionen“ – hierunter fallen gemäß Ryle handlungsanweisende Propositionen, welche Imperative, Maximen oder Vorschriften bezüglich einer Handlung umfassen – , die es in einem zweiten Schritt in die Praxis umsetzt.27 Diese, in Ryles Augen völlig unzureichende Auffassung intelligenten Verhaltens wird durch die Vorstellung motiviert, dass eine Person mit ihren Gedanken „irgendwie bei der Sache ist“, wenn sie intelligente Tätigkeiten ausführt, dass intelligente Tätigkeiten also an ein gewisses Nachdenken oder Reflektieren gebunden sind. Zur Zurückweisung der intellektualistischen Legende führt Ryle einige Argumente an, die durch drei Kernthesen systematisiert werden können: (1) Nicht für alle Tätigkeiten, die intelligent ausgeführt werden, können entsprechende regulative Propositionen angegeben werden. Diese These spiegelt die Intuition wider, dass es einige intelligente Tätigkeiten gibt, für die Handlungsanweisungen nicht formuliert werden und eine solche Formulierung als äußerst schwierig oder gar unmöglich eingestuft wird. Aufgrund der hohen Komplexität und Kontextsensitivität einiger Fähigkeiten – Ryle nennt als Beispiel die Fähigkeit, gute Witze zu erzählen – ist es fragwürdig, ob allgemeine Regeln zu ihrer Ausführung in Worte gefasst werden können. Sie liegen zumindest nicht auf der Hand. (2) Zwischen den gewussten Regeln und Kriterien einer Handlung und der intelligenten Fähigkeit liegt eine explanatorische Lücke, die innerhalb der intellektualistischen Legende nicht überbrückt wird. Diese These fußt auf der alltäglichen Beobachtung, dass das Lernen bzw. Wissen von bestimmten allgemeinen Regeln über eine praktische Fähigkeit nicht zwangsläufig zur Folge hat, dass die entsprechenden Wissenssubjekte die Tätigkeit auch wirklich in der Praxis ausführen können. Andererseits lässt sich oft feststellen, dass intelligent Handelnde keine allgemeinen Prinzipien oder Anweisungen angeben können, nach denen sie ihr Handeln ausrichten. Diese „Wissen-Handlungs-Lücke“28 ist darauf zurückzuführen, dass die regulativen Propositionen, die das Subjekt gemäß der intellektualistischen Legende erwägt,
27 Vgl. Ebd., S. 31. 28 Diesen Begriff habe ich in Anlehnung an die Bezeichnung „Knowing-Doing Gap“ gewählt, die in den Wirtschaftswissenschaften zur Beschreibung dieses Phänomens verwendet wird (vgl. den Titel von Pfeffer & Sutton 2000).
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notwendig intersubjektiv und allgemein sind, während die Anwendung von Handlungsregeln kontext- und subjektspezifisch ist. Die Transformation von einem allgemeinen Prinzip zu einer Handlungsanweisung, welche die speziellen Merkmale von Subjekt und Kontext berücksichtigt, wird innerhalb der intellektualistischen Legende aber nicht erklärt. (3) Die Beschreibung, die die intellektualistische Legende für intelligentes Verhalten liefert, führt in einen infiniten Regress. Diese These stuft Ryle als stärkstes Argument gegen die Legende ein; sie kann folgendermaßen rekonstruiert werden. Ryle schreibt der intellektualistischen Legende folgende Behauptungen zu:29 (i) Wenn ein Subjekt S die Tätigkeit φ ausführt, dann weiß S, wie man φt. (ii) Wenn ein Subjekt S weiß, wie man φt, dann weiß S, dass p (p bezieht sich hierbei auf bestimmte regulative Propositionen bezüglich der Tätigkeit φ). Allerdings ergibt sich nach Ryle für die intellektualistische Legende ein unvermeintliches Problem, wenn man das Wissen, dass p genauer betrachtet. Denn für dieses soll folgendes gelten: (iii) Wenn ein Subjekt S sein Wissen, dass p, anwendet, dann denkt sich S die Proposition p. Dieser Denkvorgang ist aber wiederum eine Tätigkeit – sie sei ψ genannt – , die mehr oder weniger intelligent ausgeführt werden kann. Somit ergibt sich, dass ψ als Variable in Prämisse (i) eingesetzt werden kann, weshalb Ryle einen infiniten Regress für die intellektualistische Legende diagnostiziert, der eine absurde Behauptung zur Folge hat: diejenige, dass niemals eine intelligente Handlung ausgeführt wurde. Aufgrund der Tatsache, dass die Prämissen der intellektualistischen Legende in diesen Regress münden, erweist sie sich laut Ryle als falsch. Auch wenn es auf den ersten Blick sehr überzeugend aussieht, können gegen das aufgezeigte Regress-Argument Einwände erhoben werden. Es ist etwa fraglich, ob der Intellektualist die von Ryle konstatierte Behauptung (iii) zugestehen müsste. Stanley und Williamson versuchen, Ryles Regress-Argument
29 Vgl. hierzu Stanley & Williamson 2001, S. 413.
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zurückzuweisen.30 In einem ersten Schritt argumentieren sie dafür, dass Prämisse (i) ausschließlich für intentionale Handlungen gilt; im zweiten Schritt sprechen sie sich dafür aus, dass Behauptung (iii) nur dann zu akzeptieren ist, wenn das Nachdenken über eine Proposition nicht-intentional aufgefasst wird. Prämisse (i) soll deswegen nur für intentionale Handlungen gelten, da nicht-intentionale Tätigkeiten wie bestimmte Reflexe, Verdauungsabläufe oder andere Vorgänge, die sich unserer willentlichen Kontrolle entziehen, mit keinerlei knowing how verbunden sind. Für die Betrachtung der Prämisse (iii) berufen sich Stanley und Williamson im Wesentlichen auf Carl Ginet: Im Rahmen der Entwicklung einer intellektualistischen Position wendet Ginet gegen Ryle ein, dieser habe nur gezeigt, dass die Anwendung bzw. Manifestation von knowing how keinen distinkten mentalen Prozess des Nachdenkens oder Formulierens von Propositionen erfordert.31 Allerdings stütze sich Ryle durch die Behauptung (iii) auf ein falsches Verständnis von knowing that, denn die Anwendung propositionalen Wissens müsse keinesfalls von einem Nachdenken über die entsprechende Proposition begleitet werden. Das Wissen etwa, dass dort überhaupt eine Tür ist, könne durch eine praktische Ausführung – das Öffnen der Tür – manifestiert werden, ohne dass hierzu eine Formulierung von oder ein bewusstes Nachdenken über die entsprechenden Propositionen vorliegt. Aus diesen beiden Überlegungen ergibt sich nach Stanley und Williamson, dass die Menge aller φ, die auf Prämisse (i) angewandt werden können, mit der Menge aller intentionalen Handlungen gleichzusetzen ist; die Behauptung (iii) soll aber nur dann gelten, wenn ψ nicht-intentional aufgefasst wird. Somit ist ψ keine mögliche Variable für Prämisse (i). Aus diesem Grund verliere Ryles Regress-Argument den Boden und könne zurückgewiesen werden. Während die Einschränkung von Prämisse (i) auf intentionale Tätigkeiten höchst plausibel erscheint, ist die Interpretation, die Stanley und Williamson bzw. Ginet für die Anwendung propositionalen Wissens wählen, Gegenstand einer laufenden Debatte und steht einigen Alternativinterpretationen gegenüber.32 Hier zeigt sich das Problem, das ich in Abschnitt 1.2.1 aufgezeigt habe: Die Frage, wie propositionales Wissen bzw. Manifestationen solchen Wissens aufzufassen sind, wird von den Autoren jeweils unterschiedlich beantwortet. Ginet sowie Stanley und Williamson gehen von einem sehr weiten Begriff des propositionalen Wissens aus, der keineswegs unumstritten ist.
30 Vgl. Ebd., S. 412ff. 31 Vgl. Ginet 1975, S. 7ff. 32 Vgl. Noë 2005, S. 281.
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Ich möchte die Debatte um Ryles Regress-Argument nicht weiter verfolgen, da dies für die wesentlichen Schlüsse, die aus Ryles Argumenten gegen die intellektualistische Legende gezogen werden können, nicht von Bedeutung ist. Ob Stanley und Williamson nun Recht behalten oder nicht: Das Modell von intelligenten Handlungen, das die intellektualistische Legende vorgibt, kann als gescheitert betrachtet werden. Die beiden zuvor aufgezeigten Argumente Ryles stützen sich auf sehr überzeugende Intuitionen, die diesem Modell seine Überzeugungskraft entziehen. Die Annahme von zwei distinkten Prozessen, die nach einer chronologischen Ordnung ablaufen, erweist sich als höchst unplausibel. Die Aufteilung intelligenter Handlungen in einen bestimmten Denkvorgang, in dem wir über Regeln oder Handlungsmaximen nachdenken, und die praktische Anwendung dieser Regeln in der Praxis stellt ein Muster dar, das nur mit einigen wenigen Situationen korrespondiert: Eine solche Ordnung kann etwa dann konstatiert werden, wenn wir nach langem Nachdenken einen Schachzug ausführen oder wenn wir uns bestimmte Merksätze, wie etwa beim Stricken, vorsagen, bevor wir die Nadeln bewegen. Für die meisten anderen intelligenten Handlungen gilt ein solcher zweigliedriger Ablauf nicht. Und selbst für diejenigen Tätigkeiten, die der chronologischen Ordnung gehorchen, liefert die intellektualistische Legende kein überzeugendes Erklärungsmodell, da sie den Übergang von der einen zur anderen Tätigkeit, d.h. von der Theorie zur Praxis, im Dunkeln belässt. Dennoch ist anzumerken, dass Ryle mit seinen Argumenten zum einen nur die intellektualistische Legende, nicht aber jede Form des Intellektualismus zurückweist, und dass es sich zum anderen bei der Legende ohnehin um eine wenig überzeugende Position handelt. Es gibt durchaus ausgefeiltere intellektualistische Ansätze, die einigen Problemen der Legende Rechnung tragen können. Auf solche Ansätze werde ich später zurückkommen.
1.3.1.2 Die dispositionale Analyse von „Knowing How“ Ryle entwickelt zudem einen konstruktiven Explikationsvorschlag für knowing how, den er der intellektualistischen Legende gegenüber stellt. Hierzu argumentiert er für die folgenden beiden Kernthesen: (1) Wenn eine Person knowing how bezüglich einer Tätigkeit φ hat, dann manifestiert sich dieses knowing how in der Tätigkeit φ selbst. Mit dieser These begründet Ryle eine an behavioristische Theorien angelehnte Auffassung von knowing how; er weist die Vorstellung zurück, dass wir uns, falls wir das Verhalten von Personen als „intelligent“ oder „klug“ bewerten, auf
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irgendwelche „okkulten Vorgänge“, auf so genannte „Schattenhandlungen“ beziehen, die sich nicht im sichtbaren öffentlichen Raum abspielen – etwa auf das Nachdenken oder Erwägen von Propositionen oder auf andere mentale Zustände und Prozesse, die sich im Kopf des Handelnden abspielen sollen und sich der Beobachtung entziehen.33 (2) Auch wenn intelligentes Verhalten als regelgeleitet oder -konform aufgefasst werden kann, ist das explizite Wissen über die jeweiligen Regeln keine notwendige oder hinreichende Bedingung für knowing how. Mit dieser These weist Ryle die Vorstellung zurück, dass die Regeln oder Prinzipien, die wir aus der Beobachterperspektive intelligenten Tätigkeiten zuschreiben können, auch wirklich vom entsprechenden Wissenssubjekt gewusst werden. Aus einer beobachteten Regelkonformität folge noch nicht, dass die Handelnden diese Regeln auch kennen und ihre praktischen Tätigkeiten durch sie leiten lassen. Da sich knowing how in der Ausführung von intelligenten Verhaltensweisen manifestiert, ist es gemäß Ryle als Disposition aufzufassen. Er spezifiziert diese Disposition durch die Merkmale „erworben“ und „mehrspurig“.34 Formen von knowing how stellen einerseits erworbene Dispositionen dar, weil sie im Gegensatz zu angeborenen Verhaltensweisen oder Reflexen (beispielsweise Augenblinzeln) durch Training und praktische Erfahrung erlernt werden. Hierbei lässt Ryle auch die Möglichkeit zu, dass wir die entsprechenden Fähigkeiten durch bewusste, explizite Regeln erlernen. Allerdings sagen wir diese Regeln nicht auf oder rufen sie uns ins Gedächtnis, wenn wir intelligent handeln. Praktische Wissensformen sind andererseits (im Gegensatz zu bloßen Angewohnheiten, zu „einspurigen“ Dispositionen) „mehrspurig“, weil sie eine höhere Flexibilität und Kontrollierbarkeit aufweisen und nicht aus Sucht- oder Gewohnheitsgründen ausgeübt werden. Intelligente Fähigkeiten sind nicht auf eine Handlungsweise oder einen Bewegungsablauf festgelegt, sondern lassen eine Vielzahl von unterschiedlichen Manifestationsmöglichkeiten zu. Knowing how ist somit nach Ryle als eigenständige Wissensform aufzufassen. Er geht sogar noch einen Schritt weiter, indem er behauptet, dass diesem Wissen eine logische Priorität gegenüber knowing that zukommt.35 Diese These stützt er durch ein Regress-Argument. Hierzu betrachtet er die folgenden Prämissen:
33 Vgl. Ryle 1949, S. 50. 34 Vgl. Ebd., S. 42ff. 35 Vgl. Ryle 1945/46, S. 4f.
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(1) Ein Subjekt S verfügt dann über propositionales Wissen, dass p, wenn S die Wahrheit der Proposition p selbst aufgedeckt oder abgeleitet hat. (2) Das Aufdecken und Ableiten von wahren Propositionen sind intelligente Tätigkeiten. Aus diesen Prämissen folgert Ryle, dass es ohne knowing how kein knowing that geben kann. Ob diese Behauptung aber als ein „echtes“ Reduktionsargument aufgefasst werden kann – also als These, dass jegliches propositionales Wissen auf praktisches zurückgeführt werden kann – ist fragwürdig. Ryle entwickelt diese These in seinem früheren Aufsatz, greift sie aber in „The Concept of Mind“ nicht mehr auf und scheint hier beide Wissensformen als distinkt aufzufassen. Nimmt man Ryles Regress-Argument als Grundlage für die These der Reduzierbarkeit von knowing that auf knowing how, da niemand ohne letzteres über das erste verfügen könne, so ist diese Argumentation problematisch: Die Anforderungen, die hierbei an propositionales Wissen gestellt werden, sind schlicht zu hoch. Wenn wir in der Alltagssprache einer Person propositionales Wissen zuschreiben, fordern wir nicht immer, dass dieses Wissenssubjekt einen Prozess des Aufdeckens und Ableitens von Wahrheiten durchlaufen hat, damit ihm das entsprechende Wissen zugeschrieben werden kann. Die Kraft des Arguments hängt von der zugrunde liegenden Auffassung von Rechtfertigung ab, die für propositionales Wissen gefordert wird:36 Wenn Rechtfertigung im Sinne des Aufdeckens und Entdeckens von Wahrheiten ein definitorischer Bestandteil propositionalen Wissens ist und vom Wissenssubjekt verlangt wird, dass es Gründe für eine Überzeugung abgeben kann (eine internalistische Auffassung von Rechtfertigung), dann sind in der Tat bestimmte Fähigkeiten des Subjekts erforderlich, damit es über propositionales Wissen verfügt. Doch insbesondere in Fällen perzeptuellen oder nicht-inferentiellen Wissens scheint es sinnvoll, eine externalistische Auffassung von Rechtfertigung zugrunde zu legen, gemäß der Rechtfertigung schlicht als „gerechtfertigt sein“ durch angemessene Informationsquellen bedeutet. Und selbst wenn eine internalistische Rechtfertigungsauffassung zugrunde liegt, ist die These zu stark. Wir können leicht das Zugeständnis machen, dass allgemeine Hintergrundfähigkeiten für das Verfügen von Wissen jeglicher Art notwendig sind. Doch diese Hintergrundfähigkeiten können als Vorbedingungen aufgefasst werden, die ein Subjekt erfüllen muss, um überhaupt fähig zu sein, als Wissenssubjekt zu gelten. Die These hingegen, dass knowing that in dem Sinne auf knowing how reduziert werden
36 Vgl. hierzu die Diskussion über die Rechtfertigungsbedingung und die Gegenüberstellung von externalistischen und internalistischen Positionen in Abschnitt 2.3.
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kann, weil es als letzteres identifiziert wird, kann von dieser Argumentation nicht gestützt werden. Für die Behauptung, dass propositionales Wissen äquivalent zu einem spezifischen praktischen Wissen ist, wird nicht hinreichend argumentiert. An einer solchen Argumentationsweise zeigt sich ein grundsätzliches Problem, das die Frage nach einer möglichen Reduktion einer Wissensform auf eine andere durchzieht: Ohne eine gründliche Spezifierung, was genau unter „Reduktion“ verstanden bzw. für welche Art von Reduktion argumentiert wird, kann die Reichweite der jeweiligen Positionen nur schwerlich eingesehen werden. Die Vielfalt dessen, was unter den Reduktionsbegriff fällt, ist schlicht zu groß. Bei einigen Autoren ist hiermit die schwache These gemeint, dass einer Wissensform lediglich eine gewisse Priorität zukommt, bei anderen Autoren wird eine sehr viel stärkere These darunter verstanden: die tatsächliche Identifikation der einen Wissensform mit der anderen oder die Möglichkeit, die reduzible Wissensform durch die jeweils andere zu definieren.37
1.3.2 Polanyis „Personal Knowledge“ Der Begriff des impliziten Wissens (tacit knowledge), den der ungarisch-britische Chemiker und Philosoph Michael Polanyi in der Mitte des 20. Jahrhunderts entwickelte, findet über Fachgrenzen hinweg eine breite und vielseitige Verwendung. Er dient zumeist als terminus technicus für nichtsprachliche, vor- und unterbewusste Wissensbestände, welche die Grundlage für praktische Fähigkeiten bilden. Wir werden sehen, dass Polanyis Konzept in einen komplexen Argumentationszusammenhang eingebunden ist, der bei der zeitgenössischen Verwendung des Begriffs überwiegend unberücksichtigt bleibt. Das Konzept des impliziten Wissens ist für Polanyi mit weitreichenden Konsequenzen verbunden, die nicht nur die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie, sondern auch moralische und politische Fragen betreffen. Polanyi hat seine Position über Jahre hinweg weiterentwickelt und modifiziert – die wichtigsten Werke, die diesen Prozess erkennbar machen, sind „Personal Knowledge. Towards a Post-Critical Philosophy“ (1958), „The Tacit Dimension“ (1966) und die Aufsatzsammlung „Knowing and Being“ (1969). Auch bei der Darstellung der Grundideen Polanyis werde ich zunächst seine negativen Thesen und im Anschluss seinen konstruktiven Ansatz in den Mittelpunkt stellen.
37 Vergleiche hierzu Abschnitt 1.4.3, in dem die verschiedenen Reduktionsformen angeführt und prominente Autoren für die jeweiligen Reduktionsthesen diskutiert werden.
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1.3.2.1 Die Zurückweisung objektivistischer Wissenskonzeptionen Der Begiff des persönlichen Wissens ist innerhalb Polanyis Philosophie eng an das Implizite geknüpft und legt die Stoßrichtung seines Programms offen: Er wendet sich gegen die Vorstellung eines vollständig unpersönlichen, abstrakten und objektiven Wissens, das er einem fehlgeleiteten „Objektivismus“38 zuschreibt. Diese Auffassung ist laut Polanyi an die von ihm als „kritische Philosophie“ bezeichnete Strömung gebunden, die zwar durch die Ablösung von unbegründeten Dogmen und Autoritäten Bedeutendes für die Wissenschaftstheorie geleistet habe, jedoch mit der Vorstellung einer vollständigen Objektivierung von Wissen zu weit ginge. Möchte man der Natur des menschlichen Wissens gerecht werden, so muss es laut Polanyi immer durch die Bezugnahme auf den Wissenden betrachtet werden und kann somit nie als rein objektiv verstanden werden. Das Hauptanliegen Polanyis ist demzufolge, im Rahmen einer „post-kritischen Philosophie“ für eine Rückbindung von Wissen an das Wissenssubjekt zu argumentieren. An dieser Stelle ist anzumerken, dass Polanyi nicht auf den Begriff des propositionalen Wissens Bezug nimmt. Doch seine Theorie kann durchaus als Zurückweisung der Annahme ausgelegt werden, dass Wissen durch eine abstrakte semantische Struktur angemessen beschrieben werden kann: Eine formale Trennung von Wissenssubjekt und -gehalt ist für Polanyi undenkbar.39 Wichtig ist, dass Polanyi das Konzept des impliziten Wissens nicht nur auf praktische Fähigkeiten anwendet, sondern als Grundlage für jegliches Wissen auffasst, sei es nun in den formalen mathematischen Wissenschaften oder in Alltagsbereichen.40 Geprägt durch seine Ausbildung und Forschungserfahrung als physikalischer Chemiker betont Polanyi mit Bezug auf seine eigenen Erfahrungen, dass Erkenntnisprozesse durch individuelle, soziale und kontextuelle Faktoren wesentlich beeinflusst sind. Die Forscherrealität wird gemäß Polanyi von dem wert- und kontextfreien Wissenschaftsbild des Objektivismus nicht angemessen abgebildet; sie ist vielmehr von einer Indeterminiertheit der wissenschaftlichen Begriffe und Kategorien geprägt, die der konkreten Lebenswelt der Forschungslabore sowie der persönlichen Sichtweisen, Urteile und Wünsche der Wissenschaftler geschuldet ist. So behauptet Polanyi, dass bei jedem Schritt wissenschaftlichen Vorgehens – von der Entdeckung bis zur Bestätigung von Theorien – Erfahrungen, Fertigkeiten und Expertisen eine Schlüsselrolle zukommt, wobei diese jeweils persönliche Momente einschließen, die implizit und nicht formalisierbar sind.
38 Vgl. Polanyi 1958, S. 15ff. Polanyi wird oft als Kontrahent Karl R. Poppers aufgefasst, der explizit ein solches Wissensideal vertritt. Vgl. hierzu Jung 2011, S. 201f. 39 Vgl. Polanyi 1969, S. 152. 40 Vgl. Polanyi 1966, S. 20.
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1.3.2.2 Die implizite Dimension des Wissens Welche Merkmale kommen persönlichem Wissen nun nach Polanyi zu? Der Ausgangspunkt für die Entwicklung seines neuen Wissenskonzeptes liegt für Polanyi in der Einsicht, dass Wissen sich nicht in sprachlichen Aussagen erschöpft, sondern vieles von dem, was wir wissen, nicht in Sprache gefasst werden kann. Mit dem prägnanten Satz „We can know more than we can tell“41 bringt er diese Einsicht auf den Punkt. Um zu erklären, was es heißt, über Wissen jenseits der Sprache zu verfügen, wählt Polanyi ein paradigmatisches Beispiel aus dem Bereich der visuellen Wahrnehmung: die Gesichtserkennung.42 Wir können das Gesicht einer vertrauten Person mit einem Blick identifizieren; doch wollen wir unsere Fähigkeit durch bestimmte Aussagen erklären, die etwa die Gestalt von Nase, Mund, Augen oder Kinn betreffen, so liefert uns eine noch so lange und detaillierte Liste dieser Aussagen kein befriedigendes Bild. Grundlegend für die Erklärung unserer praktischen Fähigkeit ist für Polanyi die aus der Gestaltpsychologie stammende Unterscheidung von „fokussierter“ und „subsidiärer“ Aufmerksamkeit.43 Unter der fokussierten Aufmerksamkeit wird hierbei die gewöhnliche Art der vollen Aufmerksamkeit verstanden, die wir haben, wenn wir uns beispielsweise auf ein bestimmtes Objekt konzentrieren. Die subsidiäre Aufmerksamkeit bezeichnet hingegen das Bemerken und Wahrnehmen „am Rande“, eine Form von Hintergrundaufmerksamkeit, bei der kein bestimmter Gegenstand fokussiert wird. Details und Schlüsselmerkmale, die als Verweise auf bestimmte Gegenstände fungieren, werden nur unterschwellig wahrgenommen. Entscheidend ist, dass der gestaltpsychologische Grundsatz, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile, zur Geltung kommt: Aus dieser Perspektive wird ersichtlich, warum eine detaillierte Auflistung von bestimmten Merkmalen unsere Fähigkeit prinzipiell nicht erklären kann. Die beiden Aufmerksamkeitsformen können über ein Beispiel veranschaulicht werden: Wenn ich einen Nagel in die Wand schlage, dann richte ich meine Aufmerksamkeit auf den Nagel und meine linke Hand, die ihn festhält. Die Bewegungen meiner rechten Hand, die den Nagel in die Wand schlägt, nehme ich hierbei nur unterschwellig wahr. Das, was wir subsidiär wahrnehmen, ist für uns in gewisser Weise „unsichtbar“; dementsprechend ist auch implizites Wissen gemäß Polanyi durch seine starke Abhängigkeit vom Wissenssubjekt und Kontext nicht verbalisier- oder formalisierbar.
41 Polanyi 1966, S. 4. 42 Vgl. Ebd. 43 Vgl. Polanyi 1958, S. 55ff.
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Die Einsicht, dass Wissen immer persönliche Momente in sich fasst, ist für Polanyi mit einer weitreichenden Umstrukturierung und Neuausrichtung der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie verbunden. Diese sollen einen neuen Blickpunkt auf ihre Problemstellungen und Themen einnehmen. Die so genannte „implizite Dimensions“ („tacit dimension“) – die Dimension der unterschwelligen, individuellen Momente, die explizites Erkennen und Wissen erst ermöglichen – wird für Polanyi zu einem Modem für eine Wissensform, die Kern unseres kognitiven Zugangs zur Welt ist.44 So spricht er sich dafür aus, dass jede Form von Wissen auf implizite Komponenten zurückzuführen und ein völlig explizites Wissen unmöglich ist: […] all knowledge is either tacit or rooted in tacit knowledge. A wholly explicit knowledge is unthinkable.45
Dieser These liegt die Vorstellung zugrunde, dass implizites Wissen die Grundlage für unser Verstehen von Sprache und anderen komplexen Mechanismen ist. Es gibt laut Polanyi schlicht keine kognitiven Prozesse, die sich aus der impliziten Dimension des Wissens herauslösen lassen. Die so genannte „von-zu-Ausrichtung“ von Wissensprozessen dient Polanyi als Stütze für sein Argument, dass implizitem Wissen gegenüber (vermeintlich) explizitem Wissen ein Primat zuzusprechen ist:46 Gestaltpsychologen gehen von einer so genannten „perzeptuellen Integration“ aus, durch die wir uns über das kohärente Ganze auf der Grundlage der subsidiären Aufmerksamkeit von Details und Schlüsselmerkmalen bewusst werden. Im Sinne dieser von-zu-Ausrichtung erfassen wir beispielsweise über bestimmte Kernmerkmale – Augen, Nase, Mund, Gesichtszüge – ein Gesicht, oder wir können durch das Wahrnehmen einzelner Worte und Sätze die Bedeutungen ebendieser erfassen. Wenn ein Subjekt in diesem Bild über praktisches Wissen verfügt, so integriert es implizit die Einzelheiten zu einer Gesamtheit, ohne dass es ebendiese Einzelheiten selbst explizit wissen muss. Da alle alltäglichen wie wissenschaftlichen Erkenntnisprozesse in jener von-zu-Ausrichtung gründen, ergibt sich für Polanyi die primäre Stellung impliziten Wissens für die Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie.
44 Vgl. Polanyi 1966, S. viiff. 45 Polanyi 1969, S. 144; Hervorhebungen im Original. 46 Vgl. Polanyi 1966, S. 10ff.
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1.3.3 Ryle und Polanyi: Parallelen und Unterschiede Sowohl Ryle als auch Polanyi sprechen sich dafür aus, dass Wissen die Grenzen des sprachlichen Ausdrucksvermögens überschreitet. Ihre Theorien weisen eine Reihe von Gemeinsamkeiten auf, die nicht zuletzt darin liegen, dass sie den Fokus auf praktische Fertigkeiten legen, die sonst innerhalb der Erkenntnistheorie am Rande stehen. Allerdings ist eine vorschnelle Parallelisierung der beiden Ansätze unangemessen: Ryle spricht sich für eine Dichotomie von knowing how und knowing that aus; Polanyis Theorie zielt nicht auf eine solche Gegenüberstellung zweier Wissensformen ab: Vielmehr versucht sie, durch das Konzept des persönlichen Wissens einen neuen Blickpunkt zu begründen, von dem aus jegliches Wissen zu betrachten ist. Wissen ist für ihn stets von impliziten Momenten geprägt. Beide Autoren nehmen somit unterschiedliche Phänomene in den Blick: Ryle geht es um die Erklärung einiger paradigmatischer praktischer Fähigkeiten. Polanyi hingegen möchte unsere Vorstellung von Wissen als solche rekonstruieren. Praktische Fähigkeiten dienen ihm hierbei nur als zentrale Beispiele, um die implizite Dimension von Wissen erkennbar zu machen. Die Unterschiede der Positionen werden auch mit dem Blick auf die Methoden sichtbar, auf die sich die beiden Autoren stützen: Ryle entwickelt seine Position von knowing how in starker Anlehnung an behavioristische Auffassungen, indem er das beobachtbare Verhalten von praktischen Fähigkeiten in den Vordergrund stellt. Polanyi beruft sich auf zentrale Überlegungen aus der Gestaltpsychologie und beschreibt durch die implizite Integration einen Explikationsprozess, der für jedes Wissen geltend gemacht werden kann. Im nächsten Abschnitt stelle ich die aktuelle Debatte um praktische Wissensformen in den Mittelpunkt. Ryles und Polanyis Konzepte werden für die Bewertung der zeitgenössischen Argumente immer wieder herangezogen. An dieser Stelle ist es wichtig zu bemerken, dass weder Ryle noch Polanyi direkt auf den Begriff des propositionalen Wissens als Kontrastpunkt für knowing how bzw. implizites Wissen Bezug nehmen, sondern auf knowing that einerseits und explizites Wissen andererseits.47 Für die zeitgenössichen Positionen spielt propositionales Wissen aber eine Schlüsselrolle, da hier praktisches Wissen mit propositionalem kontrastiert wird. Die Theorien Ryles und Polanyis lassen sich folglich nicht ohne weiteres in das heutige Diskussionsfeld übertragen. Auf diese Schwierigkeit werde ich noch öfter zurückkommen.
47 Bei Ryle ist allerdings davon auszugehen, dass er knowing that mit propositionalem Wissen gleichsetzt: Wir haben gesehen, dass er bei der Darstellung seiner Kritik an der intellektualistischen Legende auf den Begriff der regulativen Proposition Bezug nimmt. Vgl. auch Ryle 1949, S. 26.
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1.4 Ist praktisches Wissen auf propositionales Wissen reduzierbar? Is knowing-how simply a case of knowing-that? (Tobias Rosefeldt)48 All knowing-how is knowing-that. (Jason Stanley und Timothy Williamson)49 Knowing-how is not knowing-that. (Peter Markie)50
1.4.1 Dimensionen der aktuellen Debatte Auf die zentrale Frage, um die sich die aktuelle Debatte dreht, habe ich bereits hingewiesen: Ist praktisches Wissen auf propositionales reduzierbar oder konstituiert es eine eigenständige Wissensform? Bei der Diskussion der jeweiligen Antworten, die auf diese Frage gegeben werden, ist auffällig, dass sich die Autoren oft auf unterschiedliche Begriffe beziehen. Und selbst wenn eine Übereinstimmung herrscht, werden Begriffe oft nicht in derselben Weise verwendet. Daher bekommt man schnell den Eindruck, dass es sich eher um einen Streit um Worte als um einen Diskurs über ein philosophisches Problem handelt. Mein Ziel ist es daher, in diesem Abschnitt eine Art Landkarte zu entwickeln, die uns hilft, die Positionen einzuordnen und zu bewerten. Hierzu ist es zunächst sinnvoll, zwischen so genannten „intellektualistischen“ und „antiintellektualistischen“ Positionen in Bezug auf praktisches Wissen zu unterscheiden. Diese Positionen können jeweils durch die folgenden Kernthesen charakterisiert werden: Intellektualismus: Ein Subjekt S verfügt über praktisches Wissen bezüglich einer Tätigkeit φ genau dann, wenn S über propositionales Wissen bezüglich der Tätigkeit φ verfügt.51
48 Rosefeldt 2004, S. 370. 49 Stanley & Williamson 2001, S. 444. 50 Markie 2006, S. 17. 51 Propositionales Wissen kann hierbei das Wissen von Regeln oder handlungsanweisenden Kriterien, die eine erfolgreiche Ausführung der betreffenden Tätigkeit möglich machen, ebenso einschließen wie das Wissen über andere Fakten, singuläre Tatsachen, die in irgendeiner Weise mit der erfolgreichen Ausführung der Tätigkeit verbunden sind.
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Anti-Intellektualismus:52 Der Intellektualismus ist falsch. Praktisches Wissen bezüglich einer Tätigkeit φ ist nicht äquivalent zu einem propositionalen Wissen bezüglich der Tätigkeit φ.
Anti-Intellektualistische Positionen entwickeln sich zumeist aus einer negativen These heraus, d.h. aus der Ablehnung von intellektualistischen Theorien. Die Zurückweisung des Intellektualismus zieht allerdings verschiedenartige Konsequenzen nach sich, die folgende zusätzliche Differenzierung der anti-intellektualistischen Positionen nahe legen: Schwacher Anti-Intellektualismus (Disjunktivismus): Praktisches Wissen und propositionales Wissen stellen zwei unabhängige Wissensformen dar, die jeweils nicht aufeinander reduzierbar sind. Starker Anti-Intellektualismus: Propositionales Wissen ist auf praktisches Wissen reduzierbar.
Ryles Ansatz kommt in der aktuellen Debatte die meiste Aufmerksamkeit zu, wandte er sich doch gegen eine intellektualistische Vorstellung praktischen Wissens. Und auch wenn auf Polanyi meist nicht explizit Bezug genommen wird, so können doch einige Parallelen zu seiner Theorie für aktuelle Argumentationen aufgezeigt werden. Angefacht wurde die Debatte vorwiegend von Stanley und Williamson, die für eine intellektualistische Position argumentieren, welche auf zahlreiche und vielfältige Kritik gestoßen ist. Hierbei werden einige Argumente und Konzepte aus der Zeit der 1960er und 1970er Jahre aufgegriffen, als die Künstliche-Intelligenz-Forschung und mit ihr die Frage nach der Repräsentation von Wissen und praktischen Fähigkeiten intensiv diskutiert wurde. Um die Fülle an Positionen und Argumentationsstrategien zu systematisieren, bietet sich die Unterscheidung der folgenden drei Kontroversen an:
52 Es wäre durchaus konsistenter, den Anti-Intellektualismus als echte Gegenposition zum Intellektualismus zu definieren, also im Sinne des Starken Anti-Intellektualismus (s.u.). Ich habe mich für die angeführte Unterscheidung allerdings entschieden, da sich in der aktuellen Literatur viele Autoren als Anti-Intellektualisten verstehen, die den Intellektualismus schlicht verneinen, nicht aber starke anti-intellektualistische Thesen vertreten. Einzig Paul Snowdon führt explizit eine sog. „Disjointness Thesis“, d.h. die These, dass beide Wissensformen irreduzibel sind, als mögliche Position ein (vgl. Snowdon 2003/04, S. 2).
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Explikationskontroversen: Kontroversen, die die Frage nach einer angemessenen Explikation von praktischen Wissensformen betreffen. Reduktionskontroversen: Kontroversen, die die Frage betreffen, ob eine der beiden Wissensformen (praktisches oder propositionales Wissen) jeweils auf die andere reduziert werden kann. Methodologische Kontroversen: Kontroversen, die die Frage betreffen, mit welchen Methoden praktische Wissensformen (oder Wissensformen im Allgemeinen) analysiert werden.
Diese drei Kontroversen werde ich nun in der gegebenen Reihenfolge genauer betrachten. Das Ziel ist hierbei, die Überzeugungskraft und Reichweite der einzelnen Positionen, die aus unterschiedlichen Stoßrichtungen vorgebracht werden, sowie die jeweiligen Dissenspunkte angemessen zu bewerten.
1.4.2 Explikationskontroversen Was genau unter praktischem Wissen zu verstehen ist, wird von den Mitstreitern der aktuellen Debatte unterschiedlich ausgelegt. Ich habe bereits auf die Schwierigkeit für eine Systematisierung der Explikationsvorschläge hingewiesen, dass sich oftmals schon terminologische Unstimmigkeiten voranstellen: Neben „knowing how“ und „implizites Wissen“ mischen sich andere Begriffe aus der Alltagssprache oder Wissenschaften wie der Psychologie und den Kognitionswissenschaften in die Debatte, die jeweils zu unterschiedlichen Zwecken und in verschiedenen Kontexten aufgegriffen oder neu geschöpft werden.53 Im Folgenden werde ich versuchen, die Explikationsvorschläge, die für praktisches Wissen entwickelt wurden – welche Bezeichnung es auch immer im konkreten Fall erfährt –, einander gegenüber zu stellen. Eine erste Zielscheibe der Kritik ist Ryles dispositionale Analyse von knowing how, d.h. die Charakterisierung praktischer Wissensformen als intelligente Fähigkeiten: Wenn ein Subjekt praktisches Wissen hat, soll es demgemäß dazu in der Lage sein, unter bestimmten Umständen in einer intelligenten Weise zu handeln. Sprachlich spiegelt sich dies oftmals in der Gleichsetzung von „knowing how“ bzw. „wissen, wie“ mit „can“ bzw. „können“ wider. Gegen Ryles dispositionale Analyse werden in der aktuellen Debatte Einwände vorgebracht, die sich hauptsächlich auf Beispiele berufen, welche die Differenz von prakti-
53 Vgl. hierzu auch Abschnitt 3.7.
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schem Wissen und Fähigkeiten aufweisen sollen, indem sie eine der beiden folgenden Thesen stützen: (1) Fähigkeiten sind keine notwendige Bedingung für praktisches Wissen (knowing how). (2) Fähigkeiten sind keine hinreichende Bedingung für praktisches Wissen (knowing how). Die vermeintlichen Gegenbeispiele zu Ryles dispositionaler Analyse werde ich nun diskutieren, indem ich in einem ersten Schritt diejenigen betrachte, die These (1) stützen, und in einem zweiten Schritt diejenigen ins Zentrum stelle, mit denen These (2) begründet wird.
1.4.2.1 Praktisches Wissen ohne Fähigkeit? Paul Snowdon führt das Beispiel einer Person an, die weiß, wie man einen Christmas Pudding kocht, diesen aber nicht kochen kann, da alle Zuckervorräte der Welt aufgebraucht sind.54 Diese Person soll über ein bestimmtes knowing how – das Wissen, wie man den Pudding kocht – verfügen, ohne aber die entsprechende Fähigkeit des Puddingkochens zu haben. Die praktische Manifestation des Wissens, über das der Koch verfügt, wird durch externe Umstände verhindert. Allerdings ist dieses Beispiel kein überzeugendes Argument gegen Ryles dispositionale Analyse: Es ist unplausibel anzunehmen, der Koch habe in diesem aufgezeigten Szenario seine praktische Fähigkeit verloren, auch wenn er sie zugegebenermaßen nicht ausüben kann. Wenn wir einer Person im Sinne Ryles eine bestimmte Disposition zuschreiben, dann ist es nicht erforderlich, dass sie immer eine entsprechende Handlung ausführen kann. Zunächst einmal müssen einige Minimalbedingungen erfüllt sein, damit eine solche erfolgreiche Handlung überhaupt möglich ist. Das Zucker-Beispiel kann also nicht als überzeugendes Gegenbeispiel zu Ryles Ansatz aufgefasst werden; es deckt allerdings eine wesentliche Eigenschaft von praktischen Fähigkeiten auf: Sie zeigen oftmals eine hohe Sensibilität gegenüber äußeren Bedingungen auf. Eine erfolgreiche Manifestation hängt von der angemessenen Einbettung in die Umweltbegebenheiten ab, die uns, um mit James J. Gibson zu sprechen, durch so genannte „Affordanzen“ Möglichkeiten bereit stellen, auf intelligente Art und Weise zu handeln.55 Durch eine dispositionale Auf-
54 Vgl. Snowdon 2003/04, S. 8. 55 Vgl. Gibson 1979, S. 127ff.
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fassung praktischer Fähigkeiten kann diesen Merkmalen aber durchaus Rechnung getragen werden.56 Es gibt ausgefeiltere Beispiele, die die These von der Gleichsetzung von knowing how mit Fähigkeiten zu widerlegen versuchen. Snowdon konstruiert den Fall von Susan, die zwar weiß, wie man die Königin richtig anspricht – sie hat sich nämlich die folgende Regel eingeprägt: „Ma’am to rhyme with spam, not Ma’am to rhyme with harm.“ – aber aufgrund einer durch Nervosität hervorgerufenen Sprachstörung in Anwesenheit der Königin nur herumstottert und die Anrede nicht richtig aussprechen kann.57 Stanley und Williamson führen das Beispiel einer Pianistin an, der nach einem tragischen Unfall beide Arme amputiert wurden: Ihr praktisches Wissen sei ihr mit dem Unfall nicht verloren gegangen, auch wenn ihr offensichtlich die Fähigkeit Klavier zu spielen fehle.58 In diesen beiden Beispielen wird die erfolgreiche Ausführung einer Handlung durch eine physische oder psychische Bedingung unmöglich gemacht, auch wenn die jeweiligen Handelnden über eine bestimmte Art von Wissen zu verfügen scheinen. Eine genauere Betrachtung der Beispiele zeigt, dass sie zwar wichtige Kritikpunkte an der dispositionalen Analyse Ryles herausstellen, aber dennoch mit dieser vereinbar sind: Der Fall von Susans Wissen, wie man die Königen anspricht, deckt eine andere Lesart von „knowing how“- bzw. „wissen, wie“-Sätzen auf – eine Lesart, die Ryle offenbar nicht fokussierte. Susan kennt in diesem Beispiel eine bestimmte Regel – „Ma’am to rhyme with spam, not Ma’am to rhyme with harm.“ – für das richtige Ansprechen der Königin; und dieses Wissen ist offensichtlich propositional.
1.4.2.2 Die Unterbestimmtheit von Zuschreibungssätzen für praktisches Wissen Die soeben diskutierten Beispiele legen eine Unterbestimmtheit von Sätzen nahe, die wir zur Zuschreibung von praktischem Wissen verwenden. Diese Unterbestimmtheit deutete sich schon in Abschnitt 1.1 an: Die entsprechenden Satzkonstruktionen scheinen zumindest zwei Lesarten zuzulassen. Durch die erste wird dem jeweiligen Subjekt im Sinne der Ryle’schen dispositionalen Analyse eine praktische Fähigkeit zugeschrieben (im Folgenden: „FähigkeitsLesart“); durch die zweite wird der betreffenden Person hingegen propositionales, sprachlich äußerbares Wissen über die jeweilige Fähigkeit zugesprochen
56 Die Schlüsselmerkmale praktischer Fähigkeiten werden ausführlich im dritten Kapitel diskutiert. 57 Vgl. Snowdon 2003/04, S. 8. 58 Vgl. Stanley & Williamson 2001, S. 416.
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(im Folgenden: „propositionale Lesart“). Diese Mehrdeutigkeit von Sätzen, in denen wir auf praktisches Wissen verweisen, wird von zahlreichen Autoren anerkannt: Tobias Rosefeldt weist explizit auf sie hin;59 auch Alva Noë unterscheidet „to know how to do something“ im Sinne einer praktischen Fähigkeit und „know how something is done“ als proposionales, sprachbasiertes Wissen über eine Fähigkeit.60 Und auch in Werken, die lange vor der aktuellen Debatte verfasst wurden, wird immer wieder für diese Unterscheidung plädiert: Jaakko Hintikka stellt einen „skill-sense“ und einen „knowing-the-way-sense“ einander gegenüber;61 Keith Lehrer trennt einen „competence sense“ von einem „information sense“.62 Allerdings wird von einigen Autoren auch bestritten, dass es eine Mehrdeutigkeit von „wissen-wie“- bzw. „knowing how“-Sätzen gibt. John Bengson, Marc Moffett und Jennifer C. Wright weisen sie mit dem Hinweis zurück, dass empirische Studien und linguistische Tests eine solche Mehrdeutigkeit für „knowing how“-Sätze nicht bestätigen können.63 Ob diese Argumente überzeugend bzw. inwiefern sie für die Diskussion um praktische Wissensformen relevant sind, ist allerdings fragwürdig.64 Im Gegensatz zu den meisten anderen mehrdeutigen Begriffen sind die beiden Lesarten von „knowing how“ offensichtlich miteinander verwoben. Beispielsweise markieren die Lesarten des Begriffs „Bank“ als Sitzgelegenheit und Geldinstitut völlig unterschiedliche Gegenstände, während durch „knowing how“-Sätze einem Subjekt Fähigkeiten oder Wissen über Regeln und Besonderheiten von Fähigkeiten zugesprochen werden, die eng zusammenhängen, etwa über die gleichen Prozesse erlernt oder verlernt werden, und auf die gleiche Tätigkeit Bezug nehmen. Der Nachweis einer „echten“ linguistischen Mehrdeutigkeit für „knowing how“-Sätze dürfte sich also als wesentlich schwieriger erweisen als bei klassischen Fällen mehrdeutiger Begriffe. Und selbst wenn ein solcher Nachweis bzw.
59 Vgl. Rosefeldt 2004, S. 372. 60 Vgl. Noë 2005, S. 284. 61 Vgl. Hintikka 1975, S. 11ff. 62 Vgl. Lehrer 1990, S. 5f. Zudem findet sich bereits bei D.G. Brown die Unterscheidung zwischen einer „Standard-Verwendung“ („standard use“) und einer „englischen Verwendung“ („English use“) von „knowing how“, wobei zunächst die grobe Einteilung in ein theoretisches Wissen („standard use“) über Regeln und Handungsweisen einer bestimmten Tätigkeit und in eine stärker an die Ausführung und das Erlernen von Fähigkeiten gebundene Wissensform gemeint ist („english use“). Brown spricht sich allerdings contra Ryle dafür aus, dass auch die englische Verwendung auf eine propositionale Wissensform verweist (vgl. Brown 1970, S. 220). 63 Vgl. Bengson, Moffett & Wright 2009, S. 390 ff. 64 Vgl. Jung & Newen 2011, S. 88f.
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eine Zurückweisung auf der Grundlage linguistischer Argumente gelingen würde: Der Streitplatz zwischen denjenigen, die eine Mehrdeutigkeit bzw. Unterbestimmtheit von „knowing how“- bzw. „wissen, wie“-Sätzen anerkennen, und denjenigen, die eine solche verneinen, könnte so zwar aus linguistischer Sicht für die eine oder andere Seite entschieden werden. Allerdings zieht dies nicht nach sich, dass auch die philosophische Debatte um praktische Wissensformen damit gelöst wäre. Selbst wenn eine Mehrdeutigkeit im linguistischen Sinne verneint wird, kann eine systematische Nähe von Fähigkeitszuschreibungen und der Zuschreibung propositionalen Wissens über Regeln oder Kriterien der Fähigkeit nicht zurückgewiesen werden. Aus dieser Perspektive beschreibt auch Jaakko Hintikka die Fähigkeits-Lesart zumindest als „unavoidable shadow of the ‚knowing the way‘ sense“.65 Wie bei der Diskussion der Beispiele, die Ryles Kritiker anführen, deutlich wurde, ist es alles andere als offensichtlich, über welche Art von Wissen oder Fähigkeit der Handelnde verfügen sollte: Es scheint davon abhängig zu sein, was wir in einem gegebenen Kontext betonen möchten oder welches Interesse wir an Wissen bzw. Fähigkeiten haben. In den diskutierten Fällen wird beispielsweise betont, dass die betreffenden Subjekte noch über ein bestimmtes Wissen verfügen, obwohl sie eine praktische Fähigkeit verloren haben. Hieraus kann aber nicht der Schluss gezogen werden, dass „knowing how“-Sätze in jedem beliebigen Kontext auf ein solches Wissen verweisen. Die Unterbestimmtheit von Sätzen, die zur Zuschreibung von Wissen verwendet werden, könnte auch als Grund dafür gelten, warum die Unterscheidung, für welche Ryle argumentiert, selbst in gewisser Hinsicht irreführend erscheint: Offensichtlich möchte Ryle praktische Wissensformen als Fähigkeiten von theoretischem bzw. propositionalem Wissen abgrenzen, statt eine linguistische Unterscheidung zwischen „knowing how“- und „knowing that“-Sätzen ins Zentrum seiner Überlegungen zu stellen.66 Diese beiden Unterscheidungen sind aber nicht identisch: Wir haben gesehen, dass es vom Kontext abhängt, ob ein „knowing how“-Satz tatsächlich verwendet wird, um eine praktische Fähigkeit zuzuschreiben; in einigen Fällen kann er ebenso für die Zuschreibung propositionalen Wissens verwendet werden. „Knowing how“-Sätze sind zudem nicht die einzigen „know“-Konstruktionen, mit denen wir praktische Fähigkeiten zuschreiben können: Durch Sätze wie „Paul knows when to be silent“ können wir Paul auch eine bestimmte Fähigkeit zuschreiben – die Fähigkeit, sich angemessen zu verhalten, welche etwa auf eine gute Erziehung zurückzuführen ist – und nicht propositionales
65 Hintikka 1975, S. 12. 66 Vgl. hierzu auch Jung & Newen 2011, S. 84 ff.
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Wissen im Sinne expliziter Regeln, die Paul kennt und angeben kann. Darüber hinaus gibt es zumindest einige „knowing how“-Konstruktionen, die keine Mehrdeutigkeit aufweisen; beispielsweise verweisen Sätze wie „Paul knows how Napoleon died“ immer auf ein Aussagenwissen, weil das Wissen, welches Paul in diesem Satz zugeschrieben wird, schlicht nicht mit einer Tätigkeit korrespondiert. Wir können nun noch einmal den Blick auf die vermeintlichen Gegenbeispiele werfen, die Stanley und Williamson sowie Snowdon gegen Ryle anführen. Snowdon liefert uns eine Anweisung dafür, wie solche Gegenbeispiele zu konstruieren sind: To construct such examples we need to describe cases in which the subject can show, teach, or tell (or otherwise convey to) us how to do something, and hence must be credited with knowing how to do it, but is for some reason or other unable to do it.67
Es ist fraglich, ob mit der von Snowdon aufgezeigten Methode tatsächlich genuine Gegenbeispiele zu Ryles dispositionaler Analyse aufgezeigt werden können. Zudem bleibt Snowdons Beschreibung ziemlich vage, da er hier verschiedenartige Fähigkeiten ins Spiel bringt, die aus guten Gründen auseinander gehalten werden sollten: Die Fähigkeit, eine Tätigkeit φ zu lehren oder zu erklären, ist beispielsweise eine sehr komplexe Fähigkeit, die zusätzliches Wissen und weitere Fähigkeiten erfordert, auf die wir uns nicht explizit beziehen, wenn wir von „knowing how“ bezüglich φ sprechen. Zudem beurteilen wir im alltäglichen Leben in unterschiedlicher Art und Weise, ob eine der Fähigkeiten vorliegt. Wenn wir etwa überprüfen wollen, ob jemand über eine praktische Fertigkeit verfügt, so verlangen wir meist, dass er sie uns direkt vorführen kann – man denke an das lateinische Sprichwort „Hic Rhodos, hic salta!“. Eine Lehrfähigkeit bezüglich einer Tätigkeit prüfen wir hingegen durch die Aufforderung, eine anschauliche Beschreibung für die erfolgreiche Durchführung der Tätigkeit abzugeben. Snowdons Behauptung macht also nicht deutlich, wieso das Wissen, welches den Personen, die φ lehren oder Regeln für φ verbalisieren können, dasjenige Wissen sein soll, auf das wir in der Alltagssprache eindeutig Bezug nehmen, wenn wir von „knowing how“ sprechen. Mit anderen Worten: Snowdons Aussage liegt die in meinen Augen problematische Vorstellung zugrunde, dass jeder Tätigkeit φ eindeutig spezifische Propositionen zugeordnet werden, die auf unterschiedliche Weise gewusst und sich in den von ihm genannten Fähigkeiten manifestieren können. Auf diese Vorstellung werde ich
67 Snowdon 2003/04, S. 9; Hervorhebung im Original.
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noch einmal bei der Diskussion der Position von Stanley und Williamson zurückkommen. Stützt man sich auf die Unterscheidung zwischen Fähigkeitslesart und propositionaler Lesart, so lässt sich das angeführte Beispiel der Klavierspielerin neu interpretieren: Die Frage, ob der Verlust der Arme den Verlust der praktischen Fähigkeit Klavier zu spielen bedeutet, ist philosophisch kaum entscheidbar und sollte an Medizin und Gehirnforschung adressiert werden. Es ist jedenfalls nicht hinreichend geklärt, welches Wissen bzw. welche Fähigkeiten der Maestra jeweils vor und nach dem Unfall zugesprochen werden können. Das Lernen und Ausüben von intelligenten Tätigkeiten wie der des Klavierspielens geht mit dem Erwerb eines ganzen Bündels von Fertigkeiten einher – hierzu ist etwa ein ausgefeiltes Hörvermögen oder die Fähigkeit, Noten zu lesen, zu zählen, und diese Fähigkeiten verliert die Maestra durch den Unfall offensichtlich nicht.68 Zudem könnte die Klavierspielerin nach dem Unfall noch über eine große Menge propositionalen bzw. theoretischen Wissens bezüglich der praktischen Tätigkeit verfügen. Wahrscheinlich kann sie weiterhin verbalisieren, was Schüler ändern und trainieren sollten, um ihr Spielen zu verbessern, und das Klavier-Spielen anderer Personen fachgemäß beurteilen. In diesem Sinne verfügt sie also durchaus über ein spezifisches knowing how. Dieses verbleibende Wissen könnte sie beispielsweise in ihrer Tätigkeit als brillante Klavierlehrerin anwenden. Für die These, dass ihr praktisches Wissen vor und nach dem Unfall mit derselben Wissensform identifiziert werden kann, werden jedoch keine überzeugenden Argumente vorgebracht.
1.4.2.3 Fähigkeiten ohne praktisches Wissen? Neben den soeben diskutierten Beispielen werden auch solche konstruiert, die These (2) stützen sollen, die also auf Fälle verweisen, in denen Subjekte über Fähigkeiten, nicht aber über ein entsprechendes knowing how verfügen sollen. Snowdon führt hierzu den Fall eines Mannes an, der sich in einem ihm unbekannten Raum befindet und ohne genaueres Inspizieren den Ausgang findet.69 Dem Mann sei die praktische Fähigkeit zuzusprechen, den Raum zu verlassen, ohne dass ihm ein entsprechendes praktisches Wissen zukomme. Dies wird damit begründet, dass der Mann zwar erfolgreich die Türe findet, ihm aber aufgrund der Tatsache, dass er zum allerersten Mal diesen Weg geht und über keine
68 Vgl. hierzu auch das vierte Kapitel, in dem explizit einige musikalische Wissensformen diskutiert werden. 69 Vgl. Snowdon 2003/04, S. 11f.
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spezifische Ortskenntnis verfügt, kein entsprechendes knowing how zugesprochen werden kann. Snowdon führt eine Verallgemeinerung dieses Beispiels an: Wenn Tätigkeiten zu basal sind und überwiegend automatisiert ablaufen, dann sei es sinnvoll, von so genannten „Basishandlungen“ („basic actions“) auszugehen, denen kein praktisches Wissen entspricht. In einem anderen Beispiel, das These (2) widerlegen soll, verweist Snowdon auf Martin, der 50 aufeinanderfolgende Liegestützen ausführen kann. Auch wenn er sich damit vielleicht vor sehr vielen anderen Menschen auszeichnet, sei es widersinnig, ihm ein knowing how bezüglich der Fähigkeit, 50 Liegestützen auszuführen, zuzuschreiben.70 Auch Alan White weist mit der Berufung auf ähnliche Beispiele wie diejenigen Snowdons die Gleichsetzung von praktischem Wissen mit Fähigkeiten zurück: […] there are a host of activities and achievements, usually of a physical kind, the ability to do which, whether innate or acquired, is unrelated, even in human beings, to any knowledge. Thus, my ability to hear traffic or to see across the room, to hold about five pints of beer or to do without sleep for about 18 hours does not imply and is not due to any knowledge of mine any more than my inability to hear sounds which my dog can hear, to see as far as those of you who have no need of spectacles, to drink as much as some of my collegues or to do with as little sleep as others is due to some lack of knowledge.71
Der wunde Punkt der Ryle’schen Analyse, auf den diese Beispiele hinweisen, kann folgendermaßen beschrieben werden: Eine naive Gleichsetzung von knowing how mit praktischen Fähigkeiten oder von „to know how“ bzw. „wissen“ mit „can“ bzw. „können“ greift zu kurz, da sie zu unspezifisch bleibt und den normativen Ansprüchen, die mit Wissen verbunden werden, nicht gerecht wird.72 Ryles Analyse ist also deswegen mit Schwierigkeiten behaftet, da die Begriffe der Fähigkeit oder des Könnens zunächst einige unterschiedliche Bedeutungen einschließen (etwa in einem schwachen Sinne die bloße Möglichkeit, etwas zu tun), und da zudem verschiedenartige Tätigkeiten unter die Reichweite des Begriffs fallen – oftmals auch solche, die wir völlig unbewusst, unkontrolliert und unwillentlich ausüben. Zudem ist Ryles Analyse mit dem Problem einer geeigneten Individuierung von Fähigkeiten konfrontiert. Beispielsweise scheinen zu fein individuierte Fähigkeiten wie „100 m in genau 10,0 s laufen“ oder die von Snowdon angeführte Fähigkeit „50 Liegestützen nacheinander auszuführen“ keine sinnvollen Kandidaten für Fälle eines spezifischen praktischen
70 Vgl. Ebd. 71 White 1982, S. 16. 72 Die meisten Kritiker Ryles übersehen an dieser Stelle aber häufig, dass jener durch die Prädikate „erworben“ und „mehrspurig“ bereits eine erste Spezifizierung vornimmt und an zahlreichen Beispielen erläutert (siehe Abschnitt 1.3.1).
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Wissens zu sein. Sie stellen entweder Tätigkeiten dar, deren Erfolg nicht wirklich in der Hand des Subjekts liegt (100 m in genau 10,0 s zu laufen), weil sie zu feinkörnig individuiert sind, oder aber Tätigkeiten, deren erfolgreiche Ausführung zwar erreichbar, aber nicht für die Diskussion um praktisches Wissen relevant ist: Wenn man auf Martins Fähigkeit verweist, 50 Liegestützen hintereinander auszuführen, so betont man zum einen, dass Martin überhaupt Liegestützen ausführen kann, und zum anderen, dass er dies in einer besonderen Weise – mit einer beeindruckenden Ausdauer, Kraft oder Geschwindigkeit – tun kann; die Fähigkeit, ausgerechnet 50 Liegestützen hintereinander auszuführen, wird hierbei aber für gewöhnlich nicht als relevante Fähigkeit herausgestellt.73 Allerdings stellt dieser Einwand keineswegs ein Totschlagargument gegen die Ryle’sche Analyse dar: Nur die naive Gleichsetzung, nicht aber die Möglichkeit einer Explikation von knowing how über eine Klasse von praktischen Fähigkeiten wird zurückgewiesen. Man könnte einwenden, Ryle habe nicht beachtet, dass eine Spezifierung und Individuierung von denjenigen Fähigkeiten notwendig ist, die mit knowing how gleichgesetzt werden sollen, um eine überzeugende Analyse praktischen Wissens bereitzustellen. Ein Versuch, über diese Maßnahmen Ryles Analyse gegen solche Beispiele zu immunisieren, soll hier nicht vorgenommen werden; wesentliche Überlegungen zu einer Analyse praktischen Wissens durch Fähigkeiten erfolgen im dritten Kapitel. Für diesen Abschnitt war es ausreichend zu zeigen, dass die angebrachten Gegenbeispiele zwar wichtige Kritikpunkte an der Ryle’schen Analyse aufzeigen, diese aber nicht im Allgemeinen zurückweisen. Wir können als Ergebnis dieses Abschnitts festhalten, dass die Argumente, die gegen Ryles dispositionale Analyse von knowing how vorgebracht werden, wichtige mit dieser Analyse verbundene Problemfelder aufdecken: Erstens die Unterbestimmtheit von „knowing how“- bzw. „wissen,wie“-Sätzen, und zweitens die Notwendigkeit einer Spezifizierung und angemessenen Individuierung derjenigen Fähigkeiten, über die praktisches Wissen expliziert werden soll. Ein überzeugendes Argument dafür, dass Ryles Analyse pauschal abzulehnen ist, wird jedoch nicht vorgebracht. Dass „knowing how“ in einem bestimmten Kontext auf praktische Fähigkeiten hinweist, scheint weiterhin plausibel zu sein, auch wenn die kritischen Einwände darauf hindeuten, dass noch einige
73 Bereits David Carr hat darauf hingewiesen, dass die Ryle’sche Analyse einer Spezifierung des Fähigkeitsbegriffs bedarf (vgl. Carr 1979, S. 394ff.). Eine differenzierte Übersicht über verschiedene Bedeutungen und Individuierungen von Fähigkeiten wird beispielsweise im Rahmen der Frage nach willentlichen Handlungen von Anthony Kenny gegeben (vgl. Kenny 1975). Alfred Mele versucht, einige Fähigkeiten hinsichtlich ihrer Anforderungen an das Subjekt und der Reliabilität des Erfolgs zu unterscheiden (vgl. Mele 2003).
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explikationstheoretische Schritte unternommen werden müssen, damit sich eine dispositionale Analyse von knowing how als erfolgreich erweist. Die Positionierung im Bezug auf Ryles Ansatz spaltet die Explikationsversuche der aktuellen Debatte in zwei Strömungen auf, die praktisches Wissen jeweils völlig unterschiedlich bestimmen: Zum einen liegen mit intellektualistischen Explikationsversuchen solche vor, die Ryles Position kategorisch ablehnen und praktisches Wissen als eine Form propositionalen Wissens zu erklären und in ein intellektualistisches Bild zu integrieren suchen. Demgegenüber stehen anti-intellektualistische Explikationen, die Ryles These im Kern akzeptieren, aber in unterschiedlicher Art und Weise ergänzen und modifizieren.
1.4.2.4 Intellektualistische Explikationen Mit der von Ryle attackierten intellektualistischen Legende wurde bereits eine paradigmatische intellektualistische Explikation vorgestellt, die intelligente Handlungen auf das vorangestellte Formulieren oder Nachdenken über Propositionen zurückführt und sich als wenig überzeugend herausstellt. In jüngerer Zeit wurden komplexere, ausgefeiltere intellektualistische Explikationen entwickelt, die von dem problematischen Modell intelligenter Handlungen, das der Legende zugrunde liegt, wesentlich abweichen. Mit den Ansätzen von Jason Stanley und Timothy Williamson sowie von Zoltán Dienes und Josef Perner werde ich zwei einschlägige Positionen vorstellen, wobei die erste im Rahmen der philosophischen Diskussion entwickelt wurde und die zweite aus der Psychologie stammt. Stanley und Williamson stellen eine Explikation von knowing how vor, die durch folgendes Beispiel erläutert werden kann: Angenommen, Peter schaut Paul beim Gitarrespielen zu. In diesem Fall würden Stanley und Williamson behaupten, dass Peter sich durch diese Beobachtung ein propositionales Wissen aneignen kann, das sich auf dieselben Propositionen bezieht wie Pauls: Es ist das Wissen, dass Pauls Fingerbewegungen eine Art und Weise beschreiben, wie man Gitarre spielt. Für den wesentlichen Unterschied zwischen Pauls und Peters Wissen machen Stanley und Williamson verschiedene „modes of presentation“74 der Propositionen verantwortlich: Im Fall von Peters Wissen liegt die Proposition in einem demonstrativen Modus vor, bei Pauls Wissen hingegen in
74 Als geeignete Übersetzung von „mode of presentation“ erscheint hier der von Gottlob Frege geprägte Begriff „Art des Gegebenseins“ (Frege 1892, S. 41; vgl. auch Newen & Schrenk 2008, S. 23f.). Da sich Stanley und Williamson jedoch explizit nicht auf eine Frege’sche Auffassung von Propositionen festlegen und damit eine angemessene Texttreue bewahrt wird, soll im Folgenden auf eine Übersetzung des Begriffs verzichtet werden.
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einem so genannten „practical mode of presentation“.75 Stanley und Williamson sehen folglich von der chronologischen Ordnung intelligenter Handlungen der intellektualistischen Legende ab, auch wenn sie knowing how als eine „species of knowing that“ definieren.76 Es soll sich um ein propositionales Wissen handeln, das in einer speziellen Art und Weise vorliegt, und ebendiese soll der practical mode of presentation erklären. Die größte Herausforderung für Stanley und Williamson besteht darin, dass sie erklären müssen, welche Merkmale des propositionalen Wissens, das sie ihrer Explikation für knowing how zugrunde legen, die Besonderheiten praktischen Wissens gegenüber anderen propositionalen Wissensformen erklären können. Genau das, so wird sich in Abschnitt 1.4.3 zeigen, leistet aber ihr Ansatz nicht; er liefert keinen befriedigenden Erklärungswert dafür, warum im angeführten Beispiel zwischen Peters und Pauls kognitiven Einstellungen zum Gitarrespielen ein so wesentlicher Unterschied besteht – Paul kann schlichtweg Gitarre spielen und Peter nicht. Da die Explikation, die Stanley und Williamson für knowing how vorschlagen, wesentlich an ein Reduktionsargument geknüpft ist, soll eine ausführliche Kritik ihres Ansatzes später erfolgen. Eine andere intellektualistische Explikation praktischer Wissensformen wird von den beiden Psychologen Dienes und Perner vorgelegt, die das Begriffspaar „implizit“/„explizit“ als Grundlage für die Unterscheidung praktischer und theoretischer Wissensformen wählen. Ausgehend von Jerry Fodors so genannter „repräsentationalistischer Theorie des Geistes“77 entwickeln die beiden Autoren einen allgemeinen Begriff von Wissen als propositionale Einstellung, die wesentlich über das explizite bzw. implizite Vorliegen von Repräsentationen charakterisisert ist. Die der Theorie zugrunde liegende Idee ist die, dass Wissen in Abhängigkeit von den Aspekten, die explizit repräsentiert werden, und denjenigen, die implizit verbleiben, variieren kann, und sich somit verschiedene Formen des Wissens ausbilden.78 Die ihrer Theorie zugrunde liegende Methode erläutern Dienes und Perner anhand eines Beispiels. Der Satz „Peter weiß, dass da eine Katze ist“ besteht aus drei wesentlichen Komponenten, die den Ausgangspunkt der differenzierten Unterscheidung von implizitem und explizitem Wissen bilden sollen: aus einer Person bzw. einem Träger der propositionalen Einstellung („Peter“), aus einer Proposition („Da ist eine Katze“) und aus einer Relation zwischen Person und Proposition („Wissen“). Fodors repräsentationalistischer Theorie des Geistes zu-
75 76 77 78
Vgl. Stanley & Williamson 2001, S. 429. Vgl. Ebd., S. 411. Vgl. Fodor 1975, 1981, 1987 und 1998. Siehe außerdem Abschnitt 1.4.3.1 sowie 1.4.4. Vgl. Dienes & Perner 1999, S. 736 ff.
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folge ist die Umsetzung solchen Wissens durch folgenden Ablauf charakterisiert: Die Proposition wird repräsentiert, wobei Wissen durch seine funktionale Rolle charakterisiert wird. Mit anderen Worten: Die Repräsentation „Da ist eine Katze“ konstituiert Wissen, wenn sie in einer so genannten „Wissensbox“ („knowledge box“) gespeichert wird. Diese Repräsentation wird dann als Reflexion über einen bestimmten Zustand der Welt verwendet, wenn sie beispielsweise als nicht-existenter, aber anstrebenswerter Zustand in einer so genannten „Zielbox“ („goal box“) implementiert ist und Handlungsziele konstituiert. In diesem Fall können wir gemäß der Autoren behaupten, dass der Inhalt des Wissens explizit ist, weil er durch relevante repräsentationale Unterscheidungen charakterisiert wird. Über die Betrachtung der jeweiligen Komponenten des Satzes „S weiß, dass p“ entwerfen Dienes und Perner eine differenzierte Theorie impliziten und expliziten Wissens, die nicht streng dichotom ist, sondern verschiedene Grade an Explizit- bzw. Implizitheit zulässt. Auf der Grundlage der soeben erläuterten drei Konstituenten – Gehalt einer Proposition, propositionale Einstellung und Träger der Einstellung – lassen sich die jeweiligen Grade der Explizitheit benennen: In einer ersten Stufe soll Peter schlicht den Gehalt („dass da eine Katze ist“) explizit, aber sowohl die propositionale Einstellung („wissen“) als auch den Träger der Einstellung („Peter“) implizit repräsentieren.79 Zudem kann Peter in einer zweiten Stufe der Explizitheit sowohl den Gehalt als auch die propositionale Einstellung explizit repräsentieren; die dritte Stufe, die vollständige Explizitheit, wird durch die explizite Repräsentation aller drei Bestandteile – Gehalt, Einstellung und Träger der Einstellung – realisiert. Auch diese intellektualistische Explikation impliziten Wissens ist mit einigen Problem behaftet.80 Wie bei Stanley und Williamson steht hierbei der Erklärungswert der Theorie im Vordergrund: Dienes und Perner stützen sich für die Erklärung praktischen Wissens auf implizit verbleibende Aspekte von repräsentierten Satzstrukturen. Hierbei werden aber die Besonderheiten praktischen Wissens gegenüber anderen Formen des Wissens nicht ersichtlich. So wendet etwa Ingar Brinck ein, dass dem Konzept eines nicht-begrifflichen Gehalts, das
79 Hierbei ist anzumerken, dass Dienes und Perner eine weitere Abstufung vornehmen, indem sie den Gehalt einer Proposition in vier Kernbestandteile – (1) Eigenschaft, (2) Individuum, (3) Zuschreibung der Eigenschaft an das Individuum sowie (4) temporaler Kontext und Faktizität – unterteilen. Auf der Grundlage dieser Konstituenten ist eine graduelle Explizitheit des Gehalts möglich. Allerdings können die Konstituenten nicht beliebig unabhängig voneinander explizit gemacht werden; die Explizitheit ist vielmehr durch eine hierarchische Struktur bestimmt (vgl. hierzu Dienes & Perner 1999, S. 737 ff.). 80 Vgl. hierzu auch Jung & Newen 2011, S. 91 f.
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sich seit den letzten Jahrzehnten in der Philosophie des Geistes und der Psychologie immer stärker durchsetzt, innerhalb des Modells von Dienes und Perner nicht gebührend Rechnung getragen wird.81 An dieser Stelle wird zudem etwas deutlich, auf das ich bereits bei der Diskussion der Theorie Polanyis hingewiesen habe: Dienes und Perner nehmen zwar auf den von Polanyi eingeführten Begriff des impliziten Wissens Bezug, verwenden ihn aber in einer anderen Weise als jener. Für Polanyi ist implizites Wissen prinzipiell nicht explizierbar und verschließt sich einer Beschreibung durch das von Dienes und Perner vorgeschlagene Modell, da es immer auf das Wissenssubjekt bezogen bleibt. An den beiden vorgestellten intellektualistischen Explikationen zeigt sich eine allgemeine Herausforderung für den Intellektualisten: Er muss die spezifischen Merkmale und Besonderheiten, die praktisches Wissen gegenüber verbalisierbarem Wissen aufweist, angemessen erklären können. So sind die Autoren mit der grundlegenden Kritik konfrontiert, dass nicht aufgezeigt wird, welches propositionale Wissen die enge Verbindung zwischen implizitem bzw. praktischem Wissen und dem Verfügen über praktische Fähigkeiten zu erklären vermag. Daher bleibt auch die Skepsis begründet, dass es hier eine unüberwindbare Lücke gibt, die der Intellektualismus nicht zu schließen vermag. Beide aufgezeigten Strategien sind zudem mit schwerwiegenden Problemen behaftet, die die Frage nach der methodischen Grundlage der Analyse praktischen oder impliziten Wissens betreffen. So ist es etwa fraglich, ob die von Dienes und Perner benannten Satzstrukturen als Grundlage für die Bestimmung von Wissensformen dienen können, stützen sie sich doch auf die grammatische Struktur nur einer natürlichen Sprache (das Englische).82 Auch Stanley und Williamson entwickeln ihren Ansatz auf der Grundlage einer linguistischen Analyse von englischen Sätzen, beschränken sich in ihrer Betrachtung also auch auf eine Sprache. Die Verallgemeinerung, die von diesem Standpunkt aus vorgenommen wird, ist jedenfalls nicht ohne weiteres gerechtfertigt.
1.4.2.5 Anti-intellektualistische Explikationen Die meisten zeitgenössischen anti-intellektualistischen Positionen fassen Wissen im Ryle’schen Sinne als Fähigkeit oder Disposition auf, wobei allerdings die jeweilige Explikation von „Fähigkeit“ einerseits und die Reichweite praktischen Wissens andererseits – die Frage, welche Fähigkeiten darunter genau zu subsu81 Vgl. Brinck 1999, S. 760f. Die Vorstellung eines nicht-begrifflichen Gehalts werde ich im dritten Kapitel ausführlicher diskutieren. 82 Vgl. hierzu die kritische Beleuchtung der methodologischen Kontroversen in Abschnitt 1.4.4.
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mieren sind – Streitfragen unter Anti-Intellektualisten darstellen. Ich möchte hier beispielhaft drei Versuche auswählen, die eine Spezifierung des Begriffs des praktischen Wissens anstreben, um grundlegende Probleme für anti-intellektualistische Positionen aufzuzeigen. Eine erste Frage, vor die anti-intellektualistische Positionen gestellt sind, betrifft die Klasse der Fähigkeiten, die unter den Begriff des praktischen Wissens fallen. Wir haben bereits gesehen, dass der Begriff der Fähigkeit auf sehr viele unterschiedliche Tätigkeiten verweist: Einigkeit herrscht darüber, dass nur diejenigen Tätigkeiten mit einem entsprechenden Wissen verbunden sind, die wir intentional ausführen und über die wir ein gewisses Maß an Kontrolle haben. Garry Young fasst die Menge aller Fähigkeiten, die ein praktisches Wissen konstituieren, sehr weit, indem er schlicht die erfolgreiche Ausführung jeder intentionalen Tätigkeit darunter fasst.83 Hierbei müssen die Fähigkeiten weder eine Regelkonformität aufweisen noch in irgendeiner Weise begründet sein. Auch der Begriff der Intentionalität ist für Young nicht nur an Tätigkeiten gebunden, die wir bewusst anstoßen und ausführen. Auch eine Reihe sensomotorischer Bewegungsabläufe, die wir unbewusst verrichten, fallen darunter. Sie unterscheiden sich laut Young jedoch von bloßen mechanischen Reaktionen oder Reflexen dadurch, dass sie in eine Art „übergeordnetes intentionales Projekt“ eingebunden sind: Wenn ich beispielsweise einen Tee koche, so sind viele meiner Bewegungen nicht bewusst intendiert, da es sich um eine sehr vertraute, automatisierte Tätigkeit handelt. Dennoch können diese Bewegungen in einem größeren Zusammenhang betrachtet werden; qua ihrer Zugehörigkeit zu meiner absichtlichen Handlung des Tee-Kochens sind sie gemäß Young als intentional aufzufassen.84 Patricia Hanna spricht sich hingegen für eine eingeschränkte Menge an Tätigkeiten aus, die mit praktischem Wissen korrespondieren: Sie plädiert dafür, dass nur diejenigen Fertigkeiten zu betrachten sind, die mit Regeln oder Kriterien assoziiert sind, die jeweils richtig (d.h. regelkonform) oder aber falsch ausgeführt werden, d.h. die entsprechenden Regeln verletzten.85 Diese Restriktion erläutert Hanna über das Beispiel des Schwimmens: In einem sehr schwachen Sinne ist mit der Aussage, jemand habe die Fähigkeit zu schwimmen, gemeint, dass er sich schlicht „über Wasser halten“ kann. In einer anspruchsvolleren Auslegung wird hingegen darauf verwiesen, dass er einen bestimmten
83 Vgl. Young 2004, S. 40f. 84 Wie diese Intentionalitätsbedingung ausbuchstabiert werden kann, soll im dritten Kapitel genauer beleuchtet werden. Hier werde ich auch auf den Begriff des übergeordneten intentionalen Projekts zurückkommen. 85 Vgl. Hanna 2006, S. 272f.
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Schwimmstil, beispielsweise Brust-, Kraul- oder Schmetterlingsstil, beherrscht. Hanna zufolge ist es nur sinnvoll, letztere Fähigkeiten als genuine Fälle praktischen Wissens herauszustellen, da im ersten Fall eine notwendige Regelkonformität fehlt. Hanna geht hierbei, ebenso wie Ryle, davon aus, dass nicht immer ein explizites Wissen über diese Regeln vorliegen muss. Einige Fertigkeiten könnten ohne die Forderung, dass propositionales Wissen von den Regeln beherrscht wird, erlernt werden. Für andere wiederum, für „intellektuelle“ Fähigkeiten, seien die Regeln so konstitutiv, dass die Handelnden sie explizit beherrschen müssten.86 Eine andere Weise, die Menge der für praktisches Wissen relevanten Fähigkeiten einzuschränken, kann durch folgende Überlegung motiviert werden: Manche Tätigkeiten führen wir zwar erfolgreich aus, aber der Erfolg tritt hierbei zufällig ein. Fälle von Anfängerglück drücken einen solchen eher zufälligen Erfolg aus: Wenn ich beispielsweise bei meinem ersten Versuch einen Golfball versenke, so habe ich zwar eine erfolgreiche Tätigkeit ausgeführt. Dennoch würde man mir die Fähigkeit, Golf zu spielen, wohl kaum zuschreiben, da ich zum ersten Mal einen Golfschläger in der Hand halte und weder über Kenntnisse der Technik des Golfspielens noch über praktische Erfahrungen verfüge. Vor diesem Hintergrund argumentiert Katherine Hawley dafür, dass die Fähigkeiten, die wir mit einem praktischen Wissen in Verbindung bringen, in irgendeiner Weise begründet sein müssen.87 Diese Forderung kann in Analogie zur Rechtfertigungsbedingung aufgefasst werden, die an propositionales Wissen gestellt wird: Fälle, in denen wir nur zufällig erfolgreich handeln, sollen aus der Klasse des praktischen Wissens ausgeschlossen werden. Hawley definiert praktisches Wissen als „erfolgreiches Handeln plus Garantie“ („successful action plus warrant“), wobei diese Garantie kontrafaktisch ausgelegt wird.88 Die Handelnden sollen in allen relevanten möglichen Welten fähig sein, die entsprechenden Tätigkeiten auszuüben.89 An den hier angeführten Explikationsversuchen spiegelt sich ein für antiintellektualistische Positionen allgemeines Problem wider: Wenn alle Tätigkeiten und Körperbewegungen unter praktisches Wissen gefasst werden, ergibt sich eine äußerst vage und wenig fruchtbare Explikation. Daher stellen alle Autoren bestimmte normative Anforderungen an Fähigkeiten, damit sie als praktisches Wissen gelten können. Diese Anforderungen werden jeweils unter-
86 Vgl. Ebd. 87 Vgl. Hawley 2003, S. 19ff. 88 Vgl. Ebd. Hawleys Analyse weist viele Parallelen zu Robert Nozicks „truth-tracking“-Analyse auf. Vgl. hierzu auch Abschnitt 2.3.4. 89 Den Rechtfertigungsbegriff werde ich im zweiten Kapitel ausführlich diskutieren.
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schiedlich ausbuchstabiert. Anti-intellektualistische Ansätze sind stets mit dem in Abschnitt 1.2.2 aufgezeigten Argument der Differenz konfrontiert: Sie müssen erklären, welche Parallelen praktisches Wissen zu propositionalem Wissen aufweist, um zu verdeutlichen, wieso sie überhaupt ein Phänomen ins Auge fassen, das für die Erkenntnistheorie bedeutsam ist und die Bezeichnung „Wissen“ verdient.
1.4.2.6 Herausforderungen für Intellektualisten und Anti-Intellektualisten Aus der Betrachtung einiger intellektualistischer und anti-intellektualistischer Explikationen praktischen Wissens können wir zentrale Probleme und Herausforderungen herausstellen, mit denen die jeweiligen Explikationsvorschläge im Allgemeinen konfrontiert sind. Intellektualistische Explikationen können zwar für ihre Analyse des praktischen Wissens auf eine etablierte Wissensform (propositionales Wissen) zurückgreifen, sind aber vor die Schwierigkeit gestellt, die Eigenheiten, die praktische Wissensformen gegenüber theoretischen, verbalisierbaren Wissensformen aufweisen, plausibel zu machen. Für einige Fälle praktischen Wissens scheinen intellektualistische Explikationen sehr nahe liegend: dann, wenn Handlungen im Zentrum stehen, die stark regelgeleitet und formalisiert sind und deren Ausführung wenig Übung und motorisches Geschick erfordert. Dennoch bleiben diese Positionen mit schwerwiegenden Problemen behaftet: Erstens lässt sich von der Tatsache, dass ein Subjekt über propositionales Wissen bezüglich einer Tätigkeit φ verfügt, nicht ableiten, dass dieses Subjekt auch imstande ist, φ auszuführen – dass ihm also relevantes praktisches Wissen zugesprochen werden kann. Es scheinen schlicht viele Alltagsbeispiele gegen die Vorstellung zu sprechen, dass propositionales Wissen praktische Handlungserfolge impliziert. Wir haben gesehen, dass schon Ryle diesen Einwand gegen intellektualistische Positionen anbringt und eine unvermeidbare Wissen-Handlungs-Lücke für intellektualistische Positionen diagnostiziert. Zweitens gibt es einige basale oder eingespielte bzw. automatisierte Tätigkeiten, die wir „einfach so“ – ohne Rückgriff auf bewusste Informationen oder Regelwissen – ausführen können. In einigen Fällen scheint also ein Handlungserfolg überhaupt nicht von propositionalem Wissen abzuhängen. Nicht einmal aus der Perspektive des Beobachters können der Handlung die ihr zugrunde liegenden Regeln oder Kriterien zugeordnet werden. Dem Intellektualisten verbleiben als Antwort auf diese beiden Probleme zwei Strategien: Entweder er behauptet, dass die Ausführung einer Fähigkeit selbst nicht als genuine Wissensform aufzufassen ist, sondern nur das entsprechende propositionale Wissen über die Regeln, welche die jeweilige Tätigkeit charakterisieren. Oder aber er nimmt eine Ausweitung seines Ansatzes
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vor, indem er propositionales Wissen nicht ausschließlich als verbalisierbares, explizites Wissen auffasst, sondern auch implizite Formen propositionalen Wissens postuliert und praktische Wissensformen auf ein solches Wissen reduziert. Allerdings ist er dann wiederum vor die Herausforderung gestellt, einen überzeugenden Erklärungswert für praktische Wissensformen liefern zu müssen. Anti-intellektualistische Explikationen sind hingegen vorwiegend mit dem Problem behaftet, dass sie eine praktische Wissensform zuallererst etablieren und für die Erkenntnistheorie fruchtbar machen müssen. Sie müssen Argumente dafür liefern, warum praktische Wissensformen von erkenntnistheoretischem Interesse sind und somit eine beachtenswerte Ergänzung zu propositionalem Wissen darstellen. Darüber hinaus sind sie mit der Frage konfrontiert, wie praktische Wissensformen angemessen expliziert und von anderen Verhaltensweisen, die nicht mit der Bezeichnung „Wissen“ bedacht werden sollen – beispielsweise von mechanischen Reaktionen und Reflexen –, abgegrenzt werden.
1.4.3 Reduktionskontroversen In diesem Abschnitt werde ich die zentrale Frage in den Mittelpunkt stellen, ob praktisches Wissen auf propositionales reduzierbar ist oder vice versa. Den Antworten auf diese Frage liegen allerdings häufig unterschiedliche Vorstellungen darüber zugrunde, wie eine solche Reduktion genau zu verstehen ist. Zur Systematisierung der jeweiligen Argumente ist ein Blick auf die Unterscheidung verschiedener Reduktionsebenen hilfreich, die von Marcelo Dascal im Bezug auf die verschiedenartigen Antworten zu der Frage „In welcher Weise lässt sich ein Phänomen φ auf ein Phänomen ψ reduzieren?“ getroffen wird.90 Im Hinblick auf verschiedene Positionen zu einer anderen Debatte (derjenigen über das Verhältnis von Sprache und Denken) plädiert Dascal dafür, folgende Ebenen zu unterschieden: (1) die ontologische, (2) die epistemische und (3) die genetische Ebene. Innerhalb der Reduktionsdebatte bezüglich Sprache und Denken sei festzustellen, dass oftmals auf der Basis von Argumenten für die Reduktion auf einer bestimmten Ebene unzulässige Schlüsse auf eine Reduktion der anderen Ebene gezogen werden. Eine Unterscheidung der genannten Ebenen helfe dabei, solche Fehlschlüsse zu entlarven. Gemäß Dascal kreist die Debatte um Sprache und Denken im Wesentlichen um die Frage nach einem epistemischen Primat der einen oder anderen Entität. Es wird also häufig für eine so genannte „epistemische Reduktion“ argumen-
90 Vgl. Dascal 1995, S. 1024ff.
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tiert: für die These, dass eine Entität vollständig durch die andere erklärt werden kann. Neben dieser epistemischen Reduktionsthese gibt es zudem eine ontologische Reduktionsthese, durch die bezüglich zweier Phänomene φ und ψ behauptet wird, dass φ auf ψ ontologisch reduziert werden kann, d.h. dass φ überhaupt nicht eigenständig existiert (oder vice versa). Aussagen, welche die epistemische Ebene betreffen, sind gemäß Dascal von denjenigen der ontologischen Ebene zu trennen, denn die Ableitung einer ontologischen These aus ihrem epistemischen Gegenstück ist ungültig und sollte daher vermieden werden; dasselbe gilt übrigens auch mutatis mutandis.91 Es liegt folglich keine Hierarchie der Ebenen vor, die einen Schluss in eine bestimmte Richtung erlauben würde; vielmehr sind die Ebenen schlicht voneinander zu trennen. Ebenso sind auch genetische Reduktionsargumente von den beiden anderen abzugrenzen. Oftmals wird das Primat eines Phänomens als ein onto- bzw. phylogenetisches Thema aufgefasst. Hiermit wird für eine genetische Reduktion argumentiert. Im Falle von Sprache und Denken wird dies meist folgendermaßen ausbuchstabiert: Da beispielsweise Kleinkinder und Tiere über bestimmte Denkprozesse verfügen, sich aber nicht sprachlich artikulieren können, wird behauptet, dass Denken einem früheren Stadium der onto -bzw. phylogenetischen Entwicklung zugeordnet werden kann als Sprache. Aus dieser Tatsache wird dann oftmals auf eine epistemische oder ontologische Reduktion geschlossen. Auch dieser Schluss erweist sich laut Dascal als unzulässig, da hierfür weitere Annahmen notwendig sind, die sich keineswegs als selbstverständlich erweisen, beispielsweise die Linearität der Evolution bzw. ontogenetischen Entwicklung.92 In der Debatte um praktische Wissensformen können wir neben den drei von Dascal genannten Unterscheidungen noch eine vierte Reduktionsdimension herausstellen, die „pädagogische“ genannt werden kann. Hierunter fallen Argumente, die für eine Reduktion der einen auf die andere Wissensform plädieren, weil erstere vollständig durch die zweite erlernt oder erworben werden könne. Ein Schluss von dieser pädagogischen Ebene auf eine der anderen erweist sich ebenso als unzulässig, da hierzu gezeigt werden müsste, dass diejenigen Wissensformen, die zum Erlernen notwendig sind, sich auch in der Manifestation einer Wissensform niederschlagen bzw. dass Wissensformen durch ihre Lernbedingungen vollständig erklärt werden können. Es bietet sich also an, folgende Reduktionsthesen, die bezüglich zweier Wissensformen φ und ψ getroffen werden, auseinanderzuhalten:
91 Vgl. Dascal 1995, S. 1025ff. 92 Vgl. Ebd.
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Ontologische Reduktionsthese: φ kann ontologisch auf ψ reduziert werden, existiert also nicht eigenständig (oder vice versa). Epistemische Reduktionsthese: φ kann vollständig durch ψ erklärt werden (oder vice versa). Genetische Reduktionsthese: φ kann onto- bzw. phylogenetisch auf ψ zurückgeführt werden (oder vice versa). Pädagogische Reduktionsthese: φ kann vollständig durch ψ erlernt werden (oder vice versa).
Im Folgenden werde ich die Reduktionsargumente jeweils auf diese Ebenen beziehen, hilft doch ihre Unterscheidung dabei, den Blick auf die wesentlichen Kernpunkte der Debatte zu richten. Wir werden sehen, dass insbesondere Argumente, die sich auf eine genetische oder pädagogische Ebene beziehen, unzulässigerweise zur Begründung von epistemischer oder ontologischer Reduktion herangezogen werden.
1.4.3.1 Intellektualistische Reduktionen Ein erstes intellektualistisches Reduktionsargument kann folgendermaßen motiviert werden: Wirft man einen Blick auf Sätze zur Beschreibung von Wissen, wie wir sie in Abschnitt 1.1 kurz beleuchtet haben, so könnte man zu der Behauptung gelangen, dass praktische Wissensformen schlicht deswegen auf propositionales Wissen reduziert werden können, weil eine geeignete Umformulierung von „wissen, wie“- oder „knowing how“-Sätzen in „wissen, dass“- oder „knowing that“-Konstruktionen auffindbar ist. Auch wenn auf den ersten Blick eine solche Umformulierung nicht möglich scheint, könnte sich dennoch herausstellen, dass eine genauere Analyse auf eine Transformation hinführt. Für ebendieses Argument, allerdings in einer höchst komplexen Form, sprechen sich Jason Stanley und Timothy Williamson aus. Sie argumentieren für eine ontologische Reduktion von knowing how auf knowing that, begründen ihr Argument aber im Wesentlichen durch eine epistemische Reduktion, die anhand alltagssprachlicher Sätze aufgezeigt werden kann. Die ontologische These Stanleys und Williamsons habe ich bereits kurz erläutert: Knowing how wird als ein Wissen über bestimmte erfolgreiche Handlungsweisen aufgefasst. Diese Handlungsweisen können in geeigneter Weise individuiert und objektiviert werden und sind somit in Analogie zu Sachverhalten über die Welt zu verstehen. Mein praktisches Wissen im Bezug auf das Fahrradfahren ist somit strukturell nicht von meinem Wissen verschieden, dass es in Münster tausende Fahrräder gibt.
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Die Grundidee des Reduktionsarguments von Stanley und Williamson können wir mit der folgenden These festhalten: Da die linguistische Analyse eines „knowing how“-Satzes einen „knowing that“-Satz liefert, ist knowing how auf knowing that reduzierbar.
Weil Stanley und Williamson eine äußerst einschlägige Position begründen, die den Angelpunkt der aktuellen Debatte darstellt, möchte ich an dieser Stelle eine detaillierte kritische Diskussion ihres Ansatzes vornehmen. Wie sieht das Argument von Stanley und Williamson nun aber im Detail aus?93 Sie stellen zunächst unterschiedliche Sätze ins Zentrum, die wir zur Zu- und Beschreibung von Wissen verwenden. Als paradigmatisches Beispiel für praktisches Wissen wählen sie den folgenden Satz:94 (1) Hannah knows how to ride a bicycle. Wenn wir Sätze wie (1) verwenden, schreiben wir Stanley und Williamson zufolge Hannah propositionales Wissen zu, auch wenn die entsprechende Proposition syntaktisch versteckt ist. Durch eine angemessene Analyse von Sätzen unter Berufung auf zeitgemäße Theorien der Semantik und Syntax95 können wir, so lautet das Argument, diese Proposition aufzudecken. Hierzu unterscheiden sie zunächst vier verschiedene Lesarten des Satzes (1):96 (a) (b) (c) (d)
Hannah knows how she ought to ride a bicycle. Hannah knows how one ought to ride a bicycle. Hannah knows how she could ride a bicycle. Hannah knows how one could ride a bicycle.
Da Satz (c) die paradigmatische Bedeutung des praktischen Wissens widerspiegelt, untersuchen Stanley und Williamson die Wahrheitsbedingung ebendieses Satzes, indem sie sich auf die Standardanalyse von Sätzen stützen, die so
93 Zu Darstellung und Kritik von Stanleys und Williamsons Theorie vergleiche auch Jung & Newen 2010, S. 119ff. 94 Ich werde die von Stanley und Williamson angeführten Sätze nicht ins Deutsche übersetzten, da es sich um eine linguistische Analyse handelt, für die nicht geklärt ist, ob sie sich eins-zu-eins in andere Sprachen übertragen lässt. Vgl. auch Abschnitt 1.4.4. 95 Stanley und Williamson beziehen sich hierbei wesentlich auf Karttunen 1977. 96 Vgl. Stanley & Williamson 2001, S. 425.
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genannte „abhängige Fragen“ („embedded questions“) enthalten, und gelangen schließlich zu folgender Analyse: „Hannah knows how to ride a bicycle“ is true iff. for some contextually relevant way w which is a way for Hannah to ride a bicycle, Hannah knows that w is a way for her to ride a bicycle.97
Aus der Tatsache, dass durch die semantische Analyse ein „knowing how“-Satz in einen „knowing-that“-Satz überführt wird, schließen Stanley und Williamson, dass es sich bei „knowing how“-Zuschreibungen stets um „knowing that“Zuschreibungen handelt. Allerdings ist ihre Analyse an diesem Punkt noch unvollständig. Folgender Einwand kann vorgebracht werden, den die beiden Autoren auch eigens diskutieren:98 Es sind Situationen vorstellbar, in welchen der Satz „Hannah knows how to ride a bicycle“ falsch ist, während jedoch die relevante Wahrheitsbedingung erfüllt ist, die Stanley und Williamson vorschlagen: Angenommen, Hannah weiß nicht, wie man Fahrrad fährt. Susan steht neben ihr, zeigt auf John, der mit seinem Fahrrad an beiden vorbeifährt und sagt: „This is a way for you to ride a bicycle“. Wenn wir akzeptieren, dass Johns Art des Fahrradfahrens tatsächlich eine mögliche, erfolgreiche Handlungsweise des Radfahrens für Hannah darstellt, dann weiß Hannah in diesem Fall, dass diese Art des Fahrradfahrens (die Bewegungsarten, die sie bei John beobachtet) eine für sie erfolgreiche und kontextrelevante Art und Weise des Fahrradfahrens darstellt. Dennoch würden wir ihr kein „echtes“ praktisches Wissen zuschreiben. Das liegt schlicht daran, dass Hannah allein durch Susans Instruktion das entsprechende relevante knowing how nicht erwirbt. Um diese Unstimmigkeit ihres Ansatzes aufzulösen, berufen sich Stanley und Williamson auf verschiedene modes of presentation, unter welchen Propositionen gewusst werden sollen.99 Für eine genauere Erklärung, wie solche modes of presentation hierbei die relevante argumentative Funktion einnehmen können, verweisen sie auf ein analoges Beispiel aus der Literatur der Indexikalität, das von John Perry entwickelt wurde.100 Stanley und Williamson erläutern die Grundidee Perrys über die folgenden beiden Sätze:
97 Stanley & Williamson 2001, S. 426; Hervorherbung d. Verf. 98 Vgl. Ebd., S. 427. 99 Vgl. hierzu auch Abschnitt 1.4.2.4. 100 Vgl. Perry 1979.
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(2) John believes that that man has burning pants. (3) John believes that he himself has burning pants. Obwohl beide „that“-Sätze dieselbe Proposition ausdrücken, wenn „that man“ sich auf John bezieht, haben sie dennoch unterschiedliche Wahrheitsbedingungen, da wir uns folgendes vorstellen können: John glaubt, dass die Hosen des Mannes, den er beobachtet – beispielsweise als gespiegelte Person in einem Fenster – brennen, ohne zu erkennen, dass er selbst es ist, der in Flammen steht. In diesem Fall ist Satz (2) offensichtlich wahr, während (3) falsch ist. Die Unterscheidung zwischen diesen beiden Sätzen wird über verschiedene modes of presentation der relevanten Propositionen erklärt: durch einen demonstrativen Modus in Satz (2) und einen erstpersonalen in Satz (3). Stanley und Williamson versuchen nun, die Überlegungen zu diesen beiden Sätzen auf ihr Hannah-Beispiel zu übertragen. Hierzu kontrastieren sie die folgenden beiden Sätze:101 (4) Hannah knows that that way [John’s way] to ride a bicycle is a way for her to ride a bicycle. (5) Hannah knows how to ride a bicycle. Hierbei soll mit Satz (5) Hannah das relevante praktische Wissen zugeschrieben werden, das Ausgangspunkt der Analyse ist. Nun behaupten Stanley und Williamson, dass der Unterschied zwischen (4) und (5) ebenso wie im Beispiel zur Indexikalität durch den Verweis auf unterschiedliche modes of presentation, in welchen die Proposition jeweils vorliegen, erläutert werden kann: zum einen durch einen demonstrativen in Satz (4), der demjenigen aus dem analogen Fall von John gleichzusetzen ist, und zum anderen durch einen so genannten „praktischen“ in Satz (5). Die Kernbetrachtung im Fall der Indexikalität, den Stanley und Williamson als Analogie heranziehen, ist folgende: Die Wahrheitsbedingungen eines Satzes, der sich durch einen indexikalischen Ausdruck auf einen mentalen Zustand bezieht, können nicht angemessen durch die semantische Standardanalyse charakterisiert werden. Der spezifische Bewusstseinszustand, der durch solch einen Satz ausgedrückt wird, kann nur dadurch erfasst werden, dass der kausalen Rolle indexikalischer Überzeugungen Rechnung getragen wird. Nur „Ich“-Gedanken, zusammengenommen mit relevanten Hintergrundüberzeugungen und -wünschen, können bestimmte Handlungen oder egozentrische Reaktionen verursa-
101 Vgl. Stanley & Williamson 2001, S. 428f.
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chen. Dieses Phänomen hat John Perry durch folgendes Beispiel beschrieben:102 Angenommen, Perry befindet sich im Supermarkt und hat versehentlich und unbemerkt eine beschädigte Zuckerpackung in seinen Einkaufswagen geladen. Plötzlich entdeckt er eine Zuckerspur auf dem Fußboden. Er hat nun die folgende Überzeugung: „Person x fährt eine beschädigte Zuckerpackung in ihrem Einkaufswagen herum“. Person x ist hierbei mit Perry identisch, ohne dass dieser es weiß. Solange Perry die Überzeugung in einem demonstrativen Modus repräsentiert, macht er sich auf die Suche nach dem Übeltäter, der die Zuckerberge auf dem Boden verteilt. Wenn er aber dieselbe Proposition in einem erstpersonalen Modus repräsentiert, also sich selbst als diejenige Person begreift, die eine Zuckerspur hinter sich verteilt, so schaut er in seinem eigenen Einkaufswagen nach, ob und wo sich die beschädigte Packung darin befindet. Modes of presentation im Bezug auf Objekte werden im Rahmen der Indexikalitäts-Debatte folglich eingeführt, um verschiedenen kausalen Rollen von Gedanken Rechnung zu tragen, die durch einen Objekt-basierten semantischen Gehalt (eine ausgedrückte Standardproposition) der jeweiligen Sätze nicht erfasst werden. Stanley und Williamson gestehen mit ihrer Strategie folglich ein, dass den mentalen Zuständen, die durch „knowing-how“-Sätze ausgedrückt werden, eine spezielle kausale Rolle zukommt.103 Da die Standardsemantik diese Rolle unberücksichtigt lässt, schlagen sie vor, eine neue Form des mode of presentation einzuführen, die den mentalen Zuständen des knowing how gerecht wird: den practical mode of presentation. Allerdings bleibt die Bestimmung dieses praktischen Modus über die Analogie zu einem erstpersonalen Modus unzureichend, was die folgenden drei Kritikpunkte verdeutlichen. Erstens: Falls die Redeweise von modes of presentation im Fall von Propositionen schlicht eine metaphorische Bezeichnung dafür ist, dass es verschiedene Formulierungen von Sätzen gibt, die den gleichen Inhalt ausdrücken, aber nicht dieselben mentalen Zustände beschreiben, so benötigen wir dennoch eine Explikation der kausalen Rolle eines practical mode of presentation, da in diesem Fall eine Analogie zum angeführten Beispiel aus der Indexikalitätstheorie fehlt. Der demonstrative Modus kann im Fall von Objekten grob durch eine perzeptuell-kausale Verbindung zwischen Subjekt und Objekt charakterisiert werden, wohingegen der erstpersonale Modus gewöhnlich dadurch bestimmt wird, dass er unmittelbare Selbstrepräsentationen einschließt, die spezifische Handlungen erzeugen: Durch diesen Modus werden Handlungen erzeugt, die in
102 Vgl. Perry 1979, S. 3f. 103 Vgl. Stanley & Williamson 2001, S. 429ff.
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anderen Fällen (etwa de re oder de dicto) nicht auftreten, obwohl sie den gleichen semantischen Gehalt ausdrücken. Zweitens: Stanley und Williamson versäumen es, diese fehlende Erklärung des practical mode of presentation nachzuliefern – und ebenjenes Versäumnis legt nahe, dass sie subtil auf Fähigkeiten Bezug nehmen und somit ihre eigene Strategie untergraben, da eine ihrer Hauptthesen in der Zurückweisung der Gleichsetzung von knowing how mit Fähigkeiten besteht.104 Dies lässt sich noch deutlicher aufzeigen, wenn man einen genaueren Blick in den Text wirft. Um praktische Arten des Gegebenseins zu erläutern, verweisen Stanley und Williamson auf das Vorliegen von bestimmten „komplexen dispositionalen Zuständen“ und behaupten: It is simply a feature of certain kinds of propositional knowledge that possession of it is related in complex ways to dispositional states. Recognizing this fact eliminates the need to postulate a distinctive kind of nonpropositional knowledge.105
In einem jüngeren Aufsatz bezieht sich Stanley zur Erläuterung des practical mode of presentation auf Gareth Evans, der darauf hingewiesen hat, dass indexikalische Gedanken an bestimmte komplexe Dispositionen gebunden sind.106 Der Verweis auf dispositionale Zustände bleibt im Rahmen der Position von Stanley und Williamson allerdings unbefriedigend: Da sie nicht genauer analysieren, was mit einer Relation zu diesen Zuständen im Falle von propositionalem Wissen gemeint ist, und da eine Explikation der kognitiven Phänomene ausbleibt, die dem praktischen Modus zugrunde liegen, erscheint es plausibel, dass diejenigen dispositionalen Zustände, auf die Stanley und Williamson sich hier berufen, ebensolche sind, die einem Subjekt zukommen, wenn es über eine praktische Fähigkeit verfügt. Dadurch scheint aber die Redeweise von einem „practical mode of presentation“ nicht mehr als ein „simply disguised talk about abilities“107 zu sein. Eine reduktive Analyse von knowing how auf knowing that, d.h. ein genuines epistemisches Reduktionsargument, könnte Stanley und Williamson nur dann gelingen, wenn die praktische Art des Gegebenseins ohne Bezugnahme auf praktische Fähigkeiten bzw. knowing how expliziert werden
104 Ich möchte hier daran erinnern, dass Stanley und Williamson die Gleichsetzung von knowing how mit praktischen Fähigkeiten über vermeintliche Gegenbeispiele zurückzuweisen versuchen. Vgl. hierzu Abschnitt 1.4.2.1. 105 Stanley & Williamson 2001, S. 430. 106 Vgl. Evans 1982, S. 168. 107 Rosefeldt 2004, S. 375.
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kann. Gerade dies wird aber aufgrund der vorhergegangen Überlegungen in beträchtliche Zweifel gezogen. Drittens: Auch andere Interpretationsversuche des practical mode of presentation führen nicht zum Erfolg. Wenn wir beispielsweise die Analogie, die Stanley und Williamson vorschlagen, wörtlich nehmen, ergibt sich folgendes Dilemma:108 In diesem Fall müsste Hannahs praktisches Wissen im Bezug auf das Fahrradfahren, das durch den Satz „Hannah knows how to ride a bicycle“ ausgedrückt wird, über einen erstpersonalen Modus der Proposition „that John’s way is a way for her to ride a bicycle“ charakterisiert werden. Hannahs Wissen ist in diesem Fall propositional. Ein solches Wissen ist wesentlich für die Handlungsmotivation des betreffenden Subjekts; dennoch muss es von praktischen Wissen im relevanten Sinne – von dem knowing how, das Stanley und Williamson zu erklären versuchen – unterschieden werden. Der erstpersonale Modus hilft uns zwar, bestimmte Arten propositionalen Wissens zu unterscheiden (erstpersonales versus drittpersonales); aber er hilft nicht zum Verständnis der Charakterisierung von Eigenschaften praktischen Wissens. Darüber hinaus entsteht durch die Strategie Stanleys und Williamsons ein tiefer greifendes Problem: Die relevante Proposition „that John’s way is a way for her to ride a bicycle“ stellt bereits eine erstpersonale Proposition dar, da sie durch die Bezugnahme auf „a way for her“ (was aus der Erste-Person-Perspektive mit „my way“ paraphrasiert werden kann) einen indexikalischen Term enthält. Was soll es aber heißen, über einen „firstperson mode of presentation“ einer Proposition zu verfügen, der wiederum einen „first-person mode of presentation“ einschließt? Es gibt zwei Arten, diese Aussage zu explizieren; beide untergraben die Strategie Stanleys und Williamsons. Gemäß einer ersten Lesart handelt es sich schlicht um eine redundante Redeweise. In diesem Fall kann die Wahrheitsbedingung durch die Bezugnahme auf Hannahs erstpersonalen Modus wiedergegeben werden: „John’s way is one of my ways to ride a bike“. Doch Hannah könnte über ein solches propositionales erstpersonales Wissen verfügen, ohne dass dies mit der entsprechenden Fähigkeit des Fahrradfahrens zusammenhinge – und dies führt genau auf das Problem zurück, welches Stanley und Williamson zu beheben versuchen. Diese Lesart zeigt also nur auf, dass es ein Verständnis des Satzes „Hannah knows how to ride a bicycle“ gibt, in dem Hannah über ein propositionales erstpersonales Wissen verfügt, das unabhängig von ihrer (möglichen) praktischen Fähigkeit des Fahrradfahrens ist.
108 Stanley und Williamson nehmen die Analogie nicht wörtlich und verfolgen daher auch nicht die aufgezeigte Strategie. Da diese Strategie allerdings einige zentrale Einblicke in die knowing how- Debatte gibt, soll sie hier dennoch dargelegt werden.
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Einer zweiten Lesart zufolge schließt der erstpersonale Modus der Proposition „that John’s way is a way for her to ride a bicycle“ eine praktische Fähigkeit ein, präziser gesprochen: der erstpersonale Modus charakterisiert die spezielle kausale Rolle, die bei der Manifestation der praktischen Fähigkeit involviert ist. Eine naheliegende Weise, dies zu explizieren, ist folgende: Der practical mode of presentation trägt dem Verfügen über eine Fähigkeit Rechnung – im Gegensatz zum bloßen Betrachten von Manifestationsarten dieser Fähigkeit. Aber auch diese Lesart führt in die Leere, da nicht deutlich werden kann, wie Hannahs vermeintliches propositionales Wissen mit der Manifestation der praktischen Fähigkeit zusammenhängt: Es bleibt eine offene Frage, welche Propositionen Hannah wissen muss, um über die Fähigkeit, Fahrrad zu fahren, zu verfügen. Wenn man sich die Wahrheitsbedingungen des Satzes „Hannah knows how to ride a bicycle“ ins Gedächtnis ruft („for some contextually relevant way w which is a way for Hannah to ride a bicycle, Hannah knows that w is a way for her to ride a bicycle“), so muss man an dieser Stelle festhalten, dass diese Analyse – selbst wenn sie die beste semantische Analyse des Satzes darstellen mag – nicht zum Verständnis der Beziehung zwischen dem vermeintlichen propositionalen Wissen und dem entsprechenden praktischen Wissen weiterhilft. Diejenigen Arten des Fahrradfahrens nämlich, von denen hier die Rede ist, könnten für die Frage nach dem Vorliegen der praktischen Fähigkeit völlig irrelevant sein: Hannah könnte die praktische Fähigkeit des Fahrradfahrens besitzen, auch wenn sie die verschiedenen erfolgreichen Handlungsweisen des Fahrradfahrens nicht differenzieren, verbalisieren oder sich vergegenwärtigen kann. Es ist folglich nicht einmal geklärt, aus welchen Gründen sich die Sätze (4) und (5) überhaupt auf dieselbe Proposition beziehen sollen. Stanley und Williamson setzen für diese Gleichsetzung die Annahme voraus, dass das Fahrradfahren mit identifizierbaren Handlungsweisen korrespondiert, die sowohl aus der Beobachtung abgelesen werden als auch durch eine praktische Tätigkeit manifestiert werden können. Genau diese Annahme ist aber höchst problematisch und wird von den Autoren nicht weiter begründet. Wir können folglich festhalten, dass das epistemische Reduktionsargument, das Stanley und Williamson anführen, unbefriedigend bleibt, da sie uns im Dunkeln darüber belassen, was unter einem practical mode of presentation, genau zu verstehen ist – und dieser Modus nimmt die Schlüsselfunktion für ihre Argumentation ein. Weder entwickeln die beiden Autoren eine überzeugende Analyse oder Charakterisierung dieses neu eingeführten Konzepts noch liefern sie uns anhand konkreter Beispiele etwas Greifbares, das diese Erklärungslücke zu verschließen vermag. Ein weiteres Reduktionsargument, das in den 1960er Jahren von Jerry Fodor vor dem Hintergrund der Debatte um die Künstliche-Intelligenz-Forschung ent-
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wickelt wurde, nimmt einen anderen Ausgangspunkt als die Theorie von Stanley und Williamson. Hier sind es nicht Sätze, die wir zur Zuschreibung von Wissen verwenden, sondern bestimmte Verhaltenserklärungen, die als Argumentationsbasis dienen. Wir haben bereits gesehen, dass sich Dienes und Perner im Rahmen ihrer intellektualistischen Explikation impliziten Wissens aus psychologischer Perspektive wesentlich auf Fodors repräsentationalistische Theorie des Geistes beziehen. Fodor selbst entwickelt sein epistemisches Reduktionsargument vor dem Hintergrund eines so genannten „Computer-Modells“ des Geistes. Er zeigt auf, warum wir praktisches oder implizites Wissen als propositionales Wissen auffassen sollen und liefert somit die philosophischen Hintergründe für Dienes’ und Perners Theorie. Seine Position kann durch die folgende These auf den Punkt gebracht werden: Da praktisches Wissen vollständig über die Bezugnahme auf implizites Wissen (tacit knowledge)109, ein unbewusstes propositionales Wissen, erklärt werden kann, ist praktisches Wissen auf propositionales reduzierbar.
Zur Entwicklung seines Arguments analysiert Fodor ein bestimmtes Erklärungsmodell für intelligente Handlungen, das er in einer sehr prägnanten Weise vor Augen führt: Here is the way we tie our shoes: There is a little man who lives in one’s head. The little man keeps a library. When one acts upon the intention to tie one’s shoes, the little man fetches down a volume entitled Tying One’s Shoes. The volume says such things as: „Take the left free end of the shoelace in the left hand. Cross the left free end of the shoelace over the right free end of the shoelace …, etc.“ When the little man reads the instruction „take the left free end of the shoelace in the left hand“, he pushes a button on a control panel. The button is marked „take the left free end of a shoelace in the left hand“. When depressed, it activated a series of wheels, cogs, levers, and hydraulic mechanisms. As a causal consequence of the functioning of these mechanisms, one’s left hand comes to seize the appropriate end of the shoelace. Similarly, mutatis mutandis, for the rest of the instructions. The instructions end with the word „end“. When the little man reads the word „end“, he returns the book of instructions to his library. That is the way we tie our shoes.110
109 Fodors Auffassung von implizitem Wissen weicht von der ursprünglichen Bedeutungsgebung durch Polanyi radikal ab (vgl. Abschnitt 1.3.2). Während Polanyi darunter ein nichtformalisierbares Wissen verstand, spielt für Fodor die Formalisierbarkeit impliziten Wissens eine entscheidende Rolle. 110 Fodor 1968, S. 627.
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Diese Erklärung, die scheinbar den Status einer Homunkulus-Erklärung aufweist, versucht Fodor zu entmystifizieren; er möchte aufzeigen, dass das angeführte Erklärungsmodell – wenn auch in einer weniger bildhaft ausgeschmückten Form – eine schlüssige und nicht-zirkuläre Explikation praktischen Wissens liefern kann. Hierzu stellt er zunächst die schlagenden Kritikpunkte an diesem Modell heraus: Der Einwand etwa, dass die Details des Handlungsablaufs durch das Modell nicht richtig wiedergegeben werden und die hydraulisch-mechanischen Regeln spezifiziert und ergänzt werden müssen, sowie der Verweis darauf, dass es sich bei Handlungen wie dem Schuhebinden um motorische Bewegungsabläufe enormer Komplexität handelt, die durch die Einfachheit des Modells nicht eingefangen werden können, sind gemäß Fodor weitestgehend von empirischem Interesse. Sie betreffen schließlich die Frage, welche empirischen Details für eine angemessene Erklärung vonnöten sind und die Abschätzung, ob deren Umsetzung nach dem aktuellen oder zukünftigen Stand der Forschung möglich ist.111 Von Seiten der Philosophie könne jedoch ein grundsätzlicher Einwand gegen die Methode des Erklärungsmodells erhoben werden – ein Zirkularitätseinwand: Für jeden einzelnen Handgriff, den der kleine Mann ausführt, könne man schließlich die Frage „Wie tut er dies?“ anbringen. Aber auch diesen Einwand hält Fodor für wenig bedrohlich, indem er darauf verweist, dass man von bestimmten „Elementarvorgängen“ ausgehen könne, Basishandlungen, für die die Frage nach der Art der Ausführung nicht mehr gestellt werden kann.112 Ein Erklärungsmodell, dass das Binden eines Schuhs ausschließlich über solche Elementarvorgänge des kleinen Mannes beschreibt, sei somit immun gegen diesen Einwand. Zur Einsicht, dass das vorgestellte Modell ein sinnvolles Erklärungsverfahren von intelligentem Handeln darstellt, gelangt man gemäß Fodor, wenn man zuallererst mit irreführenden Vorstellungen von intellektualistischen Theorien bricht. Modelle wie die intellektualistische Legende, welche voraussetzen, dass das betreffende Subjekt Regeln oder Maximen bezüglich der von ihm ausgeführten Handlung formulieren oder bewusst auf diese zurückgreifen könne, seien zwar zum Scheitern verurteilt; doch gebe es auch ausgefeiltere, klügere intellektualistische Modelle, die diese Voraussetzung nicht teilen, sondern vielmehr davon ausgehen, dass das handelnde Subjekt Regeln und Maximen schlicht anwendet, auch wenn sie ihm nicht bewusst zugänglich sind. Für ebendieses Phänomen stehe der terminus technicus „implizites Wissen“ („tacit knowledge“). Die Rechtfertigung des angeführten Erklärungsmo-
111 Vgl. Ebd., S. 627f. 112 Vgl. Ebd., S. 628f.
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dells hinge daher von der Frage ab, warum wir davon ausgehen können, dass intelligenten Handlungen eine unbewusste Regelanwendung zugrundeliegt. Damit es sich bei einer Handlung x um die Manifestation von impliziten Wissen handelt, muss gemäß Fodor die Frage „Wie führt man x aus?“, also die Frage nach Regeln oder Anleitungen für die erfolgreiche Ausführung von x, anwendbar sein. Wir sollen nun von dem Idealfall ausgehen, dass eine Maschine das Verhalten eines bestimmten Organismus optimal simuliert. Die Frage nach den Regeln für die Verhaltensweise der Maschine läuft laut Fodor auf eine Frage nach einer Art „kausalen Geschichte“ des Outputs der Maschine hinaus.113 Jene kausale Geschichte könne aber durch die Programmiersprache – durch Regeln und Kriterien in einer syntaktischen Struktur – hinreichend erklärt werden. Und da von einer idealen Simulation ausgegangen werde, sei diese satzhafte Struktur auch auf das implizite Wissen, das dem Verhalten des Organismus zugrunde liege, übertragbar: If machines and organisms can produce behaviors of the same type and if descriptions of machine computations in terms of the rules, instructions, etc., that they employ are true descriptions of the etiology of their output, then the principle that licences inferences from like effects to like causes must licence us to infer that the tacit knowledge of organisms is represented by the programs of the machines that simulate their behavior.114
Das intellektualistische Reduktionsargument von Fodor beruht somit auf dem wesentlichen Schluss von der Erklärung der dem Verhalten einer Maschine zugrunde liegenden Mechanismen – eine Erklärung, zu der wir Zugang haben – auf die Erklärung intelligenter Handlungen und Verhaltensweisen von Organismen. Ebendieser Schluss soll durch das Gedankenexperiment einer idealen Simulation des Verhaltens eines Organismus durch eine Maschine gerechtfertigt werden. Allerdings ist dieser inferentielle Übergang, der der Schlüssel für Fodors Argument darstellt, äußerst problematisch. So ist zum einen nicht ausreichend gerechtfertigt, wieso der Schluss von demselben Ergebnis – den Bewegungen von Organismus und Maschine – auf dieselben zugrunde liegenden Mechanismen gezogen werden darf.115 Zum anderen ist auch die Annahme eines impliziten propositionalen Regelwissens nicht unproblematisch, da diese mit der Frage konfrontiert ist, ob der beobachtete Organismus tatsächlich diese Regeln anwenden muss, oder ob sie nicht etwa aus der Außenperspektive zur Beschreibung seines Verhaltens eingeführt werden, damit dieses Verhalten greifbar und verständlich wird. Julius Moravcsik hat diesen Kritikpunkt prägnant in Worte gefasst:
113 Vgl. Ebd., S. 639. 114 Ebd., S. 640. 115 Vgl. hierzu auch Dreyfus 1971, S. 7ff.
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Under idealized conditions the principles of the mind correspond to some of the rules of mathematics, or language. From this it does not follow, however, that the mind must „know“ in some sense the rules or principles.116
Auf ebendiesen Kritikpunkt werde ich noch einmal im nächsten Abschnitt eingehen, wenn die methodologischen Kontroversen der aktuellen Debatte aufgezeigt werden. Bezüglich der beiden paradigmatischen intellektualistischen Reduktionsargumente von Stanley und Williamson einerseits und Fodor andererseits lässt sich folgendes festhalten: Beide entwickeln epistemische Reduktionsargumente, die jedoch ganz unterschiedliche Ausgangspunkte nehmen: Stanley und Williamson versuchen, knowing how auf der Grundlage einer linguistischen Analyse vollständig durch propositionales Wissen zu erklären, während Fodor im Rahmen des Computer-Modells des Geistes eine vollständige Erklärung von praktischem Wissen durch propositional strukturiertes, implizites Wissen abzugeben versucht. Gegen beide Argumente kann eingewandt werden, dass sie ihr Ziel verfehlen – sei es im Fall von Stanley und Williamson durch die unzureichende Spezifizierung des practical mode of presentation oder bei Fodors Analyse durch die ungerechtfertigte Schlussfolgerung auf die Beschaffenheit von Mechanismen, die Verhaltensweisen und Handlungen von Organismen zugrunde liegen. Dass beide Modelle keine überzeugenden Erklärungsmodelle für praktisches Wissen abgeben, nährt den berechtigten Zweifel daran, ob intellektualistische Reduktionen, egal welcher Form, erfolgreich sein können. Ein weiteres Reduktionsargument kann Snowdon zugeschrieben werden. Dieses Argument unterscheidet sich dadurch wesentlich von den beiden anderen, dass eine Einschränkung derjenigen Tätigkeiten vorgenommen wird, für welche die intellektualistische Reduktion geltend gemacht werden soll.117 Das Argument Snowdons kann mit der folgenden These zusammengefasst werden: Bei einigen Tätigkeiten liegt es „in der Natur der Sache“, dass sie auf propositionales Wissen reduzierbar sind. Wir benötigen für ihre Ausführung nur Faktenwissen.
Snowdon formuliert seine These ontologisch und liefert die folgende Begründung: It seems to me that there are clear enough cases where „knowing how to“ fairly obviously does reduce to, or consists in, „knowing that“. For example, I am thinking about a chess
116 Moravcsik 1979, S. 210. 117 Vgl. Snowdon 2003/04, S. 12.
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puzzle and, as we say, it dawned on me how to achieve mate in three. Surely, the onset of this knowledge consisted in my realising that moving the queen to D3, followed by moving the knight to … etc., will lead to mate in three. […] Again, S knows how to get from London to Swansea by train before midday. S’s knowing how to do that surely consists in knowing that one first catches the 7.30 a.m. train to Reading from Paddington, and then one … etc. Finally, if one knows how to insert footnotes using Word then they know that the way to insert footnotes is to click on Insert and then on Reference, and so on.118
Zweifelsohne ist Snowdon darin zuzustimmen, dass einige Tätigkeiten – wie etwa das von ihm genannte Lösen eines Schachrätsels – so strukturiert sind, dass propositionales Wissen eine notwendige Bedingung für das korrespondierende praktische Wissen darstellt. Fakten- und Regelwissen ist in diesen Fällen ausschlaggebend für den Handlungserfolg, der wenig Übung und motorisches Geschick erfordert. Allerdings ist die Reichweite der Überzeugungskraft des Arguments sehr begrenzt. Weder eine vollständige ontologische noch eine epistemische Reduktion können aus ihm abgeleitet werden: Es sind immer noch Fälle denkbar, in denen der Handlungserfolg trotz des entsprechenden propositionalen Wissens ausbleibt – etwa im Falle des Schachrätsels durch eine enorme Nervosität des Spielers. Höchstens eine pädagogische Reduktion einiger Tätigkeiten könnte anhand Snowdons Argumentation begründet werden: Einige Fähigkeiten, wie etwa das oben angeführte Fußnotensetzen in Word, können wir tatsächlich vollständig über explizites Regelwissen erlernen. Die Stoßrichtung von Snowdons Argument kann auch als Anlass dazu dienen, Tätigkeiten als Gegenstände praktischen Wissens zu kategorisieren. Grob gefasst könnte man diese Tätigkeiten in einem Spektrum anordnen, wobei dem einen Rand diejenigen zuzuordnen sind, die stark regelgeleitet sind und für deren erfolgreiche Ausführung propositionales Wissen notwendig ist, aber kaum Motorik und praktisches Training nötig ist. Der anderen Spektrumsseite sind hingegen paradigmatische sensomotorische Aktivitäten zuzuordnen, wie etwa Laufen oder Springen, die ohne praktische Übung und motorisches Geschick nicht ausgeführt werden können, aber kein explizites Regelwissen erfordern. In der Mitte des Spektrums ordnen sich all diejenigen Aktivitäten an, die auf beidem – Regelwissen und praktischer Übung – beruhen; hierzu sind so komplexe und schwierige Tätigkeiten wie eine Herzoperation zu zählen, die sowohl auf eine große Menge an medizinischem Faktenwissen als auch auf motorische Feinheiten, die oft auf jahrelanger Erfahrung beruhen, zurück greift. In diesem Licht betrachtet könnte zwar für einige Fähigkeiten durchaus eine pädagogische Reduktion begründet werden, doch längst nicht für alle prakti-
118 Ebd.; Hervorhebungen im Original.
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schen Wissensformen spielt propositionales Wissen bei dem Erlernen und bei der Vermittlung eine zentrale Rolle. Das zeigen auch Forschungsergebnisse aus der Lernpsychologie, die darauf hinweisen, dass nicht alle Formen praktischen Könnens durch explizite Regeln erlernt, sondern vollständig durch implizite Lernvorgänge erworben werden können.119
1.4.3.2 Anti-Intellektualistische Reduktionen Welche Argumente entwickeln nun die Opponenten der Intellektualisten und wie werden diese begründet? Für eine ontologische Reduktion propositionalen auf praktisches Wissen spricht sich John Hartland-Swann aus. Seine Kernthese kann mit den folgenden Worten zusammengefasst werden: Propositionales Wissen ist dispositional aufzufassen, d.h. es besteht in bestimmten praktischen Fähigkeiten. Daher kann es auf praktisches Wissen reduziert werden.
Hartland-Swanns Argument liegen folgende Überlegungen zugrunde: Die Tatsache etwa, dass die Erde eine Kugel ist, kann nur deswegen als Tatsache herausgestellt werden, weil bestimmte qualifizierte Fachspezialisten darüber „entschieden“ haben. Wir haben, so Hartland-Swanns These, keinen direkten Zugang zu Tatsachen außer durch Urteile, die auf der Grundlage bestimmter Belege („evidences“) gefällt werden. Alle empirischen Behauptungen, die nicht auf direkter Wahrnehmung beruhen, hängen somit gemäß Hartland-Swann von so genannten „Expertenentscheidungen“ ab, d.h. von dem Konsens einer Gruppe von Wissenschaftlern mit unseren vorherrschenden Entscheidungen und Urteilen. Wenn nun jemand weiß, dass p, lässt sich folgende Aussage treffen: Er hat auf der Grundlage bestimmter „Belege“ („evidences“) beurteilt, dass p, oder die Überzeugung eines anderen, dass p, angenommen. Die Proposition ist wahr, wenn sie mit der vorherrschenden Beurteilung der Fachspezialisten übereinstimmt. Auf diese Hintergrundüberlegungen stützt sich Hartland-Swanns Reduktionsargument: Wenn ein Subjekt S weiß, dass p, so manifestiert sich dieses Wissen in der Fähigkeit, p korrekt zu äußern; „korrekt“ meint hierbei übereinstimmend mit den ausschlaggebenden Belegen, die im jeweiligen Kontext als relevant und hinreichend für die Behauptung erachtet werden.120 Propositionales Wissen ist laut Hartland-Swann schlicht als Fähig-
119 Vgl. Cleeremans 1996 sowie Cleeremans, Destrebecqz & Boyer 1998. Siehe auch Abschnitt 3.4.6. 120 Vgl. Hartland-Swann 1958, S. 61ff.
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keit aufzufassen, die mit einem bestimmten praktischen Wissen (knowing how) korrespondiert.121 Allerdings ist dieses Argument nicht überzeugend. Zwar kann HartlandSwann zugestanden werden, dass ein dispositionaler Wissensbegriff schlicht die Notwendigkeit von bestimmten Fähigkeiten für das Verfügen von Wissen impliziert. Die Fähigkeiten, auf die Hartland-Swann propositionales Wissen reduzieren will, scheinen aber vielmehr allgemeine Hintergrundfähigkeiten zu sein, die dem Subjekt im Rahmen einer dispositionalen Wissenstheorie ohnehin zuzusprechen sind.122 Dass wir über bestimmte Fähigkeiten verfügen müssen, damit wir propositionales Wissen überhaupt haben können, spricht höchstens für eine genetische Reduktion propositionalen Wissens auf praktisches. Doch Argumente für eine tatsächliche Identifizierung von propositionalem mit praktischem Wissen erfordern eine zusätzliche Spezifizierung und Individuierung der Fähigkeiten, auf die propositionales Wissen jeweils reduziert werden soll. Und ebendiese liefert Hartland-Swann nicht. Ein ähnliches Argument für eine ontologische Reduktion von praktischem auf propositionales Wissen wird von Gregor Damschen vorgebracht. Es kann mit der folgenden These zusammengefasst werden: Da propositionales Wissen durch eine so genannte „Untersuchungshandlung“ gerechtfertigt wird, ist es auf praktisches Wissen reduzierbar.
Eine Reduktion ergibt sich für Damschen aus den folgenden beiden Prämissen, die er für gut begründet hält:123 (1) Wenn jemand in erfolgreicher und nicht-zufälliger Weise die intentionale Handlung F vollzieht, dann weiß er, wie man F-t. (2) Wenn jemand weiß, dass p, dann hat er in erfolgreicher und nicht zufälliger Weise untersucht, ob p oder ob nicht p. Durch Prämisse (2) wird hierbei ausgedrückt, dass für jede Instanz propositionalen Wissens eine so genannte „Untersuchungshandlung“ vonnöten
121 Vgl. Hartland-Swann 1956, S. 114. Ein ähnliches Argument wird in jüngerer Zeit von Stephen Hetherington vorgestellt (vgl. Hetherington 2008, inb. S. 316ff.). 122 Vgl. hierzu auch Rowland 1958, S. 380f. 123 Vgl. Damschen 2005, S. 292. An dieser Stelle ist anzumerken, dass Damschen in einem jüngeren Beitrag eine differenziertere Theorie über die Zusammenhänge zwischen praktischem und propositionalem Wissen vorstellt, die sich von der Position, auf die ich mich beziehe, unterscheidet (vgl. Damschen 2009, S. 278ff.).
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ist.124 Hierunter versteht Damschen eine intentionale Handlung, die wiederum aufgrund der Prämisse (1) nur ausgeführt werden kann, wenn sie auf einem bestimmten Wissen-wie beruht. Dies habe zur Folge, dass jedes Wissen-dass ein Wissen-wie voraussetzt. Aus dieser These folgert er folgende Reduktionsbehauptung über praktisches und propositionales Wissen: (3) Wissen-dass ist eine Unterart von Wissen-wie, bzw: Für alle Fälle x gilt: Wenn x ein Wissen-dass ist, dann ist x ein Wissen-wie. Zu dieser Argumentationslinie sind zwei Bemerkungen angebracht: Erstens handelt es sich offenbar um einen Schluss von einer schwachen Reduktionsbehauptung – „ist Bedingung für“ – auf eine vollständige Reduktion, ohne dass überzeugende Gründe für diesen Schluss angeführt werden. Es wird hier höchstens eine genetische Reduktion von Wissen-dass auf Wissen-wie begründet, nicht aber eine epistemische oder ontologische. Zweitens wird auch nicht hinreichend für diese schwache Reduktionsbehauptung argumentiert, stützt Damschen sich doch auf ein bestimmtes Verständnis von Rechtfertigung für propositionales Wissen, das keineswegs auf Konsens stößt.125 Insbesondere externalistische Wissensauffassungen stehen der Behauptung Damschens entgegen, da sie von einem Wissenssubjekt nicht fordern, es müsse eine solche Untersuchungshandlung durchlaufen, um Wissen zu haben. Und selbst wenn Konsens über eine internalistische Auffassung von Rechtfertigung bestünde, dann hätte Damschen nur aufgezeigt, dass es für jedes Wissen-dass ein entsprechendes Wissen-wie gibt (das die jeweilige, notwendige Untersuchungshandlung beschreibt), welches aber nicht mit dem Wissen-dass identisch sein muss. Eine Reduktion, ob ontologisch oder epistemisch, wird somit nicht begründet. Eine dritte anti-intellektualistische Reduktionsthese kann in Analogie zur Debatte um das Primat von Sprache oder Denken konstruiert und durch die folgende These ausgedrückt werden: Da praktisches Wissen sowohl phylo- als auch ontogenetisch in einem früheren Stadium auftritt als propositionales Wissen, kann letzteres auf erstes reduziert werden.
Diesem genetischen Reduktionsargument liegt die folgende Vorstellung zugrunde: Da schon Kleinkinder über praktisches Wissen verfügen, nicht aber über
124 Ein ähnliches Argument deutet auch Alva Noë an, indem er folgendes behauptet: „grasping propositions itself depends on know-how.“ (Noë 2005, S. 285). 125 Vgl. hierzu auch die Diskussion eines ähnlichen Arguments von Ryle in Abschnitt 1.3.1.
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propositionales, verbalisierbares Wissen, ist praktisches Wissen einem früheren Stadium der Entwicklung einzuordnen; deswegen kommt ihm ein Primat zu. Oder aber man beruft sich auf einige Tierarten, deren Verhalten auf praktische Wissensformen verweist, und behauptet, dass auch in der Evolutionsgeschichte ein solches Wissen sehr viel früher auftritt als ein theoretisches oder propositionales Wissen. Zwar ist es richtig, dass praktischen Wissensformen mit diesen Argumenten ein genetisches Primat zugesprochen werden kann. Allerdings unterliegt das Reduktionsargument einer so genannten „genetischen Fallibilität“, die bereits erläutert wurde: Von einer Priorität in der Evolution kann weder auf eine vollständige ontologische noch auf eine epistemische Reduktion geschlossen werden. Dafür müssten weitere wesentliche Hintergrundannahmen begründet werden.
1.4.4 Methodologische Kontroversen Bereits die Beleuchtung der Explikations- und Reduktionskontroversen machte einige zentrale methodologische Streitfragen erkennbar: Wir haben gesehen, dass die jeweiligen Mitstreiter der aktuellen Debatte unterschiedliche Ausgangspunkte und Vorgehensweisen für die Entwicklung ihrer Argumente heranziehen. Da der Versuch, praktisches Wissen zu analysieren und zu klassifizieren, zudem von vielen unterschiedlichen Wissenschaften unternommen wird, liegen methodologische Kontroversen gewissermaßen auf der Hand. Die von Stanley und Williamson begründete Position, die den Angelpunkt der aktuellen Debatte darstellt, verschreibt sich einer Methode, die auf große Widerstände stößt. Die Schlussfolgerung aus einer linguistischen Analyse von Sätzen, die wir zur Zu- und Beschreibung von Wissen verwenden, auf eine intellektualistische Explikation und Reduktion praktischer Wissensformen, kann aus methodologischer Sicht im Wesentlichen durch zwei Einwände angegriffen werden. Der erste und schwächere Einwand lautet, dass Stanley und Williamson ihre Analyse in einer einzigen natürlichen Sprache, dem Englischen, und damit auf einer sehr schmalen Basis vornehmen; für die Schlagkraft ihres Arguments wären aber sprachübergreifende Belege notwendig. Ian Rumfitt bringt diesen Einwand vor und äußert auf der Grundlage einiger Beispiele aus anderen natürlichen Sprachen wie dem Französischen, Griechischen, Lateinischen und Russischen berechtigte Zweifel, ob Stanleys und Williamsons Argument auch in diesen Sprachen durchführbar ist.126 Eine detaillierte sprachüber-
126 Vgl. Rumfitt 2003, S. 160ff. An dieser Stelle möchte ich anmerken, dass „wissen-wie“ im Deutschen häufig eine theoretischere Konnation aufweist als das englische „knowing how“.
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Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen
greifende Analyse ist Aufgabe der Linguistik und soll hier nicht vorgenommen werden. Vielmehr möchte ich den Blick auf einen zweiten, stärkeren Einwand richten: denjenigen, dass die von Stanley und Williamson vorgebrachte Analyse – selbst wenn sie dem ersten Einwand gerecht werden könnte – auf ein unzureichendes methodisches Fundament gestützt ist, da die Autoren die Sprache, mit der Wissen beschrieben und zugeschrieben wird, als Ausgangspunkt nehmen, nicht aber die Natur des Wissens selbst. Alva Noë beruft sich auf diesen Einwand, indem er Stanley und Williamson entgegenhält, eine „good old-fashioned Oxford philosophy (GOOP)“127 zu betreiben, die dem Thema praktischer Wissensformen schlicht nicht gerecht wird und die weder Ryles Ansatz erfolgreich zurückzuweisen noch einen überzeugenden positiven Ansatz über praktisches Wissen zu etablieren vermag: Ryle’s distinction is not a thesis about the sentences used to attribute propositional and practical knowledge respectively. It is a thesis about the nature of practical and propositional knowledge.128 […] That for which we seek an account is not our use of sentences. (Ryle was not a linguist and he was not an ordinary language philosopher!)129
Dieser Einwand entzieht Stanleys und Williamsons Ansatz tatsächlich wesentlich die Argumentationskraft. Als Auswegsmöglichkeit verbleibt den beiden Autoren entweder das Vorbringen eines Arguments dafür, dass die linguistische Methode entgegen dieses Einwands tatsächlich reliable Aussagen über die Natur des Wissens rechtfertigt – und es ist fraglich, ob dieses Argument möglich ist – oder der Verweis darauf, dass uns zur Analyse praktischer Wissensformen keine tauglichen Alternativen zur Verfügung stehen und somit Konkurrenzansätze mit demselben, wenn nicht gar mit schlimmeren Einwänden behaftet sind.130 Im Folgenden werde ich dafür argumentieren, dass überzeugendere Methoden zur Verfügung stehen. Zunächst ist aber noch anzumerken, dass der starke Einwand gegen Stanley und Williamson nicht mit der These einhergeht, dass Sprache überhaupt keine Hinweise auf die Natur praktischen und propositiona-
Aus diesem Grund habe ich weitestgehend auf eine Übersetzung der in der Debatte eingeführten Begriffe verzichtet. Die Argumente der englischsprachigen Diskussion lassen sich aufgrund der Übersetzungsverschiebungen nicht angemessen ins Deutsche übertragen. 127 Noë 2005, S. 279. 128 Ebd., S. 287. 129 Ebd., S. 289; Hervorhebungen im Original. 130 Eine solche Strategie scheint Stanley in einem jüngeren Aufsatz zu verfolgen (vgl. Stanley 2011, S. 208f.).
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len Wissens geben kann. Durch einen Blick auf die alltagssprachliche Verwendung des Wissensbegriffs – insbesondere, wenn man sich den Zweck von Äußerungen vor Augen führt – lassen sich durchaus Einblicke gewinnen, aus denen sich wesentliche Merkmale und Kriterien der beiden Wissensformen ablesen lassen. Werden Sätze oder einzelne Worte unter Berücksichtung der Kontextabhängigkeit ihrer Äußerung als Hinweise auf Annahmen über Wissensformen genommen, so liegt darin nichts Verwerfliches. Nur der Schluss von einer rein linguistischen Analyse auf epistemische oder ontologische Aussagen ist nicht gerechtfertigt. Nach der Zurückweisung des methodischen Ansatzes von Stanley und Williamson lohnt es sich zunächst, die Methode Fodors in den Blickpunkt zu nehmen. Fodor sieht von einer linguistischen Analyse ab und stellt das beobachtbare Verhalten von Organismen und Maschinen ins Zentrum. Hierbei versucht er, eine Erklärung dieses Verhaltens durch Repräsentationen abzugeben, die Prozesse im Geist des Organismus beschreiben, und stützt sich auf eine Analogie zu Mechanismen, die denselben Verhaltensweisen bei Maschinen zugrunde liegen. Fodor rückt somit anstelle von sprachlichen Äußerungen symbolische Repräsentationen ins Zentrum seines Ansatzes. Dennoch trifft er grundlegende Aussagen über die Struktur dieser Repräsentationen, die – wie bereits im letzten Abschnitt aufgezeigt wurde – nicht gerechtfertigt sind. Im Rahmen eines Computer-Modells des Geistes geht Fodor von der so genannten „Hypothese einer Sprache des Geistes“ („Language of Thought-Hypothesis“) aus. Mentale Prozesse vollziehen sich demgemäß in einer bestimmten Struktur; das Medium des Denkens ist eine auf syntaktischen und semantischen Merkmalen beruhende Sprache.131 Fodors Auffassung, dass es sich bei implizitem Wissen um ein unbewusstes, sprachlich repräsentiertes Regelwissen handelt, kann folgendes entgegen gehalten werden: Die Annahme einer Sprache des Geistes ist zum einen nicht ausreichend gerechtfertigt, sondern beruht auf einem unzulässigen Schluss auf der Basis der Computer-Analogie. Zum anderen liefert Fodors Theorie keinen überzeugenden Erklärungswert für praktische Wissensformen. John Searle bringt etwa den Einwand vor, dass die Redeweise von „unbewussten Regeln“ eine illegitime Redeweise sei.132 Searle behauptet, dass in dem Falle, in dem ich meinem Verhalten oder meinen Handlungen Regeln, also eine symbolische Repräsentation, zugrunde lege, nichts vorliegen kann, was mich daran hindert, diese Regel auch zu verbalisieren. Regeln sind gemäß
131 Vgl. Fodor 1975, 1981, 1987 und 1998. Für eine Übersicht über einige Argumente für und Einwände gegen die Hypothese einer Sprache des Geistes siehe Beckermann 1999, S. 281ff. und Schröder 2001. 132 Vgl. Searle 1992, S. 229ff.
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Searle per definitionem bewusst. Zudem entwickelt Searle eine Reihe weiterer Kritikpunkte gegen Fodors repräsentationalistische Theorie des Geistes. Beispielsweise ist ihm zufolge der Schluss, den Fodor von den Verarbeitungsmechanismen der Maschine auf die mentalen Repräsentationen eines Organismus zieht, völlig unzureichend: Durch sein berühmtes Gedankenexperiment des Chinesischen Zimmers versucht Searle zu widerlegen, dass menschliche Intelligenz in der von Fodor angenommenen Weise simuliert werden kann.133 Durch den Blick auf Stanley und Williamson einerseits und Fodor andererseits wird hinsichtlich der Frage nach der Unterscheidung von praktischem und propositionalem Wissen folgendes deutlich: Diese Frage kann zum einen auf unseren erkenntnistheoretischen Begriff des praktischen Wissens bezogen werden (diese Frage stellen Stanley und Williamson ins Zentrum). Sie kann sich aber auch auf die Struktur der mentalen Zustände beziehen, die der Ausführung praktischer Fähigkeiten einerseits und Wissen in Form von sprachlichen Aussagen andererseits zugrunde liegen (dieser Frage widmet sich Fodor).134 Viele Positionen in der aktuellen Debatte erlauben vor diesem Hintergrund keinen direkten Vergleich, da sie schlicht als unterschiedliche Projekte aufzufassen sind. Ryle selbst argumentiert nicht deutlich genug, auf welche Frage seine Position zu beziehen ist, indem er einerseits die Bedeutung der Begriffe „knowing how“ und „knowing that“ ins Zentrum stellt, andererseits aber auch die mentalen Vorgänge, die den Wissensformen zugrunde liegen. Eine Unterscheidung der beiden angeführten Fragen ist jedoch in meinen Augen äußerst wichtig. Auf der Unzufriedenheit mit den methodischen Ansätzen von Stanley und Williamson einerseits und Fodor andererseits gründen sich die dieser Arbeit zugrunde gelegten methodischen Überlegungen, die der Analyse praktischer Wissensformen dienen sollen. Einerseits werde ich gegen Stanley und Williamson argumentieren und für einen erkenntnistheoretischen Begriff des praktischen Wissens plädieren, der keine Reduktion auf propositionales Wissen erlaubt. Andererseits werde ich ein repräsentationalistisches Modell vorstellen, das Befunde und Konzepte der Kognitions- und Neurowissenschaften einbezieht. Zwar werden wie bei Fodor mentale Repräsentationen als grundlegende methodische Bausteine zur Erklärung des Wissens ins Zentrum gerückt, doch von der Hypothese einer Sprache des Geistes löse ich mich. Stattdessen werde ich neben symbolischen Repräsentationen auch andere Repräsentationstypen mitberücksichtigen, die von der Struktur einer Sprache abweichen.
133 Vgl. Searle 1980, S. 420ff. 134 Vgl. hierzu auch Jung & Newen 2011, S. 84ff.
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Die gewählte Methode zur Beschreibung praktischer Wissensformen soll zweierlei leisten. Einerseits soll sie ein angemessenes Erklärungsmodell für praktisches Wissen liefern können, das insbesondere den kontext- und wissenssubjektabhängigen Elementen gerecht werden kann; andererseits soll sie eine Abgrenzung praktischen Wissens von rein mechanischen Reaktionen oder Reflexen ermöglichen, so dass einer minimalen Normativitätsanforderung an Wissen Rechnung getragen wird.
1.5 Die Bedeutung praktischen Wissens für die Erkenntnistheorie Possession of abilities enables us to detect significance where there would otherwise be none. In this way, the body, the world and our practical knowledge open up a meaningful realm of experience to us. (Alva Noë)135
Nach der Analyse der aktuellen Debatte über praktische Wissensformen soll nun noch einmal das vorherrschende Primat propositionalen Wissens ins Zentrum der Kritik gestellt werden: Wir haben gesehen, dass keines der intellektualistischen Reduktionsargumente sich als überzeugend herausstellt. Daher ist auch das entsprechende Argument der Reduktion – die These, dass praktische Wissensformen deswegen nicht in der Erkenntnistheorie betrachtet werden müssen, weil sie auf propositionale reduzierbar sind – obsolet. In diesem Abschnitt werde ich Zweifel an dem Argument der Differenz vorbringen, d.h. an der Auffassung, dass praktisches Wissen deswegen kein interessanter erkenntnistheoretischer Gegenstand ist, weil es essentiell verschieden von propositionalem ist. Ich werde zum einen einige zentrale Parallelen zwischen beiden Wissensformen aufzeigen. Zum anderen werde ich dafür argumentieren, dass ein besseres erkenntnistheoretisches Verständnis der Natur praktischer Wissensformen wichtige Anschlussstellen zu anderen philosophischen Disziplinen sowie zu interdisziplinären Themenfeldern öffnet. Dass praktische Wissensformen für die Erkenntnistheorie durchaus von Interesse sind, betont bereits Edward Craig.136 Sie verdienen laut Craig schon deswegen Aufmerksamkeit, weil die Anwendung des Wissensbegriffs auf ge-
135 Noë 2005, S. 285. 136 Vgl. Craig 1990, S. 155ff. Siehe hierzu außerdem Abschnitt 2.4.4.1.
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Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen
wisse Kompetenzen, also auf das Vermögen, bestimmte Tätigkeiten auszuführen, keine sprachliche Randerscheinung darstellt, sondern in zahlreichen Sprachen aufgefunden werden kann. Die Verwendung des Wissensbegriffs in diesen Fällen stelle somit eine soziale Praxis dar, deren Zweck einer epistemischen Betrachtung wert sei. Im Bezug auf Tätigkeiten können wir, so Craig, nicht nur diejenigen als wichtige Informanten gelten lassen, die uns verbal Auskunft über die Ausführung der Tätigkeiten geben, sondern eben auch jene, die durch Vorzeigen – d.h. durch die praktische Ausführung – wissensbasierte Tätigkeiten für uns sichtbar und erlebbar machen. Darüber hinaus lassen sich weitere Parallelen zwischen praktischem und propositionalem Wissen aufzeigen, beispielsweise die Tatsache, dass beide in irgendeiner Weise erlernt und gelehrt werden können. Dass ausschließlich propositionales Wissen eine zentrale kommunikative Funktion einnimmt, kann nicht bestätigt werden, ist doch auch das Vermögen, praktische Tätigkeiten auszuführen, lehr- und vermittelbar, und zwar oftmals auch ohne verbale Äußerungen. Beispiele für solche Lernprozesse werden durch die von Albert Bandura begründete lernpsychologische Theorie des „Lernens am Modell“ gegeben.137 In Banduras theoretischem Rahmen werden zahlreiche Lernsituationen beschrieben, die im Wesentlichen auf Aufmerksamkeits- und Nachahmungsprozessen beruhen und völlig ohne sprachliche Anleitungen auskommen. Die angeführten Kongruenzen der beiden Wissensformen sprechen somit schlicht gegen die Verbannung von praktischem Wissen aus dem erkenntnistheoretischen Blickfeld: Die Parallelen beider Wissensformen streuen Zweifel an der Schlagkraft des Arguments der Differenz und an einem uneingeschränkten Primat propositionalen Wissens in der Erkenntnistheorie. Es gibt weitere Gründe, die eine Öffnung des erkenntnistheoretischen Fokus nahe legen. Durch die Berücksichtigung praktischer Wissensformen würde sich ein dynamischerer Blick auf erkenntnistheoretische Themenfelder ergeben, durch den auch Lern- und Transformationsprozesse von Wissensformen stärker einbezogen werden können. Eine ausschließliche Fokussierung auf propositionales Wissen übersieht, dass es sich gewissermaßen nur um die Spitze eines Eisbergs handelt. Rückt man auch praktische Fähigkeiten, motorische wie intellektuelle, ins Blickfeld der Erkenntnistheorie, so deckt man damit nicht nur ein weiteres Feld derjenigen kognitiven Leistungen ab, die unsere Lebenswelt prägen. Insbesondere durch die Reflexion von Wissen auf Handlungen, die wir ausrichten und die uns die Welt erleben und erkennen lassen, kann der Wissensbegriff eine entscheidende Bereicherung erfahren. Die Frage nämlich, wie
137 Vgl. Bandura 1976.
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wir unsere Handlungen begrifflich klassifizieren und sprachlich einfangen, und ob diese überhaupt dafür zugänglich sind, ist eine wichtige erkenntnistheoretische Frage. Ein erkenntnistheoretisches Verständnis der Natur praktischen Wissens ist auch für einige Schnittstellen mit der Philosophie des Geistes von Bedeutung: Praktische Wissensformen spielen eine zentrale Rolle für die Art und Weise, wie wir die Welt wahrnehmen und erleben. Alva Noë beschreibt die beeindruckende Wirkung, die praktische Fähigkeiten auf Wahrnehmen und Handeln haben, mit den folgenden Worten: The possession of abilities affects our attitudes and enables us to have experiences that we could not have otherwise. A piano tickles the fancy of a pianist, soliciting him or her to play. And the piano player can see in the piano, in the arrangement of its keys, possibilities that are not available to the non-player. Likewise, for the surfer, a calm horizon can signal, through what to non-surfers would be imperceptible signs, that it is necessary to reposition him or herself to be in a prime spot for the next wave. Possession of abilities enables us to detect significance where there would otherwise be none. In this way, the body, the world and our practical knowledge open up a meaningful realm of experience to us.138
Eine zentrale Strömung, die in der Philosophie des Geistes und den Kognitionswissenschaften beobachtet werden kann – die so genannte „Embodiment“Strömung –, könnte für die philosophische Erkenntnistheorie im Falle einer Öffnung ihres Fokusses interessante Schnittstellen bieten: Louise M. Antony spricht sich beispielsweise für einen solchen Anschluss aus. Sie bezeichnet die begriffsanalytische Vorgehensweise abwertend als „Cartesian Epistemology“139, da diese von der Annahme ausgehe, Wissen könne identifiziert und charakterisiert werden, ohne dass dabei individuelle Merkmale berücksichtigt würden, ob intrinsische (beispielsweise körperliche) oder extrinsische (beispielsweise soziokulturelle). Zwar räumen analytische Erkenntnistheoretiker eine gewisse Bedeutung dieser Merkmale ein, doch diese bezögen sich nur auf Input und Output von Erkenntnistätigkeiten, nicht aber auf die „Maschinerie“ selbst, auf das Wesen von Wissen und Erkenntnis. Die „Embodiment“-Strömung, die Antony als bedeutende Alternative zum begriffsanalytischen Projekt einstuft, zielt darauf ab, uns als körperliche, in Umweltbegebenheiten eingebettete Wesen zu begreifen, deren Erkenntnisvermögen von dieser Einbettung und Verkörperung abhängt. Durch die Einbeziehung motorischer Fähigkeiten, die wesentlich an körperliche und situative Bedingungen gebunden sind, könnten sich folglich
138 Noë 2005, S. 285. 139 Antony 2002a, S. 464.
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Zur aktuellen Diskussion über praktische Wissensformen
genuin erkenntnistheoretische Fragestellungen einerseits und Ansätze der modernen Kognitionswissenschaften andererseits wechselseitig anregende Impulse liefern. Zudem bringt das Erlernen und Ausüben praktischer Fähigkeiten ein Zusammenspiel von Körper und Geist zum Ausdruck, das bereits Fred Dretske als ein Phänomen betrachtet, an dem sich zentrale Fragen der Philosophie des Geistes widerspiegeln: This, in a nutshell, is why I, a philosopher of mind, am interested in the athlete’s body. Skilled athletic performance demonstrates in a dramatic way the partnership of mind and body. It thus tells us something important about the mind and the way it is constituted by its material embodiment. It does so because the acquisition of bodily skills – especially those on display on the athletic field – involves a delegation of intelligence to, and a simultaneous withdrawal of consciousness from, the bodily processes by means of which we carry out our purposes.140
Die gezielte Einflussnahme einerseits und das Loslösen des Bewusstseins zum Zwecke fließender Körperbewegungen andererseits machen laut Dretske praktische Fähigkeiten zu dieser bedeutenden Schnittstelle. Skilled action reveals the relationship of mind and body to be something like the hierarchical arrangement of an efficiently run organisation.141
Eine Ausweitung des Wissensbegriffs auf praktische Erkenntnisformen ist auch deswegen zielführend, da in der zeitgenössischen Philosophie des Geistes wesentliche Diskussionsanstöße gewonnen und Diskussionsströme aus einer neuen Perspektive kritisch betrachtet werden können: Hier findet der Wissensbegriff überwiegend in neueren Ansätzen zur Erklärung von Wahrnehmung und anderen kognitiven Phänomenen Gebrauch, wo oftmals auf ein implizites Wissen oder ein knowing how verwiesen wird, auf welches wir uns wahrnehmend und handelnd beziehen. Eine Klärung, welche Rolle Wissen in diesem Kontext zukommt, wie Wissen hier überhaupt zu verstehen ist, würde eine hilfreiche Plattform für den Streit zwischen so genannten „Enaktivisten“ und „Repräsentationalisten“ schaffen.142
140 Dretske 1998, 5. Absatz. 141 Ebd., 7. Absatz. Der von Dretske angesprochene Übergang von theoretischem Wissen in praktische, verkörperte Fähigkeiten wird in dem Modell des Fähigkeitserwerbs von Hubert L. Dreyfus anschaulich beschrieben. Siehe hierzu Abschnitt 3.5. 142 Diese Anschlussstelle soll im fünften Kapitel noch einmal aufgegriffen werden.
Die Bedeutung praktischen Wissens für die Erkenntnistheorie
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Auch in der Debatte um sprachliches Wissen und Verstehen spielt die Dichotomie eine entscheidende Rolle, was sich anhand Noam Chomskys Argumentation für die Theorie des impliziten Wissens zeigt. Chomsky geht davon aus, dass wir über ein propositionales Regelwissen im Bezug auf Syntax, Semantik und grammatische Strukturen verfügen, da andernfalls unser Sprachvermögen nicht angemessen erklärt werden kann, dass aber dieses Wissen implizit vorliegt.143 Die Diskussion darüber, wie dieser Status von Wissen erklärt werden kann, ist noch in Gang und kann zu diesem Zeitpunkt nicht als entschieden betrachtet werden. Gareth Evans stellt beispielsweise zwei Modelle vor, die das implizite Wissen, auf das in der Debatte verwiesen wird, erläutern sollen. Allerdings zieht er in Zweifel, ob die Redeweise von „Wissen“ in dieser Form wirklich sinnvoll ist, da das beschriebene implizite Wissen sehr viel weniger Flexibilität und Variabilität aufzeigt als die Handlungsweisen, die auf Wissen oder Überzeugungen gründen.144 In jüngerer Zeit wird die Debatte um sprachliches Wissen aufgegriffen und mit der aktuellen Debatte um praktische Wissensformen in Verbindung gebracht. Hierbei argumentiert Jennifer Hornsby für eine anti-intellektualistische Auffassung, während Jason Stanley einen Intellektualismus verteidigt.145 Führt man sich diese Überlegungen vor Augen, so gibt es gute Gründe neben propositionalem Wissen auch praktische Wissensformen in der Erkenntnistheorie zu untersuchen. Eine Betrachtung praktischer Wissensformen führt uns letztlich auch auf die Frage nach dem Status und der Reichweite propositionalen Wissens zurück. Jane Rowland bemerkt zurecht, dass Ryle zwar einen Vorschlag für die Analyse von knowing how liefert, nicht aber den logischen Status propositionalen Wissens (knowing that) unter die Lupe nimmt, dass aber eine Klärung von knowing how wesentlich auf ein hinreichendes Verständnis von knowing that hinausläuft.146 Auch Paul Snowdon weist darauf hin, dass die Beschäftigung mit knowing how uns vor die Aufgabe stellt, die in einem Überdenken der wesentlichen Merkmale propositionalen Wissens („rethinking to some extent what knowing that involves“) besteht.147
143 144 145 146 147
Vgl. Chomsky 1986, S. 222ff. Vgl. Evans 1985 [1981], S. 338ff. Vgl. Hornsby 2005 sowie Stanley 2005b. Vgl. Rowland 1958, S. 380. Vgl. Snowdon 2003/04, S. 27.
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1.6 Konklusion: Für einen neuen theoretischen Zugang zur Analyse praktischer Wissensformen Ist nun eine Antwort auf die Frage in Sicht, ob praktische Wissensformen auf propositionale reduzierbar sind? In meinen Augen lautet die Antwort: Nein, sie sind es nicht. Wir haben gesehen, dass weder Intellektualisten noch AntiIntellektualisten überzeugende Argumente für eine vollständige ontologische oder epistemische Reduktion der einen Wissensform auf die jeweils andere vorbringen. Dies spricht dafür, propositionales und praktisches Wissen als eigenständige, irreduzible Wissensformen aufzufassen. Die in diesem Kapitel angeführten Betrachtungen zeigen aber auch, dass sich die aktuelle Debatte um praktisches Wissen gewissermaßen in einer Sackgasse befindet. Intellektualistische und anti-intellektualistische Erklärungsversuche für praktisches Wissen stehen einander kompromisslos gegenüber. Sie nehmen oft unterschiedliche Phänome als Ausgangspunkt ihrer Analyse. Dieser Umstand ist nicht zuletzt darauf zurückzuführen, dass durch unseren alltagssprachlichen Begriff des praktischen Wissens nicht eindeutig festgelegt wird, worauf wir uns beziehen: In einigen Situationen verweisen wir auf ein sprachbasiertes Wissen über Regeln, die angeben, wie bestimmte Fähigkeiten auszuführen sind. In anderen wiederum möchten wir ausdrücken, dass Personen über bestimmte Fertigkeiten verfügen. Hier ist es also ein Können, das wir in den Blick nehmen. Die vielen Unstimmigkeiten hängen auch damit zusammen, dass wir die Frage nach dem Status praktischer Wissensformen auf unterschiedliche Projekte beziehen können: Einerseits können wir den epistemischen Begriff des praktischen Wissens ins Zentrum rücken. Die zentralen Fragen, die wir mit einem solchen Projekt verfolgen, sind folgende: Welches Wissen schreiben wir einer Person in der Alltagssprache mit „wissen, wie“ oder „knowing how“-Sätzen zu? Unterscheidet sich dieses Wissen wesentlich von einem propositionalen Wissen? Welche Rolle spielen praktische Wissensformen im Hinblick auf unsere epistemischen Ziele? Andererseits können wir aber auch die mentalen Prozesse in den Vordergrund stellen, die der Ausführung praktischer Fähigkeiten zugrunde liegen. Verfolgen wir dieses Projekt, so führt uns dies auf andere Fragen: Wie repräsentieren wir die Informationen, die wir zum erfolgreichen praktischen Handeln benötigen? Welche Prozesse des Geistes (oder des Gehirns) liegen unseren praktischen Fähigkeiten zugrunde? Sind diese Prozesse von denjenigen verschieden, in denen unser theoretisches, sprachlich äußerbares Wissen gründet? Die Unterscheidung dieser beiden Projekte ist sehr wichtig, denn viele Mitstreiter in der aktuellen Debatte machen nicht deutlich, auf welche Fragestellungen ihre Analyse praktischer Wissensformen bezogen ist, und so entsteht
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das berechtigte Gefühl, dass die Autoren in gewisser Weise aneinander vorbeiargumentieren. Warum sollten wir überhaupt den oben angeführten Fragen nachgehen? Meiner Ansicht nach sind diese Fragen für die Erkenntnistheorie und die Philosophie des Geistes äußerst wichtig. Wir haben gesehen, dass unser alltagssprachlicher Wissensbegriff, zumindest in einigen Situationen, auf praktische Fähigkeiten verweist. Ein besseres Verständnis des praktischen Wissens und derjenigen mentalen Prozesse, die mit einem solchen Wissen zusammenhängen, ist in meinen Augen ein wichtiger Schlüssel zur Auflösung einiger Debatten in unterschiedlichen philosophischen Feldern und kann zudem interessante Impulse für Wahrnehmungs- und Bewusstseinstheorien liefern. Ryle und Polanyi haben aus unterschiedlichen Perspektiven ein Wissen jenseits der Sprache in das Blickfeld der Erkenntnis- und Wissenschaftstheorie gestellt und auf die Eigenheiten und die Reichweite praktischer Fähigkeiten hingewiesen. Meiner Ansicht nach war dies ein bedeutender Schritt, der auch für die zeitgenössische Philosophie richtungsweisend sein sollte.
2 Die Rolle des Wissensbegriffs in der Erkenntnistheorie Knowledge is the small part of ignorance that we arrange and classify. (Ambrose Bierce)1
2.1 Wissen als philosophischer Gegenstand „Wissen“ ist ein Begriff unserer alltäglichen Lebenswelt. Früh erlernt, häufig und in unterschiedlichsten Situationen gebraucht, spielt er eine zentrale Rolle für die Ausrichtung, Planung und Bewertung eigener wie fremder Äußerungen und Tätigkeiten. Jeder Versuch, den Wissensbegriff wissenschaftlich zu erfassen oder zu analysieren, ist vor die schwierige Aufgabe gestellt, ihn zwar einerseits so präzise wie möglich zu fassen, um ihn zu einem angemessenen Gegenstand wissenschaftlicher Diskussionen und Untersuchungen zu machen, andererseits aber auch den Intuitionen gerecht zu werden, die wir im alltäglichen Sprachgebrauch mit diesem Begriff verbinden. Eine wissenschaftliche Begriffsanalyse darf, um mit Ludwig Wittgenstein zu sprechen, nicht die Frage aus den Augen verlieren, ob der Begriff im alltagssprachlichen Diskurs, in dem er seine „Heimat“ hat, auch wirklich so gebraucht wird: Wenn die Philosophen ein Wort gebrauchen – „Wissen“, „Sein“, „Gegenstand“, „Ich“, „Satz“, „Name“ – und das Wesen des Dings zu erfassen trachten, muss man sich immer fragen: Wird denn dieses Wort in der Sprache, in der es seine Heimat hat, je tatsächlich so gebraucht?2
Die Frage, wie wir Wissen beschreiben können, beschäftigt die Philosophie schon von ihren Ursprüngen an. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist diese Frage in Form des Projekts der Begriffsanalyse von Wissen – der Suche nach einzeln notwendigen und zusammen hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen von Wissen – ins Zentrum der analytisch geprägten Philosophie gerückt.3
1 Vgl. Montreuil 2008, S. 64. 2 Philosophische Untersuchungen § 116. Wiggenstein 1984, S. 300. 3 Vgl. hierzu auch Anacker 2005, S. 897ff.
Wissen als philosophischer Gegenstand
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In diesem Kapitel werde ich drei zentrale Streitplätze um das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen in den Mittelpunkt stellen: (1) das so genannte „Gettier“- Problem und seine Folgen, (2) die von Ansgar Beckermann angestoßene Debatte um eine scheinbare Inkonsistenz und Irrelevanz des erkenntnistheoretischen Wissensbegriffs und (3) die Herausforderungen, die so genannte „naturalistische Erkenntnistheorien“ für das Projekt darstellen. Anhand einer kritischen Beleuchtung dieser drei Debatten möchte ich einige symptomatische Kernfragen und -probleme aufzeigen, die das Wesen und die Rolle des Wissensbegriffs in der Erkenntnistheorie betreffen. Da nicht ausschließlich inhaltliche Fragen und Problemstellungen bezüglich einer angemessenen Bestimmung des Wissensbegriffs diese Streitfelder dominieren, sondern auch Fragen nach dem Status und der Reichweite des Projekts der Begriffsanalyse eine bedeutende Rolle spielen, werde ich eine Betrachtung der formalen Hintergründe dieses Projekts voranstellen. Durch eine kurze Darlegung zentraler Überlegungen der maßgeblich von Rudolf Carnap geprägten Theorie der Begriffsexplikation werde ich zunächst einen Rahmen für die Systematisierung der jeweiligen Kontroversen um den Wissensbegriff spannen. Als „Gettier“-Problem wird die Summe der von Edmund L. Gettier angeführten Herausforderungen bezeichnet, die sich für die so genannte „Standardkonzeption“ ergeben, die Wissen als „wahre, gerechtfertigte Überzeugung“ bestimmt. Das Streitfeld um dieses Problem werde ich in drei Schritten beleuchten. Im ersten Schritt zeige ich die Ursprünge und Merkmale der Standardkonzeption auf, bevor ich im zweiten Schritt die „Gettier“-Fälle selbst diskutiere. Im dritten Schritt erfolgt schließlich der Blick auf die zahlreichen Ergänzungs- und Modifikationsversuche der Standardkonzeption, die die „Gettier“-Fälle nach sich zogen. Diese Wissensexplikationen werde ich kurz im Spannungsfeld von Internalismus und Externalismus evaluieren. Angar Beckermann bringt eine völlig andere Kritik gegen den traditionallen Wissensbegriff an als Gettier. Er stützt sich im Wesentlichen auf Überlegungen Crispin Sartwells und versucht, den Wissensbegriff als inkohärenten und irrelevanten Begriff herauszustellen und auf diese Diagnose ein Plädoyer für eine neue Agenda der Erkenntnistheorie zu stützen, die völlig ohne den Wissensbegriff auskommen soll. Auch die von Beckermann angestoßene Debatte werde ich in drei Schritten analysieren. Der erste Schritt dient hierbei der kritischen Beleuchtung der Argumente Beckermanns und der diesen zugrunde liegenden Hintergrundannahmen. Die Debatte, die Beckermanns Kritik ausgelöst hat, ist mit der Frage verwoben, wie der Wissensbegriff in Hinblick auf unsere epistemischen Ziele und Werte zu verorten ist. Diese Frage werde ich im zweiten Schritt ins Zentrum rücken. Im dritten Schritt werde ich schließlich die Grundideen der Positionen Edward Craigs und Timothy Williamsons vorstellen. Craig
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Die Rolle des Wissensbegriffs in der Erkenntnistheorie
und Williamson plädieren für alternative Zugänge zum Verständnis des Wissens, die sich von der Standardanalyse lossagen, aber im Gegensatz zu Beckermann den Wissensbegriff nicht von der erkenntnistheoretischen Agenda streichen, sondern seine Bedeutung und Rolle für die Erkenntnistheorie neu auslegen. Drittens werde ich schließlich die zentralen Herausforderungen für das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen ins Zentrum stellen, die sich durch die Konfrontation mit Ansätzen ergeben, welche durch – teils vollständige – Naturalisierungsversuche der Erkenntnistheorie gekennzeichnet sind und unter dem Dachbegriff „naturalistische Erkenntnistheorie“ zusammengefasst werden. Mit Willard Van Orman Quines, Alvin I. Goldmans und Hilary Kornbliths Ansätzen werde ich verschiedene Ausprägungen dieses Forschungsprogramms diskutieren. Im Anschluss daran werde ich mich der Frage widmen, welche Bedeutung der naturalistischen Erkenntnistheorie für das Projekt der Begriffsanalyse des Wissens und die Analyse praktischer Wissensformen zukommt. Die drei Streitfelder stellen jeweils unterschiedliche Herausforderungen für das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen dar: Während das „Gettier“-Problem überwiegend inhaltliche Kontroversen um eine angemessene Explikation des Wissensbegriffs umfasst, stellt Beckermann die Frage in den Raum, ob das begriffsanalytische Projekt überhaupt ein sinnvolles und erfolgsversprechendes Projekt ist oder ob wir auf den Wissensbegriff zugunsten der Begriffe „wahre Überzeugung“ und „gerechtfertigte Überzeugung“ verzichten sollten. Hierbei ist allerdings anzumerken, dass der Fokus der Kritik Beckermanns ausschließlich auf den Wissensbegriff gerichtet ist. Wir werden sehen, dass Befürworter einer radikalen naturalistischen Erkenntnistheorie noch einen Schritt weiter gehen, indem sie philosophische Begriffe und Methoden im Allgemeinen einer Kritik unterziehen und für eine völlige Neuausrichtung der Erkenntnistheorie auf der Grundlage empirischer Methoden argumentieren. Die Literatur zum Wissensbegriff ist so umfangreich, dass es vermessen wäre, einen vollständigen Überblick über alle entwickelten Positionen und Problemfelder anzukündigen. Bei der kritischen Auseinandersetzung mit den ausgewählten Diskussionssträngen soll das Augenmerk auch nicht auf eine möglichst umfassende Darstellung gelegt werden, sondern vielmehr auf eine exemplarische Betrachtung zentraler Diskussionsfragen und Kernprobleme, die symptomatisch die Rolle aufzeigen, die dem Wissensbegriff in der zeitgenössischen, analytisch geprägten Erkenntnistheorie zukommt. Vor dieser kritischen Untersuchung sind allerdings noch zwei Bemerkungen anzubringen. Erstens ist anzumerken, dass in der deutschsprachigen Diskussion oftmals „Wissen“ und „Erkenntnis“ synonym gebraucht werden; von einigen Autoren
Wissen als philosophischer Gegenstand
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werden diese beiden Begriffe hingegen unterschieden.4 Zudem tauchen noch andere Variationen wie „Verstehen“ oder „Begreifen“ als zentrale erkenntnistheoretische Begriffe auf. Aus etymologischen Gründen könnte man durchaus der Auffassung sein, „Erkenntnis“ sei der zentrale Begriff und Ausgangspunkt für erkenntnistheoretische Untersuchungen. Allerdings spricht auch einiges dafür, den Wissensbegriff ins Zentrum zu stellen: Zum einen steht er in der angelsächsischen Debatte, die sich um die „Theory of Knowledge“ dreht, im Zentrum. Zum anderen zeichnet er sich durch eine stärkere Alltagsnähe aus und wird in sehr vielen unterschiedlichen Situationen verwendet. Der Erkenntnisbegriff ist hingegen oft etwas enger gefasst und taucht hauptsächlich in wissenschaftlichen, manchmal auch in religiösen Kontexten auf. Da die Differenzierung zwischen „Erkenntnis“ und „Wissen“ keineswegs von allen Autoren in einheitlicher Weise getroffen wird und es einige Mühe bereiten würde, die jeweiligen Unterschiede herauszustellen, und zudem dieser Streit um Worte vom eigentlichen Thema ablenken würde, werde ich im Folgenden stets von „Wissen“ sprechen. Zweitens ist anzumerken, dass die Frage, was Wissen ist, symbiotisch mit der Frage, was wir wissen können, und somit mit der skeptischen Herausforderung verwoben ist. Skeptiker stellen die Frage, ob wir uns dessen, was wir als Wissen beanspruchen, sicher sein können, wobei der Bereich, der Zweifeln unterzogen wird, bei skeptischen Autoren jeweils unterschiedliche Ausmaße annimmt. Der Skeptizimus stellt eine grundlegende Herausforderung für alle erkenntnistheoretischen Projekte dar, könnte er doch jede Grundlage, auf der theoretische Überlegungen oder Aussagen beruhen, in Frage stellen und somit das Fundament jeder philosophischen Theorie, die etwas über Wissen aussagt, erschüttern. Auch wenn die skeptische Herausforderung im Rahmen dieses Projekts ernst genommen wird, soll eine explizite Auseinandersetzung mit skeptischen Argumenten nicht erfolgen. Zum einen würde eine solche Analyse schlicht den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Zum anderen können die grundlegenden theoretischen Überlegungen auch ohne eine skeptische Reflexion entwickelt werden, da das Gesamtziel der Arbeit – die Entwicklung einer Theorie zur Erklärung und Kategorisierung praktischer Wissensformen – nicht direkt auf eine Konfrontation mit skeptischen Überlegungen hinausläuft. Die Ausgangsfrage, die dem Projekt zugrunde liegt und die eine solche Konfrontation vermeidet, könnte man folgendermaßen ausdrücken: Falls wir Wissen haben und über einen Wissensbegriff verfügen können, wie ist dann praktisches Wissen zu
4 Vgl. hierzu auch von Kutschera 1981, S. 9ff.
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verorten und in welcher Relation steht es zu propositionalem (theoretischem) Wissen?5 Bei der folgenden Betrachtung geht es mir um die Fragen, welche Implikationen sich für eine Analyse praktischen Wissens aus den jeweiligen Debatten ergeben und welche Bedeutung praktische Wissensformen für diese Debatten spielen. Bereits im ersten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass praktisches Wissen in der Erkenntnistheorie nur als ein Randphänomen diskutiert wird. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass die Mitstreiter dieser Debatten nur selten explizit Bezug auf ein solches Wissen nehmen. Dennoch versuche ich aufzuzeigen, dass die Diskussionsstränge an einigen Stellen die Frage nach praktischen Wissensformen durchaus berühren und dass andererseits Überlegungen, die ich im ersten Kapitel angeführt habe, für die Frage nach unserem propositionalen Wissen eine bedeutende Rolle spielen.
2.2 Das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen I have in mind what Carnap calls explication– an activity to which philosophers are given, and scientist also in their more philosophical moments. (Willard Van Orman Quine)6
„So sage denn grade und dreist heraus, was denkst du, daß Erkenntnis ist?“7 – mit diesen Worten fordert Sokrates seinen Gesprächspartner Theaitetos im gleichnamigen platonischen Dialog auf, Antworten auf die Frage nach dem Wesen von epistêmê, also Erkenntnis oder Wissen, zu suchen. Theaitetos führt auf diese Frage hin unvermittelt Beispiele an – die Messkunst, die Schuhmacherkunst und andere Handwerkskünste, in denen sich epistêmê manifestieren soll.8 Sokrates weist diese Antwort mit dem Hinweis zurück, dass sie schlicht-
5 In einer Anthologie von Thomas Grundmann und Karsten Stüber werden repräsentative klassische und zeitgenössische Texte zu skeptischen Argumenten bereitgestellt (vgl. Grundmann & Stüber 1996). Zur Bedeutung des Skeptizismus für die Erkenntnistheorie siehe außerdem Barry Strouts „The Significance of Philosophical Scepticism“ (vgl. Strout 1984). Eine Übersicht über verschiedene Strategien zum Umgang mit skeptischen Argumenten wird von Albert Newen am Beispiel des radikalen Zweifels an der Existenz einer Außenwelt entwickelt (vgl. Newen 2003). 6 Quine 1951, S. 25. 7 Platon 1991c, 146c3. 8 Ebd. 146c7ff.
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weg aus formalen Gründen keine angemessene Antwort auf seine Frage sei. Theaitetos habe so geantwortet wie jemand, der verschiedene Lehmsorten aufzählt, wenn er gefragt wird, was Lehm sei. Eine „Was ist x?“-Frage ziele jedoch auf eine andere Art von Antwort. Es ginge nicht darum, Instanzen für das Vorliegen von x aufzuzählen, sondern das Wesen von x – im betrachteten Fall „die Erkenntnis selbst“ – zu erfassen. Eine Antwort auf die Frage, was epistêmê sei, könne nicht durch die Aufzählung von einzelnen Dingen erfolgen, über die wir Erkenntnisse haben, sondern müsse die Erkenntnis in irgendeiner Weise erklären. Als Vergleich führt Sokrates die Frage „Was ist Lehm?“ an. Eine angemessene Antwort bestünde hier nicht in der Aufzählung von verschiedenen Lehmsorten, sondern in der Angabe der Bestandteile von Lehm: „Erde mit Feuchtigkeit gemischt“. Die Dialogszene zwischen Sokrates und Theaitetos legt in anschaulicher Weise das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen offen. So zielt die Frage „Was ist Wissen?“ im Rahmen des Projekts auf eine „Klärung“ des Wissensbegriffs ab. Synonym, oder zumindest partiell synonym, wird oft auch behauptet, es werde nach einer „Definition“, „Charakterisierung“, „Festsetzung“, „Erklärung“ oder „Analyse“ des Begriffs gesucht. Das Projekt der Begriffsanalyse ist an die so genannte „Explikationstheorie“ angelehnt, die maßgeblich von Rudolf Carnap entwickelt wurde.9 Ziel einer Explikation ist die Ersetzung eines vagen, vorwissenschaftlichen Begriffs (Explikandum) durch einen präzisen Begriff in der Wissenschaftssprache (Explikat). Die Sprache, in die der neue Begriff eingeführt wird, wird hierbei Explikatsprache genannt. Bei einer Explikation handelt es sich folglich um eine Präzisierung vormals unexakter Begriffe für einen fruchtbaren wissenschaftlichen Diskurs.10 Carnap unterscheidet drei wesentliche Schritte, in denen sich eine Explikationsprozedur zu vollziehen hat: Erstens werden explikationsvorbereitende Maßnahmen durchgeführt. Hierzu gehören zum einen Desambiguierungen der Bedeutungen des vorwissenschaftlichen Begriffs, zum anderen das Errichten eines Explikationsmaßstabs, der festlegt, welche Verwendungsweisen des Explikandums durch die Explikation primär ins Auge gefasst werden sollen. Zweitens schließt sich die Durchführung der explikativen Einführung an, i.e. das Explikandum wird durch ein geeignetes Explikat ersetzt. Hierbei ist festzuhalten, dass es zahlreiche unterschiedliche Einführungsverfahren, d.h. viele unter-
9 Zur Darstellung der Theorie der Explikation siehe Rudolf Carnaps „Logical Foundations of Probability“ und W.V.O. Quines „Word and Object“ (vgl. Carnap 1962 sowie Quine 1975a). Ein hilfreicher Überblick über die Theorien Carnaps und Quines wird von Geo Siegwart vorgestellt (vgl. Siegwart 1997, insb. S. 268–275). 10 Vgl. Carnap 1962, S. 1ff.
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schiedliche Möglichkeiten der Ersetzung des Explikandums gibt. Das Projekt der Begriffsanalyse ist diesbezüglich durch die Suche nach einer reduktiven Definition von Wissen charakterisiert: nach einer Zerlegung des Wissensbegriffs in grundlegendere Begriffe, die einzeln notwendige und zusammen hinreichende Bedingungen für das Vorliegen von Wissen angeben. Drittens wird die Explikationsprozedur mit einer Adäquatheitskontrolle abgeschlossen, durch die geprüft wird, ob das Explikat dem zuvor gesetzten Maßstab entspricht. Als Orientierungshilfe und Beurteilungsmaßstab von Explikationsprojekten führt Carnap die folgenden vier Adäquatheitsbedingungen an:11 (1) die (extensionale) Ähnlichkeit von Explikat und Explikandum, (2) die Exaktheit im Sinne der Einführung des Explikats in eine wissenschaftliche Terminologie, (3) die Fruchtbarkeit des Explikats für die Aufstellung neuer Behauptungen und Gesetze und (4) die Einfachheit des Explikats und der Aussagen und Gesetze, die auf dessen Grundlage aufgestellt werden. Auch wenn die explikative Einführung der Philosophie nicht eigen, sondern auch in anderen Fachwissenschaften zu finden ist, kommt ihr in der philosophischen Forschung im Vergleich zu diesen anderen Wissenschaften ein unermesslicher Stellenwert zu. Quine bezeichnet die Explikation als „activity to which philosophers are given, and scientists also in their more philosophical moments.“12 Obwohl es sich bei der Explikation um eine grundlegende philosophische Methode handelt, lässt sich immer wieder feststellen, dass die diversen Schritte der Explikationsprozedur einzeln nicht reflektiert werden. Carnap bemängelt etwa, dass in philosophischen Diskursen oft gegen die formalen Anforderungen an eine Explikationsprozedur verstoßen wird und die explikationsvorbereitenden Maßnahmen häufig keinerlei Beachtung finden: It seems to me that, in raising problems of analysis or explication, philosophers very frequently violate this requirement. They ask questions like: „What is causality?“, „What is life?“, „What is mind?“, „What is justice?“, etc. Then they often immediately start to look for an answer without first examining the tacit assumption that the terms of the question are at least practically clear enough to serve as a basis for an investigation, for an analysis or explication.13
11 Vgl. Carnap 1962, S. 7. 12 Quine 1951, S. 25. 13 Carnap 1962, S. 4.
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Der kurze Blick auf die Kernüberlegungen zur Explikationstheorie dient im Folgenden dazu, die zeitgenössischen Diskussionen um den Wissensbegriff systematisch zu verorten. Hierbei stellen die Unterscheidungen so genannter „Explikationskontroversen“, die Geo Siegwart im Rahmen der Untersuchung des Wahrheitsbegriffs vornimmt, hilfreiche Bezugspunkte dar. Zur Verortung von Debatten über Begriffsexplikationen und zur genauen Bestimmung von Dissenzpunkten schlägt Siegwart folgende Unterscheidung von Kontroversen vor:14 (1) Kontroversen, die sich auf die grammatische Zuordnung des Explikats beziehen, (2) solche, die die gewählte Explikatsprache zum Gegenstand haben, und (3) so genannte maßstäbliche Kontroversen, bei denen der erstellte Maßstab zum Zielpunkt wird. Viele philosophische Debatten sind der letzten Kategorie zuzuordnen, die gemäß Siegwart noch einmal in interne maßstäbliche Kontroversen, die der Frage gelten, ob mit der Explikation die maßstäblichen Aussagen tatsächlich angemessen berücksichtigt werden, und in externe maßstäbliche Kontroversen, die sich auf die Erstellung des Maßstabs selbst richten, unterteilt werden kann. Mit Carnaps theoretischen Betrachtungen zur Explikation ergeben sich sogleich zahlreiche Fragen an eine angemessene Verwendung der Begriffsanalyse in der Philosophie, etwa diejenige, ob die von Carnap vorgestellte Explikation in der Philosophie überhaupt in gleicher Weise verwendet werden kann wie in der Mathematik oder in anderen Wissenschaften. Auf diese Frage komme ich noch einmal zurück. Die Argumente und Einwände, die in den drei Diskussionssträngen auftauchen, werde ich in den nächsten Abschnitten den einzelnen Explikationsdebatten zuordnen.
14 Vgl. Siegwart 1997. Winfried Löffler deutet die gewinnbringende Anwendung der Überlegungen Siegwarts auf die Debatten um den Wissensbegriff bereits in einer Rezension zu Siegwarts „Vorfragen zur Wahrheit“ (1997) an (vgl. Löffler 2001). Zudem bin ich ihm für persönliche Hinweise zu dieser Thematik auf dem XXI. Deutschen Kongress für Philosophie im September 2008 an der Universität Duisburg-Essen überaus dankbar.
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2.3 Das „Gettier“-Problem und seine Folgen Gettier cases tell us that it would be good to have a concept that excluded them (for it would be good to have a concept that excludes being right by accident), and this again is something we learn independently of whether or not Gettier cases are cases of knowledge. (Frank Jackson)15
2.3.1 Die Standardanalyse des Wissens Die Standardanalyse des Wissens, die Wissen als „wahre, gerechtfertigte Überzeugung“ auffasst, wird auf den bereits genannten platonischen Dialog „Theaitetos“ zurückgeführt, der die epistêmê zum Gegenstand einer gemeinsamen Erörterung zwischen Sokrates und Theaitetos macht. Im Verlauf des Gesprächs entwickeln die Dialogpartner drei Definitionen, die sich jeweils dem Wesen der epistêmê annähern sollen – „Wahrnehmung“, „richtige Vorstellung“ und schließlich „richtige Vorstellung in Verbindung mit einer Erklärung“.16 Trotz der offensichtlichen Wurzeln der Standardanalyse in diesem platonischen Dialog trifft die Parallele der beiden Ansätze nur mit wichtigen Einschränkungen zu. Platon vertritt keineswegs konsistent die Position, Wissen sei wahre Überzeugung, die durch Gründe gestützt ist. Vielmehr erweist sich diese Definition am Schluss des Dialogs aufgrund von einigen Unzulänglichkeiten nur als Behelfsdefinition, für welche schlicht keine bessere gefunden wird.17
15 Jackson 2008, 4. Absatz. 16 Siehe hierzu insbesondere die Abschnitte 151e ff., 187a ff. und 201c ff. des „Theaitetos“ (Platon 1991c) sowie den Überblicksartikel „Plato on Knowledge in the Theaetetos“ von Timothy Chappell in der Stanford Encyclopedia of Philosophy (vgl. Chappell 2009). Eine dem dritten Vorschlag entsprechende Definition scheint Platon auch im „Menon“ zu favorisieren. Hier wird der Unterschied zwischen epistêmê und wahrer Überzeugung auf ein „Gebundensein“ zurückgeführt, das durch das Aufzeigen einer „Begründung“ für die jeweilige Überzeugung vorliegt (vgl. Platon 1991a, 97c ff.). Siehe hierzu auch Abschnitt 2.4.3. 17 Aus den platonischen Dialogen lässt sich zudem keine einheitliche Bestimmung der epistêmê herauslesen, da die Überlegungen zu dem Begriff zu unterschiedlich ausfallen, was allerdings auch darauf zurückgeführt werden kann, dass sie in völlig unterschiedlichen Kontexten und im Bezug auf verschiedene Fragestellungen angeführt werden. Im „Menon“ wird epistêmê beispielsweise im Hinblick auf die so genannte „Anamnesis“-Lehre betrachtet, im
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Schon im ersten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass der Skopus der Standardanalyse auf propositionalem Wissen, dem Wissen, dass etwas der Fall ist, liegt. Bei der Explikationsprozedur von „Wissen“ wird im Rahmen der traditionellen Analyse somit bereits eine Desambiguierung des Wissensbegriffs vorgenommen, durch die vermeintlich andere Wissensformen ausgeschlossen werden.18 Propositionen können, allgemein gesprochen, als Gehalte von Aussagen verstehen werden, denen ein Wahrheitswert zukommt. Wissen wird demgemäß als eine propositionale Einstellung verstanden, als Einstellung, die Gegenstände oder Sachverhalte als so-und-so beschaffen repräsentiert. Formal wird die Standardkonzeption meist folgendermaßen ausgedrückt: Für ein beliebiges Subjekt S und eine Proposition p gilt: S weiß p genau dann, wenn (1) p wahr ist, (2) S davon überzeugt ist, dass p, und (3) S in seiner Überzeugung, dass p, gerechtfertigt ist. Die Standardanalyse stellt somit genau drei Bedingungen an das Vorliegen von Wissen: die Wahrheitsbedingung, die Bedingung der Überzeugung und die Rechtfertigungsbedingung. Im Folgenden werde ich diese drei Bedingungen und die Problemkomplexe, die sich jeweils aus ihnen entwickelt haben, kurz beleuchten.
2.3.1.1 Die Bedingung der Wahrheit Wahrheits- und Überzeugungsbedingung öffnen das Spannungsfeld zwischen Objektivität und Subjektivität, in dem sich die Bestimmung des Wissensbegriffs vollzieht. Wissen wird überwiegend als subjektive Einstellung verstanden, die objektiven Kriterien zugänglich ist, um eine handlungsanweisende, intersubjektive Funktion einzunehmen. Dass Wahrheit ein notwendiges Merkmal von Wissen ist, wird meist unkontrovers anerkannt. Allerdings gehen die Auffassungen darüber, wie Wahrheit metaphysisch zu verstehen ist, auseinander. Was bedeutet es, wenn wir behaupten, dass Überzeugungen wahr sind? Eine erste Annäherung an den Wahrheitsbegriff kann durch die intuitive Annahme zum Ausdruck gebracht werden, dass unsere Meinungen sich in irgend-
fünften Buch der Politeia hingegen in Abgrenzung zu „Meinen“ (vgl. Platon 1991a, 80d ff., und Platon 1991b, 474b ff.). 18 Vgl. hierzu auch Abschnitt 1.1.
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einer Weise auf die Wirklichkeit, auf eine objektive Welt beziehen. Diese Vorstellung liegt den klassischen, so genannten „realistischen“ Wahrheitsauffassungen zugrunde, deren Tradition bis auf Aristoteles zurückreicht.19 Im Zentrum der so genannten „Korrespondenztheorien“ der Wahrheit, die eine Unterklasse solcher realistischer Theorien bilden, steht die Annahme, dass Propositionen oder Aussagen deswegen wahr sind, weil sie mit der Wirklichkeit übereinstimmen oder korrespondieren. Opponenten zu dieser Auffasung sind so genannte „alethische Antirealisten“, die die Vorstellung einer von unserem Erkenntnisvermögen unabhängigen, objektiven Welt ablehnen.20 Der Streitplatz zwischen dem alethischen Anti-Realismus (auch: „epistemische Wahrheitsauffassung“) und dem alethischen Realismus (auch: „nicht-epistemische Wahrheitsauffassung“) ist für die Standardkonzeption von Wissen nicht unbedeutend. Der Grund dafür kann folgendermaßen verdeutlicht werden: Wir haben gesehen, dass Befürworter einer nicht-epistemischen Wahrheitstheorie zum einen davon ausgehen, dass die Welt objektiv existiert, d.h. unabhängig davon, wie wir sie uns vorstellen und beschreiben. Zum anderen vertreten sie die These, dass unsere Gedanken und Behauptungen auf die Welt und ihre Beschaffenheit Bezug nehmen. Befürworter einer epistemischen Wahrheitstheorie weisen diese Behauptungen zurück. Ihre zentrale These lautet, dass Definition und Kriterium für Wahrheit nicht voneinander getrennt werden können. Die Natur der Wahrheit – das, was Wahrheit dem Wesen nach ist – lässt sich gemäß dieser Auffassung nicht von den Kriterien trennen, mit deren Hilfe wir feststellen, ob Überzeugungen oder Aussagen wahr sind. Aus einer antirealistischen Perspektive wird die Vorstellung einer Übereinstimmung, die zwischen unseren Überzeugungen und objektiven Tatbeständen konstatiert wird, daher hinfällig. Wahrheit lässt sich epistemischen Wahrheitstheoretikern zufolge nur mit Rekurs auf Rechtfertigungskriterien definieren; Wissen wird in diesem Rahmen oft zweigliedrig als „gerechtfertigte Überzeugung“ bestimmt. Die dreigliedrige Standardanalyse erweist sich mit diesem Ansatz als unvereinbar, da Wahrheit und Rechtfertigung vor diesem Hintergrund nicht als unabhängige Bedingungen für Wissen aufgefasst werden können. Epistemische Wahrheitsauffassungen und in ihnen gründende Explikationen des Wissensbegriffs müssen daher als Konkurrenzprojekte zur traditionellen Analyse eingestuft werden.
19 Im vierten Buch der „Metaphysik“ bestimmt Aristoteles „Wahrheit“ („alêtheia“) folgendermaßen: „Wenn man vom Seienden behauptet, es sei nicht, oder vom Nichtseienden, es sei, dann ist dies falsch. Wenn man aber vom Seienden, es sei, und vom Nichtseienden, es sei nicht, dann ist dies wahr.“ (Aristoteles 1961, 1011b25 f.). 20 Vgl. Künne 2003, S. 20ff. sowie S. 375ff.
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Die traditionelle Wissensexplikation ist somit zwar nicht auf eine bestimmte Wahrheitstheorie festgelegt; doch sie erfordert ein Mindestmaß an Realismus im Bezug auf den Wahrheitsbegriff, damit eine dreigliedrige Wissenskonzeption über die Aufspaltung in Wahrheits- und Rechtfertigungsbedingung gewährleistet ist. Ich kann die Kontroverse zwischen epistemischen und nicht-epistemischen Wahrheitsauffassungen im Rahmen dieser Arbeit nicht ausführlich diskutieren. Ich möchte an dieser Stelle lediglich ein Argument in den Blick nehmen, dass Wolfgang Künne gegen den alethischen Anti-Realismus vorbringt.21 Künne weist folgende Kernthese, die er als „gemeinsamen Nenner“ der epistemischen Wahrheitsauffassungen von Michael Dummett und (dem frühen) Hilary Putnam herausstellt, zurück: Wenn eine Aussage wahr ist, dann muss eine Situation denkbar sein, in der jemand gerechtfertigt ist zu glauben, dass es sich so verhält, wie die Aussage sagt.22
Künnes Strategie lässt sich nun folgendermaßen ausdrücken: Er zeigt eine Situation auf, in der die Rechtfertigung für das Vorliegen eines bestimmten Sachverhalts undenkbar ist, sich aber die Zuschreibung eines Wahrheitswerts zu diesem Sachverhalt als völlig legitim und einsichtig erweist. Hierzu entwickelt er folgendes Beispiel: Angenommen, jemand befindet sich in einem windigen Feld, zeigt zu einem bestimmten Zeitpunkt t0 auf einen Baum und stellt die Behauptung „Dieser Baum trägt in t0 genau so und so viele Blüten“ auf. Im nächsten Moment wird der Baum von einem Windstoß erfasst, der ihn einige Blätter einbüßen lässt. Angenommen, der Baum trägt zu t0 genau 99 Blüten, dann lässt sich laut Künne folgende Aussage über diese fiktive Situation machen: B trägt genau 99 Blüten, aber niemand ist je gerechtfertigt zu glauben, dass es sich so verhält.23
Zwar könne jemand, so Künne, durchaus die richtige Anzahl der Blätter des Baumes zu dem gegebenen Zeitpunkt erraten und somit über eine wahre Überzeugung verfügen, doch sei es unmöglich, diese Überzeugung zu rechtfertigen – die betreffende Person müsste die Blätter nachzählen, was die Gegebenheit der Situation nicht zulässt. Es könnten noch zahlreiche andere Beispiele gefunden
21 Vgl. Künne 1992. 22 Ebd., S. 239. Vgl. auch Dummett 1976 sowie Putnam 1981. 23 Ebd., S. 240.
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werden, die alle gemeinsam dasselbe belegen wie dieses fiktive Beispiel: das, was Künne die „Rechtfertigungstranszendenz“ der Welt nennt, in der wir leben. Künnes Einwände gegen die These, dass Wahrheit ohne Rekurs auf Rechtfertigung unzulänglich und unverständlich ist, können in drei Teilargumenten systematisch zusammengefasst werden, die jeweils belegen sollen, dass wir in der fiktiven Situation durchaus die Wahrheit der Aussage „B trägt genau 99 Blüten“ verstehen können. Erstens verstehen wir sie, weil ihre Wahrheitsbedingungen sich analog zu den Wahrheitsbedingungen von Sätzen verhalten, deren Wahrheitswert wir ermitteln können (Analogie-Argument). Zweitens muss die niemandem bekannte Anzahl der Blätter eine bestimmte sein. Dank unseres Verständnisses einer indefiniten Anzahl-Aussage, deren Wahrheitsbedingungen nicht rechtfertigungstranszendent sind, verstehen wir auch die definite AnzahlAussage, indem wir sie als einen potenziellen „Wahrmacher“ auffassen (Wahrmacher-Argument). Drittens schließlich verstehen wir zweifellos viele Sätze, die durch Anwendung eines Operators auf die fragliche Behauptung erzeugt werden, beispielsweise modale Aussagen wie „Es hätte ja durchaus der Fall sein können, dass B in t0 99 Blüten trägt, obwohl niemand je gerechtfertigt ist, das zu glauben.“ Der Modaloperator könne aber, so Künne, keine „semantischen Wunder“ vollbringen; er könne aus einem sinnlosen Satz keinen sinnvollen machen. Und daher müsse man folgern, dass auch der ursprüngliche Satz sinnvoll ist (Kompositionalitäts-Argument). Im Wesentlichen stützen sich Künnes Argumente folglich auf die von ihm herausgestellte Darstellungs- und Rechtfertigungstranszendenz der Welt: Manche Wahrheiten – wie diejenige über die Anzahl der Blätter des blühenden Baumes – sind notwendigerweise rechtfertigungstranszendent, d.h. unseren Rechtfertigungsmöglichkeiten schlicht nicht zugänglich. Das bedeutet aber nicht, dass wir diese Wahrheiten nicht begreifen können. Ich halte Künnes Argumente für sehr schlagkräftig, kann aber hier keine tiefgründigere Diskussion über die Reichweite seiner Überlegungen und über mögliche Gegenreaktionen von Seiten epistemischer Wahrheitstheoretiker anführen. Für den weiteren Argumentationsverlauf der Arbeit werde ich epistemische Wahrheitstheorien nicht weiter berücksichtigen. Meine Analyse praktischer Wissensformen werde ich im Rahmen einer realistischen Wahrheitsauffasung entwickeln; ein epistemischer Wahrheitsbegriff hätte weitreichende Konsequenzen für die Analyse des Wissensbegriffs und für das Verständnis praktischer Wissensformen, die ich im Rahmen dieser Arbeit nicht verfolgen kann. Die Gegenüberstellung von epistemischen und nicht-epistemischen Wahrheitstheorien ist eine sehr vereinfachte Darstellung der Debatte um den Wahrheitsbegriff. Die beiden Theorien treten in zahlreichen Varianten auf, etwa in
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Form von „pragmatischen“, „semantischen“ oder „deflationistischen“.24 Eine differenziertere Betrachtung ist aber für den weiteren Argumentationsverlauf der Arbeit nicht wichtig. Wir können an dieser Stelle festhalten, dass die traditionelle Wissensexplikation von der jeweiligen Wahrheitsexplikation abhängt, sich aber weitestgehend neutral gegenüber verschiedenen Wahrheitstheorien verhält. Die meisten Explikationskontroversen bezüglich des Wahrheitsbegriffs sind daher im Wesentlichen als unproblematisch für die traditionelle Wissenskonzeption einzustufen. Nur epistemische Wahrheitstheorien sind unvereinbar mit der traditionellen Wissenskonzeption; sie bringen aber keine zwingenden Argumente gegen nicht-epistemische Wahrheitsauffassungen vor.
2.3.1.2 Die Bedingung der Überzeugung Die Bedingung der Überzeugung wird, ebenso wie die Wahrheitsbedingung, in der philosophischen Literatur als weitestgehend unproblematisch diskutiert. Sie fordert, dass das entsprechende Wissenssubjekt über eine propositionale Einstellung (die der Überzeugung) bezüglich des gewussten Sachverhalts verfügt. Eine Familie von Einwänden, die gegen die Überzeugungsbedingung vorgebracht werden, bezieht sich auf die Formulierung bzw. Explikation der Bedingung: Statt „überzeugt sein“ verwenden Anhänger der Standardkonzeption oftmals Verben wie „glauben“ oder „meinen“ synonym. Man könnte anmerken, dass diese Verben mit einer gewissen Unsicherheit konnotiert und somit mit Wissen schlicht unvereinbar sind. Diese Vorstellung findet sich bereits im fünften Buch der „Politeia“, in der Sokrates (bzw. Platon) die Gegenstandsbereiche von Meinen und Wissen als distinkt herausstellt.25 Durch eine Desambiguierung der betreffenden Verben können solche Einwände jedoch leicht zurückgewiesen werden: In der traditionellen Konzeption ist es sinnvoll, die Verben jeweils im Sinne von „etwas-für-wahr-halten“ zu verwenden. Auch wenn Wissen ohne das Spannungsfeld des Skeptizismus nicht denkbar wäre, erscheint es schlicht kontraproduktiv, Momente des Zweifelns und der Unsicherheit in den Wissensbegriff mit aufzunehmen; vielmehr muss Wissen mit diesen Momenten kontrastiert werden. Die Mehrdeutigkeit, die dem Überzeugungs- bzw. Meinungsbegriff in der Alltagssprache innewohnt, kann somit durch geeignete Desambiguierung im Rahmen der Explikationsprozedur behoben werden.
24 Für differenziertere Darstellungen der jeweiligen Wahrheitstheorien siehe Künne 2003 sowie Skirbekk 1977. 25 Vgl. Platon 1991b, 474b ff.
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Colin Radford versucht, ein Argument gegen die Überzeugungsbedingung ins Feld zu führen.26 Anhand einiger Beispiele möchte er aufzeigen, dass zu glauben, dass p, oder sich sicher zu sein, dass p, nicht notwendig für das Vorliegen von Wissen ist. Radfords Argumentation kann folgendermaßen rekonstruiert werden:27 Angenommen, Primaner Werner wird von seinem Geschichtslehrer gefragt, in welchem Jahr Karl der Große gestorben ist. Obwohl Werner glaubt, dass er die Antwort nicht nennen kann, sagt er, nachdem er von seinem Geschichtslehrer ermutigt wird, eine Jahreszahl zu nennen: „814“. Bei dieser Antwort soll es sich nicht um ein bloßes Raten Werners handeln, also um irgendeine Zahl, die ihm aus heiterem Himmel eingefallen ist und zufälligerweise den historischen Tatsachen entspricht. Wir sollen vielmehr davon ausgehen, dass Werner ein fleißiger und interessierter Schüler ist und sich in der mittelalterlichen Geschichte sehr gut auskennt. Radford trifft nun die folgenden beiden Aussagen über die geschilderte Situation: (1) Werner ist nicht überzeugt davon, dass das Todesjahr Karls des Großen 814 ist. (Schließlich glaubt er, er wisse die Antwort nicht und würde nur auf gut Glück raten.) (2) Werner weiß, dass Karl der Große 814 gestorben ist. (Seine Antwort kann aufgrund der genannten Hintergrundbedingungen nicht als bloßes Raten eingestuft werden.) Aus diesen beiden Thesen schließt Radford, dass er einen Fall von Wissen aufgezeigt hat, der Wissen ohne Überzeugung und daher ein Gegenbeispiel zur traditionellen Wissenskonzeption darstellt. Die Intuitionen, auf welche Radford die Bewertung dieses Beispiels und somit sein Argument gegen die Überzeugungsbedingung stützt, lassen sich jedoch leicht anfechten. Erstens liegen plausible Alternativinterpretationen des von ihm geschilderten Beispiels auf der Hand, welche die Behauptung (2) in Frage stellen. So könnte man behaupten, Werner verfüge nicht über das entsprechende Wissen. Dennoch lässt sich seine Antwort nicht als bloßes Raten, sondern als ein gut begründetes Raten einstufen. Da Werner als guter Geschichtsschüler beschrieben wird, könnte man etwa behaupten, dass er auf der Grundlage seiner fundierten Kenntnisse über andere historische Daten und Epochen sowie über historische Zusammenhänge richtige Einschätzungen bezüglich des Todesdatums Karls des Großen vornehmen kann. Beispielsweise könnte man
26 Vgl. Radford 1966, S. 11. 27 Vgl. Ebd., S. 1ff.
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sagen, er wisse, dass das Datum einer bestimmten Zeitspanne zuzuordnen ist. Auch wenn seine Antwort nicht auf ein richtiges Erinnern des Todesdatums gründet, ist sie somit auch nicht ein Raten „ins Blaue hinein“, sondern eine Antwort, die in einem gewissen Informationshorizont verankert ist. Gemäß dieser Interpretation wird Werner zwar nicht das Wissen, dass Karl der Große 814 gestorben ist, zugesprochen; dennoch wird sie der Intuition gerecht, dass Werner nicht völlig unwissend bezüglich Karls des Großen und der entsprechenden Geschichtsepoche ist. Seine historischen Kenntnisse werden ihm in diesem Interpretationsrahmen anerkannt, obwohl ihm das Detailwissen – das Wissen über das besagte Datum – nicht zugesprochen wird. Die Frage, ob Werner vor diesem Hintergrund davon überzeugt ist, dass Karl der Große 814 gestorben ist, ist umstritten, muss aber für die Zurückweisung des Radford’schen Arguments nicht geklärt werden. Da gemäß dieser Interpretation Werner kein Wissen über Karls Todesdatum zukommt, wird Radfords Argument die Schlagkraft entzogen, versucht er doch einen Fall von Wissen ohne das Vorliegen einer Überzeugung aufzuzeigen. Die angeführte Interpretation kann als überzeugende Alternative der Radford’schen Interpretation gegenübergestellt werden. Zudem weist sie den Vorteil auf, eine differenzierte, alltagsnahe Erklärung des Beispiels zu liefern, die von einer Schwarz-Weiß-Einteilung in „Wissen“ und „Nichtwissen“ absieht. Zweitens lässt sich auch eine Alternativinterpretation finden, die die Behauptung (1) in Frage stellt. Man könnte Werners Situation durchaus in der Weise beschreiben, dass man ihm eine Überzeugung zuschreibt, und zwar durch den Verweis auf das Vorliegen einer unbewussten Überzeugung. Auch in diesem Interpretationsrahmen verliert Radfords Argument seine Schlagkraft, da davon abgesehen wird, Überzeugungen unabdingbar an Bewusstsein zu knüpfen, und sein Beispiel somit keinen Fall für das Vorliegen von Wissen ohne Überzeugung darlegt, sondern nur einen Fall von Wissen und unbewusster Überzeugung. Wir können festhalten, dass Radfords Argument mit dem Hinweis auf überzeugende Alternativinterpretationen seines vermeintlichen Gegenbeispiels als wenig bedrohlich für die Standardkonzeption eingestuft werden kann. Was Radford mit seinem Beispiel ans Licht bringt, ist allerdings eine interessante und wichtige Schwierigkeit, die wir aus der alltäglichen Erfahrung nur zu gut kennen: In manchen Situationen, in denen Subjekte sich bezüglich ihres Wissens und ihrer Erinnerungen nicht richtig einschätzen und unsicher sind, ist es äußerst schwierig, eine eindeutige Klassifikation darüber abzugeben, ob Wissen vorliegt oder nicht. Aus Radfords Argumentation lassen sich zudem interessante Einblicke im Bezug auf die Frage gewinnen, wie wir Wissen zuschreiben, sei es nun propositionales oder praktisches Wissen: Radford greift in seinem Beispiel einen isolierten Wissensbestand Werners heraus. Häufig schreiben wir Wissen aber nicht in Form von einzelnen Meinungen zu, sondern beziehen uns auf bestimmte Wissensbereiche – etwa
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auf Werners beeindruckendes Wissen über mittelalterliche Geschichte. Wir beziehen uns damit auf einen umfassenden Wissenskorpus. So verhält es sich auch bei praktischen Wissensformen: Wenn wir jemandem die Fähigkeit des Klavierspielens zuschreiben, so beziehen wir uns in der Regel nicht auf einzelne Handlungsweisen, die der Betreffende erfolgreich ausführt, sondern gehen davon aus, dass sich sein Wissen in unterschiedlichen Tätigkeiten oder Äußerungen manifestiert. Neben der Frage, ob die Überzeugungsbedingung eine notwendige Bedingung für Wissen darstellt, gibt es zudem eine Streitfrage, wie der Begriff der Überzeugung (oder allgemeiner gefasst, die mentale Einstellung des Wissenssubjekts) aufzufassen ist. Hierbei lassen sich grob zwei Kernpositionen unterscheiden, eine okkurrente Auffassung von Überzeugung einerseits, eine dispositionale andererseits.28 Gegenüber einer Explikation des Überzeugungsbegriffs gemäß der ersten oder der zweiten Variante verhält sich die traditionelle Wissensdefinition weitgehend neutral. Allerdings spielt die Explikation, für die sich Erkenntnistheoretiker jeweils im Rahmen der Analyse des Wissensbegriffs entscheiden, eine bedeutende Rolle für die Frage, wie weitreichend Wissen ist (ob es sich beispielsweise nur auf sprachliche Repräsentationen beschränkt oder ob auch nicht-sprachliche Wissensformen zugelassen werden) und für die Frage, welchen Organismen Wissen zugesprochen werden kann. Auf diese Frage werde ich im dritten Kapitel zurückkommen.
2.3.1.3 Die Bedingung der Rechtfertigung Als Sokrates die von Theaitetos aufgestellte These zurückweist, dass Wissen „richtige Vorstellung“ sei, nimmt er auf ein Beispiel Bezug.29 Wenn Richter Urteile auf der Grundlage bestimmter Vorstellungen treffen würden, so könnte es sein, dass sie von Zeugen im Gericht überzeugt wurden „in Bezug auf etwas, das nur, wer es selbst gesehen hat, wissen kann, sonst aber keiner“.30 In diesem Fall könne man nicht von Wissen sprechen, obwohl „richtige Vorstellung“ vorliege. Im weiteren Dialogverlauf versuchen Sokrates und Theaitetos daher eine treffendere Definition zu geben, schlagen schließlich „richtige Vorstellung in Verbindung mit einer Erklärung“ vor und ergänzen die Explikation von epistêmê somit um eine Rechtfertigungsbedingung.31 Die Beurteilung der von Sokrates geschilderten Situation fällt meist unterschiedlich aus: Einige Erkenntnistheoretiker würden behaupten, dass ein Wissen
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Vgl. hierzu Hyman 1999. Vgl. Platon 1991c, 201a7ff. Platon 1991c, 201b7f. Vgl. Platon 1991c, 201c8ff.
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der Richter vorliegt, das auf Zeugenaussagen als legitimer Wissensquelle beruht.32 Andere wiederum würden behaupten, dass die Richter nicht über Wissen verfügen, weil ihre Überzeugungen einen anderen Status aufweisen als in der Situation, in der sie das, worüber sie Aussagen treffen, mit eigenen Augen gesehen und erlebt hätten, und dass auf diesem Unterschied die Unterscheidung zwischen Wissen und bloß wahrer Überzeugung beruht. Abgesehen von dieser Streitfrage legt die Dialogszene in jedem Fall eines nahe: Wissen wird in der Alltagssprache nicht auf wahre Überzeugung beschränkt. Vielmehr wird eine Rechtfertigungsbedingung verlangt, die der Intuition gerecht zu werden versucht, dass wir nicht alle Instanzen wahrer Meinungen als Wissen bezeichnen, sondern einige Fälle ausschließen, in denen die betreffenden Subjekte durch reinen Zufall bzw. so genannte „epistemische Glücksfälle“ („epistemic luck“) eine wahre Überzeugung haben. Auch wenn durch die Rechtfertigungsbedingung keine Infallibilität des Wissens impliziert werden soll, wird dennoch ein gewisses Maß an Stabilität in Form einer Fundierung oder Garantie der betreffenden Überzeugungen postuliert. Diese Ansicht wird von den meisten Ansätzen geteilt, auch wenn die Rechtfertigungsbedingung oft sehr unterschiedlich ausbuchstabiert wird. Die Explikation der dritten Bedingung für Wissen stößt zweifellos auf die meisten Kontroversen und Problemkomplexe in der Erkenntnistheorie. Die Forderung nach einer Fundierung von Überzeugungen ist mit dem so genannten „Agrippas“- bzw. „Münchhausen“-Trilemma konfrontiert, das sich zwangsläufig aus dem „Prinzip der zureichenden Begründung“ ergibt.33 Nach diesem Trilemma ist man den folgenden drei Möglichkeiten ausgeliefert, die allesamt keine zufriedenstellende Untermauerung von Überzeugungen abgeben: (1) einem praktisch nicht durchführbaren infiniten Regress, der dadurch entsteht, dass man bei der Suche nach Gründen immer weiter zurückgeht und jede Annahme in der Begründungskette hinterfragt, (2) einem logischen Zirkel, der sich dadurch ergibt, dass man auf Gründe zurückgreift, die zuvor schon einmal in der Kette als zu begründende Glieder aufgetaucht sind, und schließlich (3) einem Abbruch des Begründungsverfahrens an einem willkürlichen Punkt. Somit ist die Rechtfertigungsbedingung zum einen ein Angriffspunkt für die spektische Herausforderung. Zum anderen steht sie im Mittelpunkt des „Gettier“-Problems,
32 Vgl. zu dieser Diskussion beispielsweise Scholz 2001. Die Ausprägungen der so genannten „sozialen Erkenntnistheorie“, die insbesondere in den letzten Jahren an Einfluss gewonnen haben, kann ich in dieser Arbeit aus Platzgründen nicht berücksichtigen (vgl. hierzu etwa Kusch 2002). Eine Analyse praktischer Wissensformen aus der Perspektive der sozialen Erkenntnistheorie kann durchaus als Konkurrenzprojekt zu dem in dieser Arbeit vorgestellten naturalistischen Zugang aufgefasst werden. 33 Vgl. hierzu Albert 1991, S. 9ff.
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Die Rolle des Wissensbegriffs in der Erkenntnistheorie
das zahlreiche Debatten über die Frage, welche Meinungen wir als gerechtfertigt anerkennen und welche nicht, nach sich zog.
2.3.2 Die „Gettier“-Fälle Durch seinen nur knapp drei Seiten umfassenden, 1963 erschienenen Aufsatz „Is Justified True Belief Knowledge?“ gelang es Edmund Gettier, die Diskussion um den Wissensbegriff entscheidend zu beeinflussen. Gettier argumentiert gegen unterschiedliche Ausprägungen der Standardanalyse von Wissen, wie sie beispielsweise von Alfred Jules Ayer und Roderick Chisholm vertreten wurden und zu seiner Zeit weitestgehend auf Konsens stießen.34 Indem er zwei Gegenbeispiele konstruiert, versucht er aufzuzeigen, dass die drei Bedingungen, über die Wissen in diesen Ansätzen definiert wird, nicht hinreichend sind.35 Die beiden Beispiele, die heute unter dem Begriff „Gettier“-Fälle gefasst werden, bedienen sich geschickter logischer Verknüpfungen bestimmter Propositionen, die aus Überzeugungen geschlossen werden. Durch die Tatsache, dass sich die Beurteilung der Fälle gemäß der Standardanalyse nicht mit unseren Intuitionen deckt, versucht Gettier den klassischen Wissensbegriff als unzulänglich herauszustellen. Im Folgenden sollen die beiden Beispiele kurz rekonstruiert und diskutiert werden. Beispiel 1: Smith, die Münzen und der Job36 Smith und Jones haben sich für dieselbe Anstellung beworben. Von Smith wird angenommen, dass er gute Gründe hat, von folgender Konjunktion überzeugt zu sein: „Jones ist derjenige, der die Stelle erhalten wird, und Jones hat zehn Münzen in seiner Hosentasche“ (p∧q). Aus dieser Konjunktion zieht Smith folgenden deduktiven Schluss: „Derjenige, der die Stelle erhalten wird, hat zehn Münzen in seiner Hosentasche“ (r). Er akzeptiert die zwingende Logik dieses Schlusses und ist infolgedessen von Proposition r überzeugt. Da sich allerdings herausstellt, dass Smith selbst die Stelle erhalten wird und darüber hinaus – ohne dass er es weiß – auch zehn Münzen in seiner Tasche hat, ergibt sich, dass zwar die Proposition r wahr ist, nicht aber die Konjunktion p∧q, aus welcher Smith erstere schlussfolgerte. Dass r wahr ist, ergibt sich aus einer anderen Konjunktion: aus derjenigen, die die Propositionen „Smith ist derjenige der die Stelle erhalten wird“ und „Smith hat zehn Münzen in seiner Hosentasche“ (p*∧q*) verknüpft. Im Bezug auf r gilt in diesem Szenario: (1) r ist wahr, (2) Smith ist überzeugt, dass r, und (3) Smiths Überzeugung, dass r, ist gerechtfertigt. Gemäß der Standardanalyse verfügt Smith folglich über das Wissen, dass r. Intuitiv würden wir ihm dieses Wissen aber nicht zusprechen.
34 Vgl. Ayer 1956, S. 43, sowie Chisholm 1957, S. 16. 35 Vgl. Gettier 1963, S. 121. 36 Vgl. Ebd., S. 122.
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In diesem Beispiel nimmt Gettier geschickt Bezug auf ein Referenzproblem: Smith ist deswegen von der Proposition r überzeugt, da er annimmt, dass „derjenige“ auf Jones referiert. Er ist nicht der Überzeugung, dass damit auf eine beliebige Person Bezug genommen wird, ohne dass sich die Wahrheitsbedingungen ändern. Allerdings folgt die Proposition r logisch aus zwei Überzeugungen (aus p und q), die Smith hat und für die er gute Gründe angeben kann. Smith zieht also eine Schlussfolgerung, deren Ergebnis r zufälligerweise wahr ist, aber er zieht diese Schlussfolgerung auf der Grundlage der falschen Konjunktion p∧q. Das zufällige Ergebnis des Szenarios – dass Smith von einer wahren Proposition überzeugt ist und auch noch gute Gründe dafür hat – ist nach Gettier nicht vereinbar mit unserem Veständnis von Wissen. Beispiel 2: Smith, Jones und der Ford37 Smith hat gute Gründe, von folgender Proposition über seinen Freund Jones überzeugt zu sein: „Jones besitzt einen Ford“ (p). Smith bildet nun die drei folgenden Disjunktionen, in denen Bezug auf einen weiteren Freund Brown genommen wird, dessen momentaner Aufenthaltsort ihm unbekannt ist: (1) „Entweder besitzt Jones einen Ford oder Brown ist in Boston“ (p∨q), (2) „Entweder besitzt Jones einen Ford oder Brown ist in Barcelona“ (p∨r), und (3) „Entweder besitzt Jones einen Ford oder Brown ist in Brest-Litovsk“ (p∨s). Von allen drei Propositionen ist Jones überzeugt, da ihre Wahrheit aus der Proposition p abgeleitet werden kann, für deren Annahme Jones gute Gründe hat. Nun stellt sich aber heraus, dass p falsch ist, da Jones gar keinen Ford besitzt; zufälligerweise befindet sich Brown aber in Barcelona, so dass r wahr ist. Aus diesem Umstand ergibt sich, dass die Disjunktion p∨r wahr ist. Jones, so hatten wir bereits festgestellt, ist von der Wahrheit dieser Disjunktion überzeugt und hat gute Gründe dafür. Gemäß der Standardanalyse kommt Jones folglich Wissen, dass p∨r zu, was nach Gettier unseren Intuitionen entgegenläuft.
In diesem Beispiel stützt sich Gettier auf ein Problem, das man auch als „Wahrmacher-Problem“ bezeichnen könnte: Smith ist gerechtfertigterweise von der Wahrheit der Disjunktion p∨r überzeugt, da er gute Gründe für die Überzeugung, dass p, hat, und p als „Wahrmacher“ für die Disjunktionen fungiert, impliziert doch die Wahrheit einer durch Disjunktion verknüpften Proposition die Wahrheit der gesamten Disjunktion. Allerdings stellt sich heraus, dass zwar p falsch ist, doch zufälligerweise die Disjunktion p∨r wahr ist, da die Proposition r (eine Proposition, bezüglich der Smith keine Überzeugung hat) als Wahrmacher der gesamten Disjunktion fungiert. Die beiden Beispiele können durch zwei Merkmale charakterisiert werden: Erstens wird jeweils eine Fallibilität der Rechtfertigung vorgeführt, da die Grün-
37 Vgl. Ebd., S. 122f.
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Die Rolle des Wissensbegriffs in der Erkenntnistheorie
de, auf welche Smith jeweils seine Überzeugungen stützt, sich als falsch erweisen. Auch wenn rechtfertigende Annahmen unter normalen Umständen als wahrheitsfördernd oder -anzeigend aufgefasst werden können, erweisen sie sich also keinesfalls immer als reliabel. Zweitens wird in den Beispielen jeweils ein epistemischer Glücksfall konstituiert. In beiden Beispielen erweist sich die zwar begründete, aber eben durch falsche Annahmen begründete Überzeugung als wahr. Die fiktiven Situationen sind jeweils so geschickt konstruiert, dass die Art und Weise, wie Wahrheits- und Rechtfertigungsbedingung zusammenwirken, als „Glück im Unglück“ aufgefasst werden kann. Wir können in den beiden Situationen Smith aus guten Gründen kein Wissen zusprechen, und zwar deswegen, weil er sich nicht in der gleichen Weise verhält wie bei „wirklichem“ Wissen: Smith wird in den Beispielen vielleicht traurig sein, weil er vermutet, dass Jones bei der Stellenauswahl vorgezogen wurde, oder er wird neidisch auf Jones sein, weil er glaubt, dass dieser einen Ford besitzt, und er nur ein Fahrrad hat. Dieses Verhalten würde Smith nicht zeigen, wenn er über die Fallibilität seiner rechtfertigenden Gründe informiert wäre. Eine mögliche Reaktion auf die „Gettier“-Beispiele besteht darin, die ihnen zugrunde liegenden Intuitionen – dass sie Fälle von wahren, gerechtfertigten Überzeugungen aufzeigen, die wir nicht als Wissen einstufen würden – oder die Hintergrundbedingungen, auf denen Gettiers Schlüsse beruhen (etwa das so genannte „Geschlossenheitsprinzip“ von Wissen bezüglich logischer Implikation) zurückzuweisen. Wenn wir uns die von Siegwart vorgenommenen Unterscheidungen von Explikationsdebatten ins Gedächtnis rufen, so kann die von Gettier angestoßene Debatte zunächst als eine externe maßstäblich Kontroverse aufgefasst werden: Zwischen denjenigen, die die „Gettier“-Fälle als überzeugende Gegenbeispiele zur Standardkonzeption betrachten, und denjenigen, die an ihrer Argumentationskraft zweifeln, herrscht Uneinigkeit darüber, welche Intuitionen im Bezug auf Wissen als Maßstab für eine Explikation anzusetzen sind. Die Sreitfrage ist hierbei etwa, ob das Geschlossenheitsprinip für Wissen bezüglich logischer Implikation gelten muss oder nicht. Eine strikte Zurückweisung der Beispiele erscheint als zu vorschnell, da zum einen die Aufgabe des Geschlossenheitsprinzips ein umstrittener Preis ist, der dafür zu zahlen wäre, zum anderen aber insbesondere deswegen, weil die „Gettier“-Fälle verzwickte Probleme für die klassische Wissensexplikation aufzeigen, die nicht leicht von der Hand zu weisen sind. Die beiden Beispiele zeigen, dass für die Klassifizierung einer Überzeugung als Wissen nicht nur eine externe Bedingung (Wahrheit) von Bedeutung ist, sondern noch eine weitere: die Nicht-Zufälligkeit der Wahrheit der in Frage stehenden Proposition. Somit stellen die „Gettier“ Fälle ernst zu nehmende Herausforderungen für die Standardanalyse von Wissen dar, zeigen sie doch, dass die klassischen Bedingungen
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zur Wissensexplikation nicht hinreichend sind, und dass daher eine Änderung oder Erweiterung der klassischen Konzeption erforderlich ist. Die Frage, wie die Wissensanalyse modifiziert werden muss, um gegen die dargestellten Fälle immun zu sein, ist als das sog. „Gettier“-Problem in die Literatur eingegangen. Die „Gettier“-Fälle werden nicht nur als gravierende Herausforderung für die Wissensanalyse betrachtet. Der Umstand, dass solche Fälle konstruiert werden können, wird mittlerweile als ein Merkmal für (propositionales) Wissen herausgestellt. So behaupten auch Stanley und Williamson im Hinblick auf ihre „knowing-how“-Analyse, dass im Falle einer Reduzierbarkeit praktischen Wissens auf propositionales Wissen, auch eine Anfälligkeit gegenüber „Gettier“Beispielen zu erwarten ist.38 Ted Poston greift diese Überlegungen auf und versucht, contra Stanley und Williamson, knowing how als eine Form von Wissen herauszustellen, für die prinzipiell keine „Gettier“-Beispiele gefunden werden können. Poston behauptet, dass es daher gute Gründe gibt, an dem Reduktionsargument Stanleys und Williamsons zu zweifeln.39 In einem jüngeren Aufsatz zweifelt Stanley die Schlagkraft der Argumente Postons an, indem er behauptet, dieser setzte die intentionale Ausführung intelligenter Fähigkeiten mit knowing how gleich.40 Wir haben im ersten Kapitel gesehen, dass Stanley und Williamson gegen ebendiese Gleichsetzung argumentieren. Die Debatte um die Frage, ob auch „Gettier“-Fälle für praktisches Wissen konstruiert werden können, möchte ich an dieser Stelle nicht vertiefen. Es ist sicherlich plausibel, dass wir solche Fälle vermuten, falls praktisches Wissen als ein propositionales Wissen aufgefasst wird. Dennoch sollte die Konstruktionsmöglichkeit solcher Beispiele nicht als schlagendes Argument für eine prinzipielle Unterscheidung von praktischen und propositionalen Wissensformen gelten. Eine naheliegende Antwort auf das „Gettier“-Problem ist die Erweiterung der Standardanalyse um eine vierte Bedingung. Beispielsweise hat Michael Clark in einem Kommentar zu Gettiers Aufsatz vorgeschlagen, zusätzlich zu fordern, dass die Gründe, auf die das Wissenssubjekt S seine Überzeugung stützt, nicht falsch sein dürfen, dass also die rechtfertigenden Überzeugungen wahr sein müssen.41 Clark behauptet, dass eine Überzeugung von S dann ausreichend fundiert ist, wenn alle Gründe, die in der betreffenden Rechtfertigungskette angegeben werden, wahr sind. Allerdings ist auch diese Konzeption nicht gegen Einwände immun: Sie hat zwar nicht mehr mit den „Gettier“-Fällen zu kämpfen, muss sich aber gegen andere konstruierbare Gegenbeispiele behaup-
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Vgl. Stanley & Williamson 2001, S. 435. Vgl. Poston 2009, S. 743ff. Vgl. Stanley 2011, S. 217. Vgl. Clark 1963, S. 47.
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ten können, die eine weitere Modifikation oder Ergänzung erzwingen.42 Neben Clarks Ansatz stehen unzählige Variations- und Modifikationsversuche der Standardanalyse, die als Antwort auf das „Gettier“-Problem entwickelt wurden. Die Unterscheidung zwischen Internalismus und Externalismus bezüglich epistemischer Rechtfertigung bietet eine systematische Einordnung dieser Versuche. Als internalistisch werden diejenigen Positionen klassifiziert, die annehmen, dass der Faktor, der wahre Überzeugungen fundieren soll, dem Wissenssubjekt „kognitiv zugänglich“ ist. Demgemäß muss sich die betreffende Person der rechtfertigenden Annahmen in irgendeiner Weise bewusst sein, wenn wir ihr Wissen zusprechen. Externalisten verzichten auf eine solche Forderung.43 Im Folgenden werde ich dieses Spannungsfeld zwischen Internalismus und Externalismus kurz beleuchten, indem ich jeweils einschlägige Positionen herausgreife. Eine erschöpfende Diskussion externalistischer und internalistischer Ansätze würde ein ganzes Buch, wenn nicht gar mehrere füllen. Im Rahmen dieser Arbeit ist es ausreichend, einige Grundideen der jeweiligen Positionen einander gegenüberzustellen und zu untersuchen, wie die Debatte im Hinblick auf die vorgenommenen Unterscheidungen von Explikationskontroversen zu verorten sind. Zudem möchte ich einen Blick auf die Frage richten, welche Konsequenzen sich aus dem Streitfeld zwischen Internalismus und Externalismus für eine Analyse des Wissens im Allgemeinen, und somit auch für praktische Wissensformen, ergeben.
2.3.3 Internalistische Positionen Oft wird das internalistische Modell der Rechtfertigung als klassisches Modell der Erkenntnistheorie aufgefasst, während externalistische Ansätze jüngere, hauptsächlich im späten 20. Jahrhundert entwickelte Gegenpositionen bilden.44 Der gemeinsame Nenner von internalistischen Positionen liegt in der Annahme, dass rechtfertigende Gründe dem Wissenssubjekt kognitiv zugänglich sind. Wie kann die Vorstellung, dass Rechtfertigung in erster Linie von internen Faktoren abhängt, motiviert werden? Richard Foley und Laurence BonJour füh-
42 Vgl. hierzu auch den von Alvin I. Goldman konstruierten „Barn County Case“ (vgl. Goldman 1976, S. 772f.). 43 Zur Unterscheidung zwischen Internalismus und Externalismus im Bezug auf epistemische Rechtfertigung vgl. auch Bernecker & Dretske 2000, S. 65ff. 44 Vgl. BonJour 1985, S. 37, sowie Goldman 1980, S. 247. William Alston argumentiert gegen eine solche Auffassung und behauptet, dass zeitgenössische Internalisten sich häufig auf Autoritäten berufen, denen tatsächlich keine reine internalistische Rechtfertigungsauffassung zugeschrieben werden kann (vgl. Alston 2004, S.37ff.).
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ren Gedankenexperiment an, um die Plausibilität internalistischer Rechtfertigungsauffassungen aufzuzeigen:45 Foley verweist auf eine Dämonenwelt W', die sich von unserer tatsächlichen Welt W dadurch unterscheidet, dass uns ein böser Dämon über die Wirklichkeit täuscht und die meisten unserer Überzeugungen daher falsch sind. Wir sollen annehmen, dass sich unsere Überzeugungen, Erinnerungen und Erfahrungen in der Dämonenwelt scheinbar nicht von denjenigen in unserer Welt unterscheiden. Würden wir nun behaupten, dass unsere Meinungen in der tatsächlichen Welt gerechtfertigt sind, in der Dämonenwelt aber nicht? Foley verneint dies: Er behauptet, dass wir die jeweiligen Überzeugungen in beiden Welten als epistemisch rational und begründet erachten.46 Rechtfertigung hänge nicht von der Beschaffenheit unserer Welt, sondern von unserer eigenen Perspektive ab. BonJour verweist auf einen anderen Fall:47 Wir sollen uns Norman vorstellen, der ein absolut zuverlässiges Talent zum Hellsehen hat, sich aber dieser Gabe nicht selbst bewusst sich. Eines Tages kommt Norman zu der Überzeugung, dass sich der Präsident der Vereinigten Staaten in New York City aufhält. Diese Überzeugung wird einfach durch seine übernatürliche Fähigkeit hervorgerufen; er selbst kann keine Gründe für oder gegen die genannte Annahme vorbringen. Ist Normans Überzeugung, dass sich der Präsident in New York City aufhält, nun gerechtfertigt? BonJour zufolge ist zwar Normans Überzeugung durch eine absolut zuverlässige Methode zustande gekommen. Dennoch gerate eine Zuschreibung der Rechtfertigung in Konflikt mit unseren Intuitionen: Wir würden Normans Überzeugung schlicht nicht für gerechtfertigt halten, weil es sich um eine Art „übersinnliche Eingebung“ handelt und Norman aus seiner persönlichen Perspektive keine Gründe oder Belege benennen kann, die seine Meinung stützen. Foley und BonJour wenden sich mit ihrer Argumentation gegen einen so genannten „externalistischen Reliabilismus“, der in der jüngeren Erkenntnistheorie breite Zustimmung findet: Rechtfertigung wird demzufolge im Sinne eines „Gerechtfertigtseins“ auf der Grundlage bestimmter zuverlässiger Methoden der Überzeugungsbildung verstanden. Die Schlagkraft ihrer Beispiele wird allerdings sehr kontrovers beurteilt. Man kann etwa einwenden, dass jeweils auf fiktive Fälle Bezug genommen wird, die intuitiv nicht zu einer eindeutigen Bewertung führen: Es ist fraglich, ob es sich in Normans Fall überhaupt um eine „echte“ Überzeugung, und nicht nur um eine Art „eingepflanzte“ Annahme handelt. Im Bezug auf Foley kann man hingegen vorbringen, dass unsere eigene
45 Vgl. Foley 1985, S. 189f. 46 Vgl. Ebd., S. 190. 47 Vgl. BonJour 1985, S. 41ff.
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Perspektive für eine Rechtfertigung unserer Überzeugungen schlicht nicht ausreicht: Rechtfertigungen müssen wir nicht nur als Begründungen anerkennen; sie werden auch als „wahrheitsförderlich“ oder „wahrheitsanzeigend“ aufgefasst.48 Vor diesem Hintergrund erscheint eine Rechtfertigung ohne jeden Bezug auf die externe Welt belanglos. Anhand der Argumentation Foleys und BonJours wird deutlich, dass internalistische Konzeptionen meist von einem so genannten „epistemischen Deontologismus“ motiviert sind.49 Demgemäß liegt Rechtfertigung in der Erfüllung bestimmter epistemischer Pflichten hinsichtlich der Bildung dieser Überzeugungen begründet. Diese epistemischen Pflichten werden hierbei aus unserem epistemischen Ziel abgeleitet, wahre Überzeugungen zu erlangen, falsche hingegen zu vermeiden. Internalistische Positionen drehen sich im Wesentlichen um zwei Kernfragen: Zum einen geht es um die Frage, was wir als gute Gründe oder Rechtfertiger für Überzeugungen anerkennen; zum anderen geht es um die Frage, wie wir uns als Wissenssubjekte zu diesen Gründen verhalten. Im Hinblick auf diese beiden Fragen spielt die Struktur der Rechtfertigung eine zentrale Rolle, die von den jeweiligen Autoren unterschiedlich aufgefasst wird. BonJour spricht sich gegen eine so genannte „fundamentalische“ Sichtweise aus, d.h. er lehnt die Vorstellung von bestimmten basalen Überzeugungen ab, auf deren Grundlage wir Rechtfertigungen anstellen. Diese Vorstellung ist laut BonJour schlicht von einem infiniten Regress bedroht:50 Um epistemisch verantwortungsvoll zu sein, müssten wir über Rechtfertigungen für die Meinungen verfügen, die das Fundament bilden sollen. Und dieser Umstand führe zu der Forderung, dass weitere, basalere Überzeugungen vorliegen müssen, die eine solche Rechtfertigung leisten können. Aus diesem Grund schlägt BonJour eine „kohärentistische“ Rechtfertigungsauffassung vor:51 Meinungen können demzufolge kraft ihrer Zugehörigkeit zu einem kohärenten Überzeugungsnetz als gerechtfertigt herausgestellt werden; dieses Netz ist durch komplexe Beziehungen zwischen den einzelnen Meinungen gekennzeichnet, die im Gegensatz zu den asymmetrischen Beziehungen stehen, von denen Fundmentalisten ausgehen. Unser epistemisches Ziel ist es, so BonJour, ein möglichst umfassendes Netz zu gewinnen, da dies die Wahrheit unserer Überzeugungen wahrscheinlich macht. Für das Vorliegen begründeter Meinungen stellt BonJour die Anforde-
48 Diesem Merkmal der Rechtfertigung kommt in der von Ansgar Beckermann angestoßenen Debatte eine zentrale Funktion zu. Vgl. hierzu Abschnitt 2.4. 49 Vgl. hierzu Alston 1989a, S. 115ff. 50 Vgl. BonJour 1980, S. 55. 51 Vgl. BonJour 1976, S. 284ff.
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rung einer so genannten „Meta-Rechtfertigung“:52 Damit eine Person epistemisch dazu gerechtfertigt ist, eine bestimmte Überzeugung zu akzeptieren, muss sie „im kognitiven Besitz“ über die vollständigen und triftigen Gründe für die Annahme sein, dass die entsprechende Überzeugung wahr ist.53 Dies ist eine sehr hohe Anforderung, die auf vielfältige Kritik gestoßen ist: Es ist durchaus fraglich, ob BonJours Anforderung tatsächlich notwendig für die Begründung von Überzeugungen ist. In jedem Fall würde, wenn überhaupt, nur eine sehr kleine Menge unserer Meinungen dieses Kriterium erfüllen. Neben fundamentalischen und kohärentistischen Auffassungen stehen so genannte „kontextualistische Positionen“, die in der jüngeren Erkenntnistheorie viel Aufmerksamkeit finden:54 Epistemische Kontextualisten behaupten, dass es basale Überzeugungen gibt, die am Ende von Rechtfertigungsketten stehen, dass aber der Status von Überzeugungen in Bezug auf eine Rechtfertigungskette wesentlich vom Kontext abhängt. Basale Gründe sind in diesem Bild nicht über alle Zeiten hinweg festgelegt. Vielmehr können in Abhängigkeit der betreffenden Situation unterschiedliche Überzeugungen diese Rolle einnehmen. Für alle internalistischen Positionen ergibt sich eine Schwierigkeit im Hinblick auf das von ihnen verwendete Vokabular: Dadurch, dass Internalisten Begriffe wie „Gründe“, „Rechtfertigung“ oder „Rationalität“ ins Zentrum stellen, die nach einer Explikation verlangen, wird von einigen Seiten dafür argumentiert, dass sie ohne eine Anbindung an zeitgenössische Theorien rationaler Überzeugungen und Analysen der Bedingungen, die der Modifikation dieser Überzeugungen zugrunde liegen, zu unspezifisch und unbegründet bleiben.55 Foleys Theorie kann als ein Versuch aufgefasst werden, diesem Umstand entgegenzuwirken, da er sich intensiv mit dem Rationalitätsbegriff befasst. Foley wählt für seine internalistische Theorie einen anderen Ausgangspunkt als BonJour: Statt die Zusammenhänge zwischen einzelnen Überzeugungen zu analysieren, stellt er den Begriff der epistemischen Rationalität in den Mittelpunkt seiner Konzeption. Wir müssen laut Foley die Vorstellung aufgeben, dass unsere Rechtfertigungen in irgendeiner Weise die Wahrheit unserer Aussagen garantieren. Die Objektivität der Wahrheit und die subjektive Perspektive der Rechtfertigung sind ihm zufolge unvereinbar. Im Bezug auf eine Fundierung unserer
52 Vgl. BonJour 1989, S. 57ff. 53 Vgl. Ebd., S. 58. 54 Für eine Übersicht über den Kontextualismus der Rechtfertigung siehe Grundmann 2008, S. 325ff. 55 Jacob Rosenthal setzt sich mit dieser Problematik tiefgründiger auseinander und stellt einen eigenen internalistischen Lösungsvorschlag des „Gettier“-Problems vor (vgl. Rosenthal 2001, S. 540ff.).
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Überzeugungen sollen wir, so Foley, eine „egozentrische Rationalität“ anstreben. Meine Überzeugung soll dann egozentrisch rational sein, wenn sie auf Belegen beruht, die aus meiner Perspektive wahrheitsförderlich erscheinen, also meinen epistemischen Wünschen und Zielen zuträglich sind.56 Der normativen Dimension der Rechtfertigung wird laut Foley Rechnung getragen, indem Personen eine äußere Perspektive einnehmen, und durch Reflexion die Wahrheitszuträglichkeit ihrer epistemischen Standards prüfen.57 Auch gegen Foleys Position wurden zahlreiche Einwände erhoben: Ein Kritikpunkt betrifft beispielsweise den fehlenden Bezug zur Wahrheit und die damit verbundene Frage, ob die von Foley herausgestellte egozentrische Rationalität tatsächlich dasjenige ist, wonach wir in der Erkenntnistheorie streben sollten.58 Ein weiterer, genereller Kritikpunkt an internalistischen Konzeptionen zielt auf eine vermeintliche Überintellektualisierung: Man könnte einwenden, dass sie den Maßstab für Wissen mit ihrem Rechtfertigungsbegriff zu hoch ansetzen. Während sie sich einem relativ engen, anthropomorphen Wissensbegriff verschreiben, plädieren externalistische Positionen für weniger strenge Anforderungen an Wissen und legen ihren Theorien meist andere paradigmatische Fälle von Wissen (meist wahrnehmungsbasiertes Wissen) zugrunde. Schon im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass internalistische Rechtfertigungskonzeptionen als Grundlage für einige anti-intellektualistische Reduktionsargumente herangezogen werden:59 Hierbei steht die Annahme im Mittelpunkt, dass Subjekte bestimmte epistemische Pflichten erfüllen müssen, damit ihre Überzeugungen als gerechtfertigt gelten, und dass ebendiese Pflichten an eine bestimmte Form praktischen Wissens geknüpft sind. Ich habe diese Reduktionsargumente mit dem Hinweis entkräftet, dass es zwar plausibel ist, bestimmte Hintergrundfähigkeiten als notwendig für das Verfügen über und die Anwendung von (propositionalem) Wissen anzunehmen, dass aber für eine „echte“ ontologische oder epistemische Reduktion keine überzeugenden Gründe geliefert werden. Wir können an dieser Stelle zumindest festhalten, dass internalistische Rechtfertigungskonzeptionen oftmals auf bestimmte praktische Fähigkeiten verweisen, über welche Wissenssubjekte verfügen müssen. Wir werden sehen, dass dies für externalistische Konzeptionen in der Regel nicht zutrifft.
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Vgl. Foley 1993, S. 19. Siehe auch Foley 1987. Vgl. Foley 1993, S. 82ff. Vgl. hierzu etwa Alston 1989c, S. 139f. Vgl. Abschnitt 1.4.3.2.
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2.3.4 Externalistische Positionen Externalistische Ansätze werden vorwiegend durch zwei Vorstellungen motiviert: Erstens wird angenommen, dass unsere Wissensbestände wesentlich auf öffentliche Phänomene bezogen sind. Aus der Unzufriedenheit mit internalistischen Positionen, die die Relation zwischen Tatbeständen und rechtfertigenden Annahmen meist nur unzulänglich erklären können, stellen externalistische Ansätze deswegen den Bezug auf externe Umstände ins Zentrum ihrer Überlegungen. Zweitens kommt dem Wissensbegriff in einem externalistischen Rahmen ein größerer Skopus zu. Dies wird meist damit begründet, dass Internalisten die Anforderungen zu hoch ansetzen. Nur einer kleinen Menge unserer Überzeugungen kommt aus internalistischer Sicht der Status des Wissens zu, viele andere Meinungen, die wir in der Alltagssprache als „Wissen“ bezeichnen, für die wir aber keine Gründe angeben können, bleiben hingegen unberücksichtigt. Zudem wird in der Debatte auch darauf verwiesen, dass Kleinkindern und Tieren durchaus eine Form des Wissens zuzusprechen ist, welche der Internalist nicht erfassen kann.60 Ich habe bereits angedeutet, dass die meisten externalistischen Ansätze unter dem Dachbegriff „Reliabilismus“ zusammengefasst werden können. Für Reliabilisten liegt die Nicht-Zufälligkeit von Wissen in der Verlässlichkeit der Art und Weise begründet, durch die das betreffende Subjekt zu seiner Überzeugung gelangt ist. Eine besonders elegante Position ist die von Robert Nozick entwickelte, so genannte „truth-tracking“-Konzeption von Wissen.61 Die Rechtfertigung von Überzeugungen, die für das Vorliegen von Wissen notwendig ist, erklärt Nozick über eine kontrafaktische Korrelation mit den Tatbeständen, von denen die Überzeugung handelt. Diese Vorstellung führt Nozick zu der folgenden viergliedrigen Explikation:62 S weiß, dass p, genau dann, wenn (1) p wahr ist, (2) S überzeugt ist, dass p. Zudem soll in allen relevanten, möglichen Welten folgendes gelten: (3) Falls p nicht wahr ist, ist S nicht davon überzeugt, dass p, und (4) falls p wahr ist, ist S davon überzeugt, dass p.
60 Auf die Debatte um die Frage, welche Organismen als Wissenssubjekte aufzufassen sind, werde ich im dritten Kapitel zurückkommen. Vgl. Abschnitt 3.6. 61 Vgl. Nozick 1981, S. 172ff. 62 Vgl. hierzu auch Grundmann 2008, S. 140.
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Die dritte und vierte Bedingung werden folglich durch Konditionale ausgedrückt, die einerseits eine Sensivität von Überzeugungen bezüglich des Nichtbestehens der gewussten Tatsache (dritte Bedingung) und andererseits eine Stabilität der Überzeugung ausdrücken (vierte Bedingung). Nozicks Wissenkonzeption bleibt gegenüber den „Gettier“-Fällen sowie gegenüber anderen konstruierbaren Beispielen überwiegend standhaft. Allerdings erweist auch sie sich in der Debatte nicht als konsensfähig. Der Haupteinwand gegen Nozicks Ansatz ist der, dass er, ebenso wie internalistische Positionen, einen zu engen Wissensbegriff, und somit zwar hinreichende, aber keine notwendigen Bedingungen für Wissen herausstellt. Wir haben bereits im zweiten Kapitel gesehen, dass Katherine Hawley63 eine Konzeption des praktischen Wissens vorstellt, die die Idee Nozicks aufgreift: Hierbei soll sich praktisches Wissen durch einen Handlungserfolg auszeichnen, der auch in relevanten möglichen Welten geltend gemacht werden kann. Im Gegensatz zu Nozick, der die Beschaffenheit von wahren Überzeugungen in den Fokus seiner Wissenskonzeption stellt, nicht aber deren Genese, stützen andere reliabilistische Positionen ihre Explikationen von Wissen auf ebenjene Entstehungsgeschichte unserer Überzeugungen. Der Fokus richtet sich hierbei folglich auf die Methoden des Meinungserwerbs, die eine Reihe von verschiedenen Vorgängen – beispielsweise Wahrnehmung, Erinnerung oder logisches Schließen und die Verknüpfung mit Hintergrundwissen – umfassen können und dem Subjekt nicht unbedingt bewusst sein müssen. Ein prominenter Verfechter einer solchen reliabilistischen Wissenskonzeption ist Alvin I. Goldman.64 Ausgehend von der Analyse einfacher Wahrnehmungssituationen entwirft er eine so genannte „Kausaltheorie des Wissens“, einen Explikationsvorschlag für wahrnehmungsbasiertes, nicht-inferenzielles Wissen. Goldman hält an den ersten beiden Bedingungen der Standardkonzeption fest; als dritte Bedingungen führt er eine kausale Beziehung an, die zwischen Tatbeständen und unseren Überzeugungen bestehen soll. Im Zentrum seiner Theorie steht die folgende Annahme:65 S weiß, dass p, genau dann, wenn die Tatsache, die durch p ausgedrückt wird, in einer „angemessenen“ Art und Weise mit der Überzeugung von S, dass p, kausal verknüpft ist.
63 Vgl. Hawley 2003. Siehe auch Abschnitt 1.4.2.5. 64 Vgl. Goldman 1967. 65 Vgl. Ebd., S. 369.
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Wir verfügen demzufolge über Wissen, wenn unserer Überzeugungen auf einer kausalen Verursachung durch Tatbestände beruhen und wir die entsprechenden Kausalketten rekonstruieren können. Als „angemessene“ kausale Prozesse gelten nach Goldman Wahrnehmung, Erinnerung und komplexere Kausalketten, die durch gerechtfertigte Schlüsse rekonstruiert werden, wobei Hintergrundannahmen nur dann zur Rechtfertigung beitragen, wenn sie wahr sind. Die kausale Wissenskonzeption erscheint nicht nur aufgrund der Einfachheit und Eleganz ihres Explikats als sehr attraktive Position, sondern auch deswegen, weil sie eine überzeugende Antwort auf das „Gettier“-Problem liefert: In den von Gettier angeführten Beispielen fehlt schlicht eine angemessene kausale Verbindung. Allerdings ist auch diese Position mit einigen Einwänden konfrontiert. So ist es etwa fraglich, ob der Bereich des Wissens durch Goldmans Konzeption nicht zu restriktiv ist: Für einfache Wahrnehmungssituationen scheint die Kausaltheorie sehr plausibel zu sein. Doch oft können wir Kausalzusammenhänge nicht in der Weise rekonstruieren, die Goldman fordert. In einem groß angelegten Explikationsprojekt versucht Goldman, auf einige Einwände gegen seine Kausaltheorie zu reagieren und eine differenziertere Wissensanalyse zu entwickeln, welche auf zahlreiche Umstände und Relationen, die für eine Wissenssituation bedeutend sind, Bezug nimmt und an Komplexität kaum zu übertreffen ist. Goldman entwickelt eine 14 Zeilen umfassende Explikation für wahrnehmungsbasiertes, nicht-inferenzielles Wissen.66 Die Grundidee ist folgende: Eine Reliabilitätsbedingung für ein solches Wissen kann laut Goldman durch eine Untergliederung des Wahrnehmungsprozesses entwickelt werden. Wenn wir uns überlegen, welche Aspekte einer Wahrnehmungssituation für das Vorliegen von Wissen relevant sind, und diesen Aspekten Rechnung tragen, so erhalten wir Goldman zufolge eine Explikation für Wissen, die gegen „Gettier“- und ähnliche vermeintliche Gegenbeispiele immun ist. Die Differenzierungen, die Goldman für die Wissensdefinition vornimmt, entwickelt er durch die Bezugnahme auf ein Beispiel.67 Wir sollen uns vorstellen, dass Sam Judy auf der Straße trifft und sie erkennt, d.h. dass ihm perzeptuelles Wissen darüber, dass Judy vor ihm steht, zugeschrieben werden kann. Nun gilt es, so Goldman, zu überlegen, welche Bedingungen für diese Zuschreibung erfüllt werden müssen. Angenommen, Judy hat eine eineiige Zwillingsschwester Trudy. In diesem Fall würden wir behaupten, dass Sam nur dann das entsprechende Wissen zugeschrieben werden kann, wenn er Judy von Trudy unterscheiden kann. Perzeptuelles Wissen ist Goldman zufolge somit eng an eine Unter-
66 Vgl. Goldman 1976, S. 785f. 67 Vgl. Ebd., S. 778ff.
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scheidungsfähigkeit gebunden. Um diesem Umstand Rechnung zu tragen, führt er den Begriff des „perzeptuellen Äquivalents“ ein.68 Hierunter werden alle kontrafaktischen Situationen gefasst, die gleiche oder hinreichend ähnliche perzeptuelle Erlebnisse bei einem Subjekt auslösen. Auf der Grundlage solcher subjektabhängiger perzeptueller Äquivalente können wir laut Goldman eine überzeugende Wissenskonzeption entwickeln, welche durch einige weitere Differenzierungen ergänzt wird, die der Sensibilität des Wissens gegenüber bestimmten Umweltbedingungen und unserer Wahrnehmungsperspektive Rechnung tragen sollen.69 Ich kann Goldmans Konzeption an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren und auf Tauglichkeit prüfen. Seine Explikation zeigt in einer beeindruckenden Weise auf, dass die Suche nach notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Wissen zu immer detaillierteren und vielschichtigeren Explikaten führt, wenn sie sich gegen mögliche Gegenbeispiele und Einwände zu immunisieren versucht. Auf dem ersten Blick scheint Goldmans Wissenskonzeption gegen die Forderung einer Einfachheit des Explikats zu sprechen. Dieser Einwand ist jedoch wenig schlafkräftig, wenn man bedenkt, dass Goldmans komplexe Unterscheidungen uns wirklich auf einen überzeugenden Wissensbegriff führen könnten, der gegen „Gettier“-Fälle immun ist. Da aber Goldmans aufwendige Ausdifferenzierungen immer noch weitere Angriffspunkte für Kritik aus unterschiedlichen Stoßrichtungen zulassen, legt Goldmans Konzeption die Vermutung nahe, dass es sich um ein schlicht unmögliches, zum Scheitern verurteiltes Projekt handelt. Gegen Goldman kann darüber hinaus eingewandt werden, dass er – trotz der Komplexität des Explikats – durch die Einschränkung des Explikandums auf wahrnehmungsbasiertes, nicht-inferenzielles Wissen keine umfassende Explikation des Wissensbegriffs abgibt. Einige andere paradigmatische Fälle, etwa mathematisches oder inferenzielles Wissen, sind nicht Gegenstand der Goldmanschen Explikation, und es ist fraglich, inwiefern sie in analoger Weise zu dem von Goldman vorgebrachten Vorschlag expliziert werden können. An einer Einschränkung des Explikandums zugunsten einer konsistenten Spezifizierung ist allerdings nichts Schwerwiegendes auszusetzen: Falls Goldmans Wissenskonzeption sich als überzeugend erweisen würde, hätten wir zumindest für eine bestimmte Menge von Wissensinstanzen eine treffende Explikation gefunden. Somit entzieht dieser Einwand dem Goldman’schen Projekt nicht den Boden. Tiefgreifendere Einwände betreffen die Art und Weise der Explikation: Die Begriffe und Symbole nämlich, die Goldman verwendet, sind
68 Vgl. Ebd., S. 779ff. 69 Vgl. Ebd., S. 781ff.
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selbst explikationsbedürftig. Sowohl der Begriff des Verursachens, auf den schon in der Kausaltheorie des Wissens Bezug genommen wird, als auch die neu eingeführten Konzepte zur Spezifizierung – etwa das „perzeptuelle Äquivalent“ – legen keineswegs eine eindeutige Interpretation nahe. Eine Alternativkonzeption von Wissen wird von Fred Dretske vorgeschlagen. Dretske stellt einen in der philosophischen Erkenntnistheorie zuvor wenig beachteten Begriff – den aus der Kommunikationstheorie entstammenden Informationsbegriff – ins Zentrum seiner reliabilistischen Wissenskonzeption, die es sich zum Ziel setzt, eine Brücke zwischen Philosophie und Kognitionswissenschaften zu schlagen. Dretskes Projekt liegt folglich die Vorstellung zugrunde, dass die klassische Erkenntnistheorie und die moderne Kognitionsforschung zwar auf unterschiedliche Fragestellungen und Traditionen bezogen sind, aber dennoch wesentliche Themenfelder teilen, so dass Begrifflichkeiten und theoretische Modelle, die beiden Wissenschaften zugänglich sind, einen fruchtbaren Austausch ermöglichen.70 Dretske beschränkt sich in seiner Konzeption auf perzeptuelles Wissen und stellt die folgende Annahme ins Zentrum seiner Überlegungen: S verfügt genau dann über das Wissen, dass s F ist, wenn die Überzeugung von S durch die Information, dass s F ist, kausal verursacht wurde.71
Wissen wird demzufolge als eine „durch Information verursachte Überzeugung“ („information-caused belief“) verstanden.72 Wie eine solche Verursachung durch Information zu verstehen ist, erläutert Dretske durch eine semantische Theorie der Information: Vereinbart man etwa mit einem Freund, dass ein bestimmtes Klopfzeichen als Zeichen dafür eingesetzt wird, dass er vor der Haustüre steht, so konstituiert die festgelegte Struktur des Signals seine Eigenschaft als Informationsträger. Dem Klopfzeichen könnten darüber hinaus noch zahlreiche andere Eigenschaften zugesprochen werden – beispielsweise die physikalische Eigenschaft einer Lautstärke, die die Nachbarn stört – doch sind diese Eigenschaften für die Informationsvermittlung nicht bedeutsam. Nur in der für die Vermittlung zwischen Sender und Empfänger relevanten Struktur des Signals gründet dessen Eigenschaft, bestimmte propositionale Gehalte zu kommunizieren. An dieser Stelle ist anzumerken, dass Drets-
70 Vgl. Dretske 1981 und 1983. 71 Vgl. Dretske 1981, S. 86. 72 Vgl. Ebd. Dretske entwickelt auch eine informationstheoretische Analyse von Überzeugungen. Hierbei fasst er den Überzeugungsbegriff sehr weit auf und beschränkt sich nicht auf propositionale Zustände. Vgl. hierzu Dretske 1981, S. 190 ff.
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ke seine Konzeption als Charakterisierung perzeptuellen Wissens versteht, nicht als Begriffsexplikation.73 Man kann die Kontroverse, die Dretske mit seinem Projekt auslöst, daher nicht als eine Streitfrage hinsichtlich der Explikatsprache verstehen. Dretske spricht sich nicht dafür aus, dass wir unsere klassische Begriffsanalyse des Wissens mit informationstheoretischen Begriffen modifizieren oder erweitern können. Vielmehr plädiert er dafür, von einer reduktiven Analyse abzusehen und stattdessen unseren Alltagsbegriff von Wissen durch eine Beschreibung auf der Grundlage des technischen Informationsbegriffs zu erhellen. Dretskes Wissenskonzeption kann gegen „Gettier“-Fälle und ähnliche Herausforderungen bestehen, was anhand zahlreicher Beispiele illustriert werden kann: Die Überzeugungen der Subjekte in den „Gettier“-Fällen, so lässt sich im Rahmen von Dretskes Analyse argumentieren, werden nicht von der geeigneten Information erzeugt. Allerdings stößt auch Dretskes Analyse auf vielfältige Kritik. Die größte Herausforderung wird hierbei wohl durch das Bedenken ausgedrückt, dass Dretske schlicht zu viele Instanzen von Überzeugungen als Wissen ausweist und daher nur einen vagen Begriff des Wissens liefert. Ernest Sosa verweist auf ein so genanntes „Allgemeinheitsproblem“ („generality problem“), mit dem alle reliabilistischen Positionen konfrontiert sind.74 Reliabilisten sind ihm zufolge mit der Schwierigkeit einer präzisen Unterscheidung zwischen verlässlichen und unzuverlässigen Methoden konfrontiert. Betrachtet man beispielsweise einen konkreten Wahrnehmungsprozess, so können zahlreiche Prozesse, die die Außenwelt (etwa bestimmte Lichtverhältnisse) oder das visuelle System des Wissenssubjekts betreffen, als reliable Methode zur Wissenserzeugung betrachtet werden. Ein Reliabilist muss aber benennen können, welche Typen solcher Prozesse die Reliabilität konstituieren, um von konkreten Wahrnehmungssituationen zu abstrahieren und zu einem Wissensbegriff zu gelangen, der auf solche Situationen im Allgemeinen angewandt werden kann. Darüber hinaus lässt sich die Frage, welche Methode ein Subjekt zu seiner wahren Überzeugung geführt hat, oftmals nicht leicht beantworten. Jede Überzeugung scheint das Ergebnis eines mehr oder weniger unspezifischen Prozesses zu sein. Somit bleibt der reliabilistische Ansatz in seinen zahlreichen Ausformungen meist zu vage und undifferenziert, um hinreichende und notwendige Bedingungen im Sinne des begriffsanalytischen Projekts zu liefern.
73 Vgl. Dretske 1981, S. 91. 74 Vgl. Sosa 2006, S. 81.
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2.3.5 Konsequenzen der Post-Gettier-Debatte für das Projekt der Begriffsanalyse Wir haben gesehen, dass sich die Bedingungen der Überzeugung und der Wahrheit für die Wissensanalyse als relativ problemlos erweisen, zumindest wenn man einen minimalen alethischen Realismus voraussetzt. Die Frage nach der Rechtfertigung unseres Wissens wirft hingegen die meisten Schwierigkeiten auf. Nicht zuletzt haben die „Gettier“-Fälle eine Krise der klassischen Wissenskonzeption bewirkt, die die Entwicklung zahlreicher Positionen und Kontroversen um eine angemesse Explikation der Rechtfertigungsbedingung nach sich zog. Durch die Bezugnahme auf die Unterscheidung von Explikationskontroversen lassen sich die angeführten Positionen in einen systematischeren Zusammenhang bringen: Interne maßstäbliche Kontroversen – Kontroversen, welche die Frage betreffen, ob ein gegebener Maßstab in einer bestimmten Situation erfüllt ist – können wir dann feststellen, wenn die Bewertungen hinsichtlich des Erfolgs der unterschiedlichen Ergänzungs- und Modifikationsversuche zur Standardanalyse divergieren. Zur Debatte steht hierbei, ob und inwiefern sich die neuen Konzeptionen als resistent gegen „Gettier“-Fälle oder ähnliche Beispiele erweisen. Das Streitfeld zwischen internalistischen und externalistischen Positionen ist aber auch und insbesondere von externen maßstäblichen Kontroversen durchzogen. Die jeweiligen Konzeptionen setzen meist mit bestimmten paradigmatischen Wissenssituationen an (beispielsweise mit Wahrnehmungssituationen), die hinsichtlich ihrer Tauglichkeit als Maßstab für Wissen kontrovers diskutiert werden. Zudem stehen auch die damit verbundene Reichweite unseres Wissens und die Frage, welchen Organismen Wissen zugesprochen werden kann, zur Debatte. Wenn Internalisten Wissen an die Erfüllung bestimmter epistemischer Pflichten binden, dann hat das meist zur Folge, dass der Skopus des Wissens dementsprechend eng gefasst wird. Die Verfechter von Alternativpositionen bieten hingegen einen weiter gefassten Begriff von Wissen an, der weniger hohe Anforderungen an ein Wissenssubjekt stellt. Zudem zeigten sich einige Kontroversen bezüglich der Explikatsprache: Auf die Frage, mit welchen Begriffen wir die Bedingungen des Wissens definieren sollen, werden unterschiedliche Antworten gegeben, man denke hierbei an Goldmans Kausalitätsbegriff oder an Foleys Begriff der epistemischen Rationalität. An dieser Stelle sollte nicht unerwähnt bleiben, dass einige Autoren die Polarisierung zwischen Internalismus und Externalismus bewusst aufbrechen und „gemischte“ Auffassungen vertreten. Hierzu ist etwa Robert Brandom zu zählen, der seine Position explizit als Mittelweg zwischen einem Rechtfertigungsinternalismus und einem reliablistischen Externalismus versteht. Laut
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Brandom kommen internalistische und externalistische Vorstellungen auf verschiedenen Stufen des Rechtfertigungsprozesses zum Zug.75 Auch William Alston versteht sich selbst als einen „internalistischen Externalisten“ und entwickelt eine differenzierte Position, die die Vorstellung der internalistischen Begründung mit reliabilistischen Überlegungen verbindet.76 Ein Konsens bezüglich des „Gettier“-Problems oder die Entwicklung einer Wissenskonzeption, die allen gerecht werden kann, ist weder in naher noch in ferner Zukunft zu erwarten. Zu unterschiedlich fallen die jeweiligen Intuitionen über paradigmatische Wissensformen und über die Reichweite unseres Wissens aus, so dass maßstäbliche Explikationskontroversen kontinuierlich zu erwarten sind. Dennoch ist hieraus nicht die Konsequenz zu ziehen, dass das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen aus der Erkenntnistheorie zu verbannen ist. Werden zuvor die zugrunde liegenden Maßstäbe offen gelegt, können für unterschiedliche Argumentationskontexte durchaus fruchtbare Explikationen für Wissen gefunden werden. Die hier diskutierten internalistischen und externalistischen Wissensexplikationen erweisen sich schließlich nicht als „völlig falsch“, sondern beruhen auf teils äußerst robusten Intuitionen über unsere Vorstellung von Wissen. So könnte man beispielsweise den unvermeidlichen Konflikt zwischen Internalismus und Externalismus mit dem Hinweis auf zwei unterschiedliche Wissensbegriffe, die die jeweiligen Positionen zu explizieren versuchen, entkräften. Eine solche Vorstellung spiegelt die von Ernest Sosa eingeführte Unterscheidung von einem „tierischen Wissen“ einerseits und einem „reflexivem Wissen“ andererseits wider.77 Durch die Bezugnahme auf Sosas Begriffspaar könnte man behaupten, dass reflexives Wissen verlangt, dass Wissenssubjekte die von Internalisten beanspruchte epistemische Perspektive auf Überzeugungen einnehmen, dass sie also introspektiv zugängliche Gründe für ihre Überzeugungen anbringen können. Tierisches Wissen – die gewählte Bezeichnung gibt hierbei schon an, dass Menschen dieses Wissen mit einigen anderen Tieren teilen – verlangt eine solche Perspektive nicht. In diesem Interpretationsrahmen liefern internalistische und externalistische Konzeptionen jeweils unterschiedliche Wissenskonzepte, die beide als Explikationen unseres alltagssprachlichen Wissensbegriffs verstanden werden. Sie verweisen allerdings auf unterschiedliche Anwendungskontexte. Eine ähnliche Interpretation der Debatte führt auch Sven Bernecker an, der die Unterscheidung zwischen Internalismus und Externalismus auf der Basis unterschiedlicher Perspektiven ansetzt, indem er be-
75 Vgl. Brandom 1994, S. 217ff. 76 Vgl. Alston 1989b, S. 227ff. 77 Vgl. Sosa 1991, S. 240, und Sosa 2001, S. 193ff.
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hauptet, Internalisten versuchten das Problem der Rechtfertigung aus der Perspektive des Wissenssubjektes zu lösen, während Externalisten ihre Lösungsversuche aus der Perspektive eines außenstehenden Beobachters, der über die Zuschreibung des Wissens entscheidet, vornehmen.78 Alston vertritt in einem jüngeren Aufsatz die Auffassung, dass der Streitfrage zwischen Internalismus und Externalismus zu viel Aufmerksamkeit (auch von seiner eigenen Seite) entgegengebracht wurde. Er plädiert dafür, dass wir uns von der Vorstellung verabschieden sollen, dass es einen einheitlichen Rechtfertigungsbegriff gibt, auf den Externalisten und Internalisten Bezug nehmen.79 Wir sollen uns Alston zufolge nicht weiter auf die Suche nach einer geeigneten Rechtfertigungsbedingung begeben, sondern stattdessen einige „epistemische Desiderata“ in den Blick nehmen, auf deren Grundlage Überzeugungen als besser oder schlechter eingestuft werden können. Alston untersucht einige Kernargumente aus der Debatte zwischen Internalismus und Externalismus und kommt zu der Vermutung, dass kein gemeinsamer Gegenstand vorliegt, auf den sich die Mitstreiter beziehen: The persistence of disputes leads to the suspicion that there is no unique common item concerning the nature of which people are disagreeing.80 […] it is a mistake to suppose that there is a unique something-or-other called „epistemic justification“ concerning which the disputants are disputing.81
Die Positionen greifen laut Alston einige Merkmale von Überzeugungen heraus, die für eine epistemische Evaluation notwendig sind, aber auf deren Grundlage, für sich genommen, keine dritte Bedingung für Wissen entwickelt werden kann. Unter diesen „epistemischen Desiderata“ versteht Alston unterschiedliche Anforderungen an unsere Meinungen, etwa das Vorliegen und die introspektive Zugänglichkeit von Gründen oder die Reliabilität der Überzeugungsbildung.82 Für eine solche Auffassung hege ich große Sympathien, da ich die Annahme teile, dass sich die Suche nach einer allgemeinen, völlig kontextunabhängigen Explikation für Wissen als aussichtslos erweist. Der Blick auf die Explikationsdebatten um das „Gettier“-Problem legt nahe, dass wir über verschiedenartige Wissensbegriffe verfügen, die jeweils unterschiedliche Phänomene über Wissen einschließen und von Kontext und Zweck der Äußerung ab-
78 79 80 81 82
Vgl. Bernecker 2006, S. 27ff. Vgl. Alston 1993, S. 527 ff. Alston 1993, S. 532. Ebd., S. 534. Vgl. Alston 1993, S. 538ff.
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hängen. Auf diesen Punkt werde ich im dritten Kapitel zurückkommen: Hier werde ich vorschlagen, dass praktische Wissensformen nicht anhand hinreichender und notwendiger Bedingungen bestimmt werden sollten, sondern durch idealtypische, kontextabhängige Normen. Wir werden sehen, dass auch für die Charakterisierung praktischen Wissens sowohl internalistische als auch externalistische Vorstellungen eine Rolle spielen. Im Hinblick auf die Schwierigkeiten, die mit der Rechtfertigungsbedingung verbunden sind, könnte man auch die Frage aufwerfen, ob eine geeignete Wissensanalyse dadurch gewonnen wird, dass man von einem so genannten „minimalen Wissensbegriff“ ausgeht, indem man Wissen als „wahre Überzeugung“ definiert. Allerdings ist auch diese Definition mit Schwierigkeiten behaftet: Sie fängt unsere alltagssprachlichen Intuitionen bezüglich des Wissensbegriffs nicht angemessen ein. Zudem bleibt weiterhin die Frage offen, wie eine geeignete Rechtfertigung unserer Überzeugungen auszusehen hat, auch wenn sie nicht als definitorisches Merkmal herangezogen wird. Die Minimaldefinition von Wissen werde ich im Zusammenhang des von Ansgar Beckermann vorgebrachten Plädoyers für eine neue Agenda der Erkenntnistheorie ausführlicher diskutieren.
2.4 Beckermanns Plädoyer für die Verbannung des Wissensbegriffs aus der Erkenntnistheorie Dieses Projekt, das so viel Zeit und Scharfsinn verschlungen hat, sollte endlich ad acta gelegt werden. Für eine systematisch verstandene Erkenntnistheorie ist der alltagssprachliche Wissensbegriff völlig irrelevant. Eine Analyse dieses Begriffs stiehlt uns bestenfalls Zeit; schlimmstenfalls hindert sie uns sogar daran, die systematisch interessanten Zusammenhänge richtig zu sehen. (Ansgar Beckermann)83
2.4.1 Beckermanns Argument für die Inkohärenz des Wissensbegriffs Eine andere Art der Kritik als jene Gettiers wird von Ansgar Beckermann vorgebracht, der sich wesentlich auf Überlegungen Crispin Sartwells bezieht und eine
83 Beckermann 2001, S. 581.
Beckermanns Plädoyer für die Verbannung des Wissensbegriffs
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Inkohärenz und Irrelevanz des Wissensbegriffs aufzuzeigen versucht, um darauf sein Plädoyer für eine neue Agenda der Erkenntnistheorie zu stützen, welche völlig auf den Wissensbegriff verzichten soll. Der traditionelle Wissensbegriff erweist sich gemäß Sartwell durch ein Spannungsverhältnis zwischen den beiden Bedingungen der Wahrheit und der Rechtfertigung als inkonsistent. Dieses zeige sich, wenn man die Frage in den Blick nimmt, welche Rolle diese Bedingungen für unsere Erkenntnisbemühungen einnehmen, bzw. welche epistemischen Werte ihnen zukommen. Rechtfertigung diene als Mittel, um plausibel zu machen, dass eine andere Bedingung (die der Wahrheit) erfüllt ist. Sie fungiere als Kriterium zur Feststellung, ob wahre Überzeugungen vorliegen, und somit komme ihr kein intrinsischer, sondern nur ein instrumenteller Wert für unsere Erkenntnisbemühungen zu. Wahrheit stelle hingegen das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen dar.84 Diese Annahme teilt auch Beckermann.85 Mit den Begriffen „wahre Überzeugung“ und „gerechtfertigte Überzeugung“ nehmen wir ihm zufolge jeweils auf unterschiedliche Fragen der Erkenntnistheorie Bezug: einerseits auf die Frage nach den Zielen unserer Erkenntnisbemühungen, andererseits auf die Frage nach geeigneten Mitteln, mit deren Hilfe wir jene Ziele erreichen. Sie gemeinsam zu einer Definition von Wissen zusammenzubringen, hieße, einen illegitimen „Hybridbegriff“ von Wissen zu erzeugen, und sei somit vergleichbar mit folgender Definition von Säure: Säure ist eine chemische Verbindung, die in wässriger Lösung infolge elektrolytischer Dissoziation Protonen und Säurerest-Ionen liefert, und die Lackmuspapier rot färbt.86
Die Stoßrichtung dieses Arguments ist deutlich: Die Erzeugung von Protonen und Ionen in Folge der Elektrolyse stellt eine definitorische Bedingung für den Säurebegriff dar, während die Färbung des Lackmuspapiers uns nur Indizien dafür liefert, dass eine solche Reaktion stattgefunden hat. Ebenso verhält es sich laut Beckermann auch mit dem Wissensbegriff: Wir haben ein erkenntnistheoretisches Interesse an gerechtfertigten Überzeugungen, weil sie uns meist zugänglicher sind als wahre Überzeugungen. Oft haben wir keine Einsicht in die
84 Vgl. Sartwell 1991, S. 161f. Sartwell führt auch die Möglichkeit an, Rechtfertigung einen intrinsischen Wert zuzusprechen, nicht nur einen instrumentellen. In diesem Fall habe man es jedoch nur mit dem zweiten Horn eines Dilemmas zu tun: Da der Wissensbegriff dann über zwei Merkmale bestimmt wird, die beide als Zielbegriffe zu verstehen sind, sei ein Konflikt zwischen beiden Zielen unvermeidbar (vgl. Sartwell 1992, S. 172ff.). 85 Vgl. Beckermann 1997, S. 37f. sowie Beckermann 2001, S. 575ff. 86 Beckermann 2001, S. 577.
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Wahrheit von Behauptungen, und Rechtfertigungen geben uns Anhaltspunkte dafür, ob wahre Aussagen vorliegen. Während Wahrheit eine definitorische Bedingung für den Wissensbegriff konstituiere, sei Rechtfertigung nur wahrheitsförderlich oder wahrheitsanzeigend und gehöre im strengen Sinne nicht zur Definition von Wissen. Aus diesem Grund hält Beckermann den Wissensbegriff für einen inkonsisten und illegitimen Begriff der Erkenntnistheorie. Dieser Einwand gegen den dreigliedrigen Wissensbegriff ist auf zahlreiche und vielseitige Kritik gestoßen.87 Die Reaktionen auf Beckermanns Argumentation lassen sich zwei verschiedenen Diskussionssträngen zuordnen: Der erste bezieht sich auf epistemische Werte und Ziele. Hier steht die Frage im Mittelpunkt, ob Wahrheit und Rechtfertigung tatsächlich verschiedenen Stufen zuzuordnen sind. Diese Debatte werde ich später ausführlicher beleuchten. An dieser Stelle möchte ich den zweiten Diskussionsstrang in den Blick nehmen, der die Maßstäbe betrifft, die an eine Begriffsanalyse für Wissen gestellt werden. Beckermann stützt sich auf eine Hintergrundannahme über den Status und die Vorgehensweise von Explikationsverfahren. Bei einer Begriffsanalyse, so lautet sein Argument, dürfen keine Bedingungen oder Kriterien zusammengeführt werden, die nicht derselben Stufe zuzuordnen sind. Im Falle des Wissensbegriffs ergeben sich die unterschiedlichen Stufen durch die verschiedenen Rollen, die dem Wahrheits- und dem Rechtfertigungsbegriff in Hinblick auf epistemische Ziele und Werte zuzusprechen sind. Schon diese Hintergrundannahme ist aber keinesfalls unumstritten. Ludwig Fahrbach weist beispielsweise darauf hin, dass zahlreiche Termini unserer natürlichen Sprache, beispielsweise „Stausee“ oder „überzeugen“ über Begriffe expliziert werden, die nicht auf derselben Stufe anzuordnen sind. Bei allen so genannten „Erfolgsverben“ handle es sich um eine solche Vermischung. Es sei, so Fahrbach, folglich nicht ersichtlich, weshalb Beckermann dieses explikative Vorgehen im Falle des Wissensbegriffs der Illegitimität beschuldigt.88 Auch Frank Hofmann bemerkt zurecht, dass Beckermanns Hintergrundannahmen bezüglich der Begriffsexplikation überzogen sind. Wir dürfen, so Hofmann, von unserem Wissensbegriff nicht verlangen, „dass er uns über den theoretischen Status der Werte aufklärt, die die von ihm kombinierten Merkmale Rechtfertigung und Wahrheit implizieren“.89 Beckermann eröffnet mit seinem Argument folglich eine interne maßstäbliche Explikationskontroverse, die auf die Frage zielt, welche Anforderungen an
87 Für die deutschsprachige Diskussion vgl. Baumann 2001, Fahrbach 2004, Grundmann 2002 sowie Hofmann 2002 und 2007. Zu meinen Überlegungen zu Beckermanns Argumentation vgl. auch Jung 2010. 88 Vgl. Fahrbach 2004, S. 48f. 89 Hofmann 2007, S. 149; Hervorhebungen im Original.
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den Wissensbegriff gestellt werden können, damit er sich als konsistenter und fruchtbarer Begriff für die Erkenntnistheorie erweist. Der Frage, ob der Vergleich zwischen Säure- und Wissensbegriff, den Beckermann für seine Argumentation aufgreift, angemessen ist, kommt innerhalb dieser Kontroverse eine bedeutende Rolle zu: Säure kann in der Chemie durch spezielle interne Fachbegriffe der Naturwissenschaften wie „elektrolytische Dissoziation“ konsistent expliziert werden. Das so gewonnene Explikat unterscheidet sich aber grundlegend von unserem lebensweltlichen Begriff von „Säure“ bzw. „sauer“. Mit dem Wissensbegriff scheint es sich jedoch anders zu verhalten, da es zum einen äußerst zweifelhaft ist, ob zu seiner Bestimmung ähnliche interne Fachbegriffe überhaupt vorliegen. Zum anderen ist er sehr viel enger an die Sprachpraxis gebunden, in der er im Alltag verwendet wird, als der Säurebegriff. Mit der von Beckermann angestoßenen Debatte treten somit Fragen nach den Ansprüchen hervor, die in der Philosophie an die angemessene Verwendung von Begriffen gestellt werden können und sollten. Insbesondere der Status von Begriffsanalysen in der Philosophie sollte in dieser Hinsicht überdacht werden: Sind sie überhaupt in gleicher Weise zu verstehen wie in den Naturwissenschaften oder der Mathematik? Man kann berechtigte Zweifel anbringen, ob eine formale Begriffsanalyse im strengen Sinne für Begriffe wie „Wissen“ möglich ist. Thomas B. Seiler verneint dies beispielsweise, indem er Wissen als einen „natürlichen Begriff“ im Gegensatz zu „künstlichen Begriffen“ herausstellt.90 Dieser Unterscheidung liegt folgende Überlegung zugrunde: Formale Begriffsanalysen können durch den Versuch gekennzeichnet werden, eine explizite Intension anzugeben, die sich mit der Extension des betreffenden Begriffs decken soll. Streng genommen sind solche Analysen aber nur für künstliche Begriffe sinnvoll, nicht für natürliche. Unter künstlichen Begriffen werden hierbei Begriffe verstanden, die in philosophischen oder wissenschaftlichen Diskussionen explizit so definiert wurden, dass sie nur die nach dem Stand der Wissenschaft wesentlichen und bestimmenden Merkmale und Beziehungen enthalten. Hierunter sind insbesondere Fachtermini zu verstehen, Begriffe, die von Wissenschaftlern zur präzisen Bestimmung und Abgrenzung klar umrissener Sachverhalte neu eingeführt werden. Natürliche Begriffe, die der Alltagssprache entstammen, die nicht im strengen Sinne definiert werden und deren Bedeutungsgehalt sich nicht auf definitionsartige Merkmale beschränkt, lassen sich hingegen nicht in derselben Weise durch eine formale Begriffsanalyse einfangen, und zwar aus folgendem Grund: Die Unterscheidung von Intension und Extension, d.h. von Inhalt und Umfang eines Begriffs, ist ebenso wie die Defini-
90 Vgl. Seiler 2001, S. 68ff.
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tion eines Begriffs durch eine Menge von Gegenstanden und Merkmalen als Idealisierung zu verstehen, die sich für natürliche Begriffe als höchst problematisch erweisen kann. Bei solchen Begriffen handelt es sich um offene Mengen, die jederzeit flexibel ergänzt und erweitert werden könnten. Die Extension ist einem solchen, natürlichen Begriff also nicht als abgeschlossene Gesamtheit von Gegenständen und Ereignissen vorgegeben. Weder die tatsächliche Menge der einzelnen Gegenstände oder Ereignisse noch deren Merkmale sind vollständig bekannt. Ein natürlicher Begriff beruht somit nicht auf einer Menge von tatsächlich gegebenen und beobachtbaren Objekten und Ereignissen, sondern benennt allenfalls eine offene Menge von Gegenständen, Merkmalen und Ereignissen, die sich in regelhafter Weise aus den Eigenschaften ergibt, die man ihnen zuschreibt. Nimmt man Seilers Überlegungen ernst, so spricht viel dafür, Beckermanns Vergleich von Säure- und Wissensbegriff mit dem Hinweis zurückzuweisen, dass eine Asymmetrie zwischen Begriffsdefinitionen in der Philosophie und denjenigen in anderen Wissenschaften vorliegt. Beckermanns Argument stützt sich auf zu hohe, unbegründete Maßstäbe an das Projekt, auch wenn es einen wichtigen Punkt ins Licht rückt. Die Frage, welcher Status der philosophischen Begriffsanalyse zukommt, ist eng mit den Zielen verbunden, die ein Explikationsprojekt verfolgt: Soll beispielsweise ein reiner terminus technicus eingeführt werden, so hat man es mit einem Explikationsprojekt zu tun, das sich durchaus an den Maßstäben von Explikationsprojekten aus anderen Wissenschaften messen lassen kann. Will man allerdings einen alltagssprachlichen Begriff in die philosophische Diskussion einführen und dabei möglichst vielen unserer Intuitionen über Wissen gerecht werden, dann verfolgt man ein anderes Projekt, das nicht durch eine formale Begriffsanalyse im strengen Sinne erfolgen kann. Ein Blick auf die Kontroversen um das zuvor diskutierte „Gettier“-Problem legt nahe, dass ebendieses Projekt im Zentrum steht, weshalb Beckermanns Argument zurückzuweisen ist. Wir können im Bezug auf die von Beckermann postulierte Inkohärenz des Wissensbegriffs folgendes festhalten: Aus der Annahme, dass Wahrheit und Rechtfertigung verschiedenartige Begriffe sind, da erstere das Ziel unserer Erkenntnisbemühungen und letztere das Mittel zum Erreichen dieses Ziels darstellt, kann nicht ohne Weiteres gefolgert werden, dass der dreigliedrige Wissensbegriff, der diese beiden Begriffe als Bedingungen für Wissen zusammenbringt, inkonsistent ist. Ein Blick auf den Status philosophischer Begriffsanalysen legt nahe, dass Beckermanns Anforderungen schlicht überzogen sind. Das Prädikat „inkohärent“ ist als Diagnose für den Wissensbegriff zu stark und daher unangemessen. Man könnte den von Sartwell und Beckermann angeführten Argumenten auch eine Alternativinterpretation gegenüberstellen, derzufolge eine Mehrdeutigkeit des Wissensbegriffs im Alltag vorliegt. Das Spannungsver-
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hältnis zwischen Wahrheit und Rechtfertigung für den alltäglichen Wissensbegriff kann so eher als konstitutiv, denn als problematisch betrachtet werden: Je nachdem, aus welcher Perspektive wir urteilen, kann Rechtfertigung als Kriterium für Wahrheit dienen – dann, wenn wir nach wahren Überzeugungen streben – oder aber als Kriterium für das Vorliegen von Wissen – dann, wenn uns die Wahrheit von Überzeugungen bekannt ist.91 Zudem würde mit der von Beckermann vorgeschlagenen Maßnahme die Frage in den Raum gestellt, welche Begriffe überhaupt ihre Berechtigung in der Erkenntnistheorie haben. Vermutlich ist ein wesentliches Merkmal alltagssprachlich verankerter Begriffe, dass sie vielfältige und nicht immer völlig spannungsfreie Merkmale zusammenbringen. Die von Beckermann diagnostizierte Inkohärenz wäre somit symptomatisch.
2.4.2 Beckermanns Argument für die Irrelevanz des Wissensbegriffs Sartwell und Beckermann ziehen unterschiedliche Konsequenzen aus dem Argument für die scheinbare Inkohärenz des Wissensbegriff: Sartwell plädiert für eine so genannte „Minimalposition“, d.h. er fasst Wissen als wahre Überzeugung auf und verzichtet auf die definitorische Bedingung der Rechtfertigung.92 Beckermann geht hingegen noch einen Schritt weiter und spricht sich für die Verbannung des Wissensbegriffs aus der Erkenntnistheorie aus.93 Eine Alternative zum minimalen Wissensbegriff sei aus systematischen Gründen nicht in Sicht. Da dieser Minimalbegriff aber nicht alle Instanzen einfange, die wir im alltäglichen Leben als Wissen klassifizieren, sollten wir lieber auf einen solchen irreführenden terminus technicus verzichten und nur noch von „wahren Überzeugungen“ einerseits und „gerechtfertigten Überzeugungen“ andererseits sprechen. Mit diesen beiden Begriffen können gemäß Beckermann alle erkenntnistheoretischen Fragen und Probleme gestellt und untersucht werden. Der dreigliedrige Wissensbegriff sei schlicht irrelevant für die Erkenntnistheorie. Im letzten Abschnitt wurde bereits dafür argumentiert, dass die Diagnose, die Beckermann für den Wissensbegriffs stellt, äußerst fragwürdig ist. Sein Therapievorschlag für die von ihm postulierte Diagnose – die Verbannung des Wissensbegriffs aus der Erkenntnistheorie – ist es ebenso. Zum einen könnte das Argument, dass sich der Wissensbegriff als irrelevant erweist, da wir mit
91 Vgl. hierzu auch Baumann 2001, S. 596f. 92 Vgl. Sartwell 1992, S. 168f. 93 Vgl. Beckermann 2001, S. 578f.
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den einzelnen Begriffen auskommen, durch die wir ihn gewöhnlich explizieren, auf alle Begriffe angewandt werden, die Kompositionen aus grundlegenderen darstellen. Es ist daher keine besonders stabile Stütze für das Plädoyer, den Wissensbegriff aus der Erkenntnistheorie zu verbannen. Zum anderen erscheint die Annahme, dass Wissen ein überflüssiger erkenntnistheoretischer Begriff ist, als zu vorschnell und unbegründet: „Wissen“ gehört zu denjenigen Begriffen, die wir von klein auf verwenden; in allen Wissenschaftsgebieten und im Berufsleben wird Wissen als Ziel- und Ehrenbegriff verwendet, und in einigen Wissenschaftszweigen, beispielsweise in der Psychologie, in der Informatik oder in den Wirtschaftswissenschaften, werden Wissensphänomene sogar explizit thematisiert. Die weite Verbreitung des Wissensbegriffs in verschiedenen Sprachen spricht dafür, dass durch diesen Begriff ein menschliches Grundbedürfnis zum Ausdruck gebracht wird.94 Daher ist es nicht ersichtlich, aus welchen Gründen der Wissensbegriff für die Erkenntnistheorie irrelevant sein sollte. Beckermann ist lediglich darin zuzustimmen, dass Erkenntnistheoretiker die oben angeführte Asymmetrie von Begriffsdefinitionen in der Philosophie und solchen in anderen Wissenschaften berücksichtigten sollten. Dies führt zu dem Eingeständnis, dass das Projekt der Begriffsanalyse für Wissen dann verfehlt ist, wenn ein terminus technicus gesucht wird, der eine ähnliche begriffliche Strenge aufweist wie Fachbegriffe aus anderen Wissenschaften. Verfolgt man die Post-Gettier-Debatte, so lässt sich nicht von der Hand weisen, dass viele Projekte ebendiese Richtung einschlagen und daher in die Irre führen. Doch der Wissensbegriff erweist sich nur dann in der Erkenntnistheorie als obsolet, wenn eine streng formale Begriffsexplikation die einzige Möglichkeit bietet, einen Begriff einzuführen und angemessen zu verwenden. Hierfür argumentiert Beckermann aber nicht hinreichend.
2.4.3 Epistemische Ziele und Werte Ich habe bereits angeführt, dass die von Beckermann angestoßene Debatte neben der Frage nach den angemessenen Maßstäben für eine Begriffsanalyse noch einen anderen Diskussionsstrang berührt. Im Kern der Debatte um eine scheinbare Inkohärenz und Irrelevanz des Wissensbegriffs steht auch die Frage nach epistemischen Zielen und Werten. Das von Sartwell aufgezeigte Spannungsverhältnis zwischen Wahrheit und Rechtfertigung, aus welchem die Inkohärenz des Wissensbegriffs abgeleitet wird, stützt sich ja gerade auf die unter-
94 Vgl. hierzu Craig 1990, S. 2ff.
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schiedlichen Werte, die beiden Merkmalen zukommen. Die weitreichende Bedeutung, die epistemische Ziele und Werte für die Diskussion einnehmen, lässt sich auch erkennen, wenn man einen Blick auf Franz von Kutscheras Auffassung von Wissen wirft. Von Kutschera kommt, ebenso wie Sartwell, wenn auch aus anderen Gründen, zu dem Schluss, dass der traditionelle dreigliedrige Wissensbegriff abzulehnen und durch eine Minimaldefinition von Wissen zu ersetzen ist.95 Dies begründet er zum einen damit, dass der Minimalbegriff von Wissen durch das Hinzufügen einer weiteren Bedingung an Konsistenz und Präzision nur verlieren kann, zum anderen aber auch dadurch, dass er die auf Platons Dialog „Menon“ zurückgehende Intuition in Frage stellt, derzufolge Wissen im Sinne einer wahren, gerechtfertigen Überzeugung wertvoller ist als eine bloß wahre Überzeugung. Vielleicht können wir zwar, so von Kutschera, durch einen dreigliedrigen Wissensbegriff einen Begriff gewinnen, der der alltagssprachlichen Verwendung des Wortes „Wissen“ näher kommt als der minimale Wissensbegriff. Hieraus ließe sich jedoch nicht folgern, dass wir über ihn zu einem Begriff des Wissens in einem qualitativ hochwertigeren Sinne gelangen würden. Das so genannte „Menon“- oder „Werte“-Problem, auf das von Kutschera hier Bezug nimmt, betrifft die Frage, warum Wissen (wahre, gerechtfertigte Meinung) intuitiv wertvoller ist als bloß wahre Überzeugung. In dem Dialog „Menon“ wirft Sokrates diese Frage auf, indem er folgendes Beispiel konstruiert:96 Angenommen, jemand verfügt über das Wissen des richtigen Wegs nach Larissa, ein anderer hat diesbezüglich nur eine wahre Überzeugung; er selbst war noch nie in Larissa und kann keine weitere Begründung für seine Überzeugung anführen. Warum sollten wir in diesem Fall Wissen höher schätzen als bloß wahre Überzeugung, wenn doch beide Personen nach Larissa finden können, und somit die Überzeugungen in beiden Fällen Handlungserfolge konstituieren? Die Erklärung der „Menon“-Intuition erweist sich vor diesem Hintergrund als schwierig. Platon versucht sie mit dem Hinweis darauf zu begründen, dass Wissen stabiler und fester verankert ist als wahre Meinung. Diese Vorstellung kann auch über das angeführte Beispiel plausibel gemacht werden. Derjenigen Person, die „wirkliches“ Wissen, also eine begründete Überzeugung hat, würde man tatsächlich ein größeres Vertrauen als Reisebegleiter schenken, wenn man sich selbst auf den Weg nach Larissa macht. Begründet sie ihre Überzeugung beispielsweise damit, dass sie auch die Umgebung sehr gut kennt und zahlreiche Male nach Larissa gegangen ist, so gehen wir davon aus, dass sie in vielen möglichen Umständen – beispielsweise bei schlechten Sichtver-
95 Vgl. von Kutschera 1981, S. 16ff. 96 Vgl. Platon 1991a, 97a ff.
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hältnissen und Witterungsbedingungen oder anderen unerwarteten Hindernissen – den richtigen Weg finden kann. Derjenigen Person, die ihre Überzeugung nicht weiter begründet, würde man ein solches Vertrauen vielleicht nicht entgegenbringen. In dieser Hinsicht können Wissen und wahre Überzeugung also durchaus unterschiedliche Konsequenzen für Handlungen haben. Schwierigkeiten, die „Menon“-Intuition zu erklären, ergeben sich für all diejenigen, die Wahrheit als einziges epistemisches Ziel ansetzen und alle anderen Werte und Ziele, wie beispielsweise Rechtfertigung, der Wahrheit unterordnen oder von dieser ableiten. Befürworter solcher Auffassungen können „Wahrheitsmonisten“ genannt werden.97 Reaktionsmöglichkeiten auf die Unverträglichkeit von wahrheitsmonistischen Positionen mit der „Menon“-Intuition lassen sich grob in zwei Hauptstrategien zusammenfassen: (1) die Aufgabe des Wahrheitsmonismus zugunsten eines anderen alleinigen epistemischen Ziels oder zugunsten eines Pluralismus epistemischer Ziele, und (2) das Festhalten am Wahrheitsmonismus, welches entweder das Bestreiten der „Menon“-Intuition oder – trotz der scheinbaren Unverträglichkeit – eine angemessene Integration der „Menon“-Intuition in die wahrheitsmonistische Position impliziert. Die zweite Strategie verfolgen von Kutschera und Hoffmann, allerdings mit jeweils unterschiedlicher Stoßrichtung. Von Kutschera bestreitet, dass die „Menon“-Intuition von solcher Relevanz ist, dass wir auf die systematischen Bedürfnisse der Erkenntnistheorie verzichten sollten.98 Hofmann versucht hingegen zu zeigen, dass die „Menon“-Intuition auch im Rahmen einer wahrheitsmonistischen Position erklärt werden kann, indem die Relationen zwischen so genannten „primären“ und „sekundären“ epistemischen Zielen und Werten aufgezeigt werden.99 Primäre und sekundäre Werte werden hierbei jeweils durch ihre Träger individuiert. Als primäre Träger von epistemischen Werten sollen Überzeugungen gelten; sekundäre Werte können Personen, Prozessen, Umständen und Meinungsgenesen zugesprochen werden. Eine andere Betrachtung führt Pierre Le Morvan an. Er richtet sein Argument direkt gegen Sartwell, indem er behauptet, dass die Schlüsse, die jener aus der wahrheitsmonistischen Position im Hinblick auf die Definition von Wissen zieht, nicht gerechtfertigt sind. Zwar fasst Le Morvan Rechtfertigung im Sinne Sartwells und Beckermanns als wahrheitsförderlich auf; er schreibt ihr aber einen konstitutiven Wert zu.100 Diesen Wert begründet Le Morvan, indem er zwischen einer intrinsischen und einer extrinsischen Auffassung von Wahr-
97 Diesen Begriff habe ich Frank Hofmann entliehen (vgl. Hofmann 2007, S.147). 98 Vgl. von Kutschera 1981, S. 16ff. 99 Vgl. Hofmann 2007, S. 149. 100 Vgl. Le Morvan 2002, S. 158ff.
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heitsförderlichkeit unterscheidet: Eine extrinsische Föderlichkeit soll dann vorliegen, wenn etwas ein Mittel zu einem bestimmten Ziel oder Zweck, aber nicht konstitutiv für dieses Ziel ist. Liegt eine konstitutive Relation vor, so handelt es sich um intrinsische Förderlichkeit. Eine solche Förderlichkeit erklärt Le Morvan über die Analogie zur Ästhetik und Ethik: Gesund zu leben, ist nicht nur ein Mittel für ein glückliches Leben, sondern kann als grundlegender Anteil, und somit als konstitutive Komponente des glücklichen Lebens betrachtet werden. Le Morvans Unterscheidung wirft auch ein neues Licht auf Beckermanns SäureBeispiel: Er plädiert dafür, zwischen akzidentiellen Kriterien und essentiellen Kriterien zu unterscheiden. Ein akzidentielles Kriterium Z für F weist eine typische, aber nicht-essentielle Eigenschaft von F auf. Als Beispiel führt Le Morvan den Geschmack eines Metalls an, der dazu dienen kann, die Frage zu entscheiden, um welches Metall es sich handelt – etwa um Eisen. Ein essentielles Kriterium liegt vor, wenn Z eine essentielle Eigenschaft von F aufweist. Le Morvan nennt als Beispiel die Anzahl von drei Atomen, die eine essentielle Eigenschaft des Lithium-Elements darstellt. Rechtfertigung stellt für Le Morvan ein essentielles Kriterium dar und ist somit konstitutiv für Wissen, während die Färbung des Lackmuspapiers ein akzidentielles Kriterium ist und daher für die Definition von Säure keine Rolle spielt. Auch wenn es gelingen sollte, die „Menon“-Intuition angemessen in eine wahrheitsmonistische Position zu integrieren, so ist der Wahrheitsmonismus keineswegs unanfechtbar. Es gibt einige Befürworter der ersten Strategie, die neben Wahrheit auch andere primäre epistemische Ziele geltend machen, beispielsweise Rationalität oder Verstehen, und behaupten, dass sich diese Ziele nicht auf das Wahrheitsziel reduzieren lassen.101 Die Motivation für solche Alternativpositionen kann folgendermaßen beschrieben werden: Zwar ist es plausibel davon auszugehen, dass wir wahre Überzeugungen anstreben und diese für sich genommen nicht mehr steigerungsfähig sind. Dennoch kann durchaus in Frage gestellt werden, ob Überzeugungen als primäre Träger von epistemischen Zielen und Werten aufzufassen sind. Wenn wir den Wissensbegriff im Alltag verwenden, beziehen wir uns oftmals nicht auf isolierte Tatsachen, sondern treffen auch Aussagen über die Gesamtheit und Struktur der Überzeugungssysteme von Wissenssubjekten. Wenn wir beispielsweise sagen, jemand verfüge über ein beachtliches Wissen über die französische Revolution, dann meinen wir damit meistens, dass diese Person zahlreiches Faktenwissen
101 Vgl. beispielsweise Koppelberg 2005. Weitere Vorschläge für ein angereichertes epistemisches Ziel, das nicht auf Wahrheit reduziert werden kann, werden auch von so genannten „Tugendepistemologen“ entwickelt (vgl. Sosa 2007 und Zagzebski 1996).
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besitzt und zudem Zusammenhänge und wichtige historische Bezüge selbständig aufzeigen kann. Wenn Aristoteles in seiner „Metaphysik“ schreibt „Alle Menschen streben von Natur aus nach Wissen“102, dann bezieht er sich damit nicht auf Wissen im Sinne von einzelnen, isoliert betrachteten wahren Überzeugungen, sondern auf ein tiefgreifendes und vielschichtiges Verständnis von Gegenständen und Tatsachen. R. L. Franklin greift diese Vorstellung auf und plädiert für ein Verstehen als Zielbegriff der Erkenntnistheorie, das der aristotelischen Auffassung nahe kommt: Most of us would agree that the fundamental goal is not the acquisition of a mass of undoubted facts, but the discernment of basic connexion and significance. […] My central point is that the discernment of relevant structure, which is involved in understanding, is not something added to knowledge, but is the essence of our most valuable knowledge. This is not formally inconsistent with our usual approach to epistemology; but it is disguised by it.103
In jüngerer Zeit spricht sich Jonathan L. Kvanvig für eine ähnliche These aus. Der Wert des Wissens ist laut Kvanvig nicht auf seine konstitutiven Bestandteile und somit auch nicht auf Wahrheit reduzierbar.104 Die Post-Gettier-Debatte habe den Blick auf unsere epistemischen Ziele verstellt, da sie mit der dreigliedrigen Wissensanalyse keinen angemessenen Zugang zu dem Phänomen Wissen und seiner Bedeutung für Menschen bereitstellt. Kvanvig verteidigt einen Pluralismus im Bezug auf epistemische Werte. Der Wert des Wissens lässt sich ihm zufolge nicht auf Wahrheit reduzieren. Doch neben Wissen sollen wir laut Kvanvig auch Verstehen als epistemisches Ziel betrachten, das in seinen Augen bisher in der Erkenntnistheorie wenig Beachtung gefunden hat. Verstehen ist Kvanvig zufolge nicht auf Wissen reduzierbar, sondern in einem umfassenderen Sinne aufzufassen.105 Die Gegenpositionen zum Wahrheitsmonismus zeichnen sich zumeist dadurch aus, dass eine andere Perspektive auf Wissensphänomene eingenommen wird: Statt einzelner Meinungen werden Überzeugungssysteme von Wissenssubjekten in den Blick genommen. Dem Wahrheitsmonisten bleibt zwar die Möglichkeit, sich darauf zu berufen, dass solche Systeme letztlich auf wahre Überzeugungen reduzierbar seien. Aber eine solche Reduzierbarkeit ist zumindest auf den ersten Blick nicht ersichtlich und zudem irreführend, da durch eine
102 103 104 105
Aristoteles 1961, 980a21. Franklin 1981, S. 208. Vgl. Kvanvig 2003, S. 108ff. Vgl. Ebd., S. 185ff.
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Fokussierung auf die Wahrheit als epistemisches Ziel die spezifischen Merkmale und die Dynamik von Überzeugungssystemen nicht eingefangen werden. Der Wahrheitsmonismus ist, so hat es sich herausgestellt, mit der Annahme verwoben, dass Überzeugungen der Status der primären Träger epistemischer Ziele zukommt. Ebendiese Annahme ist auch im Hinblick auf praktische Wissensformen relevant: Im ersten Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass praktisches Wissen sich nicht auf propositionales Wissen reduzieren lässt. Es ist daher nicht direkt auf wahre Überzeugungen bezogen. Wenn Wahrheit aber unser primäres erkenntnistheoretisches Ziel ist, bleibt für praktisches Wissen kein Raum. Es ist aus dieser Perspektive nicht ersichtlich, warum ein solches Wissen überhaupt für die Erkenntnistheorie relevant sein soll. Das Primat propositionalen Wissens in der Erkenntnistheorie ist mit dem Wahrheitsmonismus verwoben: Orientiert man sich an dem Wahrheitsziel, so liegt eine Fokussierung auf propositionales Wissen und Aussagenwahrheiten nahe. Doch es hat sich gezeigt, dass ebendiese Perspektive, die der Wahrheitsmonismus einnimmt, an ihre Grenzen stößt. Daher sind diejenigen Positionen, die sich von der wahrheitsmonistischen Position lösen, für eine Analyse praktischer Wissensformen vielversprechend. Nicht zuletzt verstellt der Wahrheitsmonismus den Blick auf praktische Wissensformen und belässt die Zusammenhänge zwischen praktischem und propositionalem Wissen unbeachtet. Diese Zusammenhänge werde ich im dritten Kapitel aufzeigen. An dieser Stelle möchte ich den Wahrheitsmonismus nicht ausführlich kritisieren und Argumente für seine Schlagkraft anführen. Wichtig für die weitere Argumentation der Arbeit ist der Verweis darauf, dass es durchaus Alternativkonzeptionen gibt, die auch andere epistemische Werte neben der Wahrheit zulassen. Und aus der Perspektive ebendieser Konzeptionen ist eine Ausweitung des erkenntnistheoretischen Fokus auf nichtpropositionale Wissensformen zumindest in Reichweite. Im Bezug auf die Argumentation Beckermanns können wir folgendes festhalten: Selbst wenn der Wahrheitsmonismus gegen einige Einwände verteidigt werden kann, verliert das Argument der Inkohärenz des dreigliedrigen Wissensbegriffs an Schlagkraft, sobald man einen näheren Blick auf die Zusammenhänge epistemischer Ziele und Werte wirft. Und auch wenn die dreigliedrige Wissenskonzeption Begriffe in sich zusammenfasst, die in Bezug auf unsere epistemischen Ziele unterschiedlich bewertet werden (eine Diagnose, die wesentlich auf einer wahrheitsmonistischen Hintergrundannahme beruht), wird ihr dadurch nicht der Boden entzogen.
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2.4.4 Exkurs: Alternativen zur Standardanalyse An dieser Stelle werde ich in einem kurzen Exkurs mit den Positionen von Edward Craig und Timothy Williamson zwei Wissensauffassungen vorstellen, die beide die traditionelle Analyse ablehnen und dennoch dem Wissensbegriff eine zentrale Rolle zusprechen. Beide halten das traditionelle Projekt der Begriffsanalyse von Wissen, ebenso wie Beckermann, für aussichtslos; allerdings hat dies nicht zur Folge, dass sie völlig auf den Wissensbegriff verzichten. Vielmehr begründen sie die Relevanz des Begriffs aus einer anderen Perspektive heraus. Die Ansätze von Craig und Williamson sollen hier keiner detaillierten Analyse und Kritik unterzogen werden; vielmehr wird mit ihnen symptomatisch aufgezeigt, dass es neben dem klassischen Explikationsprojekt durchaus andere Zugänge zur Bestimmung der Natur und Relevanz des Wissensbegriffs gibt.
2.4.4.1 Craigs pragmatische Untersuchungen zum Wissensbegriff „Analyse? Danke, Nein“ lautet der programmatische Titel der ersten Wittgenstein-Vorlesung, die Craig 1989 an der Universität Bayreuth hielt. Craigs Ziel ist es, das systematische Scheitern des klassischen begriffsanalytischen Projekts aufzuzeigen und für eine alternative Auffassung des Wissensbegriffs zu plädieren.106 Seine Kritik kann folgendermaßen rekonstruiert werden: Das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen zielt in dem Sinne auf eine „ideale“ Analyse, dass nach logisch und nicht bloß faktisch notwendigen und hinreichenden Bedingung für Wissen gesucht wird. Hierbei wird die intuitive Extension, d.h. der Umfang des Wissensbegriffs, als Explikandum angesetzt; die Intension, d.h. der Inhalt, wird diesem Umfang angepasst. Ausgangspunkt bilden verschiedenartige Fälle, die wir im Alltag als Wissen erachten, und aus diesen Situationen werden die Bedingungen für Wissen entwickelt, welche die Intension festlegen sollen. Intension und Extension eines Begriffs decken sich aber nicht zwangsläufig, was Craig am Beispiel von „Hexe“ aufzeigt.107 Im Mittelalter kam diesem Begriff sowohl ein bestimmter Umfang zu – er wurde auf zahlreiche Personen angewandt – als auch ein bestimmter Inhalt: „Frauen, die einen Pakt mit dem Teufel geschlossen haben“. Umfang und Inhalt entsprechen sich hierbei offensichtlich nicht, denn wohl keine der Frauen, die als Hexen verfolgt wurden, war tatsächlich mit dem Teufel verbündet.
106 Vgl. Craig 1993, S. 9ff. 107 Vgl. Ebd., S. 19f.
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Von ebendieser Diskrepanz ist nach Craig auch der Wissensbegriff betroffen. Wir können es nicht für selbstverständlich erklären, dass diejenigen Fälle, die wir in der Alltagssprache als Wissen betrachten, auch tatsächlich den Kriterien entsprechen, über die wir den Inhalt des Wissensbegriffs festlegen. Das ist gerade der wunde Punkt, auf den der Skeptizismus verweist. Mit seiner so genannten „pragmatischen Wissenstheorie“ stellt Craig ein Konkurrenzprojekt zur Standardanalyse vor, das an Naturzustandstheorien in der politischen Philosophie angelehnt ist und die methodische Richtung gewissermaßen umkehren soll. Die Intension soll für die Erschließung des Wissensbegriffs Vorrang erhalten; die Extension soll dementsprechend angepasst werden.108 Die Grundidee des Craig’schen Projekts kann, kurz gefasst, folgendermaßen beschrieben werden: Der Wissensbegriff erfüllt einen bestimmten Zweck, der auf ein menschliches Grundbedürfnis reagiert, weil Wissen die Grundlage für erfolgreiches Handeln ist. Wenn wir diesen Zweck ins Zentrum einer Wissensexplikation rücken, können wir den Inhalt des Wissensbegriffs erfassen. Die Bezugnahme auf den Zweck des Wissensbegriffs resultiert wiederum aus einer Kritik am traditionellen begriffsanalytischen Projekt: Die traditionelle Analyse wird, so Craig, in ihren zeitgenössischen Ausprägungen hauptsächlich als Selbstzweck betrieben, ohne dass nach Sinn und Zweck des Wissensbegriffs gefragt wird. Somit könne sie nur Vorarbeit leisten, d.h. einige Intuitionen ans Licht bringen, die eng mit unserem Wissensverständnis verknüpft sind, nicht aber erklären, warum wir über diesen Begriff überhaupt verfügen. Selbst in dem unerwarteten Fall, dass sie ein vertrauenswürdiges Ergebnis liefern würde, hätte man damit noch nicht viel gewonnen, da sie schlicht viele interessante Tatsachen über den Wissensbegriff völlig ungeklärt lässt. Durch die Konzeption des so genannten „guten Informanten“ versucht Craig, der pragmatischen Dimension des Wissensbegriffs gerecht zu werden.109 Um erfolgreich leben und handeln zu können, sind wir auf zuverlässige Auskunftsquellen angewiesen. Die Spezifizierung dieser Quellen gibt uns nach Craig wesentlich Aufschluss über unseren Wissensbegriff. Über die folgenden Schlüsselmerkmale werden gute Informanten charakterisiert: Erstens sollen sie die Wahrheit sagen, zweitens sollen sie von dieser Wahrheit überzeugt sein, und drittens sollen sie zuverlässig sein. Die Zuverlässigkeitsbedingung spezifiziert Craig hierbei in Anlehnung an Nozicks „truth-tracking“-Analyse kontrafaktisch:110 Gute Informanten müssen in denjenigen möglichen Welten Recht be-
108 Vgl. Craig 1990, S. 1ff. 109 Vgl. Craig 1993, S. 44ff. 110 Vgl. Abschnitt 2.3.4.
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halten, denen wir aus praktischen Gründen einen gewissen Wahrscheinlichkeitsgrad zusprechen. Craigs Projekt liefert somit eine dreigliedrige Konzeption des guten Informanten, die weitestgehend an der Standardanalyse angelehnt bleibt. Allerdings wird diese Konzeption aus einer anderen Perspektive heraus entwickelt. Von dieser Perspektive erhofft sich Craig, dem Zweck des Wissensbegriffs gerecht zu werden, da in seinen Augen nur dieser wesentlich Aufschluss über Wissen geben kann. Im ersten Kapitel habe ich bereits darauf hingewiesen, dass Craig auch praktischen Wissensformen eine Bedeutung für die Erkenntnistheorie zuspricht: Auch wenn er eine strikte Gleichsetzung von praktischem Wissen („knowing how“) und Fähigkeiten ablehnt, betont er, dass die Verwendung des Wissensbegriffs auch auf eine praktische Dimension verweist. Der Begriff des guten Informanten ist nicht auf diejenigen Personen beschränkt, die als gute Quellen für Aussagenwahrheiten betrachtet werden können. Auch diejenigen, die praktische Fähigkeiten erfolgreich ausführen und somit praktisches Wissen erkennbar und transformierbar machen, fallen darunter.111
2.4.4.2 Williamson: Wissen als grundlegender mentaler Zustand Auch Williamson erklärt das Projekt der Begriffsanalyse für gescheitert. Die zahlreichen unbefriedigenden Explikationsversuche innerhalb der Post-GettierDebatte belegen ihm zufolge dieses Scheitern. Er selbst sei zunächst dazu geneigt gewesen, dem Wissensbegriff überhaupt keine Bedeutung mehr zuzusprechen und ihn, ebenso wie Beckermann, aus der Erkenntnistheorie zu verbannen. Allerdings habe sich diese Ansicht genau ins Gegenteil gekehrt.112 In seiner im Jahr 2000 erschienenen Monographie „Knowledge and Ist Limits“ fasst Williamson sein Projekt schon im Vorwort unter dem Schlagwort „knowledge first“ zusammen.113 Williamson hält den Wissensbegriff für einen unanalysierbaren Begriff: Da es sich ihm zufolge um einen grundlegenden Terminus handelt, erweist es sich als sinnlos, diesen über Bestandteile, wie beispielsweise den Überzeugungsbegriff, zu explizieren versuchen. Dadurch, dass die traditionelle Erkenntnistheorie diesem Umstand nicht Rechnung trägt, versperrt sie sich laut Williamson selbst den Blick auf die Bedeutung des Wissens. Er fordert folglich eine völlige Neuausrichtung der Erkenntnistheorie, die er mit den folgenden Worten auf den Punkt bringt:
111 Vgl. Craig 1990, S. 155ff. sowie Abschnitt 1.5. 112 Vgl. Williamson 2000, S. 2ff. 113 Vgl. Ebd., S. v.
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A chief aim of this book is to develop a rigorous way of doing epistemology in which knowledge is central, and not subordinate to belief. It enables us to abandon the attempt to state necessary and sufficient conditions for knowledge in terms of belief without abandoning epistemology itself. Indeed, by abandoning that fruitless search we can gain insight into epistemological problems, because we are freed to use the notion of knowledge as an instrument of understanding in ways that its subordination to belief would not permit.114
Ein grundlegendes Ziel der Theorie Williamsons ist es, mit einer neuen Wissenskonzeption eine Brücke zwischen Erkenntnistheorie und Philosophie des Geistes zu schlagen. Vorherrschende Erklärungen des Bewusstseins gehen laut Williamson davon aus, dass Überzeugungen die primäre Kategorie derjenigen mentalen Zustände sind, die eine so genannte „Geist-zu-Welt-Anpassungsrichtung“ („mind-to-world direction of fit“) ausdrücken. Eine Überzeugung wird für gewöhnlich dann als wahr aufgefasst, wenn ihr Gehalt den Tatsachen der Welt entspricht, andernfalls nicht. Somit wird Überzeugungen eine konzeptuelle Priorität gegenüber Wissen zugesprochen, welches in den meisten Ansätzen hingegen nur als Randerscheinung auftaucht. Diesem traditionellen Bild stellt Williamson eine wissenszentrierte Konzeption des Geistes gegenüber, indem er Wissen als „grundlegendsten faktiven mentalen Zustand“ („most general factive mental state“) herausstellt.115 Alle anderen wahrheitsfähigen Einstellungen, wie etwa Überzeugungen, Wahrnehmungen oder Erinnerungen können gemäß Williamson nur in Bezug auf den Wissensbegriff verstanden werden. Im ersten Kapitel habe ich bereits angedeutet, dass für Williamsons Wissenskonzeption die Bezugnahme auf praktisches Handeln eine bedeutende Rolle spielt.116 Auch wenn ich bei der Beleuchtung der aktuellen Debatte um praktische Wissensformen einige Gründe angeführt habe, weshalb die von Stanley und Williamson vorgestellte Position über knowing how abzulehnen ist, möchte ich an dieser Stelle festhalten, dass ich für Williamsons Konzeption durchaus Sympathien hege. Insbesondere die Ausrichtung auf Fragen, die sich an der Schnittstelle zur Philosophie des Geistes befinden, ist in meinen Augen ein wichtiger Impuls für die erkenntnistheoretische Debatte. Dennoch ist der von Williamson vorgestellte Ansatz methodisch und inhaltlich sehr verschiedenen von der Position, die ich in dieser Arbeit vorstelle. Daher werde ich seine Auffassungen nicht in meine weiteren Überlegungen einbinden.
114 Ebd., S. 5. 115 Vgl. Ebd., S. 33ff. 116 Vgl. Abschnitt 1.2.2.
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Die Überzeugungskraft und Reichweite der Ansätze Craigs und Williamsons sollen hier nicht zur Diskussion gestellt werden. Der kurze Blick auf ihre Wissenskonzeptionen verdeutlicht zum einen, dass neben der traditionellen Begriffsanalyse noch andere Zugänge zur Bestimmung von Wissen vorliegen. Zum anderen wird durch die Stoßrichtung der beiden Konzeptionen aufgezeigt, dass das begriffsanalytische Projekt oftmals in einem sehr engen Horizont betrieben wird. Auch die Diskussion um das „Gettier“-Problem belegt dies: Auf die Konstruktion äußerst ausgefeilter und lebensferner Beispiele folgen hier oftmals komplizierte begriffliche Ausdifferenzierungen, ohne dass dabei der Zweck des Wissensbegriffs oder seine Bedeutung für Bewusstsein und Handeln in den Blick genommen wird. Während in der von Beckermann angestoßenen Debatte die legitime Verwendung des Wissensbegriffs überwiegend von Erfolg oder Scheitern der begriffsanalytischen Explikation abhängig gemacht wird, liefern Craig und Williamson neue Impulse, indem sie die Relevanz des Wissensbegriffs unabhängig vom Projekt der Begriffsanalyse begründen.
2.4.5 Fazit: Begriffsanalysen und der Wert des Wissens Zu Beckermanns Kritik an dem klassischen dreigliedrigen Wissensbegriff können wir an dieser Stelle folgendes festhalten: Weder Beckermanns Diagnose (die Inkonsistenz des Wissensbegriffs) noch sein Therapievorschlag (die Verbannung des Wissensbegriffs aus der Erkenntnistheorie) werden überzeugend begründet. Die vermeintliche Inkonsistenz kann mit dem Argument zurückgewiesen werden, dass Beckermann zu hohe Anforderungen an die legitime Explikation eines Begriffs stellt. Er liefert keine hinreichende Begründung dafür, weshalb ein Terminus nicht über Begriffe expliziert werden darf, die im Hinblick auf unsere epistemischen Ziele und Werte nicht auf einer Stufe stehen. Schon aufgrund der unzureichenden Argumente für die Inkohärenz des Wissensbegriffs, verliert Beckermanns Argument für die Irrelevanz des Wissensbegriffs seine argumentative Stütze. Die Sprachpraxis des Alltags und die unterschiedliche und vielfältige Verwendung des Wissensbegriffs in anderen Wissenschaften zeigen eine Relevanz des Begriffs auf, die nicht leicht von der Hand zu weisen ist. Ein Blick auf die Wissenskonzeptionen Craigs und Williamsons zeigt zudem, dass die Relevanz des Wissensbegriffs auch unabhängig von Erfolg oder Scheitern des begriffsanalytischen Projekts begründet werden kann. Auch wenn Beckermanns Argumente zurückgewiesen werden können, weist die von ihm angestoßene Debatte auf zentrale Fragen bezüglich des Wissensbegriffs hin: zum einen auf die Frage nach dem Status philosophischer Begriffsanalysen, zum anderen auf die Frage, wie Wissen hinsichtlich unserer epistemi-
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schen Ziele und Werte zu verorten ist. Diese Fragen sind auch für eine Analyse praktischer Wissensformen bedeutend: Versucht man praktisches Wissen über notwendige und hinreichende Bedingungen zu klären, ist zu erwarten, dass sich ähnliche Probleme im Bezug auf die Anforderungen an eine Begriffsanalyse abzeichnen wie bei propositionalem Wissen. Auch die Frage nach epistemischen Werten ist für eine Analyse praktischer Wissensformen wichtig: Wir haben gesehen, dass wahrheitsmonistische Positionen, die sich ausschließlich auf (Aussagen-)Wahrheiten als Ziel unserer Erkenntnisbemühungen konzentrieren, keinen Raum für nicht-propositionale Wissensformen bieten. Ein epistemischer Wert solcher Wissensformen ist aus wahrheitsmonistischer Perspektive nicht erkennbar. Geht man allerdings von einem umfassenderen primären Ziel aus – und für diese Annahme wurden einige gute Gründe angeführt – so gewinnen auch andere epistemische Werte an Bedeutung, und eine Integration praktischer Wissensformen in die Erkenntnistheorie scheint aus dieser Perspektive zumindest in Reichweite zu sein.
2.5 Naturalistische Erkenntnistheorien Epistemology, or something like it, simply falls into place as a chapter of psychology and hence of natural science. (Willard Van Orman Quine)117
Mit der Entwicklung so genannter „naturalistischer Erkenntnistheorien“ ist die traditionelle Erkenntnistheorie vor eine große Herausforderung gestellt, da hier sowohl eine grundlegende Kritik an der Tradition als auch konkrete Vorschläge für eine Neuausrichtung des erkenntnistheoretischen Forschens aufeinander treffen. Naturalistischen Erkenntnistheorien liegt die Vorstellung zugrunde, dass erkenntnistheoretische Projekte nur unter Rückgriff auf naturwissenschaftliche Methoden und Konzepte angemessen betrieben werden können. Dieser Zugang zur Erkenntnistheorie muss im Rahmen des übergeordneten, wesentlich von David Hume angestoßenen Projekts des philosophischen Naturalismus verstanden werden, dessen Grundzüge im 1739/40 erschienenen „A Treatise of Human Nature“ (dt. „Traktat über die menschliche Natur“) dargelegt werden. Hume versuchte, die Frage nach der Priorisierung der Themen und Methoden der
117 Quine 1994 [1969], S. 25.
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Philosophie völlig neu auszurichten und brachte zahlreiche grundsätzliche Einwände gegen die philosophische Tradition vor. Die verschiedenen Ausprägungen des philosophischen Naturalismus sind äußerst komplex und können an dieser Stelle nicht ausführlich diskutiert werden.118 Es sei nur angemerkt, dass die zahlreichen Varianten naturalistischer Erkenntnistheorien im Hinblick auf zwei Punkte voneinander unterschieden werden können: Erstens bewerten sie die Rolle unterschiedlich, die der traditionellen Erkenntnistheorie in einem neuen, naturalistischen Rahmen zukommt. Während einige schlicht für eine Ersetzung der klassischen Projekte durch naturwissenschaftliche plädieren, sprechen andere den traditionellen erkenntnistheoretischen Methoden und Problemen auch weiterhin noch einen weitgehend autonomen Status zu. Zweitens unterscheiden sich die Ansätze durch die jeweilige naturwissenschaftliche Leitdisziplin, die sie ins Zentrum ihrer Projekte stellen und der sie das Primat für die Erforschung von Erkenntnis bzw. Wissen zuschreiben. Im Folgenden werde ich kurz die Grundideen der erkenntnistheoretischen Naturalisierungsversuche von Willard V. O. Quine, Alvin I. Goldman und Hilary Kornblith vorstellen. Diese Positionen stellen sehr unterschiedliche Ausprägungen des Naturalismus in der Erkenntnistheorie dar. Ich werde sie im Hinblick auf die Frage diskutieren, welche Bedeutung ihnen für das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen und für eine Analyse praktischen Wissens zukommt.
2.5.1 Quines „Naturalisierte Erkenntnistheorie“ Quines 1969 erschienener, programmatischer Aufsatz „Epistemology Naturalized“ gilt als Grundstein für naturalistisch ausgerichtete Erkenntnistheorien. Zum einen werden hier grundlegende Thesen entwickelt, auf die fast jede solcher Theorien Bezug nimmt; zum anderen wird durch den Titel des Aufsatzes ein Slogan gepräft, der dieser Strömung ihren Namen verliehen hat. Die naturalisierte Erkenntnistheorie Quines ist durch eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit den erkenntnis- und wissenschaftstheoretischen Methoden seiner Zeit motiviert, betrachtet er doch das Projekt der so genannten „rationalen Rekonstruktion“ Rudolf Carnaps und anderer logischer Empiristen als ge-
118 Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Naturalismus in der Philosophie und der Erkenntnistheorie wird von Geert Keil bereitgestellt (vgl. Keil 1993). Klassische und zeitgenössische Aufsätze, die den Naturalismus in der Philosophie und der Erkenntnistheorie kontrovers diskutieren, werden zudem in den folgenden Sammelbänden einander gegenüber gestellt: Keil & Schnädelbach 2000, Kornblith 1993 sowie Sukopp & Vollmer 2007.
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scheitert. Die Zielsetzung, alle (wissenschaftlichen) Aussagen in Beobachtungssätze und logisch-mathematische Begriffe zu übersetzen und so ein Fundament unseres (empirischen) Wissens zu begründen, habe sich schlicht als auswegslos erwiesen.119 Mit anderen Worten: Quines naturalisierte Erkenntnistheorie ist durch einen Rechtfertigungsskeptizismus genährt, der ihn zur Frage hinführt, ob nicht die Psychologie überzeugendere Antworten für die Begründung unseres Wissens liefern kann als die traditionelle Erkenntnistheorie: But why all this creative reconstruction, all this make-believe? The stimulation of his sensory receptors is all the evidence anybody has to go on, ultimately in arriving at his picture of the world. Why not just see how this construction really proceeds? Why not settle for psychology?120
Quines Position ist folglich wesentlich von der Vorstellung geprägt, dass die Naturwissenschaften, namentlich die Psychologie, einen angemessenen Rahmen für erkenntnistheoretische Probleme bieten können. Im Zentrum der Erkenntnistheorie steht laut Quine die Frage, wie wir aus bestimmten Sinnesreizungen zuverlässige Überzeugungen gewinnen. Die Beziehung zwischen den durch die Umwelt vermittelten Reizen und dem mentalen Output sei ein Forschungsgegenstand der Psychologie, und dieser Umstand solle Erkenntnistheoretiker dazu anleiten, sich psychologischer Forschung zuzuwenden. Im Mittelpunkt stehen wir Menschen als empirische Subjekte, und die Psychologie ist laut Quine am besten dafür geeignet, die kausale Genese unserer Überzeugungen verständlich zu machen. Die Suche nach einer nicht-empirischen Fundierung unseres Wissens wird aus dieser Perspektive obsolet.121 Kurz gefasst, Quines naturalisierte Erkenntnistheorie lässt sich im Wesentlichen durch die folgenden beiden Thesen charakterisieren: (1) Untersuchungsgegenstand der Erkenntnistheorie sind die kausalen Mechanismen, die der Entstehung unserer Überzeugungen zugrunde liegen. (2) Ebenjene Mechanismen können durch naturwissenschaftliche Methoden (diejenigen der Psychologie) angemessen erforscht werden. Durch die Bezugnahme auf einige paradigmatische Wahrnehmungssituationen und durch grundlegende Überlegungen zum Verhältnis von Sprache und Empi-
119 Vgl. Quine 1994[1969], S. 15ff. 120 Ebd., S. 20. 121 Vgl. Ebd., S. 25ff.
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Die Rolle des Wissensbegriffs in der Erkenntnistheorie
rie verteidigt Quine sein Plädoyer für eine Neuausrichtung der Erkenntnistheorie.122 Erkenntnistheorie solle, so bringt Quine seine Thesen in einer vielzitierten Passage seines Aufsatzes zum Ausdruck, schlicht als ein Teilbereich der Psychologie weiterbetrieben werden: Epistemology, or something like it, simply falls into place as a chapter of psychology and hence of natural science. It studies a natural phenomenon, viz., a physical human subject. This human subject is accorded a certain experimentally controlled input – certain patterns of irradiation in assorted frequencies, for instance – and in the fullness of time the subject delivers as output a description of the three-dimensional world and its history.123
Dieser Vorschlag ist auf zahlreiche Kritik gestoßen. Einen Einwand gegen seine Position, den so genannten „Zirkularitätseinwand“, greift Quine selbst auf: Diejenige Disziplin, in der es um die Begründung aller empirischen Disziplinen gehe, könne nicht auf eine empirische Disziplin zurückgeführt werden. Doch Quine hält diesen Einwand nicht für schlagkräftig: Das Scheitern der Versuche, unser empirisches Wissen fundamentalistisch durch Beobachtungssätze und logische Begriffe zu begründen, zeige schlicht auf, dass es keine geeignete Alternativen gibt, die einen „besseren“ Ausgangspunkt für die Erkenntnistheorie bieten. Selbst wenn die Ersetzung der Erkenntnistheorie mit einer Zirkularität verbunden sei, handle es sich um keinen „bösartigen“ Zirkel, der eine Zurückweisung des Projekts zur Folge hätte.124 Eine grundlegende Kritik an Quines naturalisierter Erkenntnistheorie wird von Jaegwon Kim in seinem 1988 erschienenen Aufsatz „What is ‚Naturalized Epistemology‘“? vorgebracht: Kims Einwände richten sich in erster Linie auf die von Quine unterstellte Annahme einer „Problem-“ oder „Themenkontinuität“, die zwischen der traditionellen Erkenntnistheorie und der Psychologie bestehen soll.125 Auf den ersten Blick erscheint diese Annahme sehr plausibel: Sowohl die Philosophie als auch die Psychologie beschäftigen sich mit Wissensphänomenen bzw. kognitiven Prozessen und deren Genese. Allerdings stößt eine naive Gleichsetzung der Themen und Probleme der beiden Fachgebiete auf berechtigte Kritik aus unterschiedlichen Stoßrichtungen: Die normative Dimension der Erkenntnistheorie, so lautet der grundlegende Einspruch, den Kim gegen Quine erhebt, kann durch psychologische Methoden und Begriffe nicht angemessen erfasst werden. Laut Kim steht in der traditionellen Erkenntnistheorie der Rechtfertigungbegriff im Mittelpunkt. Dieser Begriff sei aber normativ – er beziehe 122 123 124 125
Vgl. hierzu außerdem Quine 1975b. Quine 1994[1969], S. 25. Vgl. Ebd., S. 20ff. Den Begriff der „Problemkontinuität“ habe ich Geert Keil entliehen (vgl. Keil 1993, S. 51).
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sich darauf, wie unsere Meinungen begründet sein sollen; mit rein deduktiven Methoden lasse sich Rechtfertigung nicht erfassen.126 Der Wissensbegriff verweise insofern auf eine normative Dimension, als er den Rechtfertigungsbegriff als definitorischen Bestandteil enthalte. Und nicht nur die Natur der Rechtfertigung entzieht sich laut Kim einer naturwissenschaftlichen Beschreibung: Auch die Zuschreibung von Überzeugungen sei an Rationalitätsstandards gebunden und verweise daher auf eine normative Ebene. Quine behaupte zwar, dass die klassischen erkenntnistheoretischen Projekte in einem neuen, psychologischen Rahmen fortgeführt werden können, doch seine Position führe auf kausalnomologische Beschreibungen über die Entstehung unserer Überzeugungen und könne keine Erklärung dafür liefern, warum wir ebendiese Überzeugungen als Rechtfertigungen anerkennen oder nicht. Somit schlage Quine eine neue Form der Erkenntnistheorie vor, die es nicht verdiene, als „Erkenntnistheorie“ bezeichnet zu werden: „Quine is urging us to replace a normative theory of cognition with a descriptive science“.127 Kurz gefasst: Kim wirft Quine vor, dass es sich bei seinem Projekt schlicht um eine vorschnelle und illegitime Vermischung zweier Dimensionen handelt. Eine rein deskriptive Beschreibung von Erkenntnisphänomenen könne unseren genuinen epistemischen Zielen und Werten nicht gerecht werden. Laut Kim setzt Quine fälschlicherweise erkenntnistheoretische mit natürlichen Eigenschaften gleich. Der Zusammenhang zwischen beiden Eigenschaften sei aber durch eine so genannte „Supervenienzrelation“ gekennzeicht, so dass eine Reduktion erkenntnistheoretischer Eigenschaften auf natürliche fehlschlage.128 Auch Wilfrid Sellars bringt, bereits vor Erscheinen von Quines Aufsatz zur naturalisierten Erkenntnistheorie, in „Empiricism and the Philosophy of Mind“ (1956) einen Einwand gegen die Problemkontinuität vor. Sein Argument nimmt hierbei auf den ontologischen Status erkenntnistheoretischer Tatsachen einerseits und empirischer Tatsachen andererseits Bezug: Sellars behauptet, dass die Annahme, epistemische Tatsachen ließen sich prinzipiell in nicht-epistemische zerlegen, einem schweren Irrtum unterliegt, der mit einem so genannten „naturalistischen Fehlschluss“ in der Ethik vergleichbar ist.129 Die Zurückweisung einer ontologischen Reduktion liegt für Sellars in dem Umstand begründet, dass wir epistemische Tatsachen stets auf einen so genannten „logischen Raum der Gründe“ beziehen, der sich einer empirischen Beschreibung entzieht. Um mit Sellars selbst zu sprechen:
126 127 128 129
Vgl. Kim 1994 [1988], S. 33ff. Kim 1994 [1988], S. 40. Vgl. Kim 1994 [1988], S. 50ff. Sellars 1999, S. 8; Übersetzung von T. Blume.
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Der springende Punkt ist, dass wir keine empirische Beschreibung dieser Episode oder dieses Zustands als ein Wissen bezeichnen. Wir stellen sie vielmehr in den logischen Raum der Gründe, der Rechtfertigung und der Fähigkeit zur Rechtfertigung des Gesagten.130
Quines Position wird in der Literatur auch oft als „ersetzender Naturalismus“ bezeichnet.131 Da gegen diesen Ansatz die oben angeführten schwerwiegenden Einwände gerichtet wurden, gibt es heute in der Erkenntnistheorie nur noch selten Projekte, die eine vollständige Naturalisierung im Sinne Quines verfolgen. Die meisten zeitgenössischen Naturalisierungsversuche zeichnen sich hingegen dadurch aus, dass sie an wesentlichen Bestandteilen der traditionellen erkenntnistheoretischen Themen oder Methoden festhalten. Dennoch betonen diese Positionen, dass den Naturwissenschaften eine zentrale Bedeutung für die Erkenntnistheorie zukommt. Im folgenden Abschnitt werde ich mit Alvin I. Goldman und Hilary Kornblith zwei solche naturalistische Erkenntnistheorien diskutieren.
2.5.2 Neuere Naturalistische Erkenntnistheorien: Alvin I. Goldman und Hilary Kornblith Für die Bewertung naturalistischer Erkenntnistheorien ist es zunächst wichtig, sich deutlich zu machen, durch welche Merkmale sich die traditionelle Erkenntnistheorie auszeichnet und inwiefern sich die jeweiligen naturalistischen Erkenntnistheorien von der Tradition unterscheiden. Eine grundlegende These, durch welche die analytisch geprägte Tradition gekennzeichnet werden kann, ist diejenige, dass es sich bei der Erkenntnistheorie um eine autonome Disziplin handelt. Erkenntnistheoretische Fragen und Probleme können dementsprechend „intern“, ohne Bezugnahme auf empirische Wissenschaften beantwortet werden.132 Eine zweite grundlegende These betrifft die Methode der Begriffsanalyse: Die Erkenntnistheorie, so lautet die Annahme, verschafft uns eine Klärung der zentralen Begriffe, etwa des Wissens oder der Rechtfertigung, auf der Grundlage von a priori Methoden. Die logischen oder sprachanalytischen Verfahren, die im Mittelpunkt der erkenntnistheoretischen
130 Ebd., S. 66; Hervorhebung im Original. 131 Vgl. Grundmann 2008, S. 546f. und Kornblith 1994, S. 3ff. Dirk Koppelberg hält dieser Einordnung entgegen, dass nur die frühen Schriften Quines auf einen solchen ersetzenden Naturalismus hindeuten. In späteren Arbeiten, etwa in „Pursuit of Truth“ (1990), könne Quines Position nicht mehr in diesem Sinne aufgefasst werden (vgl. Koppelberg 1996, S. 76). 132 Vgl. hierzu Kitcher 1992, S. 53ff., Koppelberg 1996, S. 76f.
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Forschung stehen, hängen demzufolge nicht von der Empirie und den Naturwissenschaften ab. Die naturalistischen Erkenntnistheorien, die sich im Anschluss an Quine entwickelten, lehnen zwar dessen Ersetzungsvorschlag der Erkenntnistheorie durch die Psychologie weitestgehend ab. Sie sind jedoch durch eine kritische Einschränkung oder Ablehnung der beiden genannten Thesen der Tradition, insbesondere der zweiten These, gekennzeichnet: Die zentrale Annahme neuerer naturalistischer Erkenntnistheorien ist diejenige, dass begriffsanalytische Verfahren alleine die erkenntnistheoretischen Fragestellungen nicht lösen können. Insbesondere der Begriff der Rechtfertigung verweise auf eine naturalistische Ebene.133 Oft sind naturalistische Erkenntnistheorien mit einer reliabilistischen Auffassung von Wissen verknüpft: Wissen wird als Überzeugung verstanden, die durch zuverlässige Methoden zustande gekommen ist, und ebendiese Methoden werden als Forschungsgegenstand der Naturwissenschaften aufgefasst. Vor diesem Hintergrund ist es wenig verwunderlich, dass sich auch Alvin I. Goldman, dessen Kausaltheorie des Wissens ich bereits vorgestellt habe, zu einem naturalistischen Programm bekennt. Im Gegensatz zu Quine plädiert Goldman für ein sehr moderates Naturalisierungsprojekt: Wir sollen, so Goldman, an den erkenntnistheoretischen Traditionen („epistemic folkways“) weitestgehend festhalten. Die Erkenntnistheorie solle auch weiterhin auf die angemessene Beschreibung der traditionellen Begriffe und ihrer Zusammenhänge sowie auf normative Fragen im Bezug auf Erkenntnisphänomene hin ausgerichtet sein. Allerdings ist Goldman der festen Überzeugung, dass die begriffsanalytischen Projekte von den Naturwissenschaften profitieren können. Daher spricht er sich für eine Anbindung der Erkenntnistheorie an die kognitive Psychologie, da diese ihm zufolge wichtige Einsichten zu der Frage nach der Ausrichtung unserer epistemischen Zustände bereitstellt.134 Um den Einwänden vorzubeugen, dass es sich bei diesem Programm nicht mehr um eine „echte“ Erkenntnistheorie handle, stellt Goldman seine Position in einem Aufsatz unter dem Titel „Epistemik: Die regulative Theorie der Kognition“ vor.135 Die Epistemik unterscheide sich zwar von der traditionellen Erkenntnistheorie dadurch, dass sie sich eng an der kognitiven Psychologie orientiert. Doch laut Goldman zeigt sie dennoch eine klare Anbindung an die tradi-
133 Vgl. hierzu auch Koppelberg 2001, S. 332ff. 134 Vgl. Goldman 1993, S. 271ff. 135 Vgl. Goldman 1987, S. 454.
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tionellen Themen der Erkenntnistheorie: In ihrem Mittelpunkt stehe die Frage nach der Regulation unserer Kognition. Warum ist eine Allianz zwischen Erkenntnistheorie und kognitiver Psychologie erstrebenswert? Goldman nennt auf diese Frage hin drei Gründe: Erstens habe sich die traditionelle Erkenntnistheorie mit ihren begrifflichen und klassifikatorischen Mitteln auf ein zu einfaches Modell unserer kognitiven Zustände konzentriert. Die Zuwendung zu den Forschungsergebnissen der Psychologie ermögliche eine Differenzierung und Spezifizierung der zentralen erkenntnistheoretischen Konzepte. Insbesondere der Überzeugungsbegriff, der in der Wissensanalyse im Zentrum steht, werde in der traditionellen Erkenntnistheorie oft in einer unzureichenden Weise gebraucht. Ein Blick auf die psychologische Forschung, in der okkurente von dispositionalen Überzeugungen unterschieden werden und zudem ein enger Zusammenhang zwischen unseren Meinungen und Gedächtnisinhalten postuliert wird, könne zu einer vielversprechenden Anreicherung des Überzeugungsbegriffs führen.136 Zweitens behauptet Goldman, dass in der erkenntnistheoretischen Tradition Wissenssubjekte zumeist als ideale Subjekte betrachtet wurden, ohne dass den tatsächlichen Fähigkeiten des Menschen Rechnung getragen wird. Auch wenn sich die Erkenntnistheorie als normative Disziplin verstehe und nach dem „Sollen“ unserer kognitiven Vorgänge frage, sei eine Ausblendung der Frage, wozu wir Menschen überhaupt in der Lage sind, d.h. nach dem „Können“, für die Ausrichtung erkenntnistheoretischer Fragen von grundlegender Bedeutung.137 Drittens habe die klassische Erkenntnistheorie mit ihrer Fokussierung auf ideale Erkenntnisprozesse die Fehler und Schwächen der menschlichen Erkenntnis systematisch ausgeblendet. Aus ebendiesen Mängel können wir laut Goldman aber ein grundlegendes Verständnis für die Regulation unserer Kognition gewinnen. Die Erkenntnistheorie ziele auf eine Verbesserung und Steigerung unserer kognitiven Leistungen, und gerade aus Fehlern ließen sich symptomatische Einblicke ablesen.138 Im nächsten Abschnitt werde ich auf Goldmans Überlegungen zurückkommen und dafür plädieren, dass auch eine Analyse praktischer Wissensformen von einer Anbindung an Forschungsergebnisse der kognitiven Psychologie und der Neurowissenschaften profitieren kann. An dieser Stelle möchte ich zunächst mit Hilary Kornbliths Position eine naturalistische Erkenntnistheorie diskutieren, die einen anderen Ausgangspunkt nimmt als diejenige Goldmans.
136 Vgl. Ebd., S. 455ff. 137 Vgl. Ebd., S. 458ff. 138 Vgl. Ebd., S. 461ff.
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In seiner 2002 erschienenen Monographie „Knowledge and Its Place in Nature“ plädiert Kornblith für eine neue Form des Naturalismus in der Erkenntnistheorie, die durch die Forderung gekennzeichnet ist, dass nicht länger der Wissensbegriff, sondern das Phänomen des Wissens, das mit naturwissenschaftlichen Methoden erfasst werden kann, in den Fokus gestellt werden sollte.139 Das zentrale Thema der Erkenntnistheorie sei Wissen, und nicht der Begriff des Wissens. Kornblith favorisiert eine externalistische, reliabilistische Auffassung, die sich vom Standardreliabilismus allerdings dadurch unterscheidet, dass ein völlig anderes Verständnis von Wissen zugrunde gelegt wird. Als paradigmatischen Wissenstypus rückt er basale Fähigkeiten ins Zentrum, die auch Tieren zukommen und dem Zustandekommen jeglicher wahrer Überzeugungen zugrunde liegen sollen. Kornblith richtet sich gegen die Vorstellung, dass der Analyse unserer epistemischen Begriffe, die unsere vortheoretischen Intuitionen prüft, eine Vorrangstellung in der Erkenntnistheorie zukommt: Die Annahme, dass wir durch Begriffsanalysen ein hinreichendes Verständnis von Wissen, Rechtfertigung und anderen epistemischen Phänomenen gewinnen können, sei fehlgeleitet, da unsere Intuitionen wesentlich von Hintergrundbedingungen beeinflusst seien.140 Die Erkenntnistheorie soll sich laut Kornblith nicht mehr auf begriffsanalytische Methoden als Standardverfahren beziehen, sondern müsse einen anderen Ausgangspunkt wählen. Um seine These verständlich zu machen, stützt sich Kornblith auf das Beispiel eines Steinsammlers, der die Natur einer bestimmten Felssorte untersucht.141 Wenn der Stoff, den dieser erforscht, zunächst noch keinen Namen hat, könnte er einen neuen Begriff einführen und ihn beispielsweise „Gold“ nennen. Diesen Begriff verbindet der Steinchensammler mit seinen ersten Eindrücken des zu erforschenden Gegenstandes: etwa mit dem Glanz oder der Konsistenz der Felssorte. Nun wäre es aber laut Kornblith sinnlos anzunehmen, der Sammler könne ein besseres Verständnis über den Stoff gewinnen, wenn er über seine vortheoretischen Intuitionen zu diesem Stoff nachdenkt: Vielmehr müsse der Stoff selbst untersucht werden. Steinsammler interessieren sich schließlich für Steine, nicht für ihre Intuitionen über Steine. Vor dem Hintergrund empirischer Befunde wird der Steinforscher, so Kornblith, durchaus bereit sein, seinen vormals entwickelten Begriff zu modifizieren. Sein Verständnis des Stoffes „Gold“ hänge somit wesentlich von der naturwissenschaftlichen Erforschung des Goldes ab.
139 Vgl. Kornblith 2002, S. 1ff. 140 Vgl. Kornblith 2007, S. 83f. 141 Vgl. Ebd., S. 84f.
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Dasselbe trifft laut Kornblith auch für die Erkenntnistheorie zu: In ihrem Zentrum stehe ein „markantes“ Phänomen des menschlichen Wissens, das es zu verstehen gilt.142 Wir dürfen uns, so Kornblith, nicht mit unseren gegenwärtigen Analysen des Wissensbegriffs begnügen, sondern sollen die Natur des Wissens mit empirischen Mitteln erforschen. Kornblith bemerkt, dass es auf dem ersten Blick Schwierigkeiten bezüglich der von ihm vorgestellten Analogie gibt: Gold scheint im Gegensatz zu Wissen ein natürliches Phänomen zu sein, das durch die Naturwissenschaften angemessen beschreiben werden kann. Doch Kornblith hält dem entgegen, dass es sich auch bei Wissen um ein natürliches Phänomen handle und somit kein wesentlicher Unterschied zwischen Gold und Wissen bestehe. Kornbliths zentrale These ist, dass Wissen eine so genannte „natürliche Art“ ist: „I want to claim that knowledge is, in fact, a natural kind.“143 Wie aber ist diese These genau zu verstehen? Kornblith stützt sich auf die prominenten Auffassungen natürlicher Artbegriffe von Saul Kripke und Hilary Putnam.144 Das wesentliche Merkmal einer natürlichen Art (beispielsweise Gold), liegt demzufolge in der Tatsache begründet, dass sie, so wie sie ist, in der Natur vorliegt und nicht durch menschliches Denken oder Urteilen beeinflusst wird. Von natürlichen Arten wird in der Regel angenommen, dass sie eine bestimmte Mikrostruktur teilen, die durch kanonische Objekte angezeigt wird, welche als paradigmatische Instanzen ausgelegt werden. Kornblith verweist nun darauf, dass die paradigmatischen Beispiele für Wissen im Bereich der kognitiven Ethologie erforscht werden: Dieser Wissenschaftszweig ist ein Teilgebiet der Zoologie, das sich mit der kognitiven Verhaltensbiologie von Tierarten befasst. Kornblith zufolge kann man Tieren aus guten Gründen intentionale Zustände zuschreiben: sie zeigen außerordentlich komplexe Verhaltensweisen, die sich nur durch die Annahme erklären lassen, dass sie bestimmte Wünsche und Meinungen haben. Wieso sollte man tierisches Verhalten aber als „Wissen“ bezeichnen? Für die Beschreibung individuellen Tierverhaltens mögen sich, so Kornblith, zwar Überzeugungszuschreibungen als hinreichend erweisen, doch der Wissensbegriff komme dann ins Spiel, wenn man den Blick auf bestimmte Verhaltensweisen von Tierarten richtet. Hier stünden nicht nur Meinungen im Vordergrund, die das Ergebnis reliabler kognitiver Fähigkeiten sind, sondern die auch noch einen bestimmten Zweck erfüllen, für den sie ausgelesen wurden und sich über die Evolution hinweg erhalten haben. Die kognitive Ethologie erforscht laut Kornblith mit diesen basalen tierischen Fähigkeiten einen Wis-
142 Vgl. Ebd., S. 85. 143 Kornblith 2002, S. 61. 144 Vgl. Kornblith 2002, S. 12f. Siehe auch Kripke 1980 sowie Putnam 1973 und 1975.
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senstypus, der die Referenz des Wissensbegriffs festlegt und somit im Zentrum der Erkenntnistheorie stehen sollte. Auch menschliches Wissen werde nur unter Rückgriff auf diese kognitiven Fähigkeiten verständlich. Diese These verteidigt Kornblith gegen die Annahme, dass Wissen wesentlich durch soziales Handeln oder durch Reflexion konstituiert wird.145 Kurz gefasst: Kornblith geht davon aus, dass es sich bei Wissen um ein natürliches Phänomen handelt, das in derselben Weise erforscht werden kann wie jedes andere Naturphänomen auch. Die Bedeutung und der Zweck des Wissens werden laut Kornblith nicht wie bei Craig durch die Verbreitung des Wissensbegriffs begründet, sondern durch den Status von Wissen innerhalb der Natur: What makes this category an important one, on my view, is not that people in our society have this concept; rather, it is that this category accurately describes a feature of the world.146
Wir können Kornbliths naturalistische Erkenntnistheoriemit durch die folgenden drei Thesen zusammenfassen: (1) Die kognitive Ethologie hat einen irreduziblen, grundlegenden Wissenstypus als Forschungsgegenstand. (2) Jener Wissenstypus ist genau derjenige, für den wir uns primär in der Erkenntnistheorie interessieren sollten. (3) Wissen ist eine natürliche Art. Auch Kornblith stützt sich somit, ebenso wie Quine, auf eine Problem- bzw. Themenkontinuität. Allerdings ist anzumerken, dass sich seine Position in zwei Punkten wesentlich von Quines unterscheidet: Erstens dadurch, dass er eine andere Leitwissenschaft – die kognitive Ethologie – vorschlägt; und zweitens dadurch, dass er die traditionelle Erkenntnistheorie keineswegs durch eine naturwissenschaftliche Teildisziplin ersetzen will, sondern der normativen Ebene der Erkenntnistheorie, wenn auch in einer neuen Deutung, weiterhin einen autonomen Status zuspricht.147 Ich kann Kornbliths Theorie an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren, möchte aber den Blick auf einen wesentlichen Kritikpunkt richten, den José
145 Vgl. Kornblith 2007, S. 89ff. Siehe außerdem den Kommentar von Martin Kusch: Kusch fasst Wissen als ein grundlegend soziales Phänomen auf und entwickelt vor diesem Hintergrund eine Konkurrenzposition zu derjenigen Kornbliths (vgl. Kusch 2007, S. 98ff.). 146 Ebd., S. 165. 147 Vgl. Kornblith 2002, S. 137ff.
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Bermúdes vorbringt: Wie wir gesehen haben, steht im Zentrum der naturalistischen Erkenntnistheorie Kornbliths ein bestimmter Wissenstypus, unter den basale Unterscheidungsfähigkeiten, bestimmte Verhaltensmuster von Tierarten fallen, die eine angemessene Reaktion auf Umweltbegebenheiten ausdrücken. Bermúdez bezeichnet diesen Wissenstypus unter Rückgriff auf Sosa als „tierisches Wissen“ („animal knowledge“).148 Alle höherstufigen Formen von Wissen, etwa „reflexives Wissen“, sollen nun gemäß Kornblith dieselbe Struktur aufweisen wie dieses tierische Wissen. Bermúdez wendet ein, dass Kornblith ebendiese Annahme nur unzureichend begründet: Er müsse eine so genannte „Subtraktionsannahme“ („subtraction assumption“) zugrunde legen, d.h. er müsse voraussetzen, dass es sich bei höherstufigem, reflexivem Wissen schlicht um eine Addition von tierischem Wissen und höherstufigen kognitiven, metarepräsentationalen Fähigkeiten handelt.149 Diese Annahme sei jedoch keinesfalls selbstverständlich. Laut Bermúdes wissen wir schlicht nicht, wie die beiden Wissensformen aufeinander bezogen sind, und Kornblith führe keine weiteren überzeugenden Begründungen für die Subtraktionsannahme an. Bermúdez stellt der Auffassung Kornbliths eine Alternativinterpretation gegenüber: Beide Wissenformen könnten völlig unterschiedliche Strukturen aufweisen und auf verschiedene Normen bezogen sein, tierisches Wissen auf eine „Kohärenznorm“ („norm of coherence“), reflexives Wissen hingegen auf eine „Wahrheitsnorm“ („norm of truth“).150 Solange Kornblith keine weiteren Argumente für seine These anführt, stehen sich diese beiden Auffassungen einander gegenüber und die Kornblith’sche Theorie auf einem fragwürdigem Fundament. Die Behauptung, Wissen sei eine natürliche Art, erweist sich auch aus einer anderen Perspektive als zweifelhaft, egal ob man wie Kornblith die kognitive Ethologie oder eine andere Wissenschaft als Leitwissenschaft ansetzt: Die Auswahl paradigmatischer Fälle von Wissen und deren Bewertung hängen stark von der Wissenschaft ab, der man das Primat für die Erforschung von Wissen zuspricht. Überzeugende Argumente dafür, dass einer bestimmten Wissenschaft dieses Primat zukommt, liegen nicht auf der Hand. Zudem hat sich bereits an den maßstäblichen Explikationskontroversen um das „Gettier“-Problem gezeigt, dass schon innerhalb der philosophischen Diskussion Uneinigkeit herrscht: Eine Lehre, die aus der Debatte über externalistische und internalistische Auffassungen gezogen werden kann, ist die, dass keineswegs Konsens darüber herrscht, welche Fälle von Wissen als kanonische Instanzen erachtet werden
148 Vgl. Bermúdez 2006, S. 307ff. Siehe hierzu auch Abschnitt 2.3.5. 149 Vgl. Ebd., S. 309. 150 Vgl. Ebd., S. 310f.
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sollen, da die paradigmatischen Wissensformen, die Externalisten und Internalisten ihrer Position jeweils zugrunde legen, weitestgehend divergieren. Beispielsweise würden die meisten Internalististen sich wohl gegen die Behauptung sperren, tierisches Wissen sei der kanonische Wissenstypus, sondern vielmehr reflexives Wissen als einen solchen erachten. Diese Überlegungen entziehen Kornbliths naturalistischer Erkenntnistheorie wesentlich ihre Überzeugungskraft, auch wenn man ihm das Zugeständnis machen muss, dass er mit dem Verweis auf die kognitive Ethologie durchaus eine interessante Wissensform in den Blick nimmt, die zudem in der klassischen Erkenntnistheorie wenig Beachtung findet. Ich werde im nächsten Abschnitt aufzeigen, dass seine Position auch im Bezug auf praktisches Wissen mit Schwierigkeiten verbunden ist.
2.5.3 Die Bedeutung naturalistischer Erkenntnistheorien für das Projekt der Begriffsanalyse von Wissen Wir haben gesehen, dass naturalistische Erkenntnistheoretiker mit ihren Projekten nicht etwa Kontroversen auslösen, die sich auf bestimmte Aspekte der Begriffsexplikation von Wissen beziehen, sondern vielmehr die Fragen in den Mittelpunkt stellen, welche Bedeutung der Analyse epistemischer Begriffe überhaupt in der Erkenntnistheorie zugesprochen werden kann und welche Rolle den Naturwissenschaften zukommt. Der Vorschlag einer völligen Ersetzung der Erkenntnistheorie durch eine empirische Wissenschaft, so wie ihn Quine einst formulierte, erweist sich als zu voreilig und unplausibel und ist in den jüngeren Debatten kaum noch vorzufinden. Anhand der Betrachtung der Positionen Goldmans und Kornbliths wurde deutlich, dass die Bewertung des begriffsanalytischen Projekts von der Seite der Naturalisten sehr unterschiedlich ausfällt: Kornblith bringt radikale Zweifel an der Fruchtbarkeit einer Begriffsanalyse epistemischer Begriffe an und fordert, das Phänomen des Wissens in den Vordergrund zu stellen, das mit natürlichen Mitteln erforscht werden kann. Goldmans Naturalismus ist hingegen moderater: Er spricht sich dafür aus, dass sich die Erkenntnistheorie auch weiterhin an ihren klassischen Problemen und Begriffsklärungen orientieren solle, plädiert aber für eine engere Anbindung an die Kognitionspsychologie, da die Erkenntnistheoretiker in seinen Augen von jener profitieren können. Die These einer Themen- oder Problemkontinuität, die den Ansätzen Quines und Kornbliths zugrunde liegt, hat sich als äußerst zweifelhaft erwiesen. Sie steht der berechtigten Vermutung gegenüber, dass die Erkenntnistheorie und die Naturwissenschaften – auch wenn jeweils gleiche oder ähnliche Begriffe verwendet werden – auf verschiedenartige, irreduzible Untersuchungsgegen-
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stände bezogen sind. Allerdings darf man vor diesem Hintergrund nicht vergessen, dass auch die Auffassung, dass begriffsanalytische Projekte allein uns die beste Auskunft über erkenntnistheoretische Phänomene geben können, äußerst fragwürdig ist. Trotz der Kritik an den naturalistischen Erkenntnistheorien Quines und Kornbliths darf schließlich nicht die Tatsache ausgeblendet werden, dass naturwissenschaftliche Disziplinen die kognitiven Grundlagen von Lebewesen erforschen und daher eng mit erkenntnistheoretischen Fragen und Themen verwoben sind. Eine philosophische Untersuchung, die empirische Forschungsergebnisse völlig unbeachtet aus der Erkenntnistheorie ausklammert, sollte daher nicht als unser Ziel betrachtet werden. Auch wenn eine Reduktion der traditionellen Erkenntnistheorie auf vollständig naturalistische Programme abzulehnen ist, stellt ein schlichtes Ignorieren empirischer Befunde keine attraktive Lösung dar. Wie hängen die Überlegungen zum Naturalismus in der Erkenntnistheorie mit der Frage nach dem Status praktischer Wissensformen zusammen? Wir haben bereits im ersten Kapitel gesehen, dass auch empirische Wissenschaftler, etwa Kognitionspsychologen, zu der Frage nach der Natur praktischen Wissens und nach dessen Zusammenhängen zu theoretischen, verbalisierbaren Wissensformen Stellung beziehen. Doch die Annahme einer Themen- oder Problemkontinuität zwischen Erkenntnistheorie und empirischen Wissenschaften ist in meinen Augen auch im Bezug auf praktisches Wissen verfehlt. Ich habe im ersten Kapitel dafür plädiert, dass zwei Fragestellungen auseinandergehalten werden sollten: Erstens die Frage nach unserem epistemischen Begriff des praktischen Wissens und zweitens die Frage, welche mentalen Prozesse oder Repräsentationen praktischem Wissen einerseits und propositionalem Wissen andererseits zugrunde liegen.151 Die erste Frage verweist meiner Ansicht nach auf eine normative Ebene, die sich einer Beantwortung durch naturwissenschaftliche Methoden entzieht. Dies werde ich im nächsten Kapitel deutlicher aufzeigen, indem ich praktisches Wissen durch eine so genannte „Norm des Handlungserfolgs“ charakterisiere. Der Begriff des praktischen Wissens ist aus dieser Perspektive untrennbar mit der Frage verbunden, wie wir durch Handeln und Praxis bestimmte Ziele erreichen und Bedürfnisse befriedigen. Hierzu können wir allein auf der Grundlage empirischer Methoden und Konzepte nicht Stellung beziehen. Doch die Frage, in welchen kognitiven Prozessen intelligente Fertigkeiten gründen, sollte meiner Ansicht nach in einer engen Anbindung an die empirischen Wissenschaften, namentlich an die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaften, diskutiert werden. Im nächsten Kapitel werde ich eine
151 Vgl. hierzu Abschnitt 1.4.4.
Konklusion: Ausgangspunkte für eine Analyse praktischen Wissens
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Unterscheidung dreier Wissensformate vorschlagen, die zur Beschreibung ebendieser Prozesse herangezogen wird. Hierbei werde ich einige Befunde aus der Neuro- und Kognitionsforschung mit in meine Überlegungen einbeziehen. Ebenso wie Goldman bin ich davon überzeugt, dass die Erkenntnistheorie von einem Bündnis mit der Psychologie profitieren kann. Was Goldman über den Überzeugungsbegriff aussagt, kann auch und insbesondere für den Begriff der praktischen Fähigkeit konstatiert werden. Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass dieser Begriff in der Erkenntnistheorie oft nur sehr vage und unspezifisch verwendet wird. Ein Blick auf die empirische Erforschung praktischer Fähigkeiten kann zu einem differenzierteren Bild führen und somit einen konstruktiven Beitrag zum Verständnis praktischer Wissensformen leisten. Ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf Kornbliths naturalistische Erkenntnistheorie zurückkommen: Man könnte durchaus annehmen, dass Kornblith mit den kognitiven Fähigkeiten bestimmter Tierarten einen paradigmatischen Fall des Wissens herausgreift, der für das Verständnis praktischer Wissensformen zentral ist. Vor diesem Hintergrund könnte man behaupten, dass die von Bermúdez konstatierte Subtraktionsannahme zwar im Hinblick auf die Zusammenhänge zwischen tierischem und reflexivem Wissen problematisch ist, nicht aber wenn es um die Verbindungen zwischen tierischem Wissen und den praktischen Wissensformen des Menschen geht. Diese Annahme ist in meinen Augen ein Fehlschluss: Zwar kann man durchaus zugestehen, dass eine Reihe unserer praktischen Fähigkeiten auch Tieren zugeschrieben werden können. Es gibt also zumindest eine Schnittstelle zwischen beiden Bereichen. Doch sollte man nicht vergessen, dass es auch höchst-komplexe, kulturell geprägte Fertigkeiten gibt, deren Erklärung durch eine Subtraktion äußerst fragwürdig scheint. Im vierten Kapitel werde ich mit musikalischen Fähigkeiten ein Beispiel für solche Fähigkeiten in den Blick nehmen. Hierbei wird sich zeigen, dass komplexe musikalische Fertigkeiten durch ein Zusammenspiel praktischer und propositionaler Wissensformen gekennzeichnet sind. Aus dieser Perspektive erscheint die Annahme, dass sich das praktische Wissen des Menschen linear auf tierisches Wissen zurückführen lässt, unplausibel.
2.6 Konklusion: Ausgangspunkte für eine Analyse praktischen Wissens Welche Ergebnisse können wir aus der Betrachtung der unterschiedlichen Debatten um den Wissensbegriff in der Erkenntnistheorie gewinnen? Wir haben gesehen, dass ein Konsens im Hinblick auf die Suche nach einer Wissensanalyse, die unseren Intuitionen über Wissen gerecht wird und zugleich gegen ver-
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meintliche „Gettier“-Fälle immun ist, weder in naher noch in ferner Zukunft zu erwarten ist. Internalistische und externalistische Konzeptionen erfassen beide jeweils wichtige Aspekte im Hinblick auf die Begründung unserer Meinungen, doch auf keiner der vorgestellten Positionen kann ein Wissensbegriff gründen, der allen gerecht wird. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass es keinen einheitlichen Rechtfertigungsbegriff gibt, der als definitorische Bedingung für Wissen herangezogen werden kann. Welche Anforderungen wir an Personen stellen, damit wir ihnen Wissen zuschreiben, hängt wesentlich vom Kontext und von der Perspektive ab, die wir auf Erkenntnisphänome einnehmen. Doch aus dieser unauflösbaren Situation sollten wir nicht die Konsequenzen ziehen, das Projekt der Begriffsanalyse oder gar den Wissensbegriff selbst aus der Erkenntnistheorie zu verbannen. Der Blick auf die von Ansgar Beckermann angestoßene Debatte um die Frage nach einer vermeintlichen Inkonsistenz und Irrelevanz des Wissensbegriffs zeigte, dass wir die Anforderungen an eine Analyse nicht zu hoch ansetzen sollten. Der Wissensbegriff ist tief in der Alltagssprache verankert und lässt sich nicht in der gleichen Weise erfassen wie Fachbegriffe aus anderen Wissenschaften. Welche Bedeutung haben diese Überlegungen für eine Analyse praktischen Wissens? Meiner Ansicht nach sollte die Suche nach allgemeinen, kontextfreien Bedingungen für beide Formen des Wissens, propositionale und praktische, aufgegeben werden. Ich werde im nächsten Kapitel daher vorschlagen, propositionales und praktisches Wissen durch spezifische Normen zu charakterisieren. Diese Normen können die unterschiedlichen Ausprägungen des Rechtfertigungsbegriffes einfangen. Vor diesem Hintergrund lassen sich verschiedene Begriffe für praktische und propositionale Wissensformen auffinden, die jeweils ihre Berechtigung haben. Doch auf keine dieser Normen kann ein allgemeiner Wissensbegriff gründen, der für alle Erkenntnissituationen geltend gemacht werden kann. Zudem bin ich davon überzeugt, dass ein Blick auf die empirischen Wissenschaften, insbesondere auf die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaften, für das Verständnis unseres Wissens gewinnbringend ist. Die traditionellen Projekte der Erkenntnistheorie sollten zwar weiter verfolgt werden, doch auf der Grundlage einiger naturwissenschaftlicher Konzepte und Befunde können wir ein differenzierteres Bild von Erkenntnisphänomenen gewinnen. Im nächsten Kapitel möchte ich aufzeigen, dass insbesondere der Begriff der praktischen Fähigkeit durch die Bezugnahme auf kognitionswissenschaftliche Zugänge erhellt werden kann und dass zudem wesentliche Zusammenhänge zwischen propositionalen und praktischen Wissensformen aus einer interdisziplinären Perspektive verständlicher werden.
3 Wissensformen und Wissensformate – Ein neuer Blick auf praktische Wissensformen One of the benefits of extending the focus of epistemology beyond propositions is that ultimately we may be able to understand the kind of knowledge that underlies perceptual capabilities as well as the phenomenon of knowing how. (William Bechtel und Adele A. Abrahamsen) 1
3.1 Einleitung Das Ziel dieses Kapitels ist es, Grundlinien eines neuen theoretischen Zugangs zu praktischen Wissensformen aufzuzeigen, der einigen grundlegenden Problemen, die in den ersten beiden Kapiteln herausgestellt wurden, Rechnung trägt. Hierbei liegt die Annahme zugrunde, dass die Problemfelder, welche die in den ersten beiden Kapiteln beleuchteten Debatten durchziehen, miteinander verwandt sind: Die Fragen, wie praktische Wissensformen angemessen beschrieben und mit propositionalem bzw. Wissen kontrastiert werden können, sind zweifelsohne eng mit der Frage nach den Methoden zur Definition von Wissen in der Erkenntnistheorie und nach epistemischen Zielen und Werten verwoben. Die Beleuchtung der aktuellen Debatte um praktische Wissensformen zeigte, dass die Sackgassen, in die sich die Kontroversen um Explikation, Reduktion und Methodologie begeben haben, eine grundlegende Neuorientierung des erkenntnistheoretischen Blicks auf praktisches Wissen erfordern. Linguistische Analysen oder repräsentationalistische Theorien, die sich der Hypothese einer Sprache des Geistes verschreiben, stützen sich nicht nur auf fragwürdige Hintergrundannahmen, sondern liefern darüber hinaus keine fruchtbaren Erklärungsmodelle für praktische Wissensformen. Ein neuartiger methodologischer Rahmen scheint deswegen unabdingbar. Bei der Diskussion der Problemfelder, die sich um den Wissensbegriff in der Erkenntnistheorie spannen, stellte sich heraus, dass die Suche nach einer kontextfreien, allgemeinen Analyse propositionalen Wissens deswegen systematisch zu scheitern droht, weil Kontext und Zweck des Wissensbegriffs eine erhebliche Rolle für seine Bedeutung spielen.
1 Bechtel & Abrahamsen 1990, S. 229.
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Wissensformen und Wissensformate
Die paradigmatischen Beispiele, die den verschiedenartigen Explikationsvorschlägen zugrunde gelegt werden, scheinen zu unterschiedlich, so dass Explikationsdebatten vorprogrammiert sind. Ich werde einen theoretischen Rahmen ausarbeiten, der diesen beiden Problemen Rechnung tragen soll. Meine Überlegungen und Argumente werde ich in sechs Schritten entwickeln: Im ersten werde ich den methodologischen Zugang darlegen, der der Analyse und Klassifizierung praktischer Wissensformen zugrunde liegt. Im zweiten Schritt werde ich eine neue Vorstellung der Dichotomie zwischen praktischem und propositionalem Wissen ins Zentrum stellen. Ich werde zunächst dafür argumentieren, dass es sich um eine „echte“ Dichtomie handelt, da praktische Wissensformen nicht auf propositionale reduzierbar sind. Darüber hinaus werde ich propositionales und praktisches Wissen durch verschiedenartige Normen charakterisieren, die als Ausgangspunkt für ein differenzierteres Verständnis beider Wissensformen dienen. Im dritten Schritt stehen dann „Wissensformate“ im Mittelpunkt: Diese Formate drücken aus, in welcher Weise Informationen repräsentiert werden, die praktischem und propositionalem Wissen zugrunde liegen. Ich werde drei solcher Formate unterscheiden: (1) propositionale, (2) nicht-begriffliche, sensomotorische und (3) bildhafte. Ihre Charakterisierung erfolgt durch die Bezugnahme auf einige Befunde aus den empirischen Neuro- und Kognitionswissenschaften, die eine Unterscheidung von Repräsentationstypen nahe legen. Darüber hinaus soll die Bedeutung und Reichweite, die diesen Formaten jeweils für das Erlernen und die Anwendung von Wissen zukommt, herausgestellt werden. Im vierten Schritt werde ich mit Hubert Dreyfus’ anti-repräsentationalistischem Zugang, der sich wesentlich auf ein fünfstufiges Modell der Phänomenologie des Fähigkeitserwerbs stützt, ein Konkurrenzprojekt zu der in dieser Arbeit vorgestellten Analyse diskutieren. Ich werde dafür argumentieren, dass den grundlegenden Einwänden, die Dreyfus gegen repräsentationalistische Modelle vorbringt, durch eine Differenzierung von verschiedenen Repräsentationstypen Rechnung getragen werden kann. Darüber hinaus weist die hier entwickelte Theorie einige Vorteile gegenüber anti-repräsentationalistischen Zugängen auf, die sich beispielsweise darin zeigen, dass non-kognitive Prozesse in geeigneter Weise von genuin intelligenten Handlungen und Verhaltensweisen abgegrenzt werden können. Im fünften Schritt werde ich einen kurzen Blick auf einige Debatten werfen, die sich um die Frage drehen, welche Organismen als Wissenssubjekte aufgefasst werden können. Im sechsten und letzten Schritt werde ich einige Begriffspaare aus anderen Fachgebieten, durch die jeweils bestimmte Wissensformen einander gegenübergestellt werden, im Licht des zuvor entwickelten Ansatzes diskutieren.
Methode
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3.2 Methode Die methodische Vorgehensweise, die dieser Arbeit zugrunde liegt, ist zweiteilig. Erstens werde ich die Zusammenhänge zwischen propositionalem und praktischem Wissen in den Blickpunkt rücken. Ich werde einen Vorschlag zur Unterscheidung der beiden Wissensformen darlegen, der zum einen auf die im zweiten Kapitel diskutierten Überlegungen zum Projekt der Begriffsanalyse des Wissens und zum anderen auf handlungstheoretische Zugänge Bezug nimmt. Von einer Analyse praktischen Wissens durch hinreichende und notwendige Bedingungen werde ich absehen und dafür argumentieren, dass wir propositionale und praktische Wissensformen durch idealtypische Normen bestimmen können, auf die sie jeweils bezogen sind. Diese Normen dienen als Ausgangspunkt für spezifischere Charakterisierungen beider Wissensformen. Zweitens werde ich „Wissensformate“ ins Zentrum stellen, die beschreiben, in welcher Art wir grundlegende Informationen repräsentieren, die für das Verfügen über propositionales und praktisches Wissen notwendig sind. An dieser Stelle zeigt sich die naturalistische Ausrichtung meines Ansatzes: Ich bin der Auffassung, dass solche Wissensformate durch die Bezugnahme auf Konzepte und Befunde aus den empirischen Wissenschaften charakterisiert werden können. Ich werde drei verschiedene Wissensformate einander gegenübergestellen: (1) propositionale, (2) sensomotorische, und (3) bildhafte. Diese Dreiteilung erfolgt über die Charakterisierung von Repräsentationsarten (begrifflich/propositional vs. nicht-begrifflich/sensomotorisch) und Zugangsformen (bewusst vs. unbewusst). Für das Verfügen über Wissen ist es notwendig, dass wir Informationen in irgendeiner Weise repräsentieren, und die vorgenommene Unterscheidung von Wissensformaten kann die Vielfalt der möglichen Repräsentationen erhellen. Das heißt jedoch nicht, dass wir auf der Grundlage empirischer Wissenschaften ein hinreichendes Verständnis unseres epistemischen Begriffs des praktischen Wissens gewinnen können. Vielmehr dient die Unterscheidung von Wissensformaten dazu, wichtige Zusammenhänge zwischen propositionalen und praktischen Wissensformen sichtbar zu machen. Zudem können wir auf der Grundlage einiger naturwissenschaftlicher Befunde ein differenzierteres Verständnis des Begriffs der praktischen Fähigkeit gewinnen, auf den sich praktisches Wissen wesentlich bezieht. Der Zweiteilung des methodischen Ansatzes liegt somit die Überzeugung zugrunde, dass die Bestimmung unseres Wissensbegriffs und die Analyse der Dichotomie von praktischem und propositionalem Wissen genuine Aufgaben der philosophischen Erkenntnistheorie sind. Auf empirischen Methoden oder Befunden kann eine Bestimmung der beiden Wissensformen nicht gründen. Eine vollständige Naturalisierung der Erkenntnistheorie wird daher abgelehnt. Andererseits spiegelt die Wahl der methodischen Vorgehensweise auch die
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Wissensformen und Wissensformate
Überzeugung wider, dass philosophische Ansätze über Wissensformate – über die Art und Weise, wie Wissensbestände repräsentiert werden – sich oftmals als höchst spekulativ erweisen, wenn sie empirische Forschungen zur Gedächtnisund Informationsverarbeitung ignorieren. Es soll somit aufgezeigt werden, dass eine Analyse von Wissensformen, die sich zum einen an der philosophischen Begriffsanalyse und zum anderen an Vorstellungen von bestimmten Repräsentationsarten, die in den Neuro- und Kognitionswissenschaften entwickelt werden, orientiert, einen neuen Blick auf die Streitfrage um den Status theoretischen und praktischen Wissens werfen kann. Zur Methode der Bestimmung der Wissensformate sind zunächst noch einige Bemerkungen anzubringen: Mithilfe einer dreiteiligen Klassifizierung von Wissensformaten und ihnen zugrunde liegenden Repräsentationsformen, so wurde bereits angedeutet, soll ein methodisches Werzeug bereit gestellt werden, das zum einen eine differenzierte Einordnung und Erklärung von Wissensformen ermöglicht und zum anderen ein Kriterium zur Abgrenzung genuiner Wissensformen von Verhaltensweisen bereitstellt, die kein Wissen darstellen. Das Projekt soll an dieser Stelle nicht missverstanden werden: Eine detaillierte empirische Charakterisierung der Repräsentationsformen kann und soll hier nicht erfolgen; dies wird als Aufgabe der empirischen Wissenschaften betrachtet. Das Argument, auf das sich der Ansatz wesentlich stützt, besagt vielmehr, dass symbolische, sensomotorische und bildhafte bzw. imaginative Wissensformate aus Alltagssituationen vertraut sind. Eine Unterscheidung dieser Wissensformate ist von philosophischem Interesse, da ein neuer, differenzierterer Blick auf die Dichotomie zwischen praktischem und propositionalem Wissen erfolgen kann. Darüber hinaus soll aufgezeigt werden, dass die Annahme einer solchen Dreiteilung auch aus empirischer Sicht auf der Hand liegt. Neben einem in der Sprache des Geistes verhafteten Repräsentationalismus, der durch eine zu enge Ausrichtung von Wissensphänomenen einen angemessenen Blick auf praktische Wissensformen verstellt, und einem Anti-Repräsentationalismus, der kein geeignetes Kriterium zur Abgrenzung von genuinen Fällen von Wissen und bloßen mechanischen Reaktionen oder Reflexen bereitstellt, ist – so lautet die These – ein weiterer und erfolgsversprechender Weg möglich. Der Begriff der Repräsentation, auf den bei der Herausstellung der drei Wissensformate wesentlich Bezug genommen wird, erfährt in unterschiedlichen Wissenschaftszweigen rege Aufmerksamkeit und Anwendung; man könnte fast von einer Hochkonjunktur repräsentationalistischer Theorien sprechen.2 Aller-
2 Meine Darstellung der Grundzüge repräsentationalistischer Theorien orientiert sich an Bartels 2005, Bartels & Vogeley 2006 sowie Vosgerau 2009.
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dings ist die Verwendungsweise des Repräsentationsbegriffs oftmals nicht einmal innerhalb einzelner Fachgebiete einheitlich. Intuitiv haben wir eine bestimmte Vorstellung davon, was unter einer Repräsentation zu verstehen ist: Christian Wulff repräsentiert die Bundesrepublik Deutschland, Philipp Lahm die deutsche Fußballnationalmannschaft; ein Architekturmodell kann das neue Berliner Schloss repräsentieren, die Freiheitsstatue New York City. Repräsentationen scheinen somit auf Personen, Gegenstände oder Begriffe zu verweisen, die kraft bestimmter Konventionen Platzhalter für die originären Gegenstände sind. Allerdings ist diese intuitive Bestimmung des Repräsentationsbegriffs zu eng gefasst, um widerzuspiegeln, worum es in den verschiedenen Wissenschaftszweigen geht, wenn auf diesen Begriff Bezug genommen wird. Der Repräsentationsbegriff, der in aktuellen Debatten hauptsächlich verwendet wird, ist in erster Linie ein terminus technicus der modernen Kognitionswissenschaften, die sich im Wesentlichen als Antwort auf den so genannten „methodologischen Behaviorismus“ entwickelten. Behavioristische Theorien sind zumeist durch eine Abkehr vom cartesischen Dualismus und eine völlige Neuausrichtung der Vorstellung von menschlicher Intelligenz gekennzeichnet. Durch den 1913 erschienenen Aufsatz „Psychology as the Behaviorist Views it“ von John B. Watson wurden die Grundzüge dieser Strömung erstmals umfassend aufgezeigt. Von der Überwindung der strikten Trennung von geistiger und körperlicher Sphäre und der Ablehnung der Vorstellung eines autoritativen, introspektiven Zugangs zu unseren mentalen Zuständen und Handlungsmotivationen erhofften sich Behavioristen eine neuartige und vielversprechende Grundlage für Verhaltenserklärungen. Hierbei wurden Mensch und Tier jeweils als eine Art „blackbox“ betrachtet, die Ausgangs- und Endpunkt von Input- (Sinnesreizungen) und Output-Mechanismen (Verhaltensmuster) darstellt. Die Gesetze, die ebenjene Mechanismen leiten, sollten ohne die Bezugnahme auf innere Prozesse unter dem behavioristischen Paradigma aufgedeckt werden. An der Debatte um praktische Wissensformen zeigt sich der soeben beschriebene Paradigmenwechsel: Ryle gründet sein Argument für die Unterscheidung von knowing how und knowing that im Wesentlichen auf eine Zurückweisung der – seiner Ansicht nach im cartesischen Dualismus verhafteten – intellektualistischen Legende und fordert einen neuen Zugang zur Erklärung von knowing how, der beobachtbares Verhalten in den Vordergrund stellt.3
3 An dieser Stelle ist anzumerken, dass Ryle nicht nur öffentlich beobachtbare Verhaltensweisen, sondern auch „innere“ wie etwa das Kopfrechnen berücksichtigt. Ryle betont jedoch ausdrücklich, dass kein wesentlicher Unterschied zwischen denjenigen Tätigkeiten besteht, die wir beobachten können, und denjenigen, die sich „in unserem Kopf“ abspielen. Vgl. hierzu Ryle 1949, S. 45ff.
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Wissensformen und Wissensformate
Aus der Unzufriedenheit mit den oftmals zu kurz gegriffenen Erklärungsmodellen behavioristischer Theorien nährte sich der Boden für die so genannte „kognitive Wende“ („cognitive turn“), die sich auf eine Bezugnahme auf interne Zustände und Prozesse zurückbesinnt, sich aber zumeist in einem neuartigen, naturalistischen Rahmen ansiedelt. Anders als im behavioristischen Paradigma wird menschliches und tierisches Handeln und Verhalten nicht mehr als direkte Reaktion auf Sinnesreize aus der Umwelt aufgefasst, sondern als Ergebnis von zwischengeschalteten inneren Prozessen der Informationsverarbeitung. Während die behavioristische Analyse das Augenmerk in erster Linie auf beobachtbares Verhalten von Organismen und dessen Relation zu Sinnesreizen aus Umweltbegebenheiten legt, nimmt das Verständnis der im Gehirn ablaufenden Prozesse in kognitivistischen Ansätzen eine zentrale Rolle ein. In seinem 1967 erschienenen Buch „Cognitive Psychology“ hat Ulric Neisser die fruchtbare Anwendung dieser neuen Theorie auf psychologische Frage- und Problemstellungen erstmals ausführlich dargestellt. Durch einen Rückbezug auf interne Repräsentationen, die für die Verarbeitung von Sinneseindrücken ebenso von Bedeutung sind wie für die Ausrichtung von Handlungen und Verhaltensweisen, erhoffen sich Kognitivisten, differenzierte und überzeugendere Erklärungsmodelle als behavioristische Zugänge zu schaffen. Hierbei wird von mentalen Repräsentationen angenommen, dass sie einer empirischen Forschung zugänglich sind und durch diese treffend charakterisiert und klassifiziert werden können. Repräsentationen werden somit als Schnittstelle zwischen Philosophie des Geistes und moderner Kognitionsforschung aufgefasst: Die philosophische Frage nach dem repräsentationalen Gehalt mentaler Zustände wird in Verbindung zu der Frage gestellt, wie Repräsentationen es biologischen und kognitiven System ermöglichen, wichtige und nützliche Informationen aus der Umwelt zu gewinnen.4 Der Repräsentationsbegriff wird folglich im kognitivistischen Rahmen weiter aufgefasst, als unsere intuitive Bedeutung es nahe legt. Hierbei ist seine konkrete Auslegung keineswegs homogen. Allgemein gesprochen ist die Repräsentationsbeziehung eine Relation zwischen einem Repräsentationsvehikel und einem repräsentierten Gegenstand. Repräsentationstheorien können zum einen bezüglich der zentralen Frage divergieren, wodurch ein Gegenstand überhaupt zu einer Repräsentation eines anderen Gegenstands wird, welches also die definitorischen Eigenschaften der Repräsentationsbeziehung sein sollen. Zum anderen gehen die Meinungen darüber auseinander, was unter einem Repräsentationsvehikel verstanden werden sollte und welche Gegenstände mög-
4 Vgl. Bartels 2005, S. 111ff.
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liche Repräsentanda sind. Einige Anforderungen muss jede Theorie der Repräsentation trotz dieser unterschiedlichen Auslegungen erfüllen: Zum einen muss sich der Repräsentationsbegriff als explanatorisch nützlich erweisen; zum anderen muss die Möglichkeit zur Unterscheidung von richtigen und falschen Repräsentationen, so genannten „Fehlrepräsentationen“, gegeben sein.5 Die soeben angeführten Fragen und Probleme, vor die Repräsentationstheorien gestellt sind, werden unterschiedlich ausgelegt, wobei, grob gefasst, drei verschiedene Auffassungen einander gegenübergestellt werden können: (1) kausale Theorien, (2) funktionale Theorien und (3) Ähnlichkeitstheorien.6 Für diese Theorien ergeben sich charakteristische Vorteile und Probleme bezüglich der angeführten Herausforderungen. Diese Arbeit muss sich für die folgenden Überlegungen auf keine bestimmte Auslegung festlegen. Die drei unterschiedlichen Wissensformate können in verschiedenen theoretischen Rahmenbedingungen explanatorisch fruchtbar sein. Eine Abgrenzung ist allerdings wesentlich: Der in der Philosophie des Geistes verwendete Repräsentationsbegriff ist zumeist an ein linguistisches Paradigma gebunden. Hierbei liegt die Vorstellung zugrunde, dass Sprache als Medium des Denkens und anderer mentaler Prozesse die primäre Rolle für die Repräsentation zukommt. Ebenjenes Paradigma soll zurückgewiesen werden, indem auch nicht-begriffliche Repräsentationen und motorische sowie visuelle Bilder als mögliche Repräsentationsformate mit einbezogen werden. Ein Festhalten an der Hypothese einer Sprache des Geistes, so hat es sich bereits bei der Diskussion der Fodor’schen Theorie gezeigt, verstellt uns den Blick auf eine differenzierte und überzeugende Beschreibung der Vielfalt kognitiver Phänomene.
3.3 Praktisches Wissen vs. propositionales Wissen – Eine Dichotomie neu betrachtet Im ersten Kapitel haben wir gesehen, dass weder intellektualistische noch antiintellektualistische Reduktionsargumente überzeugen können und dass dieser Umstand die Vermutung nahe legt, dass praktisches und propositionales Wissen jeweils irreduzible Wissensformen darstellen. Wie können wir praktisches Wissen nun genauer charakterisieren? Und wie lässt sich begründen, dass eine „echte“ Dichotomie zwischen propositionalen und praktischen Wissensformen vorliegt?
5 Vgl. Dretske 1986, S. 17ff. 6 Vgl. Vosgerau 2009, S. 25ff.
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Zunächst sollten wir uns ins Gedächtnis rufen, welche Merkmale propositionalem Wissen zukommen: Ein solches Wissen wird als epistemische Relation aufgefasst, die eine bestimmte propositionale Einstellung eines Subjekts (eine Überzeugung) mit einer wahren Proposition in Verbindung setzt. Weiter wird angenommen, dass propositionales Wissen ein Wissen über etwas ist – über eine Tatsache oder über bestimmte Ereignisse in der Welt – und dass der Gehalt dieses Wissens im Deutschen in der Regel durch einen „dass“-Satz ausgedrückt werden kann. Praktisches Wissen ist das Wissen, das uns dazu befähigt, intelligente Handlungen auszuführen. Warum ist ein solches Wissen nicht propositionaler Struktur? Warum kann man es nicht einfach, im Sinne Stanleys und Williamsons, als ein propositionales Wissen über erfolgreiche Handlungsweisen auffassen? Der Grund dafür liegt in meinen Augen darin, dass praktische Wissensformen auf völlig andere Gehalte bezogen sind als propositionale, und dass dieser Umstand uns dazu berechtigt, von zwei unterschiedlichen epistemischen Relationen zu sprechen. Der wesentliche Unterschied beider Wissensformen lässt sich verdeutlichen, wenn man zunächst ihre Objekte in den Blick nimmt. Hier stellt sich die Frage, wie sich die Objekte beider Wissensformen zueinander verhalten: Sind die Tatbestände, auf die sich propositionales Wissen bezieht, mit den Handlungsweisen, die die Objekte praktischer Wissensformen darstellen, überhaupt vergleichbar? Meiner Ansicht nach können grundlegende Differenzen zwischen beiden Objekten aufgezeigt werden. Mit einem Blick auf Richard Schmitts 1965 erschienenen Aufsatz „Two Senses of ‚Knowing‘“ kann diese Vorstellung erhellt werden. Schmitt schreibt hier folgendes: The characterization of theoretical knowing […] implies that the object of theoretical knowledge and its properties exist independently of anyone’s knowing of them. By „object of knowledge“ I mean here that entity to which we refer as existent and as possessing certain properties when we say that a statement about it is true. The object of my knowledge is whatever that knowledge is about. Now the relation between my knowing something and that which my knowing is about is very different in non-theoretical knowledge from what it is in theoretical knowledge. The object of non-theoretical knowing is not independent of what is known. On the contrary, objects of non-theoretical knowing depend, at least for some of their properties, on being known non-theoretically.7
Der zentrale Punkt, auf den Schmitt verweist, ist, dass den Objekten unseres praktischen Wissens keine vollständige Unabhängigkeit gegenüber der Wissensrelation zukommt. Wie lässt sich dies genauer erläutern? Bei der Diskussion der
7 Schmitt 1965, S. 663.
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Bedingung der Wahrheit im zweiten Kapitel habe ich darauf hingewiesen, dass ich im Rahmen dieser Arbeit einen alethischen Realismus oder, anders gesprochen, einen nicht-epistemischen Wahrheitsbegriff voraussetze: Wenn wir behaupten, dass eine bestimmte Überzeugung wahr ist, gehen wir demzufolge davon aus, dass sich diese Überzeugung in einer geeigneten Weise auf eine objektive Wirklichkeit bezieht, die unabhängig von unserem Erkenntnisvermögen existiert. Für praktisches Wissen kann aber ebendieses Merkmal nicht konstatiert werden. Dies lässt sich an einem Beispiel genauer aufzeigen: Wenn ich mich jetzt an das Klavier setze und Chopins Walzer in cis-moll (Opus 64, Nr. 2) spiele, dann spricht man mir ein bestimmtes praktisches Wissen zu. Man könnte durchaus sagen, dass ich über ein Wissen der geeigneten Handlungsweisen verfüge, die für das Spielen des Walzers notwendig sind. Dennoch sind diese Handlungsweisen nicht von meinem praktischen Wissen unabhängig: Die Bewegungen, die ich ausführe, sind wesentlich an Bedingungen meiner eigenen Perspektive geknüpft. Die Tätigkeiten, die meinem (halbwegs) erfolgreichen Klavierspielen zugrunde liegen, werden durch meine körperlichen Bedingungen, durch meine musikalische „Vorgeschichte“ sowie durch rationale wie emotionale Einstellungen zu Chopins Walzer mitbestimmt. Aus diesem Grund weist das Objekt meines praktischen Wissens keine vollständige Unabhängigkeit von dem Umstand auf, dass ich über dieses Wissen verfüge. Man könnte den folgenden Einwand gegen diese Auffassung vorbringen: Auch wenn mein Klavierspielen durch persönliche Momente geprägt sein mag, könnten dennoch die grundlegenden Handlungsweisen, auf welchen meine Fähigkeit beruht, objektivierbar sein. So ließe sich darauf verweisen, dass auch meine Schwester Johanna den Chopin-Walzer spielen kann und dass wir daher beide über dasselbe praktische Wissen verfügen: über das Wissen der objektiven Handlungsweisen, die für das Spielen relevant sind. Die individuellen Momente des Klavierspielens sind, so könnte der Einwand fortschreiten, im Hinblick auf unser praktisches Wissen vernachlässigbar. Die Tatsache, dass Johanna und ich beide den Walzer spielen können, verweise schlicht darauf, dass das entsprechende praktische Wissen auf ein Objekt bezogen ist, das von unserer persönlichen Perspektive unabhängig, und somit durchaus mit Tatbeständen in der Welt vergleichbar ist. Doch dieser Einwand ist in meinen Augen nicht schlagkräftig. Eine Zurückweisung der vorgebrachten Argumente kann durch den Verweis auf die im ersten Kapitel postulierte Wissen-Handlungs-Lücke erfolgen: Die Regeln oder Kriterien, die dem Spielen des Chopin-Walzers zugrunde liegen, lassen sich weder von mir selbst noch von Johanna so formulieren, dass sie unser praktisches Wissen vollständig erfassen. Zwar kann man durchaus eingestehen, dass einige solcher Regeln durch Sprache oder Symbole erfassbar sind – nicht zuletzt gibt das Notenblatt objektive Anweisungen vor. Doch allein auf der Grund-
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lage sprachlicher oder symbolischer Aussagen kann eine angemessene Erklärung des praktischen Wissens nicht erfolgen. Es bleibt noch ein Ausweg für all diejenigen, die praktisches Wissen auf propositionales reduzieren: Sie könnten behaupten, dass die pragmatische oder prinzipielle Unmöglichkeit einer Formalisierung der Regeln, die Johannas und meinem Klavierspielen zugrunde liegen, nichts an der Tatsache ändert, dass aus ontologischer Sicht objektive Handlungsweisen vorliegen. Im Rahmen einer solchen Argumentation könnte man auf Stanleys und Williamsons practical mode of presentation verweisen und postulieren, dass die Propositionen, auf die sich unser praktisches Wissen im Bezug auf den Chopin-Walzer bezieht, in einem solchen Modus vorliegen. Ich habe schon im ersten Kapitel einige Probleme aufgezeigt, mit der diese ontologische Annahme konfrontiert ist. Ein Hauptkritikpunkt ist derjenige, dass vor dem Hintergrund einer solchen Auffassung kein überzeugender Erklärungswert für praktisches Wissen in Sichtweite ist. Dieser Umstand spricht meiner Ansicht nach dafür, praktischen Wissensformen keinen objektivierbaren Gehalt zuzuschreiben: Nur durch die Berücksichtigung der individuellen Momente, die unsere Handlungsweisen mitbestimmen, kann die erfolgreiche Ausführung unserer Tätigkeiten verständlich werden. Zumindest einige Merkmale der Objekte praktischen Wissens entziehen sich somit einer Objektivierung. Dies führt mich zu der These, dass praktisches Wissen, um es mit Polanyis Worten auszudrücken, ein „persönliches Wissen“ ist, das durch eine propositionale Struktur nicht erfasst werden kann. Die bisherigen Betrachtungen legen nicht nur die Irreduzibilität praktischen Wissens offen, sondern noch einen weiteren wesentlichen Unterschied zwischen praktischen und propositionalen Wissensformen. Beide sind auf unterschiedliche Ziele hin ausgerichtet: Propositionales Wissen auf die Wahrheit, praktisches Wissen auf Handlungserfolge. Ich möchte im Folgenden eine Charakterisierung beider Wissensformen durch die Bezugnahme auf bestimmte idealtypische Normen vorschlagen. Welche Motivation liegt einer solchen Vorgehensweise zugrunde? Im zweiten Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass die Möglichkeit einer streng formalen Analyse des propositionalen Wissens durch allgemeine und notwendige Bedingungen aus guten Gründen angezweifelt werden kann. Wir haben gesehen, dass die Autoren innerhalb der PostGettier-Debatte ihre Wissensanalysen jeweils auf sehr unterschiedliche, paradigmatische Fälle propositionalen Wissens stützen, die nicht auf einen „gemeinsamen Nenner“ zu bringen sind. Die Lehre, die meiner Ansicht nach aus diesem Umstand gezogen werden sollte, ist die, dass die Suche nach allgemeinen hinreichenden und notwendigen Bedingungen für Wissen aufgegeben werden sollte. Eine alternative Möglichkeit, praktisches und propositionales Wissen zu analysieren, besteht in der Bezugnahme auf bestimmte idealtypische Normen, die jeweils widerspiegeln, welche Anforderungen wir stellen,
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wenn wir einem Subjekt Wissen zuschreiben. Eine zunächst sehr grobe Unterscheidung beider Wissensformen erfolgt durch die Gegenüberstellung einer „Norm der Wahrheit“ und einer „Norm des Handlungserfolgs“. In diesen Normen gründet sich der Minimalbegriff propositionalen und praktischen Wissens: Wenn wir einer Person propositionales Wissen zuschreiben, dann erwarten wir, dass sie über eine entsprechende wahre Überzeugung verfügt. Praktisches Wissen drückt sich hingegen dadurch aus, dass eine Person eine intentionale Handlung erfolgreich ausführt. Die Normen der Wahrheit und des Handlungserfolgs sollen jedoch nicht als endgültige Festlegung für unsere Begriffe des propositionalen und des praktischen Wissens verstanden werden. Vielmehr dienen sie als Ausgangs- und Orientierungspunkt, von dem aus differenziertere Begriffsbestimmungen vorgenommen werden können. Diese Vorstellung möchte ich zunächst am Beispiel des propositionalen Wissens verständlich machen: Einige paradigmatische Fälle eines solchen Wissen können über die Norm der Wahrheit hinreichend klassifiziert werden. Anders gesprochen: In einigen Situationen ist es für die Zuschreibung von Wissen ausreichend, dass eine Person eine entsprechende wahre Meinung hat. In den meisten Fällen verlangen wir jedoch als zusätzliche Bedingung für das Vorliegen propositionalen Wissens, dass die Person ihre Meinung begründen kann oder dass irgendeine Art der Fundierung vorliegt. In diesen Fällen wird propositionales Wissen durch weitere spezifische Normen charakterisiert – beispielsweise durch eine internalistische Norm, die verlangt, dass das Wissenssubjekt Gründe für seine Überzeugung angeben kann. Allerdings deuten die Ergebnisse des zweiten Kapitels darauf hin, dass solche weiterführenden Normen keinen allgemeinen, kontextfreien Begriff des Wissens begründen können, sondern vielmehr von der Perspektive abhängen, die wir jeweils im Bezug auf Wissen einnehmen. Wir müssen also davon ausgehen, dass auf der Grundlage der Norm der Wahrheit durch weiterführende Spezifizierungen mehrere unterschiedliche Wissensbegriffe entwickelt werden können, die jeweils ihre Berechtigung haben, da sie sich auf verschiedenartige paradigmatische Wissenssituationen stützen. Wie können wir nun praktisches Wissen genauer charakterisieren? Zunächst sollten wir uns auf die im ersten Kapitel vorgestellten anti-intellektualistischen Explikationen zurückbesinnen. Die Definitionsvorschläge für praktisches Wissen, die in der Philosophie, der Psychologie oder verwandten Wissenschaften eingeführt werden, legen eine Systematisierung nahe: Alle Autoren verknüpfen praktisches Wissen in irgendeiner Weise mit intentionalen Handlungen, also mit einem zielgerichteten, absichtlichen Verhalten. Die Frage, welche konkreten Fähigkeiten mit praktischen Wissensformen korrespondieren, wird hingegen kontrovers diskutiert. Aus diesem Grund ist es hilfreich, zunächst einmal ver-
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schiedenartige Tätigkeitsformen einander gegenüberzustellen. Drei Kerngruppen bieten sich für eine solche Unterscheidung an: (1) Reflexe bzw. mechanische Reaktionen, die keiner Willenskontrolle unterliegen. (2) Intentionale Handlungen, (a) die durch ein zu erreichendes Ziel charakterisiert sind. (b) die durch einen formalen Aspekt des Bewegungsablaufs charakterisiert, d.h. regelgeleitet oder regelkonform sind. Zu den unter (2) angeführten Handlungen zählen sowohl rein motorische Tätigkeiten wie Radfahren oder Schwimmen als auch intellektuelle wie Kopfrechnen oder Gedichtereimen. Die meisten Fertigkeiten enthalten sowohl sensomotorische als auch intellektuelle Momente.8 Ich plädiere für einen weit angelegten Begriff des praktischen Wissens, der auf alle Tätigkeiten bezogen wird, die unter (2a) und (2b) fallen. Meiner Ansicht nach liegen keine zwingenden Gründe für die Annahme vor, dass nur regelgeleitete Tätigkeiten mit einem praktischen Wissen korrespondieren. Ich habe bereits erwähnt, dass ich praktisches Wissen als ein Wissen verstehen möchte, dass uns in die Lage versetzt, intentionale Handlungen erfolgreich auszuführen. Sowohl diejenigen Handlungen, die durch ein Ziel charakterisiert sind, als auch regelgeleitete Tätigkeiten können auf eine Norm des Handlungserfolgs bezogen werden. Nur sind die Erfolgskriterien jeweils unterschiedlich: Im ersten Fall geht es um das Erreichen eines Ziels, im zweiten Fall darum, dass Bewegungsabläufe nach bestimmten Regeln verlaufen. Um praktisches Wissen genauer zu charakterisieren, lohnt es sich, einen Blick auf handlungstheoretische Ansätze zu werfen. Wie unterschieden sich intentionale Handlungen von nicht absichtlich ausgeführten Tätigkeiten? In ihrer 1957 erschienenen Monographie „Intention“ gibt Elisabeth Anscombe eine Antwort, die mittlerweile den Status einer klassischen Definition hält. Anscombe schreibt folgendes: What distinguishes actions which are intentional from those which are not? The answer that I shall suggest is that they are the actions to which a certain sense of the question „Why?“ is applicable; the sense is of course that in which the answer, if possible, gives a reason for action.9
8 Vgl. hierzu Abschnitt 1.4.3, wo bei der Diskussion des intellektualistischen Reduktionsarguments von Paul Snowdon eine Klassifikation verschiedener Fähigkeiten skizziert wird. 9 Anscombe 1963[1957], S. 9.
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Intentionale Handlungen sind also solche Handlungen, für die Gründe angegeben werden können. Im Bezug auf Reflexe oder mechanische Tätigkeiten kann eine „Warum?“-Frage nicht gestellt werden. Es wäre völlig absurd, wenn man mich fragen würde, warum ich mit den Augen blinzele, wenn ich in ein grelles Licht starre. Es handelt sich hierbei schlicht um einen Reflex, für den ich keinerlei Gründe vorbringen kann. Eine klassische Vorstellung darüber, wie Handlungsgründe repräsentiert werden, ist diejenige, dass es sich um bewusste, begrifflich fassbare Gründe und Absichten handelt, die das Wissenssubjekt benennen kann. Im dem in dieser Arbeit vorgestellten Rahmen erweist sich diese Vorstellung als zu restriktiv, weshalb wir von einer „Zielrepräsentation“ sprechen sollten. Solche Repräsentationen werde ich später genauer charakterisieren. Handlungen, die auf einem praktischen Wissen beruhen, unterscheiden sich wesentlich von bloßen mechanischen Tätigkeiten und basalen Reiz-Reaktions-Mustern, weil sie Fälle intentionalen Verhaltens darstellen und durch Lernund Modifikationsprozesse beeinflusst werden können. Diese Unterschiede werde ich im Abschnitt über Wissensformate noch einmal durch den Verweis auf das Vorliegen bestimmter Repräsentationen – Zielrepräsentationen und sensomotorischer Repräsentationen, die durch Erfahrung und praktisches Training ausgebildet werden – untermauern. Dass bestimmte Bewegungsabläufe als intentionales Handeln eingestuft werden und der Kontrolle des Subjekts unterliegen können, impliziert nicht, dass sie vollständig bewusst erlebt und ausgeführt werden. Es ist gerade ein Schlüsselmerkmal eingespielter Bewegungsabläufe, dass sie überwiegend unbewusst ablaufen und nicht mehr durch eine Überlegung oder Entscheidung angestoßen werden müssen. Somit haben sie durchaus Ähnlichkeit mit mechanischen Reaktionen. Allerdings können sie deswegen von letzteren abgegrenzt werden, weil sie meist durch Übung erworben werden und zudem in „übergeordnete intentionale Projekte“ eingebunden sind.10 Wenn ich beispielsweise Kaffeekochen will, dann sind die einzelnen Schritte, die für diesen Vorgang benötigt werden, meist automatisiert. Da ich meine Küche gut kenne, weiß ich ohne nachzudenken, wo sich Kaffeepulver, Tasse, Filter befinden, und führe die einzelnen Bewegungen aus, ohne sie bewusst zu initiieren. Dennoch können diese einzelnen Elemente der Bewegung als intentional eingestuft werden, da sie sich zu einer umfassenden Handlung – dem Kaffeekochen – zusammensetzen, die von mir bewusst angestoßen wird.
10 Einen solchen Begriff legt Garry Young anhand der Beschreibung einiger intentionaler Tätigkeiten nahe (vgl. Young 2004, S. 47f.).
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Intentionale Handlungen und Überzeugungen können zwei verschiedenen Anpassungsrichtungen („directions of fit“) zugordnet werden, die durch das folgende Beispiel veranschaulicht werden können: Nehmen wir an, dass ich eine Wand gelb anstreiche und mir meine Freundin Lucia dabei zuschaut. Lucia kann in diesem Fall das (propositionale) Wissen zugesprochen werden, dass ich gerade Farbe an der Wand anbringe. Die Wahrheit ihrer Überzeugung wird hierbei von der Tatsache abgeleitet, dass ich gerade tatsächlich die Wand farbig anstreiche. Falls Lucias Überzeugung und meine Handlung nicht aufeinanderpassen, ist Lucia kein Wissen zuzusprechen, und der Grund dafür ist auf ihre falsche Überzeugung zurückzuführen, nicht etwa darauf, dass ich eine falsche Handlung ausführe. Im Bezug auf intentionale Handlungen verhält es sich hingegen umgekehrt: Hier konstituiert eine Übereinstimmung zwischen der Handlung (Streichen der Wand) und der Intention (Absicht, die Wand zu streichen) den Erfolg. Überzeugungen werden daher durch eine „Geist-zu-Welt-Anpassungsrichtung“, intentionale Handlungen durch eine „Welt-zu-Geist-Anpassungsrichtung“ charakterisiert: Unsere Handlungen müssen als Erfüllungsbedingungen die Umwelt in Einklang bringen können mit demjenigen, was wir erreichen wollen. Allerdings ist die Gegenüberstellung der Anpassungsrichtung als Idealisierung zu verstehen: Überzeugungen und Handlungen können nur durch die Bezugnahme auf eine Interaktion zwischen mentalen Zuständen und Umweltbegebenheiten angemessen verstanden werden. Auch wenn durch Überzeugungen bestimmte Gegenstände der Umwelt repräsentiert werden, spielen unsere praktischen Handlungen eine zentrale Rolle für die Art und Weise, wie wir diese Gegenstände erfassen. Andererseits spielen auch für Handlungen Repräsentationen von Umweltbegebenheiten eine Schlüsselfunktion: Durch so genannte „Affordanzen“ werden bestimmte Handlungen in einer spezifischen Weise erst möglich gemacht.11 Hubert Dreyfus verweist zudem darauf, dass die Ausführung sensomotorischer Fähigkeiten, die besonders eingespielt und automatisiert sind, aus der Erste-Person-Perspektive so erlebt wird, als handelt es sich um eine Geist-zu-Welt-Anpassungsrichtung: We do not experience our intentions as causing our bodily movements; rather, in skillful coping we experience the situation as drawing the movements out of us.12
Die unterschiedlichen Anpassungsformen, auf die intentionale Handlungen und Überzeugungen jeweils bezogen sind, spiegeln die Ziele wider, auf die
11 Zum Begriff der Affordanzen vgl. Abschnitt 1.4.2.1. 12 Vgl. Dreyfus 2002, S. 380.
Praktisches Wissen vs. propositionales Wissen – Eine Dichotomie neu betrachtet
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praktisches und propositionales Wissen hin ausgerichtet sind. Während wir mit propositionalem Wissen ein möglichst umfassendes Verständnis der Welt anstreben, dient praktisches Wissen dazu, dass wir unsere Wünsche und Absichten durch unsere Handlungen verwirklichen. Die Norm des Handlungserfolgs dient als Ausgangspunkt für eine differenziertere Bestimmung praktischen Wissens. Idealtypische Fälle können durch diese Norm charakterisiert werden. Mit anderen Worten: In einigen Situationen ist die erfolgreiche Ausführung einer intentionalen Handlung hinreichend dafür, dass wir der betreffenden Person praktisches Wissen zuschreiben. Häufig verlangen wir allerdings, wie bei propositionalem Wissen auch, dass eine Fundierung des praktischen Wissens vorliegt, weil wir Fälle ausschließen wollen, in denen das Erreichen einer Absicht rein zufällig geschieht. Ich habe bereits im ersten Kapitel auf das Beispiel des „Anfängerglücks“ verwiesen: Wenn Handelnde nur durch Zufall erfolgreich sind, ohne dass sie die entsprechenden Fertigkeiten grundlegend erworben haben, sprechen wir meist nicht von einem „echten“ praktischen Wissen. Vielmehr gehen wir davon aus, dass Personen, die über das relevante praktische Wissen verfügen, die betreffenden Fertigkeiten regelmäßig manifestieren können, zu fast jeder Zeit und in verschiedenartigen Situationen. Im Hinblick auf solche Fälle müssen wir den Minimalbegriff des praktischen Wissens durch die Bezugnahme auf weitere Normen anreichern. Allerdings liegt die Vermutung nahe, dass sich bei einer solchen, differenzierten Analyse ähnliche Problem- und Streitfelder abzeichnen wie bei der Diskussion um die Definition des propositionalen Wissensbegriffs. Die Normen, die wir zur Spezifizierung heranziehen, sollten daher als kontextabhängig aufgefasst werden. Die Frage nach einer angemessenen Fundierung praktischen Wissens läuft, ebenso wie im Falle propositionalen Wissens, auf eine Gegenüberstellung externalistischer und internalistischer Auffassungen hinaus: In einigen paradigmatischen Situationen fordern wir von den Personen, welchen wir praktisches Wissen zuschreiben, dass sie Gründe für ihre Vorgehensweise benennen können. Insbesondere bei komplexen Fähigkeiten, deren erfolgreiche Ausführung eine Reihe theoretischen Wissens einschließt – als Beispiel sei die Durchführung einer Herzoperation genannt – erwarten wir in der Regel, dass die betreffenden Personen ihre Vorgehensweise durch bestimmte Überzeugungen begründen können. Im Bezug auf sensomotorische Fähigkeiten, die keine oder nur wenig Bezugnahme auf theoretisches Wissen benötigen, kann hingegen eine Fundierung des praktischen Wissen herangezogen werden, die sich auf die phänomenale Ebene bezieht: Eine Begründung meines praktischen Wissens des Skifahrens kann demgemäß durch den Umstand konstatiert werden, dass sich meine Bewegungen „richtig“ anfühlen. Doch nicht bei allen Fällen praktischen Wissens erwarten wir eine bestimmte internalistische Begründung: Es gibt auch
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Situationen, in denen es uns ausreicht, dass eine bestimmte Fähigkeit auf der Grundlage zuverlässiger Methoden zustande gekommen ist und eine gewisse Stabilität aufweist. Gründe oder Empfindungen des betreffenden Subjekts interessieren uns hierbei nicht. Für solche Fälle sind externalistische Konzeptionen plausibel. Es lässt sich somit festhalten, dass wir unseren Begriff des praktischen Wissens durch die Bezugnahme auf weitere Normen anreichern können, die beispielsweise eine internalistische Begründung oder die Reliabilität der entsprechenden Fähigkeit einfangen. Da praktisches Wissen aber auf sehr viele unterschiedliche praktische Fertigkeiten bezogen ist, sind diese Normen nicht als allgemein, sondern als bereichsspezifisch aufzufassen. Aufgrund der Kontextsensitivität unserer Fertigkeiten sind weitere Hintergrundbedingungen wichtig für die Frage, ob wir in bestimmten Fällen ein praktisches Wissen zuschreiben oder nicht. Beispielsweise müssen einige Minimalbedingungen erfüllt sein, die eine erfolgreiche Ausführung der entsprechenden Fertigkeit zumindest möglich machen. Zudem erwarten wir auch nicht, dass jemand immer erfolgreich in der Ausführung der entsprechenden Tätigkeit ist. Obwohl die erfolgreiche Manifestation als Beleg für das Verfügen über das praktische Wissen dient, akzeptieren wir in unterschiedlichen Fällen Arten des Verfehlens oder Scheiterns – beispielsweise bei Krankheit, Liebeskummer oder einer sehr schlechten Tagesform. Zuschreibungen praktischer Fertigkeiten schließen daher die Erwartung ein, dass eine Person eine Tätigkeit in verschiedenen Situationen erfolgreich ausführen kann, wenn bestimmte interne und externe Standardbedingungen gegeben sind. An dieser Stelle möchte ich die Thesen, für die ich in diesem Abschnitt plädiert habe, noch einmal zusammenfassen: Praktisches Wissen, auf dessen Grundlage wir intentionale Handlungen erfolgreich ausführen, kann nicht auf propositionales Wissen reduziert werden, da es keinen hinreichend objektivierbaren und spezifizierbaren Gehalt aufweist. Die Objekte, auf die praktisches Wissen bezogen ist, sind nicht vollständig unabhängig von der Wissensrelation; sie werden durch persönliche Momente entscheidend mitbestimmt. Zudem sind propositionales und praktisches Wissen auf verschiedene Ziele hin ausgerichtet. Vor diesem Hintergrund habe ich vorgeschlagen, beide Wissensformen durch idealtypische Normen zu charakterisieren: Propositionales Wissen durch die Norm der Wahrheit, praktisches Wissen durch die Norm des Handlungserfolgs. Durch die Bezugnahme auf weitere, kontextspezifische Normen kann zudem eine differenziertere Bestimmung beider Wissensformen vorgenommen werden.
Wissensformate
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3.4 Wissensformate In diesem Abschnitt werde ich Wissensformate durch Repräsentationsarten im Bezug auf die Unterscheidung ihrer Struktur (begrifflich/propositional vs. nichtbegrifflich/sensomotorisch) und ihrer Zugangsweisen (bewusst vs. unbewusst) charakterisieren. Drei verschiedene solcher Formate werden einander gegenüber gestellt: (1) ein sprachliches bzw. propositionales, (2) ein nicht-begriffliches, sensomotorisches und (3) ein bildhaftes Wissensformat. Ich werde die diesen Formaten zugrunde liegenden Repräsentationen genauer bestimmen und ihre Reichweite und Wirksamkeit aufzeigen. Das Ziel dieses Abschnitts ist zum einen, überzeugende Gründe dafür anzugeben, dass Repräsentationstypen in einem naturalistischen Rahmen mit einem Blick auf die aktuelle Forschungsliteratur in der Psychologie und den Neurowissenschaften unterschieden werden können. Zum anderen soll die Bedeutung der jeweiligen Wissensformate für die Dichotomie zwischen theoretischem und praktischem Wissen herausgestellt werden.
3.4.1 Propositionale Repräsentationen Auf einen paradigmatischen Fall eines propositionalen Wissensformates habe ich bereits kontinuierlich Bezug genommen: die natürliche Sprache, in der wir unterschiedliche Wissensgegenstände repräsentieren und vermitteln können. Sprachlich äußerbares Wissen wird, wie bereits erwähnt, zumeist dadurch charakterisiert, dass es einen bestimmten Gehalt aufweist, der dem Wissenssubjekt begrifflich zugänglich ist. Einige Philosophen vermeiden die Redeweise von „propositionalen Repräsentationen“, halten sie doch diesen Begriff für irreführend, da unter Propositionen klassisch abstrakte Entitäten verstanden werden, die Träger von Wahrheitswerten darstellen.13 Jerry Fodor schlägt aus diesem Grund die Bezeichnung einer „Sprache des Geistes“ vor, die er auch als „Mentalese“ bezeichnet und die auf symbolischen, satzhaften Repräsentationen beruht.14 Wenn ich im Folgenden von „propositionalen Repräsentationen“ spreche, ist daher stets darauf zu achten, dass ich mich auf strukturelle Merkmale von Repräsentationen beziehe und keine ontologischen Aussagen über Propositionen treffe.
13 Vgl. Frege 1918. 14 Vgl. Fodor 1987, S. 135–137.
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Kurz gefasst können wir propositionalen Repräsentationen zwei Hauptmerkmale zuordnen: (1) das Merkmal der Wahrheitsfähigkeit und (2) das Merkmal der Begrifflichkeit. Damit Wahrheitsfähigkeit vorliegt, muss das Wissenssubjekt eine bestimmte Aussage über einen Gegenstand oder Sachverhalt repräsentieren, die entweder wahr oder falsch ist. Das Merkmal der Begrifflichkeit drückt hingegen die Art und Weise aus, in der dieser Sachverhalt repräsentiert wird. Wir haben bereits in den vorhergehenden Abschnitten beobachten können, dass propositionales Wissen oft an Aussagenwahrheiten geknüpft wird, die in einer natürlichen Sprache ausgedrückt werden. Allerdings soll sich die Menge dieses Wissens bei den meisten Erkenntnistheoretikern nicht auf das beschränken, was ein Wissender tatsächlich äußert, sondern alle Gedanken einschließen, die in einer propositionalen, i.e. sprachähnlichen Struktur vorliegen: Genau diesem Umstand soll der Begriff der Sprache des Geistes Rechnung tragen. Propositionale Repräsentationen können als Teil eines sprachlichen oder sprachähnlichen Systems, als Komposition aus Begriffen, aus symbolischen, arbiträren Zeichen verstanden werden.15 Die Struktur propositionaler Repräsentationen zeichnet sich durch die folgenden Merkmale aus: Sie ist amodal, d.h. sie wird in keiner bestimmten Modalität, also etwa in visueller oder auditiver, repräsentiert, sondern in einer abstrakten Form, die nicht auf einzelne Sinneseindrücke bezogen ist. Sie ist zudem stark unabhängig von äußeren Stimuli. Die Stimulus-Unabhängigkeit und Abstraktheit begrifflicher Repräsentationen versucht Gareth Evans in seinem 1982 erschienenen Buch „The Varieties of Reference“ mit der so genannten „Allgemeinheitsbedingung“ („Generality Constraint“) einzufangen: […] if a subject can be credited with the thought that a is F, then he must have the conceptual resources for entertaining the thought that a is G, for every property of being G of which he has a conception.16
Evans drückt mit dieser Bedingung die folgende Vorstellung aus: Begrifflich gefasste Gedanken sind so strukturiert, dass aus ihnen zahlreiche neue Gedanken gebildet werden können, ohne dass hierzu entsprechende Wahrnehmungerlebnisse nötig sind. Wenn ich beispielsweise vor mir auf dem Tisch eine gelbe Banane und einen roten Apfel sehe, so kann ich mir – falls meine
15 Albert Newen und Andreas Bartels plädieren für eine Unterscheidung zwischen begrifflichen und propositionalen Repräsentationen (vgl. Newen & Bartels 2007, S. 283ff.). Auch wenn diese Unterscheidung überzeugend begründet wird, ist sie für die Stoßrichtung dieser Arbeit nicht von Bedeutung, weshalb ich sie nicht berücksichtigen werde. 16 Evans 1982, S. 104.
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zugehörigen Gedanken eine begriffliche Struktur aufweisen – ebenso eine rote Banane oder einen gelben Apfel denken, ohne dass ich diese je gesehen haben muss. Somit ermöglichen uns propositionale Repräsentationen, gedanklich auf nicht-existente Dinge Bezug zu nehmen, die an keine perzeptuellen Erlebnisse gebunden sind. Die Allgemeinheitsbedingung ist auch Grundlage für die Bildung von Inferenzen, d.h. das logische Ableiten neuer Propositionen.17 Wir können folgendes festhalten: Propositionale Repräsentationen stellen Kombinationen von Begriffen dar, die sowohl Systematizität als auch Produktivität, d.h. die Möglichkeit, neue Gedanken zu bilden – in unserem Beispiel die Gedanken einer roten Banane und eines gelben Apfels – und inferenzielle Relationen abzuleiten, aufweisen.
3.4.2 Sprache als Medium des Wissens In den ersten beiden Kapiteln wurde bereits deutlich, dass Sprache und symbolisches Denken in der philosophischen Erkenntnistheorie die primäre Rolle für die Wissensrepräsentation zugesprochen wird. Das propositionale Wissensformat nimmt aus ganz unterschiedlichen Gründen tatsächlich eine wichtige Funktion für die Entwicklung unserer Erkenntnisprozesse ein: Durch seine leichte Vermittelbarkeit und seine Abstraktion werden spezifisch menschliche, wissenschaftliche und kulturell verankerte Erkenntnisbereiche und Lernprozesse überhaupt erst möglich gemacht. Durch das propositionale Wissensformat können ganz unterschiedliche Wissensgegenstände repräsentiert werden. Bei der Beleuchtung der Debatte um praktische Wissensformen zeigte sich aber auch, dass die propositionalen Repräsentationen von Handlungsweisen, d.h. von Regeln und Kriterien, die der erfolgreichen Durchführung praktischer Tätigkeiten zugrunde liegen, es nicht vermögen, die spezifischen Merkmale des praktischen Wissens angemessen zu erklären. Das heißt allerdings nicht, dass wir kein propositionales Wissen über unsere Handlungen und praktischen Fähigkeiten besitzen: Wir verfügen meist über eine große Menge eines solchen Wissens, das explizite Regeln oder Kriterien betrifft, die den erfolgreichen Ablauf der entsprechenden Tätigkeit kennzeichnen. Ein anschauliches Bild eines so gefassten Wissens geben die vielfältigen Bücher ab, die das Know-How für ganz unterschiedliche Tätigkeiten –
17 Zu diesen Merkmalen propositionaler Repräsentationen vgl. Newen & Bartels 2007, S. 298ff. sowie Vosgerau 2007, S. 350ff.
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beispielsweise Schach-Spielen, Segeln, Kochen oder Computer-Programmieren – abdrucken. Diese Bücher beschreiben nicht nur eine verbreitete Lernmethode für praktische Fähigkeiten, sie verdeutlichen ebenso, dass wir eine große Menge propositionalen Wissens erwerben können, ohne je die entsprechende Tätigkeit selbst in der Praxis ausgeführt zu haben. Um propositionales Wissen über praktische Handlungen besser charakterisieren zu können, lohnt es sich, zwischen zwei Perspektiven zu unterscheiden: zwischen der DrittePerson- oder Beobachter-Perspektive einerseits und der Erste-Person-Perspektive andererseits. Aus der Beobachterperspektive kann das propositionale Wissen über Tätigkeiten als dasjenige gefasst werden, das eine Person, die eine bestimmte praktische Tätigkeit beobachtet, sprachlich formulieren kann – Regeln, bestimmte Kernmerkmale oder Kriterien. Das propositionale Wissen in der Erste-PersonPerspektive ist hingegen das sprachlich-strukturierte Wissen, über das der Handelnde selbst verfügt. Hierunter fällt das Wissen, das er sich vielleicht beim Lernen der Tätigkeit angeeignet hat (vielleicht aber auch schon größtenteils vergessen hat) oder anderes Faktenwissen über die Tätigkeit, das er aufsagen kann, wenn man ihn danach fragt, oder das zumindest in symbolischen Gedanken von ihm repräsentiert wird. Allerdings möchte ich bereits hier anmerken, dass ich für die These argumentiere, dass Wissenssubjekte in einigen Fällen praktischen Wissens kein solches, propositionales Wissen repräsentieren müssen. Für beide Perspektiven kann ein bestimmtes Problem aufgezeigt werden, das die Frage nach der Reichweite und den Grenzen propositionalen Wissens für praktische Fähigkeiten betrifft und in den Perspektiven jeweils unterschiedlich ausgeprägt ist. Für die Erste-Person-Perspektive ist dies die Wissen-Handlungs-Lücke, die zum Ausdruck bringt, dass das Verfügen über das in Büchern notierte oder durch Lehrer verbal vermittelte Wissen keineswegs ein Erfolgsgarant ist. Dieses Problem tritt besonders in den Fällen praktischen Wissens hervor, die sich einer aussagekräftigen Beschreibung durch Regeln oder Sätze entziehen und ausgefeiltes motorisches Geschick oder jahrelange Erfahrung erfordern. In der Dritte-Person-Perspektive tritt diese Schwierigkeit in Form eines Problems auf, das man auch als „Problem der unvollständigen Beschreibung intelligenter Fähigkeiten“ bezeichnen kann. In einigen Fällen mögen Regeln und Kriterien schnell gefunden und formuliert werden – etwa für das Schachspielen oder für das Fußnotensetzen in MSWord. Für andere, wesentlich motorisch verankerte und stark kontextabhängige Fähigkeiten fällt dies jedoch sehr viel komplizierter aus. Zwar können sowohl aus direkter Beobachtung als auch im Hinblick auf bestimmte körperliche Mechanismen und physikalische Prinzipien explizite Regeln formuliert werden. Welche Propositionen für die
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erfolgreiche Ausführung der entsprechenden Tätigkeit relevant sind, lässt sich aber oftmals nicht feststellen: Die Fähigkeit, ein Klavierstück ausdrucksvoll zu spielen, kann beispielsweise von dem Zusammenwirken von zahlreichen sensomotorischen, begrifflichen sowie emotionalen Momenten abhängen. Ich habe bereits dafür argumentiert, dass die Annahme einer vollständigen Rekonstruktion dieser Fähigkeit durch entsprechende Regeln unplausibel ist. Die prinzipielle Möglichkeit einer vollständigen Beschreibung lässt sich zwar nicht von der Hand weisen, aber aus epistemischer Sicht ist es schwer nachvollziehbar, wie diese aussehen soll. Zudem gibt es im Bezug auf praktische Fähigkeiten Grenzen des Wahrheitskriteriums: Sicherlich gibt es Sätze über hinreichend objektive, „richtige“ oder zutreffende Regeln praktischer Fähigkeiten, doch neben diesen stehen Aussagen über kontingente, persönlich geprägte Merkmale. Mit anderen Worten: In einigen Fällen kommen Aussagen offensichtlich Wahrheitswerte zu – beispielsweise wenn sie Spielregeln betreffen, die eingehalten werden müssen, wie etwa bei einem Schachzug, der gemäß der Regeln des Schachspielens abläuft, und somit ein „richtiger“ Zug ist. Doch bei komplexen motorischen und intellektuellen Fähigkeiten, die sich gegen ein solches, geordnetes Schema stellen, ist die Suche nach wahrheitsfähigen Sätzen oder allgemeinen Regeln weitaus verzwickter. Eine andere Schwierigkeit für die Zuschreibung propositionalen Wissens über Handlungen liegt im oftmals unzureichend begründeten Übergang von der einen zur anderen Perspektive. Dieses Problem zeigt sich, wenn aus der Beobachter-Perspektive geschlossen wird, dass das Wissenssubjekt über das propositionale Wissen verfügt, welches man aus der Beobachtung seiner intelligenten Tätigkeit ableitet, oder dass aus der Erste-Person-Perspektive von ebenjenen Propositionen, die sich der Wissende bei der Ausführung der Tätigkeit vielleicht vorsagen mag, angenommen wird, dass sie auch dem Beobachter zugänglich sind. Eine solche Transformation ist äußerst problematisch, weshalb auch die unreflektierte Redeweise eines „impliziten“, symbolisch repräsentierten Regelwissens von Handelnden zurückzuweisen ist, solange nicht weitere Gründe vorliegen, die auf eine symbolische Verarbeitung relevanter Informationen des jeweils Agierenden verweisen. Ein ebensolcher Fehlschluss drückt sich in dem Verweis aus, dass propositionales Wissen sich in einer praktischen Tätigkeit manifestiert, weil dieses propositionale Wissen für das Wissenssubjekt eine Schlüsselfunktion beim Erlernen der betreffenden Fähigkeit eingenommen hat. Hier lässt sich leicht an die Erfahrung appellieren, die uns lehrt, dass das Regel- und Faktenwissen, das einst zum Erlernen von Tätigkeiten diente, oftmals vergessen wird und nicht mehr explizit abgerufen werden kann. In der kognitiven Psychologie wird dieses Phänomen als eine Art Amnesie aufgefasst, die bei Experten im Bezug auf bestimmte Fähigkeiten eintritt („expertise-indu-
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ced amnesia“).18 Es ist somit fraglich, ob dieses Wissen in einer unbewussten Form noch vorliegt, oder ob sich nicht schlicht ein irreduzibler Wandel des Repräsentationsformats vollzogen hat. Eine andere Ausprägung erfährt dieses Problem, wenn es um die Bestimmung von möglichen Wissenssubjekten geht. Die Zuschreibung propositionalen Wissens ist traditionell an semantische Hypothesen über die Struktur der Sprache bzw. der Gedanken des Wissenden geknüpft. Streng genommen kann ein solches Wissen folglich nur sprachbegabten Menschen zugeschrieben werden, Babys, Kleinkindern und Tieren, die (noch) nicht über eine Sprache verfügen, hingegen nicht. Allerdings wird oftmals behauptet, dass das Verfügen über eine Fähigkeit, die aus der Dritte-Person-Perspektive über bestimmte Regeln beschrieben werden kann, zumindest ein unbewusstes, symbolisch repräsentiertes Wissen ebenjener Regeln impliziert; daher werden den entsprechenden Wissenssubjekten, d.h. denjenigen, die die intelligenten Fähigkeiten ausführen, oftmals sprachliche oder sprachähnliche Fähigkeiten zugesprochen. Für diesen Schluss gibt es aber ohne weitere philosophische und empirische Argumente keine hinreichende Begründung. An dieser Stelle können wir folgendes festhalten: Propositionale Wissensformate ermöglichen es uns, praktische Fertigkeiten zu einem Gegenstand der Kommunikation zu machen. Durch Sprache und symbolische Gedanken können Bescheibungen und kontextunabhängige Regeln und Anweisungen formuliert sowie Bewertungen von Fähigkeiten vorgenommen werden. Allerdings ist die Annahme, praktische Fähigkeiten seien auf ein solches Wissensformat zurückzuführen, unplausibel, was durch die Wissen-Handlungs-Lücke und das Problem der unvollständigen Beschreibung intelligenter Fähigkeiten aufgezeigt werden kann.
3.4.3 Sensomotorische Repräsentationen Ob es neben den soeben beschriebenen Repräsentationen auch noch andere, nicht-begriffliche geben kann und wie diese zu charakterisieren sind, ist eine intensiv diskutierte Frage in Philosophie und Kognitionswissenschaften. Erstmals wies in der Philosophie Gareth Evans19 explizit auf einen „nicht-begrifflichen Gehalt“ hin, allerdings kann Fred Dretskes20 Vorstellung des „nicht-
18 Vgl. Sutton 2007, S. 771. 19 Vgl. Evans 1982, S. 66ff. 20 Vgl. Dretske 1969, S. 20ff.
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epistemischen Sehens“ als Vorform dieser Konzeption betrachtet werden. In erster Linie enstammt die Unterscheidung des begrifflichen vs. nicht-begrifflichen Repräsentierens der Wahrnehmungsphilosophie; daher ist es nicht verwunderlich, dass die meisten Argumente für und wider nicht-begriffliche Gehalte im Rahmen der Debatte um den Status perzeptueller Erfahrung vorgebracht wurden. Die Annahme nicht-begrifflicher Repräsentationen kann durch den Verweis auf Beispiele begründet werden, in denen sich kognitive Fähigkeiten manifestieren, für deren Ausführung man zwar keine begrifflich strukturierten Repräsentationen annimmt, die sich aber wesentlich von non-kognitiven Tätigkeiten unterscheiden. Dem Konzept des nicht-begrifflichen Gehalts liegt folglich die Vorstellung zugrunde, dass durch mentale Zustände Gegenstände oder Sachverhalte repräsentiert werden, ohne dass ihr Träger über Begriffe verfügt, die den Gehalt spezifizieren. In der Regel werden nicht-begriffliche Repräsentationen als sehr viel „feinkörniger“ aufgefasst als propositionale: Ich kann beispielsweise sehr viel mehr Farbtöne und Farbschattierungen als visuelle Eindrücke differenzieren, als ich anhand von Begriffen bezeichnen kann. Nicht-begriffliche Repräsentationen schließen somit eine explanatorische Lücke: Durch ihre Annahme können Verhaltensprozesse erklärt werden, die die Dichotomie von einerseits begrifflichen und andererseits nicht-kognitiven Prozessen nicht zu fassen vermag. Ein Beispiel für eine solche Verhaltensweise wird durch die Nestsuche der Wüstenameise ausgedrückt. Nach einer relativ langen und unsystematischen Futtersuche findet diese Ameise immer wieder auf einer geraden Linie zu ihrem Nest zurück.21 Ihre räumliche Orientierung gründet dabei auf der Registrierung der Sonnenposition und ihrer Beinbewegungen. Die Kombination beider Indikatoren befähigt sie dazu, ihre räumliche Position in Relation zu ihrem Nest festzustellen. Das Verhalten der Ameise kann nicht durch ein reines Reiz-Reaktions-Schema erfasst werden: Das Auffinden ihres Nests liegt nicht in einem aktualen Reiz begründet, der sie wieder zurück treibt, sondern in einer Repräsentation des Nests, die während der Futtersuche aus Schlüsselreizen gebildet wird. Auch wenn dieses Verhalten flexibel ist und keinen bloßen Reflex darstellt, ist es dennoch wesentlich stimulusabhängig und basiert nicht auf einer objektiven Identifikation des Nests. Wie kann das Verhalten der Ameise nun erklärt werden? Man kann ihr eine nicht-begriffliche Repräsentation ihres Nestes zuschreiben, so dass ihr Verhalten einerseits von solchem abgrenzt wird, das auf Begriffen und Sprache beruht, andererseits aber als genuin kognitiver Prozess im Gegensatz zu Reiz-Reaktions-Mechanismen
21 Vgl. Gallistel 1993 sowie Müller & Wehner 1988.
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herausgestellt wird. Nicht-kognitive Prozesse sind im Gegensatz zu dem beschriebenen Verhalten der Ameise völlig unflexibel und nicht variabel. Die angeführten Überlegungen können folgendermaßen zusammengefasst werden: Nicht-begriffliche Repräsentationen sind im Gegensatz zu begrifflichen (1) unstrukturiert, (2) feinkörnig und (3) stimulusabhängig. Ich möchte im Folgenden aufzeigen, dass sich auch für die Erklärung menschlicher Fähigkeiten die Annahme nicht-begrifflicher Repräsentationen als explanatorisch gewinnbringend erweist; allerdings müssen diese Repräsentationen zunächst für den speziellen Kontext – die Betrachtung von Handlungsweisen – spezifiziert werden. Hierzu ist es sinnvoll, von einem Bild auszugehen, das nicht die Repräsentation einzelner Zustände, sondern die Repräsentationen von Sequenzen ins Zentrum rückt. Wie kann nun die Nichtbegrifflichkeit der Repräsentationen, die bestimmten praktischen Fähigkeiten zugrunde liegen, genauer erläutert werden? Für eine Beantwortung dieser Frage ist ein Blick auf die neurowissenschaftliche Forschung nützlich, die die interaktive Kopplung zwischen Sensorik, Motorik und aktueller Zielrepräsentationen ins Zentrum ihrer Überlegungen stellt. Inbesondere die von Marc Jeannerod angeführten Überlegungen zur Natur so genannter „motorischer Intentionen“ („motor intentions“) bieten hilfreiche Bezugspunkte.22 Hierbei sind die folgenden beiden Thesen Jeannerods von zentraler Bedeutung: (1) (Motorische) Handlungen werden durch ein intern repräsentiertes Ziel in Gang gesetzt, und nicht direkt durch die externe Welt hervorgerufen.23 (2) Motorische Repräsentationen haben einen spezifischen Gehalt, der zwei Aspekte involviert: Einerseits wird der Körper repräsentiert, der bestimmte Kräfte während einer Tätigkeit erzeugt; andererseits liegt eine Repräsentation des mit der Handlung angestrebten Zielzustandes vor.24 Im Gegensatz zu Jeannerod werde ich im Folgenden von „sensomotorischen“, und nicht von „motorischen“ Repräsentationen sprechen, da die im Zentrum stehenden Repräsentationen durch eine interaktive Kopplung zwischen sensorischen und motorischen Momenten ausgezeichnet sind. Durch These (1) drückt Jeannerod aus, dass ein streng behavioristisches Input-Output-Modell zu kurz greift: Handlungen werden mit Rückgriff auf ein intern repräsentiertes Ziel oder eine Absicht ausgeführt, was dem radikalen behavioristischen Modell widerspricht. Durch These (2) wird gewissermaßen eine Ausbuchstabierung von nicht-begrifflichen Repräsentationen im Bezug auf
22 Vgl. Jeannerod 1994. Bei der Darstellung der Thesen Jeannerods orientiere ich mich an Elisabeth Pachéries Ausführungen (vgl. Pachérie 2000, S. 409ff.). 23 Vgl. Jeannerod 1997, S. 11ff. 24 Ebd.
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Handlungen vorgenommen. Gegenstand solcher sensomotorischer Repräsentationen ist der Körper als Erzeuger von Kräften. Hierbei werden (i) die erwartete Dauer eines Bewegungsablaufs, (ii) das Kräftemaß, das für die Bewegung erforderlich ist, und (iii) einige „motorische Regeln“ repräsentiert, beispielsweise bestimmte kinästhetische Regeln, die der Bewegung zugrunde liegen. Objekte oder spezifische Merkmale der Umwelt werden in einem so genannten „pragmatischen“ Modus repräsentiert, der von einem semantischen Modus wesentlich verschieden ist. In diesem pragmatischen Modus werden Informationen überwiegend unbewusst repräsentiert: Sensomotorische Repräsentationen gelangen meist nicht in unser Bewusstsein. Sie sind nicht Gegenstand von Überlegungen, sondern werden in der Regel direkt in Bewegungen umgesetzt. Elisabeth Pachérie schlägt eine Interpretation des pragmatischen Repräsentationsmodus vor, die zwar nicht explizit von Jeannerod entwickelt wird, sich aber als äußerst hilfreich für eine geeignete Charakterisierung praktischer Fähigkeiten erweist. Was Jeannerod beschreibt, wird laut Pachérie treffend durch den von John Campbell geprägten Begriff der „kausalen Indexikalität“ wiedergegeben.25 Durch dieses Konzept versucht Campbell die kausale Relevanz einzufangen, die bestimmte Begriffe haben können: Beurteilungen, die auf diesen Begriffen beruhen, beziehen sich wesentlich auf die Art und Weise, in der sich die Welt aus unserer Perspektive verhält oder unter anderen Umständen verhalten würde. Kausale Indizes sollen unser „most primitive physical thinking“ zum Ausdruck bringen.26 Indexikalische Terme verändern ihre Referenz in systematischer Abhängigkeit von dem Kontext, in dem sie verwendet werden. „Kausal indexikalische Begriffe“ bilden eine Unterklasse solcher Begriffe. Sie weisen als weiteres Merkmal auf, dass ein Verstehen ihrer kausalen Bedeutung in dem Begreifen der unmittelbaren Wirkungen liegt, die sie für unsere Handlungen haben. Ihre Referenz soll folglich von den kausalen Kräften des Sprechers abhängen. Mit anderen Worten: Pragmatische Repräsentationen beziehen sich auf Objekte und ihre Eigenschaften im Hinblick auf die von James J. Gibson beschriebenen „Affordanzen“, die spezifische motorische Muster hervorrufen.27
25 Vgl. Campbell 1994 sowie Pachérie 2000, S. 412ff. Hierbei ist anzumerken, dass zwar John Campbells Charakterisierung der Eigenschaften von kausal-indexikalischen Begriffen einen Impuls für das Verständnis von sensomotorischen Repräsentationen geben soll. Seine Auffassung, dass wir diese Repräsentationen begrifflich vornehmen, soll hingegen nicht geteilt werden. Vielmehr gehe ich davon aus, dass es sich um nicht- oder vorbegriffliche Repräsentationen handelt. 26 Vgl. Campbell 1994, S. 41. 27 Vgl. Gibson 1979, S. 127ff. Siehe auch Abschnitt 1.4.2.1.
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Sensomotorische Repräsentationen sind durch eine bestimmte Dynamik gekennzeichnet. Daher ist es, wie bereits erwähnt, nicht sinnvoll, sich sensomotorisch repräsentierte, isolierte Zustände vorzustellen. Vielmehr sollte man von Sequenzen oder Prozessen ausgehen. Im Bezug auf eine konkrete Handlung, etwa das Greifen nach einem Glas Wasser, wird in diesem Bild der Bewegungsablauf nicht auf einen distinkten, die Bewegung initiierenden Zustand bezogen, sondern auf den gesamten Ablauf, der sich durch ein kontinuierliches Feedback auszeichnet, das die Hände beim Greifen des Glases erhalten. Aus diesen Gründen fasst Pachérie die Kernmerkmale sensomotorischer Repräsentationen unter dem Begriff „dynamische Indexikalität“ zusammen.28 Die Annahme, dass es zwei grundsätzlich verschiedene Verarbeitungsmechanismen gibt, die einerseits sprachlichem Wissen und andererseits der Durchführung praktischer Handlungen zugrunde liegen, wird durch zahlreiche empirische Befunde gestützt. Als prominentes Beispiel aus der Wahrnehmungspsychologie sei hier die Hypothese zweier visueller Systeme genannt, die von Melvyn Goodale und David Milner entwickelt wurde.29 Die Autoren beziehen sich insbesondere auf den Fall der Patientin DF. Die Verhaltensweisen dieser Patientin legen nahe, dass zwei Pfade kortikaler Prozesse (dorsaler und ventraler Pfad) zu unterscheiden sind, da sie verschiedene Funktionen erfüllen. Der ventrale Pfad wird hierbei der bewussten Repräsentation von Objekten zugeordnet, der dorsale Pfad ist hingegen für die handlungsorientierte Repräsentation von Objekteigenschaften zuständig. DF leidet an einer Läsion im ventralen Pfad und ist nicht fähig, bestimmte Merkmale von Objekten wie etwa einem Briefumschlag oder einem Briefkasten zu erkennen; sie kann keine Aussagen über Größe, Raumorientierung und Form treffen. Erstaunlicherweise kann sie aber Handlungen ausführen, die auf Informationen über diese Merkmale beruhen – auf Informationen also, die ihr nicht bewusst zugänglich sind. Beispielsweise kann sie den Briefumschlag in den Briefkasten stecken. DFs Handlung ist zu präzise, als dass sie sich als schlichter Zufall einstufen ließe. Sie greift offensichtlich auf Informationen zu, um den Brief erfolgreich in den Schlitz zu werfen. Daher muss sie auf einer vorbewussten Stufe Kernmerkmale des Briefumschlags und des Briefkastens repräsentieren. DF, so könnten wir schließen, repräsentiert die Informationen, auf denen ihre erfolgreiche Handlung beruht, in einem pragmatischen, unbewussten Modus, im Gegensatz zu einem semantischen Repräsentationsmodus.
28 Vgl. Pachérie 2000, S. 414. 29 Vgl. Goodale & Milner 1992 sowie Milner 1997.
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3.4.4 Praktische Fähigkeiten Auf der Grundlage sensomotorischer Repräsentationen, die meist unbewusst ablaufen, verrichten wir eine Unmenge von Alltagshandlungen. Dass wir bei diesen Handlungen erfolgreich sind, dass wir unsere Ziele und Zwecke erreichen, machen wir in der Regel nicht zu einem Thema, so eingespielt sind unsere Schritte, Handgriffe und Bewegungen. In der kognitiven Psychologie wird das Wissen über motorische Bewegungsabläufe als höchst effektiv, spontan und automatisiert beschrieben. Wenn ich beispielsweise meinen täglichen Weg zur Arbeit beschreite, dann schließt dieser eine Reihe von Bewegungen ein, die gekonnte Reaktionen auf Umwelteinflüsse markieren. Ich weiche Hindernissen aus, überspringe Treppenstufen und reagiere auf mögliche Gefahren im Straßenverkehr. Und das alles vollzieht sich zumeist, ohne dass ich meine Bewegungen bewusst anstoße oder im Gedächtnis behalte. Die eingespielten intelligenten Handlungen sind so weit automatisiert, dass es sich so anfühlt, als würden sie „fließen“ und „wie von allein“ ablaufen, als entlocke mir die Welt einfach durch ihre spezifische Beschaffenheit Bewegungen und Reaktionen, über die ich nicht selbst entscheiden muss. Das Phänomen solcher eingespielter, sensomotorischer Fertigkeiten wird sowohl in der philosophischen als auch in der psychologischen Literatur oftmals durch den Verweis auf zentrale Begriffe der Phänomenologie MerleauPontys beschrieben.30 Merleau-Pontys „Phénoménologie de la Perception“ (1945, dt. 1966) ist wesentlich durch die Vorstellung geprägt, dass wir uns selbst als leiblich Handelnde begreifen müssen.31 Durch unser unaufhebbares „In-der-Welt-Sein“ ist es uns unmöglich, ein Subjekt ohne Bezugnahme auf die Umweltbegebenheiten und die Bedeutung, die diese Begebenheiten für es haben, zu erklären. Die Umwelt eröffnet uns durch ihre spezifische Beschaffenheit unterschiedlichste Handlungs- und Denkmöglichkeiten. Der so genannte „intentionale Bogen“ benennt hierbei die enge Verbindung zwischen Körper und Welt, die sich in unseren alltäglichen Handlungen ausdrückt, bei dem wir als leiblich Handelnde unser praktisches Wissen nicht als symbolische Repräsentationen in Geist oder Gehirn abspeichern, sondern als Fähigkeit, auf Handlungsmöglichkeiten, die die Umweltsituationen bieten, in einer intelligenten Weise zu reagieren. Der intentionale Bogen ist es, „der die Einheit der Sinne, die Einheit der
30 Shaun Gallagher und Dan Zahavi diskutieren die Bedeutung und Reichweite phänomenologischer Konzepte in neueren philosophischen und kognitionswissenschaftlichen Ansätzen (vgl. Gallagher & Zahavi 2008 sowie Jung & Pompe 2008). 31 An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei Ute Kruse-Ebeling bedanken, die mir zentrale Gedanken Merleau-Pontys näher brachte und mich auf Literaturstellen hinwies.
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Intentionalität und die Einheit von Sinnlichkeit und Motorik ausmacht.“32 Ein weiteres grundlegendes Konzept, mit dem Merleau-Ponty unsere alltäglichen und eingespielten Bewegungsabläufe charakterisiert, ist das so genannte „Körperschema“ („schéma corporel“), das folgende Aspekte einschließt: (1) ein nahezu automatisches System von Prozessen, das laufend Position und Körperbewegungen reguliert, die intentionalen Handlungen dienen, und (2) unser vorreflexives, nicht-objektivierendes Körperbewusstsein.33 Dieser Vorstellung liegt die Auffassung zugrunde, dass unser Körper als Integration von Prozessen aufzufassen ist, die sich selbst als transparent zur Welt erweisen. Ich kann mir zwar selbst nicht beim Sehen zuschauen und auch nicht die zugrunde liegenden physikalischen und biochemischen Prozesse wahrnehmen, aber bei der visuellen Wahrnehmung verkörpere und aktiviere ich diese Prozesse. Der Körper wird so als Medium aufgefasst, durch das wir die Welt wahrnehmen und mit ihr interagieren. Merleau-Ponty selbst spricht sich gegen eine Beschreibung praktischer Fähigkeiten durch Repräsentationen aus. Allerdings bezieht sich seine Argumentation auf einen anderen Repräsentationsbegriff als derjenige, der in dieser Arbeit zugrunde liegt: Merleau-Ponty argumentiert dafür, dass die explanatorische Reichweite symbolisch-sprachlicher Repräsentationen im Bezug auf Fähigkeiten an ihre Grenzen stößt.34 Nicht-begriffliche Repräsentationen, die in einem pragmatischen Modus vorliegen, fasst er hingegen nicht ins Auge. Ich bin der Überzeugung, dass die spezifischen Merkmale des Körperschemas durchaus mit dem Verweis auf nicht-begriffliche Repräsentationen eingefangen werden können. Daher steht der in dieser Arbeit vorgestellte repräsentationalistische Ansatz nicht in einem direkten Widerspruch zu Merleau-Pontys Wahrnehmungstheorie. Einige Autoren behaupten mit Rückgriff auf phänomenologische Kategorien, dass praktische Fähigkeiten überhaupt keine Repräsentationen erfordern. Mit dem Ansatz von Hubert L. Dreyfus, der im Wesentlichen auf einer Phänomenologie des Fertigkeitserwerbs beruht, werde ich eine solche anti-repräsentationalistische Position diskutieren.35 An dieser Stelle sei schon vorweggnommen,
32 Merleau-Ponty 1966, S. 165. 33 Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 123ff. sowie Gallagher & Zahavi 2008, S.145f. 34 Der Komplexität der Theorie Merleau-Pontys kann ich in diesem Rahmen nicht gerecht werden. Für Überlegungen zu dem Körperschema siehe auch Shustermann 2003. Für MerleauPontys Auseinandersetzung mit dem so genannten „Intellektualismus“ siehe Bermes 1998, S. 40–51. Hier ist anzumerken, dass sich die intellektualistischen Positionen, gegen die Merleau-Ponty argumentiert, von denjenigen, die ich im ersten Kapitel vorgestellt habe, unterscheiden. 35 Vgl. hierzu Abschnitt 3.5.
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dass der Verzicht auf Repräsentationen bei Dreyfus, so wie bei vielen anderen Anti-Repräsenationalisten, in meinen Augen auf einen zu engen Begriff der Repräsentation zurückzuführen ist und zudem unliebsame Konsequenzen mit sich bringt. Eine andere Quelle zur Charakterisierung sensomotorischer Bewegungsabläufe liefern gestalttheoretische Ansätze. Im zweiten Kapitel wurde mit Polanyi bereits ein Autor diskutiert, der implizites Wissen über Konzepte aus der Gestaltpsychologie zu erklären versucht und dabei auf den holistischen und emergenten Charakter praktischer Fertigkeiten hinweist.36 In jüngerer Zeit können beispielsweise die Überlegungen zu einem impliziten Gedächtnis von Daniel L. Schacter durch die Bezugnahme auf gestalttheoretische Konzepte erhellt werden: Praktische, automatisierte Handlungen beruhen laut Schacter auf dem impliziten Gedächtnis, in dem einzelne Elemente von Bewegung und Wahrnehmung zu einem Ganzen zusammengefügt werden.37 Diese Integration beruht weitestgehend auf stetiger Wiederholung und Erfahrung in unterschiedlichen Kontexten. Die Bewegungsmuster werden hierbei gelernt und durch die Abspeicherung im impliziten Gedächtnis sofort vergessen, d.h. sie werden nicht als bewusste Gedächtnisinhalte bewahrt. Dies erklärt den Umstand, dass wir nicht darüber nachdenken, wie wir bestimmte automatisierte Tätigkeiten ausführen, und sie auch nicht durch bewusste Entscheidungen anstoßen müssen, was unsere Alltagsbewegungen außerordentlich erleichtert. Schacter geht davon aus, dass wir ein unbewusstes holistisches Wissen entwickeln, das es uns ermöglicht, bedeutungsvolle Schemata zu erfassen, ohne uns einzelner Elemente dieser Schemata bewusst zu sein. Wir können somit zusammengesetzte Handlungen ausführen, ohne uns einzelner Bewegungselemente bewusst zu sein. Was einmal analysiert, wahrgenommen oder ausgeführt wurde, wird in einer neuen praktischen Fähigkeit zusammengesetzt und verkörpert. Einzelne Schritte, die wir als Kleinkinder lernen und auf die wir noch alle Konzentration verwendeten, setzten sich zu einer fließenden Laufbewegung zusammen. Bewegungselemente, die wir im Tennis-Unterricht lernen, setzen sich irgendwann zu der einheitlichen Bewegung „Aufschlag“ zusammen. Die Umwandlung sensomotorischer Fähigkeiten in ein explizites, symbolisches Wissensformat gestaltet sich als äußerst schwierig, wird doch das Moment des Sich-Bewusst-Machens von Bewegungsabläufungen und Handlungen in erster Linie als störender Faktor der ganzheitlichen Prozesse fließender Bewegungsabläufe empfunden. Man stelle sich einmal vor, man müsste erklären, wie
36 Vgl. hierzu Abschnitt 1.3.2. 37 Vgl. Schacter 1987, S. 505ff.
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man eine Treppe hinunterläuft. Man steht nicht nur vor der Schwierigkeit, dass Bewegungsabläufe schwer in Worten beschrieben werden können. Allein die Tatsache, dass man auf einzelne Tritte und Schritte die Aufmerksamkeit lenken müsste, würde das Treppenlaufen extrem erschweren, ein Stolpern wäre abzusehen. Das Eingespieltsein alltäglicher Bewegungsabläufe tritt also erst dann besonders deutlich hervor, wenn es gestört wird, wenn die automatisierten Bewegungen plötzlich nicht mehr auf Intuitionen und Spontaneität beruhen. Handlungen werden dann nicht mehr als fließende, ganzheitliche Bewegungsmuster wahrgenommen, sondern verlieren ebenjene Spontaneität und müssen eigens vorbereitet und entschieden werden. Der Psychiater Thomas Fuchs beschreibt zwei pathologische Fälle, in denen implizite Wissensbestände verloren gehen, zum einen melancholische Depression, zum anderen Schizophrenie. Bei der melancholischen Depression verliert der Körper die Leichtigkeit, Fluidität und Mobilität, die er als Wissensmedium aufweist, und wandelt sich in einen soliden und starren Körper, der gegen die Intentionen des betreffenden Subjekts Widerstand leistet. Fuchs spricht aus diesem Grund von einer „Corporealization“; der Körper versperrt förmlich den Zugang zur Welt; er stellt sich in den Weg wie etwas Fremdes.38 Um mit Merleau-Ponty zu sprechen: Der Körper wird für die Patienten in einer bestimmten Weise sichtbar, die den intentionalen Bogen durchbricht. Die atmosphärische Resonanz, auf die wir im alltäglichen Leben selbstverständlich zurückgreifen, geht verloren. Die Patienten verlieren gewissermaßen das „Taktgefühl“, das implizite Bewegungsabläufe zu einem Ganzen zusammenfügt. Bei einigen Patienten, die an Schizophrenie leiden, stellt sich ein gegenteiliges Phänomen ein. Sie fühlen sich „entkörpert“. Die impliziten Bewegungsstrukturen des Körpers können aufgrund der mangelnden propriozeptiven Repräsentationen nicht mehr wahrgenommen werden. Einige empirische Studien deuten darauf hin, dass der Verlust des eigenen Körpergefühls einerseits und eine „Hyperreflexivität“ andererseits zu dem Phänomen der „pathologischen Explikation“ führt: Jeder einzelne Handgriff benötigt eine Reflexion und einen willentlichen Impuls, um ausgeführt zu werden.39 Intelligente Handlungen, die unter normalen Umständen als einheitlich erlebt werden, teilen sich also plötzlich in zwei Handlungen, Überlegen und Tun, so wie es das Modell der „intellektualistischen Legende“ vorgibt. Patienten, die unter dieser Krankheit leiden, sprechen daher von einer gefühlten Trennung zwischen Körper und Geist. Sie erleben einen Kontrollverlust ihrer Handlungen und vermissen plötzlich das Gefühl für atmosphärische Qualitäten und eine ganzheitliche
38 Vgl. Fuchs 2005, S. 95. 39 Vgl. Ebd., S. 101ff.
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Wahrnehmung. Die eingespielte Interaktion zwischen Körper und Geist, die Integration sensomotorischer Elemente in bedeutungsvolle Einheiten, funktioniert nicht mehr. Die Patienten können nicht länger ihre Körpergefühle als implizite Mittel für Wahrnehmen und Handeln der Welt verwenden. Durch das bewusste Konzentrieren auf einzelne Details eines Bewegungsablaufs wird die interkorporäre Sphäre völlig unvertraut und artifiziell. Sie erleben ihre eigenen Bewegungsabläufe, als würden sie sie durch eine Fernsehkamera betrachten, was zu einer „Disautomation“ der Bewegungen führt. Wir können festhalten, dass wir eine Reihe intelligenter Tätigkeiten verrichten, ohne dass wir einzelne Bewegungsabläufe bewusst durchführen. Dass diese Tätigkeiten nicht von bewussten Überlegungen begleitet werden, zeigt sich insbesondere dann, wenn sie durch unerwartete Ereignisse oder Krankheiten gestört werden, die ihren gewöhnlichen, fließenden Ablauf verhindern. Zudem ist davon auszugehen, dass wir auf keine propositonalen Wissensformate zurückgreifen, wenn wir diese Tätigkeiten ausführen. In einigen Fällen mögen uns diese zum Erlernen der entsprechenden Tätigkeit gedient haben, aber das bedeutet nicht, dass sie auch in den Tätigkeiten selbst manifestiert werden – sie könnten längst vergessen sein. Darüber hinaus gibt es zahlreiche andere Lernmethoden, die nicht auf der Vermittlung propositionaler oder expliziter Wissensbestände beruhen.40 Dass auch Tiere oder Kleinkinder, die (noch) nicht über eine natürliche Sprache verfügen können, intelligente Bewegungsabläufe ausführen können, legt die Vermutung nahe, dass es Formen praktischen Wissens gibt, für die keinerlei propositionale Repräsentationen notwendig sind.
3.4.5 Bildhafte Repräsentationen Die Vorstellung, dass mit bildhaften Repräsentationen eine eigene Form von Wissensformaten herausgestellt werden kann, soll zunächst durch eine intuitive Unterscheidung motiviert werden: Bilder sind Bilder von etwas. Ein Bild des Bochumer Bergbaumuseums oder meiner Großmutter Emilie steht für etwas Bestimmtes: im ersten Fall für ein Gebäude, im zweiten für eine ganz bestimmte verstorbene Person. Sprachlich formulierte Aussagen funktionieren hingegen symbolisch. Sie stellen keine Bilder von etwas dar, sondern haben Bedeutungen. Sprache und Bilder sind also zwei verschiedene Darstellungsformen. Für die These, dass dieser Unterschied sich auch auf der repräsentationalistischen Ebene wiederspiegelt, sprechen sich eine Reihe von Autoren aus. Als
40 Vgl. hierzu auch Cleeremans 1996.
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Beispiel werde ich die von Allan Paivio vorgestellte „Theorie der dualen Kodierung“ („Dual-Coding-Theory“) diskutieren. Die Kernidee dieser Theorie ist äußerst einfach: Paivio postuliert, dass der menschliche Geist im Wesentlichen mit zwei verschiedenen Klassen mentaler Repräsentationen operiert, mit verbalen Repräsentationen einerseits und mentalen Bildern andererseits, und dass unser Gedächtnis somit zwei zwar miteinander interagierende, aber funktional unabhängige Systeme oder Speicher bereitstellt: ein verbales und ein bildhaftes Gedächtnis. Gemäß Paivio beruhen mentale Bilder weitestgehend auf analogen Repräsentationen, Sprache hingegen auf abstrakten (bzw. propositionalen).41 Mit analogen Repräsentationen nehmen wir auf bestimmte Umweltstimuli in einem Modus Bezug, der sich hauptsächlich auf perzeptuelle Merkmale bezieht, die der Beobachtung entstammen. So können etwa das Gesicht einer Person, die Anordnung der Möbel eines Zimmers oder Bewegungsabläufe von Handlungen repräsentiert werden. Mithilfe der Theorie der dualen Kodierung können eine Reihe von empirisch nachgewiesenen Phänomenen überzeugend erklärt werden. Ein Beleg für diese Theorie wird durch so genannte „Interferenzeffekte“ gegeben, der auftritt, wenn Personen versuchen, zwei mentale Aufgaben zu lösen, die sich beide auf Repräsentationen einer Kodierung beziehen.42 Unter solchen Umständen ist das Ergebnis der Versuchspersonen messbar schlechter als in dem Fall, in welchem sie versuchen, zwei Aufgaben zu lösen, die jeweils die beiden verschiedenen Kodierungen verlangen. Dies spricht dafür, dass bildhafte und sprachliche Kodierungen jeweils unterschiedlichen Verarbeitungssystemen zugeordnet werden können, die sich nicht überlagern. Bildhafte Repräsentationen werden durch drei Merkmale charakterisiert: (1) durch ihre Perspektivität oder Modularitätsspezifik, (2) durch einen signifikanten Grad der Isomorphie zwischen der Repräsentation und dem repräsentierenden Objekt, und (3) durch eine analoge Codierung der betreffenden Information.43 Diese Charakterisierung stützt sich einerseits auf die bereits bei Betrachtung der Theorie der dualen Kodierung erwähnten empirischen Befunde, die darauf hinweisen, dass verschiedene Teile des Gehirns für die Verarbeitung von verbaler und visueller Information zuständig sind und Information jeweils in einer unterschiedlichen Art und Weise verarbeitet wird. Andererseits beruft sie sich auf empirische Befunde, die nahelegen, dass die auf Vorstellungsbildern beruhenden Informationen in derselben Weise repräsentiert und verarbeitet werden wie
41 Vgl. Paivio 1990, S. 154f. sowie Solso 2005, S. 269ff. 42 Vgl. Paivio 1990, S. 16ff. 43 Eine ähnliche Charakterisierung wird auch von François Recanati vorgestellt (vgl. Recanati 1993).
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perzeptuelle Informationen.44 Auch wenn das Augenmerk in der Literatur hauptsächlich auf visuellen Bildern liegt, sollten wir uns nicht auf sie beschränken, sondern auch Repräsentationen anderer Modularitäten zulassen. Ebenso wie bei sensomotorischen Repräsentationen ist es auch bei mentalen Bildern über Handlungen angebracht, nicht von statischen, distinkten Zuständen auszugehen, sondern von Bildsequenzen, die eine bestimmte Zeitspanne in Anspruch nehmen. Es ist hilfreich, zur Systematisierung mentaler Bilder die Unterscheidung zwischen der Dritte-Person- und der Erste-Person-Perspektive heranzuziehen: Was Marc Jeannerod unter der Bezeichnung „motorische Imagination“ („motor imagery“) zu fassen sucht, ist ein Prozess in der Perspektive der ersten Person, der auf selbstbezügliche Repräsentationen während einer bestimmten Handlung bezogen ist.45 Die zugehörigen mentalen Bilder beziehen sich folglich hauptsächlich auf kinästhetische Repräsentationen von Handlungsabläufen. Auf der anderen Seite stehen bestimmte Vorstellungsbilder einer Handlung, die auf Repräsentationen aus der Dritte-Person-Perspektive beruhen, d.h. die durch die Beobachtung von bestimmten Tätigkeiten, die andere Personen ausführen, erzeugt werden. Dieser Unterscheidung liegt die Vorstellung zugrunde, dass mentale Bilder sowohl dann erlebt werden, wenn man die Rolle eines Beobachters einnimmt, indem man eine visuelle Szenerie betrachtet, in der Handlungs- und Bewegungsabläufe sichtbar gemacht werden, als auch „von Innen heraus“, wenn entweder auf den ganzen Körper oder auf einzelne Körperteile bezogene kinästhetische Repräsentationen vorliegen. In der Sportpsychologie werden diese beiden Formen von Vorstellungsbildern als „interne“ und „externe“ Vorstellungsbilder bezeichnet.46 Aus empirischer Sicht spricht viel dafür, dass sowohl die neuronalen als auch die physiologischen Korrelate von perzeptueller Wahrnehmung und visuellen Bildern einerseits sowie von tatsächlich ausgeführten motorischen Bewegungen und motorischen Bildern andererseits weitestgehend identisch sind. Dies möchte ich wiederum anhand einiger Überlegungen Jeannerods aufzeigen. Zwei Thesen sind hierbei von zentraler Bedeutung: (1) Es besteht eine funktionale Äquivalenz zwischen der Vorbereitung eines Bewegungsablaufes und der motorischen Imagination. Insbesondere können motorische Repräsentationen, die bei der motorischen Vorstellung innerhalb der Erste-Person-Perspektive gebildet werden, als „bewusste Gegenstücke“ zu den überwiegend unbewusst ablaufenden motorischen Prozessen, die sie abbilden, aufgefasst werden.
44 Vgl. Anderson 2007, S. 130ff. 45 Vgl. Jeannerod 1997, S. 94ff., sowie Pachérie 2000, S. 409ff. 46 Vgl. Sutton 2007, S. 778.
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(2) Motorische Repräsentationen, die während der Vorbereitung eines Bewegungsablaufes oder der motorischen Imagination einer bestimmten Handlung aktiviert werden, werden auch dann aktiviert, wenn das Subjekt eine andere Person beobachtet, die dieselbe Handlung ausführt.47 Die erste These besagt, dass die bewussten Vorstellungsbilder von Bewegungsabläufen, die wir aus der Erste-Person-Perspektive entwickeln, wenn die zugehörigen Bewegungen verhindert oder verzögert werden, mit denjenigen identisch sind, die repräsentiert werden, wenn Handlungsabläufe vorbereitet werden, aber unbewusst bleiben. Unter normalen Umständen, wenn die sensomotorischen Repräsentationen reibungsfrei in Bewegungen umgesetzt werden, sind sie unserem Bewusstsein nicht zugänglich; nur wenn der gewohnte, fließende Ablauf verhindert wird, haben wir bewussten Zugriff auf sie. Dieser Annahme liegt die Hypothese zugrunde, dass die Simulation einer Bewegung im Hinblick auf die physiologischen und neuronalen Korrelate die gleiche Struktur aufweist wie die ausgeführte Bewegung. Diese Hypothese erweist sich gemäß Jeannerod als konsistent mit den aktuellen empirischen Forschungsergebnissen und ist daher der alternativen Hypothese vorzuziehen, gemäß der nur Bewegungsanfänge, nicht aber ein vollständiger Bewegungsablauf repräsentiert wird. Motorische Bilder repräsentieren die Bewegungen folglich holistisch. Die Dauer der motorischen Imagination entspricht dabei der tatsächlichen Bewegung. Mit der zweiten These drückt Jeannerod aus, dass die visuellen Bilder, die wir in der Dritte-Person-Perspektive aus der Beobachtung von Handlungen und Bewegungsabläufen entwickeln, mit denjenigen motorischen Bildern identisch sind, die unbewusst bei der Planung von Bewegungsabläufen und bewusst bei motorischer Imagination vorliegen. Bildhafte Repräsentationen unterscheiden sich somit dadurch von sensomotorischen Repräsentationen tatsächlicher Bewegungsabläufe, dass wir bewusst auf sie zugreifen können und sie somit für bestimmte Lern- und Lehrprozesse eine entscheidende Funktion einnehmen können. Eine solche Möglichkeit bietet sich im unbewusst ablaufenden sensomotorischen Wissensformat nicht. Motorische Bilder unterscheiden sich allerdings auch von sprachlichen Repräsentationen über Handlungen und Fähigkeiten, da sie nicht begrifflich kodiert sind, sondern im pragmatischen Repräsentationsmodus vorliegen.
47 Vgl. Jeannerod 1997, S. 94ff., sowie Pachérie 2000, S. 418ff.
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3.4.6 Wissen, Lernen, Transformation Wir haben gesehen, dass die Vorstellungsbilder, die während motorischer Imaginationsprozesse gebildet werden, einen bewussten Zugriff auf diejenigen sensomotorischen Repräsentationen ermöglichen, welche Bewegungsabläufen zugrunde liegen. Dadurch, dass bildhafte Repräsentationen sowohl in der ErstePerson-Perspektive als auch in der Dritte-Person-Perspektive hervorgerufen werden können, sind sie nicht mehr völlig kontext- und subjektgebunden, sondern durch eine erste Abstraktionsstufe gekennzeichnet. Im Hinblick auf diese Überlegungen kann das bildhafte Wissensformat durch zwei Kernmerkmale charakterisiert werden: (1) Es liegt eine Objektivierung vor, so dass die Repräsentation der Fähigkeit dem betreffenden Subjekt bewusst verfügbar ist und für Lern- und Trainingsmechanismen eingesetzt werden kann; (2) Trotz dieser Objektivierung fangen die bildhaften Repräsentationen dennoch Nuancierungen und Besonderheiten der individuellen Bewegungsabläufe ein. Bildhafte Repräsentationen erlauben zwar einen ersten bedeutenden Grad der Abstraktion, dennoch bleiben sie feinkörnig und unstrukturiert im Vergleich zu Begriffen einer natürlichen Sprache. Bildhafte Wissensformate sind insbesondere für Lehr- und Lernprozesse von großer Bedeutung. Es lassen sich zahlreiche intuitive Beispiele heranziehen, die dies belegen, etwa bestimmte Lehrer-Schüler-Situationen: Ein Klavierschüler beobachtet Fingerbewegung, Körperhaltung und Anschlag seines Lehrers sehr genau und stellt sich dabei vor, wie es wäre, wenn er selbst diese Bewegungen ausführt. Der Lehrer wiederum beobachtet seinen Schüler beim Vorspielen und stellt sich seine eigenen Bewegungen vor, die er als Maßstab für die Bewertung des Klavierspielens ansetzt. Zudem finden sich in der kognitiven und pädagogischen Psychologie viele Hinweise, die die Bedeutung mentaler Bilder bei Trainings- und Vermittlungsprozessen aufzeigen. Beispielsweise verglichen G. Yue und K. J. Cole das Anwachsen der Muskelstärke, das durch tatsächliches Training – bestimmte Muskelkontraktionen – hervorgerufen wird, mit demjenigen, das durch mentales Training, also durch die bloße Vorstellung der jeweiligen Kontraktionen, bewirkt wird. In beiden Fällen war dieses Anwachsen signifikant feststellbar, wenn auch bei mentalem Training in einer schwächeren Form als bei realem.48 Yue und Cole interpretieren das Ergebnis so, dass die Ausbildung der Muskeln bei mentalem Training in erster Linie nicht das Resultat der Prozesse auf der exekutiven Stufe des motorischen Systems ist, sondern dass neuronale Korrelate auf höherer, planender Stufe sie bewirken.
48 Vgl. Yue & Cole 1992, S. 1124ff.
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Auch „Trial-and-Error“-Lernprozesse können durch die Bezugnahme auf mentale Bilder erhellt werden: Gerade dadurch, dass wir beim Scheitern von Handlungen bewusste motorische Bilder erzeugen, werden Modifizierungen von Handlungsabläufen möglich.49 Bildhafte Vorstellungen nehmen auch bei bestimmten „Antizipationen“ eine bedeutende Funktion ein, die insbesondere in der Sportpsychologie diskutiert werden. Neurowissenschaftliche Untersuchungen legen nahe, dass Antizipationen im Wesentlichen mentale Imaginationen darstellen. Durch mentale Bilder werden zukünftige Bewegungsabläufe simuliert, womit einerseits eigene Bewegungsabläufe gemeint sein können – etwa bei einem Tennisspieler, der sich auf bestimmte Platzverhältnisse einstellt oder einen Netzangriff vorbereitet – oder aber diejenigen anderer Personen – etwa dann, wenn der Tennisspieler eine zu erwartende Aktion des Gegners aus dessen Körperhaltung und Reaktionen extrapoliert. In beiden Fällen werden Sinneseindrücke mit bestehenden Gedächtnisinhalten abgeglichen und dazu verwendet, sich durch möglichst geeignete Bewegungsmuster auf die unmittelbar bevorstehende Situation einzustellen. Dabei sind zu einem großen Teil unbewusste ablaufende Reaktionsmuster beteiligt. Es hat sich gezeigt, dass Antizipation beispielsweise durch mentales Training beeinflusst werden kann, indem die Anzahl und der Grad an Differenzierung der Reaktionsmuster ausgeweitet werden. Durch das Einsetzen von Vorstellungsbildern werden somit unbewusst ablaufende Bewegungsprozesse gezielt kontrolliert, um sowohl Strategien zu verbessern als auch Verletzungsrisiken zu vermeiden.50
3.5 Praktisches Wissen ohne Repräsentation? – Die Phänomenologie des Fertigkeitserwerbs nach Dreyfus In diesem Abschnitt werde ich eine von Hubert L. Dreyfus entwickelte Alternativposition diskutieren, die sich zwar auch auf die These stützt, dass praktisches Wissen in vielen Fällen nicht auf propositionalen Wissensformaten beruht, jedoch einen anti-repräsentationalistischen Ansatz zu verteidigen sucht. Dreyfus behauptet, dass (zumindest einige) praktische Wissensformen überhaupt keine Bezugnahme auf mentale Repräsentationen fordern.51 Er stellt ein Beschreibungsmodell für das Erlernen und Ausführen praktischer Fähigkeiten auf der
49 Vgl. Jeannerod 1997, S. 94ff., sowie Pachérie 2000, S. 418ff. 50 Vgl. Williams & Davids 1999 sowie Chaminade et al 2001. 51 Vgl. Dreyfus 2002, S. 368ff.
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Grundlage von verbindenden Elementen aus der Phänomenologie von MerleauPonty und theoretischen Modellen der modernen Kognitionsforschung vor. Hierbei stützt er sich im Wesentlichen auf zwei Schlüsselkonzeptionen MerleauPontys: auf die Vorstellung des „intentionalen Bogens“ („intentional arc“) und auf den „bestmöglichen Anhalt“ („maximal grip“).52 Das Konzept des intentionalen Bogens habe ich bereits vorgestellt. Kurz gefasst wird durch den intentionalen Bogen die enge Verbindung zwischen Mensch und Umwelt ausgedrückt, die sich in impliziten Bewegungsabläufen durch eine fließende Harmonie ausdrückt. Auch mit dem Begriff des Anhalts verweist Merleau-Ponty auf einen Prozess, der durch ein Wechselspiel zwischen Subjekt und Umweltbedingungen gekennzeichnet ist.53 Der Körper liefert uns laut Merleau-Ponty bestimmte Anhaltspunkte dafür, wie wir in unbekannten Situationen Bewegungen auszuführen haben. Der Begriff des Anhalt betont in dieser Weise die Tendenz des Körpers, sich bestmöglich auf neuartige Situationen einzustellen und seine Bewegungen so zu verfeinern, dass er sich einer optimalen Gestalt annähert. Dreyfus behauptet, dass eine phänomenologische Beschreibung des Fähigkeitserwerbs bestätigt, dass praktische Fähigkeiten durch eine immer feinere Unterscheidung von Situationen verknüpft mit entsprechenden intelligenten Reaktionsweisen konstituiert werden. In einem fünfstufigen Modell beschreibt er, wie sich aus phänomenologischer Perspektive unser Verhältnis zur Welt verändert, wenn wir solche Fähigkeiten erwerben.54 Auf der ersten Stufe, dem „Novizenstadium“, sind wir als blutige Anfänger mit der zu lernenden Tätigkeit noch nicht vertraut und können auf keinerlei Erfahrungen zurückgreifen. In dieser Phase lernen wir beispielsweise die von einem Lehrer vorgegebenen, kontextfreien Regeln und Handlungsanweisungen, die wir unhinterfragt akzeptieren. Wir wissen nicht, welche Regeln wir in einer gegebenen Situation verwenden können und handeln sehr langsam, weil wir uns alle gelernten Maximen ins Gedächtnis rufen. Als „fortgeschrittene Anfänger“ beginnen wir auf der Grundlage unserer Erfahrungen, Schlüsselmerkmale bestimmter Situationen wahrzunehmen und die gelernten Regeln kontextabhängig anzuwenden. Fertigkeiten werden nun flexibler und variabler. Im darauf folgenden „Kompetenzstadium“ kennen wir die für verschiedenartige Kontexte relevanten Merkmale und Regeln und können bereits auf ein ganzes Spektrum von Erfahrungssitua-
52 Vgl. Ebd. 53 Vgl. Merleau-Ponty 1966, S. 143 sowie S. 163–4. 54 Vgl. Dreyfus 2002, S. 386ff. Dreyfus’ Modell kann als differenziertere, aus phänomenologischer Perspektive entwickelte Form des Fähigkeitsmodells von Fitts (1964) betrachtet werden. Fitts unterscheidet drei Stufen, (1) die kognitive Stufe, (2) die assoziative Stufe und (3) die autonome Stufe. Vgl. Fitts 1964 sowie Anderson 2007, S. 333ff.
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tionen zurückgreifen. Wir haben einen Überblick über die Gesamtsituationen und die Wirkungen, die unsere Bewegungen haben werden, und können in unserem Gebiet selbständig handeln, Strategien entwickeln, Ziele abstecken und Probleme lösen. Wir nehmen folglich einen anderen Standpunkt ein als Anfänger, da wir unsere Handlungsabläufe einer Selbstkritik unterziehen können. Allerdings vollziehen sich Entscheidungen, die wir in dieser Lernphase treffen, noch relativ mühsam. Die nächste Stufe, die des „gewandten Könnens“, ist daher dadurch ausgezeichnet, dass wir Entscheidungen mit größerer Spontaneität und Intuition treffen können. Wir können Situationen sehr detailliert und facettenreich individuieren und schrittweise Lösungsverfahren entwickeln, die in den konkreten Kontext passen. Unsere anfangs gelernte „Theorie“ der Fähigkeit geht graduell in das Zusammenspiel von ganzheitlicher Wahrnehmung der feinkörnig unterschiedenen Situationen und assoziierten Bewegungen über. Allerdings ist es auf dieser Stufe so, dass wir noch für jede wahrgenommene Situation Entscheidungen treffen müssen, was am besten zu tun ist. Diese Entscheidungsfindung wandelt sich auf der letzten Stufe, der des „Experten“. Als Experten sehen wir nicht nur, was in einem gegebenen Kontext am besten zu tun ist, wir sehen auch sofort, wie das Ziel erreicht werden kann. Wir haben unsere praktische Fähigkeit vollständig „verinnerlicht“: Wir wissen, was zu tun ist, ohne uns auf bewusste Überlegungen oder Entscheidungen zu beziehen. Die fünf Stufen des Fähigkeitserwerbs können an einem Beispiel veranschaulicht werden. Angenommen, Andreas lernt Tennis zu spielen. Als blutiger Anfänger wird er zunächst einige allgemeine Regeln lernen, etwa die, dass man den Ball beim Aufschlag in eine bestimmte Höhe wirft und sich in einen bestimmten Winkel zum Feld stellt, oder dass man bei der Rückhand den Schlägergriff ändert, usw. Als fortgeschrittener Anfänger beginnt Andreas, Schlüsselmerkmale von Erfahrungssituationen auf dem Tennisfeld zu erkennen. Er lernt zum Beispiel, die Geschwindigkeit und den Drall des Balls, also kontextabhängige Größen, die sich nicht in allgemeinen Regeln fassen lassen, richtig einzuschätzen. Als kompetenter Tennisspieler kann Andreas auf eine Reihe unterschiedlicher Erfahrungen zurückblicken: Er hat gelernt, Situationen sehr feinkörnig zu differenzieren, kann zum Beispiel die Geschwindigkeit und Orientierung des Balls unter verschiedenen Witterungsbedingungen einschätzen und seine Körperhaltung und Schlagkraft kontrollieren. Allerdings werden seine Bewegungen jeweils noch von bewussten Situationseinschätzungen und Überlegungen gesteuert. Er konzentriert sich noch stark auf einzelne Bewegungen – etwa einen einzelnen Schlag, mit dem er den Ball über das Netz bringen möchte – und kann noch nicht besonders vorausschauend Spielen. Als erfahrener Tennisspieler sind Andreas’ relevante Beobachtungen und Bewegungen die Bestandteile eines fließenden Prozesses. Er lernt, relevante Merkmale – bei-
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spielsweise Ballhöhe und -geschwindigkeit, Reaktionen des Gegners oder Wirkungen eines Schlages bei minimalen Veränderungen der Körper- und Schlägerhaltung – einzuschätzen. Allerdings ist es auf dieser Stufe noch so, dass Andreas zwar alle relevanten Merkmale sofort erkennt, jedoch noch entscheiden muss, welche seiner zahlreichen und vielfältigen Bewegungsmöglichkeiten die beste Reaktion auf die Situation darstellt. Antizipationen spielen eine bedeutende Rolle auf dieser Stufe. Sie werden allerdings noch bewusst angestoßen. Als Experte verlässt sich Andreas ganz auf seine Intuition. Er erkennt sofort, welche Bewegung die spezifische Situation erfordert und reagiert jeweils, ohne dass er bewusste Überlegungen über seine Position auf dem Feld, die Schläger- und Körperhaltung oder über andere kontextspezifische Umstände anstellen muss. Andreas „fühlt“ einfach, dass seine Schlägerbewegung und seine Körperhaltung „richtig sind“. Fähigkeiten wie die des Tennisspielens können als intelligente Handlungen eingestuft werden, da sie sich von Reflexen und mechanischen Reaktionen dadurch unterscheiden, dass sie auf erlernten und trainierten Bewegungssequenzen beruhen. Und dennoch stützen sich diese Fähigkeiten laut Dreyfus auf keinerlei mentale Repräsentation. Vielmehr werden sie, so Dreyfus, durch eine „motorische Intentionalität“ konstituiert, die im Gegensatz zu einer „repräsentationalen Intentionalität“ steht.55 Dreyfus argumentiert auf der Grundlage dieser fünfstufigen Beschreibung des Fähigkeitserwerbs dafür, dass von der ersten bis zur letzten Stufe keine mentalen Repräsentationen von Ziel, Zweck, Plan oder Absicht notwendig sind, da eine umfassende Erklärung der Stufen durch die von Merleau-Ponty geprägten Begriffe des „intentionalen Bogens“ und des „Anhalts“ gegeben werden kann. Zumindest einige Handlungen, so lautet das Argument, beruhen auf jahrelangem Training und erlernten Reaktionen, die durch die Interaktion mit der Umwelt selbst hervorgerufen werden und keine Repräsentationen erfordern. Merleau-Ponty zufolge repräsentiert der Lernende seine Erlebnisse nicht, sondern nimmt sie als Situationsbegebenheiten wahr. Diese Begebenheiten versucht er so lange zu verfeinern und zu filtern, bis er eine schlüssige Einschätzung der Lernsituation und eine angemessene Reaktion auf diese Situation entwickelt hat. Durch das Konzept des intentionalen Bogens drückt MerleauPonty dieses dynamische Rückkopplungssystem zwischen Körper und Umwelt aus. Wenn wir beispielsweise ein Glas mit den Händen zu greifen versuchen oder ein Bild an der Wand betrachten möchten, dann versuchen wir das jeweils
55 Vgl. Ebd., S. 377ff. Auch den Begriff der motorischen Intentionalität übernimmt Dreyfus von Merleau-Ponty. Vgl. hierzu auch Shustermann 2003, S. 705f.
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mit dem bestmöglichen „Anhalt“, mit einer geeigneten Krümmung der Hand, die eine stabile Bewegung ermöglicht oder mit dem angemessenen Abstand und Winkel des Blicks auf das Bild. Dieser bestmögliche Zugriff beruht gemäß Merleau-Ponty nicht auf mentalen Repräsentationen, sondern verdankt sich allein der Beschaffenheit des menschliches Körpers. Wir müssen keine bewussten Berechnungen oder irgendwelche anderen Überlegungen anstellen, da unserem Körper die Tendenz innewohnt, stets die optimale Beziehung zwischen sich und der Umwelt herzustellen. Dreyfus versucht zudem, die Phänomenologie Merleau-Pontys mit modernen theoretischen Modellen aus den Kognitionswissenschaften zu verbinden. Als wesentliche Bezugspunkte dienen ihm hierzu bestimmte kognitivistische Modelle: einerseits das so genannte Modell der „Feed-forward Neuronalen Netzwerke“ und andererseits die „Attraktortheorie“ von Walter J. Freeman. „Feedforward“-Netze sollen eine Erklärung dafür liefern, wie vergangene Erlebnisse und Eindrücke unser gegenwärtiges Wahrnehmen und Handeln beeinflussen, ohne dass das Gehirn dafür spezifische Erinnerungen abspeichern muss. Erinnerungen werden im Rahmen dieses Modells nicht „gespeichert“ und mit sensorischen Inputs in Bezug gesetzt. Vielmehr werden die Verbindungen zwischen Neuronen des Netzes so modifiziert, dass der Input einen angemessenen Output hervorruft.56 Freemans Attraktor-Theorie soll laut Dreyfus das Konzept des Anhalts einfangen; sie beschreibt, wie Verhalten durch Gehirnzustände kontrolliert wird, ohne dass dabei auf Repräsentationen über Körperzustände Bezug genommen wird. Vielmehr geht Freeman davon aus, dass unser Gehirn in Lernsituationen, die von Erfolg und Scheitern geprägt sind, neuronale Verbindungen knüpft und stärkt. Auf der Grundlage chaostheoretischer Modelle und empirischer Befunde mit Hilfe von bildgebenden Verfahren argumentiert Freeman, dass es sich beim Lernen nicht um ein regelmäßiges Reiz-Reaktions-Schema handelt, sondern jedem Stimulus charakteristische Wellenformen zugeordnet werden. Ähnliche Stimuli erzeugen hierbei keine ähnlichen Wellenformen; die Zuordnung von Sinneseindruck und Wellenform ist vielmehr durch globale chaotische Vorgänge gekennzeichnet. Die entsprechenden Muster sollen deshalb nicht als symbolische Repräsentationen von Reizen aufgefasst werden, sondern als das Ergebnis von Bedeutungen, die ein Stimulus für das Individuum im Laufe der Zeit gewonnen hat. Das Attraktor-Modell beschreibt somit ein von Kontext und individuellem Organismus abhängiges Lernmodell, das ohne die Annahme symbolischer Repräsentationen auskommen soll.
56 Für eine detailliertere Beschreibung siehe Dreyfus 2002, S.374f. und Freeman 1991, S. 78ff.
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Im Folgenden werde ich einige Einwände gegen die Argumentation von Dreyfus darlegen. Außerdem möchte ich zeigen, dass die dreigliedrige Theorie von Wissensformaten einige zentrale Kritikpunkte, die Dreyfus gegen repräsentationalistische Ansätze vorbringt, entkräften kann. Der zentrale Einwand gegen das von Dreyfus vorgebrachte Argument ist, dass seine Stoßrichtung nicht die zentralen Behauptungen von Repräsentationalisten berührt. Repräsentationalisten sind nicht auf die Annahme festgelegt, dass alle Abstraktionsstufen einer Beschreibung des Lernens intelligenter Tätigkeiten durch die Bezugnahme auf symbolische Repräsentationen schlüssig sind. Das fünfstufige Modell und der Verweis auf die Überlegungen Merleau-Pontys reichen also keineswegs für eine Zurückweisung neuartiger repräsentationalistischer Modelle aus, da sie in einer Ebene entwickelt werden, die für den Disput zwischen Repräsentationalisten und Anti-Repräsentationalisten nicht entscheidend ist.57 Auch die auf Freeman zurückgehenden Modelle der Informationsverarbeitung sind kein schlagendes Argument gegen Repräsentationalisten. Was die Modelle nahelegen, ist die Tatsache, dass grundlegende Lernprozesse praktischer Fähigkeiten nicht auf propositionalen bzw. symbolischen Repräsentationen beruhen. Aus dieser Tatsache folgert Dreyfus aber zu vorschnell, dass bei diesen Lernprozessen überhaupt keine Repräsentationen eine Rolle spielen.58 Darüber hinaus ist ein Ansatz, der völlig ohne Bezugnahme auf Repräsentationen auskommen will, mit dem Problem konfrontiert, für intelligente Verhaltensweisen eine Erklärung zu finden, die ein geeignetes Abgrenzungskriterium für nicht-kognitive Bewegungsmuster, für mechanische Reaktionen und Reflexe bereitstellt.59 Dreyfus müsste aufzeigen, dass Fähigkeiten, über die wir eine gewisse Kontrolle haben, allein durch unsere Bezugnahme auf aktuale Umweltbedingungen erklärt werden können. Durch den Verweis darauf, dass intelligente Tätigkeiten weder sprachbasierte Repräsentationen über die entsprechenden Bewegungsabläufe einschließen noch von bewussten Repräsentationen über Ziele und Absichten angestoßen werden müssen, stellt er zwar einen wichtigen Punkt heraus. Das reicht jedoch nicht zur Rechtfertigung eines anti-repräsentationalistischen Ansatzes aus, da die von ihm angeführten Prozesse – etwa die Verhaltensweisen des Tennisspielers – in alternativen repräsentationalistischen Modellen durchaus angemessen erklärt werden. Das gilt insbesondere für das Modell dreier Wissensformate: Zum einen kann die motorische Intentionalität, von der Dreyfus spricht, durch sensomotorische Repräsentationen erklärt wer-
57 Vgl. hierzu auch Antony 2002a, S. 395ff., Rey 2002, S. 403ff. 58 Vgl. hierzu auch Clark 2002, S. 385ff. 59 Vgl. hierzu auch Antony 2002a, S. 396ff.
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Wissensformen und Wissensformate
den. Zum anderen wurde bereits deutlich gemacht, dass nicht jede Handlung durch eine bewusste Absicht angestoßen wird, sondern auch durch die Einbindung in ein übergeordnetes intentionales Projekt ihren Status als intentionale Handlung erhalten kann.60 Damit können die von Dreyfus beschriebenen Fähigkeiten von bloßen Reflexen abgegrent werden. Diesen Überlegungen scheint Dreyfus nichts in den Weg zu stellen, da er selbst einen nicht-symbolischen, „schwachen“ Sinn von Repräsentation zuzulassen scheint. An seiner Beschreibung des Attraktor-Modells wird dies deutlich: The attractor could be called a representation only in the very weak sense that it does incorporate past experience and leads to action on the bases of that past experience.61
Dreyfus ist also darin zuzustimmen, dass der Tennis-Spieler keinesfalls die Regeln seines Handelns in einer begrifflichen, bewussten Form repräsentieren muss. Axel Cleeremans weist aus psychologischer Perspektive darauf hin, dass Lernmodelle, die sich ausschließlich auf symbolische Repräsentationen stützen und eine so genannte „Schattentheorie impliziten Lernens“ verteidigen, keine überzeugenden Erklärungen für das Erlernen von Fähigkeiten liefern können.62 Allerdings berücksichtigt Dreyfus nicht die Möglichkeit, dass die von ihm aufgezeigten Lernprozesse im Rahmen einer differenzierteren repräsentationalistischen Theorie angemessen interpretiert werden können. Die fünf Stufen, die Dreyfus beschreibt, könnten als Transformationsstufen des Wissensformats gedeutet werden. Ein anfangs propositionales Wissensformat wird durch praktisches Training und unterschiedlichste Erfahrungen in ein sensomotorisches Wissensformat überführt. Auch die Rolle bildhafter Repräsentationen für diesen Übergang wird von Dreyfus’ Modell eingefangen. An dieser Stelle sei zudem angemerkt, dass eine Beschreibung der Phänomenologie des Fähigkeitserwerbs durch ein repräsentationalistisches Modell nicht voraussetzt, dass die Lernvorgänge ausschließlich über die mentalen Repräsentationen beschrieben werden können. Gerade bei paradigmatischen motorischen Fähigkeiten wie dem Tennisspielen kommen körperlichen Veränderungen – beispielsweise Muskelbildungen – die im engen Sinne nicht Geist oder Gehirn zuzuordnen sind, eine zentrale Funktion zu.
60 Vgl. Abschnitt 3.3, in dem ich das Konzept des übergeordneten intentionalen Projekts erläutere. 61 Dreyfus 2002, S. 383. 62 Vgl. Cleeremans 1996, S. 199f.
Wissenssubjekte
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3.6 Wissenssubjekte Wir haben gesehen, dass die in den ersten beiden Kapiteln beleuchteten Debatten fast überwiegend menschliches Wissen in den Vordergrund stellen. Allerdings berühren sie an einigen Stellen die Frage, ob die oft als selbstverständlich vorausgesetzte Annahme, dass es sich bei Wissenssubjekten ausschließlich um Menschen handelt, gerechtfertigt ist. Dies zeigte sich etwa beim Streit zwischen internalistischen und externalistischen Rechtfertigungsauffassungen, bei der Diskussion um den Naturalismus in der Erkenntnistheorie oder schließlich bei der Frage um den Status praktischer Wissensformen. Die Frage, ob auch (nicht-menschliche) Tiere, künstliche Systeme oder andere unbelebte Gegenstände über Wissen verfügen können, wird in der Erkenntnistheorie, in der Philosophie des Geistes und in den Kognitionswissenschaften insbesondere seit den letzten Jahrzehnten sehr intensiv diskutiert. Ich kann an dieser Stelle nicht alle Debatten, die sich um diese Frage drehen, aufgreifen und eigenständig analysieren. In diesem Abschnitt möchte ich nur einige wenige Überlegungen im Bezug auf die Zusammenhänge der in dieser Arbeit vorgestellten Position einerseits und der Frage nach Wissenssubjekten andererseits anstellen.63 Eine Ausweitung des Wissensbegriffs, für die ich in dieser Arbeit plädiere, ist zwangsläufig mit der Frage konfrontiert, ob auch nicht-menschliche Wissenssubjekte zugelassen und welche Anforderungskritierien für Träger von Wissen herangezogen werden. Insbesondere die Bezugnahme auf den Repräsentationsbegriff verdeutlicht dies: Als Repräsentationsvehikel können beispielsweise der Zeiger einer Tankuhr oder eines Thermostats aufgefasst werden, bilden diese doch einen bestimmten Zustand der Welt (den Tankfüllstand oder die Temperatur) in einer reliablen Weise ab. Wird der Repräsentationsbegriff einer Wissenstheorie zugrunde gelegt, drängt sich somit die Frage auf, ob Tankuhr oder Thermostat vor diesem Hintergrund als Wissenssubjekte zu betrachten sind. Bei den erkenntnistheoretischen Debatten über propositionales und praktisches Wissen zeigt sich, dass der Wissensbegriff eng an die Begriffe der Hand-
63 Die Vorstellung von überindividuellen Wissensträgern, die beispielsweise im Rahmen des so genannten „kollektiven Wissens“ (vgl. Lehner 2009, S.59 ff.) angenommen werden, dem insbesondere im Wissensmanagement eine bedeutende Rolle eingeräumt werden, werde ich hier nicht berücksichtigen. Zwar könnte man durchaus behaupten, dass auch bestimmte Kollektive Handlungen ausführen und somit auch sie als Wissenssubjekte gelten können. Eine angemessene Individuierung und Spezifizierung solcher kollektiver Handlungen und somit ein Vergleich dieser postulierten Wissenssubjekte mit individuellen Trägern von Wissen kann jedoch im Rahmen dieser Arbeit nicht geleistet werden.
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Wissensformen und Wissensformate
lung und des Verhaltens geknüpft ist. Was wir über die Welt oder über bestimmte Handlungsweisen wissen, bestimmt maßgeblich die Art und Weise, wie wir uns verhalten. Eine Mindestanforderung für Wissenssubjekte sollte daher in meinen Augen darin bestehen, dass sie zu minimal flexiblen Verhaltensweisen fähig sind, die ihrer Kontrolle unterliegen und von bloßen Reflexen abgegrenzt werden können. Demzufolge muss eine Verbindung bestehen, die aufzeigt, dass durch die Manifestation von Wissen das Verhalten des Organismus beeinflusst wird. Bei Reflexen und anderen vollständig determinierten Verhaltensweisen kann eine solche Verbindung nicht nachgewiesen werden. Diese Anforderung hängt mit der Vorstellung zusammen, dass man Wissenssubjekten so genannte „intentionale Zustände“ zuschreiben kann, d.h. Zustände, die sich auf etwas in der Welt (auf Gegenstände, Sachverhalte oder Ereignisse) beziehen. Intentionale Zustände ermöglichen es uns, die Welt aus unserer Perspektive wahrzunehmen und unser Handeln dementsprechend auszurichten und anzupassen. Verfügen Tiere über intentionale Zustände? Haben Tiere ein Bewusstsein? Verfügen Tiere über Begriffe oder sprachähnliche Repräsentationen? Diese Fragen werden in jüngerer Zeit sehr intensiv innerhalb des aufblühenden Forschungszweigs zum „Geist der Tiere“ (engl. „Animal Minds“) diskutiert.64 An dieser Debatte sind unterschiedliche Wissenschaftsgebiete beteiligt, etwa die Verhaltensbiologie, die Ethologie oder die Kognitions- und Neurowissenschaften, und die Literatur zu diesem Thema nimmt ein fast unüberschaubares Maß an. Ich kann daher keine tiefgreifende Diskussion über ein vermeintliches Bewusstsein bei Tieren und dessen Zusammenhänge zum Wissensbegriff vornehmen. Dennoch möchte ich einige Bemerkungen anführen, die für diese Arbeit relevant sind: Die Position, für die ich argumentiere, schließt Tiere als mögliche Wissenssubjekte nicht aus. Wir haben bei der Beschreibung nicht-begrifflicher Repräsentationen gesehen, dass diese auch auf tierisches Verhalten bezogen werden können. Zudem liegt es nahe, insbesondere basale sensomotorische Fähigkeiten als etwas aufzufassen, das Menschen und Tieren gleichermaßen zukommt. Doch eine vorschnelle Gleichsetzung des jeweiligen praktischen Wissens schlägt fehl. Und zwar aus zwei Gründen: Erstens impliziert eine strukturelle Ähnlichkeit bestimmter Verhaltensweisen nicht, dass es sich in beiden Fällen um ein praktisches Wissen handelt. Ich habe praktische Wissensformen durch bestimmte Normen charakterisiert. Schreibt man Tieren solche Wissensformen zu, so muss man sich fragen, wie diese sich zu Normen verhalten. Es ist daher noch weitere argumentative Arbeit nötig, um eine Zuschreibung von Wissen (oder zumindest von einer Vorform des Wissens) bei
64 Vgl. hierzu Griffen 2001 sowie Perler & Wild 2005.
Wissenssubjekte
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Tieren zu rechtfertigen. Zweitens werden eine Reihe menschlicher Fähigkeiten von einem höherstufigen, sprachlichen Wissen wesentlich beeinflusst, das Tieren nicht zugänglich ist. Insbesondere komplexe, soziokulturell geprägte Fähigkeiten konstituieren eine Form praktischen Wissens, die dem Menschen eigen ist. Musikalische Wissensformen werde ich im nächsten Kapitel als paradigmatisches Beispiel für solche Fähigkeiten diskutieren. Aus dieser Perspektive erscheint die Annahme plausibel, dass es durchaus eine Schnittmenge praktischer Fähigkeiten bei Mensch und Tier gibt, dass aber praktisches Wissen keinesfalls etwas darstellt, das beiden gleichermaßen zukommt. Wie verhält es sich nun mit unbelebten Dingen? Einige Vorschläge, auch materiellen Gegenständen, insbesondere Artefakten, Wissen zuzuschreiben, liegen aus unterschiedlichen Perspektiven vor. In der Alltagssprache finden wir oft die Redeweise von einem Wissen, das in bestimmten Gegenständen „stecken“ soll. Im Bezug auf technische Geräte, etwa einen Computer, möchte man damit zum Ausdruck bringen, dass die Entwicklung dieses Artefakts nur durch eine Menge an Wissensbeständen und Fähigkeiten unterschiedlicher Personen möglich war. Es gibt einige Zugänge zu einem Verständnis von Wissen und Erkenntnis, die diese Redeweise nicht nur metaphorisch auffassen. Hierfür sind etwa David Bairds so genannte „materielle Erkenntistheorie“65 oder auch HansJörg Rheinbergers Auffassungen von so genannten „epistemischen Dingen“66 Beispiele. Allerdings unterscheiden sich diese Zugänge grundlegend von der traditionellen Vorstellung des Wissens in der philosophischen Erkenntnistheorie. Meiner Ansicht nach gibt es gute Gründe, materielle Objekte nicht als Wissenssubjekte aufzufassen, da wir ihnen in der Regel keine intentionalen Zustände zuschreiben. Das bedeutet aber nicht, dass diesen Objekten überhaupt keine Bedeutung für Wissensprozesse zukommt. Insbesondere bei der Ausführung einiger paradigmatischer Fähigkeiten spielen materielle Gegenstände eine zentrale Rolle, sei es im Fall von Sportarten oder von musikalischen Fertigkeiten, die sich auf Sportgeräte oder Instrumente beziehen.67 Bei dieser Betrachtung sollte natürlich nicht vergessen werden, dass in der Künstliche-Intelligenz-Forschung die Frage diskutiert wird, ob und inwiefern
65 Baird plädiert für ein neues Verständnis von Wissen, demzufolge dieses nicht auf der Grundlage des Überzeugungsbegriffs oder mentaler Zustände bestimmt wird. Auch materielle Gegenstände sind Baird zufolge legitime Wissensträger. Diese These versucht er anhand des Beispiels eines von Thomas Davenport erfundenen elektromagnetischen Motors plausibel zu machen (vgl. Baird 2002). 66 Vgl. hierzu Rheinberger 2001. 67 Für einen Vorschlag, wie unser Wissen im Bezug auf Artefakte genauer zu charakterisieren ist, vgl. Houkes 2006.
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Wissensformen und Wissensformate
nicht auch im Bezug auf künstliche Agenten die Annahme einer bestimmten Form von Intentionalität berechtigt ist.68 Dieser Frage kann ich hier nicht ausführlich nachgehen. Falls in der Zukunft Roboter oder ähnliche künstliche Agenten entwickelt werden sollten, welche kontrolliertes und intelligentes Verhalten zeigen, das einen Verweis auf intentionale Zustände erlaubt, spricht prinzipiell nichts dagegen, auch solche Agenten als Wissenssubjekte aufzufassen. Dennoch müsste man auch hier die Frage untersuchen, inwiefern ihre Verhaltensweisen auf eine normative Ebene bezogen werden können.
3.7 Wissensformen in anderen Wissenschaften Die Philosophie ist nicht die einzige Wissenschaft, in der eine Dichotomie zwischen einer praktischen und einer propositionalen oder theoretischen Wissensform diskutiert wird. Wir haben bereits gesehen, dass in der Diskussion um praktische Wissensformen auch Dichotomien aus anderen Wissenschaften einbezogen werden. In zahlreichen anderen Fachgebieten, die die menschliche, tierische oder künstliche Kognition als Forschungsgegenstand haben, wird für oder wider die Unterscheidung der beiden Wissensformen argumentiert. Die Einordnung und Bewertung von Theorien, die Wissenspaare einander gegenüber stellen, erweist sich nicht nur aus dem Grund als sehr schwierig, weil es so viele verschiedene, nicht deckungsgleiche Konzeptionen gibt, sondern schon deswegen, weil diese Begriffspaare in den meisten Kontexten heuristisch verwendet und mit anderen vermeintlich synonymen Begriffen ausgetauscht werden, ohne dass sie explizit definiert werden. Zudem kann auch in anderen Wissenschaften genau das festgestellt werden, was sich im ersten Kapitel bei der Beleuchtung der aktuellen Debatte in der Philosophie zeigte: Meist verweben sich Explikations- und Reduktionskontroversen sowie die Frage nach der methodologischen Grundlage für eine Rechtfertigung oder Zurückweisung der jeweiligen Begriffspaare. Daher soll hier keine erschöpfende Analyse der jeweiligen Dichotomien und Konzepte erfolgen. Vielmehr möchte ich einige grundlegende Probleme, die die Diskussion um Wissensformen generell betreffen, anhand einiger ausgewählter Beispiele herausstellen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Unterscheidung von Wissensformen anhand sehr unterschiedlicher Kriterien getroffen werden kann:69 Ei-
68 Vgl. hierzu Chopra & White 2011. 69 Für eine Übersicht über die verschiedene Positionen vgl. Dienes & Perner 1999 sowie Oswald & Gardenne 1984.
Wissensformen in anderen Wissenschaften
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nerseits kann Bezug auf unterschiedliche Verarbeitungsprozesse oder mentale Repräsentationen genommen werden, andererseits auf wesentlich verschiedene Wissensinhalte. Bei einigen wird beispielsweise eine Unterscheidung zwischen dem Wissen über eine mathematische Theorie und dem Wissen über Regeln des Kopfrechnens aufgemacht, weil es einerseits einen theoretischen, andererseits einen praktischen Gegenstand betrifft, obwohl beide Wissenformen als propositional betrachtet werden. Andere unterscheiden beispielsweise ein oberflächlicheres, kurzlebiges Anwendungswissen von einem Tiefenverständnis. Allen gemein ist lediglich die Tatsache, dass sie ein eher theoretisch ausgeprägtes Wissen einer Wissensform gegenüberstellen, die eng an Handlungskompetenz gebunden ist. In der kognitiven Psychologie ist das Wissenspaar des „deklarativen“ und „prozeduralen“ Wissens am weitesten verbreitet.70 Deklaratives Wissen wird hierbei zumeist als Faktenwissen verstanden, das Personen im Gedächtnis gespeichert haben, das sie sich bewusst machen können und das sie in der Regel zu verbalisieren vermögen. Prozedurales Wissen bezieht sich hingegen auf kognitive Mechanismen, die Personen dazu in die Lage versetzen, komplexe kognitive und motorische Handlungen auszuführen, ohne dabei einzelne Bestandteile bewusst zu kontrollieren. Der Status prozeduralen Wissens wird kontrovers diskutiert. Bei einigen Autoren ist damit eine genuin verschiedene Wissensform gemeint, die sich in einem unbewussten, sensomotorischen Wissensformat vollzieht. Andere Autoren fassen prozedurales Wissen hingegen als propositionales Wissen auf, dessen Inhalt in Kriterien oder Regeln von praktischen Tätigkeiten besteht. Auch hier divergieren folglich Ansätze, die die Dichotomie auf der Grundlage von verschiedenen Wissensgehalten begründen und Positionen, die von völlig verschiedenen Verarbeitungsprozessen ausgehen. Argumentativ wird eine Dichotomie von Wissensformen meist mit dem Verweis auf unterschiedliche Gedächtnisfunktionen, also mit dem Verweis auf die Architektur des Gedächtnisses begründet. Dies ist zum Beispiel bei der Gegenüberstellung von „explizitem“ und „implizitem Wissen“ von Daniel L. Schacter der Fall, der die Unterscheidung der beiden Wissensarten wesentlich auf die Unterscheidung von implizitem und explizitem Gedächtnis zurückführt.71 Einige empirische Studien sprechen für diese funktional unabhängigen Gedächtnisaktivitäten. Beispielsweise konnte nachgewiesen werden, dass Patienten, die unter bestimmten Amnesien leiden, dazu fähig sind, prozedurales Handlungs-
70 Vgl. Oswald & Gardenne 1984, S. 173ff. 71 Vgl. Schacter 1987, S. 501ff.
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Wissensformen und Wissensformate
wissen zu erwerben und anzuwenden, ohne dass sie sich an Erwerb und Anwendung bewusst erinnern.72 Bei einigen Autoren wird die Wissensdichotomie nicht nur über unterschiedliche Gedächtnisfunktionen begründet, sondern schlicht mit diesen gleichgesetzt. John R. Anderson etwa trennt die Begriffe des prozeduralen (bzw. deklarativen) Gedächtnisses und des prozeduralen (bzw. deklarativen) Wissens nicht voneinander ab.73 Sven Bernecker weist aus philosophischer Perspektive darauf hin, dass eine begriffliche Trennung zwischen Gedächtnis und Wissen unabdingbar ist, da Gedächtnisgehalte nicht hinreichend für das Vorliegen von Wissen sind. Eine naive Gleichsetzung von Gedächtnis- und Wissensformen erweist sich aus philosophischer Sicht folglich als unzulänglich, da sie den normativen Anforderungen des Wissens nicht Rechnung tragen kann.74 Oft werden Wissensformen auch im Bezug darauf unterschieden, ob sie unserem Bewusstsein zugänglich sind oder nicht.75 Ich habe sensomotorische Wissensformate mit Hilfe von sensomotorischen Repräsentationen beschrieben, die überwiegend unbewusst vorliegen, während sowohl bildhafte als auch propositionale Repräsentationen mit einem bewussten Zugriff auf ihre Gehalte verbunden sind. Im ersten Kapitel habe ich dafür argumentiert, dass die Annahme eines unbewussten, sprachlichen Wissens mit vielen Schwierigkeiten verbunden ist und daher verworfen werden sollte: Es ist zwar sehr plausibel anzunehmen, dass unsere sprachlichen Repräsentationen nicht zu jeder Zeit bewusst vorliegen, dennoch weisen sie eine Struktur auf, durch die ein bewusster Zugriff ermöglicht wird. Daher sollten natürlich alle Wissensbestände als propositional aufgefasst werden, die ein Wissenssubjekt prinzipiell explizieren und formulieren kann. Allerdings ist diese Aussage mit Vorsicht zu genießen: Wo keine konkreten Hinweise auf eine propositionale Kodierung gegeben sind, erweist sich die Redeweise von einem unbewussten propositionalen Wissen als höchst problematisch: wird sie realistisch aufgefasst, so ist sie schlicht falsch; wird sie metaphorisch aufgefasst, so ist sie irreführend. Wir können festhalten, dass sich ein Vergleich der Argumente und Analysen zur Unterscheidung von Wissensarten in unterschiedlichen Wissenschaften als äußerst schwierig erweist: Die jeweiligen Dichotomien und ihre Begründungen sind sehr unübersichtlich und heterogen. An dieser Stelle sollte noch bemerkt werden, dass bei einem Verweis auf Ryle und Polanyi in anderen Wissenschaften Vorsicht geboten ist: Ich habe bereits an einigen Stellen aufgezeigt, dass
72 73 74 75
Vgl. Ebd. Vgl. Anderson 2007, S. 278ff. Vgl. Bernecker 2008, S. 9ff. Vgl. Brakel 2010.
Konklusion: Praktisches Wissen und propositionales Wissen
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Polanyis Konzept des impliziten Wissens oft eine grundlegende Bedeutungsverschiebung erfährt und als ein unbewusstes, aber prinzipiell formalisierbares Wissen aufgefasst wird. Für eine Systematisierung der verschiedenen Wissenspaartheorien ist die Unterscheidung von Wissensform und Wissensformat äußerst hilfreich, können doch Missverständnisse aus dem Weg geräumt werden, die sich hauptsächlich dadurch ergeben, dass nicht geklärt ist, ob jeweils verschiedene Formen des Wissens postuliert werden, oder ob sich die Wissenspaare auf die Ebene mentaler Repräsentationen beziehen. Die meisten der Ansätze aus der Psychologie und den Kognitionswissenschaften sind dieser Ebene zuzuordnen: Sie stehen daher nicht zwangsläufig im Zusammenhang zu Wissensformunterscheidungen in der philosophischen Erkenntnistheorie. Die dreigliedrige Theorie der Wissensformate erlaubt zudem einen differenzierteren Blick auf die Frage, wie wir Informationen mental repräsentieren, als zweigliedrige Theorien, die durch eine Gegenüberstellung sprachlicher Formate einerseits und nicht-begrifflicher Formate andererseits gekennzeichnet sind. Die Bezugnahme auf bildhafte Repräsentation ermöglicht es, die Prozesse, durch die beide Formate miteinander verbunden sind, in den Blick zu nehmen und somit eine Brücke zu schlagen, ohne dass dabei eine Reduzierbarkeit der Wissensformate oder Wissensformen begründet wird.
3.8 Konklusion: Praktisches Wissen und propositionales Wissen – Eigenheiten und Verbindungen Ich habe in diesem Kapitel für eine „echte“ Dichotomie zwischen praktischen und propositionalen Wissensformen argumentiert: Praktisches Wissen ist das Wissen, das uns dazu befähigt, intelligente Handlungen auszuführen. Ein solches Wissen kann nicht auf propositionales Wissen reduziert werden, da es keinen hinreichend spezifizierbaren und objektivierbaren Gehalt aufweist. Die Objekte des praktischen Wissens sind erfolgreiche Handlungsweisen, und ebendiese werden wesentlich durch individuelle Merkmale mitbestimmt. Darüber hinaus sind beide Wissensformen auf unterschiedliche Ziele hin ausgerichtet: Propositionales Wissen auf die Wahrheit, praktisches Wissen hingegen auf Handlungserfolge. Daher habe ich vorgeschlagen, beide anhand idealtypischer Normen zu charakterisieren, die uns zunächst einen Minimalbegriff für beide Wissensformen liefern. Dieser Begriff kann durch weitere spezifische Normen angereichert werden, für die jedoch kein Anspruch auf Allgemeinheit erhoben werden kann. Was folgt aus einer solchen Analyse des praktischen Wissens? Auf der Grundlage unseres praktischen Wissens versuchen wir nicht direkt, wahre Über-
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Wissensformen und Wissensformate
zeugungen über die Welt zu gewinnen. Es dient uns vielmehr dazu, unsere Ziele und Wünsche durch unsere Handlungen zu erreichen. Doch aus diesem Umstand lässt sich meiner Ansicht nach nicht ableiten, dass ein solches Wissen nicht für die Erkenntnistheorie relevant ist. Praktische Wissensformen spielen nicht nur im Alltagsleben eine bedeutende Rolle. Auch für unsere Suche nach der Wahrheit kommt ihnen eine wichtige Funktion zu. Die Frage, wie wir zu wahren Meinungen über die Welt gelangen, ist eng mit der Frage verwoben, wie wir unsere Handlungen ausrichten. Praktische Fähigkeiten und Überzeugungen sollten daher immer in einem engen Zusammenhang betrachtet werden. Nicht nur die Ergebnisse unserer Erkenntnisprozesse (wahre Aussagen über die Welt) sondern auch deren Entstehungsgeschichte und Zusammenhänge sollten daher in der Erkenntnistheorie berücksichtigt werden. Auch wenn praktisches und propositionales Wissen zwei unterschiedliche Manifestationsarten unserer Intelligenz markieren, können sie nur durch eine wechselseitige Bezugnahme angemessen verstanden werden. Anhand der in diesem Kapitel vorgestellten Unterscheidung von Wissensformaten konnten wir einen neuen Blick auf die Verbindungen zwischen beiden Wissensformen gewinnen. Insbesondere bildhaften Formaten kommt eine zentrale Funktion zu: Durch mentale Bilder gewinnen wir einen bewussten Zugriff auf die oft unbewusst ablaufenden Prozesse, die unserem intelligenten Handeln zugrunde liegen. Sie stellen daher ein wichtiges Bindeglied zwischen praktischen Fähigkeiten und einem durch Sprache vermittelbaren Wissen dar. Auf der Grundlage bildhafter Wissensformate können wir unsere Handlungsweisen zu einem Gegenstand theoretischer Überlegungen und intersubjektiver Kommunikation machen. Dieser Transformationsprozess ist für Alltag und Wissenschaft von großer Bedeutung. Mit der in dieser Arbeit entwickelten repräsentationalistischen Theorie können wir somit wichtige Einblicke in die Zusammenhänge zwischen beiden Wissensformen gewinnen, ohne dass damit eine Reduktion begründet wird.
4 Musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten – Ein Anwendungsbeispiel 4.1 Ein Blick auf die kognitive Psychologie der Musik Einige Beispiele für propositionales und praktisches Wissen aus dem Bereich der Musik dienen in diesem Kapitel als Anwendungsfeld für die zuvor entwickelten Argumente und Begrifflichkeiten. Was Musik von vielen anderen Domänen unterscheidet, ist der Umstand, dass wir alle über ein bestimmtes Maß an musikalischem Wissen und musischen Fertigkeiten verfügen, weil wir aufgrund der Zugehörigkeit zu einer Kultur und der Struktur unseres Alltagslebens in musikbezogene Aktivitäten eingebunden sind. Wir erwerben somit eine große Menge unbewusster Fähigkeiten, ohne dass wir eigens geschult werden müssten. Darüber hinaus können die Wege, die zum Erwerb musikalischen Wissens führen, völlig unterschiedlich sein: Im Schulunterricht erwerben wir die Fähigkeit, Noten zu lesen und zu schreiben, und lernen Fakten über Musiker und Musikepochen sowie über die Struktur musikalischer Werke (beispielsweise die Sonatenhauptsatzform). Neben diesem theoretischen Unterricht gibt es zahlreiche andere institutionelle Lern- und Freizeitprogramme wie die musikalische Früherziehung, Instrumentalunterricht oder die Mitgliedschaft in einem Chor oder Orchester. Und selbst wenn wir nicht institutionell in musikalischen Fertigkeiten ausgebildet werden, so ist unser Alltag von musikbezogenen Aktivitäten durchdrungen: Wir haben meist einen bestimmten Musikgeschmack, hören Radio, CDs, singen in der Dusche oder können die Klingeltöne von Mobiltelefonen unterscheiden. Für die kognitive Psychologie ist die Musik ein relativ junges Untersuchungsfeld.1 Unter den Begriff „Musikkognition“ fallen die unterschiedlichsten Fähigkeiten, die einem Subjekt zugesprochen werden können, das in intelligenter Weise Musik hört oder produziert. Sowohl ein geschultes Hörvermögen als auch die Fähigkeiten, virtuos Geige zu spielen, Noten oder ganze Partituren zu lesen zählen dazu. Musik ist eng an die Fähigkeit gebunden, Bedeutung aus Tönen und Klängen zu gewinnen und Laute zu erzeugen. Einige empirische Studien legen allerdings nahe, dass diese allgemeinen auditiven Fähigkeiten nicht vollständig auf dieselben Gehirnareale zurückgeführt werden können wie spezifische musikalische Fertigkeiten.2 Insbesondere Fälle von so genannter
1 Vgl. Honing 2006, S. 2 f. 2 Vgl. Zatorre 2005, S. 313.
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Musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten – Ein Anwendungsbeispiel
„Amusia“3, einer Krankheit, die aus der Schädigung bestimmter auditiver Gehirnareale resultiert, zeigen dies auf: Menschen, die unter dieser Krankheit leiden, können zwar Laute hören und erzeugen, sind aber nicht in der Lage, Musik wahrzunehmen oder zu interpretieren. Das Feld der Musik dient der kognitiven Neuropsychologie als Werkzeug für die Erforschung unzähliger Aspekte der Neurokognition, von motorischen über begriffliche Fähigkeiten bis hin zur Emotion. Aus psychologischer Perspektive handelt es sich um ein äußerst interessantes Phänomen, da hier eine Unmenge an Wissen und Fähigkeiten zusammenfallen, die fast jede Form der menschlichen Kognition widerspiegeln.
4.2 Rezeptive musikalische Fähigkeiten Bereits im ersten Kapitel wurde dargestellt, in welcher Weise praktisches Wissen unsere Wahrnehmung und unser Verhalten in Bezug auf die Domäne, über die dieses Wissen vorliegt, verändern kann. Eine eindringliche Beschreibung dieses Phänomens in der aktuellen philosophischen Debatte über praktische Wissensformen gibt Alva Noë durch den Hinweis darauf, dass Pianisten in einem Klavier unzählige Strukturen und Handlungsmöglichkeiten erkennen können, welche Menschen, die nicht die Fähigkeit des Klavierspielens haben, verborgen bleiben.4 Auch ein geübter Golfspieler nimmt einen Golfplatz völlig anders wahr als ein Laie: Für ihn stellt die grüne Rasenfläche gewissermaßen ein „Feld von Bedeutungen“ dar, das verschiedene Möglichkeiten für seine trainierten Schläge ebenso in sich birgt wie Schwierigkeiten oder Hindernisse, die er durch seine praktische Erfahrung bereits kennen gelernt hat. Dass die Wahrnehmung von Musik wesentlich durch unsere musikalischen Fähigkeiten und Erfahrungen geprägt ist, ist auch durch zahlreiche empirische Studien nachgewiesen: Was wir hören, wird durch unsere auditive „Lernbiographie“ wesentlich bestimmt.5 Persönliche musikalische Erlebnisse sowie praktische und theoretische Wissensbestände bauen eine bestimmte, meist unbewusste Erwartungshaltung beim Musikhören auf, erleichtern die perzeptuelle Differenzierung von Klängen und das Gedächtnis für Ereignisse, die in den kognitiven Rahmen unserer musikalischen Erfahrungsbasis passen. Zudem zeigen Studien auf, dass schon von klein auf persönliche Erfahrungen und früh
3 Vgl. Ebd. 4 Vgl. hierzu Noë 2005, S. 285, sowie Abschnitt 1.5. 5 Vgl. Altenmüller 2002, S. 25.
Rezeptive musikalische Fähigkeiten
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ausgebildete Fertigkeiten eine bedeutende Rolle für unsere Wahrnehmung von musikalischen Ereignissen spielen. Bereits Babies und Kleinkinder können Tonleitern und Akkorde unterscheiden und bilden eine Präferenz für konsonante im Gegensatz zu dissonanten Klängen aus.6 Ihr Nervensystem scheint somit mit einer Fertigkeit ausgerüstet zu sein, verschiedene musikalische Töne und Klänge zu filtern und in einer bedeutungsvollen Struktur zu interpretieren. Die im dritten Kapitel vorgenommene Unterscheidung von drei Wissensformaten erhellt die Bandbreite der möglichen Arten, in denen wir Informationen über musikalische Strukturen und Regeln repräsentieren können. W. Jay Dowling erläutert diese Vielfalt anhand des folgenden Beispiels:7 Die harmonische Regel, dass eine Dominante durch eine Tonika aufgelöst wird, kann bei Personen, die in Harmonielehre geschult sind, dadurch repräsentiert werden, dass sie beim Hören einer Dominante zu sich selbst sagen „Das ist jetzt eine Dominante, nun erwarte ich eine Tonika“; diese Personen kennen die harmonische Regel unabhängig von einer bestimmten Klangsituation in einer abstrakten Form, sie können meistens auf dem Notenblatt das Auftreten dieser Regel markieren oder selbst Dominante-Tonika-Folgen in Noten aufzeichnen. In diesem Fall liegt das Wissen offensichtlich in einem propositionalen Wissensformat vor. Wir können dieselbe harmonische Regel, so Dowling, aber auch kennen, ohne dass wir fähig sind, sie in Form von Symbolen – ob in einer natürlichen Sprache oder in einem Notensystem – zu artikulieren. Einige Personen empfinden eine Dominanten-Tonika-Abfolge schlicht als eine natürliche Auflösung und sind sich der Kenntnis über die Regel meist beim Hören nicht bewusst, solange diese Regel nicht verletzt wird.8 In diesem Fall liegt das Wissen in einem nicht-begrifflichen Format vor. Kognitive Psychologen haben sich in den letzten Jahren vielfältig mit solchen unbewussten, nicht-begrifflichen Formaten des Wissens und Lernens von Musik beschäftigt.9 Zahlreiche Studien legen nahe, dass so genannte „implizite Lernvorgänge“ eine bedeutende Rolle für die Ausbildung unseres Hörvermögens einnehmen: Dass wir nicht unstrukturierte Sinnesdaten, sondern bedeutungsvolle musikalische Strukturen wahrnehmen – so wie wir nicht einzelne Worte wahrnehmen, wenn wir jemandem zuhören, sondern die Bedeutungszusammenhänge verstehen – wird zumeist auf einen holistischen Wahrnehmungs-
6 7 8 9
Vgl. Zatorre 2005, S. 314. Vgl. Dowling 1993, S. 8. Vgl. Ebd. Vgl. etwa Altenmüller 2002, Juntunen & Hyvönen 2004 sowie Lalitte & Bigand 2007.
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Musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten – Ein Anwendungsbeispiel
prozess zurückgeführt, auf dessen zentrale Rolle bereits Gestaltpsychologen hingewiesen haben.10 Wir interpretieren unsere Sinneseindrücke meistens nicht durch die Bezugnahme auf explizite, symbolische Repräsentationen, sondern durch den Prozess der Wahrnehmung selbst. Diese Interpretationsfähigkeit wird sehr langsam ausgebildet und, um mit Jean Piaget zu sprechen, in impliziten „sensomotorischen Schemata“, also in einem nicht-begrifflichen Format gespeichert.11 Diese Schemata werden durch den Kontext eines musikalischen Ereignisses meist automatisch hervorgerufen; sie formen einen Rahmen, in welchem der Zuhörer die wahrgenommenen Töne durch seinen persönlichen wie kulturellen Horizont interpretiert. Wie langsam sich solche Schemata ausbilden ist dann sichtbar, wenn Menschen besonders unvertrauten und komplizierten Klängen ausgesetzt werden. Die Entwicklung verschiedener Ausprägungen der so genannten „Neuen Musik“ Anfang des 20. Jahrhunderts hat völlig neue Klang- und Rhythmusmodelle geschaffen, die mit den etablierten Konventionen von Harmonie und Melodieführung brechen. Diese Musik führt auch heute noch bei vielen Zuhörern zu Unverständnis und Überforderung. Doch neuere Studien zeigen auch, dass wir durchaus in der Lage sind, atonale und rhythmische Strukturen dieser neuartigen Musikstücke zu erkennen, wenn wir uns zuvor in Lernsituationen mit diesen vertraut gemacht haben. Beispielsweise konnten Zoltán Dienes und Christopher Longuet-Higgins aufzeigen, dass geschulte Zuhörer bestimmte Strukturen von Tonleitern bei Zwölftonmusikstücken erkennen, während Versuchspersonen ohne musikalische Vorkenntnisse dies nicht können.12 Die vorgebildeten Zuhörer konnten ihre Hörbildung allerdings nicht explizit sprachlich artikulieren oder in einer anderen Weise begründen. Dieser Umstand legt die Vermutung nahe, dass wir allein durch das (bewusste oder unbewusste) Hören eine große Menge an Wissen in einem nicht-begrifflichen Format ausbilden können. Das implizite Erlernen unbekannter Musik umfasst hierbei sowohl Aspekte des so genannten musikalischen Satzbaus, wie Höhe und Dauer von Tönen, als auch Prinzipien, nach denen das gesamte Stück bzw. Werk aufgebaut ist.13 Neben der großen Bedeutung, die nicht-begriffliche Wissensformate für das Hörverständnis haben, darf nicht übersehen werden, dass dieses durchaus auch durch propositionales Wissen beeinflusst wird. W. Jay Dowling interpretiert bei-
10 Vgl. Juntunen & Hyvönen 2004, S. 202. Hier zeigt sich zudem eine Parallele zu Polanyis Konzept des impliziten Wissens, das wesentlich auf gestaltpsychologischen Überlegungen beruht (vgl. Abschnitt 1.3.2). 11 Vgl. Piaget 1976, S. 44. 12 Vgl. Dienes & Longuet-Higgins 2004. 13 Vgl. Lalitte & Bigand 2007, S. 52ff.
Praktische musikalische Fähigkeiten
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spielsweise einige empirische Studien so, dass symbolisches Wissen ein Schema für die Organisation von musikalischen Erfahrungen schafft.14 Zum einen sind wir durch unser Wissen über Fakten der Musikgeschichte und über die Struktur von musikalischen Ausdrucksformen in der Lage, selbständig über unsere Präferenzen mitzuentscheiden, d.h. Musik zum Hören auszuwählen, die uns gefällt und musikalisch bildet. Zum anderen ist das theoretische Wissen über Noten und Angaben zum Tempo oder zur Ausdrucksweise eines Stücks eine wichtige Grundlage für das Studieren einer Partitur. Das Wissen über die Partitur eines Stücks bestimmt sowohl unser eigenes Musizieren als auch unsere Hörfähigkeiten: Wenn wir beispielsweise ein „allegro“ über einem bestimmten Abschnitt lesen, während wir das entsprechende Stück hören, dann erwarten wir eine muntere, heitere Passage. Ebenso bemühen wir uns, ein Klavierstück in einer fröhlichen Ausdrucksweise zu spielen, wenn wir dieselbe Bezeichnung über den Noten lesen. Darüber hinaus sind Musikstücke oftmals mit Texten verbunden, die eine weitere kognitive Dimension über den musikalischen Kontext hinaus eröffnen: Durch das Verständnis von Liedtexten können wir ein Verständnis davon entwickelt, was das entsprechende Lied aussagen soll und welchen Methoden es sich dabei bedient.
4.3 Praktische musikalische Fähigkeiten Die Fähigkeit ein Instrument zu beherrschen, beispielsweise eine Gitarre, ein Klavier, ein Schlagzeug oder die eigene Stimme, ist eine höchst komplexe motorische Fertigkeit, die meist über Jahre hinweg erworben und perfektioniert wird. Musiker sind zu außergewöhnlichen motorischen Leistungen imstande. Die Frage, wie wir zu solchen beeindruckenden Fähigkeiten gelangen, beschäftigt Philosophen und Psychologen gleichermaßen. Musikalische Fähigkeiten und Ausdrucksformen entziehen sich deutlich dem von der „intellektualistischen Legende“ vorgeschlagenen chronologischen Ablauf intelligenter Handlungen: Wir denken nicht bewusst über bestimmte Regeln nach, bevor wir musizieren. Merleau-Ponty spricht sich vehement gegen die Vorstellung aus, dass musikalische Fertigkeiten auf symbolischen Repräsentationen gründen, indem er das Beispiel eines Organisten anführt. Nach einer kurzen Gewöhnungszeit kann der Organist auf einer ihm unvertrauten Orgel, die andere Klaviaturen und eine andere Anordnung der Register aufweist als sein eigenes, vertrautes Instrument, problemlos spielen:
14 Vgl. Dowling 1993, S. 6ff.
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Musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten – Ein Anwendungsbeispiel
Sollen wir also sagen, der Organist analysiere die Orgel, indem er von Registern, Pedalen, Klaviaturen, und ihren räumlichen Verhältnissen sich eine Vorstellung bildete und diese bewahrte? Doch während der kurzen Erprobung des Instruments vor dem Konzert verhält er sich keineswegs wie jemand, der einen Plan anlegen will. Er setzt sich auf die Bank, bedient die Pedale, zieht die Register, nimmt dem Instrument mit seinem Leibe Maß, verleibt sich Richtungen und Dimensionen ein, richtet in der Orgel sich ein wie man in einem Haus sich einrichtet. Nicht die Stelle im objektiven Raum ist es, die er für ein jedes Register und jedes Pedal erlernte und im „Gedächtnis“ behielte. Während der Probe wie während des Konzerts sind ihm Register, Pedale und Klaviaturen allein als Vermögen dieses und jenes emotionalen oder musikalischen Werts gegeben, und ihre Stellung im Raum nur als der Ort des Erscheinens dieses Werts in der Welt. Zwischen dem musikalischen Wesen des Stücks, wie es die Partitur vorzeichnet, und der wirklich um die Orgel herum erklingenden Musik stiftet sich ein so unmittelbarer Bezug, dass der Leib des Organisten und das Instrument nur mehr Durchgangsorte dieses Bezugs sind.15
Sicherlich ist Merleau-Ponty darin zuzustimmen, dass sprachlich repräsentierte Regeln und Anweisungen musikalische Kunstfertigkeiten nicht hinreichend erklären können und dass zudem unser Körper eine zentrale Funktion bei dem Erlernen und der Ausführung musikalischer Fertigkeiten einnimmt; einige körperliche Merkmale, beispielsweise die Hornhaut an den Fingern eines Gitarristen, werden durch und für musikalische Fähigkeiten ausgebildet. Allerdings können den entsprechenden Akteuren durchaus nicht-begriffliche Repräsentationen zugesprochen werden. Die Ausbildung solcher sensomotorischer Repräsentationen wurde am Beispiel des Klavierspielens eindrucksvoll aufgezeigt:16 In mehreren Experimentreihen stellte man fest, dass schon durch einige wenige Übungen am Klavier eine auditorisch-sensomotorische Koaktivierung erzeugt wird, die über einen längeren Zeitraum (mehrere Wochen) stabil bleibt. Musiker entwickeln folglich nicht-begriffliche, bimodale Repräsentationen, indem sie ihre eigenen Fingerbewegungen mit den Klangeffekten dieser Bewegungen durch das Klavier repräsentational verknüpfen. Die Bedeutung mentaler Repräsentationen für die Ausführung musikalischer Fertigkeiten zeigt sich zudem besonders eindrucksvoll anhand bestimmter pathologischer Fälle. Durch neurologische Erkrankungen kann das soeben beschriebene „Fließen“ der Bewegungsabläufe plötzlich verschwinden: Die so genannte „fokale Dystonie“17, die auch „Musikerkrampf“ genannt wird, drückt sich beispielsweise darin aus, dass der Bewegungsapparat zwar im Allgemeinen intakt ist, aber bei der Ausführung von bestimmten eingeübten Bewegungen wie etwa
15 Merleau-Ponty 1966, S. 174. 16 Vgl. Bangert & Altenmüller 2003. 17 Vgl. Altenmüller 2005, S. 197ff.
Musikalische Imagination
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dem Anschlagen der Gitarre oder des Klaviers die Finger nicht in der Lage sind, die entsprechenden Bewegungen auszuführen. Während die gleichen feinmotorischen Bewegungen in einem anderen Kontext völlig störungsfrei verlaufen, können sie am Instrument nicht mehr vollzogen werden. Der Musikphysiologe Eckart Altenmüller beschreibt dieses Krankheitsbild am Beispiel Robert Schumanns (1810–1856), der unter einer fokalen Dystonie des rechten Mittelfingers litt und seine Toccata, Op. 7 so komponierte, dass eine virtuose Interpretation des Stücks auch ohne Einsatz dieses Fingers gelingen kann.18 Schumann notierte in seinen Tagebüchern ab dem Jahr 1831 immer wieder, dass er die Bewegungen des Mittelfingers nicht kontrollieren könne und sich dieser Finger nicht demselben, fließenden Lauf hingebe wie die anderen. Der Verlust der Mobilität des Fingers war bei Schumann – und ist es bei der fokalen Dystonie im Allgemeinen – ohne jegliche Schmerzen verbunden. Die Ursachen, die zu dieser Erkrankung führen, sehen die meisten Neurologen in einer Störung der unbewussten motorischen Regulation im Bereich der Basalganglien im Gehirn. Es wird vermutet, dass eine Fehlanpassung der Plastizität neuronaler Netze eine Unschärfe von bestimmten Fingerrepräsentationen nach sich zieht.19 Auch wenn körperliche Merkmale eine Schlüsselrolle für das Erlernen und die Anwendung von musikalischen Fähigkeiten spielen, so versagt folglich eine Erklärung dieser Fähigkeiten, die völlig auf die Bezugnahme auf mentale Repräsentationen verzichtet.
4.4 Musikalische Imagination Wenn wir an Imagination denken, so verbinden wir damit meist visuelle Bilder. Der Kraft von auditiven Vorstellungen wird hingegen oft nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt, obwohl es sich um ein ausgeprägtes alltagsvertrautes Phänomen handelt: Jeder von uns hat wohl täglich bestimmte musikalische Vorstellungen; manchmal empfinden wir diese als lästig, weil wir ihnen unfreiwillig ausgesetzt sind – beispielsweise im Fall von so genannten „Ohrwürmern“. In anderen Fällen setzen wir sie ganz bewusst ein, etwa dann, wenn wir uns an einen bestimmten Liedtext oder eine Melodie erinnern oder schwierige Passagen auf einem Instrument erlernen wollen. Das intendierte Hervorrufen musikalischer Bilder wird in der kognitiven Psychologie als „gerichtete Imagination“20 („directed imagery“) bezeichnet.
18 Vgl. Ebd. 19 Vgl. Ebd., S. 181. 20 Vgl. hierzu Kraemer et al 2005, S. 158.
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Musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten – Ein Anwendungsbeispiel
Dieses Vermögen ist insbesondere bei professionellen Musikern ausgeprägt und wird zu Lernzwecken eingesetzt. Darüber hinaus gibt es aber auch ein unbewusstes, unfreiwilliges musikalisches Imaginieren, das durch das wiederholte Hören von bestimmten Musikstücken erzeugt werden kann. In einer Studie konnte man feststellen, dass Vorstellungsbilder leichter verursacht werden können, wenn die Musikstücke, die die Probanden hören, semantische Inhalte haben; Liedtexte rufen bei den Versuchspersonen mehr Assoziationen hervor als reine Instrumentalmusik, weshalb die gehörten Stücke länger im Gedächtnis bleiben und unbewusst abgerufen werden können.21 Neurowissenschaftliche Befunde zeigen, dass auditive Gehirnareale auch in Abwesenheit von Sinnesreizungen aktiviert werden können und dass ebendieses Phänomen mit dem Erlebnis der musikalischen Imagination zusammenfällt.22 Die Gehirnaktivitäten sind fast ebenso stark wie jene, die von tatsächlichen auditiven Inputs herrühren. Dieses Ergebnis spiegelt die Aussage mancher Musiker wider, dass sie förmlich ihr Instrument „hören“ können, wenn sie sich Musikstücke vorstellen. Musikalische Vorstellungen sind ein wichtiger Schlüssel für kreatives, musisches Schaffen: Komponiert ein Dirigent ein Stück, so stellt er sich die jeweiligen Orchesterklänge bewusst vor, um das Musikstück nach seinen Wünschen zu kreieren und zu modifizieren. Ludwig van Beethoven (1770–1827), der lange Zeit seines Lebens taub war, soll über eine ausgeprägte musikalische Imaginationsfähigkeit verfügt haben, die sein künstlerisches Schaffen trotz des Verlusts der Hörfähigkeit entschieden vorantrieb.23 In einigen Studien konnte zudem belegt werden, dass bei musikalischer Imagination neben den auditiven Gehirnarealen oftmals auch motorische Areale aktiv sind. Motorische Bilder, d.h. Vorstellungen von kinästhetischen Prozessen, die bei einer tatsächlichen Bewegung involviert sind, wurden bei einfachen Klopfsequenzen ebenso wie bei komplexen musikalischen Routinen untersucht. In einer Studie wurden Streicher gebeten, ein bekanntes Stück zu spielen und in einem zweiten Durchgang zu imaginieren. Die Zeiten, die das Spielen und die Vorstellung in Anspruch nahmen, korrelierten eng miteinander.24 Dies entspricht der von Jeannerod vorgestellten These, dass motorische Bilder die gleiche Dauer beanspruchen wie Bewegungsabläufe.25 Jens Haueisen und Thomas R. Knösche konnten zudem herausfinden, dass Pianisten Aktivitäten in primären motorischen Regionen zeigen, die mit Fingerbewegungen korrespondieren, auch wenn sie nur einem
21 22 23 24 25
Vgl. Ebd. Vgl. Zatorre & Halpern 2005, S. 9ff. Vgl. Ebd. Vgl. Langheim et al 2002, S. 901ff. Vgl. Abschnitt 3.4.5.
Musikalische Imagination
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Stück, das sie selbst spielen können, zuhören.26 Haueisens und Knösches Studien zeigen, dass die motorischen Vorstellungsbilder, die wir während musikalischer Imagination erzeugen, von unseren eigenen musikalischen Fähigkeiten geprägt sind. Beherrschen wir selbst ein Instrument, so können durch vertraute Stücke Bewegungsmuster imaginiert werden. Einige empirische Studien über musikalische Imagination erhellen auch das Phänomen des mentalen Trainings, das Musiker oftmals zum Einüben von Stücken verwenden.27 Hierbei sind häufig Vorstellungsbilder unterschiedlicher Modularitäten involviert, beispielsweise visuelle (Pianisten „sehen“ ihre Finger auf der Tastatur), auditive (sie „hören“ die in der Vorstellung erzeugten Töne) oder sensomotorische (sie „fühlen“ ihre Bewegungen und deren Wirkungen auf der Tastatur). Durch das bewusste Einsetzen dieser Bilder bei einem mentalen Training können Musiker Stücke üben, ohne dass sie einen Zugriff zu ihrem Instrument benötigen und ohne von den Tönen abgelenkt zu werden, die sie beim tatsächlichen Spielen erzeugen. Die bedeutende Rolle der Imagination für die musikalische Früherziehung wird von zahlreichen Psychologen beschrieben.28 Die beiden finnischen Psychologinnen Marja-Leena Juntunen und Leena Hyvönen bezeichnen sensomotorische Vorstellungsbilder als „körperliche Metaphern“ und betonen deren zentrale Bedeutung für das musikalische Lernen.29 Die Autorinnen beziehen sich wesentlich auf den Schweizer Musikpädagogen und Komponisten Émile JaquesDalcroze (1865–1950), der als Begründer einer neuen musikalischen Lehrstrategie, des so genannten „rhythmisch-musikalischen Lernens“ gilt. Bei diesem musikalischen Bewegungstraining ist es Jaques-Dalcroze zufolge wichtig, dass die Schüler den Bewegungen der Lehrer mit ihrem ganzen Körper, nicht nur mit den Augen, folgen und bewusste Vorstellungsbilder für die Initiierung der Bewegungsabläufe nutzen. Das von Jaques-Dalcroze geprägte musikalische Lernmodell zeichnet sich Juntunen und Hyvönen zufolge durch die Bezugnahme auf körperliche Metaphern aus, die ein grundlegendes Bindeglied zwischen meist unbewusst ablaufenden, musikalischen Fähigkeiten und begrifflichem Wissen über Musik bilden. Hierbei beziehen sie sich auf den Metaphernbegriff von Lakoff und Johnson30, der wesentlich an die Vorstellung geknüpft ist, dass die menschliche Kognition in der körperlichen Erfahrung ihren Ursprung hat und untrennbar an diese gebunden ist, und dass Metaphern eine grundlegende
26 27 28 29 30
Vgl. Haueisen & Knösche 2001. Vgl. Zatorre & Halpern 2005, S. 9ff. Vgl. etwa Regelski 1998. Vgl. Juntunen & Hyvönen 2004, S. 204. Vgl. Lakoff & Johnson 1980 und 1990.
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Verbindung zwischen der konkreten Erlebnisdimension und der abstrakten begrifflichen Kognition bilden. Diese Auffassung von Metaphern ist folglich in erster Linie nicht – so wie es der alltägliche Sprachgebrauch des Begriffs „Metapher“ nahe legen mag – auf Konventionen der Sprache bezogen. Die sprachliche Dimension von Metaphern ist Lakoff und Johnson zufolge nur das propositionale Ergebnis eines komplexen Netzes unterschiedlicher nonverbaler und erfahrungsbasierter Vorstellungsbilder, die in verschiedenen Modularitäten realisiert werden können. Sie legen Metaphern primär als Vehikel für das Verständnis der Zusammenhänge zwischen Denken und Handeln aus. Die Schlüsselfunktion körperlicher Metaphern in dem von Jaques-Dalcroze entwickelten Bewegungstraining kann folgendermaßen aufgezeigt werden: Rhythmische Erfahrungen werden gezielt mit vertrauten Vorstellungsbildern assoziiert. Beispielsweise wird das Galoppieren von Pferden zu einer passenden musikalischen Begleitung imitiert. Die sensomotorischen, auditiven und visuellen Bilder, die die Schüler mit dem Pferdegaloppieren verbinden, dienen als Grundlage für das Erlernen von rhythmischen und tonalen Mustern. Insbesondere musikalische Begriffspaare wie „schnell vs. langsam“ und „laut vs. leise“ können mit dieser Methode sehr anschaulich eingeprägt werden. Die abstrakten, musikalischen Begriffe werden gewissermaßen durch eine „Verkörperung“ erlernt, was den Lernenden dazu befähigt, bestimmte musische Qualitäten zu erleben, ohne sie sprachlich benennen zu müssen. Das Verständnis musikalischer Strukturen und Termini über die Methode der Imagination wird von Juntunen und Hyvönen als „mindful knowing“ bezeichnet und als Zwischenstufe zwischen impliziten sensomotorischen Fähigkeiten und abstraktem musikalischem Wissen herausgestellt.31 Diese Vorstellung entspricht der in dieser Arbeit entwickelten, dreigliedrigen Theorie von Wissensformaten: Während praktisches Wissen durch intelligente Bewegungsabläufe realisiert wird, die durch einen meist unbewussten, sensomotorischen Modus repräsentiert werden, liegt propositionales Wissen im abstrakten, verbalisierbaren Format vor. Auch hier sind Vorstellungsbilder ein Zwischenglied zwischen beiden Wissensformen, da sie einen bewussten Zugriff auf komplexe Bewegungsabläufe ermöglichen. Den von den Autoren beschriebenen körperlichen Metaphern kommt dieselbe Rolle zu wie dem im dritten Kapitel herausgestellten, bildhaften Wissensformat, da sie eine funktionale Verbindung zwischen der konkreten und der abstrakten Sphäre schaffen.
31 Vgl. Juntunen & Hyvönen 2004, S. 206.
Das Zusammenspiel von propositionalem und praktischem Wissen
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4.5 Das Zusammenspiel von propositionalem und praktischem Wissen Propositionales und praktisches Wissen sind in der Musik oft eng miteinander verwoben. Wir erwerben meist vielfältige Ausprägungen beider Wissensarten parallel, wenn wir musizieren oder uns in einer anderen Form mit Musik beschäftigen. Die Frage, wie beide Wissensformen aufeinander bezogen sind, lässt sich allerdings nicht leicht beantworten. Die folgende Anekdote legt nahe, dass wir nicht von einer geradlinigen, einheitlichen Transformierung einer Wissensform in die jeweils andere ausgehen können:32 Als Leonard Bernstein 1971 die Wiener Philharmoniker dirigiert, kommt nach der Probe ein Musiker zu ihm und erzählt ihm, dass man hier in Wien den zweiten Anschlag bei einem Walzer betont. Ein anderer Musiker kommt hinzu und sagt, dass der erste Anschlag betont und der dritte ausgedehnt werden müsse. Die Musiker haben folglich verschiedene Begriffe bzw. propositionales Wissen darüber entwickelt, wie ein Wiener Walzer gespielt werden muss; bei der musikalischen Darbietung selbst konnten sie jedoch alle einheitlich bis zur Perfektion zusammenspielen. Dieses Beispiel zeigt, dass oftmals das explizite, propositionale Ergebnis – das Regelwissen, welches sich die Handelnden aus ihren praktischen Kompetenzen ableiten – nicht einheitlich ist, sondern von subjektiven Empfindungen und Erfahrungs- und Wissenshorizonten abhängt. Insbesondere bei Berufsmusikern zeigt sich ein eindrucksvolles, komplexes Zusammenwirken beider Wissensformen, das durch Studien des Musikpsychologen Roger Chaffin belegt wird.33 Chaffin untersuchte systematisch das Verhalten der Konzertpianistin Gabriela Imreh bei der Vorbereitung für Konzerte und Aufnahmen von Claude Debussys Clair de Lune sowie Auszügen aus Johann Sebastian Bachs Italienischem Konzert. Die Pianistin wurde dazu angehalten, ihr Trainingsverhalten zu dokumentieren: Sie versuchte zunächst, eine formale Struktur zu notieren, indem sie den Aufbau der Stücke logisch gliederte, Wiederholungen und so genannte „switches“, d.h. Passagen, in denen die Wiederholung eines Themas von einer anderen, ähnlichen Stelle divergiert. Die Unterscheidung von verschiedenen Dimensionen, die sie als „performance cues“ bezeichnete, dienten ihr dann dazu, über bestimmte Möglichkeiten der Spielweise der Stücke bewusst nachzudenken und Entscheidungen zu treffen. Einerseits betrafen diese „performance cues“ so Grundlegendes wie den Fingersatz oder technische Besonderheiten des Stücks. Andererseits bezogen sie sich auf
32 Dieses Beispiel habe ich W. Jay Dowling entliehen (vgl. Dowling 1993, S. 9). 33 Vgl. Chaffin & Imreh 2002 sowie Chaffin 2007.
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Musikalisches Wissen und musikalische Fähigkeiten – Ein Anwendungsbeispiel
interpretative Aspekte wie Dynamik, Tempo oder Phrasierung. Zudem überlegte sich Imreh, welche expressiven Möglichkeiten das Stück zuließ: Sie notierte sich hierzu bestimmte Gefühle und Empfindungen wie „light, but mysterious“ oder „surprise“, die sie durch ihre Vorführung zu transportieren versuchte.34 Imreh stütze sich auf eine so genannte „ausgeweitete Übungspraxis“, die einen Transformationsprozess vom begrifflichen zum motorischen und auditiven Gedächtnis implizierte. Ein solches Trainingsverhalten wird auch bei Experten in anderen Domänen, etwa bei praktizierenden Ärzten beobachtet.35 Durch bewusste Entscheidungen auf der Grundlage von theoretischem Wissen konnte Imreh ihre Fingerbewegungen bei der Aufführung selbst wunschgemäß automatisieren. Durch die Strukturierung ihrer Vorbereitung war ihr die Möglichkeit gegeben, sich bei der Aufführung ausschließlich auf die expressive Dimension zu konzentrieren. Propositionales Wissen über bestimmte Schlüsselmerkmale und ihre entsprechenden sensomotorischen Realisierungen diente Imreh zur Absteckung eines Übungsplans für das Stück. Auf dieses theoretische Wissen nahm sie während der Aufführung selbst nicht mehr Bezug. Die Vorstellung, dass ihre Bewegungen von einem theoretischen Wissen gleichsam „angestoßen“ wurden, schlägt daher fehl: Vielmehr diente dieses Wissen zum Schaffen eines Rahmens, in dem eine gezielte Übung der Bewegungsabläufe erfolgte. Zugleich zeigen die empirischen Ergebnisse, dass auch bildhafte Vorstellungen eine zentrale Rolle bei der konkreten Umsetzung des Übungsplans einnehmen. Die vorliegende Studie legt somit ein bemerkenswertes Zusammenspiel von propositionalem und praktischem Wissen nahe. Dieses Zusammenwirken ist allerdings wesentlich komplexer, als es beispielsweise die intellektualistische Legende vorgibt, und man kann hier keinesfalls von einer Reduktion oder einem einfachen Transfer von propositionalem Wissen in praktisches sprechen. Die Ausbildung praktischen Wissens – das legt die Studie nahe – kann wesentlich durch begriffliches Wissen beeinflusst werden. Das heißt aber keineswegs, dass eine Reduktion, ob ontologisch oder epistemisch, von praktischem auf propositionales Wissen vorgenommen werden kann. Eine solche Reduktionsannahme verträgt sich nicht mit dem harten Faktum der unüberbrückbaren Wissen-Handlungs-Lücke. Und es ist zudem nicht zulässig, der Klavierspielerin bewusste Kenntnisse über mögliche konkrete Handlungswege zuzuschreiben. Kurz gefasst: Obwohl praktisches und propositionales Wissen nicht ineinander überführbar sind, spielen beide eine zentrale Rolle für die Ausbildung von Musikkognition. Symbolisches Wissen kann ein
34 Vgl. Chaffin & Imreh 2002, S. 342. 35 Vgl. Ericsson & Kintsch 1995.
Konklusion: Musikalische Wissensformen als Paradebeispiel
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Schema für die Organisation von Erfahrungen schaffen. Es legt gewissermaßen eine Landkarte für das gesamte musikalische Territorium fest.
4.6 Konklusion: Musikalische Wissensformen als Paradebeispiel für die Vielfalt der menschlichen Kognition Was zeigt uns das Beispiel musikalischen Wissens? Musikalische Fertigkeiten sind sehr vielfältig und können in unterschiedlichen Wissensformaten repräsentiert werden. Wir haben gesehen, dass beispielsweise die Hörfähigkeit in einem propositionalen oder in einem sensomotorischen Format realisiert werden kann. Praktisches Wissen in der Musik zeigt eine hohe Sensitivität gegenüber körperlichen Bedingungen und Umweltbegebenheiten. Ebendiese Sensitivität wurde im dritten Kapitel als Schlüsselmerkmal praktischer Wissensformen aufgezeigt. Zudem verdeutlicht die musikalische Kognition, dass bildhafte Wissensformate eine bedeutende Rolle spielen: Musikalische Imagination ist ein sehr wichtiges und ausgeprägtes Phänomen unter Musikern. Vorstellungsbilder unterschiedlicher Modularitäten – visuelle, auditive oder motorische – nehmen eine wichtige Funktion für die musikalische Ausbildung und mentales Training ein. Darüber hinaus haben wir gesehen, dass musikalische Fähigkeiten wesentlich durch das Zusammenspiel von propositionalen und praktischen Wissensformen geprägt sind. Professionelle Musiker verwenden ihr begriffliches Wissen, um die Einübung bestimmter musikalischer Stücke zu organisieren, um sich somit auf Ausdrucksformen zu konzentrieren und die Geschwindigkeit und Automatisierung der prozeduralen und unbewussten Gedächtnisinhalte bewusst beeinflussen zu können. Für den Bereich der Musikkognition lässt sich somit aufzeigen, dass propositionales und praktisches Wissen in keiner Weise aufeinander reduzierbar sind, sondern sich vielmehr ergänzen und komplementieren. Verschiedene Wissensformen spielen in der Musik eine zentrale Rolle. Sie zu verstehen und zu begreifen, in welchen Formaten sie repräsentiert werden, öffnet den Weg zu einem Verständnis der Musikkognition, die zugleich ein paradigmatisches Beispiel für die menschliche Intelligenz darstellt. Unsere Beobachtungen legen demzufolge eine Verallgemeinerung nahe: Durch die Unterscheidung von sensomotorischen, bildhaften und propositionalen Wisensformaten können wir ein besseres Verständnis für die Vielfalt kognitiver Prozesse gewinnen, die mit unterschiedlichen Tätigkeiten wie Musizieren, Tanzen, Skispringen, Kommunizieren, Rechnen, etc. verknüpft sind. Unsere praktischen Fähigkeiten können nur dann angemessen charakterisiert werden, wenn man diese zugrunde liegenden Formate mitberücksichtigt.
5 Ausblick und Resümee 5.1 Ausblick auf angrenzende Problemfelder Ein Blick auf zwei verschiedene aktuelle philosophische Debatten – die Diskussion um das so genannte „Argument des unvollständigen Wissens“ und diejenige um eine neuartige Wahrnehmungstheorie, den so genannten „Enaktivismus“ – dient im Folgenden dazu, angrenzende Problemfelder aufzuzeigen, in denen die Bezugnahme auf praktisches Wissen eine zentrale Rolle einnimmt. Beide Debatten drehen sich in jeweils unterschiedlicher Art und Weise um die Frage nach dem Zusammenhang zwischen Wissen und Wahrnehmung. Während die Streitfragen, die sich im Anschluss an das Argument des unvollständigen Wissens entwickelten, den Status von Wissen über Farbwahrnehmungen betreffen, ist der Diskussionsgegenstand in der Debatte um den enaktivistischen Ansatz die allgemeine Charakterisierung von Wahrnehmungserlebnissen und -gehalten. Ich werde einige offene Fragen innerhalb der beiden Debatten herausstellen und aufzeigen, dass der in dieser Arbeit vorgestellte Zugang zu praktischen Wissensformen neuartige Impulse für die jeweiligen Diskussionen geben kann. Mögliche Argumente, die anhand der theoretischen Grundlinien entwickelt werden können, sollen hier nur kurz skizziert werden. Ihre detaillierte Ausarbeitung bedarf einer weiterführenden und vielschichtigeren Betrachtung, die im Rahmen dieser Arbeit nicht möglich ist.
5.1.1 Praktisches Wissen und das Argument des unvollständigen Wissens Im ersten Kapitel wurde bei der Betrachtung einiger alltagsprachlicher „wissen“-Sätze eine Wissensform herausgestellt, die auch als „phänomenales Wissen“ bezeichnet wird – das Wissen, wie es ist, ein bestimmtes Erlebnis oder eine Erfahrung zu haben. Dieser Wissensform kommt im Argument des unvollständigen Wissens von Frank Jackson eine zentrale Funktion zu.1 Jackson versucht mit diesem Argument den Physikalismus zurückzuweisen, indem er dafür argumentiert, dass es nicht-physikalische Tatsachen gibt. Diese ontologische These entwickelt er auf der Grundlage einer Behauptung über den Status menschlichen Wissens: Neben einem Wissen über physikalische Tatsachen, so möchte Jackson zeigen, gibt es auch ein Wissen über nicht-physikalische Tatsachen. Diese Be-
1 Vgl. Jackson 1982 und 1986.
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Ausblick und Resümee
hauptung stützt er auf ein Gedankenexperiment, das folgendermaßen rekonstruiert werden kann:2 Angenommen, die Wissenschaftlerin Mary ist ihr ganzes bisheriges Leben lang in einem Schwarz-Weiß-Zimmer eingesperrt. Sie soll noch nie Farben gesehen haben; allerdings hat sie sich in ihrem Zimmer durch geeignete Lehrmaterialien ein vollständiges physikalisches Wissen über Farben und die menschliche Farbwahrnehmung angeeignet. Eines Tages wird Mary aus ihrem Zimmer freigelassen und sieht zum ersten Mal etwas Rotes. Durch dieses Farberlebnis erwirbt sie laut Jackson neues Wissen: das Wissen, wie es ist, etwas Rotes zu sehen bzw. phänomenales Wissen über eine Rotwahrnehmung; und ebendieses Wissen ist gemäß Jackson ein Wissen über nicht-physikalische Tatsachen. Aus diesem Szenario folgert er, dass physikalisches Wissen nicht hinreichend für phänomenales Wissen ist und dass zudem der Physikalismus falsch ist. Das „Mary“-Beispiel zeigt laut Jackson, dass es nicht-physikalische Tatsachen gibt, da im Bezug auf Marys epistemischen Zustand eine Erklärungslücke konstatiert werden kann, die der Physikalismus nicht zu schließen vermag. Die Reaktionen auf dieses Argument sind sehr vielfältig und unterschiedlich.3 Zentrale Fragestellungen, die sich an Jacksons Argument und seinen Kritikern ablesen lassen, können folgendermaßen formuliert werden: Erwirbt Mary nach ihrer Freilassung wirklich neues Wissen? Falls sie neues Wissen erwirbt, welchen Status hat dieses dann? Können aus der Betrachtung des epistemischen Zustands von Mary ontologische Behauptungen abgeleitet werden, und wenn ja, welche? Eine Interpretationsform des „Mary“-Beispiels – die von David Lewis und Laurence Nemirow entwickelte, so genannte „Fähigkeitshypothese“ („AbilityHypothesis“)4 – ist für die vorliegende Arbeit besonders interessant, weil im Rahmen dieser Hypothese phänomenales Wissen in Verbindung mit praktischen Wissensformen und Fähigkeiten diskutiert wird. Beide Autoren versuchen, die Konsequenzen, die Jackson aus dem Argument des unvollständigen Wissens zieht, zurückzuweisen, indem sie behaupten, dass Mary kein neues Tatsachenwissen (knowing that), sondern ein spezifisches praktisches Wissen (knowing how) erwirbt, wenn sie aus ihrem Zimmer freigelassen wird. Lewis und Nemirow gehen davon aus, dass sich Marys neues „Wissen, wie es ist“ anhand von Fähigkeiten analysieren lässt, auch wenn sie unterschiedliche Antworten auf die Frage geben, durch welche Fähigkeiten es beschrieben werden kann: Für
2 Vgl. Jackson 1982, S. 130. 3 Vgl. hierzu Nida-Rümelin 2010. 4 Vgl. Lewis 1990 sowie Nemirow 1990 und 1995. Torin Alter, Yuri Cath und Luca Malatesti diskutieren die Fähigkeitshypothese im Licht der aktuellen Debatte um praktische Wissensformen (vgl. Alter 2001, Cath 2009 sowie Malatesti 2004).
Ausblick auf angrenzende Problemfelder
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Nemirow ist es die Fähigkeit, sich bestimmte Erlebnisse vorzustellen. Lewis hingegen führt ein ganzes Bündel von Fähigkeiten an: die Fähigkeiten, sich ein Erlebnis vorzustellen, es zu erkennen und sich an es zu erinnern. Auf den ersten Blick scheint die Fähigkeitshypothese für den Physikalisten eine elegante Strategie zur Zurückweisung des Arguments des unvollständigen Wissens zu bieten: Sie wird der Intuition gerecht, dass Mary etwas Neues lernt, ohne dass dabei die Existenz nicht-physikalischer Tatsachen postuliert werden muss. Selbst Jackson zeigt sich mittlerweile von dieser Argumentation beeindruckt und verzichtet auf eine vermeintliche Widerlegung des Physikalismus durch das „Mary“-Beispiel.5 In der aktuellen Debatte um praktische Wissensformen greifen Stanley und Williamson das Argument des unvollständigen Wissens und die Fähigkeitshypothese explizit auf.6 Sie weisen Lewis’ und Nemirows Argument zurück, indem sie behaupten, dass die praktischen Wissensformen, die jene anführen, Fälle propositionalen Wissens sind: Knowing how to imagine red and knowing how to recognize red are both examples of knowledge-that. For example, x’s knowing how to imagine red amounts to knowing a proposition of the form „w is a way for x to imagine red“, entertained under a guise involving a practical mode of presentation.7
Stanley und Williamson wenden folglich ihre Analyse von knowing how auf die Fähigkeitshypothese an und kommen zu dem Ergebnis, dass Mary propositionales Wissen erwirbt. Ich habe im ersten Kapitel aufgezeigt, dass Stanleys und Williamsons Analyse nicht überzeugend ist. Zudem zeigt sich an ihrer Diskussion des „Mary“-Arguments eine Inkonsistenz: Obwohl sie Ryles dispositionale Analyse von knowing how zurückweisen, scheinen sie hier selbst praktisches Wissen und Fähigkeiten gleichzusetzen, was sich anhand folgender Bemerkung aufzeigen lässt: If she knows how to imagine an experience of red, why is she unable to imagine such an experience?8
Aus dieser Perspektive ist es fragwürdig, ob Stanley und Williamson auf der Grundlage ihres intellektualistischen Ansatzes eine überzeugende Analyse des
5 6 7 8
Vgl. Jackson 2004, S. 439. Vgl. Stanley & Williamson 2001, S. 441ff. Ebd., S. 442. Ebd., S. 443.
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Ausblick und Resümee
„Mary“-Beispiels entwickeln können. Mithilfe des in dieser Arbeit vorgestellten theoretischen Ansatzes könnte eine Interpretation des Beispiels folgendermaßen aussehen: In ihrem schwarz-weißen Zimmer verfügt Mary über alles Wissen bezüglich Farben und Farbwahrnehmungen, das in einem propositionalen Wissensformat repräsentiert werden kann. Wenn sie ihr Zimmer verlässt, ist es ihr möglich, Wissen über Roterlebnisse auch in anderen Wissensformaten, in sensomotorischen und bildhaften zu repräsentieren. Da durch diese beiden Formate eine facettenreichere Repräsentation möglich ist als durch das propositionale Wissensformat, ist davon auszugehen, dass mit Marys Freilassung ein Informationsgewinn einhergeht. Allerdings kann aus diesem Umstand kein ontologisches Argument gegen den Physikalismus abgeleitet werden. Vielmehr legt eine solche Interpretation die Vermutung nahe, dass eine zentrale Annahme, auf die sich Jacksons Szenario stützt, äußerst fragwürdig ist: die Annahme, dass Mary in ihrem Schwarz-Weiß-Zimmer ein vollständiges physikalisches Wissen über Farben und Farberlebnisse erwerben kann, dass also eine vollständige Repräsentation aller physikalischer Tatsachen im propositionalen Wissensformat möglich ist.
5.1.2 Die Rolle praktischen Wissens in Wahrnehmungstheorien Auch innerhalb der Diskussion um den Status von Wahrnehmungserlebnissen und -gehalten im Allgemeinen kommt der Bezugnahme auf praktische Wissensformen eine zentrale Rolle zu. In dem von Kevin O’Regan und Alva Noë entwickelten, so genannten „enaktivistischen Ansatz“ („enactivist approach to perception“)9 steht praktisches Wissen bei der Erklärung unserer Wahrnehmung im Vordergrund: Die beiden Autoren versuchen, ein neuartiges Bild der perzeptuellen Erfahrung zu entwerfen, das die Körper- und Kontextabhängigkeit der Wahrnehmung in den Vordergrund stellt. Dieser neue Ansatz ist wesentlich durch die Zurückweisung der so genannten „snapshot“-Auffassung motiviert – der Annahme, dass Wahrnehmungserlebnisse auf einer passiven, rezeptiven Repräsentation von Umweltbegebenheiten basieren. O’Regan und Noë zufolge ist Wahrnehmung ein verkörpertes „know-how“; sie wird nicht als Erlebniszustand aufgefasst, sondern vielmehr als bestimmte Aktivitätsform. Hierbei geht das von O’Regan und Noë entworfene Bild der Wahrnehmung mit der Ablehnung von jeglichen internen, mentalen Repräsentationen einher. Wahrnehmungsprozesse werden durch das entsprechende Subjekt in direktem Bezug auf
9 Vgl. O’Regan & Noë 2001 sowie Noë 2004.
Ausblick auf angrenzende Problemfelder
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die Umwelt aktiviert und benötigen daher keine spezifischen repräsentationalen Zustände. Ihre zentrale These drücken die Autoren folgendermaßen aus: The central idea of the new approach is that vision is a mode of exploration of the world that is mediated by knowledge of what we call sensorimotor contingencies.10
Ein so genanntes „sensomotorisches Wissen“, das Wissen über bestimmte sensomotorische Kontingenzen, ist laut O’Regan und Noë für Wahrnehmungsgehalte konstitutiv. Die Merkmale eines solchen Wissens können durch das folgende Beispiel erläutert werden: Wenn ich einen Apfel sehe, dann wird der entsprechende Wahrnehmungsgehalt durch mein sensomotorisches Wissen davon konstituiert, wie sich das Aussehen des Apfels in Abhängigkeit von meiner räumlichen Orientierung verändert. Aus bestimmten Blickwinkeln erscheint mir der Apfel wie eine Ellipse, aus anderen kugelrund. Auch die Farbe des Apfels ist je nach Lichtverhältnissen und Perspektive unterschiedlich; sie schimmert manchmal rötlich, in anderen Fällen eher grünlich. Trotz dieser Varianzen gelingt es mir, durch meine Wahrnehmung ein einheitliches Bild des Apfels zu gewinnen. Wissen über sensomotorische Kontingenzen ist folglich Wissen darüber, wie sich Sinneseindrücke in Abhängigkeit von unseren Bewegungen und bestimmten Umwelteinflüssen verändern. In „Action and Perception“ beschreibt Noë diese Annahme noch differenzierter und diskutiert sie im Lichte traditioneller philosophischer Wahrnehmungstheorien. Auch hier betont er die zentrale Bedeutung sensomotorischen Wissens: Genuine perceptual experience depends not only on the character and quality of stimulation, but on our experience of sensorimotor knowledge. The disruption of this knowledge does not leave us with experiences we are unable to put to use. It leaves us without experience. For mere sensory stimulation to constitute perceptual experience – that is, for it to have genuine world-presenting content – the perceiver must possess and make use of sensorimotor knowledge. [… ] To perceive you must be in possession of sensorimotor bodily skill.11
Das gemäß Noë zentrale Wissen für Wahrnehmungsprozesse wird folglich mit einer Fertigkeit („skill“) gleichgesetzt. Es wird als überwiegend unbewusste, nicht-propositionale und nicht-repräsentationale Wissensform aufgefasst. In einer Auseinandersetzung mit der Position Stanleys und Williamsons richtet
10 O’Regan & Noë 2001, S. 940; Hervorhebungen im Original. 11 Noë 2004, S. 10f.; Hervorhebungen im Original.
216
Ausblick und Resümee
sich Noë explizit gegen deren intellektualistische Auffassung, da diese ihm zufolge keine überzeugende Erklärung für die für Wahrnehmungsprozesse relevanten praktischen Wissensformen liefert: We have considered reasons to doubt that there are any propositions that might play the role of that which is known (under the practical mode of presentation or any other) when one knows how to perceive. If this is right, then we may find ourselves with strong theoretical grounds for thinking that sensorimotor knowledge is nonpropositional knowhow, a conclusion incompatible with Stanley and Williamson’s analysis. Whatever we say about this, the enactive approach requires the availability of a conception of practical knowledge, and Stanley and Williamson’s considerations do not, as far as I can tell, do anything to make such a conception unavailable.12
Die Überzeugungskraft des Ansatzes von O’Regan und Noë kann ich an dieser Stelle nicht ausführlich diskutieren. Allerdings ist anzumerken, dass ihre Charakterisierung von sensomotorischem Wissen relativ knapp ausfällt: Sie stellen weder heraus, warum es als eine genuine Form von Wissen aufgefasst werden kann, noch diskutieren sie es hinreichend im Lichte anderer Wissensformen. Einige offene Fragen, die den Status und die Rolle von sensomotorischem Wissen betreffen, können folgendermaßen formuliert werden: Wie kann sensomotorisches Wissen expliziert werden? Wie können wir ein solches Wissen erwerben? Ist sensomotorisches Wissen nicht-propositional, ist es nicht-repräsentational? Es gilt also zu prüfen, inwiefern das von O’Regan und Noë herausgestellte sensomotorische Wissen eine „echte“ Wissensform markiert und welche Voraussetzungen an das Verfügen über ein solches Wissen gebunden sind. Wenn eine überzeugende Charakterisierung gefunden ist, stellt sich darüber hinaus die Frage, ob die Bezugnahme auf sensomotorisches Wissen in eine anti-repräsentationalistische Wahrnehmungstheorie integriert werden kann. Dan Hutto meldet beispielsweise berechtigte Zweifel an der Möglichkeit einer Erklärung sensomotorischen Wissens ohne Bezugnahme auf Repräsentationen an und schlägt vor, dass O’Regan und Noë auf das Konzept des praktischen Wissens verzichten und sich stattdessen für eine radikalere Form des Enaktivismus aussprechen sollten.13 Durch die Unterscheidung von Wissensformaten, für die ich in dieser Arbeit argumentiert habe, könnte sich durchaus eine Möglichkeit ergeben, sensomotorisches Wissen über nicht-propositionale, sensomotorische Wissensformate zu
12 Ebd., S. 121f. 13 Vgl. Hutto 2007, S. 401.
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explizieren. Dieser Schritt hätte zur Folge, dass die Wahrnehmungstheorie O’Regans und Noës in ihrer anti-repräsentationalistischen Form nicht aufrecht erhalten werden kann. Allerdings ist deren Kritik an repräsentationalistischen Theorien oftmals ausschließlich gegen explizite, symbolische Repräsentationsformen gerichtet, so dass der Anti-Repräsentationalismus, den sie zu verteidigen versuchen, durchaus anfechtbar ist.14
5.2 Resümee An dieser Stelle möchte ich noch einmal die zentralen Thesen zusammenfassen, die in dieser Arbeit entwickelt wurden. Ich habe aufgezeigt, dass sich die aktuelle Debatte über praktische Wissensformen in eine Sackgasse begeben hat. Die vorliegenden intellektualistischen Explikationen für praktisches Wissen vermögen es nicht, die spezifischen Merkmale dieser Wissensform angemessen zu erklären. Anti-intellektualistische Explikationsversuche stehen hingegen vor der Schwierigkeit, praktisches Wissen als eigenständige Wissensform zu etablieren und es in geeigneter Weise in Bezug zu propositionalem Wissen zu setzen. Zudem zeigte sich, dass weder Intellektualisten noch Anti-Intellektualisten überzeugende Reduktionsargumente vorbringen konnten und dass die vorliegenden methodischen Zugänge zur Analyse praktischer Wissensformen unbefriedigend sind: Weder linguistische Ansätze noch Repräsentationstheorien, die sich einer „Sprache des Geistes“ verschreiben, vermögen es, praktisches Wissen angemessen zu analysieren. Die vorherrschenden anti-repräsentationalistischen Ansätze sind hingegen mit dem Problem konfrontiert, dass sie kein überzeugendes Kriterien für die Unterscheidung von kognitiven und nicht-kognitiven Prozessen bereitstellen, und laufen daher Gefahr, praktisches Wissen nicht von Reflexen und mechanischen Reaktionen abgrenzen zu können. Ich habe dafür argumentiert, dass sich das klassische Projekt der Begriffsanalyse für Wissen als aussichtslos erweist, solange es auf eine Suche nach allgemeinen notwendigen und hinreichenden Bedingungen für das Vorliegen von Wissen abzielt. Die Beleuchtung der Debatten über das „Gettier“-Problem, über eine vermeintliche Inkonsistenz und Irrelevanz des philosophischen Wissensbegriffs und über die Reichweite naturalistischer Erkenntnistheorien zeigte, dass die paradigmatischen Fälle von Wissen, die den jeweiligen Definitionsvor-
14 Diesen Einwand habe ich bereits bei der Diskussion der Position von Hubert L. Dreyfus erläutert. Vgl. außerdem Schlicht & Pompe 2007.
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schlägen zugrunde liegen, zwar auf verbreiteten Intuitionen über den Wissensbegriff beruhen. Sie fallen jedoch zu unterschiedlich aus, so dass eine konsensfähige, allgemeine Konzeption nicht zu erwarten ist. Insbesondere der Streitplatz zwischen internalistischen und externalistischen Positionen legt nahe, dass es keinen einheitlichen Rechtfertigungsbegriff gibt, sondern dass in Abhängigkeit vom Kontext der Zuschreibung und von unserer Perspektive auf Erkenntnisphänomene unterschiedliche Anforderungen an das Vorliegen von Wissen gestellt werden. In dieser Arbeit wurde versucht, diesem Umstand Rechnung zu tragen, indem ich eine Charakterisierung propositionalen und praktischen Wissens auf der Grundlage bestimmter idealtypischer Normen vorgeschlagen habe: Propositionales Wissen kann durch eine „Norm der Wahrheit“ bestimmt werden, praktisches Wissen hingegen durch eine „Norm des Handlungserfolgs“. Diese beiden Normen liefern uns jeweils einen Minimalbegriff beider Wissensformen, der als Ausgangspunkt für eine detailliertere Charakterisierung dient. Durch die Bezugnahme auf weitere Normen, die die Fundierung des jeweiligen Wissens betreffen, können wir diesen Minimalbegriff ausweiten. Doch für diese spezifischeren Normen kann kein Anspruch auf Allgemeinheit erhoben werden. Zudem habe ich dafür argumentiert, dass ein Blick auf die empirischen Wissenschaften, insbesondere auf die kognitive Psychologie und die Neurowissenschaften, für eine Analyse unseres Wissens gewinnbringend ist. Die Bestimmung unserer Begriffe des praktischen und des propositionalen Wissens wird zwar als eine genuine Aufgabe der Philosophie betrachtet, doch auf der Grundlage einiger naturwissenschaftlicher Konzepte und Befunde können wir ein differenzierteres Bild von Erkenntnisprozessen gewinnen. Insbesondere der Begriff der Fähigkeit, der eng an praktisches Wissen gebunden ist, kann durch den Bezug auf die empirische Forschung wesentlich erhellt werden. Durch eine neue Betrachtung des Begriffspaares des propositionalen und praktischen Wissens und durch das Einbeziehen von Wissensformaten habe ich in dieser Arbeit einen Weg aufgezeigt, beide Wissensformen als eigenständige, irreduzible Wissensformen aufzufassen und sie dennoch in Bezug zueinander zu setzen. Praktisches Wissen ist das Wissen, das uns dazu befähigt, intelligente Handlungen auszuführen. Es lässt sich nicht auf propositionales Wissen reduzieren, da es keinen hinreichend objektivierbaren Gehalt aufweist. Unsere erfolgreichen Handlungsweisen, auf die sich praktische Wissensformen beziehen, sind wesentlich durch individuelle Momente geprägt und entziehen sich somit einer vollständigen Objektivierung. Beide Wissensformen sind zudem auf unterschiedliche Ziele hin ausgerichtet: Durch propositionales Wissen gewinnen wir wahre Behauptungen über die Welt, praktisches Wissen dient uns hingegen dazu, unsere Wünsche und Ziele durch unsere Handlungen zu verwirklichen. Diese unterschiedlichen Ziele werden durch die beiden idealtypi-
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schen Normen ausgedrückt, die die beiden Wissensformen jeweils charakterisieren. Obwohl praktisches und propositionales Wissen unterschiedliche Manifestationsformen unserer Intelligenz markieren, können sie nur durch eine wechselseitige Bezugnahme angemessen verstanden werden. Ich habe dafür argumentiert, dass die Verbindungen zwischen den beiden Wissensformen durch die Unterscheidung dreier Wissensformate erhellt werden können. Wissensformate beschreiben die Struktur von mentalen Zuständen, die Wissensphänomenen zugrunde liegen. Ich habe diese Formate durch verschiedene Repräsentationsarten (propositional/sensomotorisch) und Zugangsweisen (bewusst/unbewusst) charakterisiert. Das propositionale Wissensformat wurde durch entsprechende propositionale Repräsentationen expliziert, die Kombinationen aus Begriffen darstellen und durch Systematizität und Produktivität gekennzeichnet sind. Durch dieses Wissensformat werden Inhalte repräsentiert, die bewusst vorliegen und die Grundlage für unser sprachbasiertes Wissen bilden. Durch seine leichte Vermittelbarkeit und seinen hohen Abstraktionsgrad werden durch dieses Format spezifische wissenschaftliche und kulturell verankerte Erkenntnis- und Lernprozesse möglich gemacht. Das sensomotorische Format wurde hingegen mit Hilfe von nicht-begrifflichen Repräsentationen beschrieben, die unstrukturiert, feinkörnig und stimulusabhängig sind. Im sensomotorischen Format werden spezifische, für die Ausführung von Handlungen notwendige Informationen repräsentiert, ohne dass sie ins Bewusstsein gelangen: Dies sind zum einen angestrebte Zielzustände, zum anderen kinästhetische Regelmäßigkeiten. Durch die unbewussten, feinkörnigen und kontextspezifischen Repräsentationen, die dieses Wissensformat kennzeichnen, dient es als Grundlage für die intelligente, „fließende“ Ausführung komplexer motorischer Fähigkeiten. Ich habe dafür argumentiert, dass es neben propositionalem und sensomotorischen auch ein bildhaftes Format gibt, dass für die Zusammenhänge zwischen praktischen Fähigkeiten und sprachbasiertem Wissen eine entscheidende Rolle spielt. Bildhafte Wissensformate können in unterschiedlichen Modularitäten vorliegen – etwa in visueller, auditiver oder motorischer Form. Empirische Studien legen nahe, dass motorische Bilder dann erzeugt werden, wenn routinierte, unter normalen Umständen unbewusst ablaufende Bewegungsmuster verhindert oder verzögert werden. Durch solche motorischen Bilder können die sonst unbewussten sensomotorischen Repräsentationen ins Bewusstsein gelangen. Zudem weisen einige Studien darauf hin, dass auch durch visuelle Bilder, die wir bei der Wahrnehmung der Handlungen anderer Personen entwickeln, äquivalente motorische Bilder hervorrufen können. Dadurch, dass wir über das bildhafte Format einen bewussten Zugriff auf die sensomotorischen Repräsentationen erhalten, die Handlungsweisen zugrunde liegen, markiert es eine wesent-
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liche Grundlage für mentales Lernen und eine nonverbale Wissenskommunikation. Einige Beispiele aus der kognitiven Psychologie der Musik konnten die Fruchtbarkeit des zuvor entwickelten theoretischen Rahmens aufzeigen: Paradigmatische Manifestationen von Wissens- und Lernprozessen spiegeln die drei Wissensformate wider. Darüber hinaus wurde das konstruktive Zusammenwirken theoretischer und praktischer Wissensformen anhand des Übungsverhaltens einer Konzertpianistin aufgezeigt. Dieses Beispiel verdeutlichte, dass propositionales und praktisches Wissen in keiner Weise aufeinander reduzierbar sind, sondern sich vielmehr ergänzen und komplementieren. Die in dieser Arbeit entwickelte Theorie von Wissensformen und -formaten richtet sich gegen eine Eingrenzung des Wissens auf sprachlich-äußerbare oder symbolisch repräsentierte Information. Dadurch wird eine differenziertere Betrachtung von Wissenssituationen unseres Alltags ermöglicht: Nicht nur propositionales Wissen spielt hierbei eine zentrale Rolle. Es hat sich gezeigt, dass auch nicht-sprachliche, praktische Wissensformen wichtige kognitive Leistungen markieren und unsere Handlungen und Wahrnehmungen in vielfältiger Weise beeinflussen können. Auch für Diskurse anderer Wissenschaftszweige, wie beispielsweise der Ethologie oder der Psychologie, könnte sich die Unterscheidung von Wissensformen und Wissensformaten als fruchtbar erweisen, da sie eine feinkörnige Charakterisierung und Einordnung von Verhaltensdispositionen erlaubt. Das Verständnis unserer praktischen Wissensformen ist nicht zuletzt für die Erkenntnistheorie von großer Bedeutung. Praktisches Wissen ist zwar nicht direkt auf das epistemische Ziel der Wahrheit bezogen. Doch aus diesem Umstand kann nicht geschlossen werden, dass ein solches Wissen für erkenntnistheoretische Themen keine Rolle spielt. Die Frage, wie wir zu wahren Meinungen über die Welt gelangen, ist eng mit der Frage verwoben, wie wir unsere Handlungen ausrichten. Praktisches und propositionales Wissen sollten daher immer in einem engen Zusammenhang betrachtet werden. Vor diesem Hintergrund kann diese Arbeit auch als Plädoyer dafür verstanden werden, dass praktische Wissensformen in der Erkenntnistheorie nicht länger als ein Randphänomen betrachtet werden sollten. Nicht nur unsere wahren Meinungen, sondern auch deren Entstehungsgeschichte und Zusammenhänge zu praktischen Fähigkeiten sind für die Philosophie relevant. Aus diesem Grund sollte die Vielfalt unserer praktischen Wissensformen in das Blickfeld der Erkenntnistheorie gerückt werden.
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7 Personenregister Alston, William 100 Fn, 112–113 Altenmüller, Eckart 203 Anderson, John R. 194 Anscombe, Elisabeth 158 Antony, Louise M. 73 Aristoteles 1, 15–16, 88, 124 Ayer, Alfred Jules 96 Baird, David 191 Bandura, Albert 72 Bartels, Andreas 164 Fn Baumann, Peter 14 Beckermann, Ansgar 3, 79–80, 114–131, 146 Bengson, John 36 Bermúdes, José 142 Bernecker, Sven 112, 194 BonJour, Laurence 100–103 Brandom, Robert 111–112 Brinck, Ingar 44–45 Brown, D.G. 36 Fn Campbell, John 171 Carnap, Rudolf 79, 82–85, 132 Carr, David 41 Fn Chaffin, Roger 207 Chisholm, Roderick 96 Chomsky, Noam 75 Clark, Michael 99–100 Cleeremans, Axel 188 Cole, K. J. 181 Craig, Edward 71–72, 79, 126–130, 141 Damschen, Gregor 65–66 Dascal, Marcelo 49–50 Dienes, Zoltán 42–45, 59, 200 Dowling, W. Jay 199–200 Dretske, Fred 74, 109–110, 168 Dreyfus, Hubert L. 74 Fn, 148, 160, 174– 175, 182–199, 217 Fn Dummett, Michael 89 Evans, Gareth 56, 75, 164, 168 Fahrbach, Ludwig 116 Fodor, Jerry 43, 58–62, 69–70, 153, 163 Foley, Richard 100–104, 111 Franklin, R.L. 124 Freeman, Walter J. 186–187
Frege, Gottlob 42 Fn Fuchs, Thomas 176 Gallagher, Shaun 173 Fn Gettier, Edmund L. 79, 96–98, 107, 114 Gibson, James J. 34, 171 Ginet, Carl 22 Goldman, Alvin I. 80, 100 Fn, 106–108, 111, 132, 136–138, 143, 145 Goodale, Melvyn 172 Grundmann, Thomas 14–15, 82 Fn Hanna, Patricia 46–47 Hartland-Swann, John 64–65 Haueisen, Jens 204–205 Hawley, Katherine 47, 106 Hawthorne, John 17 Hetherington, Stephen 65 Fn Hintikka, Jaakko 36–37 Hofmann, Frank 116, 122 Hornsby, Jennifer 75 Hume, David 131 Hyvönen, Leena 205–206 Imreh, Gabriela 207–208 Jackson, Frank 8, 86, 211–214 Jaques-Dalcroze, Émile 205–206 Jeannerod, Marc 170–171, 179–180, 204 Johnson, Mark 205–206 Juntunen, Marja-Leena 205–206 Keil, Geert 132 Fn, 134 Fn Kenny, Anthony 41 Fn Kern, Andrea 13 Fn Kim, Jaegwon 134–135 Knösche, Thomas R. 204–205 Koppelberg, Dirk 136 Fn Kornblith, Hilary 80, 132, 136, 138–145 Kripke, Saul 140 Künne, Wolfgang 89–90 Kusch, Martin 141 Fn Kvanvig, Jonathan L. 124 Lakoff, George 205–206 Le Morvan, Pierre 122–123 Lehrer, Keith 36 Lewis, David 212–213 Löffler, Winfried 85 Fn Longuet-Higgins, Christopher 200
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Personenregister
Markie, Peter 31 Mele, Alfred 41 Fn Merleau-Ponty, Maurice 173–174, 176, 183, 185–187, 201–202 Milner, David 172 Moffett, Marc 36 Moravcsik, Julius 61 Nagel, Thomas 8 Neisser, Ulric 152 Nemirow, Laurence 212–213 Newen, Albert 82 Fn, 164 Fn Noë, Alva 36, 66 Fn, 68, 71, 73, 198, 215– 217 Nozick, Robert 47 Fn, 105–106, 127 O'Regan, Kevin 214–217 Pachérie, Elisabeth 170 Fn, 171–172 Paivio, Allan 178 Perner, Josef 42–45, 59 Perry, John 53, 55 Piaget, Jean 200 Platon 15–16, 82, 86–87, 91, 121 Polanyi, Michael 2, 18–19, 26–30, 32, 45, 59 Fn, 77, 156, 175, 194–195, 200 Fn Popper, Karl R. 27 Fn Poston, Ted 99 Putnam, Hilary 89, 140 Quine, Willard Van Orman 80, 82, 83 Fn, 84, 131–137, 141, 143–144 Radford, Colin 92–93 Recanati, François 178 Fn Rheinberger, Hans- Jörg 191 Rosefeldt, Tobias 31, 36 Rosenthal, Jacob 103 Fn Rowland, Jane 75
Rumfitt, Ian 67 Russell, Bertrand 9 Fn Ryle, Gilbert 2, 18–25, 30, 32–38, 40–42, 45, 47–48, 68, 70, 75, 77, 151, 194, 213 Sartwell, Crispin 79, 114–115, 118–122 Schacter, Daniel L. 175, 193 Schmitt, Richard 154 Searle, John 69–70 Seiler, Thomas B. 117–118 Sellars, Wilfrid 135 Siegwart, Geo 83 Fn, 85, 98 Snowdon, Paul 32 Fn, 34–35, 38–40, 62–63, 75, 158 Fn Sokrates 82–83, 86, 91, 94, 121 Sosa, Ernest 110, 112, 123 Fn, 142 Stanley, Jason 2, 14, 17, 21–23, 31–32, 35, 38–39, 42–45, 51–59, 62, 67–70, 75, 99, 129, 154, 156, 213, 215–216 Strout, Barry 82 Fn Stüber, Karsten 82 Fn von Kutschera, Franz 13, 121–122 Watson, John B. 151 White, Alan 40 Williamson, Timothy 2, 14, 17–18, 21–23, 31–32, 35, 38–39, 42–45, 51–59, 62, 67–70, 79–80, 99, 126, 128–130, 154, 156, 213, 215–216 Wittgenstein, Ludwig 1, 78, 126 Wright, Jennifer C. 36 Young, Garry 46, 159 Fn Yue, G. 181 Zahavi, Dan 173 Fn
8 Sachregister Ability-Hypothesis (siehe: Fähigkeitshypothese) Affordanzen 34, 160, 171 Agrippas Trilemma 95 Allgemeinheitsbedingung (Generality Constraint) 164–165 Allgemeinheitsproblem 110 Amusia 198 Analogie-Argument 90 Anhalt 183, 185–186 Anpassungsrichtung – Geist-zu-Welt 129, 160 – Welt-zu-Geist 160 Anti-Intellektualismus 32, 42, 45–49, 64– 66, 75–76 Anti-Repräsentationalismus 148, 150, 174– 175, 182, 187, 216–217 Argument – der Differenz 13, 15, 48, 71 – der Reduktion 13–14, 17, 71 – des unvollständigen Wissens 4, 8, 211– 213 Art des Gegebenseins (siehe: Mode of Presentation) Attraktortheorie 186 Begriff – kausal-indexikalischer 171 Fn – künstlicher 117 – natürlicher 117–118 Behaviorismus 23, 30, 151–152, 170 Beobachterperspektive (siehe: Dritte-PersonPerspektive) Disposition 34, 45, 56, 220 Dispositionale Analyse 23–26, 33–35, 38, 41–42, 213 Dritte-Person-Perspektive 166–168, 179– 181 Dual-Coding Theory (siehe: Theorie der dualen Kodierung) Enaktivismus 211, 216 Epistemik 137 Epistemische Glücksfälle 95 Epistemischer Wert 79, 115–116, 120–125, 130–131, 135, 147
– intrinsisch 115 – instrumentell 115 Erste-Person-Perspektive 57, 160, 166–167, 179–181 Explikationskontroversen 33–49, 85, 91, 100, 111–112, 116, 142 Explikationstheorie 83–85 Explikatsprache 83, 85, 110–111 Extension (eines Begriffs) 117–118, 126– 127 Externalismus 25, 66, 79, 100–101, 104– 114, 139, 142–143, 146, 161–162, 189, 218 Fähigkeitshypothese 212–213 Feed-Forward-Netze 186 Fehlrepräsentation 153 Fokale Dystonie 202–203 Gedächtnis – deklaratives 194 – explizites 193 – implizites 175, 193–194 – prozedurales 194, 209 Gehalt – nicht-begrifflicher 44, 168–169 Gestalttheorie 28–30, 175, 200 Geschlossenheitsprinzip 98 Gettier-Fälle 79, 96–100, 106–108, 110– 111, 146 Imagination – motorische 179–182 – musikalische 203–206, 209 – gerichtete 203 Indexikalität 53–55, 171–172 – kausale 171 – dynamische 172 Intellektualismus 23, 31–32, 45, 75 Intellektualistische Legende 19–23, 30 Fn, 42–43, 60, 151, 176, 201, 208 Intentionalität – intentionaler Bogen 173, 176, 183, 185 – intentionale Handlung 22, 46, 65–66, 99, 157–162, 174, 188 – intentionaler Zustand 140, 190–192
236
– – –
Sachregister
motorische Intentionalität 185, 187 repräsentationale Intentionalität 185 übergeordnetes intentionales Projekt 46, 159, 188 Intension (eines Begriffs) 117, 126–127 Internalismus 25, 66, 79, 100–106, 111– 114, 142–143, 146, 157, 161, 162, 189, 218 Kausaltheorie des Wissens 106–107, 109, 137 Kennen 6, 9–10, 13 Kognitionswissenschaften 2, 4, 33, 73–74, 109, 146, 148, 150–151, 168, 173 Fn, 186, 189, 195 Kognitive Ethologie 140–143 Kognitive Psychologie 3, 137, 144, 146, 197, 218 Kognitive Wende 152 Kompositionalitäts-Argument 90 Körperschema 174 Lernen – am Modell 72 – implizites 64, 188, 199–200 Menon-Intuition 121–122 Menon-Problem 121 Metapher – körperliche 205–206 Meta-Rechtfertigung 103 Minimaler Wissensbegriff 3, 114, 119, 121, 157, 161, 195, 218 Mode of Presentation 42 – practical mode of presentation 43, 55– 58, 62, 156, 213, 216 Musikkognition 197, 208–209 Naturalisierte Erkenntnistheorie 132–135 Naturalismus 131–132, 136, 139, 143–144, 189 Naturalistische Erkenntnistheorie 3, 79–80, 131–145, 149, 189, 217 Natürliche Art 140–142 Norm – des Handlungserfolgs 144, 157–158, 161, 162, 218 – der Wahrheit 157, 162, 218 Normativität 40, 47, 71, 104, 134–135, 137–138, 141, 144, 192, 194 Pragmatische Wissenstheorie 126–128
Proposition 10–12 – regulative Proposition 20–21, 30 Rechtfertigungstranszendenz 90 Reduktion – epistemische 49–51, 56, 58–59, 62– 63, 66–67, 76, 104, 208 – genetische 49–51, 65–67 – ontologische 49–51, 62–67, 76, 104, 135, 208 – pädagogische 50–51, 63 Referenzproblem 97 Reliabilismus 101, 105–106, 109–110, 112, 137, 139 Repräsentation – analoge Repräsentation 178 – bildhafte Repräsentation 177–181, 188, 194–195 – propositionale Repräsentation 169, 177–178, 187, 194 – sensomotorische Repräsentation 149, 159, 163, 168–172, 179–181, 187, 194, 202, 219 Repräsentationalistische Theorie des Geistes 43, 59, 70 Repräsentationsmodus – semantischer 171–172 – pragmatischer 171–172, 174, 180 Repräsentationsvehikel 152, 189 Sensomotorische Kontingenzen 215 Sensomotorische Schemata 200 Skeptizismus 82, 91, 127, 133 Soziale Erkenntnistheorie 95 Fn Sprache des Geistes 3, 69–70, 147, 150, 153, 163–164 Standardkonzeption des Wissens 79, 86–96, 98, 106 Subtraktionsannahme 142, 145 Theorie der dualen Kodierung 178 Wahrheitsmonismus 122–125, 131 Wahrheitstheorie – epistemische 88–91 – nicht-epistemische 88–91 Wahrmacherargument 90 Wahrmacherproblem 97 Wissen – deklaratives Wissen 193–194 – durch Bekanntschaft 9 Fn
Sachregister
– – – – – – – –
explizites Wissen 29–30, 47, 49 implizites Wissen (tacit knowledge) 28– 30, 33, 45, 59–60, 62, 74, 175 kollektives Wissen 189 Fn phänomenales Wissen (Wissen, wie es ist) 4, 8, 10, 13, 211–212 prozedurales Wissen 193–194 reflexives Wissen 112, 142–143, 145 sensomotorisches Wissen 215–216 tierisches Wissen 112, 142–143, 145
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Wissen-Handlungs-Lücke 20, 48, 155, 166, 168, 208 Wissensformat – bildhaftes 4, 148–150, 163, 181, 196, 206, 209, 214, 219 – propositionales 165, 168, 188, 214, 219 – sensomotorisches 4, 148–150, 163, 180, 188, 193, 209, 214, 216, 219