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German Pages 354 Year 2020
Jakob Auenmüller Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Musik und Klangkultur | Band 50
Für meine beiden Liebsten, die mir mit Engelsgeduld und Ausdauer den Rücken freigehalten und meine Kraft- und Motivationsreserven immer wieder aufgefüllt haben!
Jakob Auenmüller, geb. 1990, promovierte mit Unterstützung eines Stipendiums der Studienstiftung des Deutschen Volkes bei Prof. Clemens Wöllner in Hamburg. Er studierte Musikwissenschaft an der Universität Leipzig und lebt in Radebeul bei Dresden.
Jakob Auenmüller
Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit Zum Umgang mit Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern nach 1990
In Dankbarkeit für alle, die mich in den vier Jahren begleitet, unterstützt, ermutigt und inspiriert haben – und mir stets mit Rat und Tat zur Seite standen, wo und wann immer sie am dringendsten gebraucht wurden!
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
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Inhalt
Abkürzungsverzeichnis | 13 1
Einleitung: Getrennt vereint? Zum Ansatz der Arbeit | 15
1.1 1.2 1.3 1.4
Zwischen Ost und West – ein hochaktuelles Spannungsfeld | 15 Persönlicher Bezug | 16 Zur besonderen Struktur und Einordnung der Arbeit | 17 Begrifflichkeiten und Sprachregelungen | 20
OSTDEUTSCHLAND IM ZEITGESCHICHTLICHEN DISKURS Erlebte Zeitgeschichte | 25 2.1 Quellen und Perspektiven – einführende Gedanken | 25 2.2 Das Wendegeschehen als Gegenwart | 28 2.2.1 Identitätsfragen – Identitätskrise – Haltung zur Wiedervereinigung | 28 2.2.2 Rolle der Oppositionellen und Bürgerrechtsgruppen im Wendeprozess – die Wende als historischer Akt | 34 2.2.3 1990 – Rückblick auf das Wendejahr | 39 2.2.4 Eine mahnende Stimme – Fazit | 41 2.3 Die Wende in der Rückschau aus Sicht von Zeitzeugen | 42 2.3.1 Vorwendezeit – Leben in der DDR | 43 2.3.2 1989/90 – die Wende | 46 2.3.3 Mauer und Mauerfall | 49 2.3.4 Nachwendezeit | 51 2.3.5 Bewertung der Wende und Nachwendezeit | 55 2.3.6 Sonstige Themenfelder | 59 2.4 Umbrüche, Aufbrüche, Abbrüche – Fazit | 60 2
Erforschte Zeitgeschichte | 63 3.1 Historische Forschung zur DDR und Wendezeit | 63 3.2 Aktuelle Studien zu Ostdeutschland | 66 3.2.1 Ost-Migrantische Analogien | 66 3.2.2 Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten? | 73 3.2.3 Sichtbarmachung des Ungreifbaren – Fazit | 79 3.3 Journalistische und publizistische Beiträge zu Ostdeutschland | 80 3.3.1 Integriert doch erst mal uns! | 80 3.3.2 Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein | 86 3.4 Tickt Ostdeutschland anders? – Fazit | 91 3
4
Ostdeutschland in der theoretischen Reflexion | 93
4.1 Das ostdeutsche Idiom und die kollektive ostdeutsche Identität | 93 4.2 Ostdeutschland als Teilgesellschaft | 96 4.3 Postsozialismusforschung | 97 4.3.1 Begriff des Postsozialismus | 98 4.3.2 Konzepte und Entwicklung der Postsozialismusforschung | 99 4.3.3 Historische Einordnung des Staatssozialismus | 99 4.3.4 Staatssozialismus als Sozialordnung | 100
UNTERSUCHUNGEN ZUM UMGANG MIT OSTDEUTSCHER MUSIK IN DER NACHWENDEZEIT Musikforschung zur Nachwendezeit | 103 5.1 Stand der Musikforschung zur DDR- und Nachwendezeit | 103 5.2 Forschungsbedarf | 107 5
6
Anliegen, Fragen und Fokus der Untersuchungen | 111
6.1 6.2 6.3 6.4
Anliegen | 112 Übergeordnete Fragestellungen | 112 Teilstudien und Methodenvielfalt | 113 Fokussierung | 114
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 115 7.1 Methodik und Definitionen | 115 7.2 Ergebnisse | 118 7.2.1 Alle untersuchten Institutionen | 118 7.2.2 Aufschlüsselung nach Art der Institutionen | 124 7
7.3 Herausforderungen und Chancen – Fazit | 132 7.4 Liste ostdeutscher Komponisten | 133 8
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 137
8.1 Musikunterricht in der DDR und den neuen Bundesländern vor und nach 1990 | 137 8.2 Zeitgenössische Musik und Musik aus der Region als Thema in den Lehrplänen | 144 8.3 Befragung von Musiklehrern an Gymnasien in Mitteldeutschland | 148 8.3.1 Methodik | 148 8.3.2 Ergebnisse | 149 8.4 Mehr wagen! – Fazit | 157 Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 159 9.1 Übergeordnete Fragestellungen | 159 9.2 Methodik | 163 9.2.1 Untersuchungsdesign | 163 9.2.2 Musikalisches Material | 164 9.2.3 Durchführung und Probanden | 167 9.2.4 Technische Anmerkungen zu den statistischen Analyseverfahren | 167 9.2.5 Darstellung der Ergebnisse | 170 9.3 Einstellungen der Hörer zu Wiedervereinigung und Nachwendezeit | 171 9.3.1 Wahrnehmung des Stellenwertes ostdeutscher Komponisten im aktuellen Konzertleben | 171 9.3.2 Stellenwerts des Kulturbereichs in der deutsch-deutschen Integration | 172 9.3.3 Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung | 174 9.3.4 Ost und West statt Ost gegen West? – Fazit | 176 9.4 Datenreduktion und Abstraktion der musikalischen Stimuli | 177 9.4.1 Datenreduktion von Variablen zu Faktoren | 177 9.4.2 Abstraktion der musikalischen Stimuli – Kategorien Rockmusik/ZG Musik und Musik Ost/West | 181 9.5 Forschungsfrage 1: Komplexe Einflüsse auf die Bewertung der musikalischen Stimuli | 186 9.5.1 Variablen und ihre Wirkung auf die Wahrnehmung und Bewertung der Musik | 186 9.5.2 Faktoren und Prädiktoren zur Vorhersage der Bewertung der Musik | 192 9
9.5.3 Vorläufiges Fazit | 201 9.6 Forschungsfrage 2: Kontextinformationen und ihr Einfluss auf die Bewertung der musikalischen Stimuli | 201 9.6.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren | 201 9.6.2 Zwischengruppendesign | 202 9.6.3 Messwiederholungsdesign | 203 9.6.4 Vorläufiges Fazit | 205 9.7 Forschungsfrage 3: Unterschiede in der Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund | 206 9.7.1 Vorüberlegungen, Annahmen, angewandte statistische Verfahren und Einsatz manipulierter Stimuli | 206 9.7.2 Zwischengruppendesign | 206 9.7.3 Messwiederholungsdesign | 209 9.7.4 Vorläufiges Fazit | 210 9.8 Forschungsfrage 4: Unterschiede in der Bewertung von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik | 211 9.8.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren | 211 9.8.2 Zwischengruppendesign | 211 9.8.3 Messwiederholungsdesign | 212 9.8.4 Vorläufiges Fazit | 213 9.9 Generationenfrage: Einfluss von Alterskohorten und Jahrgangsgruppierungen | 213 9.9.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren | 213 9.9.2 Zwischengruppendesign | 216 9.9.3 Messwiederholungsdesign | 217 9.10 Herkunft der Hörer | 218 9.10.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren | 218 9.10.2 Zwischengruppendesign | 218 9.10.3 Messwiederholungsdesign | 220 9.11 Qualitative Daten | 222 9.11.1 Wahrnehmung des Stellenwertes ostdeutscher Komponisten im aktuellen Konzertleben | 223 9.11.2 Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der DDR und der neuen Bundesländer | 224
9.11.3
Ergebnisse des Einheitsprozesses und Nachholbedarf hinsichtlich der deutsch-deutschen Integration | 224 9.12 Zusammenfassung und Diskussion | 225 9.12.1 Antworten auf die übergeordneten Fragestellungen | 225 9.12.2 Potentielle Anknüpfungspunkte für weiterführende Studien | 231 9.12.3 Gesamtschau und Übertragung in die musikalische Praxis | 233 9.13 Methodenkritik und Potentiale | 236 9.13.1 Methodenkritik | 236 9.13.2 Potentiale | 237 10
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 239
10.1 10.2 10.3 10.4
Methodik | 239 Interviewpartner | 241 Ergebnisse | 243 Praxis und Pragmatismus – Fazit | 260
GETRENNT VEREINT! EIN AMBIVALENTES FAZIT 11
Zentrale Erkenntnisse, Anknüpfungspunkte für die Forschung und Methodenkritik | 263
11.1 Zentrale Erkenntnisse und Anknüpfungspunkte | 263 11.1.1 Wende und Wiedervereinigung aus Sicht von Zeitzeugen | 263 11.1.2 Forschungslandschaft | 264 11.1.3 Medialer, publizistischer und journalistischer Diskurs | 265 11.1.4 Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern in den Programmen von Musikinstitutionen | 265 11.1.5 Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern in der Schulbildung | 266 11.1.6 Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund | 267 11.1.7 Zeitzeugengespräche mit Interpreten | 268 11.1.8 Übergeordnete Fragestellungen | 268 11.2 Methoden – Rückschau und Ausblick | 269 Drei Plädoyers und zehn Thesen | 271 12.1 Mehr Auseinandersetzung wagen! | 271 12.1.1 Zur musikwissenschaftlichen Forschung | 271 12
12.1.2 Zur Praxis | 271 12.1.3 Zum gesellschaftlichen Diskurs | 272 12.2 Getrennt vereint?! – 10 Thesen | 273 Literaturverzeichnis | 275 Quellenverzeichnis Repertoireanalysen | 303 Quellenverzeichnis der musikalischen Stimuli | 307 Anhang 1 – Fragebogen der Rezeptionsstudie | 311 Anhang 2 – Liste der musikalischen Stimuli | 319
Musikalische Stimuli: Fragebögen 1 – 3 (ZGD) | 319 Musikalische Stimuli: Fragebogen 4 (MWD) | 320 Anhang 3 – Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 321
Datenreduktion | 321 Datenreduktion von Variablen zu Faktoren – Faktorenanalysen | 321 Abstraktion der musikalischen Stimuli | 328 Forschungsfrage 1: Einflüsse auf die Bewertung der musikalischen Stimuli | 336 Forschungsfrage 3: Unterschiede in der Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund | 350
Abkürzungsverzeichnis
AB NB ZG Musik ZGD MWD AS WV oI H N
alte Bundesländer neue Bundesländer Zeitgenössische Musik Zwischengruppendesign Messwiederholungsdesign Auseinandersetzung mit Wiedervereinigung ohne Zusatzinformation mit Herkunftslabel mit Namenslabel
1
Einleitung: Getrennt vereint? Zum Ansatz der Arbeit
1.1 ZWISCHEN OST UND WEST – EIN HOCHAKTUELLES SPANNUNGSFELD Angesichts der bevorstehenden und schon laufenden Jubiläumsfeierlichkeiten zu 30 Jahren Mauerfall, politischer Wende in der DDR und deutscher Wiedervereinigung werden zahlreiche und vielfältige Stimmen laut, die zeigen, wie kompliziert das deutsch-deutsche Zusammenleben auch im Jahr 2019 noch immer ist. Gewiss wurden in den letzten drei Jahrzehnten in den unterschiedlichsten Bereichen spürbare Fortschritte erzielt, individuelle Erfolgsgeschichten gibt es in den buntesten Farben, die Rolle und Wahrnehmung Deutschlands in der Welt ist mit der von 1990 in keiner Weise mehr zu vergleichen. Ostdeutsche leben und arbeiten in Westdeutschland und umgekehrt. Kinder haben ost- und westdeutsche Eltern, ganze Generationen (sofern es die überhaupt noch gibt) haben die deutsche Teilung selbst nie erlebt und empfinden sich mal mehr, mal weniger stark als Gesamtdeutsche. Und doch gibt es da dieses Andere. Dieses Gefühl des Andersseins, des Noch-nicht-ganz-Zusammengehörens. Diese Ahnung, dass aus Ost- und Westdeutschland eben doch noch nicht ein gemeinsames Deutschland geworden ist, in dem die in 40 Jahren der Teilung gewachsenen Unterschiede keine Rolle mehr spielen, die Herkunft nur noch eine regionale Fußnote darstellt und wenig mehr bedeutet als die Sympathie für den heimischen Sportverein. Die lebhaften medialen Debatten rund um die Landtagswahlen in Sachsen, Brandenburg und Thüringen im Sommer und Herbst 2019 haben dieses Gefühl wieder eindrucksvoll koloriert. Zu einem tatsächlichen gegenseitigen Verständnis in Ost- und Westdeutschland und damit wirklich brauchbaren gesellschaftspolitischen und kulturellen Analysen haben sie im Großen und Ganzen einmal mehr nicht geführt – wenn auch diesmal zumindest viele kleine gewinnbringende Ansätze erkennbar waren.
16 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Selbstverständlich wird dieses pauschale Bild den Lebensrealitäten in Deutschland, der gesellschaftlichen Stimmungslage in Ost und West und den Einstellungen der Menschen nicht im Ansatz gerecht. Ein Blick unter die Oberfläche genügt, um die Vielfalt des tatsächlichen, wenn auch nicht immer sichtbar geführten Diskurses zu entdecken. Dennoch scheint mir dieses meist schwer greifbare Gefühl zwischen »Wir gehören doch längst zusammen« und »Ost- und Westdeutsche unterscheiden sich in vielen Dingen doch noch irgendwie«, vor allem aber auch »Wir wissen gar nicht recht, wie und ob wir darüber reden sollen und können« durchaus zutreffend. Wenigstens bestätigt es sich im Alltag oft genug. Gewiss bin ich nur ein einzelnes Individuum mit sehr begrenztem Erfahrungsraum und lückenhaften Informationen. Zudem fehlen mir als im Mai 1990 Geborenem auch wesentliche Erfahrungen – eine DDR oder die alte BRD habe ich selbst nie erlebt. Außer einem alten Impfausweis, ein paar Baby-Fotos und den Erzählungen meiner Familie bin ich Gesamtdeutscher. Und dennoch tauchen die eben beschriebenen Gefühle ab und an in meinen Gedanken auf und treiben mich um. Ich bin mir also bewusst, dass ich mich mit der Wahl meines Themas in durchaus noch immer vermintes Terrain begebe, in dem bis heute alte Vorurteile, überzogene Erwartungen und unausgesprochene Befindlichkeiten vor sich hin rosten, ohne dabei ihre Sprengkraft zu verlieren. Aus diesem Grund möchte ich meiner Arbeit einige persönliche Überlegungen vorausschicken, die meine Positionierung in diesem Spannungsfeld verdeutlichen. Weitere Vorbemerkungen wiederum gehen auf die besondere Struktur der Arbeit ein oder sind eher technischer Natur.
1.2 PERSÖNLICHER BEZUG Wie eben angerissen, gehöre ich unmittelbar zur ersten Nachwendegeneration, die um den Mauerfall herum ins Leben startete. Zugleich bin ich durch meine Familie ostdeutsch sozialisiert und habe bisher mit Stationen in Dresden und Halle/Leipzig auch ausschließlich in Ostdeutschland gelebt. Kontakte privater und beruflicher Natur nach Westdeutschland ergaben sich dagegen in den Jahren in nicht geringem Maße. Auch die Zahl der bereisten Städte und Orte jenseits Ostdeutschlands vermehrt sich mit jedem Jahr. Meine Wurzeln liegen jedoch in Ostdeutschland und ich definiere mich mit Überzeugung in positiver Weise als Ostdeutscher und Deutscher zu gleichen Teilen. Dies bedeutet jedoch auch, dass mich allein schon aus biografischen Gründen interessiert und umtreibt, was dieses Ostdeutsch-Sein bedeutet und wie es mich als Individuum prägt. Diesen Umstand kann ich nicht einfach ausblenden und er drückt sich auch in der Wahl meines Themas aus. Gleichzeitig sehe ich mich aber als Wissenschaftler in der Lage, von meiner
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persönlichen Interessenlage zu abstrahieren und weitestgehend frei von Vorurteilen und sozialisatorischen Reflexen auf meinen Untersuchungsgegenstand zuzugehen. Dies ist an sich eine völlig banale Feststellung und sollte für jeden Akteur im wissenschaftlichen Bereich fraglos gelten. Es scheint mir dennoch eine Überlegung und Erwähnung wert, um möglichen Anfechtungen von vornherein entgegenzutreten. Mit meinen in dieser Arbeit vorgelegten Darstellungen unterstütze ich demnach in keiner Weise die in manchen Bereichen anzutreffende Opfer(selbst-)Positionierung Ostdeutscher in der Gesellschaft. Wenn ich also an einigen Stellen auf tatsächlich vorhandene strukturelle Benachteiligungen der ostdeutschen Bevölkerung zu sprechen komme, so sind diese nachweisbar belegt und entspringen einem nachvollziehbaren Diskurs. Vorurteile oder gar eine gezielte Agenda spielen dabei ausdrücklich keine Rolle. Den hoffentlich als legitim einzustufenden Versuch, meinem gewählten Themenbereich zu etwas mehr Aufmerksamkeit zu verhelfen, mag man mir jedoch gern unterstellen.
1.3 ZUR BESONDEREN STRUKTUR UND EINORDNUNG DER ARBEIT Bereits diese wenigen einleitenden Worte tragen die gesamte gesellschaftspolitische, lebensweltliche und kulturelle Wucht des Diskurses um das Verhältnis von Ost- und Westdeutschland in Vergangenheit und Gegenwart in sich. Sie eröffnen damit ein mittlerweile schier unüberschaubares Feld von Beobachtungen, Analysen, Debatten und Aushandlungsprozessen, das trotz oder gerade in seiner Weitläufigkeit und inneren Zerrissenheit der Komplexität und oftmals fehlenden Greifbarkeit der letzten 30 Jahre im gesamtdeutschen Zusammenwachsen immer wieder aufs Neue gerecht zu werden versucht. Im Verlauf meiner Darstellungen werde ich ausführlich auf die unterschiedlichsten Aspekte, Facetten und Schattierungen zu sprechen kommen. Zugleich muss konstatiert werden, dass die Musikforschung dieses Feld bislang nur sporadisch und äußerst zaghaft betreten, im Großen und Ganzen jedoch gemieden oder gar ignoriert hat. Für meine Studien gibt es daher bis auf einige Ausnahmen so gut wie keine Anknüpfungspunkte an bereits vorhandene musikwissenschaftliche Analysen. Anleihen aus anderen Disziplinen sowie musikologische Erkenntnisse aus methodisch verwandten Kontexten betrifft dies natürlich nicht. In diesem Sinne muss meine Arbeit mit einem konsequent explorativen Erkenntnisinteresse und dem geeigneten methodischen Werkzeugkasten an das avisierte Forschungsfeld herantreten. Um das oben geschilderte Ungreifbare im Spannungsfeld zwischen Ost- und Westdeutschland für den Bereich der Musik einerseits fassbar und sichtbar zu machen sowie andererseits eine
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für zukünftige Forschungsvorhaben verwertbare und belastbare Grundlage zu schaffen, fällt meine Wahl vorrangig auf empirische Herangehensweisen. Aufgrund dieser Überlegungen fällt auch die Einordnung meiner Untersuchungen in den musikwissenschaftlichen Fachkontext nicht so leicht wie bei manch anderen Ansätzen. Dass meine Ausführungen eher musiksystematischer als musikhistorischer Natur sind, dürfte noch am ehesten ins Auge fallen. Dem vorrangig musikhistorisch interessierten und informierten Leser sei an dieser Stelle sogar gesagt, dass ich in meinen Überlegungen nicht auf musikalische Artefakte und deren Bedeutungs- und Interpretationszusammenhänge eingehen werde. Traditionell orientierte historische Musikwissenschaftler mögen mir die Nichtberücksichtigung dieses zugegeben für die Erforschung des Phänomens Musik an sich essentiellen Aspekts gern übelnehmen. Musiksoziologen dagegen dürften die Fokussierung meiner Interessen auf den Umgang mit Musik durch Akteure und damit verbundene Einstellungen und Handlungskontexte nachvollziehen können. Denn genau dies ist das Ziel: Eine Fokussierung auf soziologische Zusammenhänge im Sinne des Erkenntnisgewinns und nicht Ignoranz gegenüber den verschiedenen vor allem materiellen Manifestationen von Musik. Zugleich ist das Thema an sich natürlich dennoch ein primär historisch, wenngleich zeithistorisch, abgestecktes. Diesen scheinbaren Widerspruch muss ich jedoch in Kauf nehmen und bitte um Nachsicht. Nicht zuletzt möchte ich für mich in Anspruch nehmen, meine Untersuchungen durch das Betreten musikwissenschaftlichen Neulands ohnehin sehr ambitionierten Ansprüchen auszusetzen. Dass vor diesem Hintergrund meine Darstellungen nicht alle Teilaspekte von Musik und musikkulturellen Phänomenen abdecken können, ohne sowohl an Tiefe als auch an Schärfe zu verlieren, scheint mir durchaus vertretbar. Zukünftige Studien mögen diese Lücke schließen und damit auch musikalischen Artefakten besser gerecht werden, als ich es mit meinem Ansatz und Anliegen zu leisten im Stande wäre. Folgerichtig sind demnach vor allem musiksoziologische und musikpsychologische Aspekte für meine Studien von Interesse. In diesem Sinne ließe sich die Arbeit als musiksystematischer Ansatz mit vorrangig musiksoziologischen Methoden und Erkenntnisinteressen charakterisieren, ohne damit eine klare und eineindeutige Zuordnung vorzugeben. Gewissermaßen setze ich mich mit meinem Vorhaben bewusst zwischen die Stühle und beziehe genau daraus Aussagekraft und Relevanz für meine Analysen. Aus genau diesem Spagat resultiert schließlich auch die auf den ersten Blick etwas ungewohnte Struktur meines Buches. Obwohl im musikbezogenen Teil überwiegend empirisch arbeitend, wird sich daher keine klassische Gliederung einer empirischen Studie finden, wie sie beispielsweise in psychologischen Journals zur Anwendung kommt. Dies liegt in der speziellen inhaltlichen und methodischen Mischform meines Ansatzes begründet. Es hat darüber hinaus zur Folge, dass ich
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auf die konkreten Anliegen und Forschungsfragen meiner Teilstudien nicht wie üblich bereits hier im einleitenden Kapitel eingehe. Da ich diese aus einer umfangreichen Auseinandersetzung mit dem allgemeinen historischen, politischen und kulturellen Diskurs zu Ost- und Westdeutschland und zur deutsch-deutschen Integration seit 1990 ableite, werde ich darauf im Sinne einer nachvollziehbaren Dramaturgie nach den zeitgeschichtlichen und theoretischen Überlegungen zu Ostdeutschland und vor meinen eigenen musikwissenschaftlichen Forschungsbeiträgen zu sprechen kommen. Zu ebendiesen zeithistorischen Analysen sei Folgendes angemerkt. Auch hier mache ich mich auf den ersten Blick einer gewissen Auslassung schuldig. In der Reflexion des Diskurses zum Phänomen Ostdeutschland nach 1990 werde ich auf zahlreiche politische, historische, gesellschaftliche, ökonomische und soziale Facetten zu sprechen kommen. Eine Zuspitzung auf die spezifische Gestalt und Struktur des ostdeutschen Kulturlebens und die Rolle kulturschaffender Akteure, wie sie in meinen musikbezogenen Teilstudien eine tragende Rolle spielen werden, nehme ich bewusst nicht vor. Für eine im Kern musikwissenschaftlich motivierte Arbeit, die sich vor allem im Fachkontext verorten will und muss, mag dies problematisch erscheinen. Jedoch bin ich der Ansicht, keine rein musikwissenschaftliche Arbeit vorzulegen. Zwar liegt es durchaus in meiner Absicht, genuin musikologische Fragen zu stellen, diese zu beantworten und darüber hinaus auf Lücken und Potentiale im Fachdiskurs aufmerksam zu machen. Meine primäre Motivation für die Auseinandersetzung mit dem Thema ziehe ich jedoch aus der Beschäftigung mit größeren gesamtgesellschaftlichen, politischen und sozioökonomischen Herausforderungen unserer Zeit. Diesem Umstand möchte ich Rechnung tragen. Darüber hinaus gibt es allerdings noch zwei weitere Aspekte, die diesen Ansatz untermauern. Zum einen halte ich es gerade beim gegebenen Thema für ratsam, vor dem eigentlichen Herantreten an unseren Forschungsgegenstand Musik den eigenen wissenschaftlichen Kosmos bewusst zu verlassen und beiseite zu schieben. Ich erhoffe mir auf diese Weise eine gewisse Unvoreingenommenheit einerseits und Schärfe der Schlussfolgerungen andererseits, wenn ich schließlich das musikalische Feld betrete. Zum anderen gibt es schlichtweg keinen besonders ausgeprägten wissenschaftlichen Diskurs zum ostdeutschen Kulturleben nach 1990, aus dem ich intensive Betrachtungen ableiten könnte – eine kombinierte Schlagwortsuche zu »Ostdeutschland«, »Kultur«, »Kulturleben«, »Kulturschaffende«, »Nachwendezeit« etc. in einschlägigen Bibliothekskatalogen führt zu sehr überschaubaren Ergebnissen. Um mich nicht in eher spekulative Schlüsse und Aussagen zum Kulturleben zu versteigen, bleibe ich daher bei dieser auf den ersten Blick vielleicht nicht stringent erscheinenden Trennung der nicht kulturbezogenen zeitgeschichtlichen Reflexionen einerseits und der musikbezogenen Studien andererseits. Als Kompromiss werde ich jedoch
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an geeigneten Stellen mittels Fragen und kursorischen gedanklichen Anregungen auf potentielle Bezüge der zeitgeschichtlichen Analysen zu Kulturleben und Musiklandschaft zu sprechen kommen. Ob dieses Konzept plausibel erscheint und aufgeht, muss jeder Leser selbst entscheiden. Somit ergibt sich nun folgende Struktur des Textes. Zunächst skizziere ich aus verschiedenen Perspektiven den zeitgeschichtlichen Rahmen meiner Untersuchungen. Es folgen eine ausführliche Beleuchtung des wissenschaftlichen, journalistischen, publizistischen und medialen Diskurses zum gegebenen Themenfeld, die theoretische Eingrenzung des Konstrukts Ostdeutschland und eine Einordnung des Forschungsstandes im Bereich der Musikforschung. Ausgehend von diesen Kontextualisierungen werde ich meine konkreten Forschungsanliegen und Fokussierungen im Feld der Musik formulieren. Es folgen Analysen in den Bereichen der Repertoirekunde, des Musikunterrichts an Gymnasien, der Wahrnehmung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund durch Hörer sowie einer Interviewstudie mit Interpreten. Abgerundet wird dies alles durch ein zusammenfassendes Gesamtfazit, drei abschließende Schlussplädoyers, sowie zehn zugespitzte Thesen, welche die Kernaspekte der Arbeit noch einmal pointiert rekapitulieren.
1.4 BEGRIFFLICHKEITEN UND SPRACHREGELUNGEN Zur Zeitgenössischen Musik Ich werde mich in meinen Untersuchungen zum Teil auf das Genre der klassischen Zeitgenössischen Musik fokussieren. Allein für die adäquate Definition des Begriffs ließe sich eine eigene Abhandlung mit Rückgriffen auf die verschiedensten Diskurse des 20. und 21. Jahrhunderts füllen. Da eine solche definitorische Diskussion in keinem sinnvollen Verhältnis zum Anliegen meiner Studien stünde, komme ich abkürzend zu einer sehr pragmatischen Definition. Für mich zählen im Folgenden alle musikalischen Werke zum Genre der Zeitgenössischen Musik, die nach 1945 komponiert wurden, sich überwiegend nicht eines konventionellen Materialstands sowie traditioneller Kompositionstechniken bedienen und nach allgemeinem Konsens der klassischen Musik zugeschrieben werden. Diese Definition deckt zugegeben ein großes Spektrum an Musik ab, reicht jedoch für meine hier benötigten Zwecke vollkommen aus. Wichtig ist mir hingegen noch der Hinweis, dass es mir bei dieser Fokussierung nicht um eine Protektion Zeitgenössischer Musik geht. Sie ergibt sich ausschließlich anhand pragmatischer Überlegungen. Auch dies sollte aus wissenschaftlicher Sicht keiner Erwähnung bedürfen. Die musikwissenschaftliche Realität spricht hier jedoch vor allem in der gar nicht allzu
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fernen Vergangenheit eine andere Sprache. Insofern sei mir die Bemerkung gestattet, dass Zeitgenössische Musik heute sicherlich keiner expliziten Protektion mehr bedarf. Entgegen der allgemeinen Wahrnehmung eines bedrohten Nischendaseins zeichnen Repertoireanalysen überwiegend ein wesentlich entspannteres Bild. Darauf werde ich noch zu sprechen kommen. Weitere Begriffe und Sprachregelungen In meinen Ausführungen werden sich noch drei weitere dem Thema immanente Begrifflichkeiten finden, die einer kurzen Anmerkung bedürfen. Zum einen ist dies die Bezeichnung Mitteldeutschland. Hierbei handelt es sich in meinen Aussagen um die drei Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, womit ich der heutzutage üblichen Bezeichnung folge. Ähnliches gilt zum anderen für Ostdeutschland – in diesem Fall sind die neuen Bundesländer gemeint. Vor allem in der Vergangenheit waren diese Begriffe jedoch bekanntermaßen belastet, indem sie von deutschen Revanchisten nach 1945 zur Markierung der bis 1945 zum Deutschen Reich gehörigen Gebiete jenseits der Oder-Neiße-Grenze benutzt wurden. Schließlich werde ich noch die Formulierung der deutsch-deutschen Integration in Bezug auf das Zusammenwachsen von Ost- und Westdeutschland nach 1990 bemühen. Dies soll zum Ausdruck bringen, dass seit 1990 auf politischer Ebene zwar selbstverständlich nur noch ein Gesamtdeutschland existiert, Ost- und Westdeutschland jedoch weiterhin – wie zu sehen sein wird auch empirisch nachweisbar – als Teilgesellschaften und voneinander noch immer in einigen Belangen abgrenzbare Entitäten aufgefasst werden können. Mit der Absolutheit der deutschdeutschen Beziehungen zwischen 1949 und 1990 und der damit einhergehenden Betonung der trennenden Aspekte im Rahmen der deutschen Teilung ist diese Auffassung trotz sprachlicher Nähe jedoch explizit nicht zu verwechseln. Eine letzte Bemerkung betrifft die gendergerechte Sprachregelung, für die es aus meiner Sicht bislang noch keine befriedigende und allgemein akzeptierte Lösung gibt. Aus diesem Grund und im Sinne der Lesbarkeit entscheide ich mich für die überwiegende Anwendung der männlichen Wortform im Text und weise hiermit auf den ausdrücklichen Einbezug aller sozialen Geschlechter hin. Lediglich in Bezug auf den Begriff »Komponist« darf die männliche Form auch gern als dezenter kritischer Hinweis auf den Umstand verstanden werden, dass dieses Berufsfeld noch immer deutlich von Männern dominiert wird – trotz gegenläufiger Tendenzen in den letzten Jahren.
Ostdeutschland im zeitgeschichtlichen Diskurs
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Erlebte Zeitgeschichte
2.1 QUELLEN UND PERSPEKTIVEN – EINFÜHRENDE GEDANKEN Jeder Forschungsgegenstand, der sich ganz oder teilweise auf dem Terrain historischer Kontexte bewegt und seine Relevanz und Gestalt aus solchen bezieht, bedarf zumindest einer kurzen Einordnung in ebenjene. Auch ich möchte mich dieser Aufgabe nicht entziehen, wenngleich die Herausforderung in diesem Fall außerordentlich groß erscheint und das Vorhaben möglicherweise von Beginn an zum Scheitern verurteilt scheint oder wenigstens nur lückenhaft und nicht vollends befriedigend ausfallen dürfte. Warum dies so ist, werde ich im Folgenden grob umreißen. Die überwiegende Zahl historisch relevanter Forschungsthemen und Fragestellungen bezieht sich in der Regel auf abgeschlossene und damit klar definierte und umgrenzte geschichtliche Zeiträume. Definitionen, Bewertungen und Einordnungen wurden längst von Historikern und verwandten Disziplinen vorgenommen, mehrfach diskutiert, geprüft, überarbeitet und in Überblickswerken festgehalten. Themen jedoch, die sich in unmittelbarem Bezug auf zeitgeschichtliche Kontexte, gelebte Erinnerungsgeschichte und damit letztlich auf die Gegenwart selbst wiederfinden, können auf diesen Kanon nur bedingt zugreifen. Vielmehr tragen sie im Idealfall selbst zur Erarbeitung und Etablierung eines solchen bei. Nicht zuletzt spielt dabei die zum Beispiel durch Sperrfristen gegebene fehlende Verfügbarkeit von Archivdokumenten wie Akten und ähnlichem teils politisch relevantem Quellenmaterial eine Rolle. Im Fall der Erforschung der Zeit nach den politischen Umbrüchen in der DDR von 1989/90 bis heute verhält es sich genau so. Gewiss findet sich bereits heute eine Vielzahl wissenschaftlicher, publizistischer und journalistischer Beiträge, die ebenjene historische Einordnung der Entwicklungen der letzten 30 Jahre vorbereiten und aktiv anlegen. Bis sich ein abschließender Konsens in der Bewertung der Vorgänge gefunden hat, werden
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jedoch noch einige Jahre oder gar Jahrzehnte vielfältiger und intensiver Diskurse vergehen müssen. Für mich ergeben sich daraus nun verschiedene Möglichkeiten, mit dieser Herausforderung produktiv umzugehen. Eine Option wäre zunächst der Bericht zentraler Ereignisse in der Endphase der DDR, die die politische Wende von 1989/90 hervorgerufen und geprägt haben. Da dies jedoch zur Genüge und wesentlich ausführlicher an anderen Stellen geschehen ist, sei hier auf zwei sehr lesenswerte Werke verwiesen: Sowohl die Kleine Geschichte der DDR von Ulrich Mählert (2010) als auch die Chronik der Wende von Hannes Bahrmann und Christoph Links (1999) geben umfassende Einblicke in die Entwicklung der DDR und die Friedliche Revolution von 1989/90. Eine andere Perspektive gewähren (Auto-)Biografien oder ähnliche Erinnerungsberichte diverser Akteure des politischen und gesellschaftlichen Lebens der DDR und Ostdeutschlands vor und nach 1990. Erwähnen möchte ich an dieser Stelle besonders die Beiträge Wir Angepassten von Roland Jahn (2014), Halbes Land, Ganzes Land, Ganzes Leben von Marianne Birthler (2014) sowie Ständige Vertretung von Hans Otto Bräutigam (2009). Alle drei Bücher zeichnen aus individueller Sicht die Widersprüchlichkeit des Lebens in der DDR und der Zeit nach der politischen Wende sowie die vielfältigen Schwierigkeiten der Bewertung persönlicher und kollektiver Denk- und Handlungsmuster in autoritären Regimen plastisch nach. Darüber hinaus gibt es schließlich, wie oben bereits angesprochen, eine Vielzahl einzelner wissenschaftlicher Bemühungen, die sich der Aufarbeitung der Nachwendezeit und einer möglichen Einordnung der politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Entwicklung in Deutschland nach 1990 widmen. Das Angebot an Informationen und Beiträgen ist dabei äußerst heterogen. Neben punktuellen Veranstaltungen wie dem 2017 gemeinsam vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle und der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina ausgetragenen Kongress 25 Jahre Einheit. Weichenstellungen für Ostdeutschlands Wettbewerbsfähigkeit und die Zukunft Europas stehen kontinuierliche Publikationen der Bundeszentrale für politische Bildung, wie etwa das Dossier Lange Wege der Deutschen Einheit (bpb, 2019), der Artikel Entwicklungen nach der Wiedervereinigung (Görtemaker, 2015) oder ein Interview mit Iris Gleicke (Grotefels und Tilk, 2015). Längerfristige Forschungsprojekte wie der Sonderforschungsbereich 580 Gesellschaftliche Entwicklungen nach dem Systemumbruch an den Universitäten Halle und Jena tragen ebenfalls in vielfältiger Weise zum Diskurs bei (vgl. SFB 580, 2002; Bagus, 2012). Stellvertretend für eine kritische journalistische Stimme sei auf den Beitrag Erinnerungspolitik. DDR neu erzählen von Karsten Krampitz (2018) auf dem Onlineportal des Deutschlandfunks
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verwiesen, der vor allem die systemischen Defizite des Einheitsprozesses beleuchtet und Forderungen nach einer Neuausrichtung des Umgangs mit ostdeutschen Identitäten und damit verbundenen Erinnerungskulturen formuliert. Allen Ansätzen gemein ist dabei die grundlegende Problematik einer überzeugenden Definition von »Wende« und »Nachwendezeit«. Angesichts der enormen Zahl an unter anderen historischen, soziologischen, ökonomischen oder lebensweltlichen Perspektiven und Dimensionen des Wende- und Einheitsprozesses scheint die Aufstellung adäquater einheitlicher Begrifflichkeiten und definitorischer Kontexte an dieser Stelle (noch) nahezu unmöglich. Entsprechende Versuche oder im Rahmen wissenschaftlicher Analysen notwendige Begriffsbildungen und deren Verwendung müssen daher einstweilen provisorisch bleiben und vermögen die Realitäten oft nur unzureichend abzubilden. Sonja Kersten hat diesem komplexen Dilemma aus literaturwissenschaftlicher Perspektive in ihrem Aufsatz Mauerfall-, Post-DDR-, Vereinigung- oder doch Wendeliteratur? Eine kleine Expedition durch einen großen Begriffsdschungel (2015) eindrucksvoll nachgespürt. Nachdem ich die zahlreichen Herausforderungen auf dem Weg zu einer treffenden zeitgeschichtlichen Einordnung der Entwicklungen nach 1990 querschnittartig in den Raum gestellt habe, fragt sich nun, welcher Zugang für das Anliegen meiner Arbeit am sinnvollsten ist. Ich möchte eine vorrangig pragmatische Lösung wählen. Da sich umfassende und längsschnittartige Darstellungen der zeithistorischen Kontexte, Ereignisse, Stimmungen und Gefühlslagen allzu leicht im Dickicht von Ungenauigkeiten und Relativierungen verfangen (müssen), werde ich die Charakterisierung der Nachwendezeit in pointierter Form von zwei Seiten in Angriff nehmen: zum einen aus Sicht der unmittelbaren Wendezeit Anfang der 1990er Jahre, zum anderen aus der rückblickenden Perspektive des Jahres 2015. Dabei sollen weniger historische und politische Fakten und Ereignisse eine Rolle spielen, als vielmehr Menschen und politische Akteure mit ostdeutschem Hintergrund oder mit direktem Bezug zu den ostdeutschen Transformationsprozessen zu Wort kommen. Grundlage dafür bilden die Textsammlung Versöhnung in der Wahrheit. Nachschläge und Vorschläge eines Ostdeutschen des Theologen und Bürgerrechtlers Friedrich Schorlemmer (1992) sowie der aufschlussreiche Interviewband War das die Wende, die wir wollten? Gespräche mit Zeitgenossen von Burga Kalinowska (2015). Sowohl im unmittelbaren Zusammenspiel als auch im direkten Kontrast gelingt es den beiden Beiträgen aus meiner Sicht, die Zwiespältigkeit und Unabgeschlossenheit der Wende und Wiedervereinigung und aller damit verbundenen Prozesse, Gedanken, Gefühle und lebensweltlicher Realitäten der Betroffenen abzubilden und gewinnbringend in den Diskurs einzubringen. Dabei bestechen Schorlemmers Analysen und Prognosen ebenso in ihrem großen Wert als zeitgenössische Primärquelle und ungefilterter Einblick in die aktuelle
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Gefühlslage der Jahre 1989 bis 1992 wie durch die Prägnanz und in manchen Aspekten fast schon prophetisch anmutende Vorausschau auf aus damaliger Sicht möglicherweise kommende und letzten Endes tatsächlich eingetretene, aus heutiger Perspektive teils bedenkliche Entwicklungen in Ostdeutschland. Kalinowskas Zeitzeugeninterviews wiederum bestätigen in der Rückschau und Gegenwartsanalyse zahlreiche dieser Prognosen, zeigen zugleich aber auch auf, in welchen Bereichen die positiven Aspekte der politischen Wende in der DDR und der deutschen Wiedervereinigung überwiegen. Aufgrund eben dieses Spannungsfeldes lässt sich meiner Meinung nach auch anhand der bewusst punktuell angelegten Einblicke ein fruchtbarer Zugang zu einer anschaulichen Charakterisierung der Nachwendezeit gewinnen.
2.2 DAS WENDEGESCHEHEN ALS GEGENWART Wie eben beschrieben möchte ich die unmittelbaren Ereignisse im Zuge der politischen Wende in der DDR und der damit verbundenen sozialen, politischen und ökonomischen Konsequenzen und Verwerfungen in den frühen 1990er Jahren anhand von Gedanken und Texten des Bürgerrechtlers Friedrich Schorlemmer nachzeichnen. Sie dienen mir damit als Primärquelle und erlauben aufgrund ihrer Präzision, Pointiertheit und Unmittelbarkeit – wenn auch zugegebenermaßen aus nur einer, sicher begrenzten Sicht – einen breiten Einblick in die Stimmungen und Gefühlslagen der Wendezeit, die sich heute oft nur noch partiell rekonstruieren lassen. An geeigneten Stellen werde ich in Form von Fragen und Gedankenanregungen Bezüge zum Kultur- und Musikleben aufzeigen. 2.2.1 Identitätsfragen – Identitätskrise – Haltung zur Wiedervereinigung Schorlemmer charakterisiert die Folgen der Wendeereignisse in der DDR von 1989/90 als massenhafte Identitätskrise und allgemeine politische und soziale Desorientierung der Bevölkerung. »Diese unbewegliche DDR, die ihre Stabilität auf ihren Sicherheitsorganen und auf stabiler Fleischversorgung aufbaute, die den Überdruck dosiert in den Westen abließ und hin und wieder den Westen für eine Vergünstigung für die eigenen Bürger zahlen ließ, diese DDR ist plötzlich in einen Strudel gerissen und ich kenne niemanden, der gegenwärtig nicht völlig durcheinander ist.« (Schorlemmer, 1992, S. 11)
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In dieser Situation stehe die Wiedervereinigung als scheinbar einfache und schnelle Lösung im Raum. »Mich wundert es angesichts dieser Gefühlsdiffusion und des Scherbenhaufens nicht, daß die einfach vorgestellte Lösung nun Deutschland heißt. Es liegt etwas bereit. Wir stehen vor einem Scherbenhaufen, aber es liegt etwas bereit: Im Grundgesetz der Bundesrepublik liegt es bereit für uns.« (ebd., S. 12)
Schorlemmer stellt jedoch in Frage, ob die Bevölkerung der DDR in dieser kollektiven emotionalen Verfassung überhaupt für eine deutsche Wiedervereinigung bereit sein könne und mit welchen Hypotheken ein geeintes Deutschland von vornherein belastet wäre. »Die Mauer ist weg, und jetzt geht die Spaltung durch unser Land. Die Mauer haben wir jetzt in unserem Land. Die Frage ist, ob Sie, in der Bundesrepublik, so ein zweigeteiltes Land jetzt brauchen können.« (ebd., S. 12)
Ohne allzu sehr die Erkenntnisse meiner eigenen Untersuchungen zum Musikleben in der Nachwendezeit vorwegnehmen zu wollen, sei bereits an dieser Stelle angemerkt, dass die Teilung in Ost- und Westdeutschland in Bezug auf den Umgang mit Musik zwar zunehmend verblasst, sich jedoch auch nach dreißig Jahren innerdeutschen Zusammenwachsens noch immer nachweisen lässt. Die Musiklandschaft und ihre Akteure stehen diesem Umstand allerdings noch weitgehend passiv und beobachtend gegenüber. Eine aktive Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Entwicklungen und Folgen der Wende und Nachwendezeit sind sowohl in der Musik selbst als auch in allen mit ihr verbundenen außermusikalischen Kontexten selten genug anzutreffen. Zurück in die Wendezeit: Neben der allgemeinen Verunsicherung und Identitätskrise spielen laut Schorlemmer auch kollektive Wut und die daraus resultierende Suche nach Sündenböcken eine große Rolle. Die eigene Rolle im System DDR werde hingegen von den meisten Menschen in dieser Situation (noch) nicht hinterfragt, wodurch es kollektiver Schuld-Projektionen bedürfe. »Ich denke, es ist die totale Projektion, die uns die Selbst-Auseinandersetzung ersparen soll. Schuld war die SED! […] Schuld nun aber – denke ich – sind wir alle. Aber das Volk braucht ein Objekt, einen Projektionsgegenstand.« (ebd., S. 13 f.)
Durch den Allmachtsanspruch der SED und dem damit verbundenen Verhältnis des Regimes zu politischer Opposition und deren Rolle entsteht mit dem Zusam-
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menbruch des Systems ein massives politisches und strukturelles Vakuum. Die Oppositionsbewegung, die in der Endphase der DDR zunehmend an Bedeutung gewann und letztlich die Galleonsfiguren der Wende von 1989/90 stellte, konnte diese Rolle nur durch ihre strukturelle Kleinteiligkeit und Ungeschlossenheit einnehmen. Jeder Versuch, sich innerhalb des politischen Systems großflächig zu formieren und entsprechende politische Parallel- und Alternativstrukturen zu etablieren, musste vor dem Hintergrund der Verfolgung und Bedrohung durch die SED scheitern. In dieser inneren Verfassung sind die oppositionellen Gruppierungen in der Dynamik der Ereignisse seit dem Mauerfall am 9. November 1989 laut Schorlemmer gar nicht in der Lage, das entstandene politische Vakuum adäquat auszufüllen und der Bevölkerung konkrete politische Alternativen zu liefern. »Und das rächt sich jetzt. […], weil wir jetzt in der Tat nicht die Kraft und nicht die Struktur haben, alles sofort zu übernehmen. Denn das war ja das ausgemachte Ziel der SED, zu verhindern, daß die Bürger dazu befähigt wurden, Verantwortung zu tragen.« (ebd., S. 12)
Diesem Komplex der Rolle bürgerlicher Opposition trägt die Forschung zum Musikleben der DDR bereits in vielfältiger Form Rechnung (siehe Kapitel 5), bildet dabei allerdings auch den Bruch von 1989/90 in der Auseinandersetzung ab. Umfangreiche Studien zu Kontinuitäten, Abbrüchen, Transformationen und neuen Konfliktlinien im (bürgerlichen) Musikleben der Nachwendezeit stehen hier noch aus, könnten jedoch wertvolle Erkenntnisse sowohl für den Stellenwert und den Einfluss des Kulturlebens auf die Veränderungsprozesse in Ost- aber auch Westdeutschland nach 1990 im Besonderen als auch für gesellschaftspolitische Entwicklungen im Allgemeinen liefern. Neben dem beschriebenen Machtvakuum trägt nach Schorlemmer auch die letztlich misslungene Identifizierung der DDR-Bürger mit dem Projekt und Gesellschaftsbild des Sozialismus dazu bei, dass nun die deutsche Wiedervereinigung als Ausdruck nationalistischer Gefühle als attraktivste Perspektive erscheine. »Negativ heißt das: ›Weg mit der SED‹ […] Und positiv heißt das: ›Deutschland – einig Vaterland!‹.« (ebd., S. 13)
Eben jene Mischung aus der kollektiven Suche nach Sündenböcken für die Vergangenheit und gleichzeitiger Abwesenheit einer konkreten politischen Machtübernahme durch die Oppositionsgruppen führe in der Konsequenz zu einer allgemeinen radikalen Ablehnung jeglicher Reformideen, die sich auch weiterhin an den eigentlichen sozialistischen – wohlgemerkt nicht staatssozialistischen –
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Idealen orientieren und entsprechende politische Alternativkonzepte (Stichwort demokratischer Sozialismus) zur Debatte stellen wollen. »Dann wird dir vorgehalten, daß du wohl schon früher einmal positiv mit dem Wort ›Sozialismus‹ umgegangen bist. Die Tatsache, daß du davor ein anderes Wort gesetzt hast, etwa ›demokratisch‹, das wird vergessen. […] Gegenwärtig scheint es mir so zu sein, daß man mit dem Slogan ›Absage an den Sozialismus‹ […] Massenwahlkampf treiben kann, weil er ermöglicht, die eigene Geschichte und Verstrickung abzustreifen.« (ebd., S. 14 f.)
Auch Musikschaffende sahen und sehen sich bis heute mit dieser Problematik konfrontiert. Gerade im Bereich der zeitgenössischen klassischen Musik gab es auch im scheinbar so eng definierten und eingrenzenden (kultur-)politischen System der DDR diverse Freiräume, sich über den musikalischen Ausdruck differenziert und kritisch mit den gesellschaftlichen Paradigmen des Sozialismus auseinanderzusetzen (vgl. Berg, von Massow & Noeske, 2004 sowie Berg, Holtsträter & von Massow, 2007). Dabei stand keineswegs lediglich die Wahl zwischen Staats- und Linientreue einerseits und eindeutig oppositionellen Denkens und Komponierens andererseits auf der Tagesordnung. Vielmehr gilt es hier, ein Gespür für die unterschiedlichsten Mischformen, Grautöne und historischen Konjunkturen sowohl individueller als auch kollektiver und institutioneller Natur zu entwickeln. Dies wiederum wäre die unabdingbare Grundlage für einen offeneren, unideologischeren und entspannteren heutigen Umgang mit ostdeutschen Komponisten und der Einordnung und Bewertung ihrer Werke, die sich weder in der Heroisierung einzelner eindeutig oppositioneller Künstler noch in der Stigmatisierung von scheinbaren „Staatskünstlern“ oder, noch problematischer da unzulässig vereinfachend und vereinnahmend, „DDR-Komponisten“ erschöpfen. Schorlemmer fährt fort, dass es auf diese Weise nun paradoxerweise ausgerechnet im radikalen gesellschaftlichen Umbruch zu einer Reproduktion des manichäischen Denkens und Weltbildes komme, das die politische Kultur in der DDR bislang geprägt hatte. »Also, unsere Schädigung, denke ich, liegt in uns. Wir wiederholen die Zweiteilung, in der wir in einem politischen Manichäismus vierzig Jahre lang gefangen waren, indem wir sagen: ›Täter oder Opfer‹.« (ebd., S. 15)
Somit könnten sich intellektuelle Stimmen, die begründete Bedenken gegen eine schnelle Wiedervereinigung und Eingliederung ins politische System der Bundesrepublik äußern, gegen die kollektive Dynamik nicht behaupten.
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»Am leichtesten ist es – so denken viele –, die Vergangenheit abzustreifen, wenn nun mit aller Kraft eine Angliederung an die Bundesrepublik vollzogen wird. Die leise Stimme der Vernunft ist gegenwärtig chancenlos. […] Jetzt erhebt sie sich, die sanfte Stimme der Vernunft, kritisch gegen die Masse, vorher gegen die Macht. Und jetzt wird sie überhört. Die Intellektuellen sind wieder allein.« (ebd., S. 16)
Zugleich sieht Schorlemmer die Gefahr der populistischen oder gar demagogischen Instrumentalisierung der aus der Friedlichen Revolution resultierenden Stimmungslage in der ostdeutschen Bevölkerung. »Es ist, und darin sehe ich eine Gefahr, die Stunde der großen Demagogen, die glücklicherweise noch nicht aufgetreten sind. Aber das kann jeden Tag geschehen. Ich stelle mir vor, ein großer Demagoge würde in Leipzig auftreten, was da losginge. Eine gekränkte Teilnation will endlich Genugtuung.« (ebd., S. 16 f.)
Liest man diese Aussage vor dem Hintergrund aktueller politischer Entwicklungen und Tendenzen in Ostdeutschland, lassen sich gewisse Parallelen nicht verhehlen. Hier wäre eine intensive politologische und soziologische Betrachtung dringend geboten, die mögliche Zusammenhänge zwischen den Folgen der Wende beziehungsweise den daraus entstehenden kollektiven Gefühlslagen in der ostdeutschen Bevölkerung einerseits und den rechtspopulistischen und rechtsextremen Strömungen andererseits – von der AfD über Pegida und die Identitären bis hin zur Neuen Rechten oder offen neonazistischen Vereinigungen – multiperspektivisch in den Blick nimmt. Des Weiteren werden laut Schorlemmer sämtliche möglicherweise erhaltenswerte Errungenschaften der DDR vollständig negiert. »Also, der völlige Zusammenbruch des eigenen Systems ist auch dort festzustellen, wo man es für bedenkenswert hielt. Das macht blind für das, was im Lernprozeß von vierzig Jahren für einen Abschnitt unserer Geschichte fruchtbar gemacht werden könnte.« (ebd., S. 17)
Nicht zuletzt die soziale Absicherung von Komponisten durch das Auftragswesen und das (mit allen einhergehenden kulturpolitischen Probleme verbundene) Wirken des Komponistenverbandes (vgl. z.B. G. Stöck, 2009) oder die Schaffensbedingungen von Bands und Solokünstlern durch den hohen Grad an Professionalisierung im Popularmusikbereich der DDR wären es wert, heute als eine solche Errungenschaft zumindest neu diskutiert und beachtet zu werden. Stattdessen jedoch führte das Streben der Bevölkerung nach einem schnellen Anschluss an die Bundesrepublik – erneut fast schon paradoxerweise – laut Schor-
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lemmer zu einer aktiven politischen Selbstentmündigung in der Hoffnung auf Identitätsgewinn durch Zugehörigkeit zum etablierten westdeutschen System. »Und diese Blindheit führt zu der Neigung, die andere deutsche Republik angesichts ihres fortwährenden Prosperierens ganz unkritisch zu kopieren. […] Der Identitätsgewinn geschieht in der tatsächlichen oder geistigen Massenflucht. Die Identität liegt ja bereit: nämlich im Grundgesetz der Bundesrepublik als Staatsbürgerschaft, im sozialen Netz der BRD und im Gefühl, auch endlich wer zu sein.« (ebd., S. 18)
Schorlemmer geht sogar noch weiter und postuliert den regelrechten Verlust jeglicher gesellschaftlicher und politischer Ideale. »Sie haben uns belogen und betrogen, und wir haben sie belogen und betrogen. So waren wir uns in diesem Lande vierzig Jahre einig. Nun sitzen sie, und wir sitzen da vor dem Ruin, dem materiellen und dem moralischen. Und der Verlust jeglicher Ideale ist das Ergebnis dieses Macht-Zynismus. Es gilt nun nur noch zugespitzt: statt SED jetzt KaDeWe.« (ebd., S. 20 f.)
Hier ließe sich nahtlos die Frage anknüpfen, inwiefern diese kollektive Neuorientierung und der damit einhergehende (je nach Perspektive) Wertewandel oder Werteverlust im musikalischen und außermusikalischen Gehalt und Ausdruck von Werken der Nachwendezeit Resonanz erfährt. Gehen Musikschaffende auf diese Dimension ein? Wenn ja, wie zeigt sich dies konkret? Gäbe es hier Chancen für eine auf musikalischem Weg intuitiv vermittelbare Neubewertung und Aushandlung der deutsch-deutschen Integration seit 1990? Von gesamtdeutscher Bedeutung ist vor dem Hintergrund der allgemeinen nationalen und teils nationalistischen Begeisterung des Wendejahres auch der Umgang mit der gemeinsamen deutschen Vergangenheit und der daraus erwachsenen nationalen und internationalen Verantwortung. »Die eigene Geschichte und damit die Verstrickung wird geleugnet. […] Ich behaupte, der Durchschnitt der DDR-Bürger hat den Nationalsozialismus und seine Verbrechen ebensowenig verarbeitet wie der Durchschnitt der Bürger der Bundesrepublik. ›Mit Auschwitz hatten wir nichts zu tun, weil wir ja zu den Neuen gehörten.‹ Also insofern haben wir diesen inneren Prozeß auch noch vor uns: Wenn wir ›deutsch‹ sagen, müssen wir weiterhin auch immer noch ›Auschwitz‹ sagen.« (ebd., S. 19)
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Auch in diesen, für die innerdeutsche Identitätsbildung durchaus zentralen Diskurs müsste die Auseinandersetzung mit musikkulturellen Praktiken und Artefakten stärker Einfang finden. Angesichts all dieser Aspekte und Faktoren lehnt Schorlemmer die deutsche Wiedervereinigung nicht kategorisch ab. Er plädiert jedoch für ein behutsames Vorgehen, das die im Zuge der Wende erkämpften, neuen demokratischen Strukturen in der DDR und den erreichten Grad an kollektiver Politisierung nicht gleich wieder im Keim erstickt (vgl. ebd., S. 21). Vielmehr sollten die Erfahrungen der politischen Wende in der DDR für ein gesamtdeutsches Projekt nachhaltig nutzbar gemacht werden, indem man »so lange wie nötig, ein eigener Staat [bleibt], um uns auf das zu besinnen, was wir von unseren Erfahrungen in ein geeintes Deutschland einbringen können.« (ebd., S. 21) Auf diese Weise ließe sich nicht nur die deutsche Einigung positiv gestalten. Ein neues geeintes Deutschland wäre auch in die Lage versetzt, im europäischen Integrationsprozess wertvolle Impulse zu geben und »bei der Einigung der beiden deutschen Staaten Schrittmacherdienste für ein geeintes Gesamteuropa zu leisten, statt unsere nationale Einigung zum vorrangigen Ziel zu machen.« (ebd., S. 21) Gerade letztere Perspektive ist aus heutiger Sicht relevanter denn je, wobei hier die Musik- und Kulturlandschaft sowohl den internationalen Austausch als auch die Ausrichtung und programmatische Ausrichtung von Veranstaltungsformaten oder Spielplänen betreffend wie auch viele andere gesellschaftliche Bereiche der politischen Realität schon einige Schritte voraus zu sein scheint. Eine schnelle, von kurzlebigen politischen und ökonomischen Dynamiken getriebene Wiedervereinigung hingegen stellt für Schorlemmer eine langfristig wirkende Hypothek für Gesamtdeutschland dar, »sonst bringen wir ungelöste tiefe Konflikte, ja Spaltung in die geeinte Nation Deutschland ein. Es würde sich rächen, wenn wir den 40jährigen Schatten nicht annehmen würden, sondern ihn einfach leugnen wollten.« (ebd., S. 21) Aus heutiger Perspektive scheinen diese Bedenken – trotz aller unbestrittenen Fortschritte und positiven Aspekte der deutsch-deutschen Integration – durchaus nicht gänzlich fehl am Platz. 2.2.2 Rolle der Oppositionellen und Bürgerrechtsgruppen im Wendeprozess – die Wende als historischer Akt »Es ist schwerer, einen Staat aufzubauen, als einen Staat zu zertrümmern. Es ist leichter, ein autoritäres System zu kritisieren, als ein demokratisches System zu errichten.« (Schorlemmer, 1992, S. 33)
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Die aufgrund der strukturellen Vorbedingungen quasi unmögliche Position der Oppositionsbewegungen in der DDR, nach dem politischen Zusammenbruch des SED-Regimes selbst das entstehende Machtvakuum zu füllen und konkrete Alternativen anzubieten, klang oben bereits an. Schorlemmer widmet sich dieser Problematik noch einmal ausführlich in seinem Essay Die Helden gehen leer aus (Schorlemmer, 1992, S. 33-61). E konstatiert, dass »die Oppositionsbewegung in der DDR nicht die Chance [hatte], demokratische Strukturen zu entwickeln, die an die Stelle der autoritären Herrschaft hätten treten können. Die einzelnen Personen der Opposition […] waren im wesentlichen Individualisten.« (ebd., S. 33) So sei »in der DDR die Opposition im wesentlichen durch einzelne Personen repräsentiert worden, die sich kaum Gedanken gemacht haben über die Frage, wie sie den im Falle eines Zusammenbruchs des Systems selber die Regierungsgeschäfte und die Aufgabe der Gestaltung hätten übernehmen können. […] Außerdem waren die meisten von ihnen eher an einer grundlegenden Erneuerung als an einer Annullierung der Deutschen Demokratischen Republik interessiert.« (ebd., S. 33 f.) Auch die fehlende Auseinandersetzung der Bürgerrechtsbewegung »mit den ökonomischen Problemen als letztlich entscheidenden politischen Problemen« (ebd., S. 34) beschreibt Schorlemmer als gravierenden Nachteil. Eben diese ökonomische Naivität und Ausblendung der globalen ökonomischen Dimensionen findet sich laut Schorlemmer jedoch nicht nur in den Reihen der Oppositionellen, sondern auch in der Bevölkerung der DDR wieder. »In der Breite des Volkes hatte sich nirgendwo eine wirkliche Auseinandersetzung mit Problemen des Weltmarktes, der Verelendung des Südens und der fortschreitenden Naturzerstörung ergeben. So stürzen die Freigelassenen nun in die Konsumwelt des Westens und wollen lieber gestern als heute an ihren Segnungen teilhaben.« (ebd., S. 34 f.)
Auch das Musikleben sieht sich durch das Wegbrechen der wirtschaftlichen Paradigmen des DDR-Systems (Auftragswesen und soziale Absicherung von Künstlern habe ich bereits angesprochen) schlagartig mit den Bedingungen des nun eingeführten kapitalistischen Wirtschaftssystems der Bundesrepublik konfrontiert. Neben den allgemeinen Grundlagen für musikalisches Schaffen betrifft dies natürlich auch Fragen der Aufführungspraxis, Ausstattung von Institutionen, Personalfragen oder des Verlagswesens. Insbesondere etwa für ältere Komponisten stellt dies zum Teil eine kaum zu überwindende Hürde und zu leistende Neuorientierung dar. In meinen Gesprächen mit Interpreten kommen diese Aspekte zur Sprache (siehe Kapitel 10). Die Dominanz wirtschaftlicher Fragen bei gleichzeitigem Mangel an ökonomischer Kompetenz und kurzfristigen tragfähigen Alternativen hat nach Schor-
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lemmer letztlich entscheidend zu einem massiven Legitimationsdefizit der Oppositionellen und ihrer langfristigen Marginalisierung im neuen politischen System geführt (vgl. ebd., S. 35). Dabei spannt er wie schon in der Frage der politischen Integration Europas auch hier einen deutlich größeren Bogen. Eine nachhaltige Lösung sozialer und ökonomischer Fragen »wird nur dann wirklich gelingen, wenn die ökonomische Sanierung ganz Osteuropas gleichzeitig vorangetrieben wird.« (ebd., S. 36) Darüber hinaus litten die Oppositionsgruppen nicht nur unter besagtem Legitimationsproblem, sondern würden als intellektuelle Minderheit von der Masse der Bevölkerung und opportunistisch agierender politischer Eliten teilweise sogar aktiv diskreditiert, wodurch sich Letztere vor allem der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit im SED-Regime und ihrer Verantwortung für die gegenwärtige Situation zu entziehen versuchten. Die »Selbstentschuldigung der Mehrheit, vor allem durch die flugs gewendeten liberalkonservativen Parteien, brauchte gleichzeitig die Entthronung derer, die zu Symbolfiguren eines Aufbruchs zu werden drohten, die eine eigenständige Entwicklung der DDR für möglich gehalten hatten.« (ebd., S. 37) Dabei diene »die Entthronung der Sprecher der Revolution« (ebd.) der »Selbstentschuldigung der Schweiger.« (ebd.) Das auch heute größtenteils noch immer vorherrschende Geschichtsbild, das von einer überwiegend negativen Bewertung der DDR als Ganzem bestimmt ist – meist ohne auf die bunte Differenziertheit der realen Gesellschaft einzugehen (differenzierte Analysen und Darstellungen, die auch positive Aspekte und Ambivalenzen des Lebens in der DDR berücksichtigen, bilden eher die Ausnahme als die Regel) – wird damit bereits prognostiziert. Schorlemmer hält fest, dass »heute über das Schweigen geschwiegen und den Redenden von vorgestern nachgewiesen [wird], daß sie eigentlich nur reden konnten, weil sie besonders privilegiert oder sogar von der Stasi dazu beauftragt waren.« (ebd., S. 38) Dies sei »der Versuch, die vierzigjährige DDR-Geschichte nicht aufzuarbeiten.« (ebd.) In Bezug auf die Dominanz der Rolle der Stasi in der Bewertung des gesellschaftlichen Lebens in der DDR spricht Schorlemmer sogar von »neurotische[n] Züge[n]. Stasineurotisiert wird nun die DDR dämonisiert, und genau dies wird dann zur Selbstentschuldigung genutzt.« (ebd.) Auf diese Weise werde die DDR »zu einem Staat hochstilisiert, in dem man überhaupt nicht leben, atmen oder aufrecht gehen konnte.« (ebd.) Dreißig Jahre später sind wir in diesem Punkt zum Glück einen großen Schritt weiter gekommen und deutlich differenzierter, was die Bewertung und Einordnung des Lebens in der DDR betrifft. Dies gilt wie schon angedeutet auch für die Aufarbeitung des Musiklebens (siehe Kapitel 5).
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Zurück im Jahr 1989/90 gab es durchaus konkrete Ideen aus der Oppositionsbewegung, wie sich die Zukunft einer reformierten DDR gestalten ließe. Der Aufruf »Für unser Land« vom 26. November 1989 zeigt dies. »Die Initiatoren [des Aufrufs ›Für unser Land‹, Anm. d. Verf.] […] wollten eine andere DDR, die uns 16 Millionen nicht einfach auf den Stand von 1946 zurückholt und im Eilverfahren an den jetzigen Standard der Bundesrepublik anpaßt. […] Jedenfalls wollte der Aufruf ein unhistorisches Vorgehen vermeiden. Das historische Gewordene sollte nicht geleugnet und das alte Unrecht nicht durch neues Unrecht abgelöst werden.« (ebd., S. 42)
Allerdings gab es dabei ein gravierendes personelles Problem, das Schorlemmer pointiert beschreibt: »Eine Symbolfigur zur Integration und zur Identifikation fand sich in der DDR nicht. […] Die DDR fand kein sie integrierendes Subjekt. Ihre zaghafte Identität zerbröselte im Anschlußdruck. Die ›Helden der Revolution‹ gab es gar nicht wirklich, weil die DDR keinen Václav Havel hatte.« (ebd., S. 46 f.)
So kam es nach Schorlemmer zu Anpassung und politischem Opportunismus statt zu einem innovativen und genuinen Aufbau eigener nachhaltiger Strukturen. Die Vertreter der Oppositionsbewegungen hingegen hätten sich in ihre ursprünglichen Wirkungsnischen zurückgezogen und an öffentlicher Bedeutung und Wahrnehmung weitgehend verloren. »Die Bundestagsabgeordnetenriege aus der ehemaligen DDR hat nur wenige Köpfe aus der Oppositionsbewegung in sich versammeln können.« (ebd., S. 58) »Die sanften Revolutionäre und ihre Wortführer haben sich in ihrer Mehrheit wieder auf ihr Metier zurückgezogen; aufs Malen, aufs Dirigieren, aufs Schreiben, aufs Forschen.« (ebd., S. 56)
Hier spielt Schorlemmer eindeutig auch auf die aktive Rolle Kurt Masurs (als besonders prominentes Beispiel aus dem Bereich der Musikschaffenden) in den Entwicklungen des Herbstes 1989 an. Da dies jedoch ein, wenn auch immer noch höchst interessantes, aktuelles und durchaus kontrovers diskutiertes, weitläufiges Thema für sich ist, das an anderen Stellen ausführlicher und treffender in Angriff genommen wurde, als ich ihm hier gerecht zu werden vermag, möchte ich exemplarisch auf Johannes Forners Biografie Kurt Masur. Zeiten und Klänge (Forner, 2002) verweisen, die in ihrer Haltung zu Masur als Künstler und Mensch nicht
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ganz unproblematisch erscheint und damit stellvertretend für den ambivalenten Diskurs stehen kann. Bereits 1990 stellt Schorlemmer fest, dass es »die Bürgerbewegung in der DDR […] praktisch nicht mehr [gibt]. Die kirchlichen Gruppen befinden sich in einer fundamentalen Krise. Die engagierten Leute aus den Gruppen sind zum großen Teil als Minderheitenvertreter in den Stadt- und Kreisparlamenten. Die ›Intellektuellen‹ haben ihren Dienst getan. Ihre Bücher werden als ›Ostbücher‹ in den Buchhandlungen kaum angeboten und nur von wenigen Käufern nachdrücklich verlangt.« (ebd., S. 58) An dieser Stelle kommt er auch explizit auf die Rolle von Kunst und Kultur zu sprechen, indem er konstatiert: »Die Theater sind leer geworden. Dafür gibt der Ostdeutsche jetzt sein gutes Geld nicht aus, schon gar nicht aus einer verpflichtenden Dankbarkeit gegenüber dem, was Künstler in Jahren zuvor für sie als Ventil und Sprachgeber bedeutet haben. Die gegenseitigen Anwürfe weisen auf einen tiefen Graben zwischen Volk und Intellektuellen hin, der nur vordergründig überwunden war, solange die Künstler eine Stellvertreterfunktion hatten.« (ebd.) Indirekt stellt der Autor damit die Frage, ob das Kulturleben überhaupt eine Funktion als Triebkraft für gesellschaftliche Entwicklungen übernehmen kann oder ob ihm ein solcher Anspruch nicht sogar von den Rezipienten implizit übelgenommen wird. Möglicherweise kommt hier ein grundlegendes Dilemma zum Tragen, das auch den im allgemeinen Diskurs bislang nur bedingt auf das Musik- und Kulturleben gerichteten Fokus in der Aufarbeitung sowohl der DDR-Vergangenheit als auch der Nachwendezeit erklären könnte. Die Ergebnisse meiner hier vorgelegten Untersuchungen im Bereich der Musik werden für eine positivere Antwort auf diese Frage plädieren (siehe Kapitel 11 und 12). Angesichts dieser Diagnosen mahnt Schorlemmer eindringlich vor einem möglicherweise destruktiven Ergebnis der angestrebten Wiedervereinigung: »Die psychische Situation in der DDR schwankt mittlerweile zwischen einem gebliebenen Auswanderungswunsch nach Westen, Apathie und Aggressivität.« (ebd., S. 48) Zumindest habe jedoch vorrübergehend die Chance bestanden, die politischen Umwälzungsprozesse in der DDR als historischen Prozess im globalen Kontext zu begreifen und in diesem Sinne aktiv zu gestalten. Die »sanften Revolutionäre« (ebd., S. 54) hätten »die Themen von übermorgen angesprochen.« (ebd.) Sie »wollten nicht nur eine Wende in der DDR, sondern eine Wende für Bewußtsein und Verhalten überhaupt.« (ebd.) Somit wäre eine reformierte DDR ein Beitrag zu einer Welt gewesen, »die aus dem Bewußtsein handelt, daß wir nicht so mit der Welt weiter ›wirtschaften‹ können.« (ebd.) Der übermächtige Wunsch nach einem den Bürgern der Bundesrepublik gleichwertigen Leben haben diesen Blick nach
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Schorlemmer allerdings verstellt: »Die Schattenseiten der Zwei-Drittel-Gesellschaft wollten und konnten sie nicht sehen.« (S. 54) Zugleich beharre die Mehrheit der Bürger auf ihrem Recht, »Fehler selber zu machen« (ebd., S. 55), wodurch »den alten Gebrechen der SED-Diktatur die neuen Gebrechen der kapitalistischen Wachstumsgesellschaft nur noch hinzugefügt werden.« (ebd.) Auf diese Weise werde »auch in Ostdeutschland die Zukunft verpaßt – unter mehrheitsdemokratischen Bedingungen.« (ebd., S. 56) Somit bleibt aus Schorlemmers Sicht trotz aller zaghaften und hoffnungsvollen Versuche, die Wende und Wiedervereinigung als Ausgangspunkt zukunftsorientierter und nachhaltiger Entwicklungen zu nutzen, ein eher ernüchterndes Fazit der politischen Transformation Ostdeutschlands und seiner Eingliederung in die bundesdeutsche Gesellschaft. »Zugespitzt gesagt: Statt der Autonomie kam das Auto, statt der Emanzipation die Nation, statt des Bedürfnisses nach freier Kommunikation das Bedürfnis nach freier Konsumtion, statt des aufrichtigen persönlichen Wandels die schlitzohrige Wendigkeit, statt der grundlegenden Umgestaltung die schnelle rückwärtsrollende Wende, statt eines einigen Europas das einige Deutschland, statt einer Kultur der Bescheidenheit der Kult der Prosperität, statt des entschlossenen Schutzes der gebeutelten Umwelt die Faszination der Wegwerfgesellschaft, statt der Entwicklung einer Sekundärrohstofferfassung der totale Müllstau, statt der Entfaltung freier eigenständiger Kultur das Hineinstürzen in die amerikanisierte Vergnügungsindustrie der Privatfernsehprogramme, statt der kritischen Aneignung der Erkenntnisse Karl Marx‹ der unkritische Glaube an den Markt, statt der eigenen Anstrengung die Anpassung, statt differenzierter (Selbst-)Kritik die Tabula-rasa-Wünsche, statt der Überwindung von Ausgrenzung neue Ausgrenzung, statt Aufarbeiten der Erinnerung gesellschaftliche Amnesie, statt der Pazifizierung der Gesellschaft die Kultivierung von Rachebedürfnissen an einzelnen, statt der entschlossenen Abrüstung die neue Akzeptanz ›unserer Bundeswehr‹, statt des schwierigen Weges der Selbstbestimmung das willige und schmerzlose Sicheinfügen, statt der Brückenfunktion nach Osten die Anklammerung an den Westen, statt der Solidarität mit den Armgemachten der Wunsch nach Teilhabe am Leben der Reichen.« (ebd. S. 60 f.)
2.2.3 1990 – Rückblick auf das Wendejahr Auch in einer Rede vor dem Wittenberger Stadtparlament am 14. September 1990, also weniger als einen Monat vor der Wiedervereinigung, genauer dem Beitritt der auf dem Staatsgebiet der DDR neu gebildeten Bundesländer zum Geltungsbereich des Grundgesetzes, zieht Schorlemmer ein kritisches Resümee der kein ganzes Jahr zurückliegenden Entwicklungen seit dem 9. November 1989.
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Von der kollektiven Politisierung der Bevölkerung und einer aktiven Mitgestaltung der Reformprozesse ist laut Schorlemmer nicht viel geblieben. Stattdessen dominierten ökonomische Fragen und die Hoffnung auf schnelle Teilhabe der ostdeutschen Bevölkerung am bundesdeutschen Wohlstand das Denken, Handeln und Fühlen der Menschen: »Aus der ›demokratischen Revolution‹ ist eine Umtauschaktion geworden.« (ebd., S. 26) Die daraus resultierenden Konsequenzen für die Musiklandschaft habe ich oben bereits angedeutet. Vor allem für Jugendliche und angehende Erwachsene seien die Transformationsprozesse und damit einhergehende Verluste von Autoritäten und ordnenden Strukturen eine enorme Herausforderung und möglicherweise auch schwere individuelle und gemeinschaftliche Hypothek für die Zukunft. »Wer soll den Schülern helfen beim Überwinden der Wertekrise, die notwendig entsteht, weil die bisherigen Werte alle von heute auf morgen nicht mehr gelten und neue noch nicht da sind?« (ebd., S. 30)
Hier stellt sich die Frage, inwiefern eventuell die Musik als kulturpraktische Kommunikationsform in der Lage war, dieses Vakuum zu füllen und eine identitätsbildende Funktion zu übernehmen. Denkt man an den Erfolg der Technobewegung und Clubszene in der Nachwendezeit oder ähnliche Erfolgsgeschichten in anderen Genres (ostdeutsche Rockbands wie Silbermond oder den Welterfolg von Rammstein), scheint einiges dafür zu sprechen. Vor diesem Hintergrund könnten breit angelegte Studien zu einzelnen musikalischen Bereichen der Nachwendezeit wertvolle Erkenntnisse liefern. Auch die Kirche, die in den Vorwendejahren und in den unmittelbaren Ereignissen im Herbst 1989 eine zentrale Rolle eingenommen hatte, stehe nun vor der Herausforderung, eine neue gesellschaftliche Funktion zu finden und auszufüllen. Während sich »die Besucherzahlen kirchlicher Veranstaltungen […] ›normalisiert‹ haben« (ebd., S. 31), hätte »die Intensität kirchlicher Veranstaltungen […] indes eine andere Qualität angenommen […]. Sehr beunruhigte, zerrissene, trostund orientierungsbedürftige Menschen sammeln sich hier, die ›die Welt nicht mehr verstehen‹ und am Menschen zu verzweifeln beginnen, an dem Menschen, der sich vorrangig als ein homo consumens zu begreifen scheint.« (ebd.) Auch hier könnten die bereits bestehenden musikwissenschaftlichen Bemühungen (siehe Kapitel 5) hinsichtlich der Rolle der Kirchenmusik in der Nachwendezeit ausgebaut werden. Am Beispiel Wittenbergs, jedoch bezogen auf Ostdeutschland insgesamt, beschreibt Schorlemmer die Widersprüchlichkeit der Wende und die individuelle
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und kollektive Zerrissenheit und andauernde Verunsicherung der ostdeutschen Bevölkerung mit den folgenden treffenden Worten: »Die Stadt ist im Aufbruch gewesen. Jetzt ist sie im Umbruch. Vieles bricht einfach zusammen, ohne daß schon klar wird, wie und von wem und in welchem Zeitraum es wieder aufgebaut werden kann. Über eines aber scheint sich die Mehrheit der Bürger einig zu sein: Was wir gehabt haben, wollen wir keinesfalls wiederhaben, aber was wir jetzt vor uns haben, macht uns insgesamt doch recht sorgenvoll.« (ebd., S. 25)
Bald schon werde man sehen, »daß die DDR nur eine Fußnote der Geschichte war.« (ebd., S. 32) Die Aufbauarbeiten jedoch würden »noch lange Zeit in Anspruch nehmen – die Aufbauarbeiten in der verfallenen Stadt und die Aufbauarbeiten in unseren Seelen. Die Altlasten bleiben Volkseigentum.« (ebd.) 2.2.4 Eine mahnende Stimme – Fazit Wie bereits angesprochen bildet dieser Überblick nur eine, wenn auch sehr prominente Stimme aus dem speziellen Umfeld der DDR-Bürgerrechtsbewegung ab. Gewiss sind Schorlemmers Ausführungen sehr pointiert, oft provokant und an mancher Stelle mit Kalkül überspitzt formuliert. Selbstverständlich gibt es auch – damals wie heute – zahlreiche positive Aspekte der Wende und Wiedervereinigung. Schorlemmer selbst legt ja dar, welche Euphorie im Jahr 1990 mit Blick auf ein geeintes Deutschland herrschte, wenn diese auch aus seiner Sicht auf den falschen Prämissen, Naivität und letztlich eigentlich nur zu enttäuschenden, da überzogenen Hoffnungen beruhte. Insgesamt jedoch halten nicht wenige seiner kritischen Anmerkungen und Prognosen meiner Meinung nach der Rückschau und Überprüfung aus heutiger Sicht Stand. Unbestritten hat sich die deutsche Einheit als gesamtdeutsches Projekt in vielen kleineren und größeren Facetten als Erfolg erwiesen. Von einer vollständig abgeschlossenen sozialen, kulturellen, ökonomischen, politischen oder auch mentalen Einheit kann aus meiner Sicht jedoch auch im Jahr 2019 keine Rede sein. Besonders das nicht immer explizit zum Ausdruck kommende Gefühl einer ostdeutschen Teilgesellschaft, deren Integration in ein bereits bestehendes gesellschaftliches System nicht nur zu positiven Entwicklungen geführt hat, herrscht in vielen Bereichen noch immer vor.
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2.3 DIE WENDE IN DER RÜCKSCHAU AUS SICHT VON ZEITZEUGEN Nach diesem schlaglichtartigen Einblick in die Ereignisse und kollektiven Stimmungslagen der unmittelbaren Wende- und Nachwendezeit möchte ich mich dem Zeitgeschehen nun quasi von der anderen Seite her nähern. Wie anfangs dargelegt dient mir dafür der Interviewband War das die Wende, die wir wollten? von Burga Kalinowska (2015) als Grundlage. In diesem finden sich zahlreiche Gespräche mit Zeitzeugen, die ihre Erinnerungen an die Zeit um 1989/90, ihre individuelle Wahrnehmung und die mal mehr, mal weniger aktive eigene Beteiligung an den historischen Ereignissen schildern. Dabei handelt es sich sowohl um Akteure aus dem Kulturbereich als auch um Vertreter anderer Berufe und Tätigkeitsfelder. Gerade durch die Aussagen und Einstellungen der Kulturschaffenden klingt hier nun erstmals verstärkt die kulturtheoretische und kulturpraktische Perspektive meiner Untersuchungen, die wie eingangs beschrieben im wissenschaftlichen Diskurs zur Nachwendezeit bislang nur sehr sporadisch und schlaglichtartig Berücksichtigung finden (siehe Kapitel 1.3). Da die Interviews bereits durch die Autorin sprachlich bearbeitet wurden, um publikationsfähig zu werden, kann das Material selbstverständlich nicht im Sinne reiner qualitativer Forschung verstanden und genutzt werden. Die Vermittlung der Zeitzeugenaussagen durch die Autorin mag demnach an manchen Stellen abschwächen, an anderen Stellen überspitzen und bewusst Schwerpunkte setzen. Dieses Umstands bin ich mir durchaus bewusst. Dennoch ist es aus meiner Sicht sinnvoll und gewinnbringend, auf Basis der gegebenen Texte übergreifende Kategorien und Themenfelder zu extrahieren, die die Zeitzeugen kollektiv bewegen. Diese Abstraktion und darauf fußende Vergleiche erlauben schließlich wertvolle überindividuelle Erkenntnisse. Dazu bin ich konkret folgendermaßen vorgegangen. Zunächst habe ich die Texte in Sinnabschnitte zerlegt, die sich jeweils mit einzelnen Themen befassen. Dies können sowohl einzelne Sätze oder sogar Teilsätze als auch mehrere Sätze umfassende Passagen sein. Die Abschnitte habe ich mit spontan assoziierten thematischen Stichworten versehen. Im nächsten Abstraktionsschritt konnte ich dann aus den Stichworten gemeinsame Themenkategorien bilden. Diese Kategorien wiederum fügen sich zu übergreifenden Themengebieten zusammen, die ich im Folgenden präsentiere, kurz anhand der Vergleichsgruppen charakterisiere und die den Verlauf der Wendezeit chronologisch und thematisch nachzeichnen.
Erlebte Zeitgeschichte | 43
2.3.1 Vorwendezeit – Leben in der DDR Tabelle 1: Themenfelder Zeitzeugengespräche – Vorwendezeit/Leben in der DDR Themenfelder
A: Sicherheit/Stabilität/Planbarkeit des Arbeits- und Privatlebens; materielle Absicherung durch staatliche Unterstützung; persönliche Freiheiten im Privaten; Heimatverbundenheit; Leben in der DDR war bunter und vielfältiger als im Nachhinein dargestellt B: Gefühl eines gesellschaftlichen Umbruchs; intensive Auseinandersetzung mit politischen Verhältnissen; politische Debatten im privaten und beruflichen Umfeld; Entwicklung und Duldung neuer Formate öffentlicher Meinungsäußerung; größere Differenziertheit der politischen Landschaft als im Nachhinein dargestellt; Reformpolitik in der Sowjetunion als Antrieb C: Politische Lähmung der Gesellschaft; Starrheit und Reformunfähigkeit des Systems D: Rahmenbedingungen für Kulturschaffende; Funktionen und Stellenwert von Kunst und Kultur; relative Freiheiten im künstlerischen Ausdruck E: Kontakt und Auseinandersetzung mit westlichen Lebensverhältnissen
alle Zeitzeugen
andere Berufe
14,37
Kulturschaffende in Prozent 9,45
11,97
10,81
12,94
11,37
21,62
3,22
10,77
22,97
1,07
7,78
12,16
4,3
18,27
44 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
F: Reflexion und Analyse von Faktoren, die zum Zusammenbruch des politischen Systems der DDR führten G: Wunsch nach Veränderungen; konkrete Bedürfnisse H: Steigende Unzufriedenheit/abnehmende Geduld mit politischen Verhältnissen in der Bevölkerung I: Identifikation und kritische Auseinandersetzung mit den grundlegenden Idealen der DDR und des Sozialismus J: Rolle und Aktivitäten der Kirche und der Friedensbewegung K: Jugendzeit und Erwachsenwerden in der DDR L: Politisches Engagement; persönliche politische Meinungsäußerung; Entwicklung konkreter Reformideen und politischer Vorstellungen M: Auseinandersetzung mit Ausreisewellen; persönlicher Ausreisewunsch N: Durchschnittlichkeit der politischen Führung und deren Entscheidungen; Dominanz eines intoleranten Kleinbürgertums O: Kontakt mit Grenze und Mauer P: Umgang mit strukturellen Anforderungen des Lebens in der DDR Q: Rolle heutiger prominenter politischer Führungspersönlichkeiten mit ostdeutscher Herkunft
6,58
0
11,82
5,38
4,05
6,45
5,38
4,05
6,45
4,79
5,4
4,3
4,79
0
8,6
4,79
1,35
7,52
3,59
1,35
5,37
2,99
4,05
2,15
2,99
1,35
4,34
1,19 0,59
0 1,35
2,15 0
0,59
0
1,07
Betrachtet man alle Zeitzeugen, zeichnet sich ein relativ klares Bild der Wahrnehmung des Lebens in der DDR in den späten 1980er Jahren. Einerseits herrscht die Erinnerung an ein stabiles, materiell gesichertes Leben mit Freiheiten im Privaten vor. Zugleich wurde das öffentliche und politische Leben als sehr starr, geradezu
Erlebte Zeitgeschichte | 45
gelähmt empfunden. Dazu gesellte sich jedoch auch das zunehmende Gefühl eines bevorstehenden gesellschaftlichen Umbruchs, dessen Vorboten eine steigende Auseinandersetzung mit politischen Themen und punktuelle strukturelle Veränderungen in einzelnen Bereichen der Gesellschaft waren. In der heutigen etablierten Erinnerungskultur dominierende Themen wie das Verhältnis der DDR-Bürger zur Mauer, Kirche und Bürgerrechtsbewegung, Ausreiseanträge sowie andere Aspekte politischen Engagements und damit verbundener Risiken werden von den Zeitzeugen – auch von den Kulturschaffenden, die im Mittel vermutlich ein eher distanziertes Verhältnis zum SED-Regime hatten – eher weniger aufgegriffen. Im Vergleich von Kulturschaffenden und Vertretern anderer Bereiche hingegen zeigen sich einige deutliche Unterschiede. »Bis jetzt ist das Werk mir noch nicht begegnet, das die Zeit und ihr geistiges Klima tatsächlich wiedergibt. Bis jetzt ist mir auch noch nichts begegnet, was die Verhältnisse ehrlich wiedergibt. Es ist vielleicht schwer, weil in schnelllebigen Zeiten oder in brüchigen – wir merken das ja auch jetzt – schnell simplifiziert wird. Ich muss feststellen, dass sich heute vieles von dem wiederholt, was ich damals vom Innersten meiner Seele heraus zu bekämpfen suchte!« (Kalinowska, 2015, S. 25 f.) »Es war eine relativ freie Gesellschaft, die mir zu eng war […] Bis auf den Umstand, dass eine durchschnittliche Führung für uns Menschen mitgedacht hat. Dieses ewige Bevormunden, dieses ewige ›Wir denken für euch‹. […] Und diese tumbe Bevormundung hat zu dieser großen Unzufriedenheit geführt.« (ebd., S. 38) »Glauben Sie mir, es ist nicht einfach, ein großes Ideal gegen die schwierige Wirklichkeit zu verteidigen. Man wollte doch auch, dass es gut wird. Weil es doch auch gut war für viele Menschen. Und irgendwie haben wir ja auch eine Menge ganz gut hingekriegt. Es hat keiner gefragt, mit wie viel Anstrengung man das machen musste, um diese Klippen zu überwinden.« (ebd., S. 102) »Aus Träumen wurde ein bisschen Wirklichkeit.« (ebd., S. 60)
So gehen etwa die Kulturschaffenden besonders intensiv auf die Themenbereiche C, D und E (politische Lähmung der Gesellschaft; Funktion von Kunst und Kultur; Auseinandersetzung mit westlichen Lebensverhältnissen) ein, während die Vertreter anderer Berufe diese nur peripher wahrnehmen. Hingegen spielen bei letzteren die Kategorien F, J, K und L (Reflexion und Analyse der Faktoren des politischen Zusammenbruchs der DDR; Kirche und Friedensbewegung; Jugend in der DDR; persönliches politisches Engagement) eine sichtlich größere Rolle als bei den Kulturschaffenden, was angesichts der Themen doch verwundern mag.
46 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Andere Bereiche wiederum werden von beiden Gruppen sehr ähnlich wahrgenommen. 2.3.2 1989/90 – die Wende Tabelle 2: Themenfelder Zeitzeugengespräche – 1989/90 Themenfelder
A: Eher negative oder indifferente persönliche/emotionale Haltung gegenüber und Wahrnehmung der politischen Entwicklungen; negative persönliche Erfahrungen; Unsicherheit/Skepsis/Unbehagen/Endzeitstimmung; gute private Lebenssituation in der DDR steht auf dem Spiel B: Bewertung/Einordnung/objektive Analyse der politischen Ereignisse und Entwicklungen 1989/90 in der Retrospektive; scheinbare realpolitische Zwangsläufigkeit der historischen Abläufe durch Zeitdruck und Brisanz; Gründe für konkrete Vorgänge C: Entwicklung konkreter politischer Vorstellungen zur Reform des Systems; Reform des Sozialismus als dominantes Ziel zu Beginn der Wendezeit; Erarbeitung von Formen der politischen Teilhabe D: Hoher Grad der gesellschaftlichen Politisierung; neue Intensität des gesellsch. Diskurses E: Aufbruchsstimmung; Hoffnung auf Veränderungen und Reformen; Erwartungshaltung
alle Zeitzeugen 17,15
Kulturschaffende in Prozent 16,19
andere Berufe 18,18
14,7
8,75
21,21
12,74
14,28
11,11
10,78
6,66
15,15
10,78
12,38
9,09
Erlebte Zeitgeschichte | 47
F: Überwiegend positive persönli10,29 11,42 9,09 che/emotionale Haltung gegenüber und Wahrnehmung der politischen Entwicklungen; aktive Beteiligung an polit. Vorgängen und Veränderungsprozessen; überwiegend positive persönliche Erfahrungen; Euphorie/Aufbruch/Optimismus G: Großer Wirkungsgrad von 9,8 19,04 0 Kunst und Kultur; Kunst- und Kulturszene als Sammelbecken politisierter Akteure; enge Beziehung und Wechselwirkung mit Publikum; hoher Grad an Freiheiten und Möglichkeiten im Ausdruck H: Kritische Auseinandersetzung 8,82 8,57 9,09 mit und ambivalente Haltung zu der Idee der Wiedervereinigung und den damit verbundenen Folgen für Ostdeutschland; vollständige Übernahme des westdeutschen Systems als ungeplante Folge der Wende; Naivität der ostdeutschen Bevölkerung im Einigungsprozess; Dominanz westdeutscher Akteure und Interessen I: Konfrontation und Auseinander1,96 0 4,04 setzung mit dem Thema Ausreise und der Ausreisewelle J: Veränderungen in der Medien1,47 2,85 0 landschaft K: Rolle der evangelischen Kirche 1,47 0 3,03 und der Bürgerrechtsbewegung 1989/90 Die rückblickende Einordnung und Bewertung des Wendejahres selbst fällt bei den Zeitzeugen gemischt aus. Dabei spielen sowohl positive als auch negative Aspekte eine Rolle, wobei Unsicherheitsgefühle, konkrete negative persönliche Erlebnisse und Vorbehalte gegenüber dem Projekt der Wiedervereinigung leicht überwiegen. Es werden jedoch auch deutlich positive Erfahrungen wie das hohe Maß an gesamtgesellschaftlicher Politisierung und kollektiver politischer Teil-
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habe sowie individuelle Hoffnungen und Aufbruchsstimmung reflektiert. Heute sehr präsente Themen wie die Rolle der Kirche und Bürgerrechtsbewegung oder die Auseinandersetzung mit der Ausreisewelle im Sommer 1989 nehmen allerdings wiederum einen untergeordneten Rang ein. »Künstlerisch hochbefriedigend, Theater oder Kabarett zu machen: Jede aktuelle Anspielung wurde sofort mit großem Spaß und Verständnis vom Publikum aufgenommen.« (ebd., S. 11) »Und die tollste Zeit war, schätze ich, zwischen dem 19. Oktober und dem 9. November. Ist nicht viel Zeit gewesen, aber es war die spannendste Zeit der Entideologisierung. Zeitungen und TV, die Massenmedien, der Umgang miteinander, die Debatten waren die interessantesten, die vielleicht in der moderneren Politik weltweit gelaufen sind. Das war eine Zeit der großen Hoffnungen, doch etwas ausrichten zu können in dieser Welt. […] Das war, glaube ich, unser aller Irrtum, weil wir da schon ernteten und hatten eigentlich noch gar nicht gesät.« (ebd., S. 31) »Jedenfalls bin ich an diesem Sonntagvor-mittag hingegangen zur Sparkasse […] mein Geld umtauschen. […] Aber irgendwas war anders, ich hatte es noch nicht erfasst, war noch zu sehr mit mir beschäftigt [...] und da fiel’s mir auf: Ich hörte mein eigenes Wort. Es sprach niemand. Es schwieg alles […] Weißt du, was die machten? […] Die standen alle vor den Schaufenstern und sahen sich die Auspreisungen an, sahen, was wie viel ab morgen kostet. Das war über Nacht eingelegt worden, und die Leute sahen, was sie gestern noch mit Ostgeld für den alten Preis kauften, war einfach umgepreist in D-Mark. […] Diese Stille – wie angehaltene Zeit, die erst am nächsten Morgen weiterlaufen würde. Unter veränderten Vorzeichen freilich […] Das war so unglaublich. Eine Stimmung, wie in einem Museum, als würden sie in einem Museum durch ihre eigene Zukunft gehen, als würde ein Museum die Zukunft ausstellen. Das Gefühl hatte ich. Es stellte sich sozusagen das Markenzeichen der Gesellschaft dar, dem wir alles unterwerfen. Faszinierend und gruselig. Ein superhitchcockscher Effekt.« (ebd., S. 34) »Ich war so beschäftigt, dass die Wende an mir vorbeigerutscht is.t« (ebd., S. 91) »Aber nein – die Westdeutschen und ihre damaligen ostdeutschen Lakaien hatten ganz andere Interessen als ausgerechnet DDR-Leute zu übernehmen. Das betraf nicht nur die Diplomaten, wie wir wissen. Die Regelungen zur weltweiten Übernahme der diplomatischen Vertretungen der DDR ließen an Deutlichkeit und Interessenlage nichts zu wünschen übrig: Das Silber, das Meißner Porzellan, die Immobilien – die vor allem ja – aber doch keinen von den Leuten.« (ebd., S. 56)
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»NARVA-Arbeiter sagten mir damals: Wir kriegen das Bunte vom Westen, und das Soziale vom Osten behalten wir.« (ebd., S. 125) »Viele Studenten haben mir Jahre später immer gesagt: Ihr habt den Kapitalismus ganz schön schwarz gemalt, ihr habt ihn nicht schwarz genug gemalt.« (ebd., S. 125)
Auch hier fallen wieder einige Unterschiede zwischen den Kulturschaffenden und ihren Kollegen aus anderen Berufsfeldern ins Auge. Besonders auffällig sind dabei die Kategorien G, I, J und K. Während sich die Vertreter des Kulturlebens – quasi naturgegeben – stärker mit dem Wirkungsgrad von Kunst und Kultur sowie Veränderungen in der Medienlandschaft im Zuge der Umbrüche von 1989/90 auseinandersetzen, spielen für die anderen Zeitzeugen die Ausreisewelle und die Rolle von Kirche und Bürgerrechtsbewegung eine größere Rolle. Auch werden die positiven Aspekte des Wendejahres deutlicher von den Kulturschaffenden thematisiert, die übrigen Zeitzeugen nehmen in vielen Fällen eine eher zurückhaltende oder indifferente Haltung in der Bewertung ein. 2.3.3 Mauer und Mauerfall Tabelle 3: Themenfelder Zeitzeugengespräche – Mauer und Mauerfall Themenfelder
A: Mauerfall als Endpunkt des Veränderungsprozesses in der DDR; Umorientierung auf Wiedervereinigung und Dominanz von Konsuminteressen als Folge des Mauerfalls B: Konkretes persönliches Erleben des Mauerfalls; Diskrepanz zwischen individueller Wahrnehmung und Erinnerung und kollektiver (medialer) Rekonstruktion C: Zwiespältige oder negative Emotionen in Bezug auf Mauerfall D: Umgang mit Mauer als Faktum; Auseinandersetzung mit westlicher Lebenswelt
alle Zeitzeugen 25
Kulturschaffende in Prozent 25
andere Berufe 25
25
20
33,33
21,87
30
8,33
12,5
15
8,33
50 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
E: Überwiegend positive Emotionen in Bezug auf Mauerfall F: Politische Einordnung und Bewertung des Mauerfalls
9,37
5
16,66
6,25
5
8,33
Besonders beachtenswert erscheint mir hier Kategorie B. Das konkrete persönliche Erleben des Mauerfalls und die individuelle Wahr-nehmung der Ereignisse um den 9. November 1989 stehen offenbar für viele der Zeit-zeugen im Widerspruch zu den seither vielfach me-dial reproduzierten und (re)konstruierten kollektiven Erinnerungsmustern. Zumindest lässt sich im Einzelfall nur selten Deckungsgleichheit zwischen persönlicher und gemeinschaftlicher Wahrnehmung finden – ein bedenkenswerter Befund für zukünftige erinnerungskulturelle Aufgaben und Herausforderungen. »Ja – die Mauer war spannend, so absurd das jetzt klingt, aber sie hatte eine, ich will sagen, voyeuristische Spannung, von der wir alle auch ein bisschen lebten. Wir kannten ja sehr viele Westberliner durch unseren Beruf, die kamen mit ihren Pässen rüber und bevölkerten unsere Theaterklubs. Wir hatten sozusagen immer den leicht sinnlichen Kontakt zum gelobten Land. Denen gegenüber war ich einer der kritischsten Menschen, weil ich meine Erfahrungen mit ihnen selber machen wollte.« (ebd., S. 23) »Der 9. November dann – das ist so bizarr gewesen. Es ist das schönste Erinnerungs-Foto Deutschlands, weil jeder erzählen kann, wie er vom Mauerfall erfahren hat. Ich fülle folgende Stelle auf dem Foto aus: […] bin ins Theater und habe allen eine Woche frei gegeben: Eine Woche und dann seid ihr alle wieder pünktlich hier. Und wer in den Westen abhaut, der kommt nie wieder zurück, habe ich noch gesagt. Wie viele blieben weg? Niemand, musste ja keiner mehr.« (ebd., S. 32) »Das heißt, ich habe Angst gehabt. Ich bin der, der zu Hause geblieben ist und sich dann hat anhören müssen, was ich verpasst habe, weil ich nicht dabei gewesen bin in jener Nacht. Ich war der Ängstliche, der Besorgte, der sich nicht vorstellen konnte, was da passiert. Günter Gaus hat mal geäußert, er wartet nur auf den Moment, dass jemand sagt, er habe die Wende vorhergesehen oder die Maueröffnung. Solche Leute sind Jahre später dann auch aufgetreten. Ich gehöre nicht dazu, ich hab das nicht gewusst, ich hab’s nicht vorhergesehen. Ich habe das, was in der Nacht passierte, im Fernsehen verfolgt, und habe gedacht, die schießen da.« (ebd., S. 78 f.)
Im Vergleich der beiden Gruppen fällt auf, dass bezüglich des Themas Mauer und Mauerfall negative Facetten und Gefühle überwiegend von den Kulturschaffen-
Erlebte Zeitgeschichte | 51
den, positive dagegen eher von den Zeitzeugen mit anderem beruflichen Hintergrund formuliert werden. Allerdings bleibt anzumerken, dass dieses Themengebiet insgesamt gegenüber anderen Feldern in der Erinnerung der Zeitzeugen eine relativ geringe Rolle spielt. Auch diese Erkenntnis wäre angesichts der Dominanz des Mauerfalls in der öffentlichen Wahrnehmung weiterführender kritischer Überlegungen wert. 2.3.4 Nachwendezeit Tabelle 4: Themenfelder Zeitzeugengespräche – Nachwendezeit Themenfelder
alle Zeitzeugen
Kulturschaffende
andere Berufe
A: Berufliche Brüche und Unsicherheiten; Konfrontation mit Arbeitslosigkeit; Kampf um Arbeitsplätze; Wegbrechen ökonomischer Grundlagen; Umorientierung B: Berufliche Kontinuitäten; neue berufliche Möglichkeiten/ Perspektiven; persönliches Profitieren von der Wende; Verbesserung der eigenen ökonomischen Grundlage C: Dominanz westdeutscher Interessen und Akteure in Entscheidungsprozessen bei der Umgestaltung und Anpassung der ökonomische Strukturen in Ost-deutschland; gezielte Zerstörung/ Neuaufteilung von ostdeutschen Wirtschaftsbeständen; fehlende objektive Auseinandersetzung mit ökonomischem Ist-Zustand; massives Konkurrenzdenken
19,53
in Prozent 16,41
22,95
13,28
16,41
9,83
11,71
4,47
19,67
52 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
D: Auseinandersetzung mit und Einordnung der eigenen Vergangenheit/des eigenen Lebens in der DDR; Dominanz der negativen Aspekte des Lebens in der DDR in der öffentlichen Aufarbeitung; einsetzende Erinnerungskultur; Infragestellen der eigenen Identität(en) E: Wahrnehmung und Bewertung der vielfältigen Anpassungsprozesse an neues politisches, gesellschaftliches und ökonomisches System und dessen Anforderungen F: Negative Wahrnehmung und Bewertung der ungehinderten Auswirkungen und Auswüchse des Kapitalismus und Neoliberalismus G: Machtkämpfe im beruflichen Umfeld; Stigmatisierung und Generalverdacht gegen ganze Berufsgruppen; Erfahrung von Korruption H: Kennenlernen westdeutscher Strukturen; Vergleich von Abläufen und Einstellungen I: Dominanz westdeutscher Akteure und Interessen in politischen, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Veränderungs- und Anpassungs-prozessen; Nichtberücksichtigung ostdeutscher Interessen; Distanz Westdeutscher zu ostdeutschen Kollegen/Mitmenschen J: Positive allgemeine Nachwendeerfahrungen; Wahrnehmung eines kontinuierlichen Lebensverlaufs; Nichteintreten von Befürchtungen
10,93
10,44
11,47
7,03
7,46
6,55
6,25
7,46
4,91
6,25
7,46
4,91
6,25
8,95
3,27
5,46
4,47
6,55
3,12
3,12
0
Erlebte Zeitgeschichte | 53
K: Freie/nicht politisierte mediale Auseinandersetzung mit Aspekten des Alltagslebens in der DDR für kurze Zeit zu Beginn der 90er Jahre möglich L: Wahrnehmung der vollständigen Umstrukturierung des Bildungssystems M: Kritischer Umgang mit Unzulänglichkeiten der neuen politischen Führung N: Profitieren von sehr guter Ausbildung in der DDR O: Ausländerfeindlichkeit als neues Phänomen P: Verlust der Kunst- und Kulturszene an Relevanz und Brisanz Q: Rolle der Kirche bei Arbeitskämpfen
2,34
4,47
0
2,34
0
4,91
1,56
2,98
0
1,56
1,49
1,63
0,78
0
1,63
0,78
1,49
0
0,78
0
1,63
Betrachtet man die Aussagen aller Zeitzeugen, kommen in der Bewertung und Reflexion der vielfältigen und massiven Umbruchsprozesse der Nachwendezeit vor allem die negativen Aspekte in der realen Umsetzung der deutschen Wiedervereinigung auf politischem, ökonomischem und sozialem Gebiet zur Sprache. Allerdings klingen in den Kernthemen durchaus auch positive persönliche Erfahrungen (Kategorie B) der Zeitzeugen an. Insgesamt scheint mir dieses Spannungsfeld zwischen einer überwiegend kritischen Einschätzung der Nachwendezeit in Bezug auf gesamtgesellschaftliche und überindividuelle Entwicklungen einerseits sowie Erfolgsgeschichten und einem eher positiven Gefühl hinsichtlich der eigenen Perspektiven und Möglichkeiten im neuen System andererseits als Charakterisierung der allgemeinen Wahrnehmung der Zeit nach 1990 sehr treffend. Dies erinnert zum Teil an die langfristigen Erhebungen des bekannten Politbarometers der Forschungsgruppe Wahlen e.V. Vergleicht man dessen Ergebnisse in den Umfragen zur wirtschaftlichen Lage in Deutschland zwischen 2009 und 2019 (vgl. Forschungsgruppe Wahlen, 2019), beurteilen die Befragten ihre persönliche wirtschaftliche Situation zumeist positiver als die allgemeine ökonomische Lage in Deutschland. Vor allem seit 2018 ist dieser Trend wieder stärker zu erkennen.
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»Im Nachhinein muss ich sagen, dass auch die befristeten Verträge sozusagen ein Segen sind: Man muss sich niemandem mehr unterwerfen. […] Irgendwann ist dann Schluss – und es beginnt etwas Neues. Und das ist spannend.« (ebd., S. 17) »Heute ist das alles zugeschüttet, es hat sich alles erledigt. Man darf aber nicht vergessen, dass wir natürlich mit einem großen Schatz an Wissen und, ich wiederhole mich, auch an Können in diese neue Welt getreten sind. Und wenn man Glück hatte – und dazu rechne ich mich – , ging’s auf. Viele sind mit ihrem Können versackt und nicht mehr da und auch zerbrochen.« (ebd., S. 17) »In vielen Menschen wohnt eine Lust, als Sieger der Geschichte dazustehen. Und wenn man selber nichts leistet, haut man wenigstens andere in die Pfanne.« (ebd., S. 112) »Von dem Liedermacher Jürgen Eger stammt die Formulierung: Abschaffung der Zensur durch die Abschaffung der Inhalte. Das finde ich ganz zutreffen.« (ebd., S. 82) »Das hat sich dann leider erledigt, und es bestätigte sich, was wir früher im langweiligen ML-Unterricht an der Hochschule nie hören wollten: wie schlecht der Kapitalismus ist […] Hätte man besser hingehört, wäre man nicht überrascht gewesen darüber, wie die Dinge dann gelaufen sind. Da es keine Alternative gibt, herrscht der Kapitalismus jetzt wirklich ungeniert.« (ebd., S. 13 f.) »Und jetzt wird fast nur über die Fehler geredet. Aber den Aufbruch und die Gründe dafür darf man doch nicht vergessen! Das Wissen darüber muss erhalten bleiben, auch welche Fehler und Irrtümer es gegeben hat.« (ebd., S. 60) »[…] und ostdeutsche Interessen wurden damals nicht oder gar nicht wahrgenommen. Der Westen hat sich in einer Art und Weise aufgespielt und mit ostdeutschen Sekundärpolitikern verbrüdert, die in der Regel aus den bestehenden Strukturen, Blockparteien und so weiter kamen und auf ihre eigene Vergangenheit gekotzt haben, so will ich es mal deutlich sagen. Ostdeutsche Interessen interessierten die nicht. […] ostdeutsche Universitäten wurden gesäubert von ostdeutschen Menschen. Es kam die zweite, dritte wissenschaftliche Garnitur aus dem Westen. In der Politik wurden in den ostdeutschen Bundesländern ausschließlich Westdeutsche in Führungspositionen gehievt, mit zwei, drei Ausnahmen.« (ebd., S. 37) »Dieser Nadelstich waren die Komitees für Gerechtigkeit, eine fantastische Geschichte, und die haben auch Wirkung gehabt: Die ostdeutschen Interessen, die ostdeutschen Lebenssituationen wurden ernster genommen. Es ist dann einiges über diese Komitees auch an Selbstbewusstsein vermittelt worden und an Gesetzgebungsinitiativen. […] es war eine schöne Geschichte, die deutlich gemacht hat, dass die Intellektuellen im Osten Deutschlands
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parteipolitisch nicht so leicht zu vereinnahmen sind, wie man sich das gedacht hat.« (ebd., S. 37 f.)
Auch in diesem Themenbereich treten wieder größere Unterschiede zwischen den Kulturschaffenden und den Vertretern anderer Berufe zu Tage. Dies trifft zwar vor allem auf die weniger stark im Fokus der Zeitzeugen stehenden Themenfelder zu, zeigt sich jedoch teilweise auch in den Kernthemen. Während negative Erfahrungen wie die Konfrontation mit beruflichen Brüchen, allgemeinen ökonomischen Problemen (A) oder die Dominanz westdeutscher Interessen und Akteure im Transformationsprozess (C) insbesondere von Zeitzeugen aus anderen Berufsgruppen thematisiert werden, spielen bei den Kulturschaffenden die positiven Aspekte neuer beruflicher Chancen und Perspektiven sowie einer verbesserten persönlichen ökonomischen Lage (B) eine größere Rolle. 2.3.5 Bewertung der Wende und Nachwendezeit Tabelle 5: Themenfelder Zeitzeugengespräche – Bewertung der Wende und Nachwendezeit Themenfelder
A: Verlust an sozialem Zusammenhalt in der Gesellschaft nach der Wende; Bewertung aktueller sozialer Missstände und Probleme in Ost- und Gesamtdeutschland als Folgen der politischen und ökonomischen Entwicklung nach 1990 B: Kritische Bewertung und Artikulierung von Defiziten des gesamtdeutschen politischen Systems und seiner Entwicklung nach der Wende bis heute C: Kritische Analyse und Bewertung der gesellschaftlichen/ sozialen/ökonomischen Aus-wirkungen des Kapitalismus und Neoliberalismus
alle Zeitzeugen 13,29
Kulturschaffende in Prozent 8,33
andere Berufe 18,75
11,39
9,72
13,75
10,12
9,72
11,25
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D: Überwiegend positive Bewertung; persönliches Profitieren von der Wende für eigenes Leben E: Abstrakte politische Einordnung/Bewertung/Analyse der DDRVergangenheit und der Wende- und Nachwendezeit F: Dominanz westdeutscher Interessen und Bewertungsmaßstäbe in der Erinnerungskultur/ Geschichtsschreibung; Entwicklung eines undifferenzierten/eindimensionalen/auf den Einzelnen nur sehr bedingt zutreffenden Geschichtsbildes; Betonung der negativen Aspekte und des Zusammenbruchs der DDR in der öffentlichen Erinnerung G: Zunehmende Bedeutung einer differenzierten Erinnerungskultur; Auseinandersetzung mit positiven Errungenschaften und Aspekten des gesellschaftspolitischen Systems der DDR H: Wahrnehmung der Wende als welthistorisches Ereignis; eigene Beteiligung an historischen Vorgängen/Erfahrung persönlicher historischer Relevanz I: Umstrukturierung und Wertewandel im Berufs- und Arbeitsleben J: Kollektive und persönliche Naivität in den Erwartungen der DDRBürger an die Entwicklungen der Wende und Nachwendezeit K: Verpasste politische/gesellschaftliche/ ökonomische Chancen im Wende- und Wiedervereinigungsprozess
8,22
6,94
10
8,22
12,5
5
7,59
16,66
0
6,32
2,77
10
4,43
1,38
7,5
4,43
4,16
5
4,43
5,55
3,75
4,43
5,55
3,75
Erlebte Zeitgeschichte | 57
L: Eher negative oder ambivalente persönliche Bewertung der Wende und Nachwendezeit M: Geringer Stellenwert oder Nichtberücksichtigung der Lebenserfahrung/Erinnerungen/ Sozialisation in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur und im gesellschaftspolitischen Diskurs N: Differenzierte Auseinander-setzung mit der eigenen Sozialisation in der DDR; Kontinuitäten in der ostdeutschen Sozialisation auch nach 1990; Vor- und Nachteile der eigenen Sozialisation in der DDR O: Wahrnehmung und Bewertung von Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland P: Persönliche politische Zurückhaltung
3,79
4,16
3,75
3,16
5,55
1,25
3,16
6,94
0
1,89
0
3,75
1,26
0
2,5
Das eben in Bezug auf die Wahrnehmung der Nachwendezeit gezeichnete Bild trifft offenbar auch auf die übergreifende Bewertung der Wende und Nachwendezeit durch die Zeitzeugen zu. Eher negative oder zumindest kritische Töne dominieren, während partielle und vor allem auf individueller Ebene verankerte positive Erfahrungen und Einschätzungen nur punktuell zur Sprache kommen. »[…] sie sind für mich da, die blühenden Landschaften, aber es fehlt so vieles dazwischen – an Arbeit, an Menschlichkeit, an Verständnis. Es ist viel verloren gegangen.« (ebd., S. 19) »Es ist eine nackte Zeit – Stücke von Brecht können wir heute nahtlos spielen. Sie können die Dreigroschenoper mit ihrer Armut und mit ihrer Korruption heute so spielen, als wär 1928. Das nehme ich übel.« (ebd., S. 20) »Aber es sind natürlich Verluste entstanden. Ich meine jetzt nicht diese typischen, ja, früher hat man viel mehr zusammengehalten und man hat das und das gemacht und so und so. Aber es gab eine Utopie, die zumindest für eine gewisse Zeit funktionierte, dann war sie offensichtlich nicht mehr bezahlbar und das Mittelmaß der Machthaber ritt alles zugrunde, was erhofft worden war.« (ebd., S. 35)
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»Ich habe keinen Grund zu sagen, früher war alles besser und jetzt ist alles Scheiße. Ich kann auch umgekehrt nicht sagen: Früher war alles Scheiße, jetzt ist alles gut. Ich bedaure aber, dass ein großer Lebensabschnitt von mir in der Gesellschaft keine Bühne kriegt.« (ebd., S. 35) »Wenn ein Mensch Lebenserinnerungen hat und ist ununterbrochen konfrontiert mit der Behauptung, er würde sich falsch erinnern, dann verliert der Behaupter seine Glaubwürdigkeit. Das ist ein Fehler der sogenannten Sieger, den man immer wieder beobachten kann.« (ebd., S. 280) »Zum Glück ist uns auch die Kritikfähigkeit, mit der wir die Prozesse heute betrachten, geschenkt worden – quasi per Herkunft aus der DDR. Wer aus der alten Bundesrepublik stammt, sich kritisch befasst mit dem eigenen Land, hat in der Regel eine größere geistige Strecke zurücklegen müssen, um diesen Blick zu kriegen. Wir sind ja mit dieser Distanz reingekommen.« (ebd., S. 83) »Es können Dinge eintreten, die man nicht für möglich gehalten hat. Solche Umbrüche wird es wieder geben. Es wird nicht immer so weiterlaufen, wie es läuft.« (ebd., S. 83) »Das sind die alten und bekannten sozialen Argumente. Natürlich sind sie das. Und zum Glück noch nicht vergessen, obwohl politisch und medial heute so gut wie alles betrieben wird, um auch diese Erinnerung zu löschen.« (ebd., S. 73) »Dass die DDR untergegangen ist, darum ist es nicht schade, diese DDR hat es nicht besser verdient. Aber dass das, was die DDR hätte sein können, untergegangen ist, darum tut es mir sehr leid.« (ebd., S. 182 f.) »Der Westen, der viel, viel bunter nach außen hin wirkt, ist nach innen viel, viel grauer, als der Osten es je war.« (ebd., S. 215)
Auch die nun schon häufiger festgestellten Unterschiede in der Wahrnehmung der Wendezeit und der deutschen Einheit durch Kulturschaffende und andere Berufsgruppen bestätigen sich noch einmal. Besonders bemerkenswert erscheinen mir an dieser Stelle die Unterschiede in folgenden Kategorien. Die Dominanz westdeutscher Interessen und Bewertungsmaßstäbe in der Erinnerungskultur, die Entwicklung eines undifferenzierten, eindimensionalen und auf den Einzelnen nur sehr bedingt zutreffenden Geschichtsbildes sowie die Betonung der negativen Aspekte und des Zusammenbruchs des
Erlebte Zeitgeschichte | 59
DDR-Systems in der öffentlichen Erinnerung (F) werden in diesem Zusammenhang ausschließlich von den Kulturschaffenden thematisiert. Dagegen betonen vor allem die Vertreter anderer Berufe die zunehmende Bedeutung einer differenzierten Erinnerungskultur und die Wichtigkeit einer aktiven Auseinandersetzung mit positiven Errungenschaften und Aspekten des gesellschaftspolitischen Systems der DDR (G). Gleiches gilt für die Wahrnehmung der Wende als welthistorisches Ereignis und die Reflexion der eigenen Beteiligung an historischen Vorgängen und das Gefühl der Erfahrung persönlicher historischer Relevanz (H). Hingegen wird der geringe Stellenwert oder gar Nichtberücksichtigung der ostdeutschen Lebenserfahrung, Erinnerungen und Sozialisation in der gesamtdeutschen Erinnerungskultur und im gesellschaftspolitischen Diskurs (M) wiederum besonders von den Kulturschaffenden betont. Dies trifft auch auf die Notwendigkeit einer differenzierten Auseinandersetzung mit der eigenen Sozialisation in der DDR, Kontinuitäten in der ostdeutschen Sozialisation auch nach 1990 sowie die Reflexion von Vor- und Nachteilen der eigenen Sozialisation in der DDR zu (N). 2.3.6 Sonstige Themenfelder Tabelle 6: Themenfelder Zeitzeugengespräche – sonstige Themenfelder Themenfelder
A: Parteizugehörigkeit und Haltung zum Staat B: Bewertung und Verarbeitung der Vorwendezeit in der Rückschau aus heutiger Sicht C: Bewertung der Ausreise im Rückblick D: Verhältnis zum Staat E: Umgang mit Vertretern des Staates im beruflichen Umfeld F: Wahrnehmung der DDR im Ausland G: Kunst und Kapitalismus H: Berufliche Existenz außerhalb politischer Strukturen
alle Zeitzeugen
andere Berufe
37,5
Kulturschaffende in Prozent 23,07
12,5
15,38
0
12,5
15,38
0
9,37 9,37
11,53 11,53
0 0
6,25
7,69
0
6,25 6,25
7,69 7,69
0 0
100
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Abschließend sei noch ein kurzer Blick auf die Themenfelder geworfen, die in den fünf bisher vorgestellten Blöcken nicht vorgekommen sind. Hier zeichnet sich ein klares Bild. Das dominierende Thema für alle Zeitzeugen ist die komplizierte und vielfach ambivalente Frage der eigenen Haltung und Einstellung zu Staat und politischem System der DDR, teils in konkreter Gestalt der Mitgliedschaft oder eben auch Nichtmitgliedschaft in der SED oder einer der Blockparteien. Während dies bei Vertretern anderer Berufsgruppen das einzige sonstige Themenfeld darstellt, sind die Kultur-schaffenden thematisch hier noch etwas breiter aufgestellt.
2.4 UMBRÜCHE, AUFBRÜCHE, ABBRÜCHE – FAZIT Anhand dieser wie eingangs beschrieben sehr speziellen und verschiedenen beiden Perspektiven auf die Ereignisse und Nachwirkungen der politischen, ökonomischen, sozialen und gesamtgesellschaftlichen Ereignisse und Entwicklungen – sowohl hinsichtlich des Endes der DDR und der anschließenden Transformationsprozesse in Ostdeutschland als auch in Bezug auf die Wiedervereinigung und die deutsch-deutschen Integrationsaufgaben – ergibt sich wie eben gezeigt ein vielfältiges und kleinteiliges Bild. Anhand dessen möchte ich nun noch einmal zusammenfassend die Zeit nach 1990 aus heutiger Sicht mit den folgenden vier meiner Ansicht nach zentralen Aspekten charakterisieren. Komplexität Sowohl die Einlassungen Schorlemmers aus den unmittelbaren Wendejahren als auch die Schilderungen der Zeitzeugen, die das Geschehene in der Rückschau bewerten und einordnen, zeigen eindrucksvoll auf, welch hoher Grad an Komplexität, welche schier unüberschaubare Menge an Verflechtungen und Wirkungszusammenhängen im Kleinen wie im Großen, im privaten wie im öffentlichen Bereich mit den in der allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung und medialen Rekonstruktion oftmals auf wenige Schlagworte und emotionale Bilder reduzierten Entwicklungen seit 1989 einhergehen. In eben dieser Multidimensionalität lag und liegt die große Herausforderung der postsozialistischen ostdeutschen Transformation und der darauf aufbauenden deutsch-deutschen Integration. Zugleich stellt sie die Chance dar, in der Aufarbeitung von getrennter und gemeinsamer Vergangenheit und Gegenwart den Menschen, ihren Erfahrungen und den lebensweltlichen Realitäten wirklich gerecht zu werden.
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Individuelle und kollektive Brüche Insbesondere für die ostdeutsche Bevölkerung brachten die politische Wende in der DDR und der anschließende Transformationsprozess massive und nicht zu unterschätzende strukturelle, materielle und emotionale Umbrüche mit sich. Diese wirken bis heute nachhaltig und anhaltend auch über die Jahrgänge derer, die die Zeit von 1989/90 bewusst miterlebt haben, hinaus (Näheres dazu später). Die Folge sind teils langfristige Verunsicherungen sowie weiter bestehende Vorbehalte sowohl gegenüber dem gesamtdeutschen Projekt als auch in Bezug auf die Vergangenheitsbewältigung, die offenbar tief in der Breite der ostdeutschen Bevölkerung verankert sind und sich aktuell unter anderem in entsprechend fragwürdigen politischen Tendenzen auszudrücken scheinen. Kontinuitäten und Annäherung zwischen Ost und West Zugleich jedoch zeigt sich auf der anderen Seite eine zunehmende Annäherung von Ost- und Westdeutschen und die, wenn auch gewiss noch längst nicht ausreichend und zufriedenstellend abgeschlossene, wachsende Verarbeitung der Vergangenheit zugunsten eines positiveren Blicks in die Zukunft. Nicht zuletzt spielen dabei auch die fruchtbare Transformation kollektiver ostdeutscher Erfahrungen aus der DDR-Zeit und im Kleinen wirksame Kontinuitäten über 1989/90 hinaus eine Rolle. 1989/90 als (verpasste) Chance Insgesamt muss man allerdings eines konstatieren: Die Hoffnungen, Wünsche und teils auch übermäßigen und unrealistischen Erwartungen vieler Ostdeutscher aus dem Herbst 1989 wurden angesichts der politischen und ökonomischen Notwendigkeiten, Zwänge und Pragmatismen in den Nachwendejahren oft zwangsläufig enttäuscht. Die Chance auf einen gesamtdeutschen, politisch und gesellschaftlich umfassenden und tiefgehenden Neuanfang, der in der radikalen und kollektiven Reflexion und Kombination ost- und westdeutscher Erfahrungen und Errungenschaften nicht nur für Deutschland, sondern auch für das Projekt der europäischen Integration von enormem Wert hätte sein können, wurde schlicht verpasst oder ignoriert. Mit den Worten eines Zeitzeugen: »Dass die DDR untergegangen ist, darum ist es nicht schade, diese DDR hat es nicht besser verdient. Aber dass das, was die DDR hätte sein können, untergegangen ist, darum tut es mir sehr leid.« (Kalinowska, 2015, S. 182 f.) Zudem kommen die vielfältigen ostdeutschen Wende- und Nachwendeerfahrungen im gesamtdeutschen Geschichtsnarrativ eher punktuell und oft marginalisiert zur Sprache. Wie schon angesprochen beschränkt sich die Erzählung des Transformationsprozesses in Ostdeutschland häufig auf einige wenige symbol-
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trächtige, emotionale Bilder und blitzlichtartige Ereignisse. Dieses Versäumnis machte sich im Wahlkampf der Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg im Sommer und Herbst 2019 beispielsweise die AfD zunutze, indem sie gezielt auf Motive, Symbole und Slogans der DDR-Bürgerrechtsbewegung zurückgriff, um den Anschein einer Parallelität der aktuellen politischen Verhältnisse und derer in der Endzeit der DDR zu erwecken und entsprechende Ressentiments in der ostdeutschen Bevölkerung zu (re)aktivieren: »Dass dies überhaupt möglich ist, liegt aus Sicht [des Thüringer Theologen Ehrhart, Anm. d. Verf.] Neubert auch an einem Versäumnis des wiedervereinigten Deutschlands: ›Das Erbe und die Symbole der friedlichen Revolution liegen ungenutzt auf der Straße.‹ Neubert findet, die Bundesrepublik habe die friedliche Revolution und ihre Symbole viel zu wenig in ihre Erzählung, ihr Narrativ aufgenommen. Er sagt: ›Die AfD hebt auf, was da rum liegt‹.« (Gathmann, 2019) In der Perspektive, die Wiedervereinigung als zwar teils geglücktes Vorhaben, zugleich jedoch als verpasste Chance zu begreifen, liegt aus meiner Sicht die große Gelegenheit für eine gesamtgesellschaftliche Neubewertung und Fruchtbarmachung der letzten 30 Jahre. Statt der Betonung der Unterschieden zwischen Ostund Westdeutschland und der Fokussierung auf ökonomische Aspekte, statt unausgesprochenen emotionalen Vorbehalten und einer gegenseitigen Aufrechnung von Missständen und Mängeln zwischen Vergangenheit und Gegenwart, könnte eine Rückbesinnung auf die Chancen der Wendezeit immens wichtige Impulse für die gesellschaftliche Zukunft in Deutschland und Europa bereithalten. Inwiefern dabei eine deutlich verstärkte Einbeziehung des Kultur- und Musiklebens mitgedacht und aktiv gelebt werden kann und muss, werde ich im zweiten Buchteil ausführlich durchleuchten und darlegen. Ein ähnlich differenziertes Bild zeichnet im Übrigen auch die im August 2019 anlässlich der Jubiläumsfeierlichkeiten zu 30 Jahren Mauerfall und Wende erschienene Dokumentation Deutschland-Bilanz (Hübscher und Bock, 2019). In der Koproduktion von ZDF und Spiegel TV wird überzeugend dargelegt, welche Fortschritte im Zuge der deutschen Wiedervereinigung erzielt wurden und in welchem Maße bis heute Integrationsleistungen erbracht werden, ohne die ein zunehmendes deutsch-deutsches Zusammenwachsen nicht möglich wäre. Zugleich wird jedoch betont, dass es auch 30 Jahre nach Wende und Wiedervereinigung in einigen Bereichen noch immer gravierende Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland gibt, die zu langfristigen Problemen führen. Diese müssen ernst- und wahrgenommen werden und bedürfen einer aktiven und nachhaltigen gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzung. Somit scheint mir ein Dreiklang die unterschiedlichsten Gemengelagen, Wirkungsmechanismen und langfristigen Folgeerscheinungen der Wende- und Nachwendezeit in geeigneter Weise zu charakterisieren: Umbrüche – Aufbrüche – Abbrüche.
3
Erforschte Zeitgeschichte
3.1 HISTORISCHE FORSCHUNG ZUR DDR UND WENDEZEIT Stellvertretend und exemplarisch für die vielgestaltige Entwicklung und Veränderung der historischen Forschung zur DDR, Wendezeit und der deutschen Wiedervereinigung, die in den letzten 30 Jahren zahlreiche und gewinnbringende Erkenntnisse hervorgebracht hat, möchte ich im Folgenden kurz auf den 2016 von Ulrich Mählert herausgegebenen Sammelband Die DDR als Chance eingehen. Dieser bietet sowohl eine intensive Rückschau und Bestandsaufnahme der bisherigen Schwerpunkte und Erkenntnisinteressen der Forschung zu DDR und Ostdeutschland als auch einen fruchtbaren und öffnenden Blick auf mögliche und nötige Perspektivwechsel und Neuorientierungen für eine nachhaltige und langfristig produktive Beschäftigung mit dem Themenfeld. Er ist dabei »insbesondere den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller infrage kommenden Disziplinen [gewidmet], die dem ›Fall DDR‹ bislang – aus den unterschiedlichsten Gründen – wenig oder keine Aufmerksamkeit geschenkt haben.« (Mählert, 2016, S. 10) Im ersten Kapitel des Bandes, Totgesagte leben länger. Oder: Konjunkturen der DDR-Forschung (Mählert, 2016, S. 9-21), liefert Mählert einen kurzen Abriss der bisherigen Entwicklungen in der DDR-Forschung, den ich nun kursorisch zusammenfassen möchte. 2016 waren unter den Schlagworten »Deutschland (DDR)« und »Geschichte« 7000 Bücher im Katalog der DNB auffindbar. Dabei nahmen diese Zahlen vor allem seit 2005 leicht zu. Zugleich entspann sich jedoch eine intensive und lebhaft geführte Debatte um eine scheinbare Übersättigung des Forschungsthemas DDR und Ostdeutschland. Diese schien dabei in der öffentlichen Wahrnehmung größere Aufmerksamkeit zu genießen als in der Forschungslandschaft. Mählert gesteht zu, dass die alte DDR-Forschung zweifellos überholt sei. Zugleich zeigten sich jedoch
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auch Chancen der DDR-Forschung, wobei insbesondere die Frage nach deren zukünftigem Stellenwert aufkommt. In der Bundesrepublik war die DDR-Forschung zur Zeit der deutschen Teilung laut Mählert oft eng mit persönlichen Interessen und Motiven verwoben. Dagegen musste sich Geschichtsschreibung in der DDR in vielen Fällen mit dem SED-Regime und den damit verbundenen Zwängen arrangieren oder zumindest zu diesen positionieren. Nach 1990 kam es dann naturgemäß zu einem enormen Schub für das Thema. Unterstützt wurde dieser durch großzügige öffentliche Förderung sowie den Umstand, dass die Archive der DDR als fast unmittelbar zugängige Fundgrube zur Verfügung standen. Aufgrund der politischen Umbrüche spielten hier die üblichen Sperrfristen keine Rolle. Verbunden mit diesem Aufschwung gingen eine Aufbrechung und Neuordnung der Strukturen in der nun gesamtdeutschen DDR-Forschungs-Landschaft einher. Zugleich spielten dabei erneut die Vermischung mit persönlichen Motiven und Befindlichkeiten sowie die Frage nach der Legitimation der DDR-Historiker eine wichtige Rolle. Dies führte nach Mählert oftmals dazu, dass sich die DDR-Forschung in nicht geringem Maße um sich selbst drehte und den Anschluss an die allgemeine Geschichtswissenschaft vernachlässigte. Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre war dieser Boom schließlich vorbei. Neue spektakuläre und medienwirksame Enthüllungen blieben aus, die Zentren der altbundesrepublikanischen DDR-Forschung waren größtenteils durch erfolgreiche außeruniversitäre Zentren in den neuen Bundesländern ersetzt worden, der Stellenwert des Themas an Universitäten ließ in der Folge massiv nach. Zudem ging eine ganze Generation von DDR-Forschern in den Ruhestand, der DDR-Schwerpunkt wurde bei Neuberufungen nicht mehr berücksichtigt. Diese Umstände wurden zunächst durch die weiterhin hohe Zahl an Dissertationen verdeckt, die DDR jedoch zunehmend als überforscht proklamiert. Angesichts dieser Tendenzen scheint es laut Mählert nun geboten, die selbstreferentielle DDR-Forschung durch einen umfassenderen Blick auf die deutsche Nachkriegsgeschichte als asymmetrische Parallelgeschichte abzulösen. Ein solcher Ansatz findet bereits Anklang in der politischen Bildung und Erinnerungskultur. Jedoch ist er auch mit einigen erst zunehmenden theoretischen und praktischen Schwierigkeiten verbunden. So stoßen Versuche, die DDR entweder in eine Richtung zu etikettieren oder bestimmte Aspekte historisch zu normalisieren, fast immer auf Widerstand. Die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und Implementierung der hart erkämpften Erinnerungskultur (80er/90er Jahre) dient problematischerweise als naheliegende Blaupause für den Umgang mit der DDR-Vergangenheit. Dies führt zwangsläufig zu einer Furcht vor der unangemessenen Parallelisierung und damit Verharmlosung der NS-Zeit. Die Folge ist im Gegenzug oft
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die Bagatellisierung des SED-Regimes. Aufgrund dieser Problematiken wird bis heute auf eine möglichst klare Trennung der beiden Diktaturen gedrängt. »Weder dürften die Verbrechen des Nationalsozialismus relativiert, noch das SED-Unrecht bagatellisiert werden, lautete die Kurzform der Formel, die die erinnerungskulturellen Konkurrenzen im frisch vereinten Deutschland einzudämmen half.« (ebd., S. 17)
Ebenjene Trennung führt jedoch zu neuen Schieflagen in der historischen Einordnung und kollektiven Verarbeitung der beiden deutschen Diktaturen. Die Folge etwa sind fehlende Längsschnittstudien mit einem Zeithorizont von der Zwischenkriegszeit bis in die 1950er Jahre, was wiederum Defizite in der historischen Einordnung der DDR in den Kontext der mittelosteuropäischen Geschichte nach sich zieht. Laut Mählert war die DDR-Forschung lange Zeit »eben nicht nur ungenügend mit der allgemeinen zeithistorischen Forschung verbunden. Gleiches ist in Bezug zur Osteuropaforschung zu konstatieren, die mit dem untergegangenen Halbstaat ihrerseits allerdings auch nie viel anzufangen wusste.« (ebd., S. 18) Genau diese Längsschnitt-Perspektive jedoch hält laut Mählert vielfältige Chancen für die zukünftige Forschung zur DDR, der deutschen Teilung und der Zeit nach 1990 bereit. Das öffentliche Interesse am Thema – gerade in den anstehenden Jubiläumsjahren 2019/2020 und auch vor dem Hintergrund drängender innenpolitischer Fragen und Tendenzen vor allem in Teilen Ostdeutschlands – lässt eine weitere intensive wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der DDR und ihren kollektiven politischen, sozialen, psychischen oder ökonomischen Hinterlassenschaften keinesfalls obsolet erscheinen. »Während das Interesse der Wissenschaft am Thema DDR im Verlauf der letzten Jahren (sic!) abgenommen hat, verzeichnete die Stiftung [Aufarbeitung, Anm. d. Verf.] parallel dazu eine Verstetigung des öffentlichen Interesses am Thema. […] Gewachsen ist der Stellenwert des Themas nicht zuletzt im Bereich der Populärkultur. Ob im ›Tatort‹ oder in Serien wie ›Weißensee‹ oder ›Deutschland 83‹, in TV-Dokumentationen, Zeitungen oder Zeitschriften, aber auch in Romanen und Sachbüchern. Die Geschichte der DDR stößt auf anhaltendes öffentliches Interesse. Zudem wird die im doppelten Wortsinne geteilte deutsche Nachkriegsgeschichte mittlerweile immer mehr als gesamtdeutsche Geschichte verstanden und in der lokalen Erinnerungskultur nicht nur in Ost- sondern auch in Westdeutschland aufgegriffen.« (ebd., S. 20 f.)
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3.2 AKTUELLE STUDIEN ZU OSTDEUTSCHLAND Neben der vielfältigen Forschungslandschaft zu Fragen der DDR-Vergangenheit und den unmittelbar an das Ende des SED-Regimes anschließenden Entwicklungen gibt es natürlich auch verschiedenste Studien und Forschungsansätze, in deren Erkenntnisinteresse vor allem die aktuellen politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Ost- und Gesamtdeutschland stehen. Zwei aus meiner Sicht besonders interessante und aufschlussreiche Erhebungen, die 2019 veröffentlicht wurden und damit einen ganz unmittelbaren Einblick in die aktuell bestehende Situation geben können, möchte ich im Folgenden kurz vorstellen. 3.2.1 Ost-Migrantische Analogien 3.2.1.1 Studiendesign und Forschungsfragen Den unorthodoxen, in dieser Weise aber sehr gewinnbringenden Ansatz der vom in Berlin ansässigen Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung durchgeführten Studie sowie deren inhaltlichen Hintergrund beschreiben die Autoren wie folgt: »Bedeutende Teile der deutschen Gesellschaft teilen Erfahrungen von Abstiegsangst, sozialer Ungleichheit und politischer Entfremdung. Vor allem zwei Gruppen sind dabei neben diesen strukturellen Nachteilen auch von sozialer, kultureller und identifikativer Abwertung betroffen: Migrant*innen – und innerhalb dieser Gruppe die besonders saliente, im Fokus stehende Kategorie der Muslim*innen – und Ostdeutsche. Mit der Reihe ›Ost-Migrantische Analogien‹ richten wir den Blick auf die Frage, inwieweit es Parallelen in zugrunde liegenden Abwertungs- und Anerkennungsprozessen dieser sozialen Gruppen gibt.« (Foroutan, Kalter, Canan und Simon, 2019, S. 4)
Im dreißigsten Jahr der deutschen Wiedervereinigung »haben sich die Verhältnisse in den neuen Bundesländern zwar an die in den alten Bundesländern angeglichen, dennoch sind merkliche Teile der Bevölkerung noch immer weit davon entfernt, tatsächlich vergleichbare Lebenschancen zu haben.« (ebd., S. 5) Als Beispiele führen die Autoren das niedrigere Lohnniveau und die höhere Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland an sowie die Tatsache, dass Ostdeutsche in Führungspositionen in Politik, Wirtschaft und anderen gesellschaftlichen Bereichen noch immer unterrepräsentiert sind. Gleiches gilt laut den Autoren für die Bevölkerungsgruppen mit Migrationshintergrund. Auch diese hätten zwar in den letzten Jahrzehnten an Teilhabe in zentralen gesellschaftlichen Sektoren gewonnen, seien jedoch genau wie die Ostdeutschen nach wie vor von Unterrepräsentation und
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mangelnder Chancengleichheit in Bezug auf Spitzenpositionen betroffen (vgl. ebd., S. 5). Die gezielte Verbindung dieser beiden Forschungsfelder hat laut der Autoren in beide Richtungen Vorteile: »Eine systematische Verbindung von Ostdeutschlandforschung und Migrationsforschung kann für beide Forschungsfelder jeweils fruchtbar sein. Die Migrations- und Integrationsforschung liefert zentrale Konzepte, theoretische Ansätze und Instrumente, die wichtige Impulse auch für die Ostdeutschlandforschung geben können […] Umgekehrt spiegeln Befunde über Analogien und Nicht-Analogien im Hinblick auf Ostdeutsche auch wieder wichtige Erkenntnisse zurück in die Migrationsforschung.« (ebd., S. 10)
Das Studiendesign stellt sich wie folgt dar (Abb. 1). Abbildung 1: Studiendesign Ost-Migrantische Analogien
Quelle: Foroutan et. al., 2019, S. 11
Davon ausgehend stellen die Autoren vor allem drei übergeordnete Fragen an das generierte Datenmaterial. »I. Gibt es Analogien in der symbolischen Abwertung von Ostdeutschen und Muslim*innen? (Analogien der symbolischen Abwertung // ASA)« (ebd., S. 11) »II. Gibt es Analogien in der Bereitschaft, die Nachteile von anderen deprivierten Gruppen anzuerkennen? (Deprivationssensibilität // DPS)« (ebd., S. 11)
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»III. Gibt es Analogien in der Angst vor dem sozialen Aufstieg von nicht-dominanten Gruppen? (Outgroup Mobilty Threat // OMT)« (ebd., S. 11)
Die Ergebnisse der Studie zu den einzelnen Fragestellungen zeichnen im Detail ein differenziertes Bild, das jedoch zugleich klare Tendenzen offenlegt. 3.2.1.2 Analogien der symbolischen Abwertung (ASA) Hier machen die Autoren vor allem zwei zentrale Wirkmechanismen aus. Opferstilisierung Aussage: »Muslime/Ostdeutsche sehen sich ständig als Opfer.« Zustimmung in Bezug auf Muslime: 36,5 Prozent der westdeutschen und 39,1 Prozent der ostdeutschen Befragten Zustimmung in Bezug auf Ostdeutsche: 41,2 Prozent der westdeutschen und 28,5 Prozent der ostdeutschen Probanden (vgl. ebd., S. 16) »Wird die strukturelle Ungleichheit thematisiert, dann will die Gesellschaft das nicht wahrhaben: Die Thematisierungen der strukturellen Schieflage gehen mit dem Vorwurf einer Opferrolle einher.« (ebd., S. 16)
Migrantisierung Aussage: »Muslime/Ostdeutsche sind noch nicht richtig im heutigen Deutschland angekommen.« Zustimmung in Bezug auf Muslime: 58,6 Prozent der Westdeutschen und 66,6 Prozent der Ostdeutschen Zustimmung in Bezug auf Ostdeutsche: 36,4 Prozent in Westdeutschland und 32,1 Prozent in Ostdeutschland. (vgl. ebd., S. 18) »Implizit heißt es: Sie können doch nicht die gleiche Teilhabe und Repräsentation erwarten, wie ›wir‹ – sie sind ja noch nicht so lange hier…Damit werden die Ostdeutschen diskursiv ›migrantisiert‹.« (ebd., S. 18)
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Als Fazit stellen die Autoren fest: »1. Wir finden Analogien in der Sichtweise der Westdeutschen gegenüber Ostdeutschen und Muslim*innen: Westdeutsche stereotypisieren Ostdeutsche und Muslim*innen in ähnlichem Maß.« (ebd., S. 19) »2. Eine weitere Analogie liegt darin, dass Ostdeutsche ihre eigene Gruppe in ähnlicher Weise stereotypisieren wie Westdeutsche: Ostdeutsche scheinen die Stereotypisierungen zu internalisieren.« (ebd., S. 19) »3. Gleichzeitig unterscheiden sich West- und Ostdeutsche nicht so stark in der Stereotypisierung von Muslim*innen.« (ebd., S. 19)
3.2.1.3 Analogien der Anerkennung, Deprivationssensibilität (DPS) Diesen Analogiezusammenhang charakterisieren die Autoren wiederum mit drei verschiedenen Teilaspekten. Bürger zweiter Klasse Aussage: »Muslime/Ostdeutsche werden wie Bürger zweiter Klasse behandelt.« Zustimmung in Bezug auf Muslime: 36,4 Prozent der Westdeutschen und 33,8 Prozent der Ostdeutschen Zustimmung in Bezug auf Ostdeutsche: 18,2 Prozent der Westdeutschen und 35,3 Prozent der Ostdeutschen (vgl. ebd., S. 22) »Das Gefühl, Bürger zweiter Klasse zu sein, weist auf mangelnde intersubjektiver [sic!] Anerkennung und empfundene Ungleichbehandlung innerhalb der Gesellschaft hin, die zu Frustration und Konflikten führen kann.« (ebd., S. 22)
Leistungshürde Aussage: »Muslime/Ostdeutsche müssen sich mehr anstrengen, um das Gleiche zu erreichen.« Zustimmung in Bezug auf Muslime: 52,6 Prozent der Westdeutschen und 52,7 Prozent der Ostdeutschen
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Zustimmung in Bezug auf Ostdeutsche: 29,6 Prozent der Westdeutschen und 49,1 Prozent der Ostdeutschen (vgl. ebd., S. 23) »Das meritokratische Narrativ verspricht gleiche Erfolge bei gleicher Anstrengung. Wenn jedoch Menschen nicht mehr an dieses Versprechen glauben, dann stehen Prinzipien des demokratischen Zusammenlebens infrage.« (ebd., S. 23)
Positionenschranke Aussage: »Muslime/Ostdeutsche haben nicht den gleichen Zugang zu Positionen.« Zustimmung in Bezug auf Muslime: 52,3 Prozent der Westdeutschen und 54,1 Prozent der Ostdeutschen Zustimmung in Bezug auf Ostdeutsche: 18,6 Prozent der Westdeutschen und 37,3 Prozent der Ostdeutschen (vgl. ebd., S. 24) »Die Alltagserfahrung der Ungleichheit setzt sich in eine empirische Betrachtung um, die den Grundsätzen des demokratischen Versprechens widerspricht. Ein Kernnarrativ der Bundesrepublik lautet, dass allen Menschen der gleiche Zugang zu gesellschaftlichen Positionen unabhängig von ihrer Herkunft, ihrem Geschlecht, ihrer Religion etc. zustehen sollte (Art 3 GG).« (ebd., S. 24)
Insbesondere die Feststellungen zu Leistungshürde und Positionenschranke sollten sowohl sozial als auch politisch zu denken geben. Hier geht es um weit mehr, als alltagsrelevante Ungleichheitserfahrungen und verletzte individuelle Gefühle. Auch in diesem Fall ziehen die Autoren ein klares Fazit: »1. Wir finden Analogien zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen in der Anerkennung der deprivierten Lage der Muslim*innen.« (ebd., S. 25) »2. Eine weitere Analogie besteht darin, dass Ostdeutsche ihre eigene Gruppe und Muslim*innen gleichermaßen als benachteiligt sehen.« (ebd., S. 25) »3. Die Westdeutschen erkennen das Deprivationsgefühl der Ostdeutschen hingegen nicht an.« (ebd., S. 25)
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Besonders die letzte Aussage stimmt nachdenklich. 3.2.1.4 Analogien der Aufstiegsabwehr, Outgroup Mobility Threat (OMT) In diesem Wirkungskreis scheint mir vor allem der Aspekt der Statusbedrohung von zentraler Bedeutung zu sein. Aussage: »Ich hätte ein schlechtes Gefühl, wenn immer mehr Muslime/Ostdeutsche in wichtige Führungspositionen auf dem Arbeitsmarkt kämen.« Zustimmung in Bezug auf Muslime: 33,8 Prozent der Westdeutschen und 47,6 Prozent der Ostdeutschen Zustimmung in Bezug auf Ostdeutsche: 10,9 Prozent der Westdeutschen und 8,0 Prozent der Ostdeutschen (vgl. ebd., S. 28) »Ein nicht unerheblicher Teil der Bevölkerung hätte Probleme damit, wenn Muslim*innen in Führungspositionen aufsteigen würden. Das widerspricht dem etablierten Integrationsnarrativ, wonach die niedrige soziale Position von Muslim*innen gesellschaftlich unerwünscht sei. Es widerspricht auch dem meritokratischen Prinzip, wonach in Deutschland vor allem die Leistung zähle.« (ebd., S. 28)
Wie sich zeigt, gibt es hier jedoch Unterschiede in der gesellschaftlichen Stellung und Wahrnehmung von Muslimen auf der einen Seite und Ostdeutschen auf der anderen Seite. Entsprechend kommen die Autoren der Studie an dieser Stelle zu einem etwas differenzierteren Fazit und stellen fest, dass es hinsichtlich der Aufstiegsabwehr beziehungsweise des Outgroup Mobility Threat keine so eindeutige Analogie zwischen den beiden gesellschaftlichen Teilgruppen gibt, wie sie sich in den oben gezeigten Untersuchungskategorien gezeigt hatte: »1. Ost- und Westdeutsche wollen analog zueinander Muslim*innen nicht in Führungspositionen sehen, nehmen ihre Bildungsaufstiege als Belastung wahr und haben Angst vor ihrer Emanzipation.« (ebd., S. 31) »2. Die Aufstiegsabwehr gegenüber Muslim*innen ist in Ostdeutschland stärker ausgeprägt, ist allerdings auch in Westdeutschland beträchtlich.« (ebd., S. 31)
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»3. Die Aufstiegsabwehr ist gegenüber Ostdeutschen kaum gegeben, hier kann nicht von einer Analogie gesprochen werden.« (ebd., S. 31)
3.2.1.5 Auswege, Akzeptanz für politische Interventionen Eine mögliche politische Konsequenz, die sich aus den gezeigten strukturellen Problemstellungen ergibt, wäre die Einführung von Quotenregelungen in bestimmten Bereichen. In der allgemeinen gesellschaftlichen Debatte klingt dieses Instrument immer wieder einmal an und wird aus den unterschiedlichsten Perspektiven und Gründen kontrovers diskutiert. In ihrer Studie finden die Autoren eine durchaus überraschende Antwort auf die Frage nach Sinn und Akzeptanz von Quoten. Aussage: »Es sollte Quoten geben, damit Ostdeutsche/Frauen/Migranten entsprechend ihres Anteils in wichtigen Positionen vertreten sind.« Zustimmung in Bezug auf Ostdeutsche: 23,6 Prozent der Westdeutschen und 50,3 Prozent der Ostdeutschen Zustimmung in Bezug auf Frauen: 58,7 Prozent der Westdeutschen und 54,2 Prozent der Ostdeutschen Zustimmung in Bezug auf Migranten: 31,2 Prozent der Westdeutschen und 31,6 Prozent der Ostdeutschen (vgl. ebd., S. 36) »Um diese gesellschaftliche Deprivation abzubauen, stimmt ein unerwartet großer Teil der Bevölkerung für Quoten.« (ebd., S. 36)
3.2.1.6 Gesamtfazit Das Fazit der Studie (Abb. 2) geht noch einmal prägnant sowohl auf die Analogien in der gesellschaftlichen Deprivation von Muslimen und Ostdeutschen als auch auf die markanten Unterschiede in deren Anerkennung und Wahrnehmung ein. Im empirisch mess- und modellierbaren kollektiven Gefühl der ostdeutschen Bevölkerung werden die westdeutschen Mitbürger demnach auch 30 Jahre nach dem Mauerfall als teilweise ignorant gegenüber ostdeutschen Lebenserfahrungen, den erbrachten Transformations- und Assimilationsleistungen und noch bestehenden strukturellen Benachteiligungen empfunden. Gewiss finden sich mehr als genug konkrete Beispiele, in denen die realen Lebensbedingungen, Strukturen und ein aktiv gelebtes deutsch-deutsches Miteinander in der alltäglichen Begegnung dieses Bild gerade nicht bestätigen – der Befund darf aus meiner Sicht jedoch durch-
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aus nachdenklich stimmen. Offensichtlich besteht hier weiterhin ein großer Bedarf an Vermittlungs- und Aushandlungsprozessen. Abbildung 2: Ost-Migrantische Analogien – Gesamtfazit
Quelle: ebd., S. 37
3.2.2 Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten? 3.2.2.1 Studiendesign und Forschungsfragen Die 2019 veröffentlichte Studie Im vereinten Deutschland geboren – in den Einstellungen gespalten? (Faus und Stork, 2019), auf die ich an dieser Stelle ebenfalls kurz eingehen möchte, wurde im Auftrag der Otto-Brenner-Stiftung durchgeführt und befasst sich mit den Einstellungen der ersten Nachwendegeneration zu Fragen der deutschen Wiedervereinigung. Zum Anliegen der Untersuchung schreiben die Autoren: »›Jetzt sind wir in einer Situation, in der wieder zusammenwächst, was zusammengehört.‹ Als 1989 die innerdeutsche Grenze in Berlin geöffnet wurde, kommentierte Alt-Kanzler Willy Brandt mit diesen Worten den Fall der Berliner Mauer und formulierte damit zugleich die Hoffnung vieler Deutscher auf eine gemeinsame Zukunft.« (Faus und Stork, S. 1) Nun aber stelle sich die Frage, ob »nach dem historischen Ereignis der Einheit zweier Staaten auch eine Generation der Einheit herangewachsen«
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(ebd.) sei oder junge Ost- und Westdeutsche sich in ihrer Perspektive noch immer unterschieden. Die Studie kläre »nun umfassend auf, wie die Nachwendegeneration heute auf Staat und Gesellschaft blickt und welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede die jungen Menschen in dieser Generation in West und Ost prägen.« (ebd.) Dabei liegt der Fokus laut den Autoren vor allem auf der Generation der nach 1989 Geborenen, es sei »der Blick auf eine Generation, die nichts Anderes kennt und kennen kann als ein vereintes Deutschland.« (ebd.) Angesichts sehr differenzierter Bewertungen gerade der ökonomischen Dimension der Wende und Nachwendezeit sei den Befragten bei allem individuellem Optimismus die immer noch sehr unterschiedliche wirtschaftliche Lage und Situation am ost- und westdeutschen Arbeitsmarkt stets bewusst (vgl. ebd., S. 2), wodurch »die ›Mauer in den Köpfen‹ der Nachwendegeneration […] somit zwar in Teilen abgetragen« (ebd., S. 2) sei, jedoch »nach wie vor gravierende Unterschiede zwischen Ost- und Westjugend ins Gewicht« (ebd.) fielen.. Die deutsche Wiedervereinigung »hat also bisher weder zu einer sozialen Einheit geführt noch hat sie die Differenzen in den gegenseitigen Wahrnehmungen nachhaltig verschwinden lassen.« (ebd.) Zur Methodik ihrer Studie führen die Autoren aus: »Forschungsgegenstand ist die Nachwendegeneration in Deutschland. Das heißt, wir betrachten in den folgenden Auswertungen volljährige junge Bürger*innen in West- und Ostdeutschland, die ab 1989 geboren worden sind. Dafür wurde ein zweistufiger explorativvalidierender Forschungsprozess gewählt, bestehend aus qualitativen und quantitativen Methoden. Dieser Ansatz stellte sicher, nicht lediglich bekannte West-Ost-Forschung auf die junge Zielgruppe anzuwenden und zu replizieren, sondern die für diese Generation relevanten Fragen zu stellen.« (ebd., S. 9)
Der qualitative Teil der Studie gestaltet sich dabei wie folgt (vgl. ebd., S. 9): • Befragung von 30 Bürgern; 18 bis 29 Jahre; jeweils 15 in ost- und westdeut-
schen Regionen • Auswahl der Befragten nach Quotenvorgaben (Geschlecht, Bildung, Einkom-
men, Berufstätigkeit, Wohnumfeld) • Etwa einstündige Leitfadeninterviews im häuslichen Umfeld der Befragten • Durchführung im Frühjahr 2018 durch das Meinungsforschungsinstitut pollytix
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In einer zweiten Stufe wurde dann folgender quantitativer Ansatz gewählt (vgl. ebd., S. 9f.): • Repräsentative Online-Befragung von Bürgern der Nachwendegeneration aus
Ost- und Westdeutschland mittels Online Access Panel • Entwicklung des Fragebogens auf Basis der Ergebnisse aus der qualitativen Stu-
die mit Ziel einer Validierung und Quantifizierung der qualitativen Daten • Inhaltliche Schwerpunkte identisch mit denen der qualitativen Erhebung • Fallzahl: n=2183; Westdeutschland n=1082; Ostdeutschland n=1101
Eine besondere Herausforderung stellt auch in dieser Studie die Frage dar, wie sich die Zuordnung der Probanden zu Ost- und Westdeutschland definieren lässt und zutreffend vorgenommen werden kann. Die Autoren entscheiden sich dazu für folgende pragmatische Lösung: »Aus technischen Gründen wurde West-Berlin in der Feldphase Ostdeutschland zugerechnet. Nach Abschluss der Befragung wurden in West-Berlin wohnhafte Bürger*innen aus theoretischen Überlegungen Westdeutschland zugerechnet. […] Zur Gewährleistung von Repräsentativität wurden die erhobenen Daten gemäß der amtlichen Statistik gewichtet. […] Durch die Gleichsetzung von Herkunft aus und Sozialisation in West- bzw. Ostdeutschland mit aktuellem Wohnort in West- bzw. Ostdeutschland waren keine größeren Verzerrungen zu erkennen.« (ebd., S. 10)
3.2.2.2 Ökonomische Aspekte und soziale Folgen der Wiedervereinigung Die allgemeine wirtschaftliche Lage in Deutschland schätzen die Befragten der Nachwendegeneration in Ost- und Westdeutschland sehr homogen ein (vgl. ebd., S. 11). Gleiches gilt für die Bewertung der eigenen ökonomischen Situation (vgl. ebd., S. 14). Bezogen auf regionale Kontexte zeigt sich hingegen ein anderes Bild. Auf die Frage »Wie beurteilen Sie ganz allgemein die wirtschaftliche Lage in Ihrer Region?« antworteten 23 Prozent der westdeutschen, hingegen 38 Prozent der ostdeutschen Probanden mit sehr schlecht oder eher schlecht (74 Prozent der westdeutschen und 59 Prozent der ostdeutschen Befragten mit eher gut oder sehr gut). Ähnlich sieht es bezüglich der Wahrnehmung der individuellen Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus. Hier stimmen 39 Prozent der Westdeutschen, jedoch 50 Prozent der Ostdeutschen der Aussage »Für jemanden wie mich ist es einfach, hier in der Region einen guten Job zu finden überhaupt« nicht oder eher nicht zu (57 Prozent der westdeutschen und 46 Prozent der ostdeutschen Probanden stimmen eher oder voll und ganz zu) (vgl. ebd., S. 13). Hinsichtlich der persönlichen Lebens-
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zufriedenheit und der Wahrnehmung individueller Zukunftssorgen wiederum sind sich junge Menschen aus Ost- und Westdeutschland erneut recht einig (vgl., ebd., S. 15), was auch für die Einschätzung der eigenen sozialen Mobilität gilt (vgl. ebd., S. 19). In der Wahrnehmung der Folgen der Wiedervereinigung für die eigenen Eltern zeigen sich dagegen deutliche Unterschiede. Die Frage »Nach allem, was Sie gehört und mitbekommen haben: Würden Sie sagen, Ihren Eltern ging es durch die Wiedervereinigung…?« beantworten junge Westdeutsche (37% eher besser, 44% es hat keinen Unterschied gemacht; 11% eher schlechter) anders als ihre ostdeutschen Mitbürger (46% eher besser, 28% es hat keinen Unterschied gemacht; 21% eher schlechter), wobei vor allem die negative Randkategorie zu denken geben sollte (vgl. ebd., S. 18). 3.2.2.3 Familiäre Thematisierung der Wiedervereinigung und Relevanz der eigenen Herkunft und Sozialisation Laut der Studie werden die Wiedervereinigung und die mit ihr verbundenen Wendeerfahrungen in ostdeutschen Familien deutlich häufiger und intensiver thematisiert als dies in westdeutschen der Fall ist. Auf die Frage »Wie häufig haben Ihre Eltern oder Familie über die Wiedervereinigung und die Folgen gesprochen?« antworten junge Westdeutsche wie folgt: 21% überhaupt nicht, 47% eher selten, 21% eher häufig, 7% sehr häufig. Hingegen fällt die Antwort bei den befragten Ostdeutschen deutlich anders aus: 9% überhaupt nicht, 40% eher selten, 35% eher häufig, 14% sehr häufig (vgl. ebd., S. 20). Zudem stimmen junge Ostdeutsche stärker der Aussage zu, dass Ostdeutsche im Allgemeinen nach der Wiedervereinigung oft unfair behandelt wurden (vgl. ebd., S. 23). Auch dem Einfluss der eigenen ost- oder westdeutschen Herkunft und Sozialisation messen junge Menschen aus Ostdeutschland einen höheren Stellenwert bei als ihre westdeutschen Altersgenossen (vgl. ebd., S. 25). 3.2.2.4 Eigen- und Fremdwahrnehmung Ost- und Westdeutscher Ebenfalls sehr interessant ist die Frage, wie junge Menschen aus Ost- und Westdeutschland sich selbst und jeweils ihre gleichaltrigen Mitbürger aus Ost und West wahrnehmen und beschreiben. In den Ergebnissen zeigen sich auch hier markante Unterschiede. Folgende Eigen- und Fremdbeschreibungen haben die Befragten im Mittel artikuliert (Auswahl der am meisten genannte Begriffe; vgl. ebd., S. 26 f.). Mit einem Wort: Im Vergleich zu Westdeutschen sind Ostdeutsche viel… Westdeutsche über Ostdeutsche: ärmer, offener, konservativer, rassistischer, bescheidener, entspannter, benachteiligter (4%: keine Unterschiede)
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Ostdeutsche über Ostdeutsche: ärmer, bescheidener, bodenständiger, schlechter bezahlt, offener, freundlicher, fleißiger, sparsamer, menschlicher (20%: keine Unterschiede) Mit einem Wort: Im Vergleich zu Ostdeutschen sind Westdeutsche viel… Ostdeutsche über Westdeutsche: arroganter, reicher, besser bezahlt, überheblicher, wohlhabender, offener, eingebildeter, egoistischer (4%: keine Unterschiede) Westdeutsche über Westdeutsche: offener, reicher, weltoffener, arroganter, erfolgreicher, besser, besser bezahlt, toleranter, moderner, disziplinierter, eingebildeter, fleißiger, netter (6%: keine Unterschiede) Vor allem die noch immer in den Köpfen verankerten, zumeist auf gefühlten Unterschieden beruhenden gegenseitigen Vorurteile zeigen sich in dieser Auflistung, ebenso wie die bestimmende Rolle ökonomischer und sozioökonomischer Aspekte. Interessant ist davon abgesehen jedoch auch, dass sich die gegenseitigen Einschätzungen junger Ost- und Westdeutscher teilweise decken und die Befragten sich, ihre jeweilige Bezugsgruppe und deren Einstellungen durchaus auch kritisch reflektieren und beurteilen. 3.2.2.5 Bewertung der Wiedervereinigung Junge Ost- und Westdeutsche sind sich überwiegend darin einig, dass die Wiedervereinigung an sich für sie persönlich von eher untergeordneter Bedeutung für das eigene Leben ist (vlg. ebd., S. 67). In der Bewertung der Wiedervereinigung dagegen zeigen sich wieder einige größere und kleinere Unterschiede. So stimmen 21 Prozent der jungen Westdeutschen, jedoch 34 Prozent der jungen Ostdeutschen der Aussage »Die Wiedervereinigung ist insgesamt gelungen« überhaupt nicht oder eher nicht zu (61 Prozent der ostdeutschen und 74 Prozent der westdeutschen Befragten stimmten eher oder voll und ganz zu) (vgl. ebd., S. 70). Grundsätzlich ist hier jedoch die überwiegend positive Haltung in dieser Frage festzuhalten. Auch hinsichtlich einiger konkreter Fragen zu den Folgen und Ergebnissen der Wiedervereinigung zeigen sich im Detail sowohl unterschiedliche als auch recht homogene Einstellungen (vgl. ebd., S. 69). Aussage: Es gab Dinge in der DDR, die besser waren als im Westen Westdeutsche: 46% stimme überhaupt nicht zu/stimme eher nicht zu; 35% stimme eher zu/stimme voll und ganz zu Ostdeutsche: 21% stimme überhaupt nicht zu/stimme eher nicht zu; 67% stimme eher zu/stimme voll und ganz zu
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Aussage: Die Wiedervereinigung hat Deutschland zu viel Geld gekostet Westdeutsche: 44% stimme überhaupt nicht zu/stimme eher nicht zu; 37% stimme eher zu/stimme voll und ganz zu Ostdeutsche: 51% stimme überhaupt nicht zu/stimme eher nicht zu; 29% stimme eher zu/stimme voll und ganz zu Aussage: Es wäre besser, wenn Ost- und Westdeutschland immer noch getrennte Staaten wären Westdeutsche: 82% stimme überhaupt nicht zu/stimme eher nicht zu; 14% stimme eher zu/stimme voll und ganz zu Ostdeutsche: 85% stimme überhaupt nicht zu/stimme eher nicht zu; 11% stimme eher zu/stimme voll und ganz zu Vor allem die Einigkeit aller Befragten hinsichtlich der letzten Frage macht Hoffnung für die zukünftige gemeinsame Bewältigung aller noch offenen Aushandlungsprozesse im weiteren deutsch-deutschen Zusammenwachsen. 3.2.2.6 Identitätsfrage Alles in allem scheint die eben angedeutete Heterogenität in den Einstellungen junger Menschen aus Ost- und Westdeutschland schließlich darin zu münden, dass sich zwar die überwiegende Zahl der Befragten vorrangig als Gesamtdeutsche sieht und bezeichnet, eine dezidiert ostdeutsche Identität jedoch deutlich stärker nachzuweisen ist als ein entsprechendes westdeutsches Äquivalent. Auf die Frage »Fühlen Sie sich am ehesten als…?« antworten 76 Prozent der jungen Westdeutschen mit Deutscher, 8 Prozent mit Westdeutscher. Hingegen sehen sich 65 Prozent der Ostdeutschen am ehesten als Deutsche, 22 Prozent jedoch vorrangig als Ostdeutsche. Mutmaßlich wird demnach »westdeutsch« eher synonym mit »deutsch« wahrgenommen (vgl. ebd., S. 29). 3.2.2.7 Fazit Die heterogenen Ergebnissen ihrer Studie ordnen die Autoren differenziert ein. Sie stellen fest, dass es die »vielzitierte ›Mauer in den Köpfen‹ […] auch in dieser Generation noch [gibt]. Aber sie ist – sinnbildlich gesprochen – nicht mehr so hoch und fest zementiert wie in vorherigen Generationen.« (ebd., S. 73) Den neben zahlreichen Gemeinsamkeiten zwischen jungen West- und Ostdeutschen noch bestehenden Unterschieden, könne »mittels politischer Maßnahmen entgegengewirkt werden.« (ebd.) Jedoch seien noch immer Unterschiede in der Sozialisation junger Ost- und Westdeutscher zu beobachten, »obwohl sie gemeinsam im geeinten Deutschland aufgewachsen sind.« (ebd.) Dabei spiele die Frage, »ob und wie
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sich die Wiedervereinigung auf das Leben der eigenen Eltern ausgewirkt hat und wie diese darüber erzählt haben« (ebd.) für die Nachwendegenerationen und deren unterschiedliche Perspektiven und Einstellungen zu Politik, Wirtschaft und Gesellschaft eine zentrale Rolle.« (vgl. ebd.) Dabei haben die Forscher eine schlechte und eine gute Nachricht. »Die schlechte Nachricht: Nach wie vor bestehen Unterschiede zwischen jungen West- und Ostdeutschen. West und Ost sind zwar selten bewusste Unterscheidungskategorien, aber unterbewusst spielen sie in vielen Fragen noch eine Rolle und prägen das Bild der jeweils anderen. Die – im Grunde – gute Nachricht: Bei zentralen Einstellungsunterschieden zur gegenwärtigen Gesellschaft, wie Demokratiezufriedenheit und Gerechtigkeitsempfinden, bestehen politische Handlungsmöglichkeiten um dem entgegen zu wirken. […] Davon, gute Lebensverhältnisse und Chancen in allen Regionen zu schaffen, in West und Ost, in der Stadt genauso wie auf dem Land, profitieren am Ende junge West- und Ostdeutsche gleichermaßen und ebenso die deutsche Gesellschaft als Ganzes.« (ebd., S. 76)
Insbesondere die Schlussfolgerung, dass die bestehenden Unterschiede und Ungleichheiten in den Lebensverhältnissen zwischen Ost- und Westdeutschen nicht unverrückbar gegeben sind, sondern durch aktives politisches Handeln und gesamtdeutsche Aushandlungsprozesse überwunden werden können, ist aus meiner Sicht eine wichtige zentrale Erkenntnis der Studie. 3.2.3 Sichtbarmachung des Ungreifbaren – Fazit Abgesehen von den für sich genommen jeweils sehr erhellenden Ergebnissen und im Detail aufgezeigten sozioökonomischen und identitätspolitischen Zusammenhängen und Wirkmechanismen geben die beiden Studien auch meinen eigenen Untersuchungen gewissermaßen Rückendeckung. Zum einen lässt sich hier nahtlos die Frage anknüpfen, inwiefern das konstatierte Spannungsfeld zwischen immer noch vorhanden Unterschieden von ost- und westdeutscher Teilgesellschaft und nachweislicher (teils gefühlter, teils realer) Unterrepräsentation ostdeutscher Erfahrungen und Lebenswelten einerseits sowie einer zunehmenden Überwindung dieser Unterschiede (vor allem in den jüngeren Generationen) andererseits sich auch musikkulturellen Leben wiederfinden lässt. Sind auch hier nach wie vor distinkte ost- und westdeutsche Denk- und Handlungsmuster erkennbar? Spiegelt sich dies beispielsweise im Umgang mit Komponisten und ihren Werken, in den Einstellungen von Interpreten oder in der Wahrnehmung und Bewertung von Musik aus Ost- und Westdeutschland wider? Oder erweisen sich die Musiklandschaft
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und ihre Akteure als der breiten gesellschaftlichen Realität unserer Zeit voraus? Hier sind spannende Ergebnisse zu erhoffen. Zum anderen zeigen die beiden Studien exemplarisch auf, dass eben diese gefühlten Ungleichheiten und Annäherungen zwischen Ost und West empirisch greifbar und damit im Sinne eines konstruktiven Erkenntnisgewinns fruchtbar gemacht werden kann. Dasselbe Anliegen verfolge ich, wie bereits in der Einleitung dargelegt, mit meinen Untersuchungen anhand der Musik auch.
3.3 JOURNALISTISCHE UND PUBLIZISTISCHE BEITRÄGE ZU OSTDEUTSCHLAND Auch an dieser Stelle möchte ich wieder exemplarisch auf zwei sehr prägnante, teils sogar bewusst provokante Beispiele eingehen, die sich dem Thema Ostdeutschland und den heutigen politischen, ökonomischen und sozialen Verhältnisse aus journalistischer und publizistischer Sicht widmen. Als Vertreter dieser Perspektiven sollen mir dafür zum einen die Streitschrift »Integriert doch erst mal uns!« Eine Streitschrift für den Osten der Sächsischen Staatsministerin für Gleichstellung und Integration Petra Köpping (Köpping, 2018) und zum anderen der Gesprächsband Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein von Jana Hensel und Wolfgang Engler (Engler und Hensel, 2018) dienen. 3.3.1 Integriert doch erst mal uns! Wie für eine Streitschrift nicht unüblich arbeitet Petra Köpping in ihrem Plädoyer für eine tiefgehende und offene Auseinandersetzung mit den realen und gefühlten Problemen und Stimmungslagen in Ostdeutschland durchaus mit Überspitzungen, teils polemisch überhöhten Formulierungen und das ein oder andere Mal auch mit etwas verkürzten Darstellungen. Es lohnt sich aus meiner Sicht jedoch, einige ihrer Aussagen zu extrahieren und hervorzuheben, da diese für eine Sichtweise und lebenspraktische Realitäten stehen, die im bisher dominierenden gesamtdeutschen Geschichtsnarrativ zur Wende und Nachwendezeit in Ostdeutschland nur sehr punktuell und am Rande vorkommen. Die auch aus diesem Umstand resultierenden politisch und gesellschaftlich zum Teil sehr bedenklichen Strömungen in Teilen der ostdeutschen Bevölkerung lassen sich auf Grundlage der Darstellungen Köppings möglicherweise etwas besser verstehen und bewerten. Im einleitenden Kapitel Ist nicht alles schon gesagt? Warum eine Streitschrift über den Osten Deutschlands notwendig ist berichtet Köpping – bezogen auf die Bevölkerung in Sachsen – von Unmut und Unbehagen der Menschen, das bereits
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vor der spätestens ab 2015 einsetzenden medialen Dominanz der Fragen und Herausforderung in der Flüchtlingspolitik und der Auseinandersetzung mit aufkommenden Protestformen wie den Pegida-Demonstrationen in Dresden oder dem Erstarken der AfD festzustellen war. »Dass sich etwas zusammenbraut, habe ich schon vor sehr langer Zeit gespürt. Doch ich hielt vieles davon für das übliche Schimpfen und Murren, wie ich es seit den 1990er Jahren kenne. […] Doch ich fühlte mich stets in Sicherheit. Sachsen ist ein Bundesland, dem es gut geht. In vielen Umfragen gaben die Leute an, sowohl mit ihrer persönlichen wirtschaftlichen Situation als auch mit der wirtschaftlichen Situation des Freistaats sehr zufrieden zu sein. Leicht schwächere, aber durchaus ähnliche Daten gab es im ganzen Osten.« (Köpping, 2018, S. 7)
Köpping stellt daraufhin die offenbar rhetorisch gemeinte Frage: »Ist damit nicht ›alles in Butter‹?« (ebd.) und führt aus: »Offensichtlich nicht. Irgendwann war es nicht mehr das ›normale‹ Murren und Schimpfen. Es schwoll an in einer ungeahnten öffentlichen Erregung, die sich in Bürgerversammlungen, Demonstrationen und Protestwahl zeigte.« (ebd.)
Laut der Autorin waren viele ihrer Gesprächspartner der Ansicht, »die Stimmung sei die gleiche wie 1989. Keine leichten Gespräche, die ich und viele andere versuchten zu führen.« (ebd.) Bei genauerem Hinsehen und Zuhören sei jedoch rasch klar geworden, dass nicht wie medial oft dargestellt die Flüchtlingspolitik das zentrale Thema für die Menschen ist, sondern es »um etwas viel tiefer Liegendes. Etwas Grundlegenderes.« (ebd.) gehe. Im Endeffekt fanden sich die meisten Gespräche der Autorin im Kosmos der individuellen und kollektiven Nachwendeerfahrungen wieder (vgl. ebd.). »Obwohl seitdem fast 30 Jahre vergangen sind, offenbarten sich unbewältigte Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten, die die Menschen bis heute noch bewegen, unabhängig, ob sie sich nach 1990 erfolgreich durchgekämpft haben oder nicht. Es ging in fast allen Gesprächen um Lebensbrüche. Vor allem berufliche, aber auch private.« (ebd., S. 8)
Köpping spitzt diese tiefliegenden emotionalen Verletzungen vieler Ostdeutscher mit dem Ausspruch eines Demonstranten zu: »›Sie immer mit Ihren Flüchtlingen! Integriert doch erst mal uns!‹« (ebd., S. 8)
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Daher sei das Flüchtlingsthema »nur Projektionsfläche für eine tiefer liegende Wut und Kritik.« (ebd., S. 9) Natürlich bedeute Verständnis für diese Haltungen »nicht die vielen echten Rassisten [zu] entschuldigen oder [zu] relativieren.« (ebd., S. 9) Die nachweislich in Sachsen manifestierten Probleme mit Rechtsextremismus – »die NPD, eine klar antidemokratische und faschistische Partei, hat in Sachsen schon einmal 9,2 Prozent erhalten« (ebd.) – spricht Köpping klar an. Dennoch sieht sie bei den meisten »›besorgten Bürgern‹ eine andere Motivation« (ebd.): »Denn bei diesen Menschen, die reden wollen, zeigt sich schnell, dass ihnen in der Vergangenheit nicht zugehört wurde. Niemand hat ihre konkreten Probleme wirklich ernst genommen. Niemand hat ihre Lebensgeschichten gewürdigt. Niemand ist auf sie eingegangen.« (ebd.)
Damit bringt Köpping einen der zentralen Aspekte zum Ausdruck, der bereits in den oben vorgestellten Zeitzeugenperspektiven und auch den beiden aktuellen Studien zu Ostdeutschland eine Rolle spielte: Jenseits aller ökonomischen Kennzahlen und nicht zu leugnenden Erfolge des deutschen Wiedervereinigungsprozesses liegt im Umgang mit den spezifischen ostdeutschen Wendeerfahrungen offensichtlich ein gesamtdeutsches Wahrnehmungs- und Vermittlungsproblem vor. Köpping schreibt weiter: »Schon sehr lange wird in Deutschland über Fortschritt, Digitalisierung, Globalisierung und all die anderen Herausforderungen der Zukunft diskutiert. Doch die jüngste Vergangenheit hat bislang niemanden so recht interessiert.« (ebd., S. 10)
In ihrer vielbeachteten Rede zum Reformationstag am 31. Oktober 2016 in Leipzig forderte Köpping: »Die Nachwendezeit muss auf den Tisch! Wir müssen uns mit den Demütigungen, Kränkungen und Ungerechtigkeiten aus jener Zeit beschäftigen. Wir brauchen eine gesamtdeutsche Aufarbeitung der Nachwendezeit.« (ebd.) Damit habe sie »einen wunden Punkt getroffen« (ebd., S. 11) und großen Widerhall erfahren: »Ich bekam viele Briefe, die mich unterstützen. Übrigens auch aus Westdeutschland.« (ebd.) Auch »mancher Journalist schaut nun anders auf Ostdeutschland.« (ebd.) Ihre Aussagen hätten in der Folge eine Diskussion angeregt, »die bis heute anhält.« (ebd.) »Es ist nicht eine dieser schnelllebigen Debatten, die am nächsten Tag durch ein anderes Thema ersetzt wird. Nein, dieses Mal ist es anders: Man redet wieder über den Osten! Und man redet über das Thema der Nachwendeungerechtigkeiten.« (ebd.)
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Diese positive Entwicklung muss Köpping jedoch gleich wieder einschränken und relativieren: »Allerdings wurde diese Debatte bislang fast ausschließlich im Osten geführt – im Westen hat davon kaum jemand etwas mitbekommen. Im Gegenteil. Im Zuge der Aufmärsche von Pegida und der Wahlerfolge der AfD ergoss sich erneut Spott, Schulmeisterei und Häme über den Osten, was hierzulande zu einer typischen Wagenburg-Mentalität – wie meist in solchen Fällen – führte.« (ebd., S.11)
Dies jedoch sei problematisch, denn: »In Wagenburgen beginnt man aber keine kritischen Diskussionen unter sich, sondern man verteidigt sich verbissen gegen alle Angriffe. Aber so kommen wir nicht weiter. Deswegen habe ich beschlossen, ein Buch zu schreiben. Eine Streitschrift für den Osten. Ein Buch, das den Osten versucht zu erklären, aber nicht gegen den Westen gerichtet ist.« (ebd.)
Aus Köppings Sicht ist eine tief gehende Auseinandersetzung mit den gegebenen Problemlagen und Komplexitäten der kollektiven (Nicht-)Verarbeitung der Nachwendezeit durch die ostdeutsche Bevölkerung essentiell für eine nachhaltige gesamtgesellschaftliche Zukunft und damit nicht zuletzt auch für kommende Generationen. »Wir brauchen die Aufarbeitung. Die Gefühle und Erlebnisse der Nachwendezeit hängen vielen Menschen im Osten wie ein Klotz am Bein. Und sie werden an die Kinder und Kindeskinder weitergegeben, obwohl viele weder die DDR noch die direkte Nachwendezeit bewusst wahrgenommen haben.« (ebd., S. 15)
Ein Verdrängen der Thematik sei dabei nicht hilfreich, da »die Sorgen ja […] nur hinausgeschoben« (ebd.) würden. Köpping wirft den westdeutsch geprägten Eliten aber auch den ostdeutschen Nachwendepolitikern vor, »sich 30 Jahre faktisch geweigert [zu] haben, diese Konfliktlinie zu bearbeiten, die ganz Deutschland und besonders den Osten durchzieht.« (ebd., S. 16) Zugleich habe man in Ostdeutschland auch zu sehr nur auf sich selbst geschaut, anstatt »das Bündnis mit anderen strukturschwachen Gebieten im Westen zu suchen.« (ebd.) Ihre Einleitung abschließend zeigt Köpping die positiven Perspektiven ihres Anliegens mit folgenden Worten auf: »Über die Probleme der Nachwendezeit zu reden bedeutet ja nicht, die Deutsche Einheit schlecht zu reden. […] Doch bei alldem dürfen die Menschen nicht vergessen werden,
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müssen die vorhandenen Gefühle vieler von uns Ostdeutschen ernst genommen werden. Nur wenn Ungerechtigkeiten auch als das benannt werden, was sie sind, und ein Wille erkennbar wird, diese abzumildern, können Demütigungen, Kränkungen und Verweigerungshaltungen überwunden werden. Nur dann kann sich ein demokratisches Gemeinwesen erfolgreich entwickeln.« (ebd. S. 16)
In den folgenden Kapiteln führt Köpping ihre eben vorgestellten Überlegungen und Ansätze anhand verschiedener konkreter Beispiele und Faktoren, belegt mit diversen Fakten und Zahlen, aus. Dabei kommen unter anderem zur Sprache: ▪ Rolle und Folgen der Treuhandpolitik • Gezielte Verdrängung ostdeutscher Konkurrenz • Schwierige Rahmenbedingungen für ostdeutsche Existenzgründer durch fehlen-
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des Eigenkapital, verfügbare Erbmasse und ungünstige strukturelle Vorbedingungen Westdeutsche Dominanz und Arroganz Umwandlung des staatlichen Endes der DDR in individuelle Niederlagen der Bürger Umgang mit dem ökonomischen Erbe der DDR Reale Notwendigkeit der beinahe allumfassenden Abwicklung? Folgen der Nachwendezeit Soziale Ungerechtigkeiten Rentenpolitik und Altersarmut Fehlende Leistungsgerechtigkeit Abhängigkeit und Selbstmarginalisierung von Arbeitnehmern gegenüber Arbeitgebern Soziale Altlasten aus DDR-Zeiten, die durch das gesamtdeutsche Rechtssystem nicht abgebildet und aufgefangen werden (z.B. im Fall der in der DDR geschiedenen Frauen, ehemaligen Reichsbahn-Mitarbeiter, Bergarbeiter etc.) Demografischer Wandel Arbeitslosigkeit und Folgen der Agenda 2010
Marginalisierung von Lebensleistungen und anhaltende Identitätskrise Selbstwahrnehmung als »Bürger zweiter Klasse« Entwicklung einer kollektiven ostdeutschen Identität Reduktion der Transformationsprozesse auf ökonomisches Aufholen gegenüber Westdeutschland • Nachhaltiges Fortwirken individueller Kränkungserfahrungen trotz persönlichem Wohlstand ▪ • • •
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Nichtanerkennung von DDR-Abschlüssen und Qualifikationen Negierung der eigenen Erfahrungen in der DDR durch die Ostdeutschen selbst Vorauseilende Assimilation und Abschaffung der eigenen Identität Gefühl des Vorwurfs eines Lebens im »falschen Land« Errungenschaften aus DDR-Zeiten wurden zunächst als wertlos verworfen und werden heute als innovativ neu belebt, allerdings oft ohne explizite Bezugnahme auf den ostdeutschen Ursprung (Bsp. Medizinische Versorgungszentren, die auf dem Prinzip der Polikliniken basieren) • Fehlende politische und gesellschaftliche Ansprechpartner • Soziale Spaltung, Segregation und Konkurrenz • • • • •
▪ Fehlende ostdeutsche Eliten • Wahrnehmung eines »kulturellen Kolonialismus« westdeutscher Eliten nach
1990 • Überwiegende Übernahme des ökonomischen Bestands der DDR durch West-
deutsche • Dominanz westdeutscher Eliten in Spitzenpositionen • Elitentransfer als Folge der unmittelbaren Übernahme des administrativen Sys-
tems der Bundesrepublik • Soziale Mobilität der ostdeutschen Bevölkerung bis heute eingeschränkt • Fehlendes kollektives Selbstvertrauen der Ostdeutschen in die eigenen Gestaltungsmöglichkeiten Konkrete Ansätze für eine Aufarbeitung Gegenseitiges Zuhören und Verständnis Bündnis und Solidarität zwischen Ost- und Westdeutschland Aufarbeitung der Treuhandpolitik ist unabdingbar Wo möglich, ernsthafte und zeitnahe Abmilderung und Entschädigung der sozialen Folgen der Nachwendezeit • Ostdeutsche Emanzipation und offensiver Umgang mit einem genuin ostdeutschen Erfahrungsschatz • Notwendigkeit einer Debatte über nötige gesamtdeutsche Veränderung und Transformationsprozesse • Aktive Verteidigung der Demokratie ▪ • • • •
Aus kulturwissenschaftlicher Sicht könnte man bei Betrachtung dieser Themenfelder, die die Heterogenität und Komplexität der Gemengelage im Diskurs in und über Ostdeutschland illustrieren und betonen, monieren, dass der Blick auf kulturelle Artefakte und Praktiken und damit ein wesentlicher Bestandteil mensch-
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lichen Denkens, Fühlens und Handelns überwiegend ausgespart bleibt. Nun kann dies einer vorrangig politisch motivierten Streitschrift nur bedingt vorgeworfen werden – die Frage, warum kulturpolitische Herausforderungen zur Zeit generell einen schweren Stand zu haben scheinen, darf gern an geeigneteren Stellen vertieft werden. Jedoch verdeutlicht dieser Umstand anschaulich, dass das Kulturleben im Allgemeinen und (auf unseren Fall bezogen) die Musiklandschaft im Besonderen bislang offenbar nur eine untergeordnete Rolle in den Aushandlungsprozessen der deutsch-deutschen Integration spielen. Unbestritten gibt es im Kleinen zahlreiche Formate und Angebote, die hier wichtige Beiträge aus kulturtheoretischer und kulturpraktischer Perspektive liefern. Auf politischer, medialer und gesamtgesellschaftlicher Ebene werden diese jedoch augenscheinlich genau so wahrgenommen: als Leuchtturmprojekte und Arbeit im Kleinen, nur bedingt Sichtbaren mit begrenzter Strahlkraft, Reichweite und Nachhaltigkeit. Hier liegt auch und gerade im Musikleben aus meiner Sicht ein enormes Potential brach. Es wären Mut, Weitsicht und die Bereitschaft zu einer stärkeren und schärferen Positionierung gefragt. Natürlich muss sich dabei die Frage stellen, inwiefern sich Kunst und Kultur, aber auch Wissenschaft, einer politisch relevanten Agenda verschreiben können und sollten oder sich aus gerade diesen Sphären im Sinne der Unabhängigkeit, Neutralität oder künstlerischen Freiheit heraushalten dürfen und müssen. Auch diese Problematik ist alles andere als neu und wird gewiss in jedem Einzelfall von den jeweiligen Akteuren stets aufs Neue reflektiert und bewertet. Eine stärkere und vor allem sichtbarere kulturpraktische Besinnung auf eine gesamtgesellschaftliche Verantwortung und Vorbildfunktion jenseits des täglichen Schaffens im Kleinen wäre angesichts der Dynamik und Sprengkraft des Themas jedoch sicher nicht verkehrt. Insbesondere größere Kulturinstitutionen sind hier gefragt und sollten mit gutem Beispiel vorangehen. 3.3.2 Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein Einen etwas anders gelagerten Versuch, die ostdeutschen Transformationserfahrungen und deren bis heute anhaltende Nachwirkungen zu verstehen und begreifbar zu machen, ohne dabei die Erfolge der deutschen Einheit zu negieren oder Ostund Westdeutschland gegeneinander auszuspielen, unternehmen Jana Hensel und Wolfgang Engler in ihrem Buch Wer wir sind. Die Erfahrung, ostdeutsch zu sein (Engler und Hensel, 2018). Dabei gehen sie in Form eines facettenreichen Dialogs auf die vielfältigen und komplexen Strukturen der ostdeutschen Teilgesellschaft und Identitäten ein. Im Folgenden möchte ich exemplarisch einige Aussagen der beiden Autoren vorstellen, um das bisher gezeichnete Bild weiter auszudifferenzieren und zu ergänzen.
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Angesichts des zunehmenden Erfolgs der rechtspopulistischen Strömungen in den neuen Bundesländern etwa stellen sie fest: JH: »Vielleicht werden wir eines Tages feststellen, dass diese Bundestagswahl [2017] das Ende der Nachwendezeit markiert – so wie das Jahr 1968 das Ende der Nachkriegszeit markiert –, weil der Erfolg der AfD, erst einmal gänzlich wertfrei gesagt, die bisher größte Emanzipationsleistung der Ostdeutschen darstellt. Obwohl […] daran nichts überraschend war […], schockierend war es dennoch.« (Engler und Hensel, 2018, S. 15)
Auch bei Hensel und Engler kommt die Marginalisierung ostdeutscher Lebenserfahrungen und Identitäten zur Sprache: »Im Osten brodelte es schon lange, das konnte jeder erfahren, der dort einmal mit Menschen sprach.« (ebd.) Nach der Wende hätten viele Ostdeutsche prägende Erlebnisse und Motive der eigenen Kindheit und Jugendzeit bereitwillig aufgegeben, um sich proaktiv kollektive westdeutsche Identitätsmuster anzueignen. Da dieses Verhalten aus westdeutscher Sicht einer unausgesprochenen Erwartungshaltung der Nachwendezeit entsprach, dass aus ehemaligen DDR-Bürgern nun Westdeutsche würden, sei eine Nichtthematisierung kollektiver ostdeutscher Identitätsmuster und eine automatische Eingliederung der Ostdeutschen in bestehende westdeutsche Narrative die logische Konsequenz. JH: »Im Jahr 2000 erschien das Buch ›Generation Golf‹ des damaligen FAZ-Redakteurs Florian Illies, der fünf Jahre älter ist als ich und darin die westdeutschen Erfahrung der achtziger und neunziger Jahre seiner Generation beschrieb. Im Grunde erzählte er – ironischerweise – auch von einer Welt, die es nicht mehr gab, nämlich von der heilen westdeutschen Welt vor dem Mauerfall. Nachdem das Buch ein riesiger Erfolg geworden war, schob man meine Generation da einfach so mit unter. Aber […] viele Ostdeutsche begannen ebenfalls, und das hat mich dann wirklich erzürnt, diese westdeutsche Erfahrung für ihre eigene zu halten.« (ebd., S. 47)
Die deutsche Musikgeschichtsschreibung erweist sich bislang als ebenso vereinnahmend. Zwar gibt es, wie in Kapitel 5 zu sehen sein wird, eine Vielzahl von Untersuchungen zum Musikleben der DDR. Diese bleiben jedoch im Großen und Ganzen Einzelanalysen, ähnlich eines zerlegten Puzzles, bei dem man das Bild nur erahnen kann. Gleichberechtigte Aufnahme in die Musikgeschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts hat die Musiklandschaft der DDR und Ostdeutschlands jedoch bis heute nicht gefunden. Gleiches gilt für die Wahrnehmung ostdeutscher Komponisten und ihrer Werke. Auch hier kann man durchaus nicht von einer vollständigen Missachtung sprechen (siehe Kapitel 7). Allerdings sind ostdeutsche
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Komponisten überwiegend weit davon entfernt, im Rahmen der Kanonbildung im gleichen selbstverständlichen Atemzug mit ihren westdeutschen Kollegen – nicht zuletzt auch im internationalen Vergleich – genannt und bedacht zu werden. Einen ähnlich verzerrten Blick stellt Engler in Bezug auf die Bewertung des Verhaltens der ostdeutschen Bevölkerung in den Transformationen des Einheitsprozesses fest. WE: » Sobald man Anlass findet, die Ostdeutschen zu loben, dafür, dass sie die Chancen ergriffen haben, die ihnen die neue Gesellschaft bot, bucht man das auf das Konto ebendieser Chancen. Dass ihr ostdeutsches Erbe sie in irgendeiner Hinsicht dazu befähigt haben könnte, fällt unter den Tisch. Ganz anders, wenn die Ostdeutschen Tadel verdienen, weil Geld und gute Worte sie noch immer nicht zu den Mitbürgern gemacht haben, die sie nun längst sein müssten. Dann rekurriert man auf ihre Vorgeschichte in der DDR, die nun als Handicap erscheint. In diesem Fall streicht man die jetzt bald drei Jahrzehnte unbekümmert aus und beraubt sich derart jeder Möglichkeit, zu verstehen, wie tiefgreifend der Umbruch Haltungen und Meinungen der Ostler beeinflusste.« (ebd., S. 51)
Dabei sei, »das mindeste, was man von Leuten verlangen kann, die sich ein Urteil über die Ostdeutschen oder über ihre Nachbarn im Osten erlauben, […] eine faire, sachgemäße Gewichtung der Erfahrungen vor und nach dem großen Bruch der Jahre 1989/90.« (ebd., S. 52) Hensel gibt in diesem Kontext zu bedenken, »dass die Zeit seit dem Mauerfall für die Ostdeutschen eben keine geschichtslose Zeit gewesen ist.« (ebd., S. 54) Ebenso problematisch ist aus Sicht der Autoren die in der medialen und allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung noch immer verankerte Gleichsetzung von Erfahrungen aus DDR-Zeit und ostdeutschen Erfahrungen nach 1990. Hensel merkt jedoch an, dass »die ostdeutschen Erfahrungen eben im Jahr 1989 [beginnen]. Davor müssen wir von der DDR-Erfahrung sprechen. Das eine lässt sich nicht blind aus dem anderen ableiten, dafür sind die beiden Räume grundsätzlich zu verschieden. Im Gegenteil, es gilt, sehr genau auf Kontinuitäten und Brüche zu achten.« (ebd., S. 54) Auch für meine eigenen Untersuchungen im Feld der Musik ist diese präzise Unterscheidung von zentralem Interesse. Darüber hinaus hat sie auch Auswirkungen auf den individuellen und kollektiven Umgang mit Erinnerungsstrukturen und -kulturen. Engler schreibt pointiert: »Das Einzige, was sich immerfort ändert, ist der Blick auf das, was nicht mehr zu verändern ist. […] Die Leute lassen sich einfach nicht vorschreiben, wie sie was auf welche Weise zu erinnern haben.« (ebd., S. 55) Hensel ergänzt, »von Gelassenheit oder gar von zwei gleichberechtigt nebeneinander existierenden deutschen Identitätserzählungen kann nicht die Rede sein. Die ostdeutsche bleibt
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die defizitäre, die nachrangige, die marginalisierte und oft auch einfach jene, die schlicht übersehen wird.« (ebd., S. 57) Zumindest sei sie »weit davon entfernt […], in eine gesamtdeutsche Identitätserzählung aufgenommen zu werden. Eher bildet sie eine Art Gegenerzählung, von der man sich, je nach Bedarf und Thema, abzugrenzen versucht.« (ebd.) Jedoch kann man diesen Umständen durchaus auch positive Aspekte abgewinnen: JH: »Was mir aber auch auffällt, ist, dass wir uns sozusagen unter der Hand, gleichsam als Nebeneffekt dieser ewig marginalisierten Sprecherposition, inzwischen besser kennen als die Westdeutschen sich. Wir liegen seit nahezu dreißig Jahren sozusagen auf der Couch. […] aber werden auch zu ganz ernsthaften Selbstbefragungen nahezu gezwungen. Ehrlich gesagt, ich halte viele von uns inzwischen für vitaler, klüger, differenzierter im Blick auf sich selbst, als es viele Westdeutsche im Blick auf sich selbst sind. Wir wurden immer wieder gezwungen, vieles zu hinterfragen und unsere Positionen ständig neu zu bestimmen. […] Man ist also als Ostdeutscher in regelmäßigen Abständen geradezu in eine Art Politisierung hineingezwungen worden, hat an solchen und anderen Ereignissen immer wieder gespürt, wie eng die eigene Biografie mit gesamtgesellschaftlichen Fragen und Entwicklungen verknüpft ist.« (ebd., S. 58 f.)
Gerade für die Biografieforschung, etwa mit Methoden der Oral History, und die intensive Auseinandersetzung mit dem konkreten Wirken kulturschaffender Akteure hält diese Sichtweise enormes Potential bereit. Vor allem das Verständnis für eine unmittelbare Verbundenheit von individuellen Lebensläufen, kollektiven Einstellungen und gesellschaftlichen Entwicklungen scheinen mir hier von zentraler Bedeutung zu sein. Die in der oben vorgestellten Studie Ost-Migrantische Analogien nachgewiesenen migrantischen Erfahrungen der Ostdeutschen nach 1990 werden von Hensel und Engler ebenfalls angesprochen: JH: »Eine Facette der ostdeutschen Erfahrung ist ja auch diese wohl historisch einmalige, quasimigrantische Erfahrung der Ostdeutschen, fremd im eigenen Land zu werden, ohne das eigene Land verlassen zu haben. Sie ist Teil jener größeren Marginalisierungserfahrung.« (ebd., S. 60)
Laut Hensel hält diese migrantische Erfahrung jedoch auch Potentiale und Perspektiven im Umgang mit aktuellen Herausforderungen bereit: JH: »Der migrantische Kern der ostdeutschen Erfahrung ist extrem anschlussfähig. Wahrscheinlich ist dieser migrantische Kern am besten mit Heimatlosigkeit zu beschreiben, mit
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einem Unbehaustsein, das viele Facetten kennt. Das sich nicht jeden Tag übergroß vor einem aufstellt, aber das immer spürbar ist, nie weggeht.« (ebd., S. 143)
Die, wenn auch aus Sicht der Autoren in vielfacher Weise marginalisierte, sowohl theoretisch konstruierbare als auch wie gezeigt empirisch nachweisbar bestehende ostdeutsche Identität – besser noch Identitäten – wird jedoch keineswegs von allen Ostdeutschen individuell angenommen und vertreten. Hensel spricht von zwei Gruppen, jene »die sich selbst als solche [Ostdeutsche, Anm. d. Verf.] bezeichnen, und die, die das nicht wollen.« (ebd., S. 76) Dabei hält Hensel die letztere Einstellung »für eine Anpassungsstrategie. Das ist die große Gruppe derer, die aus Anpassung, vielleicht auch aus Überanpassung, die eigene Identität verleugnen. Das ist eine Spielart der ostdeutschen Identität.« (ebd.) Im Bereich der Musik tritt diese Zweiteilung ebenfalls zu Tage. Fragt man beispielsweise Komponisten nach ihrer Herkunft und Sozialisation, wird man beide Gruppen wiederfinden. Während sich die einen offensiv und produktiv mit ihrer ostdeutschen Verwurzelung auseinandersetzen und aus ebendieser schöpferische Motivation beziehen, verorten sich andere Künstler vielmehr im internationalen Kontext und versuchen ihren ostdeutschen Background aus den unterschiedlichsten Gründen eher zu verstecken. Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der Umstand, dass die Ostdeutschen in den unmittelbaren Nachwendejahren sowohl in vielen Fällen ökonomisch als auch – und das ist fast noch entscheidender – in der öffentlichen Wahrnehmung in die Rolle von passiven Transferempfängern gedrängt wurden oder sich vielmehr drängen ließen. Bereits in den Texten Schorlemmers klang dieses Dilemma angesichts des in den Jahren 1989/90 erreichten Grades an aktiver politischer Mitgestaltung und allgemeiner Politisierung in der ostdeutschen Bevölkerung durch. Hensel und Engler öffnen in diesem Kontext auch den Blick auf die Transformationserfahrungen in den anderen ehemaligen Ostblockstaaten Ost-, Mittelost- und Südosteuropas. WE: »Gleichzeitig aber fragt man sich, wie die Menschen in anderen Ländern des alten Ostens, in Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien die Nachwendezeit erlebten? Dort gab es keine wohlhabende Parallelgesellschaft. Wenn diese mit dem ostdeutschen Erbe auch ein wenig rüde umging, so stabilisierte sie doch die alltägliche Existenz der Ostdeutschen auf eine Weise, von der man anderswo in Ostmitteleuropa allenfalls träumte.« (ebd., S. 99)
Auch hier ließen sich interessante Bezüge zum Musik- und Kulturleben herstellen und zahlreiche komplexe Fragen stellen. Wie entwickelten sich beispielsweise die zu DDR-Zeiten recht stark ausgeprägten Kontakte von zeitgenössischen Komponisten aus den verschiedenen Ostblockstaaten? Haben die Umwälzungen der 90er
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Jahre hier zu einem Abbruch geführt oder die gefühlte und reale Solidarität gestärkt? Wie steht es heute im Gegenzug um die auch vor 1990 durchaus vorhandenen gegenseitigen Vorurteile und Vorbehalte zwischen den Künstlern der mittelosteuropäischen Länder? Haben diese sich gehalten oder sogar angesichts der so unterschiedlichen ökonomischen und sozialen Entwicklungen im neuen europäischen Kontext verschärft? Auf politischer Ebene gibt es dafür ja nicht wenige Anzeichen. Diese Art von Fragen jedoch wurden bislang sowohl im allgemeinen gesellschaftspolitischen Diskurs als auch in Bezug auf die Rolle des Musik- und Kulturlebens der Nachwendezeit überwiegend unter einem sehr einseitig und negativ definierten Geschichtsbild begraben. Hensel beschreibt diesen Umstand recht prägnant: JH: »Die Nachwendezeit durfte offenbar kein positives Erbe der DDR haben, nur das Negative wurde über die Brucherfahrung hinaus weiter konstatiert. So ließ sich über die Ostdeutschen immer wieder behaupten, sie seien in der Nachwendezeit zu einer Gemeinschaft alles passiv erduldender Wohlfahrtsempfänger geworden.« (ebd., S. 101)
Als Konsequenz aus ihren Überlegungen und Analysen fordern Hensel und Engler, ähnlich wie bereits in der Streitschrift Petra Köppings zum Ausdruck kam, letztlich eine verstärkte Hinwendung zu einer offenen, unvoreingenommenen Aufarbeitung der Nachwendezeit und aller mit eben dieser verbundenen ost- und gesamtdeutschen Problemlagen. JH: »Im nächsten Jahr jährt sich der Mauerfall zum dreißigsten Mal, die DDR selbst ist gerade einmal vierzig Jahre alt geworden. Wir reden also inzwischen über ähnlich lange historische Zeiträume. Ich glaube, die Öffentlichkeit, also der westdeutsch dominierte Blick, muss sich von diesem nahezu besessenen Starren auf die DDR verabschieden. Wir müssen uns viel eindeutiger der Nachwendezeit zuwenden.« (ebd., S. 193)
3.4 TICKT OSTDEUTSCHLAND ANDERS? – FAZIT Die gewählten Beispiele stehen stellvertretend für eine – gerade angesichts der laufenden großen Jubiläen kaum zu überschauende – Vielzahl an Studien, Analysen, Essays, Erfahrungsberichten, Kolumnen, Polemiken und zahlreichen weiteren wissenschaftlichen, literarischen, journalistischen oder publizistischen Diskursbeiträgen. Je nach Hintergrund, Anliegen und Perspektiven schwanken deren Kernaussagen zwischen extremen, teils recht eindimensionalen Meinungen
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einerseits (die Erfolge der Wiedervereinigung werden überhöht oder die Defizite überbetont) und sehr differenzierten und komplexen Analysen andererseits. Dabei erscheinen mir die anhand der hier exemplarisch vorgestellten Vertreter aufgezeigten Schlussfolgerungen und Tendenzen am überzeugendsten, da sie der Vielschichtigkeit der Problemstellung gerecht werden, ohne zugleich ein rückwärtsgewandtes Ost-West-Klischeedenken zu rekultivieren oder bestehende Missverhältnisse im ost-west-deutschen Verhältnis zu negieren. Zusammenfassend sind aus meiner Sicht die folgenden Aspekte von zentraler Bedeutung für weiterführende Fragestellungen und Forschungsansätze: • Es gibt kollektive ostdeutsche Identitätsmuster. Diese beziehen sich jedoch ex-
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plizit auf die Zeit nach 1989/90 und sind nicht gleichzusetzen mit genuin auf die DDR bezogenen Erfahrungen, wenngleich in der Mehrheit ostdeutscher Biografien das Zusammenspiel beider Erfahrungsräume für heutige Einstellungen entscheidend ist. Kollektive ostdeutsche Erfahrungen und daraus resultierende Identitätsmuster lassen sich auch empirisch nachweisen. Dabei zeigen sich jedoch im Detail sehr komplexe Strukturen und Zusammenhänge. Diese ostdeutschen Erfahrungen und Identitätsmuster werden auch an die Nachwendejahrgänge tradiert und von ihnen wiederum weitergegeben. Genuin ostdeutsche Identitäten finden größtenteils kein westdeutsches Pendant. Hier spielt eher das bundesdeutsche Selbstverständnis in Kontinuität über die Wiedervereinigung hinweg eine tragende Rolle. Ostdeutsche Identitäten und Erfahrungsräume werden sowohl in der westdeutschen als auch in der kollektiven gesamtdeutschen medialen, politischen und allgemeinen öffentlichen Wahrnehmung und Reproduktion oftmals stark marginalisiert. Aktuelle politische Tendenzen und problematische Stimmungslagen in Ostdeutschland sind unter anderem auch auf diese Marginalisierungserfahrungen zurückzuführen. Eine Stärkung und Berücksichtigung ostdeutscher Erfahrungen bedeutet keine Abwertung der Errungenschaften und positiven Aspekte der Wiedervereinigung und der deutsch-deutschen Integration nach 1990. Es ist notwendig, die öffentliche Fixierung auf die DDR-Vergangenheit zu überwinden. An deren Stelle muss eine offene und produktive Auseinandersetzung mit der Nachwendezeit und die aktive Aufarbeitung derselben treten.
Auf Grundlage dieser Kernpunkte werden sich nun auch die weiteren Ausführungen, Fragestellungen und Ansätze meiner Arbeit bewegen.
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Ostdeutschland in der theoretischen Reflexion
Nach diesem ausführlichen Einblick in verschiedenste Perspektiven und Blickwinkel auf das gefühlte, reale und (re-)konstruierte Phänomen Ostdeutschland, die wie gesehen vor allem die allgemeinen historischen, praktischen und lebensweltlichen Aspekte betonen, möchte ich nun noch einmal verschiedene theoretische und definitorische Überlegungen zum Konstrukt Ostdeutschland beleuchten. Diese bilden gewissermaßen den Rahmen sowohl zu den bisherigen Ausführungen als auch für meine anschließenden Untersuchungen auf dem Gebiet der Musik.
4.1 DAS OSTDEUTSCHE IDIOM UND DIE KOLLEKTIVE OSTDEUTSCHE IDENTITÄT Die eben präsentierten Analysen zur ostdeutschen Gesellschaft setzen mehr oder minder stillschweigend voraus, dass so etwas wie eine kollektive, genuin ostdeutsche Identität überhaupt existiert und dass es bestimmte Parameter gibt, die eben jene ostdeutsche Gesellschaft und ihre Bevölkerung von ihrem westdeutschen Pendant strukturell unterscheiden. Wie gezeigt sprechen sowohl historische als auch sozialwissenschaftlich-empirische Befunde durchaus für diese Annahme. Eine konkrete, umfassende und aus meiner Sicht sehr überzeugende Auseinandersetzung mit dem Phänomen einer spezifisch ostdeutschen Identität nimmt Wolfgang Engler in seinem 2004 veröffentlichten Buch Die Ostdeutschen als Avantgarde in Angriff. Er fragt sich zunächst:
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»Die Ostdeutschen – gibt es die überhaupt noch? Bilden sie, nachdem sie Mauer und Befestigungsanlagen zum Einsturz brachten, noch eine abgrenzbare Einheit?« (Engler, 2004, S. 13)
Dabei hat der Autor die Problematik der Begrifflichkeiten und der damit einhergehenden Gefahr unzulässiger Verallgemeinerungen fest im Blick: »›Der Ostdeutsche‹ wäre eine gehaltlose Abstraktion gewesen, die die schlechtesten Traditionen der alten Völkerkunde heraufbeschworen hätte; ›Die Ostdeutschen‹ schloß die Differenz in sozialer, kultureller, geschlechtlicher und generationsmäßiger Hinsicht von vornherein ein, freilich auch das die Unterschiede Übergreifende, die in der unendlichen Abstufung von Lagen und Charakteren sich manifestierenden Gemeinsamkeiten.« (ebd., S. 13)
Als besonders heikel erweist sich die definitorische Herausforderung für die Zeit vor 1990. Engler stellt dabei mehrere Begriffe in den Raum, die in dieser Form durchaus Anwendung fanden und finden, jedoch allesamt unzulänglich die Realität abbilden und damit fast ebenso unzutreffend wie zutreffend sind. So hätten »die Bewohner der DDR sich selbst kaum als ›Ostdeutsche‹ [bezeichnet].« (ebd., S. 14) Vielmehr gab es dort »nur Bürger der Deutschen Demokratischen Republik.« (ebd.) Im Übrigen kannte man in der DDR »auch kein ›verlorenes Land‹ im Osten. […] Nur die westdeutschen Revanchisten sprachen noch von Ostdeutschland und nannten die DDR ›Mitteldeutschland‹.« (ebd.) Stattdessen lag die Rede »vom ›gelernten DDR-Bürger‹« (ebd., S. 15) wesentlich näher, »in der die ironische Distanz zu den politischen Gegebenheiten und zu sich selbst vernehmbar mitschwang.« (ebd.) Allerdings »hatte der gelernte DDR-Bürger die DDR [irgendwann] ebenso über wie der ohne weitere Ausschmückungen und wünschte sich nur noch eines – Bürger ohne DDR zu sein.« (ebd.) In diesem Sinne erscheinen Engler »›die Ostdeutschen‹ noch heute als die komfortabelste Lösung.« (ebd., S. 15) Anschließend weist er auf den angesichts der Stimmungslagen in der unmittelbaren Wendezeit keineswegs leicht erklärbaren Umstand hin, dass sich eben gerade erst in der Nachwendezeit eine ostdeutsche Kollektividentität herausgebildet habe. »Daß ›die Ostdeutschen‹ […] als Ostdeutsche aus der DDR hervorgingen, ist in vieler Hinsicht erstaunlich und einer eigenen Betrachtung wert. Setzten sie sich doch zunächst auf dem kurzen Weg vom Spätherbst 1989 bis zum Vollzug der deutschen Einheit in ihrer großen Mehrheit unübersehbar gesamtdeutsch in Szene, sprachlich, symbolisch, program-
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matisch. Sie kannten, scheint es, seit ›das Volk‹ aus dem bestimmten in den unbestimmten Artikel ausgewandert war – ›Wir sind ein Volk‹ –, nur noch Deutsche.« (ebd., S. 15 f.)
Jedoch war die Herausbildung einer nachhaltig gesamtdeutschen Identität laut Engler von Beginn an zu stark belastet. Er spricht davon, »daß der kollektive Resonanzboden […] mit Kränkungen und Ressentiments (›Bürger zweiter Klasse‹) durchsetzt war« (ebd., S. 16), was »vor allem die Gebildeten in beiden Teilen Deutschlands [verstörte]. Hier schienen Tabus und Verkapselungen aufzubrechen, die am besten für immer unter Verschluß geblieben wären.« (ebd.) In einem Zitat des Historikers Peter Bender findet Engler eine treffende Charakterisierung dieses Umstands: »Die Westdeutschen wurden Europäer, soweit man das werden kann, die Ostdeutschen blieben deutsch‹.« (ebd., S. 16) Engler fragt nun nach den Konsequenzen dieser Beobachtungen. »Oder gilt vielleicht das von Bender nicht in Betracht gezogene Dritte, daß sich die Ostdeutschen in ihrem Wunsch und Angebot, als Deutsche, möglichst erster Klasse, wahrgenommen und behandelt zu werden, abgewiesen fühlten und deshalb einen Wissens- und Erfahrungsvorrat, der ihnen geläufig war, nach Anknüpfungspunkten für die neue Zeit befragten? Dafür spricht einiges.« (ebd., S. 16 f.)
Anhand von Fallbeispielen zeigt der Autor, wie differenziert sich das herausgebildete ostdeutsche Idiom darstellt – gespeist sowohl aus negativen als auch aus durchaus positiven Erfahrungen der Nachwendezeit. Dies wird deutlich in der Feststellung, »daß die Wertschätzung ostdeutscher Tugenden nicht nur aus dem Munde derer kommt, die die DDR stützten und repräsentierten […]; sie ist auch Menschen geläufig, die ihre Fähigkeiten erst nach dem Umbruch in vollem Umfang entwickeln konnten.« (ebd. S. 19 f.) Kurz gesagt: »Das ›ostdeutsche Idiom‹ hat seine sozialen Dialekte; es wird unverkrampft gesprochen und spannungsgeladen, beiläufig und gezielt, defensiv und angriffslustig, im kleinen und im großen Plural. Daß sich die vielen Klangfetzen immer wieder zur Melodie zusammenfügen, darüber geben noch die blassesten Zeitzeugen, Zahlen, Umfragen und Statistiken genaue Auskunft.« (ebd.) Um Letzteres zu untermauern, präsentiert Engler Zahlen aus dem Sozialreport des Jahres 2001 und macht darauf aufmerksam, »daß die emotional intensivsten Bindungen ausgerechnet jener Ebene gelten, die als einzige auf der politischen Landkarte gar nicht verzeichnet ist – Ostdeutschland. Die Verbundenheit mit Ostdeutschland hat sich im Verlauf der letzten Jahre noch erhöht und übertrifft sogar […] die erfahrungsnäheren Lebensbezirke, Lokalität und Bundesland.« (ebd., S.
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20 f.) Dagegen »kühlten sich die auf die Bundesrepublik als Ganze gerichteten Gefühle seit dem Anfang der neunziger Jahre stetig ab.« (ebd.) Diese kollektive Verbundenheit der Menschen in den neuen Bundesländern mit dem Konstrukt Ostdeutschland erklärt Engler nicht als politisches, sondern als kulturell verankertes Phänomen: »Zwischen dem Kleinen und dem Großen angesiedelt, als politischer Bezugsrahmen irrelevant, als kultureller desto bedeutsamer, vermittelt ›Ostdeutschland‹ den dort lebenden Menschen zweifellos die stärksten Zusammengehörigkeits- und Identitätsgefühle.« (ebd., S. 21)
Abschließend konstatiert er: »Wie keine andere Konstante der politischen Geographie vermittelt ›Ostdeutschland‹ zwischen dem einzelnen und der gesamten kulturellen Gruppe, und indem es die emotionalen Valenzen bindet, die durch das Verschwinden der DDR frei wurden, auch zwischen Vergangenheit und Zukunft. Anders als manche glauben, wurde die ostdeutsche Identität nicht erst mit und nach der Wende erfunden, schon gar nicht aus freien Stücken; sie wurde vielmehr zugleich erfunden und entdeckt, d. h. geschöpft.« (ebd., S. 22 f.)
Ausgehend von Englers Überlegungen scheint es also durchaus gerechtfertigt, von einer kollektiven ostdeutschen Identität zu sprechen und Ostdeutschland als – wenn auch politisch nicht existentes – eigenständiges soziokulturelles Konstrukt zu betrachten. Grundsätzlich gilt es dabei natürlich stets, ein offenes Auge für Zusammenhänge, Wirkungsmechanismen, Widersprüchlichkeiten, Brüche und Kontinuitäten im Detail zu behalten.
4.2 OSTDEUTSCHLAND ALS TEILGESELLSCHAFT Raj Kollmorgen (2005) wiederum befasst sich aus sozialwissenschaftlicher Perspektive mit den spezifisch ostdeutschen Transformationsprozessen der Zeit nach der deutschen Wiedervereinigung. Dabei betont er den Sonderfall Ostdeutschlands im Vergleich zur postsozialistischen Entwicklung anderer osteuropäischer Staaten. Zudem stellt er den schwierigen Stand der Forschung zu ostdeutschen Transformationsprozessen sowohl innerhalb des deutschen Diskurses (polarisierende Einordnung und Bewertung der Transformation nach 1990, fehlende komparative Studien mit Vergleichen zu Osteuropa) als auch der internationalen Transformationsforschung dar. Ebenso reflektiert er das brisante Spannungsfeld im sozialwissenschaftlichen Diskurs, der die ostdeutsche(n) Transformation(en)
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mit Abstufungen wahlweise als bereits 1990 mit dem Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes abgeschlossenen, als historischen Idealfall einzustufenden erfolgreichen Institutionentransfer oder andererseits als bis in die Gegenwart andauernde von westdeutschen Eliten gesteuerte Aufoktroyierung von Strukturen interpretiert (vgl. Kollmorgen, 2005, S. 59 f.). Kollmorgen selbst hingegen charakterisiert den Transformationsprozess als ein Zusammenspiel aus exogener Steuerung durch »top-down-Institutionalisierungen« (ebd., S. 63) und endogener Neu- und Umformung der ostdeutschen Gesellschaft nach 1990. Dabei überwiegt jedoch der erste Aspekt im Zuge des Institutionen- und Elitentransfers von West- nach Ostdeutschland, wodurch in der Konsequenz Aneignungsprozesse seitens der ostdeutschen Gesellschaft aktiviert werden (vgl. ebd., S. 63 ff.). Eine Einordnung der ostdeutschen Transformation in den Kontext der postsozialistischen Entwicklung in Mittelosteuropa fällt laut Kollmorgen aufgrund des erwähnten Sonderfallstatus schwer. Sie sei jedoch mit einigen detaillierten Modifizierungen von zeitlichen Perioden, Akteursperspektiven sowie der Qualität und Richtung von Anpassungsprozessen durchaus möglich (vgl. ebd., S. 84 f.). Schließlich geht Kollmorgen noch auf die komplexen Dilemmata ein, denen sich Ostdeutsche zwischen einer Vielzahl von Anerkennungs- und Missachtungsmechanismen auf den unterschiedlichsten Ebenen ausgesetzt sehen. Diese bettet er jedoch in den übergeordneten Kontext postmoderner Gesellschaftsordnungen ein und legt diverse Einzelanalysen vor, die diesen Themenkomplex ausdifferenziert beleuchten (vgl. ebd., S. 190 ff.). In der Konsequenz seiner Ausführungen kommt Kollmorgen somit letztlich zu seiner Charakterisierung Ostdeutschlands als Übergangs- und Teilgesellschaft. In meinen Analysen zur Repertoirepflege musikalischer Institutionen in Ostund Westdeutschland (siehe Kapitel 7) wird sich diese Beobachtung zum Teil widerspiegeln.
4.3 POSTSOZIALISMUSFORSCHUNG Neben den speziell auf Ostdeutschland und die deutsch-deutsche Integration nach 1990 bezogenen theoretischen Ansätzen findet sich die Forschung zum Konstrukt Ostdeutschland auch im größeren Kontext der Postsozialismusforschung wieder. Dabei zeigt sich allerdings ein gravierendes Problem. Die überwiegende Anzahl der ehemaligen Ostblockstaaten beziehungsweise der Staaten, die bis 1990/91 staatssozialistisch verfasst und regiert waren, bleibt nach dem Zusammenbruch des Staatssozialismus in ihrer nationalen Einheit erhalten, finden wie im Fall Jugoslawiens und dessen Nachfolgestaaten zum Teil zu historisch begründeten
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nationalen Einheiten zurück (hier verbunden mit erheblichen Verwerfungen und militärischen Auseinandersetzungen), neu zusammen oder teilen sich wie im Fall der Tschechoslowakei in eigenständige Staatsgebilde auf. In all diesen Formen der Staatsumbildung bildet sich der deutsche Sonderfall der Teilung und Wiedervereinigung bei unmittelbarer Übernahme eines bereits bestehenden politischen Systems durch eine der beiden Teilgesellschaften nicht ab. Somit können Erkenntnisse der Postsozialismusforschung, wie sie auf Staaten in Ost-, Mittelost- und Südosteuropa zutreffen, zwar auf die spezifisch ostdeutschen Transformationsprozesse angewandt werden, müssen dabei jedoch im Detail einer umfangreichen Überprüfung und Modifikationen unterzogen werden. Im Folgenden möchte ich auf einige zentrale Aspekte der Postsozialismusforschung anhand des Sammelbandes Postsozialismus des Politologen Dieter Segert aus dem Jahr 2007 eingehen. Dies soll jedoch lediglich einer grundlegenden Einordnung und Orientierung dienen. Tiefergehende Darstellungen würden den hier gegebenen Rahmen sprengen. 4.3.1 Begriff des Postsozialismus Postsozialismus ist als Begriff sehr vielfältig aufzufassen und damit keineswegs unproblematisch in der Anwendung. Zugleich steht er für ein enormes forschungspraktisches Potential in der Auseinandersetzung mit der Geschichte des Staatssozialismus im Besonderen und deren Wirkungsmächtigkeit bis in die Gegenwart. Segert beschreibt die Auflösung dieses Problems wie folgt: »›Postsozialismus‹ ist mehr als ein Hinweis auf die verstreichende Zeit. Die osteuropäischen Gesellschaften sind nach-sozialistische nicht nur, weil sie den Staatssozialismus hinter sich gelassen haben. Der Begriff wird umgekehrt gerade verwendet, um auf Brücken zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart hinzuweisen, auf die Hinterlassenschaften des Staatssozialismus. Der Begriff ›Postsozialismus‹ soll die Annahme ausdrücken, dass diese Gegenwart besser verstanden werden kann, wenn in ihr die Fußspuren des Staatssozialismus erkannt und gedeutet werden können.« (Segert, 2007, S. 1)
Natürlich sei der Sozialismus »als historisches System gescheitert.« (ebd.) Gleichwohl soll die Verwendung des Begriffs Postsozialismus »auch nicht den Sozialismus als gesellschaftliches Konzept grundlegender Veränderungen heutiger Gesellschaften abwerten.« (ebd.) Vielmehr verdeutlicht sie den Umstand, »dass die aus dem Sozialismus der Jahre 1917 bis 1991 (um bei Europa zu bleiben) entstandenen Marktwirtschaften in wesentlicher Weise anders sind, als die vor 1989 existierenden.« (ebd.) Diese Andersartigkeit kann laut Segert nicht hinreichend
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verstanden werden, »ohne auch diese vorangegangene Gesellschaft genauer zu verstehen als es bisher, noch unter dem Eindruck ihrer Krise 1989/91, überwiegend geschieht.« (ebd.) 4.3.2 Konzepte und Entwicklung der Postsozialismusforschung Die Entwicklung der Postsozialismusforschung bewegt sich laut Segert vor allem im Spannungsfeld zwischen drei verschiedenen Aspekten: Transformation, Transition und kulturelle Kontinuitäten. Unter Transformation versteht die Forschung dabei »einen Prozess des umfassenden Wandels von Gesellschaften, in denen sich sowohl die Basisinstitutionen der Politik als auch der Wirtschaft verändern, der Weg von einem ausgebildeten gesellschaftlichen System zu einem anderen durchschritten wird.« (ebd., S. 5) Allerdings sei hinter diesem Begriff eine Vielzahl unterschiedlichster Perspektiven und Deutungsmuster verborgen (vgl., ebd.). Um dem Rechnung zu tragen und gewissen Einseitigkeiten der Transformationstheorie zu begegnen, »wurde die politikwissenschaftliche Debatte über die Evolution der Gesellschaften des Staatssozialismus [in den neunziger Jahren] zeitweise durch akteurs- und elitenorientierte Transitionskonzepte oder durch Konzepte der kulturellen Kontinuität dominiert.« (ebd.) Auch diese Theorie rief jedoch Widerstand hervor, weshalb »als Gegenposition dazu […] von Ethnologen auf einer Konferenz des Max-Planck-Institutes Halle das Konzept einer ›Postsozialismusforschung‹ entwickelt [wurde].« (ebd., S. 6) Insbesonder wird dabei die Position der Transitionstheorie kritisiert, dass sich mit dem Niedergang und Zusammenbruch der staatssozialistischen Regime »eine Tabula rasa ergeben hätte, von der ausgehend energische Elitenakteure bestimmte institutionelle Zusammenhänge des Westens (Demokratie und Marktwirtschaft) einfach hätten nachbauen können.« (ebd.) Segert konkretisiert diese Kritik an den Ansätzen der Transitionstheorie. Sie könne » abweichende Entwicklungspfade schwerlich erklären.« (ebd., S. 7) Allein der postulierte Dualismus von Demokratie und Diktatur, Staatsplanwirtschaft und Marktwirtschaft sei nicht im Stande, »Evolutionsprozesse vom Staatssozialismus aus zu fassen.« (ebd.) Statt eines in sich logischen und zwangsläufigen Übergangs von einem System zum anderen » ist ein facettenreicher Übergang von Mischform zu Mischform zu beobachten.« (ebd.) 4.3.3 Historische Einordnung des Staatssozialismus Segert präsentiert in seinen Ausführungen drei verschiedene Facetten, die die historische Funktion des Staatssozialismus fassen und einordnen.
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• Staatssozialismus als autonomes, in sich geschlossenes Gebilde für sich
(Katherine Verdery) Segert ordnet diesen Ansatz folgendermaßen ein: »Mir scheint, diese Betonung der Eigenständigkeit der sozialistischen Welt durch Verdery ist nicht falsch, man sollte sie aber auch nicht überzeichnen.« (ebd., S. 7) • Extern determinierte Entwicklung und Funktion des Staatssozialismus
(Andrew Janos) Segert fasst zusammen: »Der Staatssozialismus sei, so Janos, eine Staats- und Gesellschaftsform gewesen, die durch (militärische) Expansion versucht hätte, die externen Ursachen ihrer Rückständigkeit zu überwinden. Damit hätte er auf ein […] doppeltes Dilemma reagiert, einerseits auf ihre wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber den Staaten des Westens, zum anderen auf ihre Unterlegenheit gegenüber den hegemonialen Mächten im Umfeld.« (ebd., S. 7 f.) • Staatssozialismus als Versuch der nachholenden Modernisierung (Segert)
Seine eigene Deutung des Staatssozialismus charakterisiert Segert als Mischform: »Mein Begriff, der den Staatssozialismus als teilweise erfolgreichen Versuch einer nachholenden Modernisierung sieht, versucht eine Mischung […] [ich] habe ihn als Gegenkonzept zur Deutung des Sozialismus als einem ›totalitären System‹ entwickelt.« (ebd., S. 8) 4.3.4 Staatssozialismus als Sozialordnung Eine Deutung des Staatssozialismus nicht nur als politisch-administrative und wirtschaftliche Verfasstheit des Staates, sondern vielmehr als Sozialordnung, deren Verflechtungen und teils über Generationen gewachsenen Strukturen bis in die Gegenwart wirksam sind, hilft laut Segert dabei, die Hinterlassenschaften des staatssozialistischen Systems zu benennen und besser zu verstehen (vgl. ebd., S. 6). Vor allem in dieser Hinsicht lässt sich die Postsozialismusforschung aus meiner Sicht auch für die Erforschung und Einordnung der spezifisch ostdeutschen Nachwendeerfahrungen nutzbar machen. Im Sinne eines kulturwissenschaftlichen und nicht zuletzt kulturpraktischen Erkenntnisinteresses wären dabei insbesondere auch komparative Ansätze hilfreich, die die ostdeutschen Umbrüche und Übergänge gezielt in Beziehung zu den Umwälzungen in den übrigen ehemaligen Ostblockstaaten setzen.
Untersuchungen zum Umgang mit ostdeutscher Musik in der Nachwendezeit
5
Musikforschung zur Nachwendezeit
5.1 STAND DER MUSIKFORSCHUNG ZUR DDR- UND NACHWENDEZEIT Nach diesem ausführlichen Einblick in die allgemeine und wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Kontexten DDR-Vergangenheit, Nachwendezeit und Ostdeutschland stellt sich nun die Frage, in welcher Form die musikwissenschaftliche Forschung mit dem Themenfeld umgeht. Welche konkreten Fragestellungen und Untersuchungsgegenstände kommen hier zum Tragen und wie positioniert sich das Fach hinsichtlich des eben aufgezeigten problematischen Spannungsfeldes zwischen einer starken Fixierung auf die DDR-Zeit und einer im Allgemeinen bislang eher vernachlässigten Beschäftigung mit den Entwicklungen der Nachwendezeit? Grundsätzlich sieht sich die wissenschaftliche Aufarbeitung des Musiklebens der DDR, wie alle anderen Disziplinen auch, mit der Herausforderung konfrontiert, dass die klassische Unterscheidung des vorliegenden Materials in Primärquellen einerseits und Sekundärliteratur andererseits oftmals nur schwer möglich scheint. Vor 1990 in der DDR publizierte musikwissenschaftliche Werke dienen einerseits natürlich auch heute noch als Sekundärliteratur. Zugleich lassen sie sich jedoch nicht vom Kontext ihrer Zeit losgelöst betrachten. In diesem Sinne kommen sie auch als Primärliteratur in Betracht (z.B. Artikel in der Zeitschrift Musik und Gesellschaft des VKM; Hansen, 1988). Die musikwissenschaftlichen Publikationen aus der Zeit nach 1990 wiederum setzen sich etwa mit strukturellen und institutionellen Fragen auseinander oder liefern Analysen zu einzelnen Genres, Gattungen und Teilaspekten des musikalischen Lebens und Schaffens in der DDR. So gibt es Beiträge zur Kammermusik (z.B. Vetter, 1996; K. Stöck, 2013), zur Sinfonik (z.B. Tischer & Noeske, 2009) oder zum Musiktheater (z.B. Heinemann, 2004) in der DDR, die sich sowohl mit ästhetischen und gattungsgeschichtlichen Fragen als auch mit aufführungsprak-
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tischen oder rezeptionsgeschichtlichen Aspekten befassen. Studien zu musikalisch-kulturpolitischen Trägern und Akteuren (z.B. Schmidt, 2009), musikalischen Gesellschaften (z.B. Gesellschaft für Musikforschung, 1993; Klingberg, 1997), zur Rolle der Musikhochschulen als Ort künstlerischen Schaffens (z.B. Blanke, 2013; Hechler, 2015), Archiven als Orte der Erinnerungskultur und Bewahrung musikalischer Artefakte (z.B. Geck, 2002) oder zum Musikverlagswesen in der DDR (z.B. Hinterthür, 2006), sind ebenso aufschlussreich, um das Verhältnis zwischen Zwängen und Freiheiten im individuellen und kollektiven musikalischen Wirken sowohl von einzelnen Akteuren als auch von musikkulturellen Institutionen in der DDR nachvollziehen und verstehen zu können. Analysen zu den Steuerungsmechanismen zeitgenössischer Musik (G. Stöck, 2009; in diesem Fall mit tiefen Einblicken in die Diskussions- und Entscheidungsprozesse des Komponistenverbandes) oder den Schaffensbedingungen und Wirkungskreisen der Komponisten bis in die 1960er Jahre (Klemke, 2007) ergänzen dieses Bild und zeigen anschaulich auf, dass das Musikleben der DDR, auch und gerade im Bereich der (zeitgenössischen) klassischen Musik, keineswegs einzig und allein von den Extrempolen kulturpolitischer Anpassung einerseits und künstlerischen Widerstandes andererseits geprägt war. Vielmehr gilt es, ein Gefühl für das Vorhandensein von individuellen Freiräumen bei gleichzeitiger Notwendigkeit des stetigen Abwägens zwischen pragmatischen Zwängen oder Entscheidungen und der Wahrung des ästhetischen und kritischen Ausdrucks in der Musik zu gewinnen. Zudem befasst sich die Musikforschung mit Fragen des rein ästhetischen Diskurses in den ersten Jahren der DDR nach 1945 (zur Weihen, 1999) und mit punktuell ausgewählten Themen zum ästhetischen und kompositionstechnischen Diskurs innerhalb der DDR-Musikgeschichte (Noeske, 2004; Beinroth, 2011). Schlagworte wie Formalismus-Debatte, Sozialistischer Realismus und Bitterfelder Weg stehen dabei stellvertretend für eine Vielzahl unterschiedlicher Teilaspekte aber auch die Brisanz der kulturpolitischen Auseinandersetzung in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Gründung der DDR. Die Erforschung und Einordnung der bürgerlichen Musikkultur in der DDR spielt in diesen Kontexten eine gewichtige Rolle (z.B. Berg, 2012). Der politische Hintergrund und das entsprechende Bedingungsgefüge künstlerisch-ästhetischen Schaffens werden auch dabei stets mitgedacht und offengelegt, sowohl im Kontext der innenpolitischen Verhältnisse der DDR (z.B. Bendikowski, 2003; Berg, von Massow & Noeske, 2004; Berg, Holtsträter & von Massow, 2007; Schwerdtfeger, 2007/2014) als auch in Bezug auf das globale Machtgefüge und außenpolitische Veränderungen im Kalten Krieg (z.B. Mehner, 2011). Parallelen zu anderen Kunstformen wie der Literatur werden ebenfalls gezogen (z.B. Hiekel, 2011). Gerade auf diesem Gebiet liegt nicht zuletzt im Hinblick auf die teils sehr unterschiedliche Aufmerksamkeit,
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die Musik, Literatur und Malerei in der Nachwendezeit zuteil wird (von der internationalen Berühmtheit eines Neo Rauch oder zumindest der noch immer gegebenen Präsenz und Akzeptanz einiger ostdeutscher Literaten können viele Komponisten nur träumen) noch großes Potential verborgen. Rezeptionsgeschichtliche Analysen zu einzelnen Gattungen (z.B. Calico, 1999), Komponisten (etwa zu Bach, Wagner, Schönberg, Eisler oder Dessau) und Werken finden sich ebenfalls (z.B. Benz, 1998; Keller, 2003; Busch, 2005; Duncker, 2009; Tischer, 2009; von Brandenburg & Reininghaus, 2012; Krones, 2012; Mayer, 2012; Glänzel, 2013). Dabei ist die Reflexion des Schaffens zeitgenössischer Komponisten natürlich nicht ausgenommen (z.B. Keller, 2012; Kneppe, 2015; von Massow, Prnko & Grysko, 2015), genau wie Betrachtungen zum Wirken von Dirigenten (z.B. Forner, 2002; Hunt, 2010), Interpreten (z.B. von Lewinski, 1992) oder Regisseuren (z.B. Petrick, 2015) in der DDR. Auch der Bereich der Popularmusik findet mit zahlreichen Beiträgen zu Popmusik (z.B. Larkey, 2009), Rockmusik (z.B. Wicke, 1997; Daimer, 2007; Almeida, 2013), Jazz (z.B. Bratfisch, 2005; Dörfel, 2011; Gutjahr, 2014), Punk (z.B. Bettendorf, 2002; Boehlke & Gericke, 2007; Meinert, 2014), Heavy Metal (z.B. Okunew, 2016; Zaddach, 2018), Blues (z.B. Fricke, 2005; Rauhut, 2006/2009; Förster, 2014), der Folk-Szene (z.B. Leyn, 2016), Schlager (z.B. Herkendell, 2008), Hip Hop (z.B. Cramer, 2016) und allgemein der Independent Szene der DDR (z.B. Galenza, 2013) große Beachtung in der Aufarbeitung des Musiklebens der DDR. Dies wiederum geschieht zum Teil auch in Form rückblickender, anekdotischer und erinnerungskultureller Darstellungen (z.B. Kriese, 1998; Hentschel & Mathke, 2008; Liefers, 2014; Bäumel, 2015), die vor allem plastische Einblicke in musikalische Realitäten der DDR-Zeit liefern und auch Zeitzeugen (etwa in Form von Bands) ausführlich zu Wort kommen lassen. Grundsätzlich werden in Bezug auf popularmusikalische Phänomene neben ästhetischen und lebensweltlichen Fragen vor allem politische Kontexte und Deutungsräume adressiert. Allerdings darf auch an dieser Stelle nicht der Fehler begangen werden, Musik und Kultur grundsätzlich in unmittelbare Beziehung zum politischen System der DDR zu setzen. Unbestritten zwingt die staatspolitische Durchdringung des gesellschaftlichen Lebens in formalen Diktaturen jeder Art von individuellen und kollektiven Ausdrucksformen und Kulturpraktiken an zahlreichen Stellen die Notwendigkeit zu einer aktiven oder passiven Positionierung auf. Dennoch bilden im Umkehrschluss nicht zwangsläufig alle künstlerischen Aussagen diese Durchdringung ab. Auch in einer Diktatur kann Kunst durchaus als Kunst an und für sich angenommen und interpretiert werden. Für zeitgenössische klassische Musik, die sich auch in der DDR eher in einem Nischendasein eingerichtet hatte, gilt dies sicherlich noch stärker als für popularmusikalische Genres wie Rockmusik oder
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Punk. Deren Reichweite und politisch-kritisches Potential – im SED-Sprachgebrauch als »subversiv« gebranntmarkt – ließen die genannten Zwänge hier sicher um einiges heftiger und stetiger zutage treten. Gleiches gilt naturgemäß, nur unter anderen Vorzeichen, für die Erforschung politischen Liedgutes, wie es beispielsweise in der Singebewegung oder als Träger ideologischer und kulturpolitischer Absichten des SED-Regimes Ausdruck findet (z.B Bönig, 2004/2006; Krüger, 2007; Brauer, 2015). Auch die Schaffensbedingungen von Liedermachern werden in der Forschung reflektiert (z.B. Kirchenwitz, 1993; Robb, 2011), genau wie das im Zuge der 68er-Bewegung quasi als Gegenstück zum politischen Liedgut aufzufassende Genre des Protestsongs (z.B. Robb, 2007). Als ebenso intensiv und breit aufgestellt erweist sich die Auseinandersetzung mit der Musikpädagogik in und nach der DDR-Zeit (z.B. Bimberg, 1996; Gies, 1997; Antholz, 2002; Arndt, 2002; Biermann, 2002 und vor allem Fröde, 1997/2002/2010/2012), wobei auch komparative Analysen zwischen DDR und BRD (z.B. Fröde, Heise & Weber, 2007), biografische Studien zum Werdegang von DDR-Lehrkräften (z.B. Grimmer, 1999) oder der Stellenwert von Sonderschulen in der DDR (z.B. Gringmuth-Dallmer, 2004) avisiert werden. Neben bildungs- und erziehungspraktischen Aspekten spielen hier erneut vor allem die Rekonstruktion und das Verstehen ideologischer und politischer Zwänge, Wirkmechanismen sowie sichtbarer und unsichtbarer Anforderungen seitens des Staates an die Lehrkräfte eine zentrale Rolle. Eingebettet in die allgemeine Forschung zur Pädagogik in der DDR klingen dabei auch verstärkt die Entwicklungen der Nachwendezeit an, sind die unmittelbaren Auswirkungen des Systemwechsels für Lehrer (sei es durch Entlassung, Versetzung, Umschulung und Fächerwechsel oder auch die alltäglichen pragmatischen Herausforderungen der Transformationen im Schulwesen) doch allzu sichtbar. Auch spezielleren Themen wie etwa der Rolle des Rundfunks in der DDR (z.B. Albrecht, 1994; Höhn, 1996; Klaus, 2004; Larkey, 2004/2007/2010; Stahl, 2004/2008/2010) wird die Aufmerksamkeit der Musikforschung zuteil, wobei im Fall des Radios (vor allem von Radiosendern mit überwiegend jugendlicher Hörerschaft und entsprechendem Musikangebot, aber auch hinsichtlich der Rolle des Rundfunks in Bezug auf die Aufführung klassischer Musik) ähnlich wie beim sogenannten Westfernsehen das Zusammenwirken verschiedenster alltagspraktischer, ästhetischer, allgemein politischer und kulturpolitischer Kontexte augenfällig ist. Ebenfalls im Einzelfall sehr interessante musikwissenschaftliche Beiträge finden sich für kirchenmusikalische Phänomene (z.B. Eggebrecht, 1993; Arenhövel, 2004; Fischer, 2004; Voigt, 2009; Lemme, 2014), elektroakustische Musik (z.B. Böhme-Mehner, 2012), den internationalen Künstleraustausch im Kalten
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Krieg (z.B. Falk, 2015), Militärmusik (z.B. Funk-Hennigs, 1999; Schramm, 2009), das Liedgut der Arbeiterbewegung nach 1945 (z.B. Waldmann, 1998), die Rolle von Volkstanz (z.B: Walsdorf, 2009), die architektonische Manifestation musikalischer Institutionen in Form von Konzertsälen und Opernhäusern (z.B. Grychtolik, 2004), die Repräsentation von Musik im DDR-Fernsehen (z.B. Mielke, 2001; Pfeil-Schneider, 2011) oder lokale Musikkulturen (z.B. Zänsler, 2009). In zahlreichen Beiträgen setzen sich die Autoren dabei auch intensiv mit der Frage nach dem musikalischen und außermusikalischen Gehalt und Ausdruck von Werken und anderen musikalischen Artefakten auseinander, die ich aus den dargelegten Gründen in dieser Arbeit nicht verfolgen werde. Insbesondere für die oben angedeutete Problematik der Interpretation von künstlerischen Aussagen in autoritären und staatspolitisch durchdrungenen Gesellschaftsordnungen stellt dies einen umfangreichen und wichtigen Forschungskomplex dar. Neben diesen vielfältigen und komplexen Auseinandersetzungen mit Musik als kulturellem und ästhetischem Phänomen an sich rücken auch fachgeschichtliche Analysen zu Stellung und Wirken der Musikwissenschaft in der DDR in das Blickfeld der Aufarbeitung (z.B. Nowack, 2006; Tischer & Noeske, 2010; Rothkamm & Schipperges, 2015). Ein Überblickswerk zur Musikgeschichte der DDR für den gesamten Zeitraum von 1949 bis 1990, das die bislang vor allem westdeutsch geprägte allgemeine deutsche Musikgeschichtsschreibung umfangreich ergänzen könnte, existiert trotz einiger übergreifender Ansätze sowohl mit Fokus auf die DDR an sich (z.B. Dibelius, 1993; Berg 2001; Tischer & Ahrend, 2005; Schneider, 2013; Frackmann & Powell, 2015), als auch auf die deutsch-deutschen Beziehungen (z.B. Steinbeck, 1993) sowie in globaleren Kontexten (z.B. Grochulski, Kautny & Keder, 2007) bis heute nicht.
5.2 FORSCHUNGSBEDARF Diese auf den ersten Blick sehr begrenzte und abstrakte Übersicht mag nun beim einen oder anderen Leser Unmut hervorrufen, wird sie doch der Dichte und Vielfalt der Musikforschung zum Musikleben der DDR nicht ansatzweise gerecht. Es liegt jedoch keineswegs in meiner Absicht, die geleisteten Forschungsarbeiten meiner Kolleginnen und Kollegen im Detail zu ignorieren oder gering zu schätzen. Und bestünde mein hier vorgelegter Beitrag darin, weitere Erkenntnisse zu Musik und Kunst in der DDR zu liefern, wäre die Kritik auch mehr als angebracht. Wie ich allerdings mit meinen bisherigen Ausführungen zur Zeitgeschichte aufgezeigt
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habe, verfolge ich den Ansatz, die Nachwendezeit und damit auch die sich nach 1990 manifestierenden musikkulturellen Phänomene eben nicht unmittelbar in zwingender kausaler Folge auf den Zusammenbruch des politischen und gesellschaftlichen Systems der DDR zu verstehen, sondern als eigenständiges soziales und gesellschaftspolitisches Gebilde zu betrachten. In diesem Sinne sind die bisherigen Forschungsbeiträge zum DDR-Musikleben für sich genommen jeder mehr als interessant und beachtenswert. Auch einzelne Verbindungen und Bezüge zwischen der Zeit vor und nach 1990, wie sie ja unbestritten existieren und wirkmächtig sind, blende ich damit nicht aus. Im Großen und Ganzen jedoch kann ich für mein spezielles Anliegen nur sehr begrenzt Erkenntnisse aus der musikwissenschaftlichen Forschungsliteratur gewinnen, da sich diese eben, wie anhand der Übersicht deutlich wird, überwiegend auf die Zeit vor 1990 bezieht. Auch sporadische musikologische Exkurse in die Aufarbeitung der Nachwendezeit richten ihren Blick fast immer unmittelbar auf die DDR als Fix- und Vergleichspunkt. Dieser Umstand bekräftigt meine Schlussfolgerung, dass auch in unserem Fach die dringende Notwendigkeit einer Neuausrichtung – oder besser gesagt Neufokussierung – der Forschung besteht. Um dieses Missverhältnisses zu illustrieren, habe ich 294 für den musikwissenschaftlichen Diskurs repräsentative bibliothekarisch unter den kombinierten Stichworten »DDR«, »Musik«, »Ostdeutschland« und »Nachwendezeit« nachweisbare Beiträge (DNB, KVK etc.), die ab 1990 erschienen sind und damit nicht mehr als unmittelbar vor dem Hintergrund des DDR-Systems zu verstehende Primärliteratur gelesen und interpretiert werden müssen, analysiert. Es handelt sich dabei um unterschiedlichste Textgattungen – von Monografien, über Tagungsbände, Sammelbände, Aufsätze bis hin zu Hochschulschriften, Vorträgen, Online-Publikationen und geeigneter grauer Literatur – die wissenschaftlichen Standards genügen. Dies stellt gewiss keine vollständige Erfassung aller musikwissenschaftlichen Veröffentlichungen zum Thema dar, bildet den Fachdiskurs jedoch recht breit und differenziert ab. Die in die Analyse aufgenommenen Publikationen habe ich dann anhand der bibliothekarisch zugeordneten Verschlagwortung kategorisiert und deskriptiv statistisch ausgewertet. Abbildung 3 präsentiert eine Auswahl dieser Schlagworte. Beiträge, die sich spezifisch und detailliert mit der Zeit nach 1990 befassen, sind im Vergleich zur Masse der Themenfelder klar erkennbar in der Minderheit. So sind die in der Literatur am häufigsten aufgegriffenen Schlagwortkategorien in Bezug auf das ostdeutsche Musikleben vor 1990 »DDR« (in 266 Beiträgen), »Musik und Politik« (in 198 Beiträgen), »Gattungen« (in 164 Beiträgen), »Musiksoziologie« (in 88 Beiträgen) sowie »Institutionen« (in 79 Beiträgen). Dagegen sind nach meinem Auswertungsverfahren insgesamt lediglich drei Schlagwortkategorien zum ostdeutschen Musikleben der Nachwendezeit auszumachen:
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»Ostdeutschland und neue Bundesländer« (in 31 Beiträgen), »Erinnerungskultur« (in 16 Beiträgen) und »Kulturförderung nach 1990« (in lediglich 2 Beiträgen). Eine stärkere Hinwendung und Fokussierung auf Phänomene, Strukturen und Entwicklungen in der Musiklandschaft der neuen Bundesländer der Zeit von 1990 bis heute und eine damit verbundene Aufarbeitung der letzten dreißig Jahre scheint also auch aus musikwissenschaftlicher Sicht dringend geboten. Dabei muss es sowohl darum gehen, genuin ostdeutsche Parameter und Erklärungsmuster im musikkulturellen Leben zu identifizieren, zu definieren und durchdringend zu erforschen als auch diese gewinnbringend in eine produktive gesamtdeutsche Musikgeschichtsschreibung einzubringen. Auf diese Weise kann die Musikwissenschaft zu einem umfassenden Verständnis der deutschen Musikhistorie beitragen, das sowohl der Vergangenheit als auch der Gegenwart vollumfänglich gerecht wird.
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Abbildung 3: Schlagworte der Musikforschung zum Thema (Auswahl)
Sämtliche Grafiken, die ohne Quellenangabe präsentiert werden, sind selbst erstellt.
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Anliegen, Fragen und Fokus der Untersuchungen
Die bisherigen Ausführungen haben gezeigt, dass das thematische Spannungsfeld zwischen DDR-Vergangenheit, Wendeerfahrungen, Nachwendezeit, Transformationsprozessen, ostdeutschen Identitätsfragen und aktuellen gesellschaftspolitischen Entwicklungen in den vergangenen 30 Jahren in unterschiedlichem Maße stets präsent war und weiterhin ist. Dabei hat sich insbesondere die zeithistorische und sozialwissenschaftliche Forschung mit einigen Konjunkturschwankungen hinsichtlich der Intensität und konkreter Erkenntnisinteressen durchgängig mit dem Themenfeld befasst. Die mediale, journalistische und publizistische Öffentlichkeit hingegen scheint vor allem zu Beginn der 1990er Jahre, zu Zeiten größerer Jubiläen zum Mauerfall und zur Wiedervereinigung und in erhöhtem Maße in den letzten Jahren mit aktuellem Höhepunkt anlässlich der 30-Jahr-Jubiläen ihr Interesse am Thema verstärkt zu äußern. Dabei entstand bis dato eine Vielzahl von Analysen und Bewertungen, die sich im Grad ihrer Komplexität, Detailgenauigkeit, Realitätsnähe oder ideologischen Aufladung teils erheblich voneinander unterscheiden, in dieser Heterogenität jedoch ein sehr differenziertes Bild des Umgangs mit den gegebenen Problemlagen, Herausforderungen, Erfolgen und Konfliktlinien zeichnen. Diesem reichhaltigen Angebot hinkt die musikwissenschaftliche Aufarbeitung der Zeit nach 1990 wie gezeigt deutlich hinterher. In unserem Fach finden sich kaum Beiträge, die sich explizit mit den Entwicklungen in der ostdeutschen Musiklandschaft der letzten 30 Jahre befassen. Mit meinen hier präsentierten Untersuchungen möchte ich dazu beitragen, diese Lücke zukünftig zu schließen.
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6.1 ANLIEGEN Die im Folgenden vorgestellten Studien verstehen sich vor diesem Hintergrund ausdrücklich als explorative Ansätze. Ziel ist es in erster Linie, exemplarisch einige Kontexte, in denen sich der Umgang mit Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern nach 1990 repräsentiert, hinsichtlich ihrer Potentiale für Forschung und Praxis zu durchleuchten, Anknüpfungspunkte für zukünftige Forschungsvorhaben aufzuzeigen und Grundlagen für ebensolche anzubieten. Dabei liegen den durchgeführten Untersuchungen natürlich bereits konkrete Fragestellungen und Erkenntnisinteressen zugrunde. Insofern liefern die einzelnen Studien neben ihrem explorativen Charakter durchaus auch einige erste konkrete Antworten auf die gestellten Fragen. Damit wird zugleich auch klar, was meine Arbeit nicht leisten kann und will. Sie stellt weder eine detaillierte und tiefenanalytische Auseinandersetzung mit einem isolierten Einzelthema dar, noch kann sie den gesetzten, in seiner Vielfalt äußerst breiten thematischen Rahmen in seiner Gänze abbilden und untersuchen. Beide Ansätze wären jedoch angesichts der gegebenen musikwissenschaftlichen Forschungslage und des eben charakterisierten Anliegens aus meiner Sicht wenig produktiv.
6.2 ÜBERGEORDNETE FRAGESTELLUNGEN Als Leitlinie für die Umsetzung dieses Anliegens dienen mir im Folgenden drei zentrale Fragen, die sich quasi als Konzentrat aus allen bisherigen Darstellungen ergeben. • Welchen Stellenwert nimmt Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern
in verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen nach 1990 bis heute ein? • Spiegeln sich die in der ostdeutschen Teilgesellschaft zu beobachtenden Marginalisierungserfahrungen in Bezug auf die Wende und Nachwendezeit auch im Umgang mit dem musikalischen Erbe der DDR und der neuen Bundesländer wider? Oder lassen sich hier andere Befunde feststellen? • Inwiefern eignen sich Musik und die musikkulturelle Institutionenlandschaft in Deutschland als alternative Plattform für Aushandlungsprozesse der deutschdeutschen Integration?
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Die beiden ersten Fragen werden dabei vor allem in konkreten empirischen Untersuchungen und Detail-Analysen zu verschiedenen Teilbereichen eine tragende Rolle spielen. Letztere hingegen ist eher abstrakter Natur und trägt der nun hinlänglich belegten Beobachtung Rechnung, dass die deutsch-deutschen Aushandlungsprozesse nach 1990 auf den bislang im Mittelpunkt stehenden Kanälen zwar einige beachtliche Erfolge hervorgebracht haben, eine befriedigende gesamtgesellschaftliche, nachhaltige Lösung zahlreicher Probleme und Konflikte auf diesem Weg jedoch bisher offenbar noch nicht erreicht werden konnte. Zwar gab und gibt es auch in der Musik- und Kulturlandschaft immer wieder Versuche und Formate, die sich mit der deutsch-deutschen Vergangenheit und gesamtdeutschen Gegenwart auseinandersetzen. Jedoch stehen diese in Quantität, Qualität, erzielter Aufmerksamkeit und Reichweite oft genug weit hinter politisch und medial geführten Diskursen und Debatten zurück. Somit stellt sich die Frage, ob es nicht sinnvoll, angebracht und strukturell möglich wäre, die Musiklandschaft in ihrer Funktion als Aushandlungsplattform des zukünftigen deutschen Zusammenwachsens zu stärken beziehungsweise ein entsprechendes Selbstverständnis und vermehrtes Engagement anzuregen.
6.3 TEILSTUDIEN UND METHODENVIELFALT Konkret werde ich mich mit vier Teilbereichen des musikalischen Lebens in Ostund Gesamtdeutschland befassen. Dabei kommen verschiedene Methoden zum Einsatz, die in ihrer Triangulation das beschriebene Anliegen meiner Arbeit realisieren. • Analysen zum Repertoire in den Programmen von Musikinstitutionen in
Deutschland (deskriptive statistische Auswertungen) • Analyse von Lehrplänen des Fachs Musik an Gymnasien und Befragung von
Musikfachlehrern an deutschen Gymnasien (quantitative Befragung) • Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund durch Kulturschaffende (quantitative Rezeptionsstudie) • Erfahrungen und Wahrnehmung des Themas von Interpreten (qualitative Interviewstudie) Auf diese Weise möchte ich den Versuch unternehmen, das in vielen Belangen Ungreifbare und oftmals nur Gefühlte in der äußerst heterogenen Gemengelage der ost- und gesamtdeutschen Nachwendezeit für den Bereich der Musik fassbar und artikulierbar zu machen.
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6.4 FOKUSSIERUNG Eine erste Fokussetzung meiner Arbeit geht bereits aus den genannten Teilbereichen hervor. Diese sowie die entsprechend für die Erhebungen relevanten Akteure finden sich im Kontext der Vermittlung von Musik wieder, sei es im Konzertleben oder in der schulischen Bildung. Aus meiner Sicht stellt dies eine entscheidende Schnittstelle im Umgang mit Musik und für dessen Verständnis dar, da durch eben diese Akteure die beiden Pole der Produktion von Musik einerseits und der Rezeption von Musik andererseits miteinander verbunden werden. Meine Teilstudien bilden dabei auch bestehende Überschneidungen und die nicht immer klaren Trennlinien in der Funktion der Akteure ab. So agieren die Kulturschaffenden der Rezeptionsstudie auch als Musikhörer. Die Interpreten dagegen stehen eher als Musikproduzierende mit Nähe zu den Komponisten im Fokus, während die Musiklehrer die klassischste Vermittlerrolle im Umgang mit Musik repräsentieren. In diesem Sinne sind biografische Studien zu einzelnen Komponisten, Werkanalysen oder strukturelle und institutionenkundliche Untersuchungen, wie sie vor allem in der musikwissenschaftlichen Aufarbeitung des Musiklebens der DDR bislang eine zentrale Rolle einnahmen, nicht Teil meiner Studien. Darüber hinaus kommen zwei weitere Fokussierungen zur Anwendung. Zum einen ist dies die Eingrenzung auf die mitteldeutsche Kulturlandschaft, die vor allem bei der Auswahl der Interpreten für die Interviewstudie eine Rolle spielt. In den übrigen Teilbereichen liegt ein gesamtdeutscher Blickwinkel vor, der wiederum eine komparative Perspektive zwischen Ost- und Westdeutschland ermöglicht. Der andere Fokus betrifft den musikalischen Genrekontext. Hier möchte ich meine Aufmerksamkeit vor allem auf den Bereich der Zeitgenössischen klassischen Musik richten. Einerseits scheint mir dieses Genre gerade für Befragungen, die musikalische Werturteile anvisieren, sehr geeignet, auf Basis einer anzunehmenden Grundpolarisierung interessante Erkenntnisse zu liefern und damit als Gradmesser für Einstellungen und Haltungen der Befragten zu dienen. Andere Genres würden hier vermutlich eher zur Bestätigung gängiger Konsensstrukturen in der Bewertung von Musik führen. Um diese Polarität aufzugreifen, kommt in der Rezeptionsstudie daher aber auch Rockmusik zum Einsatz. Zum anderen ist der Fokus auf Zeitgenössische Musik schon allein durch den zeitlichen Rahmen gegeben, da die im klassikorientierten institutionellen Musikleben repräsentierte Musik, die nach 1945 in der DDR und nach 1990 in den neuen Bundesländern entstanden ist, überwiegend diesem Genre zugeordnet werden kann.
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Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen
Ausgehend von den ausführlichen Einblicken in die allgemeine und musikwissenschaftliche Forschungslandschaft zum Themenkreis DDR, Ostdeutschland, Wende, Wiedervereinigung, Nachwendezeit und deutsch-deutsche Integration möchte ich nun meine Aufmerksamkeit auf die Frage lenken, inwiefern sich die eben dargestellten Beobachtungen und Phänomene auch im musikalischen Repertoire widerspiegeln. Welchen Stellenwert nimmt Musik aus Ost- und Westdeutschland also im aktuellen Konzertleben ein? Der Dresdner Dirigent und Komponist Ekkehard Klemm etwa stellte in einem Interview in der Sächsischen Zeitung am 23. Oktober 2017 fest: »Mangelnde Kenntnis muss ich den Kollegen in den Leitungsetagen leider an vielen Stellen attestieren.« (Klempnow, 2017). Zugleich stellt er einen von vielen möglichen (auch mehrheitlich unpolitischen) Erklärungsansätzen zur Debatte: »Die avancierte Musik des Ostens ist im Westen nur marginal wahrgenommen worden. Wie in der Politik ging der Blick von Ost nach West, leider zu wenig in die umgekehrte Richtung.« (ebd.). Doch hält diese Einschätzung einer Überprüfung in der realen Programmgestaltung musikalischer Institutionen in Ost- und Westdeutschland Stand? Dazu habe ich die Spielpläne und Programme verschiedenster deutscher Musikinstitutionen statistisch ausgewertet und grafisch aufbereitet. Aufgrund der Verfügbarkeit von Repertoiredaten fokussiere ich mich dabei auf die Musiklandschaft im Bereich der klassischen Musik.
7.1 METHODIK UND DEFINITIONEN Als Ausgangspunkt für die folgenden Analysen habe ich zunächst das Repertoire von insgesamt 36 Institutionen erfasst, die sich wie folgt aufschlüsseln (Tab. 7).
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Tabelle 7: Datenbasis Repertoireanalysen
gesamt Ostdeutschland Westdeutschland
Festivals 29 9 20
Orchester 5 2 3
Solokünstler 2 1 1
gesamt 36 12 24
Das verfügbare Datenmaterial ist dabei von äußerst heterogener Gestalt, bildet in dieser Komplexität jedoch die Vielfalt der deutschen Musiklandschaft im Bereich der klassischen Musik recht gut ab. Gleiches gilt für die durch das Material abgedeckten Zeiträume. Aus diesem Grund fokussieren sich meine Analysen auf die Zeit zwischen 1980 und 2000, also zehn Jahre vor und nach der Wende. Entwicklungstendenzen bis heute sind jedoch ebenso ablesbar wie Rückblicke in die Zeit vor 1980. Die Einordnung der Komponisten und Zuschreibung ihrer Werke nach ost- und westdeutscher Herkunft stellt natürlich eine Herausforderung dar, vor allem da Herkunftsort, Schaffensort und Selbstwahrnehmung der Künstler sich nicht in jedem Fall klar zuordnen lassen und kongruent sind. Gerade bei Komponisten, die erst nach 1990 geboren oder künstlerisch aktiv geworden sind, nur eine kurze Zeit der Kindheit in der DDR oder BRD verbracht haben oder aber beispielsweise vor 1990 aus der DDR in die BRD ausgereist sind, ist dies besonders kompliziert. Um dem zu begegnen, habe ich deutschen Komponisten nur dann einen eindeutig west- oder ostdeutschen Hintergrund zugeschrieben, wenn mehrere biografische (Geburtsort, Ort der Kindheit und Jugend, Schulausbildung etc.) und künstlerische (Studienort, Wirkungsort, Aufführungskontexte etc.) Parameter auf eine klare ost- oder westdeutsche Herkunft hinweisen. Bei der überwiegenden Anzahl der Komponisten ist dies der Fall. Ist in den Analysen und Grafiken von Werken deutscher Komponisten die Rede, so handelt es sich dabei um zeitgenössische Komponisten, deren Wirkungszeit nach 1945 liegt. Basierend auf den absoluten Zahlen des Datenmaterials sind für die vergleichende Analyse der Repertoiredaten vor allem prozentuale Verhältnisse von Interesse. Hier stellt sich die Frage einer adäquaten Standardisierung der Daten, um eine valide Vergleichsbasis zu schaffen. Da das gegebene Material die ost- und westdeutschen Bevölkerungsanteile nicht genau repräsentiert, habe ich alle relevanten Daten entsprechend normalisiert – sowohl, was die einzelnen Werte betrifft (Anteile von Werken/Komponisten etc.) als auch in Bezug auf die im Datenmaterial vertretenen Institutionen und deren Zuordnung. Stand 2017 lebten in Deutschland insgesamt 82,792 Millionen Menschen, davon 66,608 Millionen (80,45%) Bürger in den alten Bundesländern und 16,184 Millionen (19,55%) Bürger in den neuen Bundesländern (vgl. Statistisches Bundesamt, 2019). Diese Zahlen liegen meinen Berechnungen zur Normalisierung der Werte zugrunde. Es sei kritisch
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 117
angemerkt, dass diese konkrete Bevölkerungsverteilung natürlich nur für das Jahr 2017 gilt. Aus pragmatisch-technischen Gründen habe ich sie jedoch allen Daten zugrunde gelegt. Für die übrigen Jahre entstehen dadurch strenggenommen leichte statistische Verzerrungen. Die tatsächlichen Abweichungen bewegen sich jedoch im Bereich von etwa einem Prozent nach oben und unten. Daher scheint mir dieses Vorgehen legitim. Ausgehend von dieser Bearbeitung der Daten ist es mir nun auch möglich, die real gegebenen Anteile ost- und westdeutscher Musik am Gesamtrepertoire (Ist-Werte) in Beziehung zu setzen zu den Anteilen, die der Bevölkerungsverteilung entsprechen würden (Soll-Werte). Bezogen auf das gesamtdeutsche Musikleben scheint mir dies ein durchaus geeigneter Ansatz für einen angemessen standardisierten Vergleich zu sein. Selbstverständlich stellt dies nicht die einzige und die Realität umfassend abbildende Möglichkeit der Standardisierung dar, sondern lediglich einen aus meiner Sicht adäquaten Kompromiss. Vor allem, wenn Analysen in kleineren (lokalen, regionalen etc.) Strukturen und Wirkungskontexten durchgeführt werden sollten, müssten dafür passendere Standardisierungsparameter entwickelt werden (Anzahl von ost- und westdeutschen Komponisten, regionale Dichte von Institutionen, regionale Bevölkerungsdichte etc.). Eine ausführliche Diskussion dieses Problems führt an dieser Stelle jedoch zu weit. Zu dem auf beschriebene Weise operationalisierten Ist-Soll-Vergleich, der in den folgenden Grafiken eine zentrale Rolle spielt, sei an dieser Stelle noch eine technische Anmerkung vorweggeschickt. Streng genommen ist der Vergleich in dieser Form nur für die Zeit ab 1990 legitim. Bis dahin bildeten die jeweiligen Bevölkerungen in der DDR und der BRD natürlich in sich geschlossene auf die beiden Staaten bezogene Einheiten. Aufgrund des historischen Sonderfalls der deutschen Teilung, die enge Verflechtung und den unmittelbaren Bezug der beiden deutschen Staaten zu- und aufeinander sowie des wenn auch politisch und systembedingt eingeschränkten deutsch-deutschen Austauschs vor 1990 lässt sich jedoch auch diese strikte Trennung theoretisch und praktisch nur bedingt halten. Aus diesem Grund habe ich den Ist-Soll-Vergleich auf Basis der gesamtdeutschen Bevölkerungsverteilung auch für die Zeit vor 1990 als Korrektiv in die Grafiken aufgenommen. Entscheidend für die Analysen und Befunde ist in diesem Fall jedoch die Darstellung ab 1990.
118 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
7.2 ERGEBNISSE 7.2.1 Alle untersuchten Institutionen 7.2.1.1 Gesamtdeutsche Betrachtung Unabhängig vom ost- oder westdeutschen Kontext fällt zunächst der deutliche Anstieg des Anteils von Werken deutscher Komponisten Zeitgenössischer Musik im Konzertrepertoire ab den 2000er Jahren auf (Abb. 5). Die Abschwächung dieses Effekts ab den 2010er Jahren entspricht dann jedoch wieder der allgemeinen Wahrnehmung einer zunehmenden Internationalisierung des deutschen Konzertlebens und entsprechenden Repertoires. Für die jeweilige Repräsentation von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund in den Programmen stellen die 2000er Jahre ebenfalls eine Zäsur dar. Bis dahin waren Werke aus der DDR und den neuen Bundesländern in der gesamtdeutschen Betrachtung leicht überrepräsentiert, ihre westdeutschen Pendants dagegen leicht unterrepräsentiert. Ein gewisser Exoten-Status und -Bonus, wie er den DDR-Komponisten bereits vor 1990 in der BRD zugeschrieben wurde, scheint sich also noch etwa zehn Jahre nach der Wiedervereinigung erhalten zu haben. Danach schwächt sich dieser Effekt für einige Jahre zunächst ab, bevor es schließlich in den letzten Jahren bis heute zu einem relativ ausgeglichenen Verhältnis zwischen tatsächlicher und angemessener Repräsentation kommt. Der direkte Vergleich der Ist- und Soll-Werte veranschaulicht diese Entwicklung noch einmal (Abb. 4). 7.2.1.2 Vergleich ost- und westdeutscher Institutionen Betrachtet man ost- und westdeutsche Musikinstitutionen getrennt voneinander, ergibt sich ein anderes, wenngleich ebenfalls eindeutiges Bild. In den Programmen der ostdeutschen Institutionen (Abb. 6) sind Komponisten und Werke aus der DDR und den neuen Bundesländern in Bezug auf die Bevölkerungsverteilung durchgehend überrepräsentiert, Vertreter aus Westdeutschland dagegen unterrepräsentiert. Dieser Effekt verstärkt sich zunächst bis in die 2000er Jahre hinein, bevor er sich bis heute wieder etwas abschwächt. Die realen Gegebenheiten spiegeln dieses Verhältnis mit einigen Ausnahmen größtenteils wider – auch absolut gesehen, werden Werke aus Ostdeutschland in Ostdeutschland stärker berücksichtigt. Die vermehrte Berücksichtigung deutscher Werke an sich, mit einer Spitze um 2000 und einer anschließenden wachsenden Internationalisierung, lässt sich bei ostdeutschen Institutionen ebenfalls beobachten. Gleiches gilt in diesem Punkt für westdeutsche Institutionen (Abb. 7). Auch der Ist-Soll-Vergleich zeigt hier einen ähnlichen Befund – diesmal jedoch in umgekehrter Richtung. In diesem Fall sind Werke mit westdeutschem Hintergrund überrepräsentiert, Werke aus der
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 119
DDR und den neuen Bundesländern dagegen unterrepräsentiert. Der Trend spricht dabei allerdings eine etwas andere Sprache als bei den ostdeutschen Institutionen. Während die Repräsentation des jeweiligen Repertoires im Verhältnis zur Bevölkerungsverteilung in den 1990er Jahren recht angemessen war, geht dies ab 2000 in die beschriebene Richtung auseinander. Vor allem der starke absolute Anstieg von gespielten westdeutschen Werken ab 2000 verdeutlicht dies. Ostdeutsche Werke werden dagegen nicht wesentlich stärker berücksichtigt. Die Diskrepanz fällt hier also deutlich größer aus als im Repertoire der ostdeutschen Institutionen.
PROZENT
-50.00
-40.00
-30.00
-20.00
-10.00
0.00
10.00
20.00
30.00
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten BRD/AB (Prozent)
JAHRE
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten DDR/NB (Prozent)
- gesamtdeutsche B etrachtung / alle Institutionen -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost - und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016: IST IST- SOLL IST-SOLL SOLL- Vergleich SOLL-Vergleich
120 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 4: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, Ist-Soll-Vergleich, gesamtdeutsche Betrachtung, alle Institutionen
PROZENT
0.00
10.00
20.00
30.00
40.00
50.00
60.00
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke deutscher Komponisten
JAHRE
- gesamtdeutsche B etrachtung / alle Institutionen -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 121
Abbildung 5: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, gesamtdeutsche Betrachtung, alle Institutionen
PROZENT
0.00
10.00
20.00
30.00
40.00
50.00
60.00
70.00
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (IST)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (IST)
Anteil Werke deutscher Komponisten
JAHRE
- DDR/NB / alle Inst it ut ionen -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016
122 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 6: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, DDR/NB, alle Institutionen
PROZENT
0.00
10.00
20.00
30.00
40.00
50.00
60.00
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (IST)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (IST)
Anteil Werke deutscher Komponisten
JAHRE
- B RD/AB / alle Institutionen -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 123
Abbildung 7: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, BRD/AB, alle Institutionen
124 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
7.2.2 Aufschlüsselung nach Art der Institutionen Nach dieser übergreifenden Betrachtung lohnt sich nun noch ein Blick auf die verschiedenen Arten von Institutionen, die im vorliegenden Datenmaterial durch Festivals, Orchester und Solokünstler aus der Freien Szene repräsentiert sind. Auf dieser Ebene zeichnet sich ein sehr differenziertes Bild. 7.2.2.1 Festivals Im Bereich der Festivals lässt sich der oben aufgezeigte Effekt einer zunehmenden Berücksichtigung zeitgenössischer deutscher Komponisten zu Beginn der 2000er Jahre mit einer anschließend wieder einsetzenden Internationalisierung bestätigen (Abb. 9). Allerdings zeigt sich in diesem Fall ein längerer, bis auf einige Phasen recht kontinuierlicher Anstieg in den 1990er Jahren. Ebenfalls bestätigt wird der Befund, dass in den 1990er Jahren Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern in Bezug auf die Bevölkerungsanteile überrepräsentiert ist, Musik mit westdeutschem Hintergrund dagegen unterrepräsentiert (Abb. 8). Ab den 2000er Jahren wiederum kommt es im Mittel zu einer recht angemessenen Repräsentation. 7.2.2.2 Orchester Bei Orchestern dagegen fallen die Befunde deutlich anders aus. Auch hier ist eine verstärkte Berücksichtigung zeitgenössischer Komponisten aus Deutschland in den Programmen ab 2000 zu beobachten (Abb. 11). Dieses Phänomen hält sich jedoch nur einige Jahre und geht dann schlagartig zurück. Zudem zeigt sich, dass in den Orchesterspielplänen der 1990er Jahre Musik mit ostund westdeutschem Hintergrund im Mittel recht angemessen repräsentiert ist. Dieses Verhältnis ändert sich in den 2000er Jahren deutlich. Vor allem zu Beginn der 2000er ist westdeutsche Musik überrepräsentiert, ostdeutsche Vertreter dagegen unterrepräsentiert. Dieser Effekt lässt in den folgenden Jahren etwas nach, verliert sich aber bis heute nicht gänzlich. Eine leichte Überrepräsentation von Werken und Komponisten mit westdeutschem Hintergrund bei gleichzeitiger, wenn auch etwas schwächer ausgeprägter Unterrepräsentation der ostdeutschen Vertreter bleibt mit Schwankungen bestehen (Abb. 10).
PROZENT
-80.00
-60.00
-40.00
-20.00
0.00
20.00
40.00
60.00
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten BRD/AB (Prozent)
JAHRE
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten DDR/NB (Prozent)
- gesamtdeutsche B etrachtung / F estivals -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost - und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016: IST -SOLL - SOLL SOLL- Vergleich SOLL-Vergleich
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 125
Abbildung 8: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, Ist-Soll-Vergleich, gesamtdeutsche Betrachtung, Festivals
PROZENT
0.00
10.00
20.00
30.00
40.00
50.00
60.00
70.00
80.00
90.00
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke deutscher Komponisten
JAHRE
- gesamt deut sche B et rachtung / F est ivals -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost - und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016
126 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 9: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, gesamtdeutsche Betrachtung, Festivals
PROZENT
-10.00
-5.00
0.00
5.00
10.00
15.00
20.00
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten BRD/AB (Prozent)
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten DDR/NB (Prozent)
JAHRE
- gesamtdeutsche B etrachtung / Orchester -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost - und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016: IST -SOLL - SOLL SOLL- Vergleich SOLL-Vergleich
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 127
Abbildung 10: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, Ist-Soll-Vergleich, gesamtdeutsche Betrachtung, Orchester
PROZENT
0.00
5.00
10.00
15.00
20.00
25.00
30.00
35.00
40.00
45.00
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke deutscher Komponisten
JAHRE
- gesamtdeutsche B etrachtung / Orchester -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost - und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016
128 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 11: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, gesamtdeutsche Betrachtung, Orchester
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 129
7.2.2.3 Solokünstler Die Programmgestaltung von vorrangig in der Freien Szene aktiven Solokünstlern fällt vermutlich naturgemäß differenzierter und kleinteiliger aus. So lässt sich in Bezug auf die Berücksichtigung zeitgenössischer deutscher Komponisten zwar auch hier ein leichter Anstieg feststellen – in diesem Fall bereits gegen Ende der 1990er Jahre (Abb. 13). Dies lässt recht schnell wieder etwas nach, insgesamt jedoch sind deutsche Komponisten in den Programmen konstant gut vertreten. Die Repräsentation von ost- und westdeutscher Musik ist ebenfalls Schwankungen unterworfen, wobei diese in Bezug auf die westdeutschen Vertreter etwas stärker ausfallen (Abb. 12). Ein eindeutiger Trend lässt sich hier über die Jahre nicht unmittelbar erkennen. Zudem kann aufgrund der geringen Fallzahl und nicht repräsentativen exemplarischen Auswahl der Künstler (freischaffender Cellist mit Spezialisierung auf zeitgenössische Musik; emeritierter Professor für Akkordeon mit starkem Bezug zu zeitgenössischer Musik in aktiver Musikerkarriere) ohnehin lediglich von Tendenzen und oberflächlichen Einblicken gesprochen werden.
PROZENT
-50.00
-40.00
-30.00
-20.00
-10.00
0.00
10.00
20.00
30.00
40.00
50.00
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten BRD/AB (Prozent)
Differenz IST-SOLL Werke/Komponisten DDR/NB (Prozent)
JAHRE
- gesamtdeutsche B etrachtung / S olokünstler (F reie S zene) -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost - und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016: IST IST- SOLL IST-SOLL SOLL- Vergleich SOLL-Vergleich
130 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 12: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, Ist-Soll-Vergleich, gesamtdeutsche Betrachtung, Solokünstler
PROZENT
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30.00
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60.00
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80.00
90.00
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (SOLL, bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten BRD/AB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke/Komponisten DDR/NB in Prozent (IST, Datenbasis bereinigt nach Bevölkerungsanteilen)
Anteil Werke deutscher Komponisten
JAHRE
- gesamtdeutsche B etrachtung / S olokünstler (F reie S zene) -
Stellenwert St ellenwert von Werken aus Ost - und Westdeutschland im Konzertrepertoire 1972 bis 2016
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 131
Abbildung 13: Stellenwert von Werken aus Ost- und Westdeutschland im Konzertrepertoire, gesamtdeutsche Betrachtung, Solokünstler
132 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
7.3 HERAUSFORDERUNGEN UND CHANCEN – FAZIT Bereits dieser kurze Einblick in den Bereich der Repertoirekunde und -analyse verdeutlicht, wie heterogen und komplex sich der Umgang von Musikinstitutionen in Deutschland mit Musik aus Ost- und Westdeutschland gestaltet. Pauschale Aussagen und Bewertungen sind hier wenig zielführend. Eine tiefer gehende und umfassendere Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld an anderer Stelle könnte mit Sicherheit zahlreiche und vielfältige Erkenntnisse hervorbringen und dabei gleichzeitig einen wichtigen Beitrag zur Modellierung des deutschen Musiklebens leisten. Allerdings lassen sich schon auf Grundlage der eben vorgestellten exemplarischen Analysen durchaus einige zentrale Tendenzen erkennen und festhalten. • Besonders gegen Ende der 1990er Jahre und zu Beginn der 2000er Jahre sind in
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den Programmen von Musikinstitutionen in Deutschland verstärkt deutsche Komponisten aus dem Bereich der Zeitgenössischen Musik vertreten. Im Anschluss setzen dann wiederum zunehmende, bis heute wahrzunehmende Internationalisierungstendenzen ein. In der Programmplanung bestehen große Unterschiede zwischen den verschiedenen Arten von musikkulturellen Institutionen. Für die unmittelbare Nachwendezeit lässt sich in einigen Bereichen ein gewisser »Ost-Bonus« nachweisen, der sich in einer leichten Überrepräsentation ostdeutscher Komponisten und Werke in Bezug auf die Bevölkerungsanteile ausdrückt. Mit zunehmendem zeitlichem Abstand zur Wiedervereinigung und Nachwendezeit zeigt sich in den Programmen eine Angleichung der Repräsentation ostund westdeutscher Musik im gesamtdeutschen Mittel. Im Detail lassen die Daten jedoch vermuten, dass die Musikszenen in Ost- und Westdeutschland bis heute relativ eigenständig und an vielen Stellen getrennt voneinander beziehungsweise zumindest parallel zueinander funktionieren (vgl. Kollmorgen, 2005: Ostdeutschland als Teilgesellschaft). Dies zeigt sich in einer mal mehr mal weniger stark ausgeprägten Überrepräsentation in der Berücksichtigung des jeweils »eigenen« Repertoires. Hier spielen mit Sicherheit besonders auch institutionelle und personelle Netzwerke eine Rolle. Entsprechend ausgerichtete Studien in diese Richtung wären vielversprechend. Der Effekt der Traditionspflege des »eigenen« Repertoires scheint in Westdeutschland stärker ausgeprägt zu sein. Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern ist vor allem bei Festivals angemessen vertreten. Die Pflege dieses Repertoires findet demnach vor allem punktuell und zentriert an ausgewählten Orten statt. Eine kontinuierliche
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 133
Auseinandersetzung mit und Aufführung von Musik mit ostdeutschem Hintergrund lässt sich dagegen besonders in der Freien Szene beobachten. Orchester und Konzerthäuser dagegen, die sowohl in ihrer täglichen musikalischen Arbeit als auch durch ihre Stellung und Reichweite den nachhaltigsten Kontakt zu einem breit aufgestellten Publikum hätten, stellen ostdeutsches Repertoire deutlich hinter die westdeutschen Vertreter zurück. Die eingangs geschilderten kollektiven ostdeutschen Marginalisierungserfahrungen lassen sich in Bezug auf die Pflege des musikalischen Repertoires in den unterschiedlichsten Kontexten demnach nicht pauschal bestätigen. Zugleich zeigen die Repertoiredaten jedoch auch deutliche im Detail angesiedelte Defizite und damit auch Potentiale im Umgang mit Werken ostdeutscher Komponisten auf. Diese Komplexität sowie die angemessene Repräsentation und Vermittlung musikalischen Materials mit unterschiedlichem Hintergrund stellen für die Zukunft eine zentrale Herausforderung für die musikkulturellen Institutionen in Deutschland dar. Gleichzeitig liegt in den dafür nötigen Aushandlungsprozessen die Chance, Musik und mit ihr das institutionelle und freie Musikleben als Plattform für die zukünftige Moderation der deutsch-deutschen Integration fruchtbar zu machen.
7.4 LISTE OSTDEUTSCHER KOMPONISTEN Im Rahmen der Repertoiredatenerfassung sind mir zahlreiche Namen von Komponisten mit ostdeutschem Hintergrund begegnet. Dabei handelt es sich neben einigen bekannten Vertretern vor allem auch um weniger populäre Künstler, die teils einen starken regionalen Bezug haben. Für mögliche zukünftige wissenschaftliche Arbeiten, etwa im Bereich der Biografieforschung oder Oral History, möchte ich diese in Form einer einfachen Liste als Anregung hier zur Verfügung stellen. Nähere Angaben zu den einzelnen Personen würden jedoch den Rahmen sprengen. Detailrecherchen wären daher Aufgabe weiterführender Untersuchungen. Zudem erhebt die Auflistung selbstverständlich keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Alexander Morawitz
Alexander Trinko
Andre Bartetzki
Annette Schlünz
Antje Fleischmann
Antonius Streichardt
Axel Gebhardt
Baldur Böhme
Benjamin Lang
Alexander Morawitz
Alexander Trinko
Andre Bartetzki
134 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Annette Schlünz
Antje Fleischmann
Antonius Streichardt
Axel Gebhardt
Baldur Böhme
Benjamin Lang
Berit Handrick
Bernd Schumann
Birger Petersen
Carl-Heinz Dieckmann
Carsten Hennig
Caspar R. Hirschfeld
Christian Diemer
Christian Helm
Christian Märkl
Christian Münch
Christiane Müller
Claudia Maria Laule
Daniel Clemens Müller
Derik Listemann
Detlef Kobjela
Dietmar George
Dongdong Liu
Eberhard Weise
Ellen Hünigen
Erik Bergmann
Falk Zenker
Frank Petzold
Friedbert Streller
Frieder W. Bergner
Friedrich Reichel
Georg Katzer
Georg W. Wagner
Gerd Domhardt
Gerd Ochs
Gerhard Wohlgemuth
Günter Schwarze
Günther Eisenhardt
Gunther Erdmann
Hans Auenmüller
Hans Boll
Hans Jürgen Wenzel
Hans Kleemann
Hans Stieber
Hans Tutschku
Hans Wolfgang Sachse
Hans-G. Burkhardt
Hans-Günther Wauer
Hansjuergen Schmidt
Hartmut Dorschner
Hartmut Wallborn
Hein Arenz
Heinz Röttger
Helge Jung
Helmut Oehring
Helmut Reinbothe
Helmut Schmidt
Helmut Zapf
Henry Berthold
Herbert Kirmße
Musikalische Realitäten – Repertoireanalysen | 135
Hermann Naehring
Horst Irrgang
Hubert Hoche
Jakob Gille
Jan Cyž
Jens Klimek
Jens Marggraf
Jens-Uwe Günther
Joachim Beetz
Joachim Gruner
Johannes Finsterbusch
Johannes Grosz
Johannes K. Hildebrandt
Johannes Reiche
Johannes Schlecht
Johannes Wallmann
Jörg Rausch
Jürgen Wilbrandt
Juro Mětšk
Karl Dietrich
Karl Kleinig
Karoline Schulz
Kaspar Querfurth
Klaus Benkendorf
Klaus-Dieter Kopf
Knut Müller
Konrad Möhwald
Konstantin Heuer
Kurt Dietmar Richter
Lars Opfermann
Lothar Voigtländer
Ludger Vollmer
Lutz Gerlach
Lydia Weißgerber
Malte Hübner
Mario Wiegand
Matthias Bauer
Matthias Drude
Max Wutzler
Michael Baumgartl
Michael Flade
Michael George
Nicolaus de Vroe Richter
Olav Kröger
Peter Freiheit
Peter Helmut Lang
Peter Mai
Peter Manfred Wolf
Peter Petkow
Peter Tenhaef
Rainer Lischka
Ralf Hoyer
Ralf Kubicek
Reiko Füting
Reinhard Lippert
Reinhard Ohse
Reinhard Pfundt
Reinhard Wolschina
Robert Lippok
Robert Rehnig
136 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Robin Hoffmann
Roland Breitenfeld (ab 1984 Freiburg)
Rolf Lukowsky
Rolf Thomas Lorenz
Rudolf Hild
Siegfried Bimberg
Siegried Müller
Silke Gonska
Stefan Trzeczak
Steffen Reinhold
Stephan Winkler
Susanne Stelzenbach
Sven Daigger
Theodor Schubach
Thomas Buchholz
Thomas Ehricht
Thomas Hertel
Thomas König
Thomas Kupsch
Thomas Müller
Thomas Nathan Krüger
Thomas Reuter
Thomas Stöß
Thuon Burtevitz
Tim Führer
Tim Helbig
Tobias Klich
Tobias Schick
Torsten Anders
Volkmar Leimert
Warnfried Altmann
Werner Hübschmann
Werner Richter
Wilfried Jentzsch (Studium in der BRD)
Wilfried Steinbrenner
Will Schabbel
Wladimir Iliew
Wolfgang Hohensee
Wolfgang Stendel
Wolfg. Wollschläger
8
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien
Vermittlung von Musik und deren vielfältigen Entstehungs-, Interpretations- und Rezeptionskontexten ist auch Aufgabe des Musikunterrichts im Rahmen der Schulbildung. Ähnlich wie in entsprechenden Formaten und Angeboten des institutionalisierten Konzertlebens stellt sich hier die zentrale Frage, wie auf pädagogischem Wege im Kindes- und Jugendalter die Grundlagen für das Rezeptionsverhalten heranwachsender Musikhörer und künftiger erwachsener Konzertgänger gelegt werden. Gerade bei Themenfeldern, denen in der schulischen Ausbildung ohnehin eine eher untergeordnete Rolle zukommt – im Fall der deutsch-deutschen Vergangenheit von 1945 bis heute etwa im Geschichts- und Gesellschaftskundeunterricht oder in ähnlichen Fächern – ist dies von großer Bedeutung. Meine nun folgenden Ausführungen stellen daher den Versuch dar, aus verschiedenen Perspektiven in groben Zügen ein Bild zu skizzieren, welchen Stellenwert Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern im Musikunterricht an Gymnasien in Deutschland einnimmt und wie sich sowohl die Lehrkräfte als auch ihre Schüler zu dem Thema positionieren.
8.1 MUSIKUNTERRICHT IN DER DDR UND DEN NEUEN BUNDESLÄNDERN VOR UND NACH 1990 Die Transformationsprozesse in Folge der politischen Wende in der DDR von 1989/90 und der anschließenden deutschen Wiedervereinigung stellten sowohl für das Schulsystem in den neuen Bundesländern insgesamt als auch für die einzelnen betroffenen Lehrkräfte eine große Herausforderung dar, deren Dimensionen noch bis weit nach 1990 in das ostdeutsche Schulwesen hineinwirkten. Mit inhaltlichen und methodischen Umstellungen und Anpassungen an das neu implementierte
138 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
System gingen dabei nicht zuletzt eine radikale Umbewertung und oft stark individualisierte Aufarbeitungsprozesse der von den Lehrern bisher im Kontext des Schulsystems der DDR geleisteten Unterrichtsarbeit einher. Auch vermeintlich ideologiefernere Fächer wie der Musikunterricht und darin tätige Pädagogen mussten sich dieser Herausforderung intensiv stellen. »Wie das Schulsystem generell, so wurde auch der schulische Musikunterricht in den neuen Bundesländern nach der Deutschen Einheit einem grundlegenden Wandel unterworfen, was für die betroffenen Lehrerinnen und Lehrer bedeutete, dass sie sich nicht nur in ihrem privaten Umfeld, sondern auch in ihrem beruflichen Alltag umfassend neu orientieren mussten. Dabei war der Wandel im Fach Musik von spezifischen Veränderungen geprägt, die sich von denen anderer Schulfächer unterscheiden.« (Krüger, 2001, S. 3)
Anke Krüger zeigt in ihrer 2001 veröffentlichten empirischen Studie Von der DDR zur BRD. Wandel des Musikunterrichts im Urteil von Fachlehrern Sachsen-Anhalts am Beispiel dieses Bundeslandes besagte Transformations- und Anpassungsprozesse im Fach Musik detailliert auf. Zum Zeitpunkt des Erscheinens konnte die Autorin bereits einen gewissen zeitlichen Abstand zu den Ereignissen der Wendejahre verzeichnen, ohne durch eine zu große Distanz den direkten Bezug zu den unmittelbaren Folgen der Wendezeit zu verlieren. Daher scheint mir der Beitrag sehr gut dazu geeignet, grundlegende Aspekte dieser Wandlungsprozesse beispielhaft nachzuzeichnen. Zunächst skizziert Krüger in ihrer Studie einige wesentliche Charakteristika, die die spezifische Situation von in der DDR persönlich und beruflich sozialisierten Pädagogen im Übergang zum gesamtdeutschen Schulsystem und dessen neuen Anforderungen kennzeichnen: Freiheiten in der Wissensvermittlung und Berücksichtigung von Schülerinteressen »Stand in der DDR-Zeit die lehrplangebundene Stoffvermittlung im Vordergrund, gilt heute vielmehr: ›Für die Lehrperson muss nicht nur Sachkompetenz für den Gegenstand des Unterrichts vorausgesetzt werden, sondern ebenso – vielleicht in sogar noch größerem Maße – Wissen um den Ablauf der Lernprozesse seitens der SchülerInnen und um die Vielschichtigkeit unterrichtlicher Kommunikations- und Interaktionsprozesse, soll Lernen gelingen.‹ (Maas, 1992, S. 149). Die vermehrte Berücksichtigung und Einbeziehung der Schülerinteressen und -erwartungen bei der Planung und Durchführung des Unterrichts, die durch die in den Rahmenrichtlinien geschaffenen Freiräume begünstigt werden, stellen für die Lehrer ein Novum dar.« (Krüger, 2001, S. 9)
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 139
Komplexe Beziehung zwischen Lehrern und Schülern »Der Lehrer muss in der Lage sein, vielfältige Beziehungen zu seinen Schülern aufzubauen. […] Der gesellschaftliche Umbruch brachte neben den bereits im Ansatz beschriebenen Neuerungen für die Lehrer natürlich auch individuell unterschiedliche Veränderungen für die Schüler mit sich. Dadurch stellte sich die Aufgabe, zwischen der Absicht, Beziehungen zum Schüler herzustellen und den (mitunter dadurch verursachten) Problemen eine Balance herzustellen, zu vermitteln. Es ist anzunehmen, dass sich einerseits Lehrer in ihr Fach zurückgezogen, isoliert und dadurch eine mögliche und notwendige Schülerorientierung verhindert haben, andererseits möglicherweise aber auch Schüler das Bemühen des Lehrers abblocken.« (ebd., S. 9)
Verschärfung von Generationskonflikten durch den gesellschaftlichen Umbruch »Der durch die unterschiedlichen Lebenserfahrungen geprägte Konflikt zwischen der älteren (Lehrer-) und jungen (Schüler-) Generation wird durch die Wende noch weiter zugespitzt. Die Schüler, die die DDR allenfalls als Kleinkind erlebt haben und deren Erinnerung an diese Zeit verschwindend gering ist, werden mit (in fachlichem Rahmen angebrachten) Ansichten und Meinungen ihrer Lehrer konfrontiert, die entsprechend ihres Alters mehr oder weniger stark durch die DDR-Zeit geprägt und für die Schüler nicht immer nachvollziehbar sind bzw. sein können (vgl. Terhart, 1997 und Fröde, 1997).« (ebd., S. 9)
Lehrergenerationen: Aufarbeitung – Neuorientierung – Synthetisierung von Lehrkonzepten »Zu beachten ist weiterhin, dass eine notwendige Vergangenheitsbewältigung und Neuorientierung in engem Zusammenhang mit der Generationszugehörigkeit außerdem, so Gies, innerhalb der Lehrerschaft erfolgen muss. […] Für Gies stellt die Generation der 35- bis 45jährigen den ›Idealfall‹ dar – alt genug, um durchaus von der DDR-Vergangenheit geprägt zu sein, jung genug, sich den neuen Gegebenheiten anzupassen (Gies 1997). Gies geht davon aus, dass alle Kollegen, die schon vor der Wende im Schuldienst tätig waren, nicht umhin kommen, ›um sinnvoll und verantwortungsbewusst Musik zu unterrichten […] früher Erlerntes und für bewahrenswert Erachtetes mit aus den alten Ländern übernommenen Konzepten und Rahmenvorgaben zu einer stimmigen eigenen Konzeption zu synthetisieren‹ (ders. 1997, S. 148).« (ebd., S. 9 f.)
Auf diese grundlegenden Annahmen gestützt, setzt sich Krüger nun in Form einer quantitativ-qualitativ mittels schriftlicher Fragebögen und problemzentrierter Interviews operationalisierten Befragung von Musiklehrern in Sachsen-Anhalt detailliert mit deren Erfahrungen und Einstellungen auseinander. Dabei kommen
140 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
unter anderen die folgenden Aspekte, stets im direkten Vergleich der DDR-Zeit zur Zeit nach 1990, zur Sprache (Tab. 8). Tabelle 8: Themenbereiche in der Forschung zu Musiklehrkräften aus den neuen Bundesländern Übergeordnete Themenbereiche
Einzelaspekte
Ausbildung und Berufstätigkeit (vgl. Krüger, 2001, S. 25 f.)
• Strukturelle Unterschiede in der Ausbildung zwischen DDR und BRD • Qualifikationsebenen • Fächerkombinationen • Fachfremde Lehrkräfte (Lehrermangel) im Fach Musik • Studienorte • Stellenwert der Musikpädagogik an den Musikhochschulen • Voll- und Teilzeitbeschäftigung • Aufgaben und Funktionen neben Lehrtätigkeit
Schulisches Umfeld (vgl. ebd., S. 26 ff.)
• • • • • • • • • • • • • • • • •
Schulform Anzahl der Schüler Größe des Lehrerkollegiums Einzugsgebiet Standort Räumlichkeiten Ausstattung, Unterrichtsmaterialien Fachlehrermangel (»Wanderlehrer«; ebd., S. 32) vor allem an Sekundarschulen Mangelnde Akzeptanz und Wertschätzung des Fachs Musik im Kollegium (teils Desinteresse) Konkurrenz im Kollegium Schulen mit Spezialisierungen/Profilunterricht Musiklehrer wenig im Zweitfach eingesetzt Musik als »fünftes Rad am Wagen« (ebd., S. 33) Wahrnehmung des Musiklehrers als Künstler Schulmusikpflege Unterstützung durch die Schulleitung Ungünstige Ansiedlung des Fachs Musik im Stundenplan
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 141
Stellenwert des Fachs Musik an der Schule (vgl. ebd., S. 37 ff.)
Stadt Land (vgl. ebd., S. 39 ff.)
Unterschiedliche Schulformen (vgl. ebd., S. 42 ff.)
• Funktion des Musikunterrichts im Schulalltag (Entspannung Wissensvermittlung) • Abhängig vom individuellen Engagement der Lehrkräfte • Qualität der außerunterrichtlichen Angebote • Akzeptanz durch die Schüler • Große Unterschiede zwischen Sekundarschulen und Gymnasien • • • • • • • • • • • • • • • • • • • •
Wandel des Musikunterrichts (vgl. ebd., S. 45 ff.)
• • • •
Zuzug in die Städte Ausweitung der Einzugsgebiete auf dem Land Sozialisation und Elternhäuser der Schüler Kontakt zu den Eltern Möglichkeiten der Informationsbeschaffung Finanzierungsprobleme von Schulen Vorteile von neuen Medien, zunehmender Verfügbarkeit von Wissen und stärkerer Vernetzung Logistik (Anfahrtswege etc.) Raumausstattung Leistungsanspruch Anforderungen an die Schüler Erwartungen seitens der Schüler Lehrer-Schüler-Beziehung Kommunikationsstrukturen Disziplin als Thema Soziales Umfeld der Schüler Bereitschaft der Schüler zu aktiver Beteiligung am Unterricht, Eigenengagement und Diskussionen Spezifische didaktisch-methodische Herausforderungen Privilegierung von Gymnasiallehrern Lehrer vermeiden Wechsel der Schulform (insbesondere von Gymnasium zu Sekundarschule) Beschaffung von Lehrmitteln Unterrichtsthemen Rolle von Fachmoderatoren Fort- und Weiterbildungsveranstaltungen (Freiwilligkeit oder Pflicht, Input aus außerschulischen Bereichen, Bereicherung des Lehrspektrums, Erfahrungsaustausch mit Kollegen etc.)
142 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Veränderung des Schülerbildes (vgl. ebd., S. 82 ff.)
• Einsatz technischer Medien (Aneignung durch Lehrer) • Mitgliedschaft von Lehrern in Fachverbänden • Inhaltliche und methodische Flexibilität/Stagnation/Innovation im Fachunterricht • Umgang mit und Akzeptanz der Rahmenrichtlinien für das Fach Musik • Bandbreite der Unterrichtsthemen • Schulwechsel wird für Schüler durch Freiheiten in den Rahmenrichtlinien potentiell erschwert • Umstellung der Lehrkräfte von verbindlichen durchstrukturierten DDR-Lehrplänen auf Rahmenrichtlinien • Nutzung von Unterrichtshilfen der Verlage • Lehrbücher • Einsatz von Hör- und Klangbeispielen • Bandbreite und Vielfalt an Genres und Gattungen • Auswahl des musikalischen Materials • Berücksichtigung der Interessen und Musikpräferenzen der Schüler • Unterrichtsformen (Gruppenarbeit, Referate etc.) • Aktives Musizieren • Gestalt/Ausstattung und Verfügbarkeit von Musikräumen (Neubau Bestandsschulgebäude) • Singen im Musikunterricht • Liedleistungskontrollen • Leistungsbewertung im Fach Musik im Allgemeinen • Außerunterrichtliches Musizieren • Verfügbarkeit von außerschulischen Angeboten in der musikalischen Bildung • Lernwilligkeit • Kreativität • Disziplin • Selbstbewusstsein • Interesse am Musikunterricht • Aktivität • Toleranz • Aufmerksamkeit
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 143
• • • • • • • • • • • • • •
Berufszufriedenheit (vgl. ebd., S. 96 ff.)
• • • • • • • • • • •
Singebereitschaft Singefähigkeit Musizierbereitschaft Musizierfähigkeit Umstrukturierung des Schulalltags Alter der Lehrkräfte Einfluss der Schulform Sozialisation Soziales Umfeld der Schüler Elternhaus Familienverhältnisse und -strukturen Einbeziehung der Eltern Wegfall sozialer Absicherungen für Familien Aktive Einflussnahme der Eltern auf die schulische Entwicklung der Kinder Umgang mit der Bildungsempfehlung Anfechtung von Bewertungen Abhängigkeit von Schulform Umgang mit eigenem fachlichem Anspruch Eigene musikalische Aktivitäten im außerschulischen Bereich Beurteilung von Schülerleistungen Reflexion von Unterrichtsinhalten und Schülerinteressen Arbeitsbedingungen Wenig alternative Berufe für Lehrer Abhängigkeit vom Alter der Lehrkräfte Einfluss konkreter fachlicher und didaktischer Veränderungen im Musikunterricht nach 1990
Die Situation der Lehrkräfte im Fach Musik wird also von einer Vielzahl komplex zusammenwirkender Faktoren – sowohl allgemeiner, dem Lehrerberuf immanenter als auch für den Musikunterricht spezifischer Natur – bedingt. Die individuellen und kollektiven Wendeerfahrungen im persönlichen und beruflichen Kontext wirken dabei nach Krügers Studie besonders in Problem- und Konfliktfällen auf den verschiedensten Ebenen zum Teil verschärfend. Zugleich zeigt sich jedoch auch ein hohes Maß an Kontinuitäten in den Einstellungen der Musiklehrer zum eigenen Unterrichten, zu Berufsperspektiven, äußeren und inneren Anforderungen an ihre Lehrtätigkeit oder das Verhältnis zu den Schülern. Dabei wurde letzteres
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in den Transformationsprozessen der Wende- und Nachwendezeit offenbar am stärksten einer nachhaltigen Veränderung unterzogen. Das Ende der DDR und die deutsche Wiedervereinigung stellen somit nicht zwingend einen ultimativen Bruch und kollektiven Neuanfang für Musiklehrer dar. Sie waren vielmehr Anlass für vielschichtige und langwierige Anpassungsprozesse, in denen die zu DDRZeiten noch eher dominierenden gesellschaftspolitisch-ideologischen und kollektivistisch-administrativen Strukturen und Zwänge zunehmend durch individuelle Herausforderungen und neue Sachzwänge abgelöst wurden.
8.2 ZEITGENÖSSISCHE MUSIK UND MUSIK AUS DER REGION ALS THEMA IN DEN LEHRPLÄNEN Wie in Krügers Erhebungen angesprochen führte der Übergang vom DDR-Schulsystem zum mehrgliedrigen gesamtdeutschen Schulsystem zu einer Ablösung verbindlicher, stoffgebundener Lehrpläne durch abstrakte und flexibler gefasste Rahmenrichtlinien. Um zu eruieren, welchen Stellenwert der Themenbereich Zeitgenössischer Musik und Musik aus der Region im aktuellen Musikunterricht an Gymnasien in Mitteldeutschland einnimmt, habe ich die Stand 2018 geltenden Rahmenrichtlinien der Bundesländer Sachsen (Sächsisches Staatsministerium für Kultus, 2004), Sachsen-Anhalt (Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt, 2003) und Thüringen (Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, 2012) hinsichtlich der vorgegebenen Unterrichtsinhalte und der entsprechend zugeordneten Zeitrichtwerte für die Unterrichtsplanung ausgewertet. Entscheidend für die Einordnung der Themenfelder waren für mich dabei die folgenden beiden Kernaspekte: • Vermittlung von nach 1945 entstandener Musik • Auseinandersetzung mit der lokalen und regionalen Musik- und Kulturland-
schaft Unter dieser Maßgabe konnte ich die einzelnen im gegebenen Kontext relevanten Unterrichtsthemen extrahieren und in ein prozentuales Verhältnis zu allen behandelten Themenbereichen im Fach Musik setzen. Drei exemplarische Auszüge aus den Lehrplänen mögen dieses Vorgehen verdeutlichen (Abb. 14 bis 16).
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 145
Sachsen-Anhalt, Klasse 9, Musik der Gegenwart Abbildung 14: Rahmenrichtlinien Musik, Sachsen-Anhalt, Klasse 9
Quelle: Kultusministerium des Landes Sachsen-Anhalt, 2003, S. 71
146 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Sachsen, Klasse 11-12 (Grundkurs), Regionale Musiktradition Abbildung 15: Rahmenrichtlinien Musik, Sachsen, Klasse 11-12
Quelle: Sächsisches Staatsministerium für Kultus, 2004, S. 22
Thüringen, Klasse 10, Musik im 20. und 21. Jahrhundert Abbildung 16: Rahmenrichtlinien Musik, Thüringen, Klasse 10
Quelle: Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, 2012, S. 28
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Bereits diese kurzen Ausschnitte verdeutlichen, wie unterschiedlich die jeweiligen Rahmenrichtlinien der einzelnen Länder formuliert und gestaltet sind. Während in Sachsen-Anhalt detailliert konkrete Themengebiete vorgegeben und aufgeschlüsselt werden (Abb. 14), handelt es sich bei den Thüringer Rahmenrichtlinien um deutlich abstraktere Kompetenzvorgaben (Abb. 16). Die sächsischen Richtlinien befinden sich in ihrer Detailliertheit zwischen diesen beiden Extrempolen (Abb. 15). Aufgrund dieser Heterogenität sind die folgenden statistischen Auswertungen und Vergleiche der Rahmenrichtlinien und Unterrichtsinhalte auch lediglich als Anhaltspunkt zu betrachten, um die genannten Unterschiede zwischen den Bundesländern veranschaulichen zu können (Abb. 17). Abbildung 17: Vergleich der Lehrplaninhalte im Fach Musik nach Jahrgängen (Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen)
Vergleich der Lehrplaninhalte nach Jahrgängen: Anteile der Themenkomplexe "Musik der Gegenwart und Region" an Gesamtinhalten / Anteile der Zeitrichtwerte 80
71.6 70
66.6
60
Anteile in Prozent
52 50
40.7 38.2
40
30.7
62.5
30
28.2 50
50 45.5
20 30
33
30 25
25
10
20
0 5 und 6
7 und 8
9 und 10
11 und 12
Jahrgänge Anteil Themenkomplexe (Sachsen)
Anteil Themenkomplexe (Sachsen-Anhalt)
Anteil Themenkomplexe (Thüringen)
Anteil Zeitrichtwerte (Sachsen)
Anteil Zeitrichtwerte (Sachsen-Anhalt)
Anteil Zeitrichtwerte (Thüringen) n.v.
148 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Einige zentrale Auffälligkeiten lassen sich hier jedoch bereits feststellen. In den Thüringer Rahmenrichtlinien werden nach 1945 entstandene Musik und Musik aus der Region in den Klassenstufen 5 bis 8 zunächst nicht explizit benannt. In den höheren Jahrgängen dagegen nehmen diese Themenbereiche dann einen vergleichsweise recht hohen Stellenwert ein. In Sachsen-Anhalt wiederum spielt regionale Musik der Gegenwart vor allem in den Klassen 5 und 6 eine große Rolle. Dieser Anteil geht in den Jahrgängen 7 bis 10 anschließend deutlich zurück, bevor er in der Vorbereitung auf das Abitur in den Stufen 11 und 12 wieder leicht steigt. Dies spiegelt sich auch in den Zeitrichtwerten wider. In Sachsen hingegen nehmen diese Themen über die gesamte gymnasiale Schullaufbahn relativ konstant (mit einem leichten Abfall in den Klassen 9 und 10) etwa ein Drittel aller Lehrinhalte ein. Die Zeitrichtwerte nehmen hier allerdings einen ähnlichen Verlauf wie in Sachsen-Anhalt und liegen sogar leicht über diesen. Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass an mitteldeutschen Gymnasien Musik der Gegenwart und aus der Region laut Rahmenrichtlinien vor allem in den unteren und oberen Klassenstufen als Lehrinhalt betont wird. Inwiefern innerhalb dieser Vorgaben konkret das Themenfeld Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern angesprochen und vermittelt wird, kann auf diesem Weg allerdings nicht festgestellt werden. Auch über die tatsächliche Umsetzung dieser Richtlinien durch die Lehrkräfte und entsprechend individuelle Schwerpunktsetzungen sagt diese Analyse natürlich nichts aus. Diesem Aspekt möchte ich mich im Folgenden nähern.
8.3 BEFRAGUNG VON MUSIKLEHRERN AN GYMNASIEN IN MITTELDEUTSCHLAND Es stellt sich nun also die Frage, auf welche Weise die Gymnasiallehrkräfte im Fach Musik mit den eben gezeigten Vorgaben durch die Rahmenrichtlinien konkret umgehen und wie sie sich zu diesen positionieren. Dem bin ich mithilfe einer schriftlichen Befragung von Musiklehrern an Gymnasien in Deutschland nachgegangen, der Ergebnisse ich im Folgenden exemplarisch vorstellen möchte. 8.3.1 Methodik Zunächst habe ich einen Online-Fragebogen entwickelt, der verschiedenste Aspekte des Themas abdeckt:
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 149
• Personendaten, Angaben zum Lehramtsstudium • Musik in Kindheit und Jugend, Musikalische Aktivitäten, Musikrezeption • • • • • • • •
(Konzertbesuche etc.), Musikalische Präferenzen Auseinandersetzung mit diversen Themengebieten Wahrgenommener Stellenwert diverser musik. Themen in den Lehrplänen Stellenwert dieser Themen in der eigenen Unterrichtsgestaltung Gewünschter Stellenwert dieser Themen in den Lehrplänen Schülerinteresse an diesen Themen Stellenwert diverser Themen im Lehramtsstudium Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung Bekanntheit von Komponisten
Die Erstellung des Fragebogens erfolgte nicht vorrangig theoriegeleitet, sondern anhand inhaltlich-pragmatischer Überlegungen. Der Link zum Online-Fragebogen wurde dann mit der Bitte um Weiterleitung an die entsprechenden Fachlehrer an die Sekretariate von insgesamt 2191 Gymnasien in allen Bundesländern verschickt. Zwischen Mai und Juli 2016 nahmen insgesamt 409 Probanden an der Studie teil, die sich wie folgt aufteilen: • • • •
227 weibliche Teilnehmerinnen, 165 männliche Teilnehmer 1 anderes Geschlecht, 16 keine Angaben zum Geschlecht 293 Lehrkräfte aus den alten Bundesländern 116 Lehrkräfte aus den neuen Bundesländern
8.3.2 Ergebnisse Alle im Folgenden vorgestellten Daten resultieren aus im Messinstrument verwendeten siebenstufigen Skalen. Dabei beschränke ich mich an dieser Stelle auf deskriptive Analysen. Zwar geben die Grafiken bereits einige Hinweise auf mögliche statistisch signifikante Unterschiede. Um diesen im Detail gerecht zu werden, wären jedoch tiefergehende und umfangreiche statistische Analysen mittels geeigneter Testverfahren wie t-Tests erforderlich, die mir für den Zweck meiner Darstellungen hier zu weitführen würden. Hinsichtlich der Frage, wie stark Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern nach Einschätzung der Musiklehrer im aktuellen Konzertleben vertreten ist, ergibt sich ein recht homogenes Bild (Abb. 18).
150 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 18: Einschätzung des Stellenwerts von Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern im Konzertleben durch Musiklehrkräfte
Bezüglich des Stellenwerts verschiedener Themengebiete im Lehramtsstudium hingegen fallen größere Differenzen ins Auge (Abb. 19). Neben den wenig überraschend dominierenden Themen (Kunstmusik, Musiktheorie, Werkanalysen, Musik des 17. bis 19. Jahrhunderts) wird offenbar auch der Musik des 20. und 21. Jahrhunderts – zumindest in der Wahrnehmung der Probanden – einige Aufmerksamkeit zuteil. Die n entsprechenden musikgeschichtlichen Entwicklungen im Besonderen wird dagegen im Lehramtsstudium offenbar eher gemieden oder zumindest nur am Rande aufgegriffen.
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 151
Abbildung 19: Stellenwert diverser Themen im Musiklehramtsstudium
Ähnlich heterogen fällt der Befund in Bezug auf die individuelle Auseinandersetzung der Probanden mit diversen Themenfeldern aus (Abb. 20). Lehrkräfte aus den alten und neuen Bundesländern sind hier jedoch größtenteils ähnlich aufgestellt. Besonders auffällig sind lediglich stärkere Differenzen zwischen Ost und West in der Beschäftigung mit der Szene für Rock- und Popmusik, wobei Musiklehrer aus Ostdeutschland sich in diesem Fall intensiver mit diesen Bereichen befassen als ihre westdeutschen Kollegen. Ansonsten ist die Dominanz einiger Themen (klassische Musik, Politik, Bildungspolitik, Kulturpolitik, Zeitgeschichte, Aktuelle Musikszene) erneut nicht verwunderlich.
152 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 20: Individuelle Auseinandersetzung von Musiklehrkräften mit diversen Themen
Besonders aufschlussreich ist die nun folgende Grafik, in der verschiedene Aspekte der Positionierung der Probanden zu den Lehrinhalten im Fach Musik dargestellt sind (Abb. 21).
1.00
2.00
3.00
4.00
5.00
6.00
7.00
!
Stellenwert LP Ist (NB) Stellenwert UG (AB)
Interesse der Schüler (gesamtdeutsch)
Stellenwert LP Ist (gesamtdeutsch)
Stellenwert UG (NB)
Stellenwert LP Soll (AB)
!
Interesse der Schüler (NB)
Stellenwert LP Soll (gesamtdeutsch)
Stellenwert LP Ist (AB)
!
Interesse der Schüler (AB)
Stellenwert LP Soll (NB)
Stellenwert UG (gesamtdeutsch)
Welchen Stellenwert nehmen die folgenden Themen Ihrer Wahrnehmung nach in den Lehrplänen (LP Ist) und Ihrer Unterrichtsgestaltung (UG) ein, welchen Stellenwert sollten sie Ihrer Meinung nach einnehmen (LP Soll) und welche Interessen haben Ihre Schüler?
!
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 153
Abbildung 21: Positionierung von Lehrkräften und Schülern zu Lehrinhalten
154 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Die Werte sind dabei folgendermaßen aufgeschlüsselt (Tab. 9): Tabelle 9: Aufschlüsselung der Skalenwerte zur Positionierung von Lehrkräften und Schülern zu Lehrinhalten Wert
7 6 5 4
3 2 1
Lehrplan Ist
einen sehr hohen einen hohen einen eher hohen gleichberechtigt mit anderen Genres/ Aspekten einen eher niedrigen einen niedrigen einen sehr niedrigen
Unterrichtsgestaltung sehr viel viel eher viel gleichberechtigt mit anderen Genres/ Aspekten eher weniger weniger sehr wenig
Lehrplan Soll
Interesse Schüler
einen deutlich höheren einen höheren einen eher höheren es ist gut, wie es ist
+++
einen eher niedrigeren einen niedrigeren einen deutlich niedrigeren
-
++ + +/-
----
Hinsichtlich des wahrgenommenen tatsächlichen Stellenwerts von Lehrinhalten in den Rahmenrichtlinienvorgaben gibt es auch hier keine sonderlich auffälligen Befunde. Einige Bereiche sind erwartbar sehr stark vertreten (klassische Musik, Musikhören, Musikpraxis, Musikanalyse), während andere Themen ebenfalls erwartbar eine kleinere Rolle spielen (Musik DDR/NB/BRD/AB, Musik aus Osteuropa, europäische Folklore). Größtenteils werden die Lehrplanvorgaben von den Probanden aus Ost- und Westdeutschland recht homogen eingeschätzt. Lediglich bei den Themen Musik DDR/NB (NB > AB), Musik aus Westeuropa (AB > NB), außereuropäische Musik (NB > AB), Jazz (NB > AB), Musik und Politik (AB > NB) und Musikanalyse (AB > NB) gibt es in dieser Hinsicht größere Differenzen. In Bezug auf die Unterrichtsgestaltung orientieren sich die Lehrkräfte ihrer Einschätzung nach überwiegend an den Vorgaben. Ob dies in der Realität tatsächlich immer so zutrifft, lässt sich an dieser Stelle nicht sagen. Zudem scheinen die
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 155
Musiklehrer mit den Vorgaben der Unterrichtsthemen insgesamt recht zufrieden. Nur hinsichtlich der Musikpraxis wird ein etwas höhere Stellenwert gewünscht. Die größten Diskrepanzen zeigen sich – vermutlich wenig überraschend – bei einigen Themen zwischen Lehrplanvorgaben und Unterrichtsgestaltung einerseits und den Interessen der Schüler andererseits. An den Themen klassische Musik und Musikanalyse sind die Schüler offenbar weniger stark interessiert, als sich dies im Unterricht widerspiegelt. Hingegen treffen die Angebote seitens der Lehrer bei den Themen Popmusik, Rockmusik, Musik und Medien sowie Musik und Alltag auf ein höheres Interesse der Schüler, als es im Unterricht realisiert wird. Auch bei den Themen Musik DDR/NB und Musik BRD/AB sind einige Differenzen zu beobachten. Musiklehrer in Ostdeutschland räumen Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern einen leicht höheren Stellenwert in ihrer Unterrichtsgestaltung ein, als in den Richtlinien vorgegeben ist. Auf Lehrkräfte in den alten Bundesländern trifft dies nicht zu. Hinsichtlich Musik aus der BRD und den alten Bundesländern wiederum decken sich Lehrplanvorgaben und Unterrichtsgestaltung weitgehend. Dagegen liegt das Interesse der Schüler bei beiden Themenbereichen über den tatsächlich angebotenen Lehrinhalten, wobei dies vor allem auf Schüler aus den neuen Bundesländern zuzutreffen scheint. Abschließend möchte ich an dieser Stelle noch auf die Einstellungen der befragten Musiklehrer zu verschiedenen Facetten der deutschen Wiedervereinigung eingehen (Abb. 22). Auch hier kamen siebenstufige Skalen zum Einsatz. Insgesamt sind sich die Probanden in ihren Haltungen recht einig. Die Werte bewegen sich überwiegend im Bereich leicht unterhalb des Mittelwerts von 4.0 (»teils/teils«, »sowohl als auch« etc.). Etwas mehr in den negativen bzw. ablehnenden Bereich tendieren die Einschätzung hinsichtlich der »Mauer in den Köpfen« (die aus Sicht der Probanden demnach eher weniger existiert), den Ergebnissen der Wiedervereinigung sowie der aktuellen politischen Lage in Deutschland. Größere Unterschiede zwischen Probanden aus Ost- und Westdeutschland zeigen sich bei der Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der DDR (NB > AB), der Abgeschlossenheit der deutschen Einheit (AB > NB) sowie – angesichts der in den Kapiteln zum zeitgeschichtlichen Kontext gezeichneten Bild vielleicht doch etwas überraschend ausfallenden – Bewertung der Ergebnisse der Wiedervereinigung (NB > AB). Allerdings lassen die Fehlerbalken bereits vermuten, dass diese Unterschiede möglicherweise nicht statistisch signifikant sind. Entsprechende Testverfahren müssten dies klären.
0.00
0.50
1.00
1.50
2.00
2.50
3.00
3.50
4.00
4.50
Wichtigkeit der Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der DDR
Einstellungen von Musiklehrern zum Thema deutsche Wiedervereinigung
deutsche Einheit ist abgeschlossen
"Mauer in den Köpfen" existiert noch
Kultur ist eine wichtige Bewertung der Ergebnisse Bewertung der aktuellen Plattform der der Wiedervereinigung politischen Lage in Aushandlung der dt.-dt. Deutschland Integration
[1=stimme überhaupt nicht zu etc., 7=stimme voll zu etc.; n(ges)=381, n(NB)=108, n(AB)=273]
AB
NB
gesamtdeutsch
156 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 22: Einstellungen von Musiklehrkräften zur deutschen Wiedervereinigung
Musik kennenlernen im Schulunterricht an Gymnasien | 157
8.4 MEHR WAGEN! – FAZIT Abschließend lassen sich im Kontext der Schulbildung folgende Erkenntnisse hinsichtlich des Umgangs mit dem Thema DDR und Wiedervereinigung im Allgemeinen sowie Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern im Speziellen festhalten. • Besonders die Musiklehrer in Ostdeutschland (vor allem bei eigenem ostdeut-
•
• • •
schem Sozialisations-Background) stehen vor vielfältigen persönlichen, individuell-beruflichen, kollektiven und strukturellen Herausforderungen, die sich in nicht unerheblichem Maße – jedoch nicht ausschließlich – aus den Transformationsprozessen nach 1990 ergeben. Dies betrifft insbesondere das Verhältnis zwischen Lehrkräften, Schülern und Eltern, das schulische Umfeld sowie pädagogisch-didaktische Aspekte. Zudem spielt vor allem bei den älteren Lehrergenerationen bis weit nach 1990 die individuelle und kollektive Aufarbeitung des eigenen Berufslebens in der DDR eine zentrale Rolle. In den nach 1990 eingeführten Rahmenrichtlinien der neuen Bundesländer zu angedachten Unterrichtsinhalten im Fach Musik kommt Musik der Gegenwart und aus der Region je nach Klassenstufe in unterschiedlich starkem Maß zum Tragen. Die konkrete Auseinandersetzung mit Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern stellt jedoch ein eher untergeordnetes Themenfeld dar. Die Richtlinien der einzelnen Bundesländer unterscheiden sich dabei im Detail teils erheblich. Die Musiklehrkräfte sind mit den vorgegebenen Richtlinien überwiegend zufrieden. In einigen Themenbereichen weichen laut Wahrnehmung der Lehrer die Interessen der Schüler deutlich von den gegebenen Unterrichtsinhalten ab. Im Spannungsfeld zwischen Lehrplanvorgaben, Lehrerwünschen und Schülerinteressen gibt es teilweise Unterschiede zwischen den alten und den neuen Bundesländern. Diese fallen jedoch insgesamt eher gering aus.
Vor diesem Hintergrund wäre eine verstärkte Auseinandersetzung mit der deutsch-deutschen Musikgeschichte nach 1945 im schulischen Musikunterricht also durchaus möglich und wünschenswert. Neben der Vermittlung von allgemeinem musikalischem Wissen, Repertoirekenntnissen und musikpraktischen Fertigkeiten könnten dabei die Musiklehrer selbst mit ihren biografischen Erfahrungen dazu beitragen, den individuellen und kollektiven Erfahrungsschatz an Heranwachsende und zukünftige erwachsene Musikhörer weiterzugeben. Hier gilt es, mehr zu wagen!
9
Hören und Werten – Rezeptionsstudie
9.1 ÜBERGEORDNETE FRAGESTELLUNGEN Nachdem bislang vor allem eine umfangreiche Bestandsaufnahme zum aktuellen Stellenwert ostdeutscher Musik in Forschung, Praxis und Vermittlung im Mittelpunkt stand, möchte ich nun noch einmal einen anderen Blickwinkel einnehmen. Neben den vorangegangenen Überlegungen drängt sich nicht zuletzt die Frage auf, wie Menschen, sei es als Hörer oder auch als im Musikleben gestaltend tätige Akteure, Musik und deren spezifische Entstehungskontexte und Hintergründe wahrnehmen und wie sich diese Wahrnehmung auf die konkrete Bewertung gehörter Musik auswirkt. Um dem nachzugehen, schien mir ein empirischer Ansatz in Form einer detaillierten Rezeptionsstudie, deren Hauptanliegen die Bewertung musikalischer Stimuli mit ost- und westdeutschem Hintergrund durch Musikhörer ist, der geeignetste Weg zu sein. So können auf Grundlage belastbarer Daten und statistischer Analysen zentrale Fragen hinsichtlich der Wahrnehmung von Musik und deren Hintergrund operationalisiert werden. Zudem lassen sich möglicherweise gängige (teils vorurteilsbehaftete) Bewertungsmuster widerlegen oder zumindest relativieren. Nicht zuletzt dürften sich einige neue Fragen und erklärungsbedürftige Befunde ergeben, die das bislang gezeichnete Bild weiter ausdifferenzieren und ihm zusätzliche Dimensionen verleihen können. Bevor ich im Folgenden näher auf Design und Methodik der Rezeptionsstudie eingehe, seien bereits an dieser Stelle die zentralen Fragestellungen, mit denen ich an mein Datenmaterial herantreten werde, vorgestellt und kurz charakterisiert. 1.
Welche Variablen beeinflussen die Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund und welche Faktoren/Prädiktoren eignen sich zur Vorhersage der Bewertung?
160 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Reiner Niketta (1993) skizziert, wie komplex musikalische Werturteile strukturiert sind und welche Vielzahl von direkt und indirekt messbaren Variablen auf die konkrete Gestalt von Bewertungen klingender Musik einwirkt. Neben allgemeinen Personendaten (Alter, Geschlecht) sind im vorliegenden Kontext vor allem Kategorien wie die musikalische Expertise der Probanden, ihre musikalischen Präferenzen, Repertoirekenntnisse, die Auseinandersetzung mit kunstbezogenen und politischen Themenfeldern, politische Einstellungen sowie die Herkunft der Hörer von Interesse. 2.
Welchen Einfluss hat die Verfügbarkeit oder Abwesenheit außermusikalischer Zusatzinformation (Herkunft von Künstlern, Namen von Künstlern) in der Darbietung der musikalischen Stimuli auf deren Bewertung?
Basierend auf dem bekannten Phänomen von Prestigeeffekten in der Bewertung von Musik, wie zum Beispiel einer positiveren Beurteilung von Musikstücken bei Zuordnung zu bekannten Komponisten (vgl. Niketta, 1993), sowie dem Einfluss von Kontextinformationen auf musikalische Werturteile (vgl. z.B. Duerksen, 1972 oder Anglada-Tort, 2018), wäre hier interessant, inwiefern die unmittelbar an das Hörereignis gekoppelte (Nicht-)Thematisierung des ost- oder westdeutschen Kontextes von Musik durch ein kurzes Label deren Bewertung signifikant beeinflusst oder auch nicht. Auf die konkrete Zuordnung von Musik zu Ost- und Westdeutschland gehe ich bei der Vorstellung des Studiendesigns näher ein. 3.
Gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Musik aus Ost- und Westdeutschland?
Wenn ja, wie sehen diese im Detail aus? Meine detaillierten Ausführungen zum Themenfeld Ostdeutschland und der gesamtdeutschen Geschichte nach 1990 haben verdeutlicht, dass auch 30 Jahre nach Mauerfall, Wende und Wiedervereinigung ost- und westdeutsche Teilgesellschaften mit jeweils eigenen spezifischen Sozialisations- und Tradierungsmustern bestehen und empirisch nachweisbar sind. In Bezug auf Musik stellt sich demnach die Frage: Lassen sich immer noch kursierende oder wenigstens wahrgenommene Vorurteilsstrukturen sowie politisch geprägtes und motiviertes Schwarz-Weiß-Denken in Hinsicht auf den Umgang mit Musik bestätigen, widerlegen oder zumindest ausdifferenzieren und damit zusammenhängende Erkenntnisse positiv fruchtbar machen?
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4.
Unterscheiden sich im vorliegenden Kontext verschiedene Genres (hier Rockmusik und Zeitgenössische Musik) hinsichtlich der Bewertung?
Um eine weitere Vergleichs- und Analysedimension einzubringen, habe ich in der Studie musikalische Stimuli aus dem Bereich der Zeitgenössischen Musik und der Rockmusik genutzt. Beide Genres werden in der allgemeinen Wahrnehmung oft sehr unterschiedlich beurteilt. Bei Rockmusik, vorausgesetzt sie ist nicht allzu progressiv oder speziell, herrscht eher ein landläufiger Konsens in Richtung Gefallen vor. Hohe Publikumszahlen im Allgemeinen und die mittlerweile unbestrittene Aufnahme ostdeutscher Rockbands in den Kanon der deutschen Rockmusik im Besonderen sprechen für einen solchen Konsens. Dagegen sorgt Zeitgenössische Musik immer noch, trotz einer gewissen zunehmenden Verankerung und quasi Salonfähigkeit im künstlerisch-ästhetischen Mainstream über die letzten Jahrzehnte, für oft lebhafte Diskussionen und ein deutlich breiteres Spektrum an Beurteilungen und zugespitzten Meinungen. Zugleich deuten empirische Untersuchungen (vgl. z.B. Gembris, 1995) aber auch darauf hin, dass diese Diskrepanzen zwar einerseits in verbal geäußerten Urteilen durch Rezipienten häufig reproduziert und bestätigt werden, die Beurteilung klingender Musik andererseits jedoch oftmals deutlich geringer entlang klarer Genregrenzen verläuft und eine größere intuitive und nonverbale Offenheit vermuten lässt. Es ist also durchaus interessant, inwiefern sich dieser Befund eventuell auch in meinem Datenmaterial abbildet. Neben den eben ausgeführten vier Fragestellungen sind noch zwei weitere Aspekte für die Analysen von Interesse: Welchen Einfluss haben Alter und Herkunft der Probanden auf die Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund? Ausgehend von diesen, wenn auch bereits abstrahierten Einzelaspekten schält sich eine zentrale übergeordnete Frage heraus, die letztlich auch den großen Bogen zu allen bisherigen Darstellungen und Überlegungen in den vorangegangenen Kapiteln schlägt: Ist (bzw. wäre) Musik eine geeignete Aushandlungsplattform für Fragen und Prozesse der deutsch-deutschen Integration? Wie ich ausgiebig und facettenreich dargestellt habe, kann von einer erfolgreich abgeschlossenen Bewältigung der deutschen Wiedervereinigung auch dreißig Jahre nach der politischen Wende von 1989/90 noch keine Rede sein. Unbestritten gibt es in zahlreichen Teilbereichen große Fortschritte und ein zunehmendes Zusammenwachsen von Ost und West zu konstatieren. Auch die gegenseitige Wahrnehmung von Menschen mit ost- und westdeutschem Lebens- und Erfahrungs-
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horizont dürfte heute weit weniger stark von plakativen Vorurteilen und Unverständnis geprägt sein als vor dreißig Jahren. Dennoch weisen einige ökonomische und politische Realitäten und Entwicklungen deutlich darauf hin, dass die Deutsche Einheit weder abgeschlossen noch in allen Bereichen gelebte Wirklichkeit ist. Vielmehr bedarf es weiterer aktiver Anstrengungen, um einerseits die negativen Folgen aus vierzig Jahren deutscher Teilung nachhaltig zu verarbeiten und abzustreifen und andererseits die positiven Aspekte des deutsch-deutschen Zusammenwachsens und Miteinanderlebens nach 1990 zukunftsgerichtet und nachhaltig zu nutzen. Auffällig ist dabei sowohl hinsichtlich der Aufarbeitung der Vergangenheit als auch bei Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft das weiterhin zu beobachtende, beinahe alles überragende Primat ökonomisch-politischer Fragestellungen und Deutungsmuster. Die deutsch-deutsche Integration wird auf übergeordneter Ebene immer noch, obwohl dieser Ansatz eindeutige Schwächen und große Lücken aufweist, überwiegend politisch gedacht und vorangetrieben. Gewiss sind im Kleinen zahlreiche gesellschaftliche Teilbereiche in diesem Prozess eingebunden und vertreten. In der öffentlichen Wahrnehmung dominieren jedoch stets die politischen und ökonomischen Perspektiven. Im Kultursektor und ganz speziell im Bereich der Musik zeigt sich noch ein weiterer Aspekt. Zwar wird, wie ich in den Repertoireanalysen nachweisen konnte, das musikalische Erbe Ost- und Westdeutschlands von vor und nach 1990 in verschiedensten Kontexten und mit unterschiedlichsten Gewichtungen gepflegt. Eine Unterrepräsentation oder gar aktive Vernachlässigung des einen oder anderen Teils lässt sich pauschal nicht feststellen. Jedoch war auch eine Erkenntnis der Analysen, dass die Pflege des betreffenden musikalischen Erbes deutlich an regionale Zugehörigkeiten und entsprechende Kontexte geknüpft ist. Es ist also weniger entscheidend, welche Werke und Komponisten gepflegt werden, sondern vielmehr wo die entsprechenden Konzerte und Aufführungen stattfinden. Überspitzt ausgedrückt ließe sich sagen: Jeder beschäftigt sich mit dem, was er ohnehin kennt. Man lebt und musiziert nebeneinander her anstatt miteinander. Vor diesem gedanklichen Hintergrund erklärt sich nun also die Frage, ob die Musik und alle mit ihr verknüpften Kontexte, Bewertungszusammenhänge, Vermittlungsmechanismen und öffentlichen kulturellen Strukturen nicht viel mehr als bisher dazu beitragen könnten und sollten, auf ästhetischem und emotional positiv besetztem Weg statt über vorrangig politisch geprägte und oft negativ konnotierte Themen ein gelingendes deutsch-deutsches Zusammenwachsen auszuhandeln und nachhaltig zu realisieren.
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 163
9.2 METHODIK Zur empirischen Operationalisierung dieser Fragestellungen verfolgt die Studie einen bewusst explorativen Ansatz. Ziel soll es sein, sowohl einige konkrete Antworten auf die zugrunde liegenden Forschungsinteressen zu erhalten als auch vielfältige neue Fragen und Ansatzpunkte für weiterführende Untersuchungen zu generieren. Wie ich mit den aus dieser expliziten Offenheit entstehenden methodischen Aspekten als auch mit der zu erwartenden Fülle an Ergebnissen in den statistischen Analysen umgehe, wird sich in den ausführlichen Darstellungen der Resultate zeigen. 9.2.1 Untersuchungsdesign Hauptanliegen der Studie war die Erforschung der Bewertung musikalischer Stimuli mit ost- und westdeutschem Hintergrund aus dem Bereich der Rockmusik und der Zeitgenössischen Musik durch Musikhörer. Um verschiedene Vergleichsund Analysedimensionen einzubeziehen, wurde die Präsentation und Bewertung der Musikausschnitte durch diverse Fragen zu übergeordneten Kategorien (musikalische Expertise der Probanden, musikalische Präferenzen, Repertoirekenntnisse, Auseinandersetzung mit kunstbezogenen und politischen Themenfeldern, politische Einstellungen sowie Herkunft der Hörer) ergänzt. Zur Durchführung habe ich einen detaillierten Online-Fragebogen entwickelt, dessen Struktur im Anhang einzusehen ist (Anhang 1). Bei Frage-Items, die sich zur Generierung metrischer Daten eigneten, kamen in der Regel endpunktbenannte siebenstufige Skalen (bei Fragen zu musikalischen Präferenzen und Auseinandersetzung mit diversen Themen zehnstufige Skala zur besseren Abbildung der intuitiven Antwort per Schieberegler) zum Einsatz, die praktisch eine Annahme des Intervallskalenniveaus erlauben (vgl. Mayer, 2009, S. 83 sowie Porst, 2014, S. 79 ff.). Die Präsentation der zu bewertenden musikalischen Stimuli erfolgte in randomisierter Reihenfolge, um Reihungseffekte in der Bewertung auszuschließen. Um den Einfluss der Verfügbarkeit oder Abwesenheit von an die Musikausschnitte gebundenen Zusatzinformationen zum Hintergrund der Musik zu messen (siehe Forschungsfrage 2), habe ich insgesamt vier Fragebögen mit verschiedenen Settings erstellt, wobei die Fragen außerhalb des Musikbewertungsteils in allen vier Fragebögen identisch waren. Die Darbietung der Stimuli stellte sich wie folgt dar.
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• Fragebogen 1: Darbietung der Stimuli ohne jegliche Zusatzinformationen • Fragebogen 2: Nennung der Herkunft von Komponisten und Bands (Ost-/West-
deutschland) • Fragebogen 3: Nennung der Herkunft und der Namen von Komponisten und Bands • Fragebogen 4: alle drei Settings in Blöcken (innerhalb der Blöcke Randomisierung) Somit stellen die Fragebögen 1 bis 3 ein Zwischengruppendesign (ZGD) dar, während es sich bei Fragebogen 4 um ein Messwiederholungsdesign (MWD) handelt. Die Probanden sollten die musikalischen Stimuli nun hinsichtlich Gefallens und Vertrautheit bewerten. Die Fragebögen 1 bis 3 nutzen dasselbe musikalische Material (siehe unten), bei Fragebogen 4 kommen zur Realisierung des Designs einige weitere Stimuli hinzu. Als weiterer Aspekt für die Analyse kommt die bewusste Manipulation einiger Stimuli durch eine Falschzuordnung des Herkunftslabels hinzu. Auf diese Weise könnten sich eventuell gefundene Effekte hinsichtlich des Einflusses der Zusatzinformationen in Form vom Herkunfts- und Namenslabeln gegenprüfen lassen. 9.2.2 Musikalisches Material Dem Einsatz der musikalischen Stimuli in den Fragebögen ging ein zweistufiges Auswahlverfahren geeigneten musikalischen Materials voraus. Ziel war es, Paare von Musikausschnitten mit jeweils ost- und westdeutschem Hintergrund aus dem Bereich der Rockmusik und der Zeitgenössischen Musik zu finden, die sich musikalisch so ähnlich wie möglich sind, damit der Einfluss von Unterschieden im musikalischen Material auf die Bewertung durch die Probanden in der Analyse weitestgehend ausgeschlossen werden kann. Zunächst habe ich dazu auf rein subjektiv-auditiver Basis 48 ähnlich klingende Stimuli-Paare ausgewählt. Bezüglich der Definition von Zeitgenössischer Musik bin ich dabei, wie im einleitenden Kapitel dargelegt, durchaus im Bewusstsein der umfassenden Problematik von Genreeinteilungen im Kosmos Neue Musik/Zeitgenössische Musik/Avantgardemusik etc., recht pragmatisch vorgegangen. Zeitgenössische Musik stellen für meinen Kontext alle Kompositionen dar, die nach 1945 entstanden sind, einen Materialstand aufweisen, der sich an den Entwicklungen sogenannter Neuer Musik oder allgemein moderner Musik seit Beginn des 20. Jahrhunderts orientiert (also keine maßgeblich die Formsprache prägenden Rückgriffe auf konventionelle Kompositionsweisen vor 1900 beinhalten) und sich
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 165
weitgehend dem Bereich der Kunstmusik zuordnen lassen. Einen ähnlich pragmatischen Ansatz hielt ich bei der Zuordnung von Komponisten oder Bands zum ostdeutschen oder westdeutschen Kontext für sinnvoll. Auch hier ist eine Einteilung äußerst problematisch, vor allem was die Zeit nach 1990 betrifft. In diesem Fall sind Künstler aus meiner Sicht dann als ost- oder westdeutsch zu bezeichnen, wenn entweder eine klare Selbstzuordnung auf der Hand liegt, Geburts-/Wohnoder Schaffensort eine klare regionale Verbundenheit über längere Zeit anzeigen oder ein maßgeblicher Teil der persönlichen Sozialisation der Künstler eindeutig ost- oder westdeutsch geprägt ist. Somit wäre beispielsweise eine Rockband junger Musiker, die in Ost- oder Westdeutschland geboren wurden, jedoch im Kleinkindalter mit ihren Eltern in eine west- oder ostdeutsche Region umgezogen sind, nicht klar zuzuordnen und käme daher für meine Studie nicht in Frage. Eine weitere methodische Herausforderung stellt der Umgang mit dem Bekanntheitsgrad der ausgewählten Komponisten und Bands dar. In der Forschung zu musikalischen Präferenzen gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass die Popularität von Künstler vor allem dann einen Einfluss auf die Bewertung klingender Musik haben kann, wenn ihre Namen den Probanden genannt werden (vgl. z.B. Gembris, 1995 oder Niketta, 1993). Dieses Szenario tritt in meinem Studiendesign im Setting mit den Namenslabeln auf. Verzerrende Effekte durch extreme Ausschläge in den Bewertungen kommen jedoch vor allem zum Tragen, wenn die Bewertung von Musikbeispielen bekannter Künstler mit der weniger populärer Vertreter verglichen werden soll. Angesichts der Anforderungen meiner Studie stellen die folgenden drei Aspekte den Rahmen für den Umgang mit diesem Problem dar. 1.
2.
3.
Alle gewählten Komponisten und Bands haben einen vergleichsweise hohen Bekanntheitsgrad in ihrem jeweiligen Kontext. Eine gleichzeitige Verwendung von Musikbeispielen bekannter und unbekannter Künstler findet also nicht statt. Die Studie zielt auf die Untersuchung möglicher Unterschiede in der Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund bzw. von Zeitgenössischer und Rockmusik ab. Eine Aufstellung von BewertungsRanglisten und ähnlichen Analysen, wie sie in der Präferenzforschung vorkommen, ist nicht vorrangiges Anliegen. Somit ist der Bekanntheitsgrad der Künstler, gekoppelt mit Punkt 1, weniger von entscheidender Bedeutung. Aus pragmatischer Sicht war es zudem nötig, überhaupt musikalische Beispiele von Künstlern mit dezidiert ost- und westdeutschem Hintergrund zu finden, die sich musikalisch sehr ähnlich sind. Aufgrund der
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Verfügbarkeit entsprechenden Materials in Form von Audioaufnahmen (CDs, Downloadfiles etc.) fiel die Wahl daher fast zwangsläufig auf eher bekannte Komponisten und Bands. Ich denke, anhand dieser Überlegungen wird deutlich, dass die BekanntheitsProblematik in meinem Studiendesign zwar durchaus eine Rolle spielt, in den konkret beabsichtigten Analysen jedoch integriert und ausgeglichen werden kann. Stark verzerrende Effekte werden auf beschriebenem Wege vermieden beziehungsweise sind für die Auswertung und Interpretation des Datenmaterials nicht von zentraler Bedeutung. Ausgehend von diesen 48 zunächst subjektiv ausgewählten musikalischen Stimuli habe ich dann in einem zweiten Schritt zur objektiven Überprüfung einen Online-Fragebogen entwickelt, in dem die Probanden, in diesem Fall Musikwissenschaftsstudenten als Hörer mit musikalischer Expertise (n=282), die Stimuli hinsichtlich verschiedener musikalischer Parameter bewerten sollten. Die Präsentation der Musikausschnitte erfolgte sowohl in ungepaarter als auch in direkt gepaarter Form. Folgende Parameter mussten auf einer siebenstufigen Skala beurteilt werden: • • • • • •
Komplexität (gar nicht komplex – sehr komplex) Harmonik (gar nicht komplex – sehr komplex) Melodik (sehr gleichförmig – sehr abwechslungsreich) Rhythmik (sehr gleichförmig – sehr abwechslungsreich) Stimmung (sehr ruhig – sehr aufgeregt) Vertrautheit (gar nicht vertraut – sehr vertraut)
Mittels einfacher t-Test-Verfahren (Test zur Klärung der Frage, ob unterschiedliche Mittelwerte statistisch signifikant sind und damit systematisch auftreten oder zufällig zustande kommen) konnte ich dann überprüfen, inwieweit sich die von mir angenommene musikalische Ähnlichkeit der Stimuli-Paare in der Wahrnehmung der Probanden statistisch bestätigen (keine maßgeblichen statistisch signifikanten Unterschiede) ließ oder verworfen werden musste (deutliche statistisch signifikante Unterschiede). Auf diese Weise kamen letztlich 12 Stimuli-Paare für die weitere Verwendung in Betracht. Eine Übersicht des genutzten musikalischen Materials findet sich im Anhang (Anhang 2).
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 167
9.2.3 Durchführung und Probanden Die Durchführung der Rezeptionsstudie fand schließlich von März bis Juni 2017 statt. Probanden fanden sich durch Kontaktaufnahme über Institutionen des deutschen Musiklebens (Konzerthäuser, Festivals etc.) sowie die musikwissenschaftlichen Institute. Somit ergibt sich eine Probandengruppe, die sich aus Kulturschaffenden im musikalischen Bereich sowie Musikwissenschaftlern rekrutiert. Es handelt sich also um genau diejenigen Akteure, die sich aktiv mit Fragen der Programmgestaltung und der Vermittlung von Musik zwischen Komponisten und Interpreten auf der einen Seite und dem Publikum auf der anderen Seite befassen. Für das Anliegen der Studie und die Einordnung in den hier vorgelegten größeren Kontext scheint mir diese Fokussierung sehr vielversprechend. Die Probanden verteilen sich wie folgt auf die vier Fragebögen (Tab. 10): Tabelle 10: Probandenaufschlüsselung Rezeptionsstudie weib-
männlich
sonstiges
gesamt
lich
Durchschnittsalter
Fragebogen 1
41
26
1
68
30.63
Fragebogen 2
44
24
2
70
30.40
Fragebogen 3
30
26
56
34.48
Fragebogen 4
73
46
2
121
28.27
gesamt
188
122
5
315
30.33
9.2.4 Technische Anmerkungen zu den statistischen Analyseverfahren In der im Folgenden anstehenden detaillierten statistischen Analyse kommen verschiedene Testverfahren zum Einsatz, vor allem Korrelations- und Regressionsanalysen, ANOVAs und t-Test-Verfahren. Da meine Darstellung der Analyseergebnisse an einigen Stellen angesichts der Komplexität der statistischen Hintergründe recht technisch ausfallen müssen, ich jedoch auch Rücksicht auf den in statistischen Feinheiten weniger geschulten Teil meiner Leserschaft nehmen möchte, werde ich die genannten drei Analysenverfahren im Folgenden kurz und vereinfacht charakterisieren. Statistikkenner hingegen mögen die zur Erklärung gewählten Worte bitte nicht auf die Goldwaage legen.
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Korrelations- und Regressionsanalysen Von Korrelationen spricht man im Wesentlichen, wenn sich zwischen zwei unabhängigen Variablen (auch Merkmale genannt) – nehmen wir als Beispiele die Körpergröße und die Schuhgröße einer Person – Zusammenhänge zeigen. Etwa in der einleuchtenden Weise: eine größere Körpergröße geht mit einer größeren Schuhgröße einher. Diese Korrelationen können in beide Richtungen sowohl in positiver als auch in negativer Form auftreten, im Sinne von: »wenn die eine Variable kleiner/größer wird, dann wird die andere Variable ebenfalls kleiner/größer«. Korrelationsanalysen haben nun der Zweck, zu ermitteln, ob diese Zusammenhänge nur zufälliger Natur sind oder in ihrer Richtung und Stärke statistisch signifikant, das heißt nicht zufällig sind. Entscheidend ist dabei, dass aus den Korrelationen lediglich ablesbar ist, wie und in welche Richtung zwei Variablen zusammenhängen. Ein Kausalzusammenhang zwischen den untersuchten Merkmalen lässt sich daraus noch nicht ableiten. Die Aussage »die Person hat eine größere Schuhgröße, weil sie eine größere Körpergröße hat« ist zwar in den meisten Fällen logisch und richtig, jedoch eben nicht mit einer Korrelationsanalyse statistisch sauber zu belegen. Einen Schritt weiter geht die Regressionsanalyse. Hier wird geprüft, inwiefern sich die Ausprägung einer abhängigen Variable (in unserem Fall die Schuhgröße) auf die Ausprägung einer unabhängigen Variable (Körpergröße) zurückführen lässt. Im Umkehrschluss kann dann die unabhängige Variable (Prädiktor) dazu genutzt werden, die Ausprägung der abhängigen Variable vorherzusagen. Man könnte dann also, sofern ein statistisch signifikanter Zusammenhang nachgewiesen ist, anhand einer bekannten Körpergröße die Schuhgröße einer Person prognostizieren. Im Gegensatz zur Korrelation ist die Wirkungsrichtung des Zusammenhangs hier demnach eindeutiger definiert. Beachtet werden muss dabei natürlich stets die inhaltliche Sinnhaftigkeit des untersuchten Zusammenhangs. t-Tests T-Test-Verfahren kommen zum Einsatz, wenn man untersuchen will, ob sich zwei verschiedene Gruppen von Probanden (Stichproben) hinsichtlich der Ausprägung einer Variablen im Mittel unterscheiden und ob diese Unterschiede wiederum statistisch signifikant (also nicht zufällig) auftreten oder durch Zufall zustande kommen. Auf unser Beispiel bezogen: Gruppe 1 hat eine durchschnittliche Körpergröße von 175 cm, bei Gruppe 2 sind es im Schnitt 182 cm. Mit Hilfe des t-Tests kann nun statistisch geprüft werden, ob dieser Unterschied tatsächlich systematisch relevant ist und damit zwei voneinander strukturell verschiedene Stichproben vorliegen, oder ob der Unterschied zufällig auftritt und nicht durch die Gruppeneinteilung zu erklären ist. Welche weiteren Faktoren für die Entstehung der unterschiedlichen Mittelwerte verantwortlich sind, muss dann allerdings wiederum
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mittels anderer Analysenverfahren ergründet werden. Darüber können t-Tests keine Aussagen treffen. Zudem ist es bei der Auswahl des geeigneten t-Test-Verfahrens wichtig, ob die gewählten Stichproben voneinander unabhängig (Beispiel: alle Probanden absolvieren den gleichen Test und werden bei der Auswertung in Frauen und Männer aufgeteilt) oder abhängig sind (alle Probanden durchlaufen mehrere Teststufen und diese Teststufen sollen dann auf statistische Unterschiede geprüft werden). In meinem Untersuchungsdesign liegen beide Fälle vor (Zwischengruppendesign der Fragebögen 1 bis 3, Messwiederholungsdesign in Fragebogen 4). Varianzanalysen/ANOVA Varianzanalysen erfüllen letztlich denselben Zweck wie die eben besprochenen tTests. Sie kommen allerdings dann zum Einsatz, wenn die Mittelwerte von mehr als zwei Stichproben untersucht werden sollen. Auch hier gibt es Varianten, die unabhängige und abhängige Stichproben adressieren, sowie die Möglichkeit, ein oder mehrere Variablen in das statistische Modell aufzunehmen. An dieser Stelle möchte ich noch auf einige weitere wichtige technische Aspekte für die Analyse hinweisen: Bei multiplen Testverfahren (Korrelationen, ANOVA etc.) habe ich mich pragmatisch für die konservative Bonferroni-Korrektur des Signifikanzniveaus entschieden (vgl. Bortz, 1999, S. 261). Signifikanzniveaus gebe ich wie folgt mit Sternchen an: * = p ≤ .05; ** = p ≤ .01; *** = p ≤ .001. Des Weiteren sei an dieser Stelle ein kurzes Wort zum Umgang mit tendenziell statistisch signifikanten Befunden verloren. Da ich mich mit meinen Fragestellungen der Studie nicht auf dem Boden klinischer Psychologie befinde, sondern eher sozialwissenschaftliche Aspekte im Vordergrund stehen und somit durchaus auch Ergebnisse auf einem Signifikanzniveau über p=.05 für die inhaltliche Interpretation von Bedeutung sein können, habe ich mich für folgende Richtlinie entschieden (vgl. Friese, Hofmann, Naumann und Rasch, 2010, S. 57 f.): Tendenziell statistisch signifikante Befunde liegen bei .05 < p ≤ .1 vor. In diesem Fall gebe ich die p-Werte gesondert an, weitergehende Analysen (z.B. Post Hoc-Tests bei ANOVA) lasse ich dann jedoch überwiegend außen vor. Da das Signifikanzniveau allein noch keine sinnvollen Aussagen über die Qualität der statistischen Befunde erlaubt, gehe ich darüber hinaus selbstverständlich auch auf die entsprechenden Effektstärken ein. Dabei arbeite ich mit den allgemein üblichen Werten. So wird etwa Cohen’s d mit d ≥ .20 (schwacher Effekt), d ≥ .50 (mittlerer Effekt) und d ≥ .80 (starker Effekt) interpretiert (vgl. Cohen, 1988
170 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
oder Bortz und Döring, 1995), das partielle η² (ANOVAs) hingegen mit η² NB (t(267)=1.23; p=.002; n=269) dcohen=.439 (schwacher Effekt) NB > AB (t(265)=4.13; p=.000; n=267) dcohen=.587 (mittlerer Effekt) AB > NB (t(263)=2.78; p=.006; n=265) dcohen=.403 (schwacher Effekt)
310
4.30
3.97 (1.22)
4.42 (1.3)
AB > NB (t(265)=2.46; p=.014; n=267) dcohen=.352 (schwacher Effekt)
176 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
9.3.4 Ost und West statt Ost gegen West? – Fazit Zusammenfassend lassen sich auf Grundlage des vorliegenden Datenmaterials folgende Erkenntnisse zu Einstellungen von Akteuren im Musikleben festhalten: • Der aktiven Auseinandersetzung mit Kultur und kulturellen Traditionen wird
ein wichtiger Stellenwert in Bezug auf die deutsch-deutsche Integration nach 1990 bis heute beigemessen. • Die deutsche Wiedervereinigung und ihre Ergebnisse werden überwiegend positiv beurteilt. • Denken und Fühlen der Menschen sind jedoch noch nicht vollständig frei von scheinbar überwundenen Denkmustern und Vorbehalten. • Es gibt statistisch signifikant nachweisbare Unterschiede in den Einstellungen und Urteilen zwischen Probanden aus Ost- und Westdeutschland. Vor allem die Befunde in Bezug auf die »Mauer in den Köpfen« geben zu denken. Sowohl die Unterschiede in der Wahrnehmung der ost- und westdeutschen Probanden als auch das gesamtdeutsche Mittel deuten auf eine noch immer bestehende, wenn auch sicher mittlerweile abgeschwächte Existenz und Relevanz ebenjener »Mauer in den Köpfen« hin. Dabei ließe das Durchschnittsalter der Probanden mit ca. 30 Jahren durchaus vermuten – folgt man der öffentlichen Wahrnehmung – dass im allgemeinen Denken und Empfinden verwurzelte Ost-WestMuster und entsprechende Vorurteile bei jüngeren Menschen nicht mehr so stark ausgeprägt sein sollten. Andererseits bedeutet dieses Ergebnis jedoch nicht zwangsläufig, dass die Probanden selbst noch in Kategorien einer »Mauer in den Köpfen« denken und handeln. Die allgemein gehaltene Formulierung der Aussage lässt vielleicht eher auf überindividuelle, abstrahierte Einschätzungen schließen. Zumindest spricht dies aber für eine Sensibilität der Probanden für die zugrundeliegende Problematik. Dass die »Mauer in den Köpfen« überhaupt nicht mehr oder nur noch sehr vereinzelt existiert, lässt sich jedenfalls nicht feststellen. In diesem Sinne ließen sich die Einstellungen der Akteure im Musikleben am ehesten wie folgt beschreiben: Im Denken und Fühlen der Menschen gibt es noch immer Ost und West – diese sind jedoch zwei Seiten der gleichen gesamtdeutschen Medaille und werden überwiegend nicht mehr gegeneinander ausgespielt. Ausgehend von diesen Befunden, die sich im Wesentlichen mit dem differenzierten Bild der bisherigen Kapitel decken, gehe ich im Folgenden nun mit detaillierten statistischen Analysen der Fragebögen auf die eingangs dargestellten Fragestellungen in Bezug auf die Wahrnehmung von Musik als ästhetisch-emotionalem Phänomen mit spezifischen gesellschaftlichen Hintergründen ein.
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 177
9.4 DATENREDUKTION UND ABSTRAKTION DER MUSIKALISCHEN STIMULI 9.4.1 Datenreduktion von Variablen zu Faktoren Die Fragebögen beinhalten eine Fülle unterschiedlicher Variablen, von deren heterogenen Einflüssen auf die Bewertung der musikalischen Stimuli durch die Probanden ich weiter unten einen kompakten Eindruck geben werde. Um statistische Analysen zu ermöglichen, die über eine bloße Darstellung der Vielfalt und schieren Menge an einfachen Korrelationen hinausgehen und stattdessen auf Grundlage von Regressionsanalysen Prognosen über die Bewertung der Musik anhand konkreter Prädiktoren zulassen, liefert eine Reduktion des Datenmaterials mithilfe von Faktoranalysen und bei Bedarf ergänzenden Verfahren ebensolche Prädiktoren/Faktoren. Die Resultate dieser Datenreduktion sind im Folgenden im Sinne der Übersichtlichkeit und des Leseflusses knapp zusammengefasst (Tab. 12; AS = Auseinandersetzung; ZGD = Zwischengruppendesign; MWD = Messwiederholungsdesign). Um sowohl dem interessierten Leser die rechnerischen Grundlagen und daraus resultierenden Entscheidungen nicht vorzuenthalten als auch die nötige methodische Transparenz zu wahren, sind die detaillierten Ergebnisse der Faktoranalysen in Anhang 3 zu finden. Tabelle 12: Datenreduktion – Ausgangsvariablen und reduzierte Faktoren/Prädiktoren Ausgangsvariablen
reduzierte Faktoren/Prädiktoren
musikalische Expertise Anzahl Unterrichtsjahre am Instrumusikalische Expertise ment, Konzertbesuche pro Jahr, Musikhören pro Woche (Stunden) Auseinandersetzung mit politischen Themen Auseinandersetzung (AS) mit allgeAS mit politischen Themen meinen politischen Themen; AS mit Wirtschaftspolitik; Aus. mit Kulturpolitik Auseinandersetzung mit künstlerisch-kulturellen Themen AS mit Bildenden Künsten; AS mit AS mit künstlerisch-kulturellen TheLiteratur; AS mit Darstellenden men Künsten; AS mit Tanz
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Auseinandersetzung mit diversen Musikgenres AS mit Klassik; AS mit ZG Musik; ZGD/MWD: AS mit Kunstmusik AS mit Jazz; AS mit Rockmusik; AS (Klassik, ZG, Jazz); AS mit elektromit Popmusik; AS mit Hard nischer und/oder stark rhythmisch Rock/Heavy Metal; AS mit Schlager; basierter Musik (Pop, Schlager, AS mit Volksmusik; AS mit Hip Techno/Dance/House, Hip Hop/Rap; AS mit Hop/Rap); AS mit Rockmusik (Rock, Techno/Dance/House; AS mit außer- Hard Rock/Metal) europäischer Musik; AS mit europäi- ZGD: AS mit exotischer und/oder scher Folklore folkloristischer Musik (außereurop. Musik, europ. Folklore) MWD: AS mit exotischer, folkloristischer und/oder kommerziell-volkstümlicher Musik (außereurop. Musik, europ. Folklore, Schlager, Volksmusik) Auseinandersetzung mit Musikszenen AS mit Szene für Neue Musik; AS AS mit Szenen für Popularmusik mit Szene für Alte Musik; AS mit (Popszene, Rockszene); AS mit SzeJazzszene; AS mit Rockszene; AS nen für Kunstmusik (Alte-Musikmit Popszene Szene, Neue-Musik-Szene, Jazzszene) Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung aktive AS mit kult. Erbe der NB ist Stellenwert des Kulturbereichs im wichtig; Wiedervereinigung ist abge- Prozess der Wiedervereinigung; schlossen; »Mauer in den Köpfen« Bewertung der Wiedervereinigung, existiert noch; Kulturbereich ist eine ihrer Ergebnisse und der aktuellen wichtige Aushandlungsplattform der politischen Lage dt.-dt. Integration; Bewertung der Ergebnisse der Wiedervereinigung; Bewertung der aktuellen politischen Lage in Deutschland Interessanterweise zeigt sich im Datenmaterial anhand der Faktorladungen (siehe Anhang 3 > Datenreduktion > Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung), dass die Haltung zur sogenannten »Mauer in den Köpfen« und die Wahrnehmung des Stellenwerts des Kulturbereichs im deutschen Einigungsprozess in der Probandengruppe meiner Studie offenbar teilweise zusammenhängen. Hier wäre eine
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genauere Betrachtung im Rahmen einer ausweitenden Folgeuntersuchung sicher gewinnbringend. Die Datenreduktion hinsichtlich der musikalischen Präferenzen der Probanden erfolgt als Kompromisslösung auf Grundlage verschiedener Analyseverfahren unter Einbezug inhaltlicher Überlegungen und wird daher nun separat dargestellt. Zudem möchte ich an dieser Stelle einen interessanten Querverweis zur Präferenzforschung einbringen. Zwischengruppendesign Den Ausgangspunkt bildet eine multidimensionale Skalierung, deren Ergebnis in Abbildung 26 zu sehen ist (erklärte Streuung=.973; Kongruenzkoeffizient nach Tucker=.986). Nach Einbezug einer Faktoranalyse (Chi-Quadrat(66)=227,807***; KMO=.593; Vier-Faktorlösung; 65,11% Erklärung der Varianz), Betrachtung der einzelnen Korrelationen zwischen den Präferenzen sowie inhaltlichen Überlegungen ergeben sich folgende vier Gruppierungen als sinnvollste Kategorisierung: »Präferenz Kunstmusik«, »Präferenz elektronische und/oder stark rhythmisch basierte Musik«, »Präferenz Rockmusik« und »Präferenz exotisch und/oder folkloristische Musik«. Die Variable »Präferenz Popmusik« lässt sich anhand der statistischen Verfahren nicht eindeutig zuordnen, wird aber aufgrund inhaltlicher Überlegungen der Kategorie »Präferenz elektronische und/oder stark rhythmisch basierte Musik« zugewiesen. In ihrem Short Test of Music Preferences (STOMP) nehmen Rentfrow und Gosling (2013) eine ähnliche, wenn auch nicht deckungsgleiche Einteilung musikalischer Präferenzen nach Genres vor. Vor allem ihre Zusammenfassung von klassischer Musik/ZG Musik/Jazz (»Reflective & Complex«), Rockmusik/Heavy Metal (»Intense & Rebellious«) sowie von Techno/Dance/Hip Hop (»Energetic & Rhythmic«) spiegelt sich auch in meinen Daten offenbar wider. Insofern dürften meine anhand des Datenmaterials generierten Kategorien auch der allgemeinen Wahrnehmung recht gut entsprechen. Messwiederholungsdesign Auch hier bildet wiederum eine multidimensionale Skalierung den Ausgangspunkt (Abb. 27) (erklärte Streuung=.957; Kongruenzkoeffizient nach Tucker=.978). Nach Einbezug einer Faktoranalyse (Chi-Quadrat(66)=199,022***; KMO=.528; Vier-Faktorlösung; 71,111% Erklärung der Varianz), Betrachtung der einzelnen Korrelationen zwischen den Präferenzen sowie inhaltlichen Überlegungen ergeben sich auch hier folgende vier Gruppierungen als sinnvollste Kate-
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gorisierung: »Präferenz Kunstmusik«, »Präferenz elektronische und/oder stark rhythmisch basierte Musik«, »Präferenz Rockmusik« und »Präferenz exotisch, folkloristische und/oder kommerziell-volkstümliche Musik«. Wie schon im Zwischengruppendesign der Fragebögen 1 bis 3 scheint auch diesmal die Einteilung im Groben recht gut mit der Kategorisierung des STOMP von Rentfrow und Gosling (2013) zu korrespondieren. Insbesondere der vierte Faktor zeigt die in diesem Fall auftretenden partiellen Unterschiede zwischen den beiden Designs der Fragebögen auf. An dieser Stelle wären weitere Analysen nötig, um die Dimensionen noch besser aufzuklären. Angesichts der ohnehin schon gegebenen Fülle an Überlegungen und des explorativen Charakters der Arbeit erlaube ich mir jedoch, dies auf zukünftige Untersuchungen zu verlegen. Abbildung 26: Multidimensionale Skalierung – musikalische Präferenzen (Zwischengruppendesign) (SPSS-Grafik)
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Abbildung 27: Multidimensionale Skalierung – musikalische Präferenzen (Messwiederholungsdesign) (SPSS-Grafik)
9.4.2 Abstraktion der musikalischen Stimuli – Kategorien Rockmusik/ZG Musik und Musik Ost/West Die in der Studie verwendeten musikalischen Stimuli repräsentieren für sich genommen jeweils Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund sowie Rockmusik und Zeitgenössische Musik. Davon ausgehend stellt sich die Frage, ob das verwendete musikalische Material und die mit seiner Hilfe erhobene Datenbasis geeignet sind, von den einzelnen Stimuli abstrahierte übergreifende Aussagen über Musik aus Ost- und Westdeutschland beziehungsweise über Rockmusik und Zeitgenössische Musik vor diesem spezifischen thematischen Hintergrund zu treffen. Im Folgenden soll daher mittels statistischer Verfahren eruiert werden, ob sich eine abstrakte Kategorisierung in »Rockmusik«, »Zeitgenössische Musik«, »Musik mit ostdeutschem Hintergrund« sowie »Musik mit westdeutschem Hintergrund« auch auf analytischem Weg aus dem vorliegenden Datenmaterial ableiten lässt. Konkret wird dazu zunächst getestet, inwieweit die einzelnen Bewertungen der musikalischen Stimuli untereinander korrelieren. Korrelationen würden bereits für eine Zusammenfassung sprechen. Zur Verifizierung dieser Annahme und zur Schaffung einer besseren Entscheidungsgrundlage bei uneindeutigeren Korrelationsergebnissen dienen in einem zweiten Schritt erneut Faktoranalysen. Um die
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individuellen Entscheidungsprozesse, die aufgrund der Befunde im Detail in einigen Fällen nötig sind, hier sorgfältig transparent zu machen, sind die Resultate der Faktoranalysen im Folgenden dargestellt. Die Korrelationstabellen hingegen können wiederum in Anhang 3 eingesehen werden. 9.4.2.1 Rockmusik/ZG Musik Rockmusik – ZGD Die Faktoranalyse (Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=206.907***; KMO=.620) bestätigt die Annahme anhand der Korrelationen, dass sich die vier Variablen für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von Rockmusik« eignen (59,453% Varianzaufklärung), der somit in den folgenden Analysen zum Einsatz kommen kann. Rockmusik – MWD (ohne Zusatzinformationen) Auch hier bestätigt eine Faktoranalyse (Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=145.663***; KMO=.509), dass sich die vier Variablen für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von Rockmusik« eignen (62,697% Varianzaufklärung) eignen. Rockmusik – MWD (mit Herkunftslabel) In diesem Fall weisen die statistischen Befunde auf eine etwas kompliziertere Situation hin. Nicht alle vier Variablen korrelieren durchgängig statistisch signifikant miteinander. Jedoch lassen sich auf vermitteltem Wege über jede Variable anhand der anderen Variablen Aussagen treffen, da keine Variable überhaupt nicht korreliert. Es ist also eventuell anzunehmen, dass dieses Ergebnis aufgrund der nicht übermäßig großen Stichprobe der Studie zufällig zustande kommt, zumal die anderen Analysen hinsichtlich der Bewertung von Rockmusik bislang darauf hin deuten, dass die vier Variablen zu einem übergeordneten Faktor zusammengefasst und auf diese Weise abstraktere Aussagen über die Bewertung von Rockmusik getroffen werden können. Daher wird in diesem Fall nach reiflicher Abwägung ebenso verfahren.
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Rockmusik – MWD (mit Namenslabel) Hier wiederum eignen sich laut Korrelationen und Faktoranalyse (Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=104.690***; KMO=.455 [etwas niedrig]) die vier Variablen unkompliziert für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von Rockmusik« (60,201% Varianzaufklärung). ZG Musik – ZGD Gleiches gilt für diese Variablen (Faktoranalyse: Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)= 380.822***; KMO=.612), die sich ebenfalls für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von ZG Musik« eignen (73,865% Varianzaufklärung). ZG Musik – MWD (ohne Zusatzinformationen) Auch (Faktoranalyse: Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=262.010***; KMO=.710) hier steht einer Zusammenfassung der Variablen in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von ZG Musik« (83,760% Varianzaufklärung) nichts entgegen. ZG Musik – MWD (mit Herkunftslabel) Diese Variablen (Faktoranalyse: Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=170.026***; KMO=.730) sind ebenfalls für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von ZG Musik« (79,122% Varianzaufklärung) geeignet. ZG Musik – MWD (mit Namenslabel) Gleiches (Faktoranalyse :Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=232.203***; KMO= .788) gilt für die Zusammenfassung dieser Variablen in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von ZG Musik« (85,219% Varianzaufklärung). 9.4.2.2 Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund Musik mit ostdeutschem Hintergrund – ZGD In diesem Fall gestaltet sich die Abstraktion wieder etwas komplizierter, da die Korrelationen uneindeutiger ausfallen. Unter Einbezug der Faktoranalyse (Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=89.186***; KMO=.523) erweist sich eine Zwei-FaktorLösung (75,612% Varianzaufklärung) mit den übergreifenden Faktoren »Bewertung von Rockmusik mit ostdeutschem Hintergrund« sowie »Bewertung von ZG Musik mit ostdeutschem Hintergrund« als sinnvollstes Modell. Zumindest lässt sich jedoch zuverlässig feststellen, dass die Parameter Vertrautheit und Gefallen aus statistischer Sicht in aggregierter Form Aussagen über die Bewertung der musikalischen Stimuli zulassen.
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Musik mit ostdeutschem Hintergrund – MWD (ohne Zusatzinformationen) Hier wiederum sprechen sowohl die Korrelationen als auch die Faktoranalyse (Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=113.494***; KMO=.432 [etwas niedrig]) dafür, dass sich die vier Variablen für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von Musik mit ostdeutschem Hintergrund« (57,864% Varianzaufklärung) eignen. Musik mit ostdeutschem Hintergrund – MWD (mit Herkunftslabel) Auch hinsichtlich der Musik mit ostdeutschem Hintergrund im Messwiederholungsdesign mit Herkunftslabel stellt sich die Situation etwas komplizierter dar. Da jedoch drei Variablen durchgängig miteinander korrelieren, fällt die Wahl der Lösung in diesem Fall leichter. Der übergeordnete Faktor wird aus den Variablen »Vertrautheit Ostrock Herkunft«, »Gefallen Ost ZG Herkunft« sowie »Vertrautheit Ost ZG Herkunft« abstrahiert. Die Faktoranalyse (Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=56.415***; KMO=.541) mit einer Zwei-Faktor-Lösung spricht ebenfalls für dieses Vorgehen (51,476% Varianzaufklärung durch Faktor 1; »Gefallen Ostrock Herkunft« wäre Faktor 2). Musik mit ostdeutschem Hintergrund – MWD (mit Namenslabel) Hier weisen die statistischen Befunde ebenfalls auf eine etwas kompliziertere Situation hin. Die sehr heterogenen Korrelationen lassen keine schnellen Schlüsse zu. Zudem erlaubt das Datenmaterial keine Faktoranalyse. Jedoch lassen sich auch in diesem Fall auf vermitteltem Wege über jede Variable anhand der anderen Variablen Aussagen treffen, da keine Variable überhaupt nicht korreliert. Es ist also eventuell erneut anzunehmen, dass das Ergebnis aufgrund der nicht übermäßig großen Stichprobe der Studie zufällig zustande kommt, zumal alle anderen Analysen hinsichtlich der Bewertung von Musik mit ostdeutschem Hintergrund (siehe Analysen zu den Settings 1 und 2 in diesem Kapitel) darauf hin deuten, dass die vier Variablen zu einem übergeordneten Faktor zusammengefasst und auf diese Weise abstraktere Aussagen über die Bewertung von Musik mit ostdeutschem Hintergrund getroffen werden können. Daher wird in diesem Fall ebenso verfahren. Musik mit westdeutschem Hintergrund – ZGD In diesem Fall ergibt sich der gleiche Befund wie bei der Musik mit ostdeutschem Hintergrund. Ebenfalls unter Einbezug einer Faktoranalyse (Bartlett-Test: ChiQuadrat(6)=125.277***; KMO=.548) erweist sich eine Zwei-Faktor-Lösung (79,286% Varianzaufklärung) mit den übergreifenden Faktoren »Bewertung von Rockmusik mit westdeutschem Hintergrund« sowie »Bewertung von ZG Musik
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mit westdeutschem Hintergrund« als sinnvollstes Modell. Auch hier lässt sich zuverlässig feststellen, dass die Parameter Vertrautheit und Gefallen aus statistischer Sicht in aggregierter Form Aussagen über die Bewertung der musikalischen Stimuli zulassen. Musik mit westdeutschem Hintergrund – MWD (ohne Zusatzinformationen) Korrelationen und Faktoranalyse (Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=112.273***; KMO=.558) zeigen hier wiederum, dass sich die vier Variablen unkompliziert für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von Musik mit westdeutschem Hintergrund« eignen (57,864% Varianzaufklärung). Musik mit westdeutschem Hintergrund – MWD (mit Herkunftslabel) Gleiches gilt für diese Variablen (Faktoranalyse: Bartlett-Test: Chi-Quadrat(6)=52.187***; KMO=.581), die sich für eine Zusammenfassung in einem übergreifenden Faktor »Bewertung von Musik mit westdeutschem Hintergrund« eignen (76,308% Varianzaufklärung). Die Variable »Gefallen Westrock Herkunft« weist dabei in einem Zwei-Faktor-Modell eine Querladung bei ebenfalls hoher Ladung auf Faktor 1 auf, weshalb an einem gemeinsamen übergeordneten Faktor festgehalten wird. Musik mit westdeutschem Hintergrund – MWD (mit Namenslabel) Auch hier erschweren die sehr heterogenen Korrelationen sowie der Umstand, dass eine Faktoranalyse vom Datenmaterial nicht ermöglicht wird, die Entscheidung. Jedoch lassen sich wiederum auf vermitteltem Wege über jede Variable anhand der anderen Variablen Aussagen treffen, da keine Variable überhaupt nicht korreliert. Es ist also erneut anzunehmen, dass dieser Befund aufgrund der nicht übermäßig großen Stichprobe der Studie zufällig zustande kommt, zumal alle anderen Analysen hinsichtlich der Bewertung von Musik mit westdeutschem Hintergrund (siehe Auswertung der Fragebögen 1 bis 3 sowie die Analysen zu den Settings 1 und 2 in diesem Kapitel) darauf hin deuten, dass die vier Variablen zu einem übergeordneten Faktor zusammengefasst und auf diese Weise abstraktere Aussagen über die Bewertung von Musik mit ostdeutschem Hintergrund getroffen werden können. Daher wird auch hier ebenso verfahren. 9.4.2.3 Zusammenfassung Durch die Generierung übergreifender Faktoren konnten die musikalischen Stimuli auf einem abstrakten Niveau zusammengeführt werden. Somit lassen sich nun übergreifende Aussagen nicht nur zu einzelnen Stimuli treffen, sondern auch zu Rockmusik und Zeitgenössischer Musik mit ost- und westdeutschem
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Hintergrund insgesamt. So gewinnen die weiteren Analysen an Relevanz und Aussagekraft. Für diese ergeben sich nun also die folgenden sechs konkreten Faktoren für das Zwischengruppendesign der Fragebögen 1 bis 3: • • • • • •
Bewertung von Rockmusik Bewertung von Zeitgenössischer Musik Bewertung von Rockmusik mit ostdeutschem Hintergrund Bewertung von Rockmusik mit westdeutschem Hintergrund Bewertung von Zeitgenössischer Musik mit ostdeutschem Hintergrund Bewertung von Zeitgenössischer Musik mit westdeutschem Hintergrund
sowie, sogar noch ein Stück weit abstrahierter, die folgenden vier Faktoren für das Messwiederholungsdesign von Fragebogen 4: • • • •
Bewertung von Rockmusik Bewertung von Zeitgenössischer Musik Bewertung von Rockmusik mit ostdeutschem Hintergrund Bewertung von Rockmusik mit westdeutschem Hintergrund
9.5 FORSCHUNGSFRAGE 1: KOMPLEXE EINFLÜSSE AUF DIE BEWERTUNG DER MUSIKALISCHEN STIMULI Nach diesem recht technisch angelegten Exkurs in die Datenreduktion zur Erhöhung des Abstraktionsgrades komme ich im Folgenden nun mit konkreten Ergebnissen auf die erste übergreifende Fragestellung zurück: Welche Variablen beeinflussen die Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund und welche Faktoren/Prädiktoren eignen sich zur Vorhersage der Bewertung? 9.5.1 Variablen und ihre Wirkung auf die Wahrnehmung und Bewertung der Musik Die Fragebogenerhebung stellt eine Vielzahl einzelner Variablen bereit, wodurch sich in Verbindung mit der Bandbreite der eingesetzten musikalischen Stimuli eine beachtliche Datenmenge ergibt. Deren umfassende analytische Erschließung und Darstellung hinsichtlich der gegebenen Fragestellung mithilfe von Korrelationsanalysen würde sowohl an dieser Stelle als auch bei einer Auslagerung der
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Ergebnisse in den Anhang den Rahmen mehr als sprengen. Zudem muss bei der Fülle an statistisch signifikanten Korrelationen, die sich im Datenmaterial finden lassen, stets die Möglichkeit von Zufallsbefunden bedacht werden, deren inhaltliche Aussagekraft stark begrenzt ist. Angesichts dieser Ausgangslage wäre es nun vermutlich naheliegend, eine kleine Auswahl an Einzelbefunden vorzustellen, die besonders auffällige Zusammenhänge repräsentieren und zur Diskussion stellen. Dies wiederum würde jedoch der Komplexität des Themas und der quantitativen Stärke der Datenbasis aus meiner Sicht nur unzureichend gerecht werden. Zugleich möchte ich den explorativen und damit auch bewusst einer gewissen Metaebene verpflichteten Charakter meiner Studie nicht in der analytischen Kleinteiligkeit verlieren. Aus diesem Grund werde ich im Folgenden einige Grafiken präsentieren, die die Heterogenität der einzelnen korrelativen Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Variablen und der Bewertung der musikalischen Stimuli abbilden, auf bereits abstrahierter Ebene zusammenfassen und somit hinsichtlich der Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund sowie von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik vergleichbar machen. Diese kleinen Vorgriffe auf die weiteren übergeordneten Forschungsfragen mögen mir an dieser Stelle nachgesehen und stattdessen als erste Indizien für nachfolgende Analysen und Erkenntnisse aufgefasst und im Auge behalten werden. Für die Grafiken habe ich die einzelnen Variablen heuristisch zu inhaltlich sinnvollen Kategorien zusammengefasst, welche jedoch ausdrücklich noch keine statistisch im Datenmaterial angelegte Kategorisierung abbilden. Dieser Schritt erfolgt weiter unten auf Grundlage der oben aufgezeigten Datenreduktion. Die Darstellung repräsentiert den jeweiligen prozentualen Anteil aller zu den jeweiligen Kategorien gehörigen Variablen, die statistisch signifikante Zusammenhänge mit den Bewertungen der Stimuli aufweisen. Diesen Anteil habe ich wie folgt berechnet: Anzahl der statistisch signifikanten Korrelationen * Faktor für die Effektstärken (1 = schwacher Effekt; 2 = mittlerer Effekt; 3 = starker Effekt) / Anzahl aller Tests. Mit dem Begriff »Effektstärke« meine ich dabei den Anhand der Korrelationskoeffizienten ablesbaren Effekt, die ja bereits an sich etwas über dessen Größe aussagen. Positive und negative Korrelationen mitteln sich nicht aus, sondern gehen gleichwertig als Betragswert in die Darstellung ein. Die musikalischen Stimuli wiederum sind in den Grafiken zu den jeweils interessierenden Vergleichskategorien zusammengefasst.
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9.5.1.1 Vergleich Ost – West Zwischengruppendesign (FB 1-3) Vergleicht man die Korrelationen der Variablen mit der Bewertung der Musik hinsichtlich des ost- oder westdeutschen Hintergrunds der Stimuli, ergibt sich in wie beschrieben abstrahierter Weise folgendes Bild (»AS« = Auseinandersetzung mit; »WV« = Wiedervereinigung; »Wahrn. O/W« = Wahrnehmung des ost- oder westdeutschen Hintergrunds von Musik; »Bekannth. Komp.« = Bekanntheit von Komponisten/Repertoirekenntnisse) (Abb. 28). Schon anhand dieser knappen Übersicht wird deutlich, dass eine detaillierte Auseinandersetzung mit einzelnen Zusammenhängen und den sehr unterschiedlich gelagerten Einflüssen der Variablen auf die Bewertung der musikalischen Stimuli durchaus lohnenswert und vielversprechend erscheint. So fallen beispielsweise die Unterschiede zwischen der musikalischen Expertise der Probanden und ihrer Auseinandersetzung mit Themen aus dem Bereich von Kunst und Kultur ins Auge. Auch die Diskrepanzen zwischen dem teils nicht unerheblichen Einfluss der Auseinandersetzung mit politischen Fragen auf die Bewertung der Musik bei gleichzeitig offenbar geringer Relevanz der Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung könnten einen interessanten Ansatzpunkt für weitere Untersuchungen darstellen. Dies ist jedoch eine Aufgabe, die an anderer Stelle fundiert in Angriff genommen werden sollte. Für den Moment mögen die folgenden zentralen Erkenntnisse genügen, womit neben dem unmittelbaren Bezug zur hier untersuchten Forschungsfrage 1 bereits Vorgriffe auf die Forschungsfragen 2 und 3 enthalten sind. • Die einzelnen Variablen und Variablenkategorien haben einen sehr unterschied-
lichen Einfluss auf die Bewertung der musikalischen Stimuli. • Das Setting der Fragebögen, also die unterschiedliche Verfügbarkeit von Zusatzinformationen in der Darbietung Musikausschnitte, hat in einigen Kategorien deutlichen Einfluss auf die Stärke der Korrelationen. So spielt beispielsweise die Auseinandersetzung mit politischen Themen bei der Bewertung der Stimuli eine größere Rolle, wenn keine Zusatzinformationen oder nur die Herkunft der Künstler angegeben sind. Bei der Nennung von Namen wird der Effekt deutlich reduziert. Die Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur dagegen wird vor allem im Fall der Nennung von Herkunft und Namen relevant. Die Einstellungen der Probanden zum Thema Wiedervereinigung sowie die individuelle Wahrnehmung des ost- oder westdeutschen Hintergrunds von Musik kommt wiederum besonders bei der expliziten Nennung der Herkunft der Künstler zum
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Tragen. Und während die Bekanntheit von Komponisten durchgängig (mit leichten Unterschieden) einen recht starken Einfluss auf die Bewertung der Musik zu nehmen scheint, spielen Variablen wie Alter, Geschlecht oder Herkunft der Probanden eine konstant untergeordnete Rolle. • Es gibt hinsichtlich der Einflüsse der Variablen durchaus Unterschiede in der
Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund. Diese fallen jedoch interessanterweise am geringsten aus, wenn die Herkunft der Künstler genannt ist, hingegen am stärksten, wenn neben der Herkunft auch noch die Namen der Künstler angegeben sind. Auch hier wäre eine tiefergehende Auseinandersetzung vielversprechend, ein plakatives Schwarz-Weiß-Bild ergibt sich definitiv nicht. Abbildung 28: Einfluss diverser Variablenkategorien auf die Bewertung der Stimuli – Ost-West (ZGD)
Messwiederholungsdesign (FB 4) Auch im Messwiederholungsdesign ergibt sich ein durchaus heterogenes Bild (Abb. 29). Sowohl die Zusatzinformations-Settings in der Darbietung der Stimuli als auch der ost- und westdeutsche Hintergrund der Musik nehmen Einfluss auf die Bewertungen. Allerdings fällt dieser je nach Variablen und Variablenkategorien sehr differenziert aus. Zum Teil ebnet die Verfügbarkeit von
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Zusatzinformationen die Bewertung der Musik ein, zum Teil kommen in diesen Settings einige Variablen jedoch auch stärker zum Tragen. Abbildung 29: Einfluss diverser Variablenkategorien auf die Bewertung der Stimuli – Ost-West (MWD)
9.5.1.2 Vergleich Rockmusik – ZG Musik Zwischengruppendesign (FB 1-3) Ein, wie vermutlich zu erwarten, etwas klareres Bild zeichnet der Vergleich von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik (Abb. 30). Auch hier zeigen sich im Detail diverse interessante, kleinere und größere Unterschiede zwischen den einzelnen Variablen und Kategorien. Übergreifend lässt sich jedoch Folgendes feststellen, wobei auch hier bereits erste Erkenntnisse zu den übergeordneten Forschungsfragen 2 und 4 anklingen. • Die Mehrzahl der Variablen hat einen deutlich größeren Einfluss auf die Bewer-
tung Zeitgenössischer Musik als auf die von Rockmusik. • Das Setting der Fragebögen spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Letzteres stellt sich in Bezug auf die Rockmusik eindeutiger dar. Hier sorgt, zumindest in den meisten Kategorien, die Angabe der Herkunft der Künstler für
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einen stärkeren Einfluss der Variablen auf die Bewertung der Musik. Stehen keine Informationen zur Verfügung oder werden Herkunft und Namen genannt, fallen die Zusammenhänge deutlich geringer aus. Bei der Bewertung der Zeitgenössischen Musik zeichnet sich ein differenzierteres Bild. Während hier beispielsweise die Nennung von Herkunft und Namen in einigen Kategorien zu einem verstärkten Einfluss auf die Bewertung der Musik führt (AS Kunst/Kultur, musikalische Expertise, Bekanntheit von Komponisten), verlieren andere Kategorien an Bedeutung (AS Politik, Personendaten). Abbildung 30: Einfluss diverser Variablenkategorien auf die Bewertung der Stimuli – Rockmusik-ZG Musik (ZGD)
Messwiederholungsdesign (FB 4) Die deutlichen Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik sind hier ebenfalls unübersehbar (Abb. 31). Auch die Differenzen zwischen den einzelnen Settings fallen ins Auge, wenn auch nicht pauschal und wiederum sehr unterschiedlich in den einzelnen Variablenkategorien.
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Abbildung 31: Einfluss diverser Variablenkategorien auf die Bewertung der Stimuli – Rockmusik-ZG Musik (MWD)
9.5.2 Faktoren und Prädiktoren zur Vorhersage der Bewertung der Musik Im Folgenden wende ich mich nun der Frage zu, inwiefern die oben von den einzelnen Variablen abstrahierten Faktoren als Prädiktoren für die Bewertung der musikalischen Stimuli herangezogen werden können. Dabei fasse ich in der Darstellung diese Faktoren bereits wieder zu inhaltlich stimmigen Kategorien zusammen. Um die Übersichtlichkeit auch hier zu gewährleisten, gehen ich jeweils nur auf die interessantesten statistischen Befunde ein. Die einzelnen Regressionsanalysen finden sich erneut als Tabellen in Anhang 3. Zur Ergänzung und statistischen Untermauerung der folgenden Darstellung mag also ein Blick in die Anhänge dienen. Technische Anmerkungen zu den statistischen Analysen Besagte Tabellen werden auf den ersten Blick etwas ungewöhnlich erscheinen, da sie nicht der gängigen Berichtsform von multiplen Regressionsanalysen entsprechen. Jedoch schien mir diese Darstellungsform angesichts der Anzahl der Analysen sowie des speziellen Anliegens, die Eignung der jeweiligen Faktoren als
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Prädiktoren mittels Ranglisten zu verdeutlichen, ein geeigneter Kompromiss zu sein. Die grundsätzliche statistisch-analytische Herangehensweise des angewandten Testverfahrens ist jedoch gegeben (vgl. Schwarz und Bruderer Enzler, 2019). Zunächst wird das multiple Regressionsmodell auf seine Güte geprüft, sprich mittels ANOVA auf Signifikanz getestet. Ist das Modell als Ganzes statistisch nicht signifikant, erfolgen keine weiteren Analyseschritte. Eine Anpassung des Modells wäre in diesem Fall natürlich, falls inhaltlich angebracht, ein angemessener Folgeschritt. Im begrenzten Rahmen meiner Studie musste ich dies jedoch als Aufgabe für zukünftige Untersuchungen belassen, um die Analysen nicht unnötig zu verkomplizieren. Im Falle der statistischen Signifikanz des Regressionsmodells werden dann die einzelnen Regressionskoeffizienten (Beta-Koeffizienten) ebenfalls auf Signifikanz getestet. In den Tabellen gebe ich neben dem Beta-Regressionskoeffizienten in Klammern auch den standardisierten Beta-Koeffizienten an. Auf diese Weise können die Einflüsse der Faktoren auf die Bewertung der Stimuli direkt miteinander verglichen werden. Zudem lässt sich anhand der standardisierten Beta-Koeffizienten (stand. β) die Effektstärke ablesen, da β in diesem Fall laut Peterson und Brown (2005) quasi mit dem Korrelationskoeffizienten r gleichgesetzt werden kann und sich entsprechend interpretieren lässt (r ≥ .1 = schwacher Effekt; r ≥ .3 = mittlerer Effekt; r ≥ .5 = starker Effekt; vgl. Cohen, 1992). Um Übersichtlichkeit zu wahren, unnötig viele leere Zellen zu vermeiden und auch aus publikationstechnischen Gründen, gebe ich in den Tabellen nur statistisch signifikante sowie tendenziell statistisch signifikante Befunde an. Wenn also das Regressionsmodell an sich bereits keine Signifikanz aufweist, wird es nicht in die Tabelle aufgenommen. Gleiches gilt im umgekehrten Fall (Modell signifikant, aber keine signifikanten Einzelprädiktoren). Ich bitte den Leser darum, mir diese streng genommen etwas unsaubere Form des Berichts statistischer Befunde angesichts der Fülle an Daten und Analysen nachzusehen und die Erkenntnisse stattdessen als Gewinn zu betrachten. 9.5.2.1 Musikalische Expertise ZGD (ohne Zusatzinformationen) Die Einzelbefunde im Zwischengruppendesign ohne Zusatzinformationen sind nicht unerwartet. Auffällig ist, dass sich sowohl im Bereich der Rockmusik als auch der Zeitgenössischen Musik vor allem bei Musik mit ostdeutschem Hintergrund Prädiktoren für die Bewertung finden lassen, allerdings nur hinsichtlich der Vertrautheit mit den Musikausschnitten.
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ZGD (mit Herkunftslabel) Im Zwischengruppendesign mit Herkunftslabel ergibt sich ein durchaus interessantes gemischtes Bild. Dass ein positives Gefallensurteil von Rockmusik (allerdings nur ostdeutscher) mit einer geringen Auseinandersetzung mit Kunstmusikszenen einhergeht (stand. β: -.544*), scheint nicht verwunderlich. Bemerkenswert ist jedoch der Zusammenhang zwischen der Auseinandersetzung mit Rockmusik und einer positiven Bewertung von Zeitgenössischer Musik mit ost- (stand. β: .495*) und westdeutschem (stand. β: .562*) Hintergrund hinsichtlich des Gefallens. Hörer, die diesem Genre zugeneigt sind, weisen also möglicherweise eine größere Offenheit auf, sich auch mit anderen Genres intensiver auseinanderzusetzen. Schwer zu erklären ist jedoch, dass sich eine geringere musikalische Expertise in einem positiveren Gefallensurteil zu Zeitgenössischer Musik, in diesem Fall mit westdeutschem Hintergrund (stand. β: -.413*), niederschlägt. Hier hätte man gewiss das Gegenteil erwartet und müsste diesem Zusammenhang auf den Grund gehen – sofern es sich nicht schlicht um einen Zufallsbefund ohne Relevanz handelt. ZGD (mit Namenslabel) Im Setting von Fragebogen 3 können deutlich mehr Faktoren als Prädiktoren für die Bewertung der Musik fungieren als in den beiden vorangegangenen Settings. Die Nennung von Namen spielt demnach offensichtlich eine große Rolle. Allerdings zeigt sich hier vor allem eine ungleichmäßige Verteilung der Prädiktoren auf die musikalischen Stimuli. Allgemeine Tendenzen hinsichtlich Rockmusik/ZG Musik, Ost/West oder Gefallen/Vertrautheit sind nicht festzustellen. MWD (ohne Zusatzinformationen) Vor allem ein Befund erscheint in diesem Fall durchaus interessant und wäre gewiss ein vielversprechender Ausgangspunkt für weiterführende Untersuchungen: Die positive Bewertung Zeitgenössischer Musik lässt sich hier zum Teil mit einem höheren Maß an Beschäftigung mit Rockmusik erklären. Allerdings gilt dies nur in Bezug auf Zeitgenössische Musik mit ostdeutschem Hintergrund (stand. β: .319*). MWD (mit Herkunftslabel) Interessanterweise lässt sich die Vertrautheit mit Zeitgenössischer Musik im Messwiederholungsdesign mit Herkunftslabel sowohl mit ost- als auch mit westdeutschem Hintergrund teilweise durch ein erhöhtes Maß an Auseinandersetzung mit Themen aus dem Bereich der Popularmusik (Ausnahme Popularmusikszenen bei ZG Musik West – stand. β: -.447*) erklären. Für westdeutsche Zeitgenössische
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Musik (AS elektronische/rhythmisch basierte Musik – stand. β: .491**; AS Rockmusik – stand. β: .356*) gilt dies noch stärker als für ihr ostdeutsches Pendant (AS elektronische/rhythmisch basierte Musik – stand. β: .338*). MWD (mit Namenslabel) Der in Setting 2 eruierte Befund, dass sich die Vertrautheit mit westdeutscher Zeitgenössischer Musik zum Teil mit einem höheren Maß an Auseinandersetzung mit popularmusikalischen Genres und Themen erklären lässt, bestätigt sich in Setting 3 des Messwiederholungsdesigns. Darüber hinaus hängen sowohl die Vertrautheit mit (stand. β: .488*) als auch das Gefallen an (stand. β: .476*) ostdeutscher Rockmusik mit der Auseinandersetzung mit künstlerisch-kulturellen Themen im Allgemeinen zusammen. 9.5.2.2 Musikalische Präferenzen ZGD (ohne Zusatzinformationen) Auch hinsichtlich des Einflusses der musikalischen Präferenzen im Zwischengruppendesign ohne Zusatzinformationen gibt es keine besonders überraschenden Ergebnisse. Dass sich das Gefallen an Zeitgenössischer Musik anhand einer hohen Präferenz für Kunstmusik und einer geringen Präferenz für Rockmusik (bzw. umgekehrt) vorhersagen lässt, entspricht der landläufigen Annahme, dass Kunstmusik und Rockmusik sehr verschieden rezipiert und bewertet werden, wenn auch beispielsweise Gembris (1995) andere Befunde ins Feld führen würde. Dies betrifft sowohl Musik aus Ostdeutschland als auch Musik mit westdeutschem Hintergrund. ZGD (mit Herkunftslabel) Auffällig im Zwischengruppendesign mit Herkunftslabel ist vor allem der positive Zusammenhang zwischen Gefallen (stand. β: .358*) beziehungsweise Vertrautheit (stand. β: .343*) hinsichtlich Zeitgenössischer Musik aus Westdeutschland und einer hohen Präferenz für elektronische und stark rhythmisch geprägte Musik. Entweder liegt dies im musikalischen Material der gewählten Stimuli begründet. Dagegen spricht jedoch der einseitige Befund bei westdeutscher Musik, es sei denn, an dieser Stelle kommt die Nennung der Herkunft der Künstler zum Tragen. Oder es zeigt sich wiederum eine größere musikalische Offenheit von Hörern, die Zeitgenössischer Musik zugeneigt sind. In letzterem Fall wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Offenohrigkeit hilfreich, welches in seiner Gestalt als äußerst kontrovers diskutiertes Forschungsthema zum Beispiel im 24. Band des Jahrbuchs der Deutschen Gesellschaft für Musikpsychologie (vgl.
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Auhagen, Bullerjahn und von Georgi, 2014) umfangreich und vielseitig beleuchtet wird. ZGD (mit Namenslabel) Im Gegensatz zu den anderen Settings tritt hier der Unterschied zwischen Rockmusik und Zeitgenössischer Musik noch deutlicher zutage. Während das Gefallen an ost- (stand. β: .604***) und westdeutscher (stand. β: .584**) Zeitgenössischer Musik mit der Präferenz für Kunstmusik einhergeht (was an sich wenig überrascht), finden sich für die Bewertung von Rockmusik überhaupt keine Prädiktoren. Der Zusammenhang zwischen der Vertrautheit mit ZG Musik aus Westdeutschland und einer höheren Präferenz für elektronische Musik (stand. β: .374*) kam in Setting 2 bereits zum Tragen. MWD (ohne Zusatzinformationen) Die Ergebnisse im Messwiederholungsdesign ohne Zusatzinformationen hingegen sind eindeutig und wenig überraschend. Die Bewertung von Rockmusik lässt sich durchgängig anhand der Präferenz für Rockmusik, hinsichtlich des Gefallens zudem anhand der Präferenz für exotisch-folkloristische Musik voraussagen. Denkt man an progressivere Rockbands, wie etwa an die DDR-Bands Electra oder City, die in ihrer Musik unter anderem auch auf folkloristische Elemente zurückgreifen, scheint dies durchaus plausibel. Die Bewertung Zeitgenössischer Musik wiederum geht durchgängig mit der Präferenz für Kunstmusik Hand in Hand. MWD (mit Herkunftslabel) Im Messwiederholungsdesign mit Herkunftslabel fällt lediglich der tendenziell signifikante positive Zusammenhang zwischen der Vertrautheit mit ostdeutscher Rockmusik und der Präferenz für Kunstmusik (stand. β: .236, p=.078) besonders auf. Dies spricht wiederum für die bereits weiter oben angesprochene Beobachtung, dass es im Falle von Musik mit ostdeutschem Hintergrund offenbar stärkere Zusammenhänge zwischen Kunst- und Popularmusik geben könnte. MWD (mit Namenslabel) Im Messwiederholungsdesign mit Namenslabel zeigt sich ebenfalls ein Zusammenhang zwischen der Vertrautheit der Probanden mit ostdeutscher Rockmusik und stärkeren Präferenzen für Kunstmusik (stand. β: .298*). Dies spricht erneut für die nun bereits wiederholt aufgestellte Vermutung, dass die Trennung zwischen Rockmusik und Zeitgenössischer Musik im ostdeutschen Kontext weniger stark ausfällt als im westdeutschen Bezugsrahmen.
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9.5.2.3 Politische Einstellungen ZGD (ohne Zusatzinformationen) Im Zwischengruppendesign ohne Zusatzinformationen fällt auf, dass sich positive Gefallensurteile in Bezug auf Zeitgenössische Musik sowohl mit ost- (stand. β: .518***) als auch mit westdeutschem (stand. β: .394**) Hintergrund anhand eines hohen Grades an Auseinandersetzung mit politischen Themen vorhersagen lassen, während der umgekehrte Zusammenhang jedoch nur für das Gefallen ostdeutscher Rockmusik gilt (stand. β: -.273*). ZGD (mit Herkunftslabel) Dass der Faktor der Auseinandersetzung mit politischen Themen als Prädiktor für die Bewertung Zeitgenössischer Musik (vor allem hinsichtlich der Vertrautheit; ZG Ost – stand. β: .323*; ZG West – stand. β: .347*) dienen kann, wird hier wie bei Fragebogen 1 deutlich. Hier kommt nun noch der durchgängige Zusammenhang zwischen positiven Einstellungen in Bezug auf das Thema Wiedervereinigung (mit kulturellem Fokus) und einer positiven Bewertung besonders von Rockmusik aus Ost- und Westdeutschland hinzu. ZGD (mit Namenslabel) Hier wird der zum Teil stark nivellierende Einfluss des Namenslabels in der Darbietung der musikalischen Stimuli auf die Bewertung deutlich. In diesem Fall gibt es sogar lediglich einen einzigen Zusammenhang zwischen der Vertrautheit mit Zeitgenössischer Musik aus Westdeutschland und der allgemeinen Auseinandersetzung mit politischen Themen (stand. β: .387*). MWD (ohne Zusatzinformationen) Auffällig im Messwiederholungsdesign ohne Zusatzinformationen ist vor allem, dass positive Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung im Kulturbereich ein positives Gefallensurteil hinsichtlich ostdeutscher Rockmusik erklären (stand. β: .254*), der Zusammenhang in Bezug auf die Vertrautheit mit westdeutscher Rockmusik sich jedoch genau umgekehrt darstellt (stand. β: -.229*). Eine genauere Untersuchung, zum Beispiel hinsichtlich der Herkunft der Hörer (ist hier etwa der Einfluss der ostdeutschen Hörer und ihrer Einstellungen besonders stark?), wäre an dieser Stelle sicher vielversprechend. MWD (mit Herkunftslabel) Politische Einstellungen scheinen in Setting 2 keinen starken Einfluss auf die Bewertung der Musikausschnitte zu haben. Interessant ist jedoch, dass eine negati-
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vere Einstellung zu den Ergebnissen der Wiedervereinigung tendenziell mit einer höheren Vertrautheit mit ost- (stand. β: -.201, p=.085) und westdeutscher (stand. β: -.197, p=.071) Rockmusik einhergeht. MWD (mit Namenslabel) In Setting 3 nimmt die Auseinandersetzung mit politischen Themen offenbar nur auf die Gefallensurteile zu Zeitgenössischer Musik, allerdings sowohl mit ost(stand. β: .348**) als auch mit westdeutschem (stand. β: .259*) Hintergrund, Einfluss. Die Vertrautheit der Probanden mit ostdeutscher Rockmusik hingegen zeigt einen positiven Zusammenhang mit ihren Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung im Kulturbereich (stand. β: .236*). 9.5.2.4 Zusammenfassung Die im Folgenden präsentierten Übersichten sind nach demselben Prinzip erstellt wie die Überblicksgrafiken zu den einzelnen Korrelationen beziehungsweise Variablenkategorien. Auch hier mitteln sich positive und negative Korrelationen nicht aus, sondern gehen als Betrag in die Darstellung ein. Erneut zeigen sich die Erkenntnisse hinsichtlich Forschungsfrage 1 nicht losgelöst von den drei übrigen Forschungsfragen. Vergleich Ost – West: Zwischengruppendesign (FB 1-3) Als zentrale Erkenntnisse lassen sich hier festhalten (Abb. 32): • Es gibt in einzelnen Faktorenkategorien leichte Unterschiede zwischen Musik
mit ost- und westdeutschem Hintergrund, insbesondere in Bezug auf die politischen Einstellungen. Diese fallen jedoch insgesamt moderat aus. • Das Setting der Fragebögen kommt in unterschiedlich starker Ausprägung zum Tragen. Während bei ostdeutscher Musik vor allem die Nennung von Namen die Ergebnisse etwas nivelliert, ist dies bei westdeutscher Musik eher beim Setting ohne Zusatzinformationen zu beobachten. Vergleich Ost – West: Messwiederholungsdesign (FB 4) Sowohl in Bezug auf den Hintergrund der Musik als auch hinsichtlich der verschiedenen Settings zeigen sich deutliche Unterschiede (Abb. 33). Allerdings wären auch an dieser Stelle weiterführende Analysen und Studien zu den einzelnen Faktoren und Kategorien nötig, um die einzelnen Differenzen im Detail gewinnbringend zu entschlüsseln.
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Abbildung 32: Zusammenfassung Regressionsanalysen – Faktorenkategorien-Bewertung der Stimuli; Ost-West (ZGD)
Abbildung 33: Zusammenfassung Regressionsanalysen Faktorenkategorien-Bewertung der Stimuli; Ost-West (MWD)
200 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Vergleich Rockmusik – ZG Musik: Zwischengruppendesign (FB 1-3) Die zu beobachtenden Unterschiede (Abb. 34) sind hier im Grunde genommen genauso gelagert wie in Bezug auf Musik aus Ost- und Westdeutschland. Auch in diesem Fall wäre eine detaillierte Untersuchung der einzelnen Zusammenhänge und Effekte in einer Folgestudie sicher fruchtbar. Vergleich Rockmusik – ZG Musik: Messwiederholungsdesign (FB 4) Im Messwiederholungsdesign sind die Unterschiede zwischen Rockmusik und Zeitgenössischer Musik ebenfalls nicht zu übersehen (Abb. 35). Abgesehen von einem erneuten Verweis auf gewiss fruchtbare Folgeuntersuchungen zu den Differenzen zwischen den Faktoren im Detail lässt sich eine Erkenntnis bereits festhalten: Bei der Bewertung von Rockmusik hat die Zugabe von Informationen offensichtlich Auswirkungen auf die Ergebnisse. Der Einfluss einzelner Faktoren auf die konkrete Bewertung ist in den Daten dieser Settings deutlich weniger stark messbar, als wenn keine Zusatzinformationen angeboten werden. Abbildung 34: Zusammenfassung Regressionsanalysen – Faktorenkategorien-Bewertung der Stimuli; Rockmusik-ZG Musik (ZGD)
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 201
Abbildung 35: Zusammenfassung Regressionsanalysen – Faktorenkategorien-Bewertung der Stimuli; Rockmusik-ZG Musik (MWD
9.5.3 Vorläufiges Fazit Ohne das Gesamtfazit zu dieser Forschungsfrage (siehe Kapitel 9.12) vorwegnehmen zu wollen, kann bereits hier die Fülle und Heterogenität der aufgezeigten Einflüsse diverser Variablen und Faktoren auf die Bewertung von Musik mit ostund westdeutschem Hintergrund festgehalten werden. Dies mag zum einem den explorativen Charakter und Ansatz meiner Studien untermauern, andererseits sollte es Mut für die weitere Erforschung von Musik als kulturellem Phänomen im Kontext der Nachwendezeit machen.
9.6 FORSCHUNGSFRAGE 2: KONTEXTINFORMATIONEN UND IHR EINFLUSS AUF DIE BEWERTUNG DER MUSIKALISCHEN STIMULI 9.6.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren Inwiefern hängt nun die Bewertung der Stimuli (repräsentiert durch die oben abstrahierten Kategorien) vom jeweiligen Setting der einzelnen Fragebögen, also der
202 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
unterschiedlich stark mit Zusatzinformationen besetzten Art der Darbietung der Musikausschnitte, ab? Zur statistischen Untersuchung dieser Frage kommt als Analyseverfahren eine einfache ANOVA zum Einsatz. Für die Auswertung des Messwiederholungsdesigns ist dabei zunächst ein Test auf Sphärizität mittels des Mauchly-Tests sowie bei deren Verletzung eine entsprechende Korrektur nach Greenhouse-Geisser beziehungsweise Huynh-Feldt nötig (vgl. Schwarz und Bruderer Enzler, 2019). Um die Darstellungen auch hier nicht zu überfrachten, findet sich eine entsprechend detailliertere Tabelle in Anhang 3, während die Befunde des Messwiederholungsdesigns an dieser Stelle knapper berichtet werden. Die ANOVA überprüft zuerst, ob sich die untersuchten Variablen in ihrer Ausprägung überhaupt voneinander unterscheiden. Bringt das Testverfahren statistisch signifikante Resultate hervor, folgt ein Post-Hoc-Test, mithilfe dessen zu klären ist, welche der untersuchten Variablen sich statistisch signifikant voneinander unterscheiden. Ausgehend von der eingangs umfangreich dargelegten Bestandsaufnahme zu allgemeinen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Fragen des aktuellen Status Quo im deutsch-deutschen Integrationsprozess möchte ich mich nicht scheuen, auch hier einige zu Tage tretende Unterschiede in der Bewertung von Musik anzunehmen. Während bei den allgemeinen Kategorien »Rockmusik gesamt« und »ZG Musik gesamt« vermutlich eher Phänomene wie der Prestigeeffekt und der Einfluss von Kontextinformationen auf musikalische Werturteile (vgl. Duerksen, 1972, oder Anglada-Tort, 2018) bei der Nennung von Herkunft und Namen eine Rolle spielen könnten, wäre es nicht verwunderlich, wenn die übrigen deutlich ost- bzw. west-assoziierten Kategorien unterschiedliche Bewertungen aufgrund immer noch greifender Vorbehalte und Sozialisationshintergründe der Hörer aufweisen würden. 9.6.2 Zwischengruppendesign Die statistischen Befunde sprechen für sich (Tab. 13). Sofern Hörer nicht unmittelbar mit der Möglichkeit unterschiedlich ausgeprägter Verfügbarkeit von Informationen zum Hintergrund der gehörten Musik konfrontiert werden (wie es im Messwiederholungsdesign der Fall sein wird), wirken sich die gegebenen Informationen nicht statistisch signifikant auf die Bewertung des Gehörten aus. Ein solch klares Ergebnis war aus meiner Sicht in dieser Form nicht unbedingt zu erwarten (siehe Annahmen). Für den Umgang mit Musik aus Ost- und Westdeutschland in der musikkulturellen Praxis, also beispielsweise in der Gestaltung von Konzertprogrammen und Spielplänen, stellt dies aber eine interessante und für so manchen in der Programmgestaltung tätigen Akteur vielleicht auch beruhigende
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 203
Erkenntnis dar. Vor dem eben gesehenen Hintergrund wäre beispielsweise die dezente, aber gezielte Kennzeichnung von Komponisten als ost- oder westdeutsch in Konzertprogrammen oder auf CD-Booklets etc. sowohl zur Einordnung als auch zur Sensibilisierung für die grundsätzlichen Aufmerksamkeits- und Marginalisierungsproblematiken durchaus denkbar. Umgekehrt wäre eine allzu aggressive Platzierung und die dadurch zu erwartende (Re-)Aktivierung von Vorurteilen und Befindlichkeiten selbstverständlich kontraproduktiv. Ebenso müsste sorgfältig inhaltlich überprüft werden, ob eine solche Einordnung überhaupt die Selbstwahrnehmung und -darstellung des betreffenden Komponisten abbildet bzw. die spezifische Situation des Künstlers adäquat aufgreift und widerspiegelt. Tabelle 13: Varianzanalysen: Settings – Bewertung der Stimuli (ZGD) Stimuli
n
ANOVA (Effektstärke)
Rockmusik gesamt ZG Musik gesamt
171 169
F(2,168)=1.657, p=.194, partielles η²=.019 F(2,166)=.865, p=.423, partielles η²=.010
Rockmusik mit ostdeutschem Hintergrund Rockmusik mit westdeutschem Hintergrund
170
F(2,167)=1.374, p=.256, partielles η²=.016
171
F(2,168)=1.444, p=.239, partielles η²=.017
ZG Musik mit ostdeutschem Hintergrund ZG Musik mit westdeutschem Hintergrund
168
F(2,165)=1.413, p=.246, partielles η²=.017
164
F(1,162)=1.497, p=.227, partielles η²=.018
9.6.3 Messwiederholungsdesign Im Gegensatz zum Zwischengruppendesign der Fragebögen 1 bis 3 nehmen die verschiedenen Settings im Messwiederholungsdesign des Fragebogens 4 durchgängig signifikanten Einfluss auf die Bewertung der musikalischen Stimuli (Tab. 14 und Abb. 36). Auffällig ist dabei insbesondere der Unterschied zwischen Rockmusik und Zeitgenössischer Musik. Während die Bewertung von Rockmusik bei Nennung von Herkunft und/oder Namen der Künstler positiver ausfällt als im Falle der Abwesenheit von Zusatzinformationen, führen vor allem die Namenslabel bei Zeitgenössischer Musik zu einer negativeren Bewertung der Musik. Bei Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund wiederum ist in beiden Fällen der gleiche Effekt wie bei Rockmusik zu beobachten.
204 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Tabelle 14: Varianzanalysen: Settings – Bewertung der Stimuli (MWD) Stimuli
n
Mittelwerte
Standardabw.
ANOVA (Effektstärke)
PostHoc
Rockmusik gesamt ohne Infos Herkunft Namen
91 91 91
2.92 3.55 3.45
1.15 .94 1.28
Mauchly-W(2)=.995, p=.797; F(2,180)=20.790***, p. η²=.188; n=91 (starker Effekt)
oI < N***
ZG Musik gesamt ohne Infos Herkunft Namen
77 77 77
2.95 3.02 2.70
1.39 1.49 1.40
Mauchly-W(2)=.865** (Korrektur nach HuynhFeldt); F(1.801,152)=6.729**, p. η²=.081; n=77 (mittlerer Effekt)
oI > N*
Musik mit ostdeutschem Hintergrund ohne Infos Herkunft Namen
84 84 84
2.84 3.26 3.11
1.16 1.43 1.27
MauchlyW(2)=.970,p=.292; F(2,166)=6.945**, p. η²=.077; n=84 (mittlerer Effekt)
oI < H**
Musik mit westdeutschem Hintergrund ohne Infos
89
3.08
1.19
MauchlyW(2)=.964,p=.201; F(2,176)=7.146**, p. η²=.075; n=89 (mittlerer Effekt)
oI < H**
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
oI < H***
H> N***
[oI < N, p=.059]
oI < N*
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 205
Abbildung 36: Statistische Unterschiede in der Bewertung der musikalischen Stimuli zwischen den verschiedenen Settings (MWD)
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
9.6.4 Vorläufiges Fazit Kontextinformationen spielen bei der Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund offenbar durchaus eine Rolle. Allerdings trifft dies nur zu, wenn die Hörer unmittelbar mit verschiedenen Arten von Kontextinformationen beziehungsweise deren Abwesenheit konfrontiert sind. Ist dies nicht der Fall, ebnen sich die Werturteile deutlich ein. Kurz gesagt, auch hier wieder im Vorgriff auf die Forschungsfragen 3 und 4: • Rockmusik und Zeitgenössische Musik unterscheiden sich deutlich hinsichtlich
des Einflusses von Zusatzinformationen auf die Bewertung der Musik • Prestigeeffekte und ähnliche Phänomene könnten hier eine wichtige Rolle spie-
len • Ost- und westdeutsche Musik dagegen sind sich in dieser Hinsicht strukturell
sehr ähnlich Eine ausführlichere Diskussion dieser Befunde anhand der Fachliteratur findet sich in Kapitel 9.12.
206 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
9.7 FORSCHUNGSFRAGE 3: UNTERSCHIEDE IN DER BEWERTUNG VON MUSIK MIT OST- UND WESTDEUTSCHEM HINTERGRUND 9.7.1 Vorüberlegungen, Annahmen, angewandte statistische Verfahren und Einsatz manipulierter Stimuli Nun stellt sich die Frage, ob sich das eben in Bezug auf die verschiedenen Settings der Fragebögen herausgearbeitete Bild, dass Musik aus Ost- und Westdeutschland von den Hörern nicht unterschiedlich bewertet wird, erhärtet oder eine Wendung erhält, wenn die jeweiligen ost- bzw. westbezogenen Kategorien unmittelbar miteinander verglichen werden. Dafür werden einfache t-Tests für abhängige Stichproben zur Anwendung kommen. Die Effektstärken (dCohen) sind wie in den technischen Anmerkungen zur Studie beschrieben definiert. Die einzelnen Ergebnisse sind wiederum nach den Settings der Fragebögen aufgeschlüsselt, damit diese Vergleichsebene berücksichtigt bleibt. Ich gehe davon aus, dass sich diesmal deutlichere Unterschiede in den Bewertungen zeigen werden, sobald Herkunft und/oder Namen der Künstler genannt sind. Außerdem wird ein zusätzlicher Aspekt in die Analyse einfließen. Wie aus der Übersicht der für die Studie verwendeten musikalischen Stimuli hervorgeht (Anhang 2), wurden einzelne Musikausschnitte dahingehend manipuliert, dass in den Fragebögen 2 und 3 die entsprechenden Angaben zur Herkunft der Künstler vertauscht wurden. Hier sind ebenfalls interessante Ergebnisse zu erwarten. 9.7.2 Zwischengruppendesign Bei den nicht manipulierten Stimuli (eine Tabelle mit den vollständigen Analyseergebnissen ist wieder in Anhang 3 einzusehen) findet sich nur in Setting 1, also in der Darbietung der Musik ohne jegliche Zusatzinformationen, ein signifikanter Unterschied in der Bewertung Zeitgenössischer Musik (schwacher Effekt) sowie ein tendenziell signifikanter Unterschied in der Bewertung von Rockmusik mit ost- und westdeutschem Hintergrund. Zeitgenössische Musik aus Ostdeutschland wird dabei interessanterweise positiver bewertet (M=3.33) als ihr westdeutsches Pendant (M=3.02). Dagegen wird Rockmusik mit westdeutschem Hintergrund positiver bewertet (M=3.67) als ostdeutsche Rockmusik (M=3.47). Kommen Herkunfts- und Namenslabel bei der Präsentation der Musikausschnitte ins Spiel, sind keine signifikanten Differenzen in der Bewertung nachweisbar. Zusätzliche Informationen führen demnach offenbar zu einer Einebnung in der Bewertung der
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 207
Stimuli. Möglicherweise greifen hier quasi gewisse Ausgleichs- bzw. Angleichungsmechanismen in dem Sinne, dass die Probanden eher zu einheitlichen Bewertungen tendieren, gerade weil sie durch die Label »Ostdeutschland« und »Westdeutschland« explizit auf die zugrundeliegende Problematik hingewiesen werden. In der Folge ziehen sie sich daher eventuell auf eine vermeintlich allgemein anerkannte Konsensposition zurück, die bestehende Unterschiede in der Wahrnehmung ost- und westdeutscher Lebenswelten negiert oder überwunden glaubt. Bedenkt man das bereits angesprochene Durchschnittsalter der Hörer von etwa 30 Jahren, scheint diese Interpretation durchaus plausibel. Die falsche Zuordnung wird durch die Anführungszeichen markiert, die eigentliche Herkunft steht in Klammern. Nach Betrachtung der Ergebnisse, die durch den Einsatz der bewusst manipulierten Stimuli zustande kommen (Tab. 15), könnte man diese Einschätzung sogar noch weiter zuspitzen. Hier werden sowohl in Setting 2 als auch in Setting 3 durchgängig die falsch als ostdeutsch gelabelten Musikausschnitte höher bewertet als die falsch als westdeutsch gekennzeichneten Stimuli, wohlgemerkt mit größtenteils starken oder mittleren Effekten. Es ist also durchaus denkbar, dass die Angabe der Herkunft nicht nur zu einer Angleichung der Bewertung führt, sondern die ostdeutschen Künstler geradezu bewusst positiver wahrgenommen und bewertet werden, um sie quasi in einer angenommenen grundlegenden Unterlegenheit (siehe deskriptive Statistiken zum wahrgenommenen Stellenwert ostdeutscher Komponisten) gegenüber ihren westdeutschen Kollegen aufzuwerten. In diesem Fall wären an dieser Stelle noch immer vorhandene strukturelle Ost-WestDifferenzen und, zugespitzt formuliert, auch gewisse Opferrollen-Muster im Denken und Fühlen wirkmächtig. Für den Moment können dies jedoch lediglich spekulative Überlegungen auf Grundlage der statistischen Befunde sein. Hier wären weitergehende Studien mit umfangreichen Exkursen in individual- und sozialpsychologische sowie identitätspolitische Ansätze und Erklärungsmuster angebracht und sicher gewinnbringend.
208 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Tabelle 15: t-Tests – Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund (manipulierte Stimuli, ZGD) Kategorien
Frage- Mittel- Standardbogen wert abweichung (n)
t-Test-Statistik; dCohen
Gefallen Rockmusik »West« (Ost)
2
2.21
1.23
t(46)=4.82; p=.000
Gefallen Rockmusik »Ost« (West)
(n=47)
3.62
1.93
dCohen=.871
2
1.90
1.17
t(39)=3.85; p=.000
Vertrautheit Rockmusik (n=40) »Ost« (West)
2.95
2.11
dCohen=.615
Gefallen Rockmusik »West« (Ost)
3
2.35
1.36
t(42)=3.27; p=.002
Gefallen Rockmusik »Ost« (West)
(n=43)
3.30
1.69
dCohen=.619
3
2.57
1.77
t(36)=3.69; p=.001
Vertrautheit Rockmusik (n=37) »Ost« (West)
3.68
2.15
dCohen=.564
Gefallen ZG Musik »West« (Ost)
3
3.84
1.59
t(48)=2.09; p=.042
Gefallen ZG Musik »Ost« (West)
(n=49)
4.31
1.67
dCohen=.288
Vertrautheit Rockmusik »West« (Ost)
Vertrautheit Rockmusik »West« (Ost)
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 209
9.7.3 Messwiederholungsdesign Auch in diesem Fall zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen den beiden Designs. Während sich im Zwischengruppendesign kaum Differenzen in der Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund feststellen ließen, kommen sie im Messwiederholungsdesign durchaus zum Tragen (Tab. 16). Dies betrifft vor allem die Settings ohne Zusatzinformationen sowie mit Namenslabel. In beiden Fällen wird westdeutsche Musik signifikant höher bewertet als ostdeutsche Musik, wenn es sich dabei auch nur um einen schwachen Effekt handelt. Interessanterweise ist dieser Unterschied im Setting mit Herkunftslabel jedoch nicht statistisch signifikant. Hier wiederum wäre eine fokussierte Folgestudie angebracht, um zu ergründen, ob dieser Befund statistische Ursachen hat (Sampling, Stichprobengröße etc.) oder tatsächlich auf inhaltlich-strukturelle Zusammenhänge hindeutet (Nivellierung der Bewertung durch unmittelbare Konfrontation der Hörer mit der Ost-West-Problematik oder ähnliches). Im Vergleich zum Design der Fragebögen 1 bis 3 fällt hier hinsichtlich der manipulierten Stimuli lediglich ein Befund statistisch signifikant aus, wobei es sich auch nur um einen schwachen Effekt handelt (Tabelle mit allen Ergebnissen in Anhang 3). Falsch als westdeutsch gelabelte Zeitgenössische Musik wird höher bewertet (M=2.92) als falsch als ostdeutsch gelabelte (M=2.74). Die Einordnung der statistischen Befunde muss hier etwas differenzierter ausfallen. Zwar scheint auf den ersten Blick klar ersichtlich, dass die Probanden Musik aus Ost- und Westdeutschland unterschiedlich bewerten, sobald sie durch die verschiedenen Stufen an Zusatzinformationen unmittelbar mit der Ost-West-Thematik konfrontiert sind. Allerdings zeigen sich diese Unterschiede nur im Setting ohne Zusatzinformationen und mit Namenslabel. Somit könnten also sowohl das musikalische Material an sich als auch Prestigeeffekte maßgeblich auf die Bewertung einwirken. Dass sich die Differenzen in der Bewertung der Musik im Setting mit Herkunftslabel nivellieren, muss hingegen im Umkehrschluss nicht unbedingt bedeuten, dass die Herkunft der Musik und damit verbundene und durch das Label aktivierte immer noch bestehende Vorbehalte gar keine Rolle spielen. Vielmehr könnte, wie in den Analysen zu den Fragebögen 1 bis 3 bereits angesprochen, der Effekt zugrunde liegen, dass die Probanden gerade durch die unmittelbare Konfrontation mit dem Faktor Herkunft der Musik in ihrer Bewertung zu unbewussten Ausgleichs- oder einseitigen Aufwertungsmechanismen greifen. In jedem Fall wären weitere Studien mit diesem Augenmerk vielversprechend.
210 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Tabelle 16: t-Tests – Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund (MWD) Kategorien
Setting Mittel(n) wert
Standardabweichung
t-Test-Statistik; dCohen
Musik mit ostdeutschem Hintergrund
1 (oI)
2.75
1.17
t(89)=3.69; p=.000
Musik mit westdeutschem Hintergrund
(n=90)
3.07
1.19
dCohen=.39
2 (H)
3.30
1.47
t(85)=1.43; p=.156
(n=86)
3.45
1.22
3 (N)
3.08
1.26
t(86)=2.56; p=.012
(n=87)
3.35
1.23
dCohen=.27
Musik mit ostdeutschem Hintergrund Musik mit westdeutschem Hintergrund Musik mit ostdeutschem Hintergrund Musik mit westdeutschem Hintergrund
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
9.7.4 Vorläufiges Fazit Auch zu dieser Forschungsfrage findet sich ein endgültiges Fazit in Kapitel 9.12. Für den Moment kann jedoch bereits festgehalten werden, dass die Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund durch die Hörer durchaus sehr unterschiedlich ausfallen kann. Allerdings scheinen dabei auch zahlreiche andere Faktoren zu intervenieren. Zudem zeigen sich diese Unterschiede nicht unter allen Hörbedingungen gleichermaßen. Eine pauschale und plakative Differenzierung zwischen ost- und westdeutscher Musik allein aufgrund dieses spezifischen Hintergrunds ist demnach nicht angebracht.
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 211
9.8 FORSCHUNGSFRAGE 4: UNTERSCHIEDE IN DER BEWERTUNG VON ROCKMUSIK UND ZEITGENÖSSISCHER MUSIK 9.8.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren Zu Beginn des Kapitels wurde der Einfluss verschiedenster Variablen und abstrahierter Faktoren auf die Bewertung der musikalischen Stimuli untersucht. Dabei traten bereits deutliche Unterschiede zwischen der Rockmusik und der Zeitgenössischen Musik zu Tage. Nun stellt sich die Frage, ob sich diese Beobachtung auch in der Gesamtschau auf die beiden Genres bestätigen lässt. Dafür kommen wiederum einfache t-Tests für abhängige Stichproben sowie Cohen’s d als Effektstärke zur Anwendung. Die einzelnen Ergebnisse werden auch hier nach den Settings der Fragebögen aufgeschlüsselt, damit diese Vergleichsebene berücksichtigt bleibt. Aufgrund der eben angesprochenen deutlichen und zahlreichen Unterschiede in den detaillierten Korrelations- und Regressionsanalysen gehe ich davon aus, dass sich diese auch in der abstrahierten statistischen Analyse der Faktoren »Bewertung von Rockmusik« und »Bewertung von ZG Musik« zeigen werden. 9.8.2 Zwischengruppendesign Hier wiederum sprechen die Ergebnisse eine klare Sprache (Tab. 17) und bestätigen landläufige Annahmen zu deutlichen Unterschieden in der Wahrnehmung von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik. In allen drei Darbietungssettings wird Rockmusik signifikant positiver bewertet als Zeitgenössische Musik, wenn auch nur mit schwachen Effekten. Angesichts der vorliegenden Probandengruppe und der damit anzunehmenden überdurchschnittlichen musikalischen Expertise der Hörer, ist dieser Befund zwar sowohl individuell als auch kollektiv anhand von ästhetischen Geschmacksfragen und Vorlieben zu erklären, lässt jedoch auch gleichzeitig vermuten, dass die Unterschiede in weiter gefassten Hörergruppen mit durchschnittlich geringerer musikalischer Vorbildung möglicherweise noch stärker ausfallen würde.
212 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Tabelle 17: t-Tests – Bewertung von Rockmusik und ZG Musik (ZGD) Kategorien
Fragebogen (n)
Mittelwert
Standardabweichung
t-Test-Statistik; dCohen
Rockmusik
1
3.58
1.02
t(58)=2.57; p=.013
ZG Musik
(n=59)
3.09
1.28
dCohen=.34
Rockmusik
2
3.56
1.06
t(61)=3.57; p=.001
ZG Musik
(n=62)
2.86
1.31
dCohen=.45
Rockmusik
3
3.88
1.13
t(47)=3.02; p=.004
ZG Musik
(n=48)
3.17
1.23
dCohen=.44
9.8.3 Messwiederholungsdesign Auch im Messwiederholungsdesign von Fragebogen 4 werden Rockmusik und Zeitgenössische Musik von den Probanden unterschiedlich bewertet, sobald in der Darbietung Herkunfts- oder Namenslabel zum Einsatz kommen (Tab. 18). Rockmusik wird in beiden Fällen positiver bewertet. Fehlen Zusatzinformationen ist dieser Effekt nicht zu beobachten. Dies spricht erneut für den Einfluss von Prestigeeffekten und Kontextinformationen oder ähnlichen Phänomenen. Tabelle 18: t-Tests – Bewertung von Rockmusik und ZG Musik (MWD) Kategorien
Setting (n)
Mittelwert
Standardabweichung
t-Test-Statistik; dCohen
Rockmusik
1 (oI)
2.94
1.17
t(85)=.84; p=.401
ZG Musik
(n=86)
2.82
1.38
Rockmusik
2 (H)
3.45
.91
t(78)=2.71; p=.008
ZG Musik
(n=79)
3.01
1.48
dCohen=.303
Rockmusik
3 (N)
3.47
1.24
t(77)=3.85; p=.000
ZG Musik
(n=78)
2.69
1.49
dCohen=.438
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 213
9.8.4 Vorläufiges Fazit Rockmusik und Zeitgenössische Musik werden auch vor dem speziellen thematischen und strukturellen Erkenntnisinteresse dieser Studie von den Hörern unterschiedlich bewertet. Gewiss ist dies kein überraschender Befund, entspricht er doch landläufigen Auffassungen. Er verdeutlicht jedoch auch, dass sich diese Forschungsfrage von allen hier gestellten vermutlich als die am wenigsten strittige und komplexe erweist.
9.9 GENERATIONENFRAGE: EINFLUSS VON ALTERSKOHORTEN UND JAHRGANGSGRUPPIERUNGEN 9.9.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren In den Korrelationsanalysen hat sich das Alter der Hörer nicht als relevanter Faktor für die Bewertung der musikalischen Stimuli gezeigt. Es wäre jedoch interessant, ob es nicht doch einen statistischen Effekt gibt, wenn das Alter der Hörer nicht als kontinuierlich metrische Variable untersucht wird, sondern in Form von Alterskohorten in die Analyse eingeht. Dazu möchte ich den keineswegs simplen Versuch unternehmen, geeignete Alterskohorten aufzustellen, die die vor und nach der Wendezeit 1989/90 geborenen und in meiner Studie vertretenen Jahrgänge in sinnvollen Gruppen zusammenfassen und ihrem zweifellos unterschiedlich stark ausgeprägten Bezug zur Problematik der deutschen Teilung und Wiedervereinigung gerecht werden. Die Aufstellung von Generationen, Alterskohorten oder Jahrgangsgruppierungen – um einmal in etwas forscher Weise gleich mehrere inhaltliche und strukturelle Ebenen und Facetten recht vereinfacht anzudeuten – scheint mittlerweile eine fast unlösbare, wenn überhaupt noch gewinnbringend anzugehende Aufgabe darzustellen. Dies mag an offensichtlich immer kürzeren gesellschaftlichen Entwicklungs- und Veränderungsprozessen (als Beispiel sei nur die völlig unterschiedliche Beziehung von durch wenige Jahre getrennten Jahrgängen zu technologischen Phänomenen und deren Nutzungsstrukturen genannt) genauso liegen wie an zunehmend ausgefeilten und detaillierten wissenschaftlichen Methoden und Messinstrumenten, die notwendigerweise eine größere Komplexität und Ambivalenz solcher Einteilungen und ihrer Bewertung mit sich bringen. Setzt sich Karl Mannheim (1928) in seinen wegweisenden Schriften noch mit ganz grundsätzlichen
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inhaltlichen und strukturellen Fragen von Generationalität und der Charakteristik von Generationen auseinander, so beanspruchen in den letzten Jahren die auch oder gerade medial forcierten und wahrgenommenen konkreten Generationen wie die der Baby-Boomer, X, Y (auch Millennials) oder Z ein großes Maß an Aufmerksamkeit. Dabei zeichnen diverse einzelne Studien (z.B. Illies, 2000; Klaffke, 2014; Krause, 2015; Mangelsdorf, 2014 oder Oertel, 2014), groß angelegte Langzeitprojekte wie die Shell-Jugendstudie oder auch eher an politischen Aspekten interessierte Beiträge (Herbert, 2003) ein differenziertes Bild, das in der Konsequenz zu fast ebenso vielen verschiedenen konkreten Einordnungen der einzelnen Jahrgänge führt. Gleichzeitig mehren sich Stimmen, die entweder einzelne Generationszuschreibungen oder auch das Konzept der Generationen an sich in Frage stellen (Klein, 2003; Schröder, 2018). Bezieht man nun noch die deutsche Teilung und die damit verbundenen, systembedingt gravierenden Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland vor 1990 in die Überlegungen ein, verliert das gezeichnete Bild noch mehr an Schärfe und fundierter Relevanz. Mit Sicherheit treffen die genannten Generationseinteilungen auf die damalige Bevölkerung der DDR und bedingt auch auf die Nachwendejahrgänge nicht zu. In seinem beachtenswerten Werk Die Ostdeutschen als Avantgarde charakterisiert Wolfgang Engler (2002, S. 41-71) die spezifische Generationenproblematik für Ostdeutschland. Er skizziert die Definition einzelner Generationen mit völlig verschiedenen politischen und kulturellen Bezugspunkten oder historischen Ereignissen und geht dabei auch dezidiert auf das bis heute wirkungsmächtige Phänomen ein, dass ganzen Jahrgangsgruppen die Zuordnung zu einer gemeinsamen Generation und damit verbundenen kollektiven Identitätsmustern verwehrt bleibt. Vor diesem Hintergrund musste ich für die Operationalisierung der vorliegenden Fragestellung eine inhaltlich begründbare, zugleich pragmatische und nicht durch ein zu hohes Maß an Kleinteiligkeit Aussagekraft einbüßende Gruppierung von Jahrgängen finden. Da die Umbrüche der Wendezeit in der ostdeutschen Bevölkerung ungleich wirkungsstärker, nachhaltiger und spürbarer zum Tragen kamen und kommen, als dies in Westdeutschland der Fall ist, gehe ich logischerweise von den politischen und systemischen Bedingungen in Ostdeutschland vor und nach 1990 als Grundlage meiner Überlegungen aus. Hier stellt sich nun die Frage, inwiefern in Ostdeutschland geborene Menschen in welchem Alter mit welchen spezifischen gesellschaftlichen Bedingungen konfrontiert wurden. Als vielleicht markantestes Ereignis der Kindheit sei dabei der Schuleintritt zur Differenzierung gewählt. Durch Bestehen der allgemeinen Schulpflicht war und ist eine Konfrontation mit den entsprechenden Strukturen und Herausforderungen hier unumgänglich. Für die Zeit vor dieser Zäsur ist dies nicht zwingend der Fall. Zwar kann man davon ausgehen, dass der überwiegende Teil der in der DDR geborenen
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Kinder Erfahrungen mit dem Krippen- und Kindergartensystem gemacht hat. Ausnahmen sind hier jedoch vermutlich zahlreicher anzutreffen, als dies in Bezug auf die Schule der Fall ist. In Folge dieser Überlegungen erscheinen mir nun drei Kategorien als sinnvollste Einteilung: • unmittelbare und längerfristige Konfrontation mit dem Schulsystem in der DDR • nur sehr kurzfristiger oder durch Sozialisation vermittelter Bezug zum Bil-
dungs- und Betreuungssystem der DDR • gar kein Bezug zum Bildungs- und Betreuungssystem der DDR
Alternativ wäre auch folgende Charakterisierung denkbar: • aktives Erleben der Wende- und Nachwendezeit mindestens als Grundschulkind • eher passives Erleben der Wende-/Nachwendezeit als kleineres Kind • Vermittlung der Wende- und Nachwendezeit ausschließlich durch Erfahrungs-
berichte Dritter Basierend auf diesen Einteilungen habe ich mich nun für die folgende Jahrgangsgruppierung entschieden – das Ergebnis ließe sich, wie geschrieben, gewiss ausgiebig und kontrovers diskutieren: • Gruppe 1: Jahrgänge bis 1984 • Gruppe 2: Jahrgänge 1985 bis 1995 • Gruppe 3: Jahrgänge ab 1996 Da sich diese Jahrgangsgruppierung in etwa an die politische Zeit vor, während und nach der Kanzlerschaft Helmut Kohls anlehnt, spiegelt sich gewissermaßen auch die politische Erfahrungswelt der westdeutschen Bevölkerung in der gewählten Kategorisierung wider. Nach diesem kleinen Exkurs in die Generationsproblematik soll nun wieder die statistische Analyse im Mittelpunkt stehen. Zum Vergleich der Jahrgangsgruppierungen kommt auch hier die einfaktorielle Varianzanalyse zum Einsatz. Sofern die Analysen statistisch signifikante Unterschiede zwischen den Altersgruppen ergeben, werden zur Überprüfung Kovariate einbezogen. Für die Post-Hoc-Tests der ANOVA wird die Bonferroni-Korrektur angewandt. Hinsichtlich der statistischen Effekte erwarte ich in diesem Fall differenzierte Ergebnisse. In Bezug auf die Bewertung der Rockmusik im Allgemeinen gehe ich davon aus, dass es keine großen Unterschiede zwischen den Altersgruppen geben wird. Als Genre mit der vermutlich größeren Bandbreite in den Bewer-
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tungen könnte sich dies bei der ZG Musik anders darstellen. Auch bei den ostbzw. westassoziierten Faktoren wären Unterschiede in der Bewertung nicht verwunderlich. 9.9.2 Zwischengruppendesign Angesichts der umfangreichen einleitenden Überlegungen zur Problematik der Generationenbildung fällt die Zusammenfassung der Erkenntnisse regelrecht spartanisch aus (Abb. 37). Lediglich in Setting 2 findet sich hinsichtlich der Bewertung von Rockmusik ein tendenziell signifikanter Unterschied zwischen zwei Altersgruppen. Abgesehen davon ist dieser Faktor im vorliegenden Datenmaterial offensichtlich nicht relevant. Dies muss jedoch keineswegs bedeuten, dass Altersgruppen generell als erklärende Variable ausscheiden. Vielmehr wäre auch an dieser Stelle eine eigene Studie vielversprechend, die sich der Generationenproblematik detailliert und mit adäquater methodischer Ausrichtung (Ausdifferenzierung, expliziter Zuschnitt auf die Problemstellung, Ausweitung der Stichprobe und gezieltes Sampling) widmet. Abbildung 37: Statistische Unterschiede in der Bewertung der musikalischen Stimuli zwischen verschiedenen Altersgruppen (ZGD)
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 217
9.9.3 Messwiederholungsdesign Auch in diesem Fragebogendesign gibt es nur einen statistisch auffälligen Befund. Die Angabe der Herkunft der Künstler führt hier zu einer Ausdifferenzierung in der Beurteilung von Rockmusik zwischen verschiedenen Altersgruppen. Hörer , die bis 1984 geboren wurden (M=4.22, SD=.95, n=11) bewerten die gehörten Musikausschnitte positiver als Hörer, die der Jahrgangsgruppe der zwischen 1985 und 1995 Geborenen angehören (M=3.44, SD=.90, n=58). Bereits in den Analysen zu Unterschieden in der Bewertung von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik war in beiden Fragebogendesigns ein ähnlicher Einfluss des Herkunftslabels festzustellen. Möglicherweise ergeben sich hier bei näheren Untersuchungen interessante Zusammenhänge. Abbildung 38: Statistische Unterschiede in der Bewertung der musikalischen Stimuli zwischen verschiedenen Altersgruppen (MWD)
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
Im Grunde genommen bestätigen sich damit die Erkenntnisse aus dem Zwischengruppendesign. Auch hier gibt es lediglich bei der Bewertung von Rockmusik in
218 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Setting 2 den Hinweis auf einen Einfluss von Altersgruppen auf das Ergebnis (Abb. 38). Wie bereits oben angedeutet, muss dies jedoch nicht bedeuten, dass der Faktor generell keine Rolle spielt. Eine konkrete Studie zu diesem Aspekt könnte für Klarheit sorgen.
9.10
HERKUNFT DER HÖRER
9.10.1 Vorüberlegungen, Annahmen und angewandte statistische Verfahren Abschließend drängt sich nun noch die Frage auf, welchen Einfluss die Herkunft der Hörer auf ihre Bewertung der Musikausschnitte hat. In den Korrelationsanalysen war bereits ein Effekt hinsichtlich der Herkunft der Künstler festzustellen, vor allem im Setting des Fragebogens 2 und dort wiederum insbesondere in Bezug auf die Zeitgenössische Musik. Mit Hilfe einfacher t-Tests für unabhängige Stichproben soll nun geklärt werden, ob sich dies auch in unterschiedlichen Beurteilungen der Stimuli niederschlägt. Ich gehe erneut davon aus, dass sich vor allem in der Bewertung der ost- bzw. westassoziierten Musikausschnitte Unterschiede zeigen werden. 9.10.2 Zwischengruppendesign Aktueller Wohnort (NB/AB) Lediglich im Setting des Fragebogens 3 lässt sich in Bezug auf die Bewertung von Rockmusik mit ostdeutschem Hintergrund ein tendenziell signifikantes Ergebnis finden (t(46)=1.885, p=.066, n=48), wobei Hörer aus den neuen Bundesländern (M=4.45, SD=1.24, n=11) die Musikausschnitte etwas positiver bewerten als Hörer aus den alten Bundesländern (M=3.62, SD=1.29, n=37). Es würde sich dabei um einen mittleren Effekt handeln (dCohen=.645). Alle anderen Ergebnisse sind statistisch nicht signifikant. Wohnort in der Kindheit (NB/AB) Wie beim aktuellen Wohnort ergibt sich lediglich in Setting 3 ein auffälliger Befund hinsichtlich der Bewertung von Rockmusik mit ostdeutschem Hintergrund. Dieser ist jedoch statistisch signifikant (t(41)=2.606*, n=43). Auch hier bewerten die Hörer aus den neuen Bundesländern (M=4.65, SD=1.12, n=11) die Musikaus-
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 219
schnitte etwas positiver als die Hörer aus den alten Bundesländern (M=3.49, SD=1.32, n=32). Es handelt sich um einen starken Effekt (dCohen=.91). Die Annahme, dass die Herkunft der Probanden Unterschiede in der Bewertung der Stimuli zur Folge hat, lässt sich lediglich in Setting 3 in Bezug auf ostdeutsche Rockmusik bestätigen (Abb. 39 und Abb. 40). Ostdeutsche Hörer bewerten ostdeutsche Rockmusik höher als Hörer aus den alten Bundesländern, was nicht überrascht. Insgesamt jedoch liegt die starke Erkenntnis auf der Hand, dass in den Reihen junger Kulturschaffender und im Bereich der Vermittlung von Musik tätiger Akteure sowohl ihr aktueller ost- oder westdeutscher Bezugsrahmen als auch der biografisch begründete ost- oder westdeutsche Sozialisationshintergrund bei der Bewertung von Musik keine tragende Rolle spielt. Im Kontext der dargelegten Gesamtschau auf die Ost-West-Thematik scheint mir dies ein durchaus ermutigender Befund zu sein. Abbildung 39: Statistische Unterschiede in der Bewertung der musikalischen Stimuli nach Herkunft der Hörer (aktueller Wohnort, ZGD)
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
220 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Abbildung 40: Statistische Unterschiede in der Bewertung der musikalischen Stimuli nach Herkunft der Hörer (Wohnort in der Kindheit, ZGD)
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
9.10.3 Messwiederholungsdesign Aktueller Wohnort (NB/AB) In der Analyse mittels t-Test für unabhängige Stichproben ergeben sich zwei statistisch signifikante Befunde. In Setting 3 wird Rockmusik (t(88)=2.315*, n=90) von Hörern aus den neuen Bundesländern (M=4.08, SD=1.32, n=16) positiver bewertet als von Hörern aus den alten Bundesländern (M=3.28, SD=1.24, n=74). Es handelt sich dabei um einen mittleren Effekt (dCohen=.638). Ebenfalls in Setting 3 wird zudem Musik mit ostdeutschem Hintergrund (t(84)=2.644**, n=86) von Hörern aus den neuen Bundesländern (M=3.76, SD=1.28, n=16) positiver bewertet als von Hörern aus den alten Bundesländern (M=2.88, SD=1.18, n=70). Es handelt sich auch dabei um einen mittleren Effekt (dCohen=.734).
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 221
Wohnort in der Kindheit (NB/AB) Dasselbe Bild ergibt sich in Bezug auf den Wohnort der Hörer in der Kindheit. Wiederum in Setting 3 wird Rockmusik (t(88)=2.464*, n=90) von Hörern aus den neuen Bundesländern (M=4.07, SD=1.33, n=18) positiver bewertet als von Hörern aus den alten Bundesländern (M=3.26, SD=1.23, n=72). Es handelt sich dabei um einen mittleren Effekt (dCohen=.648). Ebenfalls in Setting 3 wird zudem Musik mit ostdeutschem Hintergrund (t(84)=2.650*, n=86) von Hörern aus neuen Bundesländern (M=3.69, SD=1.35, n=18) positiver bewertet als von Hörern aus den alten Bundesländern (M=2.87, SD=1.16, n=68). Es handelt sich auch hierbei um einen mittleren Effekt (dCohen=.683). Sobald Namenslabel zum Einsatz kommen, wird Rockmusik und Musik mit ostdeutschem Hintergrund von Hörern mit ostdeutscher Sozialisation höher bewertet als von Hörern aus Westdeutschland (Abb. 41 und Abb. 42). Inwiefern auch an dieser Stelle Prestigeeffekte und ähnliche Phänomene wirksam werden oder andere grundlegende Mechanismen zum Tragen kommen, könnte wiederum Gegenstand einer Folgestudie sein. In jedem Fall lassen sich hinsichtlich der Herkunft von Hörern, wenn auch nur partikular in einem speziellen Setting, Unterschiede sowohl in der Bewertung von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik als auch von Musik aus Ost- und Westdeutschland festhalten. Abbildung 41: Statistische Unterschiede in der Bewertung der musikalischen Stimuli nach Herkunft der Hörer (aktueller Wohnort, MWD)
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
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Abbildung 42: Statistische Unterschiede in der Bewertung der musikalischen Stimuli nach Herkunft der Hörer (Wohnort in der Kindheit, MWD)
oI = ohne Zusatzinformationen; H = mit Herkunftslabel; N = mit Namenslabel
9.11
QUALITATIVE DATEN
Bevor eine abschließende Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse der Studie erfolgt, möchte ich an dieser Stelle noch einmal den Bogen zum Beginn der Darstellungen schlagen. Dort habe ich mittels deskriptiver Statistiken anhand des vorliegenden Datenmaterials einige zentrale Einstellungen der Probanden zur Wiedervereinigung und deutsch-deutschen Integration seit 1990 nachgezeichnet. Neben den umfangreichen quantitativen Daten finden sich im Material der Fragebögen jedoch auch einige qualitative Daten, die durch offene Fragestellungen generiert wurden. Die interessantesten Aspekte und Erkenntnisse aus diesen Fragen möchte ich nun im Folgenden kurz umreißen (zur methodischen Vorgehensweise bei der Extraktion der Kategorien siehe Kapitel 2.2.3).
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 223
9.11.1 Wahrnehmung des Stellenwertes ostdeutscher Komponisten im aktuellen Konzertleben Auffällig ist hier (Tab. 19), dass sowohl die Zuschreibung eines geringen Stellenwerts ostdeutscher Komponisten im Konzertleben als auch die Einschätzung der Probanden, dass die Herkunft der Komponisten für die eigene Bewertung der Musik irrelevant sei oder kein relevantes Wissen zu diesem Aspekt vorhanden sei, die beiden mit Abstand am häufigsten und dabei de facto gleich oft vertretenen Kategorien darstellen. Die Feststellung eines gleichwertigen Stellenwerts ost- und westdeutscher Musik im Konzertleben folgt mit deutlich geringerer Präsenz ebenso wie die Bemühung der künstlerischen Qualität als Kriterium für Gefallen und Erfolg von Musik und Komponisten. Die Rolle der eigenen Sozialisation und deren Einfluss auf die Wahrnehmung von Musik wird hingegen von den wenigsten Probanden thematisiert. Weitere im Detail interessante Aspekte wie die Generationenfrage oder die Kulturförderung werden ebenfalls nur sporadisch angesprochen. Tabelle 19: Qualitative Daten – Wahrnehmung des Stellenwerts ostdeutscher Komponisten im aktuellen Konzertleben Kategorie
geringer Stellenwert Herkunft von Komponisten für individuelle Einordnung nicht relevant/kein Wissen über Herkunft ausgeglichener Stellenwert von ost- und westdeutscher Musik künstlerische Qualität als Kriterium für Gefallen und Erfolg genreabhängig regionale Unterschiede/Stadt-Land höheres Ansehen westdeutscher Musik/Stigmatisierung von Komponisten mit DDR-Background geringer Stellenwert Zeitgenössischer Musik im Allgemeinen Generationenfrage Kulturförderung und finanzielle Ausstattung von Musikszenen aktive Pflege regionaler Traditionen in Ostdeutschland eigene Sozialisation bestimmt Wahrnehmung Ostalgie als mediales und kommerzielles Phänomen Frage der medialen Verbreitung und Verfügbarkeit
Häufigkeit 52 51 25 19 18 11 6 6 6 5 5 4 2 1
224 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
9.11.2 Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der DDR und der neuen Bundesländer Auch in diesem Kontext zeigt sich wieder eine klare Dualität (Tab. 20). Die beiden in den Äußerungen der Probanden am häufigsten anzutreffenden Kategorien sprechen der Thematik einerseits ein sehr hohes Maß an historischer und gesellschaftspolitischer Relevanz zu, fehlende persönliche Relevanz und mangelndes Interesse werden jedoch andererseits ebenso oft artikuliert. Erneut mit großem Abstand, allerdings durchaus in relevantem Maß repräsentiert, zeigen sich die Thematisierung der zunehmenden Überwindung von Unterschieden zwischen Ost- und Westdeutschland sowie die Reflexion der eigenen Sozialisation und des persönlichen Bezugs zum Thema. Konkrete künstlerische sowie individual-biografische Aspekte spielen dagegen eine geringere Rolle. Tabelle 20: Qualitative Daten – Auseinandersetzung mit dem kulturellen Erbe der DDR und der neuen Bundesländer Kategorie
gesellschaftliche/politische/historische Relevanz keine persönliche Relevanz/fehlendes Interesse Überwindung der Unterschiede zwischen Ost/West; Integration persönlicher Bezug/Sozialisation Umgang mit kulturellen Traditionen und Werten Künstlerische Qualität als Kriterium der Bewertung Würdigung von Biografien und Lebensleistungen Vergessen von Komponisten/Künstlern/Werken
Häufigkeit 69 60 30 27 17 14 9 5
9.11.3 Ergebnisse des Einheitsprozesses und Nachholbedarf hinsichtlich der deutsch-deutschen Integration In diesem Bereich dominieren die ökonomischen und sozialen sowie, mit einigem Abstand, die politischen Aspekte alle anderen Themenbereiche deutlich (Tab. 21). Hier besteht aus Sicht der Hörer also offenbar weiterhin der größte Aushandlungsund Nachholbedarf. Kulturelle Differenzen und die Überwindung des Ost-WestDenkens werden von den Probanden hingegen weniger oft thematisiert. Ob dies auf tatsächliche Fortschritte und Erfolge der deutsch-deutschen Integration seit 1990 schließen lässt, kann an dieser Stelle natürlich nur vermutet werden.
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 225
Tabelle 21: Qualitative Daten – Ergebnisse des Einheitsprozesses und Nachholbedarf hinsichtlich der dt.-dt. Integration Kategorie
ökonomische und soziale Ungleichheiten/Infrastruktur politische Kultur/politische Bildung und Einstellungen/Aufarbeitung Bewertung von Biografien und Lebensleistungen/gegenseitiges Verständnis und Wertschätzung/Integration Chancengleichheit strukturelle Folgen des Transformationsprozesses/Machtverhältnisse umfangreicher Nachholbedarf in diversen Bereichen kulturelle Differenzen Überwindung des Ost-West-Denkens
9.12
Häufigkeit 71 39 22 11 11 9 7 7
ZUSAMMENFASSUNG UND DISKUSSION
Nach diesen umfangreichen, kleinteiligen und im Detail sehr ergiebigen Einzelanalysen möchte ich nun die vorgestellten Puzzleteile zu einem Gesamtbild zusammenfügen. Damit abstrakte Aussagen gewinnbringend in gebündelter, akzentuierter Form präsentiert werden und die Ausführungen sich nicht in der bislang verfolgten Detailliertheit verlieren, werde ich zunächst auf die am Anfang eingeführten übergeordneten Fragestellungen zurückkommen. Daran anschließend folgt eine kurze Auflistung von möglichen Anknüpfungspunkten für weiterführende Studien, die sich in den Einzelanalysen als potentiell fruchtbar herausgestellt haben. Eine prägnante Gesamteinordnung leitet dann über zu einigen abschließenden Gedanken hinsichtlich der Übertragbarkeit der Erkenntnisse auf die musikalische Praxis. 9.12.1 Antworten auf die übergeordneten Fragestellungen Im Folgenden möchte ich vor allem auf die vier eingangs charakterisierten konkreten Hauptfragestellungen eingehen. Die abstraktere Frage, inwiefern sich Musik als Plattform für Aushandlungsprozesse der deutsch-deutschen Integration
226 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
eignet, spielt dann weiter unten bei der pointierten Gesamteinschätzung eine tragende Rolle. Einfluss von Variablen und Faktoren auf die Bewertung der musikalischen Stimuli Die erste übergreifende Fragestellung lautete: Welche Variablen beeinflussen die Bewertung von Musik mit ost- und westdeuschem Hintergrund und welche Faktoren/Prädiktoren eignen sich zur Vorhersage der Bewertung? Hier hat die Auswertung des vorliegenden Datenmaterials ein äußerst buntes und vielfältiges Bild ergeben. Der Einfluss einzelner Variablen und abstrahierter Faktoren auf die Bewertung der musikalischen Stimuli fällt im Detail sehr unterschiedlich aus. Sowohl das Design der Fragebögen als auch die verschiedenen Zusatzinformations-Settings als auch die jeweiligen Vergleichskontexte (Rockmusik – Zeitgenössische Musik; Musik Ost – Musik West) spielen dabei eine Rolle. So hat sich beispielsweise gezeigt, dass Zusatzinformationen zu Herkunft oder Namen von Künstlern die Bewertung der Musik durch die Hörer durchaus beeinflussen. Allerdings geschieht dies nur dann, wenn die Hörer unmittelbar mit verschiedenen Graden der Verfügbarkeit von Informationen konfrontiert werden. Auch hinsichtlich des ost- und westdeutschen Hintergrunds von Musik lassen sich Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung nachweisen. Allerdings erweisen sich diese im Detail als sehr heterogen und die Tendenzen deuten eher auf eine Überwindung dieser Differenzierungsebene durch die Hörer hin. Betrachtet man die Genres der Rockmusik und der Zeitgenössischen Musik in der direkten Gegenüberstellung, finden sich hier hingegen sehr wohl die bekannten und vermutet starken Differenzierungen. Zugleich lässt sich im Umkehrschluss feststellen, dass es im Kontext der Studie eine Vielzahl außermusikalischer Faktoren gibt, die die Wahrnehmung und Bewertung von Musik nicht nur mehr oder weniger stark beeinflussen, sondern sich auch als Prädiktoren von Werturteilen eignen. In beiden Designs eignen sich dabei die musikalischen Präferenzen am besten als Prädiktoren für die Bewertung von Musik. In Bezug auf musikalische Expertise sowie politische Einstellungen dagegen unterscheiden sich die Designs. Auch hinsichtlich der Anzahl der einzelnen Effekte gibt es größere Unterschiede. Insgesamt hat das Messwiederholungsdesign mehr statistisch signifikante Befunde in den Regressionsanalysen hervorgebracht als das Zwischengruppendesign.
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 227
Einfluss von Zusatzinformationen – Settings Als zweites stellte sich die Frage: Welchen Einfluss hat die Verfügbarkeit oder Abwesenheit außermusikalischer Zusatzinformation (Herkunft von Künstlern, Namen von Künstlern) in der Darbietung der musikalischen Stimuli auf deren Bewertung? In Bezug auf diese Frage hat sich in den Analysen ein klarer und durchaus interessanter Befund ergeben. Während die Settings im Zwischengruppendesign der Fragebögen 1 bis 3 überhaupt keinen Einfluss auf die Bewertung der musikalischen Stimuli zeigten, war dies im Messwiederholungsdesign von Fragebogen 4 in allen Vergleichskategorien durchgängig mit mittleren oder starken Effekten der Fall. Somit lassen sich der Einfluss der Settings und die zugrundeliegenden Bedingungen zur Aktivierung dieses Einflusses anhand des vorliegenden Datenmaterials überzeugend nachweisen. Wie sich bereits in den Einzelanalysen mehrfach angedeutet hat, könnten die beobachteten Effekte in den Bewertungen der musikalischen Stimuli vor dem Hintergrund der verschiedenen Settings zumindest teilweise auf das bekannte Phänomen der Prestigeeffekte zurückzuführen sein. Der folgende kurze Abriss will Anhaltspunkte dafür zur Diskussion stellen, zugleich aber auch die Vielschichtigkeit und Kontroversität dieses Aspekts abbilden. Schon Überlegungen und Studien aus den 1970er und 1980er Jahren legen nahe, dass die individuelle Wahrnehmung und Bewertung von Musik durch die Verfügbarkeit und Gestalt außermusikalischer Informationen beeinflusst werden kann. Ordnet man beispielsweise ein Musikstück einem berühmten Komponisten zu, wird es teilweise von Hörern positiver bewertet als Werke, die mit dem Namen eines unbekannteren Autoren verknüpft sind (vgl. Niketta, 1993). Duerksen (1972) setzte sich experimentell mit der Frage auseinander, inwiefern Musikaufnahmen von Rezipienten unterschiedlich bewertet werden, wenn sie entweder einem professionellen Interpreten oder einem Musikstudenten zugeschrieben werden. Jedoch werden bereits diese frühen Erkenntnisse kritisch eingeordnet und teils relativiert (vgl. z.B. Crozier und Chapman, 1981). Niketta (1993) charakterisiert dies treffend: »Prestigeeffekte treten noch am ehesten auf, wenn keine klaren Urteilskriterien vorhanden sind. Dies ist dann der Fall, wenn die Musikstücke unbekannt sind und/ oder kaum Unterschiede zwischen den Musikstücken vorhanden sind, die Personen aber ein Urteil abgeben müssen.« (Niketta, 1993, S. 336). Für die Settings meiner Studie würden diese Bedingungen allerdings durchaus zutreffen.
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Neuere Studien zeichnen ebenfalls ein differenziertes Bild. Thorau (2018, S. 171 f.) beispielsweise bemüht das Konzept des Prestigeeffekts im Rahmen der Concert Studies, um zu zeigen, inwiefern Programmhefttexte und entsprechende das musikalische Erlebnis vorbereitende und vorprägende Informationen Einfluss auf den Hörgenuss und davon ausgehende Bewertungen nehmen. Auch Lanzendörfer (2017, S. 75 f.) legt dar, welche Wirkung Kenntnisse über Namen von Komponisten und sonstige Hintergrundinformationen, die zur Einordnung eines Musikstücks beitragen, auf die Wahrnehmung und Bewertung des Gehörten haben können. Dagegen relativieren aktuelle Forschungen am Max-Planck-Institut für empirische Ästhetik den Einfluss des Prestigeeffekts. In einer Studie, die sich mit der Wirkung von Vorabinformationen in Programmtexten auf die Wahrnehmung von Musik befasst, spielen Prestigeeffekte zwar eine Rolle, treten jedoch gegenüber linguistischen und stilistischen Aspekten und Parametern in der Gestaltung der Programmtexte in ihrem Wirkungsgrad deutlich zurück. Interessant ist in der Studie allerdings die Erkenntnis, dass Prestigeeffekte bei jüngeren Menschen offenbar stärker zum Tragen kommen, als dies bei älteren Hörern der Fall ist (vgl. Fischinger, Kaufmann und Schlotz, 2018). Auch dieser Aspekt ist für meine Studie angesichts des Durchschnittsalters der Probanden durchaus relevant und spricht durchaus für einen gewissen Einfluss von Prestigeeffekten – gerade hinsichtlich des ost- und westdeutschen Hintergrund von Musik und damit verbundenen Wertungskontexten – auf die Bewertung der musikalischen Stimuli. Einen Ansatz, der sich vom klassischen Modell des Prestigeeffekts in Bezug auf Komponistennamen oder ähnliche konkrete außermusikalische Informationen ein wenig löst, verfolgen Anglada-Tort, Steffens und Müllensiefen (2018) in einem spannenden experimentellen Versuch. Sie können überzeugend nachweisen, auf welche Weise linguistische Parameter (insbesondere die Flüssigkeit und Komplexität der Aussprache) sowie emotionale Konnotationen und Aufladungen von Werktiteln die Bewertung der Musik durch die Probanden beeinflusst. Es zeigte sich, dass einfach auszusprechende Titel eine positivere Bewertung der Musik nach sich ziehen, emotional positiv konnotierte Titel jedoch nicht zwangsläufig auch positivere Gefallensurteile hervorrufen. Letzteres erklären sich die Autoren mit der in den einzelnen Musik-Titel-Paaren nicht immer gegebenen Kongruenz der emotionalen Konnotationen von Titel und musikalischem Material (vgl. Anglada-Tort et al., 2018, S. 9 f.) und entsprechend resultierenden Ergebnissen im Datenmaterial. Eine weitere Studie von Anglada-Tort (2018) befasst sich ebenfalls mit dem Einfluss von Kontextinformationen auf die Bewertung von klingender Musik, wobei es sich in diesem Fall um einerseits als improvisiert beschriebene und andererseits als vorgefertigte Komposition gekennzeichnete Stimuli handelt.
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 229
Alles in allem ergibt sich also ein vielfältiges und kritisch entgegenzunehmendes Bild. Prestigeeffekte kommen bei der Wahrnehmung und Bewertung von Musik in den unterschiedlichsten Kontexten – sei es in unmittelbarer Form durch die Verfügbarkeit von Komponistennamen und sonstigen in vorgegebenen Wertungskontexten eingebundenen, außermusikalischen Vorabinformationen oder auch hinsichtlich abstrakterer Parameter – durchaus zum Tragen. Jedoch zeigt sich dieser Einfluss keineswegs in durchweg eindeutigen und klar abzugrenzenden Zusammenhängen und Wirkungsmechanismen. Vielmehr sind Prestigeeffekte eingebettet in eine Vielzahl zusammenwirkender Faktoren, die die individuelle und kollektive Beurteilung von Musik bedingen. Losgelöst von der Idee des Prestige und der daraus resultierenden Ausprägung von musikalischen Werturteilen zeigt sich in den Studien hingegen eindeutig, dass die Verfügbarkeit von Kontextinformationen die Wahrnehmung und Bewertung klingender Musik durch die Rezipienten sehr häufig prägt und beeinflusst. Für die Einordnung der Ergebnisse meiner Studie können diese Befunde und Konzepte damit in jedem Fall als ein möglicher Erklärungsansatz fruchtbar gemacht werden, wie ich eben an einzelnen Aspekten aufgezeigt habe. Jedoch würde auch ich mich von den klassischen Zusammenhängen der Prestigeeffekte (lineare Aufwertung von Musik durch berühmte Namen und quasi wertsteigernde Zusatzinformationen) lösen wollen und andere für meinen Kontext relevante Aspekte einfließen lassen wie eben immer noch existierende allgemeine Vorbehalte in Bezug auf Ost- und Westdeutschland, die Annahme und Wahrnehmung imaginärer oder realer lebensweltlicher und mentaler Unterschiede bis hin zu in Einzelfällen (zum Beispiel bei älteren Komponisten) weiterhin relevanten Stigmatisierungen. Insgesamt bleibt jedoch auch an dieser Stelle festzuhalten, dass die Ergebnisse meiner Studie zwar auf immer noch bestehende Differenzen zwischen ost- und westdeutschen Kontexten im Musikleben hinweisen, die Befunde allerdings ebenso stark für die zunehmende Überwindung dieser Unterschiede sprechen und ein plakatives Schwarz-Weiß-Bild somit definitiv fehl am Platz wäre. Dafür spricht nicht zuletzt der eingangs angesprochene Befund, dass Unterschiede in den Bewertungen vor allem dann zustande kommen, wenn die Probanden unmittelbar mit den verschiedenen Zusatzinformations-Settings konfrontiert sind, die Herkunftsproblematik also direkt thematisiert wird. Ist dies nicht der Fall, ist die Bewertung der Musik deutlich homogener. Unterschiede in der Bewertung von Musik aus Ost- und Westdeutschland Die dritte Frage, die für das übergreifende Anliegen meiner Arbeit von besonderem Interesse ist, lautete:
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Gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung und Bewertung von Musik aus Ostund Westdeutschland? Pauschal lässt sich auch dies nicht beantworten, was jedoch an sich bereits eine starke Aussage darstellt. Erneut zeigen sich Unterschiede in den beiden verschiedenen Designs. Während sich in Bezug auf die nicht manipulierten Stimuli im Messwiederholungsdesign (FB 4) mehr Differenzen ergeben, kommt es im Zwischengruppendesign (FB 1 bis 3) vor allem bei den manipulierten Stimuli zu unterschiedlichen Bewertungen mit der Tendenz zu einer Aufwertung von ostdeutscher Musik. Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund wird von den Probanden somit teilweise unterschiedlich wahrgenommen und bewertet. • Im Detail sind die einzelnen Bedingungen und Faktoren für diese Unterschiede
jedoch sehr vielfältig und heterogen. • Die Verfügbarkeit von einordnenden Informationen zur Herkunft der Musik
kann sowohl eine Angleichung der Bewertung von ost- und westdeutscher Musik zur Folge haben (nicht manipulierte Stimuli) als auch zu einer Aufwertung ostdeutscher Musik führen (manipulierte Stimuli). Insgesamt lässt sich das gleiche Fazit wie im vorangegangenen Abschnitt ziehen. Spezifisch ost- und westdeutsche Kontexte spielen in der Wahrnehmung und Bewertung von Musik noch immer eine Rolle. Die Komplexität und Heterogenität einzelner Einflüsse, Faktoren und Facetten spricht jedoch zugleich für eine zunehmende Überwindung dieser (teils imaginären) Kategorien und Denkmuster sowie eine aktive Annäherung von Ost und West im Musikleben – zumindest in der individuellen und kollektiven Wahrnehmung von Hörern und Akteuren. Unterschiede in der Bewertung von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik Die letzte übergreifende Fragestellung war: Unterscheiden sich im vorliegenden Kontext verschiedene Genres (hier Rockmusik und Zeitgenössische Musik) hinsichtlich der Bewertung? Dies lässt sich anhand der Ergebnisse eindeutig positiv beantworten. In beiden Designs gibt es deutliche Unterschiede in der Bewertung von Rockmusik und Zeitgenössischer Musik sowohl in Bezug auf einzelne Faktoren und Variablen, die die Bewertung beeinflussen, als auch hinsichtlich der unterschiedlichen Zusatzinformations-Settings. Im Zwischengruppendesign (FB 1 bis 3) treten die Unterschiede sogar in allen drei Settings auf, wobei in allen drei Fällen Rockmusik
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signifikant positiver bewertet wird als Zeitgenössische Musik. Im Messwiederholungsdesign (FB 4) hingegen kommen offenbar wiederum die Settings als differenzierender Faktor zum Tragen. Hier wird Rockmusik ebenfalls signifikant positiver bewertet als Zeitgenössische Musik, allerdings nur dann, wenn den Hörern Informationen über Herkunft und Namen der Künstler zur Verfügung gestellt werden (zur Diskussion von Prestigeeffekten siehe oben). 9.12.2 Potentielle Anknüpfungspunkte für weiterführende Studien In den umfangreichen Darstellungen und Interpretationen der Einzelanalysen haben sich einige interessante Aspekte und Fragen ergeben, denen im Rahmen der hier vorgestellten Studie und Überlegungen nur ansatzweise, teils spekulativ nachgegangen werden konnte. Für anknüpfende Studien, die sich diesen einzelnen Detailfragen mit fokussierten Fragestellungen und entsprechend speziell zugeschnittener Methodik widmen möchten, stellen die folgenden Themen im Kontext der Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund vielversprechende und sicher ergiebige Ausgangspunkte dar. Untersuchungen zu einzelnen Faktoren und deren Einfluss auf die Bewertung der Musik Wie oben gezeigt, öffnet sich hier ein äußerst heterogenes Feld. Sowohl das konkrete Wirken einzelner Faktoren als auch die Beziehung der Faktoren zueinander und das daraus resultierende Wirkungsgeflecht wären ein interessanter Gegenstand für weitere Erhebungen. Zusammenhang zwischen der Bewertung Zeitgenössischer Musik und der Auseinandersetzung mit/Präferenzen für Popularmusik Das Phänomen der Offenohrigkeit wurde oben bereits angeführt. Gembris beschreibt diesen Effekt in einer Studie zu musikalischen Präferenzen und der Bewertung von Musik aus dem Jahr 1995 wie folgt: »Insgesamt läßt sich sagen, daß unabhängig davon, welche Art von Präferenzen verbal geäußert werden, ein hohes Maß an Zustimmung gegenüber anderen Arten von klingender Musik festzustellen ist. Nicht selten gefällt die erklingende Musik eines anderen Genres mehr als die explizit bevorzugte Musik.« (Gembris, 1995, S. 139). Hier wäre eine intensivere Auseinandersetzung mit entsprechenden weiteren Erklärungsansätzen sinnvoll, um zu ergründen, inwiefern Zeitgenössischer Musik eher zugetane Hörer sich generell offener gegenüber anderen Genres und musikalischen Themenfeldern
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zeigen und in welcher Form dieser Mechanismen, sofern tatsächlich wirksam, speziell im Kontext von Musik zwischen Ost und West zum Tragen kommt. Zusammenhang zwischen der Bewertung von Musik und politischen Einstellungen Für die Auseinandersetzung mit Musik vor dem Hintergrund mehr und weniger stark aktiver ost- und westdeutscher Kontexte und Beziehungsrahmen im Musikleben könnte dieser Aspekt von größtem Interesse für weiterführende Forschung sein. Gerade auf der Basis der Wahrnehmung und Bewertung von Musik und damit zusammenhängender Themen ließen sich politische Fragen und Einstellungen wieder fruchtbar machen und Potentiale freilegen, ohne in die ausgetretenen Pfade politologischer Diskurse und die herkömmlichen Kategorien und Deutungsmuster einer dominant politischen Geschichtsschreibung zurückzufallen. Zusammenhänge zwischen Kunst- und Popularmusik in Ostdeutschland Die bemerkenswerte Beobachtung, dass in meiner Studie die Trennung kunst- und popularmusikalischer Themenfelder und Kontexte im ostdeutschen Bezugsrahmen weniger stark ausgeprägt ist als im westdeutschen, wäre ein lohnenswerter Ansatzpunkt für tiefergehende Analysen. Sozialpsychologische und identitätspolitische Aspekte in der Wahrnehmung von Musik (Angleichungs- und Aufwertungsmechanismen) Wie oben beschrieben, lässt sich anhand des Datenmaterials unter bestimmten Bedingungen die Tendenz der Hörer zur Angleichung von Werturteilen oder gar der Aufwertung in diesem Fall ostdeutscher Musik aufgrund mutmaßlicher allgemein anerkannter oder vermuteter Wertungsmuster spekulativ erahnen. Hier wäre eine umfangreiche Studie nötig, um zu klären, ob diese Mechanismen tatsächlich nachweisbar wirksam sind und, wenn dies der Fall sein sollte, unter welchen konkreten Bedingungen und in welcher Ausprägung sie auf die Bewertung von Musik Einfluss nehmen. Altersgruppierungen/Generationenproblematik Meine Studie konnte den Einfluss von Jahrgangsgruppierungen mit dem gegebenen methodischen Ansatz zwar nicht nachweisen. Jedoch gehe ich davon aus, dass dieser Faktor im Kontext von Musik zwischen Ost und West durchaus eine vielgestaltige Rolle spielt. Eine entsprechend fokussierte Folgeuntersuchung könnte dies detailliert ergründen.
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Herkunft der Hörer Auch in dieser Hinsicht gibt mein Datenmaterial allenfalls Hinweise auf den Einfluss der Herkunft und Sozialisation der Hörer auf ihre Bewertung von Musik. Mit entsprechender Fokussierung sowie methodisch geeigneter Zuspitzung und Ausrichtung ergäbe eine aufbauende Studie möglicherweise ein differenzierteres und umfangreicheres Bild zu diesem Aspekt. Bereits an dieser Stelle lässt sich festhalten, dass meine Studie ihrem explorativen Anspruch durchaus gerecht werden konnte. Einerseits zeichnet sie ein komplexes Bild ihres Forschungsgegenstandes und kann dabei auch einige Antworten auf konkrete Fragestellungen geben. Zum anderen zeigt sie diverse Potentiale und mögliche Anknüpfungspunkte für zukünftige Studien auf. 9.12.3 Gesamtschau und Übertragung in die musikalische Praxis Abschließend möchte ich noch einmal die wichtigsten Erkenntnisse der Untersuchung rekapitulieren und davon ausgehend einige Gedanken zu daraus resultierenden möglichen Empfehlungen für die musikalische Praxis in den Raum stellen. Wie an anderen Stellen bereits einige Male angedeutet lassen sich in der Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit spezifisch ost- oder westdeutschem Hintergrund auch 30 Jahre nach der Friedlichen Revolution in der DDR und den daran überwiegend in Ostdeutschland (aber auch in Gesamtdeutschland!) anschließenden politischen Transformationsprozessen noch immer signifikante Unterschiede feststellen und statistisch nachweisen. Selbst Hörer, die im Altersschnitt kurz vor oder nach der Wendezeit geboren wurden und sich aktiv und intensiv mit Musik, deren Kontexten und Vermittlung sowie der Gestaltung von Kulturleben auseinandersetzen, sind in ihren Werturteilen offenbar nicht völlig frei von tradierten und teils in der eigenen Sozialisation begründeten Denk-, Wertungs- und Handlungsmustern. Gerade bei älteren Hörern, die über weniger Expertise hinsichtlich musikimmanenter und außermusikalischer Aspekte des Hörerlebnisses verfügen als die Probanden in meiner Studie, könnten die Differenzen möglicherweise noch stärker ausfallen. Hingegen ist bei angehenden Erwachsenen, die gegen Ende der 1990er oder sogar Anfang der 2000er Jahre geboren wurden, vielleicht eine größere Angleichung von ost- und westdeutschen Hörern in ihren Bewertungen zu erwarten. Diese Vermutung lässt sich zumindest anhand eines genauso wichtigen Befundes wie des eben genannten aufstellen. Viele analytische Ergebnisse meiner Studie sprechen nämlich auch für eine zunehmende Überwindung der Unterschiede zwischen ost- und westdeutschen Kontexten in Bezug auf die Wahrneh-
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mung von Musik. Von einem klaren, ab- und ausgrenzend wirkenden Ost-WestDenken und zahlreichen damit verbundenen Voreinstellungen und gegenseitigen Vorbehalten, wie sie sicher bis weit in die 1990er Jahre hinein in der lebensweltlichen Realität vieler Menschen noch allgegenwärtig waren und die sogar heute noch, gerade hinsichtlich politischer Entwicklungen vor allem in Ostdeutschland, oftmals als Begründung für manche Tendenzen medial ins Feld geführt werden, kann in der Wahrnehmung von Musik also keine Rede (mehr) sein. Auf den Punkt gebracht könnte man in diesem Sinne von einem Dreiklang sprechen: • Es gibt noch immer Unterschiede in der Bewertung von Musik mit ost- und
westdeutschem Hintergrund. • Diese Unterschiede verschwimmen zunehmend und werden von den Hörern
überwunden. • Die einzelnen strukturellen Zusammenhänge in diesem Spannungsfeld sind äu-
ßerst vielfältig und komplex. Ausgerechnet in dieser Ambivalenz und Kleinteiligkeit der Ergebnisse liegt aus meiner Sicht die Stärke der daraus resultierenden Aussagen. Quasi das gleichzeitige Noch-Vorhandensein von Unterschieden bei einem zunehmenden NichtMehr-Wichtig-Sein dieser Differenzen macht Musik geradezu zu einer idealen Plattform für noch ausstehende Aushandlungsprozesse der deutsch-deutschen Integration. Einerseits kann die Heterogenität im Detail die Komplexität lebensweltlicher Realitäten, Mentalitäten und Emotionalitäten abbilden und vermag zugleich vor allzu globalen und reale Problemstellungen verschleiernden Einschätzungen zu schützen. Andererseits sensibilisieren einige zentrale Tendenzen zugleich für noch zu bewältigende Herausforderungen und keineswegs erfolgreich abgeschlossene Transformations- und Integrationsaufgaben im Zusammenwachsen von Ostund Westdeutschland. All diese durchaus ermutigenden Erkenntnisse müssen jedoch auch ihren Niederschlag in der musikalischen Praxis, also etwa im programmgestaltenden Alltag der großen und kleinen Konzerthäuser finden. Auf diese Weise verbleiben sie nicht im theoretisch-wissenschaftlichen Diskurs, sondern können praktische Realitäten verändern und bereichern. So gibt es beispielsweise nicht wirklich relevante Gründe für eine Vermeidung der Ost-West-Thematik in den Spielplänen. Selbstverständlich wäre es wenig zielführend, das Thema in herkömmlichen und rückwärtsgewandten Mustern anzugehen. Eine überzogene Förderung oder übertriebene Platzierung und Vermarktung ostdeutscher Musik und Komponisten etwa – quasi im Rückzug auf ein revanchistisches Opferrollen-Denken oder, weniger
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 235
drastisch ausgedrückt, den bloßen Kampf gegen Marginalisierung und Nichtbeachtung in einigen Bereichen – wäre daher ebenso fehlgeleitet wie eine vollständige Vermeidung der aktiven Thematisierung des ost- und westdeutschen Hintergrunds von Musik und Künstlern etwa in Programmheften. Wie gezeigt muss man zumindest vor den Hörern keine Angst haben. Die Bewertung und Akzeptanz von Konzertprogrammen leiden nicht unter einer offen thematisierten Beteiligung von ost- und westdeutschen Komponisten. Vielmehr liegt hier eine große Chance, über die Musik als emotional zugängliches und verbindendes Medium sowohl Fortschritte als auch noch zu schulternde Aufgaben auf dem Weg zu einem wirklich gesamtdeutschen Denken, Fühlen, Handeln und tagtäglichem Zusammenleben erfahrbar zu machen und zur Disposition zu stellen. Neben der reinen programmtechnischen Ausrichtung und Profilierung von Konzertinstitutionen müsste in diesem Kontext zudem über diverse andere in der Programmatik verankerte Formate zur nachhaltigen Thematisierung der deutschdeutschen Integration im Kulturbereich nachgedacht werden. Natürlich gibt es diese vereinzelt im Kleinen bereits. Und wie in anderer Hinsicht auch sind Festivals, aber auch kleinere Konzerthäuser und andere kulturelle Institutionen hier schon einen Schritt weiter als die großen, überregional bekannten und wahrgenommenen Institutionen. Als aktuelles Beispiel sei an dieser Stelle die Dresdner Veranstaltungsreihe »Unerhörtes. Neue Musik aus Ostdeutschland« genannt, die 2019 in einer Kooperation der SLUB Dresden, der Sächsischen Akademie der Künste, dem Europäischen Zentrum der Künste Hellerau sowie dem Verlag Edition Peters realisiert wurde. Neben Konzerten gab es hier Raum für Podiumsdiskussionen mit dem Publikum oder Gespräche mit Komponisten und Interpreten. So wichtig diese Formate im Einzelnen sind, treten sie doch immer nur schlaglichtartig an ein sehr speziell informiertes Publikum heran. Die breite Masse des regelmäßigen Konzertgängers wird man auf diese Weise jedoch nicht erreichen. Hier wären besonders die großen Institutionen in Ost- und Westdeutschland gefordert, durch kontinuierliche und vielfältige attraktive Angebote die Chance zur Sensibilisierung des Publikums zu nutzen und auf diesem Weg das Musikleben tatsächlich zu einer fruchtbaren und nachhaltig wirkenden Plattform für die zukunftsgerichtete Aushandlung der deutsch-deutschen Integration zu machen.
236 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
9.13
METHODENKRITIK UND POTENTIALE
Abschließend möchte ich nun noch einmal kurz resümieren, inwiefern sich der explorative Ansatz meiner Studie bewährt hat, welche zwangsläufigen methodischen Probleme in diesem Rahmen auftraten und inwieweit die Untersuchung für weitergehende Forschung modifiziert werden könnte. 9.13.1 Methodenkritik Die grundsätzliche Herausforderung des explorativen Vorgehens zeigt sich insbesondere in zwei zentralen Punkten. Struktur des Messinstruments Die Entwicklung der Fragebögen erfolgte sehr offen auf Grundlage einer Vielzahl von Aspekten, die im gegebenen Kontext eine potentielle Rolle spielen. Entsprechend ergab sich die Struktur der Fragebögen nicht anhand primär theoriegeleiteter Überlegungen, weshalb die Auswertung des Datenmaterials wiederum nicht durchgängig kompakt auf der Aufstellung und Überprüfung von Hypothesen basiert. Im Gegenzug resultieren aus eben diesem Ansatz eine Fülle an interessanten neuen Fragen und Anknüpfungspunkten für aufbauende Studien (siehe Abschnitt L 2). Gleichzeitig war es mir dennoch möglich, dem Material auch einige konkrete Befunde und starke Aussagen auf abstrakter Ebene zu entnehmen, die die Beantwortung der zentralen Fragestellungen ermöglichen. Probandenfeld/Sampling Grundsätzlich halte ich die Auswahl meiner Probanden für sehr überzeugend. Die Zielgruppe ist klar umgrenzt und repräsentiert eine für das Thema meiner Arbeit relevante und aussagekräftige Akteursebene. Das Sampling innerhalb des Probandenfeldes hingegen basiert aus pragmatischen Gründen der Erreichbarkeit von Teilnehmern sowie der resultierenden Stichprobengröße auf dem Zufallsprinzip. Für den grundlegenden Ansatz der Studie ist dies durchaus von Vorteil bzw. angemessen. Hinsichtlich einiger Fragen ließen sich so jedoch, wie oben ausführlich gezeigt, lediglich Hinweise auf mögliche statistische Befunde finden, deren nähere Bearbeitung oder konkreter Nachweis erst mit einem entsprechend adäquaten Sampling ermöglicht werden würde (z.B. in Bezug auf die Altersgruppen). Insgesamt aber scheinen mir sowohl der explorative Ansatz der Studie als auch die damit verbundene konkrete methodische Umsetzung gelungen und passend für Anliegen, Fragestellungen und Ergebnisse der Untersuchung. Als besonders
Hören und Werten – Rezeptionsstudie | 237
gewinnbringend für die Analyse hat sich im Übrigen die Anwendung der beiden verschiedenen Designs (Zwischengruppen und Messwiederholung) in der Darbietung der Stimuli sowie der Einsatz der unterschiedlichen Zusatzinformations-Settings erwiesen, wobei das Messwiederholungsdesign für sich genommen möglicherweise das ergiebigere und damit attraktivere Modell darstellt. 9.13.2 Potentiale Wollte man nun die vorgestellte Studie noch einmal replizieren oder bestimmte Aspekte besonders in den Fokus rücken, wären unter anderem folgende Ansätze denkbar: • Ausweitung des Probandenfeldes auf weitere Hörergruppen • Gezieltes Sampling nach eingegrenzten Fragestellungen und Kriterien • Ausweitung der Anzahl an musikalischen Stimuli für eine noch größere Belast-
barkeit des Datenmaterials (wobei der Praktikabilität und Sinnhaftigkeit durch die entsprechend höhere Beanspruchung der Probanden auch Grenzen gesetzt sind) • Einbezug weiterer Genres für ein noch breiteres und differenzierteres Bild und eine bessere Abbildung der musikalischen Vielfalt • Generelle Fokussierung und Auskopplung einzelner vielversprechender Aspekte und entsprechende (theoriegeleitete) methodische Modifizierung des Messinstrumentes Alles in allem konnte die Studie sowohl im übergeordneten Rahmen meiner Arbeit als auch für sich genommen einen Beitrag im gegebenen Forschungskontext leisten und das Thema um ein äußerst differenziertes Bild bereichern.
10 Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten
Nachdem bislang sowohl die Akteure auf der Ebene der Vermittlung von Musik zwischen Komponisten, Interpreten und Publikum – sei es im Bereich der Programmgestaltung, der musikalischen Bildung im Rahmen der Schule oder des musikwissenschaftlichen Diskurses – als auch die Rezipienten von Musik im Fokus meiner Überlegungen und Untersuchungen standen, möchte ich nun noch einmal den Blick auf die Rolle der Interpreten lenken. Diese agieren ebenfalls in einer Vermittlerfunktion, in diesem Fall zwischen Komponisten und Publikum. Um ihre Erfahrungen, Einstellungen und Haltungen im Umgang mit Musik vor dem Hintergrund der deutschen Teilung und Wiedervereinigung sowie den spezifischen ostdeutschen Transformationsprozessen und deren Auswirkungen auf Wahrnehmung und künstlerisches Schaffen von Musikern zu beleuchten, habe ich mit ausgewählten Interpreten Interviews geführt. Die im Folgenden vorgestellten Ergebnisse sollen zum einen die eben gezeigte thematische Fragestellung abbilden und veranschaulichen. Zum anderen stellen die aus den Gesprächen extrahierten Kategorien und Themenfelder, die für die Gesprächspartner im gegebenen Kontext von Bedeutung sind, mögliche Anknüpfungspunkte und Grundlagen für eine zukünftige empirische Ausweitung in diesem Bereich dar.
10.1 METHODIK Da auch diese Teilstudie vorwiegend explorativen Charakter hat, habe ich mich zunächst auf fünf Interviews und somit einzelne Fallbeispiele beschränkt. Diese gehen jedoch teils sehr in die Tiefe. Insgesamt liegt mir Gesamtmaterial im Umfang von 370 Minuten, also mehr als sechs Stunden vor. Ziel der Gespräche war es meinerseits, zu erfahren, wie die Interpreten in ihrer Rolle als Zeitzeugen den gegebenen thematischen Kontext wahrnehmen und
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welche Strukturen, Bedeutungen und Gewichtungen sie dabei einzelnen Teilaspekten geben. Um dieses Erkenntnisinteresse methodisch adäquat zu operationalisieren, war eine intensive Auseinandersetzung mit den zahlreichen verschiedenen Ansätzen im Bereich der Interviewführung auf dem Gebiet der qualitativen Forschung hilfreich. Da mir für mein Anliegen weder die recht strengen Formen von Leitfadeninterviews (hier gibt der Interviewer die Struktur des Gesprächs vor) noch die Spielarten des rein narrativen Interviews, wie sie etwa im Kontext der Oral History zur Anwendung kommen (diese haben vor allem im kontrastiven Vorgehen bei Interviewreihen ihre Stärken), günstig erschienen, habe ich mich letztlich für die Variante des Problemzentrierten Interviews entschieden (vgl. Helfferich, 2011, S. 35 ff.). Dabei nähern sich Interviewer und Interviewter in Form eines dialogischen Gesprächs gemeinsam dem Thema. Der Interviewer kann durch spontane Nachfragen zu Aussagen des Interviewten das Gespräch voranbringen, greift jedoch nicht direktiv in den Verlauf und damit die Themensetzung ein. Auf diese Weise verbleibt die Strukturierung und Gewichtung der einzelnen Aspekte des Themenfeldes in der Hand des Interviewten. Die Gespräche fanden zwischen März und August 2016 an verschiedenen Orten statt und wurden per Aufnahmegerät aufgezeichnet. Einverständniserklärungen der Interviewten zur anonymisierten Verwendung des Materials im Rahmen meiner Untersuchungen liegen mir vor. Die Transkription des Interviewmaterials habe ich wiederum nach pragmatischen Gesichtspunkten vorgenommen. Da eine differenzierte gesprächsanalytische Auswertung nicht Ziel war, schien mir eine rein wörtliche Transkription mit basalen Regeln ausreichend (vgl. zum Problem des Transkribierens: Przyborski und Wohlrab-Sahr, 2010, S. 160 ff.). Zur Extraktion und Definition der einzelnen Themenfelder und Kategorien kam auch hier ein dreistufiges Verfahren zum Einsatz (vgl. Mayer, 2009, S. 47 ff.). Zunächst habe ich dazu das vorliegende wörtlich transkribierte Interviewmaterial in inhaltlich relevante und voneinander distinkte Segmente zerlegt, dabei die gegebene wörtliche Struktur jedoch nicht verändert. Aus diesen Segmenten konnte ich dann wiederum einzelne abstrakte Themenfelder ableiten und formulieren, wobei ich zunächst (selbstverständlich durch das gegebene Vorwissen geprägt) rein spontan-assoziativ vorgegangen bin. Hierauf folgte schließlich der dritte Abstraktionsschritt, in dem ich aus den so gewonnenen Begriffen und Themenfelder durch Zusammenführung und Modifizierung übergeordnete Kategorien generieren konnte. Es sei angemerkt, dass diese sehr knappe und rein quantitative Form der Auswertung eigentlich nicht im Sinne qualitativer Interviewforschung ist. Zum einen sind lediglich fünf in ihren Hintergründen derart heterogene Interviewpartner für
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 241
ein solches Vorgehen genau genommen eine viel zu geringe Anzahl, um valide Daten quantitativ-statistischer Natur zu generieren. Zum anderen lägen die Stärken der qualitativen Empirie in diesem Fall eher in einer vergleichenden Fallstudie, die die einzelnen Gespräche zunächst separat analysiert und anschließend durch komparative Verfahren Erkenntnisgewinn erzielt. Ich bin mir bewusst, dass ich dieses Potential mit meiner Vorgehensweise an dieser Stelle ungenutzt lassen muss. Es liegt in der Hand von Folgestudien, diese Lücke zu schließen und das entstandene empirische Datenmaterial adäquater zu verwerten. Um die Aussagekraft und Plastizität der abgeleiteten Kategorien zu erhöhen, werde ich an geeigneten Stellen Zitate aus den Interviews einfließen lassen und diese kurz kommentieren.
10.2 INTERVIEWPARTNER Trotz der eben angesprochenen verhältnismäßig geringen Anzahl an Gesprächspartnern bringen diese durchaus eine gewisse Vielfalt an Parametern in die Analyse ein (Tab. 22). Tabelle 22: Kontextinformationen zu den Interviewpartnern Kürzel des/der Interviewten M1
C1
Kontextinformationen
• • • • • • • • • • • • •
Weiblich Geboren nach 1990 Geboren in Ostdeutschland Mittelgroße Stadt Musikerin und Musikwissenschaftlerin Tätig im Kontext der politischen Liedermacherszene Weiblich Geboren zwischen 1960 und 1990 Geboren in der DDR Mittelgroße Stadt Cellistin Freischaffende Musikerin (vorrangig Soloprogramme) Führt zeitgenössische klassische und andere Musik auf
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O1
• • • • • • • •
C2
• • • • • • •
A1
• • • • • • • • • • •
Männlich Geboren zwischen 1960 und 1990 Geboren in der DDR Mittelgroße Stadt Oboist Orchestermusiker (Berufsorchester mit Theaterbetrieb) Ensembletätigkeiten (vor allem in der Vergangenheit) Starker Bezug zu zeitgenössischer Musik durch Studium; im Lauf der Jahre etwas nachlassend; Interesse weiterhin sehr hoch Männlich Geboren zwischen 1960 und 1990 Geboren in der BRD Umzug in die neuen Bundesländer Mitte der 1990er Jahre Großstadt Cellist Freischaffender Musiker (Soloprogramme und Ensembletätigkeiten) Spezialisiert auf zeitgenössische Musik Starker persönlicher Kontakt zu Komponisten Männlich Geboren vor 1960 Geboren in der Tschechischen Republik; Übersiedlung in die DDR in den 1970er Jahren Dorf Akkordeonist Emeritierter Professor für Akkordeon an Musikhochschule Ensembletätigkeiten und Solokonzerte Starker Bezug zu zeitgenössischer Musik durch Konzert und - Lehrtätigkeit Starker persönlicher Bezug zu Komponisten
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 243
10.3 ERGEBNISSE Mithilfe der eben beschriebenen methodischen Vorgehensweise konnte ich die folgenden übergreifenden Themenfelder und Kategorien aus den Interviews extrahieren, auf deren Basis zukünftige Erhebungen aufsetzen könnten (kritische Anmerkungen dazu siehe oben). Die in Klammern angegebenen prozentualen Anteile beziehen sich auf die Gesamtzahl aller Themenfelder in allen Interviews. Themenfeld 1 (10,31%): ästhetische und musiktheoretische Aspekte im Umgang mit Zeitgenössischer Musik; Rolle von Interpreten in der Umsetzung Zeitgenössischer Musik »Ja, aber das ist auch für mich so eine der ungelösten Fragen, wieso ist es eigentlich schlecht, wenn Musik intellektuell ist…wenn man denkt, also ich finde, Musik hat immer mit der ganzen Welt was zu tun, mit dem gesamten Menschen, der gesamten Gesellschaft, mit der ganzen Welt, da gehört der Intellekt nun mal dazu und es gibt eben Bereiche, da spielt der Intellekt ’ne größere Rolle und es gibt andere Bereiche, da spielt das Gefühl ne größere Rolle, dementsprechend gibt es Stücke, in denen der Intellekt ’ne größere Rolle spielt und gefühligere Stücke.« (C2, Zeile 234)
C2 spricht hier eine musiktheoretische Facette an, die auf den ersten Blick vom Kontext Musik und Nachwendezeit zunächst einmal unabhängig scheint. Allerdings haben meine bisherigen Untersuchungen verdeutlicht, wie eng Emotionalität und Rationalität in der Wahrnehmung und Bewertung der Nachwendezeit und ihrer gesellschaftlichen Folgen und Dimensionen einhergehen und einander bedingen. Gerade in ihrer oftmals nur schwer zu trennenden Verbundenheit stellen sie eine enorme Herausforderung für die Aufarbeitung der letzten dreißig Jahre dar. Musik, die dieses Spannungsfeld aufgreift und sowohl Interpreten als auch Rezipienten aktiv in die Auseinandersetzung mit ihm drängt, könnte hier einen wichtigen Beitrag für die gewinnbringende Auflösung dieses Dilemmas leisten. Themenfeld 2 (8,64%):
Stand und Potentiale der Aufarbeitung des Musikund Kulturlebens der DDR; Aufgaben der Forschung zur DDR-Vergangenheit
»Ich bin ja auch zu meinem Thema gekommen, ich wollte eigentlich zu sowjetischen Komponistinnen in der DDR arbeiten oder überhaupt zu Komponistinnen in der DDR und hab’ da auch gemerkt, dass da irgendwie null ist und mir hängt das auch so zum Hals raus, dass jeder Dritte Oppositionsmusik macht, das ist gruselig. Ich weiß ja nicht, wie’s bei deinem
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Thema ist, zu einzelnen Komponisten gibt’s sicher was, aber diese lange Perspektive bis heute, glaub ich nicht, dass da jemand groß…« (M1, Zeilen 6-7)
Diese Aussage beinhaltet sowohl zutreffende Argumente als auch Punkte, die einer objektiven Betrachtung nicht standhalten. Dem weitestgehend fehlenden Bick der Musikwissenschaft auf die Nachwendezeit kann ich im Sinne meiner hier vorgelegten Studien uneingeschränkt zustimmen. Eine Überbetonung der Auseinandersetzung mit dem Themenfeld Musik und Opposition in der DDR gibt die Forschungsliteratur (siehe Kapitel 5) jedoch nicht her. Hier stellt sich die Bandbreite doch deutlich größer und komplexer dar. Dennoch kann man, lässt man die tatsächliche Forschungslage einmal außen vor, in der allgemeinen Wahrnehmung (etwa durch Gespräche mit Menschen, die nur bedingt musikwissenschaftliche Bezüge haben, sich jedoch intensiv mit der DDR-Vergangenheit auseinandersetzen) den Eindruck gewinnen, dass Musik und Opposition auch in der Musikforschung einen übergroßen Stellenwert einnehmen. Dies liegt vermutlich nicht zuletzt an der durchaus gegebenen Überbetonung dieses Themas im allgemeinen zeitgeschichtlichen und gesellschaftlichen Diskurs und dem etablierten Geschichtsbild. In den ersten Kapiteln meiner Arbeit bin ich auf dieses Grundproblem ja detailliert eingegangen. Themenfeld 3 (6,72%):
soziale Absicherung von Akteuren des Musiklebens und strukturelle Bedingungen für Kulturschaffende in der DDR; Verhältnis von Kunst/Kultur und Politik in der DDR; Funktionsweise und Mechanismen des Musiklebens der DDR; Rolle des Komponistenverbandes
»Also Komponisten hier aus dem Osten haben mir bestätigt, dass wenn man im Komponistenverband war, war es klar, man kriegt irgendwie mindestens einen Auftrag pro Jahr und der wird so bezahlt, dass man davon das ganze Jahr leben kann…traumhafte Verhältnisse, wenn man sich das von heute her überlegt.« (C2, Zeile 56)
Auf diesen Aspekt kam ich bereits beim Blick auf die unmittelbare Wendezeit anhand der Einlassungen Schorlemmers zu sprechen. Zweifellos hatten viele Komponisten mit dem Wegbrechen der sozialen Absicherung zu DDR-Zeiten und den radikalen ökonomischen Paradigmenwechseln ab 1990 zu kämpfen. Zugleich müssen jedoch stets die kulturpolitischen und individuellen Herausforderungen, Zumutungen und Positionierungszwänge bedacht werden, die mit der Einbindung in die Strukturen des institutionellen Musiklebens der DDR einhergingen. Dass es sich dabei wirklich um »traumhafte Verhältnisse« handelte, mag in Zeiten großer
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ökonomischer Unsicherheiten, prekärer Verhältnisse und neuer kulturpolitischer Abhängigkeiten gerade im Bereich der zeitgenössischen Musik aus heutiger Sicht plausibel erscheinen, wird der Realität der DDR-Zeit jedoch nur bedingt gerecht. Gleichwohl wäre eine konstruktive Auseinandersetzung mit potentiell bewahrenswerten Strukturen des Kulturlebens der DDR, sofern sie nachträglich überhaupt möglich ist, durchaus angebracht. Wie so oft präsentiert sich die Wirklichkeit auch hier nicht schwarz und weiß, sondern liegt sicher in den zahlreichen Grautönen kulturpraktischer Realitäten. Das folgende Zitat veranschaulicht die verschiedenen Aspekte dieser Problematik noch einmal. »Also meine Erfahrung ist eher, dass die Neue Musikszene in der DDR sehr…wie ’ne Nische war auch, wie die Malerei, also das so ganz systemtreu und so mit Fahne hoch waren die wenigsten. Also die meisten haben…sich doch mehr oder weniger rausgehalten oder haben irgendwie klassische Themen gewählt oder…rein musikalisch, also ohne…Ballast, textlichen Ballast oder was weiß ich, also auch wenn ich Schenker nehme, der hat ja auch so einiges vertont, aber das war immer alles andre als irgendwie auf der Linie von irgendwelchen…Politbürobeschlüssen oder weiß der Geier, Kulturkonferenz.« (O1, Zeile 34)
Themenfeld 4 (5,65%):
etabliertes Geschichtsbild zur DDR und Nachwendezeit; Marginalisierung ostdeutscher Lebensrealitäten/-erfahrungen/-leistungen; pauschalisierte Abwertung der DDR-Gesellschaft und aller ihrer Bereiche; Legitimität und Anerkennung ostdeutscher (Kollektiv)Identitäten; Bewertung positiver Erfahrungen in der DDR; westdeutsches Desinteresse an ostdeutschen Lebensrealitäten
»Dass wir aktuell eine Historikergeneration haben, die eindeutig aus dem Kalten Krieg ist, die auch ein eindeutiges fast politisches Programm hat, wo es nur um Totalitarismus und Top-Down-Perspektive geht und man das Gefühl hat, das Typische halt, die DDR bestand nur aus Stasi und Oppositionellen, die sind vielleicht auch zu alt, um nochmal umzudenken, aber die besetzen Institutionen und ziehen neue Studenten und Doktoranden heran, da muss man sich echt warm anziehen, und auf Tagungen wird sich das auch in unserer Generation noch bemerkbar machen wird, dass man da im weitesten Sinne fast schon Glaubensfragen diskutiert und da sieht man auch nochmal, wie relevant das Thema ist und wo ich merke, man muss extrem vorsichtig sein, mit wem man sich da wie unterhält, weil man da auch ganz schnell einen vor den Latz geknallt bekommt, Ihre Perspektive ist ja ganz falsch und gar nicht wichtig, das ist ja gar nicht das, was die Substanz ausgemacht hat.« (C1, Zeile 129)
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Als Nichthistoriker kann ich diese Aussagen nur bedingt einordnen und lasse sie daher einmal so stehen. Grabenkämpfe im Fachdiskurs und das recht unversöhnliche Beharren auf den eigenen Standpunkten gerade bei emotional sehr aufgeladenen Forschungsthemen sind jedoch gewiss nicht nur in der Geschichtswissenschaft anzutreffen. »Also ich würde sagen, im Bereich der Musik wurde sie [die Debatte um den Einheitsprozess] kolonial geführt, natürlich hat der Westen den Anspruch gehabt, dass der Osten jetzt, wo der Osten nicht mehr Osten ist, sondern auch Westen, dass sie natürlich sich jetzt mit den westlichen Komponisten befassen, aber der Gegenanspruch, zu sagen, jetzt gucken wir doch mal, was bei euch so komponiert wurde, der bestand nicht.« (C2, Zeile 204)
Auch dieses Zitat spricht für sich. Interessant ist dabei, dass auch Interpreten, die in vielen Fällen doch eine etwas komfortablere Position haben als die von der Aufführung ihrer Werke zwingend abhängigen Komponisten, den sehr einseitigen Blick des Ostens auf den Westen und die resultierende massive Schieflage in der Wahrnehmung des Kulturlebens artikulieren. Gleichwohl zeigen ja auch meine Untersuchungen, dass sich diese Problematik vor allem in den Anfangsjahren des geeinten Deutschlands manifestierte, heute jedoch zunehmend aufweicht. Themenfeld 5 (5,44%):
Rolle des Publikums (Erwartungen, Aufnahmebereitschaft, Aufgeschlossenheit, Vorbildung etc.); Aufmerksamkeitsökonomie; Besucherzahlen
»Also so was hab ich gelegentlich erlebt, einmal ganz besonders, da war ich in Hellerau, da gabs ein Konzert für vier Kontrabassklarinetten und hinterher stand man dann so an der Straßenbahnhaltestelle und hat noch so zwanzig Minuten auf die Straßenbahn zu warten gehabt und da kam so ’ne Gruppe, vermutlich Studenten, ins Gespräch und die war’n vorher noch nie in ’nem Konzert mit zeitgenössischer Musik gewesen, aber die haben das einfach, irgendwie haben die das mitgekriegt, ah ja ein Konzert mit vier Kontrabassklarinetten, das ist ganz interessant, jetzt auch erstmal so, was keiner kennt, irgendwie ’ne Herausforderung, gehen wir doch einfach mal hin und dann haben sie festgestellt, ja das ist coole Musik, hat uns gefallen.« (C2, Zeile 81)
Mit Fokus auf Zeitgenössische Musik im Allgemeinen bestätigt dies meinen Eindruck aus der Rezeptionsstudie (siehe Kapitel 9), dass das Publikum in seinem Umgang mit scheinbar polarisierender und vorurteilsbehafteter Musik häufig deutlich offener und probierfreudiger ist, als man annehmen mag. Für die musikalische Praxis (Programmgestaltung etc.) dürfte dies auf jeden Fall Mut machen.
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 247
Themenfeld 6 (4,58%):
Stellenwert und Rezeption Zeitgenössischer Musik im Allgemeinen auf verschiedenen Ebenen (z.B. Musikerausbildung, Schulbildung, Publikumsinteresse etc.)
»Naja klar, also die Neue Musik bewegt sich in ’ner Nische…das Hauptproblem, finde ich, ist…dass, und da nehmen sich ja lustigerweise Ostdeutschland und Westdeutschland nicht so viel…in den Sechzigern Siebzigern war das irgendwie keine Frage, dass Neue Musik massiv gefördert wird.« (C2, Zeile 55) »Im Osten wie im Westen gab es so ’ne ganz gesicherte Nische eigentlich, in der Neue Musik stattfinden konnte und…meine private Ansicht ist, dass alle Komponisten und Interpreten das als zu selbstverständlich gegeben nehmen, dass es diese Nische mal gab und dass man deshalb den Anspruch hat, dass es sie weiter geben muss und natürlich find ich wichtig, dass es Neue Musik gibt, natürlich find ich wichtig, dass es…wenn man sagt Deutschland ist ’ne Kulturnation, das ist das Land der Dichter und Denker, dann ist es natürlich auch wichtig, dass Neue Musik gefördert wird…man kanns aber nicht als gegeben hinnehmen, sondern man muss, ich weiß nicht, wie ich das als einzelner kleiner Cellist tun soll, aber letzten Endes, find ich, muss dieser Diskurs darüber, wieso ist es wichtig, dass es Neue Musik gibt und dass sie gefördert wird, der müsste viel mehr geführt werden, find ich.«(C2, Zeile 57)
Bezugnehmend auf allgemeine Beobachtungen zum Nischendasein Zeitgenössischer Musik spricht C2 hier die Parallelen zwischen ost- und westdeutschem Musikleben vor und nach 1990 an. Dieser unvoreingenommene, selbstverständlicherweise gleichstellende Blick wäre auch an anderen Stellen wohltuend und produktiv. Themenfeld 7 (4,48%):
Rolle und Ziele von Programmgestaltung; pragmatische Kontexte und Bedingungen für Programmgestaltung im Allgemeinen; Akteuren der Programmgestaltung und deren (teils mangelnde) Repertoirekenntnisse
»Also wir hatten, wir haben immer noch ’ne Kammermusikreihe, die ausschließlich unserm Orchester vorbehalten ist, das sind sechs Konzerte im Jahr und da gibt’s natürlich, also die Musiker bringen ihre eignen Programme ein, da gibt’s Programmvorschläge und dann wird das Programm meistens so genommen und das eine Mal ist der dran, das and’re Mal der und da ergibt sich dann eigentlich so ein ganz guter Turnus und ich hab’ dann versucht,
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immer mal was Modernes mit reinzubringen und das war eher die Möglichkeit, das mal unter die Leute zu bringen als ein ganzes Konzert mit Neuer Musik zu machen.« (O1, Zeile 61)
Mit Blick auf die Spielplangestaltung der großen Musikinstitutionen bestätigt O1 hier die Erkenntnisse aus meinen Repertoireanalysen (siehe Kapitel 7). Zum einen tun sich gerade Orchester noch immer etwas schwer mit der programmatischen Repräsentation Zeitgenössischer Musik im Allgemeinen und ostdeutscher Musik im Besonderen. Zum anderen ergeben sich gerade in kleineren Konzertformaten Spielräume für die Auseinandersetzung, wobei jedoch individuelles Engagement und Enthusiasmus nicht zuletzt von Interpreten eine zentrale Triebfeder sind. Themenfeld 8 (3,73%):
sonstige Themenfelder
Themenfeld 9 (3,52%):
pragmatische Aspekte in der Arbeit von Interpreten; konkrete Vorgehensweise bei Auswahl und Einstudieren von Werken; (spieltechnische) Voraussetzungen zur Umsetzung Zeitgenössischer Musik
»Ich fang ganz im Kleinen an normalerweise, also was ich so mal tue, ist, dass ich ein Stück so mal durchprobiere, was aber bei Neuer Musik meistens nicht geht, also man kann da ein bisschen rumpfuschen, aber meistens ist es so, dass man es nicht vom Blatt spielen kann, wo ältere Musik, weil sie einfach Sachen benutzt, die wir mittlerweile als Tradition kennen und im Studium gelernt haben, ist es bei älterer Musik leichter, also wenn man ordentlich Cello spielen kann, kann man eine Beethovensonate einfach mal vom Blatt spielen, vielleicht nicht im richtigen Tempo, vielleicht nicht wirklich toll, aber man kann sich den Eindruck verschaffen, das geht bei Neuer Musik normalerweise nicht.« (C2, Zeile 42) »Aber man muss auch sagen, diese Sachen von den DDR-Leuten, die war’n zum Teil auch so avanciert, manchmal so schwer zu spielen auch, dass meine Kollegen, die gehen gar nicht über die Brücke ›Das ist mir viel zu schwer, viel zu anstrengend‹, die ganzen neuen Spielmöglichkeiten oder wie stellt man sein Schlagzeug auf und da sind die einfach zu faul dazu.« (O1, Zeile 64)
Hier spart O1 nicht mit Kritik an seinen Kollegen und macht noch einmal deutlich, wie sehr die Pflege des musikalischen Erbes der DDR und der neuen Bundesländer auch vom individuellen Einsatz und Interesse einzelner Akteure abhängt.
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 249
Themenfeld 10 (3,30%): allgemeiner Stellenwert und Rezeption von Zeitgenössischer Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern nach 1990; institutionelle Pflege des musikalischen Erbes Ostdeutschlands und deren Akteure; Umgang des Publikums mit ostdeutscher Musik »Ich denke, da gibt’s einfach so n paar Komponisten, die sind schon ziemlich nahtlos weiter gepflegt worden, ich denke da an Georg Katzer, der hat, glaub ich, einen guten Platz und da hats, glaub ich, auch keine Pause gegeben.« (C1, Zeile 5)
Auch wenn dies unbestritten auf einige namhafte Vertreter der ostdeutschen Musikszenen zutrifft (im klassischen wie im nichtklassischen Bereich), sind die strukturellen Voraussetzungen für ostdeutsche Künstler im Hinblick auf den gesamtdeutschen Bezugsrahmen noch immer eher ungünstig: »Also gut, wenn man jetzt ins bundesdeutsche Areal geht, dann haben die einfach ’ne kleinere Lobby, der Kreis der Menschen, die diese Leute kennen, ist einfach kleiner, prozentual, sechsmal so klein oder noch kleiner und es gibt viel weniger Gewohnheit, mit diesen Komponisten umzugeh’n.« (C1, Zeile 32)
Themenfeld 11 (3,30%): (ostdeutsche) Komponisten vor und nach 1990 im Allgemeinen (Stellung, Schaffensbedingungen, institutionelle Anbindung und Integration, Bekanntheit, Netzwerke und Gruppenstrukturen etc.) »Ich denke, dass der Schutz verloren gegangen ist, dieser Gartenzaun um die Kultur herum, also nicht nur, dass wir nicht abhauen sollten, sondern eben auch der Zaun, der zwischen Gut und Böse getrennt hat, der war weg und ich glaube, dadurch hat sich manches aufgelöst, also Politiker oder Schriftsteller oder Komponisten, die gegen diesen Zaun geschrieben haben, die hatten dann nicht mehr den Gegenstand und dann sind…dann sind eben die Leute zum Teil verstummt oder konnten sich wandeln, also entweder das oder das.« (C1, Zeile 18)
Dieses Spannungsfeld zwischen institutionellem Schutz einerseits und inhaltlichem Widerspruch gegen den (kultur-)politischen Rahmen der DDR andererseits und der daraus resultierenden schöpferischen Kraft und Relevanz von Musik wird ja wie gezeigt auch in der musikwissenschaftlichen Forschung intensiv bearbeitet (siehe Kapitel 5). Noch interessanter scheint mir hingegen die Darstellung O1s,
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dass Interpreten auch zu DDR-Zeiten gar keine wirkliche Vorstellung davon hatten, wie das Leben und Schaffen eines Komponisten konkret aussehen. Sicherlich ist dies eine generelle Problematik, die im Kontext klassischer Musik vermutlich im Allgemeinen weit verbreitet ist, jedoch die Konfliktlinien und Unwägbarkeiten im Umgang mit Musik aus der DDR noch verschärft. »Ja das ist das einzige, was ich weiß mit diesen strukturellen, ich weiß auch nicht, ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie ein DDR-Komponist, wie der gelebt hat, wie der in den 90er Jahren, also ich kenn das nur so aus dem Fernsehen, hier von so ’nem Popmusiker, wie die dann damals so noch viele so 10, 15 Jahre gebraucht haben, um wieder rauszukommen, wenn überhaupt, so Leute wie Achim Menzel, die dann immer im Autohaus gesungen haben und so.« (O1, Zeile 42)
Themenfeld 12 (3,20%): Konzertformate; Aufführungskontexte; Aufführungsorte »Wir haben ja jetzt seit drei Jahren auch im Bauhaus ne Serie Staging the Bauhaus, war jetzt glaub ich schon die vierte Folge, naja und da machen wir dann eben auch so ganz krasse Sachen, da haben sie jetzt sechs Flügel hingekarrt irgendwie und da haben sie dann halt Les Noces von Strawinsky gemacht mit vier Flügeln und den ganzen Chor auf die Bühne gestellt, kann man sich vorstellen, was das für ein Gedröhne war in dem kleinen Raum. Und das sind dann eben auch so ganz spezielle Sachen…da werden dann irgendwelche Dias gezeigt von irgendwelchen Malern, die zur gleichen Zeit gelebt haben. Ja oder irgendwelche Leute, die am Bauhaus studieren, machen dann irgendwas, das kommt dann natürlich besser an als nur ein reines Konzert, wo es dunkel wird und man spielt.« (O1, Zeilen 121-123)
Auch hier spricht O1 hinsichtlich der Ausgestaltung von Konzertformaten, den Erwartungen und Hörgewohnheiten des Publikums sowie der allgemeinen Aufmerksamkeitsökonomie grundlegende Herausforderungen des Kulturbetriebes an. Für Musik aus Ostdeutschland im Besonderen stellt dies noch eine zusätzliche Hürde auf dem Weg zu angemessener und breiter Wahrnehmung und Beachtung dar. Themenfeld 13 (3,09%): Kulturförderung; strukturelle Bedingungen von Kulturförderung; Kriterien für Vergabe von Fördermitteln; Ausrichtung von Fördermittelausschreibungen; Aufgabe von Kulturförderung; Qualität und Dichte der deutschen Kulturlandschaft im Allgemeinen
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 251
Gleiches gilt für die diversen Aspekte und Aushandlungsprozesse im Rahmen der Kulturförderung. Auch hier gilt, diverse praktische Klippen zu umschiffen. »Weil man sich auch die Frage stellen muss, was sind eigentlich Kriterien, also wenn man sagt, es muss, es ist richtig, dass es öffentliche Förderung gibt, muss man sich natürlich auch Gedanken über Kriterien machen.« (C2, Zeile 74) »Es wurden ja damals Institutionen gegründet, die auch, also soweit ich das beurteilen kann, sich der Pflege der aktuellen Musik eben auch annahmen, also das war der Deutsche Kulturrat, glaub ich, dann gabs irgendeine Förderung, nee, Stiftung Kulturfonds, da hab’ ich nämlich selber auch Geld beantragt für Konzerte…und das ging auch relativ unproblematisch, unbürokratisch, also man musste da einfach nur hinschreiben und das gab dann natürlich so prozentuale Geschichten, dass maximal 33% gefördert wurden.« (O1, Zeile 37) »Ich hab’s einmal erlebt, da hab’ ich ein Konzert wirklich absagen müssen, weil vorher, das war sehr, sehr, sehr ungünstig, weil dann musst’ ich halt die ganzen Förderzusagen wieder zurückgeben und danach hab’ ich nie wieder welche gekriegt.« (O1, Zeile 41)
Themenfeld 14 (2,88%): aktueller Umgang mit/Marginalisierung von Zeitgenössischer Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern in Programmgestaltung und Spielplänen; Kanonbildung; Relevanz der Herkunft von Komponisten für Aufnahme in Programme »Das war auch angekündigt so unter dem Gesichtspunkt, gucken wir doch mal, wie jetzt Komponieren im Westen und im Osten unterschiedlich war und wie auch, auch unter diesem Gesichtspunkt, Komponisten in den 60ern hatten es relativ leicht, aber was waren eigentlich die Einschränkungen, die sich aus ihrer jeweiligen Fördersituation ergeben haben. Jetzt zwei Jahre später da draufgeschaut, muss ich sagen, eigentlich ist das Konzert als ästhetische Zusammenstellung aufgegangen, unter diesem Gesichtspunkt hat es keine Rolle gespielt, also da wars egal, das war mal so ein Punkt, wo ich, wo dieses Ost-West wirklich ’ne Rolle gespielt hat, eigentlich wollten wir da auch noch Bredemeyer spielen, der ja rein biografisch jetzt auch in so ’nem Zusammenhang interessant ist, aber irgendwie…erstens war das Programm dann schon lang genug, zweitens ist es bei Bredemeyer auch schwer, die Noten wirklich zu bekommen, wenn sie nicht schon richtig verlegt sind. Letztes Jahr gabs ’ne Ausschreibung vom Land Sachsen…zu 25 Jahre Wiedervereinigung und der Frage, wie sich das im Kulturleben ausgewirkt hat…und da hab ich ein Projekt vorgeschlagen unter dem Titel „Aus alle Welt, in alle Welt“…der Spruch von [unverständlich]…das hab ich mir jetzt auch nochmal durchgelesen, also passgenau zu der Mail, die ich dir geschrieben hatte,
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der Aspekt dieses Programmes war, zu sagen, Sachsen hat sich in den 25 Jahren dahin entwickelt, zumindest im Bereich der zeitgenössischen Komposition, dass es eigentlich keine Rolle mehr spielt.« (C2, Zeilen 192-194)
C2 zeigt mit diesen Einschätzungen erneut auf, wie leicht sich das an sich überkommene plakative Ost-West-Schema in Denken und Handeln überwinden ließe. Voraussetzung dafür ist jedoch die Grundauffassung, dass Musik aus Ost und West in ihrem ästhetischen Gehalt zunächst einmal gleichwertig (entweder gut oder schlecht) sind und gleichberechtigt Beachtung finden müssen. Setzt man dies aktiv um, spielt die Herkunft von Musik und Komponisten höchstens noch in internationalen Dimensionen eine Rolle. Themenfeld 15 (2,77%): Zusammenarbeit von Interpreten und Komponisten; Freundschaften mit Komponisten; Bereicherung von Interpretationen durch Austausch mit Komponisten »Also um die Musik zu spielen, finde ich, ist der persönliche Kontakt nicht wichtig, die Musik steht in den Noten und ich mein, es ist immer schön, mit dem Komponisten zu proben, es ist aber auch so, dass es Komponisten gibt, die ’ne ganz genaue Vorstellung haben, wie das klingen soll und eigentlich da keinen Weg rechts und links davon sehen und das find ich eigentlich schade, also dann sollen sie es selber spielen, überspitzt gesagt oder sollen Wege finden. Weil ich finde das Spannende an dieser Situation, dass man Komponisten hat und Interpreten, ist ja, dass verschiedene Individualitäten da miteinander zu tun haben und etwas rauskommt, was von verschiedenen Leuten bereichert wird. Die Sorge hab’ ich den Eindruck steht dahinter immer, dass, was es ja leider auch gibt, dass Interpreten bisschen grob über die Noten drüberschauen und dann machen, was ihnen Spaß macht, also das ist natürlich nicht gemeint, also das ist dann, das nimmt ja dem Stück des Komponisten auch was weg.« (C2, Zeilen 25-27)
Diese Aspekte wiederum sind völlig unabhängig von der Ost-West-Thematik in der Musik, für sich genommen jedoch sehr interessant, da sie die besondere Beziehung zwischen Komponisten und Interpreten in sehr anschaulicher Weise illustrieren. Themenfeld 16 (2,67%): Ensembles für Neue Musik in Deutschland; aktive Mitgliedschaft in Ensembles für Neue Musik; Arbeit als freischaffender Musiker
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»Muss aber sagen, dass, also ich hab dann nach der Wende auch beim Ensemble Avantgarde gespielt, im Gewandhaus da haben wir auch schon mal Goldmann gespielt, Friedrich Goldmann, der hat dann da auch selber dirigiert, großartiger Mann, also toller Komponist und sehr, sehr guter Dirigent.« (O1, Zeile 23)
Diesen aufführungspraktischen Kontext konnte ich in meinen Repertoireanalysen mangels verfügbarer Daten leider nicht aufgreifen. Für zukünftige Studien wäre ein genauerer Blick auf die Rolle von Ensembles im Bereich der Zeitgenössischen Musik lohnenswert. Themenfeld 17 (2,67%): Zuwendung zu/Aneignung von/Interesse an westlicher/westdeutscher Musik durch ostdeutsche Interpreten und Akteure des Musiklebens nach 1990; Etablierung des westdeutschen Kanons im ostdeutschen Musikleben nach 1990; fehlendes Interesse Westdeutschlands an musikalischem Repertoire aus Ostdeutschland »Ich hab dann auch mehr mich mit der Neuen Musik beschäftigt nach der Wende, im Studium hab ich alle möglichen Gelegenheitskompositionen so gespielt und dann erst aber der 90er-Jahre-Zeit viel mehr beschäftigt mich damit und dann war auch die Neugier nach der andern Musik, die man vorher nicht gekannt hat.« (C1, Zeile 14)
Den (zwangsläufigen) Interessenswandel in der Zeit nach der Wende und die verstärkte Hinwendung zu nun leicht verfügbarer westlicher Musik sprechen die Interpreten in den Interviews zwar nur vereinzelt an. Hier könnte jedoch in Zukunft verstärkt geforscht werden. Themenfeld 18 (2,35%): individuelle Werdegänge und Prägungen von Interpreten; musikalische Vorlieben von Interpreten »72 zum Beispiel hat Georg Katzer sein erstes Stück für Akkordeon geschrieben, das ist eine Toccata und damals dachte ich, was für eine blöde Musik, so was kann man gar nicht spielen und mit der Zeit hab ich das Stück grade richtig liebgewonnen, lieben gelernt und hab das Stück dann auch viel gespielt in der Zeit…und dann später hab ich ihn dann persönlich kennengelernt und das war sehr schön und danach hab ich ziemlich viele neue Stücke von ihm uraufgeführt und auch initiiert.« (A1, Zeile 37)
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Auch die Frage, wie sich musikalische Vorlieben von Interpreten auf die Aufführung von Werken und die sich teils wandelnde Beziehung zu diesen auswirken, könnte im Kontext ostdeutscher Musik von der Forschung in den Blick genommen werden. Themenfeld 19 (2,35%): Qualität von Musik als Kriterium für die Rezeption in verschiedenster Hinsicht; Materialstand der Kunstmusik aus der DDR; kompositorische Aspekte von Werken »Davor glaub ich kaum, ich glaub, vor der Wende war das echt ein Osttyp, ich weiß nicht wodurch, irgendwelche Glücksfälle oder weil er einfach gute Musik schreibt und weil sie auch nicht so auf das System beschränkt bleibt.« (C1; Zeile 6) »Na das schon, also man hat natürlich versucht, nach der Qualität der Musik zu gehen oder was einer für Qualität hielt, aber es war auch eine große Breite, die ganzen Komponisten, die im Komponistenverband agierten oder agieren, waren da mit einbegriffen.« (A1, Zeile 13)
Die Frage nach der musikalischen Qualität und dem Gehalt von Werken stellt sich bei Musik aus der DDR natürlich in besonderem Maße. Gerade die kulturpolitischen und ästhetischen Rahmenbedingungen des Musiklebens der DDR (Stichwort Sozialistischer Realismus) machen eine intensive Auseinandersetzung mit Komponisten, Werken und deren individueller Positionierung unabdingbar. Gerade für die Aufführungspraxis und Programmgestaltung stellt dies unbestritten eine Herausforderung dar, die jedoch nicht gescheut werden sollte. Themenfeld 20 (2,24%): persönliches Engagement von Interpreten für Zeitgenössische Musik im Allgemeinen und ostdeutsche Musik im Besonderen »Ich hab’ manchmal in Kammerkonzerten mal ’nen Monolog von Schenker gespielt, zum Beispiel, oder ich hatte Mitte der 90er Jahre Konzerte im Bauhaus organisiert und da hatte ich auch mal mich drum gekümmert, dass mal von meinem Freund Schleiermacher ein Stück kam. Aber ansonsten…also hier in D. war das dann eher zu vernachlässigen. Also es gab dann Leute wie Eisenhardt und so, der schickte mir auch mal ein Stück, und ob ich das nicht mal spielen konnte, aber das war mir selber zu…zu konventionell, da hatte ich keine Lust und da verschwand das dann irgendwie in der Schublade.« (O1, Zeilen 19-21)
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Die Bedeutung des individuellen Engagements einzelner Akteure für die Aufführung und Verbreitung ostdeutscher Musik habe ich bereits weiter oben deutlich gemacht. Themenfeld 21 (2,03%): strukturelle/soziale/politische Veränderungen nach 1990; Wahrnehmung des Umbruchs der Wendezeit; Delegitimierung bestehender gesellschaftlicher Strukturen im Zuge der Wende; Negierung der eigenen Wurzeln durch Ostdeutsche nach 1990; Marginalisierung der kulturellen Vergangenheit und Wurzeln Ostdeutschlands; Herkunft als Stigma »Ja, davon bin ich auch persönlich betroffen, weil mein Vater hatte eine Arbeit in Erfurt, die mit der Bildenden Kunst verbunden war und am Ende, Anfang der 90er Jahre, am Ende seiner Arbeitszeit gabs diese Institution nicht mehr und diese Arbeit nicht mehr und dann wars einfach vorbei…und ganz viele Menschen waren beteiligt vorher und waren…in der Struktur zusammengehalten. Das ist schon wirklich ein Phänomen, wie sich so geistige Werke auflösen können… Gut, es hat sich ja auch der Stellenwert der Kirche verändert, vorher war es ja auch wichtig, Opposition zu sammeln und dann war das gar nicht mehr das Thema, war auch die Kirche in ihrer Funktion verändert. Was vorher vielleicht so ’ne elitäre Geschichte war, da gabs dann solche Dinge ganz viel mehr und dann war das gar nicht mehr so interessant.« (C1, Zeilen 227-230) »Absolut, es ist nur so, dass diesen Komponisten halt dieses Stigma anhaftet, dass sie eben in einem unfreien Land gelebt und komponiert haben und dass sie, meistens haben sie so den Geruch von Staatskünstlern, weil durch dieses, wie Sie ganz am Anfang gesagt haben, dieses Auftragssystem, was ja überhaupt nichts zu sagen hat, irgendwie musste es ja funktionieren, aber das haftet den Leuten eben an dieses Staatskünstlertum irgendwie und die Leute haben’s am liebsten, so ein armer Bohémien, der in seiner Bude sitzt, kein Geld verdient und halb erfroren ist, halb verhungert, dann glauben Sie es ihm…ich meine, Kunst braucht einen Mäzen.« (O1, Zeilen 86-87)
Diese Aussagen sprechen für sich und machen noch einmal die Komplexität des Themas deutlich. Einfache Zuschreibungen und Wertungen ziehen zwangsläufig entweder eine Stigmatisierung oder Nichtbeachtung von Komponisten, Werken und ostdeutscher Musik im Allgemeinen nach sich. Dass sich hier jedoch bereits viel verändert hat und sich der Blick mittlerweile zumindest in einigen Bereichen geweitet und relativiert hat, zeigen meine Studien.
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Themenfeld 22 (1,92%): Rolle von Verlagen; Akteure im Verlagswesen; Verfügbarkeit von Notenmaterial; Qualität von Notenausgaben »Also ich hab’ ein Stück gespielt…Sequenza XIV von Luciano Berio und die Noten, die der Verlag herausgegeben hat, sind ’ne Katastrophe, da sind lauter Sachen, also die offensichtlich falsch sind, von Uneindeutigkeiten mal ganz zu schweigen, aber es sind offensichtliche Fehler drin. Ich hab mit dem Verlag lange darüber geredet, eigentlich sollte es ’ne Neuausgabe geben, wo das mal korrigiert ist, da müsst ich mal wieder nachfragen, wie weit sie da eigentlich sind, weil ich ihnen da ’ne Liste gemacht habe mit den, also Berio ist ja nun leider auch gestorben, aber mit seinem Assistenten hab ich auch lange darüber telefoniert und so, egal, in diesem Zusammenhang jedenfalls, der Mensch vom Verlag sagte, wenn ich noch Fragen hätte, könnte ich mir ja auch die Aufnahme von Rohan de Saram anhören, der es uraufgeführt hat, das wär’ ja irgendwie auch entscheidend.« (C2, Zeilen 48-49)
Zwar bezieht C2 seine Äußerungen hier nicht explizit auf die Verlagssituation hinsichtlich ostdeutscher Komponisten und Werke. Dies ist jedoch ebenfalls ein zentraler Aspekt (Verfügbarkeit von Notenmaterial, Qualität von Notenausgaben, Zusammenarbeit von Komponisten und Verlagen etc.), der für die Nachwendezeit wesentlich stärker erforscht werden sollte, um auch basale aufführungspraktische Grundlagen und Bedingungen im Umgang mit ostdeutscher Musik offenzulegen. Themenfeld 23 (1,92%): Zeitzeugen; Archive; Nachlässe; Quellenmaterial Themenfeld 24 (1,60%): Auftragswesen im Bereich Zeitgenössischer Musik im Allgemeinen; strukturelle Bedingungen der Szene für Neue Musik im Allgemeinen; Auftragswesen im Musikleben der DDR »Es gibt ja viele Komponisten aus der DDR, die so simpel thematisch geschrieben haben, was also wirklich nicht interessant ist, also…so sozialistischer Realismus in der Musik…das hätte nur Bestand gehabt, wenn das System geblieben wäre durch Förderung und so weiter, aber nicht in der Freien-Markt-Szene.« (C1, Zeile 7)
Auch diese Facetten des Musiklebens der DDR klangen weiter oben bereits mehrfach an.
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 257
Themenfeld 25 (1,60%): Vermittlung Zeitgenössischer Musik »Die Gefahr ist einfach, dass man fünf Minuten ein noch so tolles Stück hört und das wird dann irgendwann grau, weil einfach viel und unterschiedlich und es steht nicht zueinander in Beziehung und das finde ich einfach für ’nen Kommentar sinnvoll, also im Grunde, wenn man sich vorstellt, man steht mitten in der Wüste und das Stück könnte ja überall sein, dass man einfach sagt, es ist ungefähr in dieser Richtung, schaut mal in die Richtung, das gibt euch Anhaltspunkte für dieses Stück und jetzt drehen wir uns mal um 87 Grad und das gibt dann Anhaltspunkte fürs nächste Stück, diese Blickrichtung, was man dann sieht bzw. hört, das ist dann eben Sache des Publikums.« (C2, Zeile 98)
Die Vermittlung Zeitgenössischer Musik müsste auch und gerade mit Blick auf die Auseinandersetzung mit ostdeutschen Komponisten und Werken stärker ins Blickfeld kulturpraktischer Akteure rücken. Was beispielsweise in der konzertpädagogischen Realität bereits gängige Praxis ist (Einführungen, Vorträge, Gesprächskonzerte), käme der Wahrnehmung ostdeutscher Musik mit einem stärkeren Fokus auf deren spezifische Deutungskontexte sicherlich zugute. Themenfeld 26 (1,28%): Rolle des Rundfunks in der Förderung Zeitgenössischer Musik im Allgemeinen und des ostdeutschen Repertoires im Besonderen »Und eine sehr große Rolle spielte damals auch der Rundfunk, also mehr noch, damals hieß das Deutschland Radio Kultur, oder Deutschland Radio, oder hieß das noch anders vorher, ich glaub, das hieß noch mal irgendwie anders in den 90er Jahren, aber weiß ich jetzt nicht mehr genau, also das was jetzt Deutschland Radio ist und die hatten sehr sehr aktive Musikredakteure, die sehr dran interessiert waren, auch in der Provinz was zu machen.« (O1, Zeile 38)
Wie in Kapitel 5 gezeigt befasst sich die Musikforschung aus verschiedensten Blickwinkeln bereits eingehend mit der Rolle des Rundfunks in der DDR. Diese Perspektive müsste dringend auf die Nachwendezeit ausgedehnt werden. Themenfeld 27 (1,28%): ostdeutsche Sozialisation und deren aktive Reflexion als Faktor in der Arbeit von Akteuren im Umgang mit ostdeutscher Musik »Ja nicht umsonst bin ich auch immer noch hier…weil’s die Unterschiede ja doch noch gibt und weil ich das hier liebe, zu sein und das Menschengeflecht, das mir sehr, sehr wichtig
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ist, einfach hier sehr stark gewachsen ist, das würde ich nicht so einfach aufgeben, aber immer mit der Bewegungsfreiheit so.« (C1, Zeile 27)
Diese zentrale, nicht unmittelbar auf Musik bezogene Thematik habe ich in den Anfangskapiteln dieser Arbeit eingehend beleuchtet. Von den Interpreten wird die eigene ostdeutsche Herkunft in mal mehr mal weniger starkem Ausmaß natürlich auch reflektiert. Themenfeld 28 (1,28%): Funktion von Musik im gegebenen gesellschaftlichen Kontext Themenfeld 29 (1,17%): Elitenaustausch/ strukturelle Veränderungen/ Kontinuitäten in ostdeutschen Musikinstitutionen nach 1990 »Also ich glaub, das zieht sich bis heute durch…also der Steffen Schleiermacher…also ich hab’ jetzt wenig Kontakt zu ihm, mir hat nur ein Freund und Kollege erzählt, der hatte sich um die, der hatte ja die ganzen Jahre immer unterrichtet an der Hochschule, aber dann wurde halt die Kompositionsklasse frei, die Professur, und dann haben sie ihn nicht genommen, da haben sie Claus-Steffen Mahnkopf genommen, aus dem Westen…schwieriges Thema…weiß nicht, wie Franke drüber spricht, keine Ahnung.« (O1, Zeile 111)
Hierbei handelt es sich in der Tat um ein »schwieriges Thema«. Der Elitenaustausch nach 1990 und die damit verbundenen individuellen und kollektiven strukturellen und emotionalen Belastungen für die Betroffenen aber auch die ostdeutsche Gesellschaft insgesamt werden im zeitgeschichtlichen Diskurs oft nur in Ansätzen diskutiert und gewürdigt. Die musikwissenschaftliche Beschäftigung mit Ostdeutschland macht dabei keine Ausnahme, könnte zukünftig jedoch aktiv mit gutem Beispiel vorangehen. Auch eine kritische Auseinandersetzung mit fachgeschichtlichen und hochschulpolitischen Entwicklungen und Entscheidungsprozessen stünde unserem Fach in diesem Zusammenhang gut zu Gesicht. Themenfeld 30 (0,85%): strukturelle/soziale Kontinuitäten nach 1990; Kontinuitäten im Kulturleben nach 1990; Kontinuitäten in der Pflege des musikalischen Erbes der DDR »Und das hat sich der Verein auch auf die Fahnen geschrieben, dass linkes Liedgut erhalten bleibt und weitergeht, insofern ist das genau ähnlich von der Konstellation her und ich finde absolut, dass man sich damit beschäftigen muss und…vielleicht einfach, für mich ist der
Zu Gehör bringen – Interviews mit Interpreten | 259
Begriff der Erfahrung sehr wichtig, dass man auch diese positive DDR-Erfahrungen und die Erfahrung einer DDR-Identität mitnimmt und ernstnimmt.« (M1, Zeile 104) »Ich hatte aber auch als Spielerin, als Interpretin hab’ ich nicht überhaupt nicht das Gefühl von nicht kompatibel zu sein oder nicht verstanden zu sein, ging nahtlos über, war aber sicher auch anders als Komponist.« (C1; Zeile 30)
Diese Aussagen machen deutlich, dass es auch aus Sicht von Interpreten neben zahlreichen Abbrüchen und Umbrüchen im Zuge der Wende und Wiedervereinigung viele Kontinuitäten über den Systemwechsel hinweg gab, die die heutige ostdeutsche Identitätsbildung ebenso prägen wie die gravierenden Transformationserfahrungen der Nachwendezeit. Themenfeld 31 (0,64%): Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Ostund Westdeutschland aus heutiger Sicht; Mentalitätsunterschiede regionaler und lokaler Natur »Und die Ruhrgebietler sind für mich wie die Sachsen, dass sie so ganz unverblümt was sagen können und das so stehen lassen, ohne Vermittlung, das mag ich, man muss nicht rätseln, ›wie meint der das jetzt, oder was denkt der eigentlich?‹ Das kommt mir in Süddeutschland so vor, ›was steckt dahinter eigentlich?‹, eben mehr Etikette so.« (C1, Zeilen 207-208)
Neben diesen Kategorien kamen in den Interviews noch einige punktuell angesprochene Themen zur Sprache: • Wahrnehmung und öffentliches Image von zeitgenössischen Komponisten zu • • • • • • • • •
DDR-Zeiten Auseinandersetzung von Interpreten mit Musikforschung Auftrittsanfragen an Interpreten für Programme mit Neuer Musik Regionale/lokale Einordnung und Zuordnung von Komponisten nach 1990 (internationaleres) Selbstverständnis von Komponisten nach 1990 Verknüpfung von Unabhängigkeit und Authentizität von Komponisten in der öffentlichen Wahrnehmung (Bild des freien Bohémians) Marginalisierung konventionell schreibender klassischer Komponisten im 20./21. Jahrhundert Diskurs über zeitgenössische Komponisten stärker als über konventionelle Komponisten des 20./21. Jahrhunderts Fehlende breite Auseinandersetzung mit Repertoirebeständen durch Dozenten Komponistinnen in der DDR
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• Überwiegende Zahl der DDR-Forscher hat keinen ostdeutschen Erfahrungshin-
tergrund Eröffnung neuer Möglichkeiten für Interpreten nach 1990 Heimat(gefühl) als Ausdruck sozialer Geflechte und Lebensbeziehungen Rezeption von Aufführungen (eigener Werke) durch Komponisten Popularität von Werken bei Interpreten Kunst und Geschmack Wahrnehmung von Interpreten Neuer Musik durch Musikjournalismus und Musikkritik • Spezieller Umgang mit Repertoirefragen bei exotischeren Instrumenten • Strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Musikleben der Ostblockstaaten vor 1990 • Zusammenarbeit und Austausch von Musikern und Musikwissenschaftlern • • • • • •
10.4 PRAXIS UND PRAGMATISMUS – FAZIT Eine umfassendere Analyse und Einordnung aller genannten Themenfelder und ihrer durch die Interpreten zugeschriebenen Bedeutungen und Gewichtung sollte in einem anderen Kontext erfolgen. Bereits auf den ersten Blick lässt sich jedoch folgende zentrale Erkenntnis formulieren: Zwar spielen auch in der Wahrnehmung der befragten Musiker ostdeutsche Marginalisierungserfahrungen nach 1990 sowie die aktive Erinnerung an auch positive Aspekte des gesellschaftlichen Lebens in der DDR eine wichtige Rolle. Diese Themenfelder sind jedoch deutlich weniger dominant, auch wenn meine eben vorgestellte Zitatauswahl durch die Fokussierung auf das gegebene Thema auf den ersten Blick einen anderen Eindruck gewinnen lässt. Stattdessen beziehen sich die Interpreten insgesamt eher auf abstrakte Fragen der Wahrnehmung und Vermittlung von Musik und Kunst in gesellschaftspolitischen Kontexten oder auf ganz konkrete pragmatische Strukturen und Schaffensbedingungen. Somit lässt sich der in der Rezeptionsstudie gewonnene Eindruck an dieser Stelle durchaus bestätigen, dass sich zwar auch auf dem Gebiet der Musik Versäumnisse und Schwächen im deutsch-deutschen Integrationsprozess zeigen. Die musikkulturelle Landschaft insgesamt tritt dem Thema jedoch deutlich pragmatischer und vorurteilsfreier gegenüber, als dies in zahlreichen anderen Bereichen der Fall ist. Dies ist ein weiterer Beleg für die Annahme, dass sich die Musik und mit ihr verbundene künstlerische, kulturpolitische und soziale Interpretations- und Handlungsräume sehr gut für eine Umorientierung, Neuausrichtung und positive Aushandlung der Chancen und Herausforderungen eines zukünftig nachhaltigeren deutsch-deutschen Zusammenwachsens eignen würden.
Getrennt vereint! Ein ambivalentes Fazit
11 Zentrale Erkenntnisse, Anknüpfungspunkte für die Forschung und Methodenkritik
Die verschiedensten im Verlauf der Darstellungen angesprochenen Teilbereiche waren in ihrer Methodik und hinsichtlich inhaltlicher Facetten bewusst sehr heterogen angelegt. Daher wäre es an dieser Stelle wenig gewinnbringend, noch einmal im großen Stil einer umfangreichen Gesamtdiskussion und in detaillierter Form auf die Vielfalt der zu Tage gebrachten Teilergebnisse und Erkenntnisse abzuheben. Zumal diese Art der Ergebnisdiskussion jeweils zum Schluss der einzelnen Teildarstellungen bereits ausführlich geschehen ist. Daher werden die hier angestellten zusammenfassenden Überlegungen und Einordnungen etwas knapper und stringenter ausfallen, indem ich noch einmal die wichtigsten übergeordneten Befunde und vor allem die entsprechenden Ausgangspunkte für potentiell auf meine Studien aufbauende Forschungsvorhaben rekapituliere. Gleiches gilt für die übergreifende Methodenkritik. Im abschließenden Kapitel folgen dann drei pointierte Plädoyers für die musikwissenschaftliche Forschung, die musikalische Praxis und den allgemeinen gesellschaftlichen Diskurs sowie zehn zugespitzte Thesen als Quintessenz meiner Untersuchungen.
11.1 ZENTRALE ERKENNTNISSE UND ANKNÜPFUNGSPUNKTE 11.1.1 Wende und Wiedervereinigung aus Sicht von Zeitzeugen Die Wahrnehmung und Bewertung der politischen Wende in der DDR von 1989/90, der deutschen Wiedervereinigung, der vielschichtigen Transformationsprozesse in Ostdeutschland nach 1990 und des deutsch-deutschen Zusammen-
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wachsens bis heute fallen aus Sicht von unterschiedlich stark persönlich und beruflich in die Wendeereignisse involvierten Zeitzeugen naturgemäß sehr differenziert, teils widersprüchlich, mitunter auch sehr pointiert und provokant aus. Dabei werden sowohl positive als auch negative Aspekte der Vergangenheit und Gegenwart vielfältig artikuliert. Zentral sind etwa: • die Komplexität und Heterogenität von Wirkungsmechanismen und Zusam-
menhängen • die Wahrnehmung und Aufarbeitung individueller und kollektiver Umbruchser-
fahrungen • Kontinuitäten in spezifisch ostdeutschen kulturellen und lebensweltlichen Prak-
tiken und Anschauungen • die wachsende Annäherung zwischen Ost- und Westdeutschland
Letztlich sind sich die Akteure in einem Punkt einig: Wende und Wiedervereinigung wirken bis heute tief in die ost-, aber auch in die gesamtdeutsche Gesellschaft hinein. Trotz aller individueller und kollektiver Erfolgsgeschichten und objektiv messbarer positiver Veränderungen hallen die 1990 im Wiedervereinigungsprozess verpassten Chancen auch heute noch nach. Negative Erfahrungen und immer noch bestehende deutsch-deutsche Vorbehalte erschweren das Zusammenleben und Zusammenwachsen in Ost- und Westdeutschland, sind jedoch keineswegs unüberwindbar. 11.1.2 Forschungslandschaft Vor allem die zeithistorische und die sozialwissenschaftliche Forschung befassen sich seit der Wende kontinuierlich mit den gesellschaftlichen Prozessen, Wirkungen und Nachwirkungen dieser Zeit bis in die Gegenwart. Dabei kam es im Laufe der Jahre zu teils erheblichen konjunkturellen Schwankungen hinsichtlich der Methoden, Erkenntnisinteressen, Inhalte, zugeschriebenen Relevanz oder übergeordneten Theorien (Transformation, Transition, kultureller Kontinuitäten). Zusammenfassend lässt sich festhalten: • Ostdeutschland ist als Teilgesellschaft wissenschaftlich beschreibbar. • Genuin ostdeutsche kollektive Identitäten sind sowohl theoretisch als empirisch
(re-)konstruierbar und nachweisbar. • Die spezifisch ostdeutschen Wende- und Transformationserfahrungen werden
sowohl intra- als auch transgenerational weitergegeben und verankert.
Zentrale Erkenntnisse, Anknüpfungspunkte und Methodenkritik | 265
• In der poststaatssozialistischen Theorie und Realität stellen Ostdeutschland und
die deutsch-deutsche Integration einen Sonderfall dar, der eine Einordnung und den Vergleich mit den Transformationsprozessen in den übrigen postsozialistischen Staaten kompliziert macht. • Aktuelle empirische Studien stützen den Befund, dass der Prozess der deutschen Einheit auch 30 Jahre nach der Wiedervereinigung noch nicht abgeschlossen ist. In der musikwissenschaftlichen Forschung spielen die Entwicklungen im Musikleben der Zeit nach 1990 dagegen bislang so gut wie keine Rolle. 11.1.3 Medialer, publizistischer und journalistischer Diskurs Die eben genannten Befunde finden sich auch im Bereich des medial auf den unterschiedlichsten Kanälen geführten Diskurses wieder. Hier liegt der Fokus jedoch oftmals auf den für die spezifische Ausformung der angesprochenen ostdeutschen Identitäten prägenden Marginalisierungserfahrungen der ostdeutschen Bevölkerung nach 1990 (in Bezug auf Lebensleistungen, (Nach-)Wendeerfahrungen, Identitätsfragen etc.) sowie deren Auswirkungen auf aktuell zu beobachtende politische Entwicklungen und Tendenzen in Ostdeutschland, die von einigen prominenten Autoren gezielt miteinander in Verbindung gebracht werden. Zudem wird herausgearbeitet, dass der Diskurs über die ostdeutsche Teilgesellschaft vorrangig innerhalb ebendieser stattfindet. Die gesamtdeutsche Auseinandersetzung mit der Zeit nach 1990 hingegen bewegt sich aus überwiegend westdeutscher Sicht in impliziter bundesdeutscher Tradition und Kontinuität. Ostdeutsche Identitätsmuster werden vor diesem Hintergrund noch immer stark in unmittelbaren Zusammenhang mit der Aufarbeitung und Bewertung der DDR-Zeit gebracht. Die Vertreter des vorgestellten medialen Diskurses zu Ostdeutschland fordern daher eine verstärkte Hinwendung zu den Ereignissen und Entwicklungen der Nachwendezeit. 11.1.4 Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern in den Programmen von Musikinstitutionen Analysen des Umgangs von musikkulturellen Institutionen in Deutschland mit musikalischem Repertoire ost- und westdeutschen Hintergrunds haben vor allem folgende Aspekte aufgezeigt. • Die unterschiedlichen Arten von Institutionen (hier als Vertreter Festivals, Or-
chester und Solokünstler) erweisen sich als äußerst divers in ihrem Umgang mit musikalischem Repertoire.
266 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
• Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern hat aus gesamtdeutscher
Perspektive durchaus einen Platz in den Spielplänen. Besonders für die 1990er Jahre ist eine Art »Ost-Exoten-Bonus« festzustellen. Ab den 2000er Jahren kommt es zunehmend zu einer ausgeglichenen Repräsentation ost- und westdeutscher Werke. • Ostdeutsche Musik hat vor allem im Bereich der punktuell und zeitlich begrenzten Festivals eine Plattform. In der kontinuierlichen und reichweitestarken Arbeit von Orchestern und Konzerthäusern nimmt sie einen deutlich geringeren Stellenwert ein. • Es ist bis heute eine relativ stabile Trennung der gesamtdeutschen Musiklandschaft in einen ost- und einen westdeutschen Teilbereich nachzuweisen. Diese unterscheiden sich in ihrem Umgang mit dem Repertoire stark voneinander und bevorzugen die Pflege der jeweils »eigenen« Werke und Komponisten. Dieser Effekt scheint bei westdeutschen Institutionen ausgeprägter zu sein. Für die Musikforschung ergeben sich in diesem Bereich vielfältige Perspektiven. Neben der umfangreichen und detaillierten statistischen Auswertung breiter Repertoiredatenbestände könnten hier vor allem – gerade mit Blick auf das methodische und erkenntnistheoretische Angebot und Potential der Digital Humanities – Netzwerkanalysen mit personellem oder institutionellem Fokus zu wertvollen Erkenntnissen führen. Einerseits würde so ein wichtiger Beitrag zur Modellierung und für ein tieferes strukturelles Verständnis der deutschen Musiklandschaft geleistet, zum anderen könnte auf diese Weise erforscht werden, inwiefern Identitätsfragen und gesellschaftspolitische Dimensionen von Musik auch in der musikalischen Repertoirepflege verankert sind und von dieser reflektiert oder sogar gespeist und aktiv geformt werden. Dies wiederum wäre für die konkrete Gestaltung von Spielplänen und Konzertprogrammen durchaus von Interesse und Wert. 11.1.5 Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern in der Schulbildung Im Musikunterricht an Gymnasien ist Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern durchaus als Lehrinhalt vertreten. Allerdings weist die praktische Umsetzung von Rahmenrichtlinienvorgaben durch die Lehrkräfte im Detail teils starke individuell Unterschiede auf. Hier zeigt sich auch ein gerade in den letzten Jahren immer wieder kontrovers diskutierter Grundaspekt des deutschen Schulsystems: die Fixierung der Bildungspolitik auf Länderebene. Bemerkenswert in den Analysen war das vergleichsweise hohe Interesse der Schüler besonders in Ostdeutschland an der deutsch-deutschen Musikgeschichte nach 1945. Für den
Zentrale Erkenntnisse, Anknüpfungspunkte und Methodenkritik | 267
Musikunterricht liegen hier insgesamt große Potentiale für einen zukünftigen deutlich engagierteren Beitrag der Schulbildung im Allgemeinen und der musikalischen Bildung im Besonderen zur deutsch-deutschen Integration bereit. Vor allem die ostdeutschen Lehrkräfte mit Berufs-, Lebens- und Transformationserfahrungen vor und nach 1990 sollten hier aktiv eingebunden und adressiert werden. 11.1.6 Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund Da diese Teilstudie einen großen Anteil der Arbeit eingenommen und im Detail eine Vielzahl von Ergebnissen hervorgebracht hat , seien an dieser Stelle nur die zentralsten Erkenntnisse noch einmal benannt. Für die Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund durch Kulturschaffende lässt sich festhalten: • Es gibt noch immer Unterschiede in der Bewertung von Musik mit ost- und
westdeutschem Hintergrund, die sich jedoch vor allem in einzelnen Bereichen und Detailzusammenhängen wiederfinden. Von einem pauschalen Ost-WestDualismus kann nicht gesprochen werden. • Diese Unterschiede verschwimmen immer mehr und werden von den Hörern offenbar sowohl in ihren Einstellungen als auch ihrem praktischen Umgang mit Musik zunehmend überwunden. • Die strukturellen Zusammenhänge in diesem Spannungsfeld sind im Detail äußerst vielfältig und komplex. Zur Klärung und Identifikation größerer Bedeutungsmuster bedarf es an dieser Stelle umfangreicher Folgeuntersuchungen. Konkret ergeben sich damit zahlreich potentielle Anknüpfungspunkte für zukünftige Studien mit ähnlichem Interesse. Die möglicherweise vielversprechendsten Fragen sind aus meiner Sicht: • Wie erklärt sich der Zusammenhang zwischen der Bewertung Zeitgenössischer
Musik und der Auseinandersetzung mit/Präferenzen für Popularmusik? • Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Bewertung von Musik und poli-
tischen Einstellungen? • Wie sind die Zusammenhänge zwischen der Wahrnehmung und Bewertung von Kunst- und Popularmusik in Ostdeutschland zu erklären? • Welche sozialpsychologischen und identitätspolitischen Aspekte spielen in der Wahrnehmung von ost/-westdeutscher Musik eine Rolle (Angleichungs- und Aufwertungsmechanismen)?
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• Welchen Einfluss haben Altersgruppierungen und die Generationenproblema-
tik? 11.1.7 Zeitzeugengespräche mit Interpreten In den Interviews mit den Interpreten haben sich viele der im Kapitel zur Zeitgeschichte aus Sicht von Zeitzeugen aufgezeigten Facetten der Wahrnehmung und Bewertung der Wende und Nachwendezeit wiedergefunden. Der Fokus der Befragten lag jedoch eher auf pragmatischen, kulturpraktischen und -theoretischen Fragen. Insgesamt bestätigt dies also die Erkenntnisse aus der Rezeptionsstudie: Kulturschaffende als Akteure und die Musiklandschaft an sich stehen dem Thema Ost- und Westdeutschland deutlich offener und vorurteilsfreier gegenüber, als dies in vielen anderen Bereichen noch immer der Fall zu sein scheint. 11.1.8 Übergeordnete Fragestellungen Mit Blick zurück auf die am Anfang gestellten Fragen, die den Rahmen meiner Arbeit setzen, lässt sich demnach insgesamt Folgendes festhalten. Welchen Stellenwert nimmt Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern in verschiedenen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen nach 1990 bis heute ein? Sie wird durchaus wahrgenommen, ist repräsentiert und Bestandteil des Diskurses zum Themenkosmos zwischen Wende, Wiedervereinigung und deutschem Zusammenwachsen seit 1990. Im Detail bestehen jedoch erhebliche Unterschiede im Umgang mit dem musikalischen Erbe und den kulturellen Identitäten Ostdeutschlands. Aushandlungsprozesse in Theorie und Praxis hängen hier stark von Einstellungen, Kenntnissen, Interesse und Engagement der handelnden Akteure ab. Spiegeln sich die in der ostdeutschen Teilgesellschaft zu beobachtenden Marginalisierungserfahrungen in Bezug auf die Wende und Nachwendezeit auch im Umgang mit dem musikalischen Erbe der DDR und der neuen Bundesländer wider? Oder lassen sich hier andere Befunde feststellen? Zum Teil lässt sich diese Beobachtung auch im Bereich der Musik bestätigen. Es dominieren jedoch Entwicklungen und Befunde, die auf ein zunehmendes gesamtdeutsches Zusammenwachsen hindeuten, innerhalb dessen Musik aus der
Zentrale Erkenntnisse, Anknüpfungspunkte und Methodenkritik | 269
DDR und den neuen Bundesländern einen nachhaltigen Platz einnehmen kann. Dies kann allerdings nur durch aktives individuelles und institutionell-kollektives Handeln und Zusammenwirken positiv gelingen. Eine quasi zwangsläufige Folge struktureller Gegebenheiten und einer fortschreitenden »Zeit, die alle Wunden heilt« wird es sehr wahrscheinlich nicht sein. Inwiefern eignen sich Musik und die musikkulturelle Institutionenlandschaft in Deutschland als alternative Plattform für Aushandlungsprozesse der deutschdeutschen Integration? Basierend auf den gezeigten Erkenntnissen erscheint die Musiklandschaft mit allen ihr zugehörigen Strukturen, Akteuren, Motivationen und Teilaspekten als geradezu prädestiniert für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Im Gegensatz zur dominierenden politischen Geschichtsschreibung und den ihr innenwohnenden gängigen Narrativen bilden hier vor allem eine grundlegende positive Offenheit vieler Akteure und der gegebene, an sich erst einmal eher als unideologisch wahrgenommene Gegenstand Musik eine tragfähige, zukunftsorientierte und nachhaltige Basis für produktive Diskurse in Wort, Tat und Klang.
11.2 METHODEN – RÜCKSCHAU UND AUSBLICK Wie ich in den Ausführungen zum Anliegen der Arbeit dargelegt habe, verfolgt meine Arbeit einen ausdrücklich explorativen Ansatz. Dies spiegelt sich folglich auch in der Herangehensweise der einzelnen Teilstudien wider. Durch die Anwendung verschiedener Methoden und deren Verknüpfung und Kontrastierung auf abstrakter Ebene konnte ich konkrete und überzeugende Aussagen gewinnen. Mit Literaturanalysen und Repertoirestudien einerseits sowie quantitativ und qualitativ ausgerichteten empirischen Ansätzen andererseits bilden meine Untersuchungen damit nicht nur ein breites methodisches Spektrum ab, sondern integriert zur Beantwortung meiner Forschungsfragen auch die weiten Felder der historischen und der systematischen Musikwissenschaft, in letzterem Fall vor allem mit musiksoziologischem Fokus. Dabei haben sich alle gewählten Zugänge sowohl isoliert als auch im Zusammenspiel in zweierlei Hinsicht als tragfähig und gewinnbringend erwiesen. Zum einen wurden sie dem explorativen Charakter der Arbeit gerecht, zum anderen konnten Weise wertvolle und konkret nutzbare Grundlagen für zukünftige Studien im nun auch für die Musik eröffneten thematischen Kosmos zur Disposition gestellt werden. Als besonders ergiebig und anregend haben sich dabei die qualitativen und quantitativen empirischen Teilstudien gezeigt. Für
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zukünftige Erhebungen wäre hier vor allem eine gezielte Integration beider Ansätze, etwa in Form sequentieller Studiendesigns (vgl. Kelle, 2008), vielversprechend, wobei sich der Einsatz von problemzentrierten Interviews für den qualitativen Part als sehr erfolgreich erwiesen hat. Darüber hinaus ergibt sich ein weiterer wichtiger Aspekt für den Blick auf zukünftige Forschung. Zwar stehen der Musikwissenschaft selbst zahlreiche Ausgangspunkte für die Auseinandersetzung mit Musik der Zeit nach 1990 zur Verfügung. Dabei können die unterschiedlichsten Bereiche der Musikforschung – seien sie etwa musikhistorischer, musiksoziologischer, musiktheoretischer oder musikpsychologischer Natur – im Zusammenwirken durchaus gewinnbringende Erkenntnisse liefern. Angesichts der Komplexität und Heterogenität des übergreifenden Themenfeldes scheinen jedoch auf längere Sicht vor allem auch interdisziplinäre Herangehensweisen unter Einbezug von Historikern, Soziologen oder Vertretern der Digital Humanities dringend geboten.
12 Drei Plädoyers und zehn Thesen
12.1 MEHR AUSEINANDERSETZUNG WAGEN! 12.1.1 Zur musikwissenschaftlichen Forschung Angesichts der aufgezeigten Potentiale scheint für die am Themenfeld interessierte Musikforschung die Zeit überreif, sich vom Fokus auf die Aufarbeitung des Musiklebens der DDR zu lösen und sich der Zeit nach 1990 zuzuwenden. Hier gilt es, vor allem auch aus anderen Disziplinen bereits vorhandene Erkenntnisse, Methoden und Datengrundlagen systematisch zusammenzuführen (etwa im Rahmen der Digital Humanities und anderer interdisziplinär ausgerichteter Ansätze), zukünftigen Wissenschaftsgenerationen aufbereitet zur Verfügung zu stellen (zum Beispiel in Form von Datenbanken, kommentierten Bibliografien oder breit angelegten Reviews zu Studien) und so für den Forschungsgegenstand Musik nutzbar zu machen. Auf diese Weise kann unser Fach nicht nur aktiv der Aktualität und Relevanz dieses Forschungsfeldes Rechnung tragen und seinen Wert als lebensnahe und zukunftsfähige Disziplin untermauern, sondern einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag aus einem ganz besonderen, belebenden Blickwinkel leisten. 12.1.2 Zur Praxis Für die musikalische Praxis – sei es im Bereich der Programmgestaltung, der Musikpädagogik oder auch aufseiten der Hörer – lohnt es sich auch und gerade seitens der westdeutschen Institutionen, die in einigen Bereichen noch bestehenden Vorbehalte und Berührungsängste im Umgang mit Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern (wie gezeigt etwa in den Spielplänen der großen Orchester) abzulegen und sich dem Thema offen und mit einer guten Portion Neugier zuzuwenden. Die dafür nötigen Einstellungen sind individuell längst vorhanden und bedürfen nun einer kollektiven, positiven Umsetzung und Sichtbarmachung sowohl
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durch einzelne Akteure als auch durch Institutionen, die das Musikleben in Ostund Westdeutschland prägen und aktiv gestalten. Selbstverständlich ist damit keineswegs eine unreflektierte Aufnahme aller ostdeutschen Komponisten in den bestehenden und zukünftigen Kanon verbunden. Durchaus stellen sich auch heute noch in Bezug auf Stellung und Funktion von Musik innerhalb des Systems der DDR berechtigte Fragen. Sind etwa nachweislich besonders parteinahe oder sogar überzeugt politisch im Sinne des SED-Regimes aktive Komponisten losgelöst von ihrer Haltung allein auf Basis ästhetischer Überlegungen aufzuführen? Gibt es in der Kunst überhaupt eine Trennung zwischen dem Werk an sich und dem Künstler als Mensch und Persönlichkeit? Welche Bedeutung haben aus der DDR in die Nachwendezeit übertragene Machtstrukturen im Musik- und Kulturleben (z.B. Führungspositionen an Musikhochschulen, Festivalleitungen, Akademie- und Verbandspräsidentschaften etc.), die sich in hohem Maße durch personelle Vernetzung auch auf die Aufführungsmöglichkeiten einzelner Komponisten auswirken? Diese Fragen sind keineswegs neu, werden sie doch beispielsweise auch in der aktuellen Me Too-Debatte intensiv diskutiert. Sie dürfen und müssen sich weiterhin stellen. Entscheidend ist dabei jedoch die detaillierte Auseinandersetzung mit jedem einzelnen Fall, was eine legitime und begründbare Ablehnung ebenso zur Folge haben kann wie eine verstärkte Berücksichtigung und Wertschätzung. Insbesondere für aktuell und zukünftig heranwachsende Generationen junger Musikrezipienten würden sich ein solcher Aufbruch und der dafür notwendige Einsatz zeitlicher und auch finanzieller Ressourcen im Kulturleben lohnen. Von der einhergehenden Belebung des Musiklebens könnten alle Beteiligten enorm profitieren. 12.1.3 Zum gesellschaftlichen Diskurs Ausgehend von meinen aus Sicht der Musikforschung präsentierten Überlegungen und Analysen kann ich dem allgemeinen Plädoyer, wie es vor allem von den Autoren Köpping, Hensel und Engler stark gemacht wird, uneingeschränkt zustimmen: der Diskurs um Wende, Wiedervereinigung, Nachwendezeit, deutsch-deutsches Zusammenwachsen sowie produktive kulturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ost- und Westdeutschen sollte sich nun, 30 Jahre nach den Ereignissen von 1989/90, dringend der Zeit nach 1990 zuwenden und die Erfahrungen der letzten drei Jahrzehnte gewinnbringend nutzen. Für eine nachhaltig erfolgreiche deutsch-deutsche Integration bedarf es auch zukünftig erheblicher gesamtgesellschaftlicher Anstrengungen, sowohl individuellen als auch kollektiven Engagements, Aufmerksamkeit, Nachsicht, Geduld, beiderseitiger Offenheit für Aushandlungsprozesse und der Bereitschaft für eine stärkere gegenseitige Aner-
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kennung von Lebensleistungen, kulturellen Unterschieden und Einstellungen zu lebenspraktischen Realitäten.
12.2 GETRENNT VEREINT?! – 10 THESEN ✓ Der Prozess der deutsch-deutschen Integration seit 1990 und entsprechende ge-
sellschaftliche Aushandlungsprozesse zwischen Ost- und Westdeutschland sind bis heute nicht abgeschlossen. ✓ Der wissenschaftliche, journalistische und publizistische Diskurs zur Stellung Ostdeutschlands im gesamtdeutschen Kontext weist auf eine Marginalisierung der Nachwendeerfahrungen der ostdeutschen Bevölkerung im politischen und historischen Narrativ hin und plädiert für eine verstärkte gesamtdeutsche Aufarbeitung der Zeit seit 1990. ✓ Ostdeutschland ist als Teilgesellschaft sozialwissenschaftlich rekonstruierbar; soziale und kulturelle Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland lassen sich empirisch belegen. ✓ Eine Aufarbeitung der Nachwendezeit und des Umgangs mit ostdeutscher Musik seit 1990 findet in der musikwissenschaftlichen Forschung bis auf wenige Ausnahmen bislang nicht statt. ✓ Die vorliegende Untersuchung will durch einen explorativ-empirischen Ansatz mit vorrangig musiksoziologischen Fragestellungen Grundlagen zur Schließung dieser Lücke schaffen. ✓ Musik ostdeutscher Komponisten Zeitgenössischer Musik ist im Repertoire von Musikinstitutionen durchaus repräsentiert, spielt jedoch vor allem punktuell und an ausgewählten Orten (Festivals) eine Rolle; insgesamt lässt sich in der Repertoirepflege eine Trennung der ost- und westdeutschen Musiklandschaft feststellen. ✓ Musik aus der DDR und den neuen Bundesländern spielt im Musikunterricht an Gymnasien in Deutschland eine untergeordnete Rolle; dabei wird diesem Thema sowohl von den Lehrkräften als auch von den Schülern ein größerer Stellenwert beigemessen als dies in den Rahmenrichtlinien vorgesehen ist, in Ostdeutschland ist dieser Effekt etwas stärker. ✓ In der Wahrnehmung und Bewertung von Musik mit ost- beziehungsweise westdeutschem Hintergrund durch Akteure in der Musikvermittlung zeigen sich sowohl Unterschiede als auch Tendenzen, die auf eine zunehmende Angleichung hindeuten; Kontextinformationen nehmen dabei zum Teil Einfluss auf die Werturteile; die statistischen Befunde sind im Detail sehr heterogen und komplex.
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✓ Interpreten teilen die Erfahrungen und Einstellungen anderer Zeitzeugen in der
Reflexion der Wende und Nachwendezeit, lenken in ihren Aussagen den Blick jedoch verstärkt auf pragmatische und kulturtheoretische/-praktische Aspekte des Musiklebens. ✓ Musik und das musikkulturelle Leben wären angesichts der empirischen Befunde äußerst geeignet für eine künftig verstärkte Funktion als Aushandlungsplattform des deutsch-deutschen Zusammenwachsens. Zu erörtern, wie sich diese Funktion im Detail gestalten und ausbauen lässt und inwiefern (oder ob überhaupt) vor allem die hier in den Blick genommene zeitgenössische Musik(-szene) diese Aufgabe gewinnbringend, nachhaltig und mit breiter Wirkung übernehmen kann oder sollte, ist zukünftige Aufgabe der Akteure auf allen Ebenen im Musikleben.
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Anhang 1 – Fragebogen der Rezeptionsstudie
Sehr geehrte Musikliebhaberinnen und Musikliebhaber, mit der Teilnahme an dieser Befragung (ca. eine halbe Stunde) ermöglichen Sie mir die Umsetzung meines Dissertationsprojekts, wofür ich mich schon einmal an dieser Stelle ganz herzlich bei Ihnen bedanken möchte! Die Studie beschäftigt sich unter anderem mit der Wahrnehmung und Bewertung von zeitgenössischer klassischer Musik und Rockmusik. Neben einigen allgemeinen Fragen werde ich Ihnen eine Auswahl von kurzen Musikausschnitten vorstellen, die Sie bitte hinsichtlich Ihres Gefallens und Ihrer Vertrautheit mit der präsentierten Musik bewerten. Bitte antworten Sie spontan und intuitiv! Für die Beantwortung der Fragen sind keine Vorkenntnisse nötig. Auch wenn Sie sich in den beiden genannten musikalischen Bereichen nicht oder nur wenig auskennen, sind Ihre Antworten für die Studie sehr wertvoll! Sämtliche erhobene Daten werden als zusammengefasste Datensatze und nur im Rahmen des Forschungsprojekts ausgewertet und verwendet. Rückschlüsse auf einzelne Personen sind somit nicht möglich, wodurch der Datenschutz vollständig gewahrt ist. Nun wünsche ich Ihnen viel Freude mit den Fragen und vor allem beim Hören der vielfältigen Musikausschnitte! Zunächst möchte ich Ihnen einige Fragen zu Ihrer Person sowie Ihren musikalischen Aktivitäten und Vorlieben stellen.
312 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
1. Bitte geben Sie Ihr Alter an 2. Welches Geschlecht haben Sie? ☐
weiblich
☐
anderes
☐
männlich
☐
keine Angabe
3. Wo leben Sie derzeit? Ortsname_________________
Bundesland_________________
4. Dabei handelt es sich um ein/e ☐
Dorf (unter 5000 Einw.)
☐
mittlere Stadt (20.000 bis 100.000 Einw.)
☐
Großstadt (ab 100.000 Einw.)
☐
Kleinstadt (5000 bis 20.000 Einw.)
5. Wo sind Sie aufgewachsen? Ortsname_________________
Bundesland__________________
6. Dabei handelt es sich um ein/e ☐
Dorf (unter 5000 Einw.)
☐
mittlere Stadt (20.000 bis 100.000 Einw.)
☐
Großstadt (ab 100.000 Einw.)
☐
7. Welchen Beruf üben Sie aus bzw. haben Sie ausgeübt? __________________________ 8. Haben Sie studiert? ☐
Ja
☐
Nein
Kleinstadt (5000 bis 20.000 Einw.)
Anhang 1 – Fragebogen der Rezeptionsstudie | 313
9. Haben Sie das Spielen von ein oder mehreren Instrumenten erlernt (oder sind gerade dabei)? ☐
Ja
☐
Nein
10. Wenn ja: wie viele und welche Instrumente haben Sie erlernt und wie viele Unterrichtsjahre haben/bzw. hatten Sie? Anzahl Instrumente_________________ welche Instrumente_________________ Unterrichtsjahre (bitte geben Sie an, ob Sie bei einem/r Lehrer/in oder autodidaktisch gelernt haben)____________________________ 11. Sind Sie derzeit musikalisch aktiv (Hausmusik, Chor, Bands, Ensembles etc.) und, wenn ja, wie ? ☐
Ja, und zwar__________________________
☐
Nein
12. Wie viele Konzerte besuchen Sie durchschnittlich im Jahr und wie viele Stunden hören Sie pro Woche bewusst Musik? Konzertbesuche pro Jahr_______________________ Stunden bewusstes Musikhören pro Woche (nicht Radiohören beim Staub saugen oder ähnliches)___________________________________ 13. Welche Arten von Konzerten besuchen Sie? ☐
Rockkonzerte
☐
Schlager-/Volksmusik konzerte
☐
Popkonzerte
☐
Konzerte mit klassischer Musik (z.B. Sinfoniek.)
☐
Jazzkonzerte
☐
sonstige Aufführungen klassischer oder nichtklassischer Musik, und zwar_____________
314 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
14. Wie gefallen Ihnen die folgenden Arten von Musik? Gar nicht
sehr gut (Schieberegler)
Einzelne Items:
Zeitgenössische klassische Musik, Klassische Musik, Popmusik, Jazz, Rockmusik,Hard, Rock/Heavy Metal, Techno/Dance/House, Hip Hop/Rap, Volksmusik, Schlager, europäische Folklore (z.B. Balkantänze, skandinavische Lieder u.Ä.), Außereuropäische/exotische Musik (Weltmusik)
15. Wie intensiv setzen Sie sich mit diesen Arten von Musik auseinander (hören, mit anderen darüber austauschen, Zusatzinformationen suchen etc.)? Gar nicht
sehr intensiv (Schieberegler)
Einzelne Items:
Zeitgenössische klassische Musik, Klassische Musik, Popmusik, Jazz, Rockmusik,Hard, Rock/Heavy Metal, Techno/Dance/House, Hip Hop/Rap, Volksmusik, Schlager, europäische Folklore (z.B. Balkantänze, skandinavische Lieder u.Ä.), Außereuropäische/exotische Musik (Weltmusik)
Bevor wir nun zu den Musikbeispielen kommen, noch zwei kurze diesen Teil abschließende Fragen: 16. Wie intensiv beschäftigen Sie sich mit den folgenden Themen? Gar nicht
sehr intensiv (Schieberegler)
Einzelne Items:
allgemeine politische Themen, kulturpolitische Themen, Wirtschaftspolitik, Literatur, Bildende Kunst (Malerei etc.), Theater/Oper, Tanz, Neue-Musik-Szene, Alte-Musik-Szene, Rockmusikszene, Popmusikszene, Jazzmusikszene
Anhang 1 – Fragebogen der Rezeptionsstudie | 315
17. Zum Abschluss des ersten Teils: Welcher der folgenden deutschen Komponisten ist Ihnen (vom Namen her) bekannt? Einzelne Items:
Andreas Aigmüller, Hans Auenmüller, Jürg Baur, Boris Blacher, Thomas Buchholz, Sidney Corbett, Michael Denhoff, Paul Dessau, Paul-Heinz Dittrich, Werner Egk, Hanns Eisler, Bernd Franke, Fritz Geißler, Sven Helbig, Carsten Hennig, Hans Werner Henze, Jörg Herchet, Johannes K. Hildebrandt, Harald Genzmer, Mauricio Kagel, Georg Katzer, Juliane Klein, Günter Kochan, Johannes Kreidler, Helmut Lachenmann, Siegfried Matthus, Jochen Neurath, Matthias Pintscher, Friedrich Schenker, Steffen Schleier-macher, Simon Stockhausen (nicht Karlheinz), Manred Trojahn, Manos Tsangaris, Gerd Zacher, Ruth Zechlin, Bernd Alois Zimmermann, Udo Zimmermann
Kommen wir nun zur Musik. Bitte hören Sie sich die folgenden musikalischen Ausschnitte zunächst an und bewerten Sie sie anschließend hinsichtlich Ihres Gefallens sowie Ihrer Vertrautheit mit der Musik. Gern können Sie die Hörbeispiele auch mehrfach anhören. Sie möchten zu den jeweiligen Musikausschnitten etwas anmerken? Bitte teilen Sie mir dies in den dafür vorgesehenen Textfeldern mit. Viel Freude beim Hören! 18. Wie gut gefällt Ihnen der gehörte Musikausschnitt? Gar nicht
sehr gut (Schieberegler)
19. Wie vertraut sind Sie mit dem gehörten Musikausschnitt? Gar nicht vertraut
sehr vertraut (Schieberegler)
20. Möchten Sie etwas anmerken?_____________________________
21./22./23. etc.
➔ musikalische Stimuli und Settings (Kontextinformationen) siehe Übersicht in Anhang 2
Vielen Dank für Ihre Antworten bis hierhin! Ich hoffe, das Hören der Musikausschnitte hat Ihnen gefallen!
316 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Nun möchte ich Sie noch zu einigen Fragen zur deutschen Wiedervereinigung und damit verbundenen Themen einladen. Bitte bewerten Sie die folgenden Aussagen: Stimme gar nicht zu
stimme voll zu
Es ist wichtig, sich aktiv mit dem kulturellen Erbe der DDR und der neuen Bundesländer auseinanderzusetzen.
☐☐☐☐☐☐☐
Der Prozess der deutschen Einheit ist in allen Bereichen vollständig abgeschlossen.
☐☐☐☐☐☐☐
Die sogenannte Mauer in den Köpfen existiert noch immer.
☐☐☐☐☐☐☐
Der Kulturbereich ist eine wichtige Plattform für die Aushandlung der deutsch-deutschen Integration.
☐☐☐☐☐☐☐
24. Ist es für Sie persönlich wichtig, sich heute mit dem kulturellen Erbe der DDR und der neuen Bundesländer auseinanderzusetzen? ☐
Ja
☐
Nein
25. Warum sind Sie dieser Ansicht? ____________________________ 26. Bitte beurteilen Sie: Sehr negativ
sehr positiv
Wie bewerten Sie den Prozess der Wiedervereinigung und dessen Ergebnisse aus heutiger Sicht?
☐☐☐☐☐☐☐
Wie bewerten Sie die allgemeine aktuelle politische Lage in Deutschland?
☐☐☐☐☐☐☐
Anhang 1 – Fragebogen der Rezeptionsstudie | 317
27. Gibt es Ihrer Ansicht nach noch Bedarf von Debatten und Aushandlungen bezüglich des Wiedervereinigungsprozesses? ☐ ☐
Ja, und zwar in diesen Bereichen: _________________________ Nein
28. Bitte beurteilen Sie: Gar nicht
Wie stark sind Ihrer Einschätzung nach Komponisten aus der DDR und den neuen Bundesländern im aktuellen Konzertlebe vertreten?
sehr stark
☐☐☐☐☐☐☐
29. Bitte beschreiben Sie kurz, wie Sie den aktuellen Stellenwert von Komponisten und Musik aus Ostdeutschland wahrnehmen (in Gesellschaft, Musik- und Kulturszene, Kulturpolitik etc.) ____________________________________
30. Bitte beurteilen Sie: Trifft gar nicht zu
trifft voll zu
Wenn ich mich mit Musik beschäftige, interessiert es mich, ob ein Komponist/ eine Band/ein Künstler aus Ostdeutschland oder aus Westdeutschland stammt
☐☐☐☐☐☐☐
Meine Musikauswahl (Musikhören, Konzertbesuch etc.) wird davon beeinflusst, ob ein Komponist/eine Band/ein Künstler aus Ostdeutschland oder aus Westdeutschland stammt
☐☐☐☐☐☐☐
Nochmals ganz herzlichen Dank für Ihre Teilnahme! Sie haben mir damit für die Realisierung meines Forschungsvorhabens sehr geholfen! Wenn Sie Fragen oder Anregungen für mich haben, stehe ich sehr gern zur Verfügung.
Anhang 2 – Liste der musikalischen Stimuli
MUSIKALISCHE STIMULI: FRAGEBÖGEN 1 – 3 (ZGD) Fragebögen
Rockmusik DDR/Neue Bundesländer
Rockmusik BRD/Alte Bundesländer
Zeitgenössische Musik DDR/Neue Bundesländer
Zeitgenössische Musik BRD/Alte Bundesländer
Ohne Infos
Silbermond – Symphonie ➔ 3m10s – 3m40s
Revolverheld – Ich lass für dich das Licht an ➔ 4m45s – 5m15s
Fritz Geißler – 7. Symphonie ➔ 40s – 1m10s (1. Satz)
Hans Werner Henze – 7. Symphonie ➔ 14m5s – 14m35s (2. Satz)
Silly – EKG ➔ 2m31s – 3m1s
Udo Lindenberg – Rock’n’Roller ➔ 28s – 58s
Friedrich Goldmann – Streichquartett No. 1 ➔ 1m40s – 2m10s (Mitte)
Wolfgang Rihm – Streichquartett No. 3 Im Innersten ➔ 6m30s – 7m
Karat – Garten Eden ➔ 24s – 54s
BAP – Sandino ➔ 53s – 1m23s
Siegfried Matthus – Judith (Disk 1) ➔ 27m – 27m30s (Nebukadnezar)
Aribert Reimann – Wolkenloses Christfest 2 ➔ 3m30s – 4m
Karussell – Und der Wind endet nicht ➔ 44s – 1m14s [manipuliert durch falsche Zuordnung!]
Element of Crime – Du hast mir gesagt ➔ 50s – 1m20s [manipuliert!]
Manfred Weiss – Vier Stücke für Streichquartett ➔ 6m – 6m30s [manipuliert1]
Nikolaus Brass – Ohne Titel Musik für Streichquartett 2 ➔ 4m50s – 5m20s [manipuliert!]
Herkunft (NB/AB) Namen genannt
320 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
MUSIKALISCHE STIMULI: FRAGEBOGEN 4 (MWD) FragebogenAbschnitt
Rockmusik DDR/neue BL
Rockmusik BRD/alte BL
Zeitgenössische Musik DDR/neue BL
Zeitgenössische Musik BRD/alte BL
Blöcke – ohne Infos
Silly – EKG ➔ 2m31s – 3m1s
Udo Lindenberg – Rock’n’Roller ➔ 28s – 58s
Friedrich Goldmann – Streichquartett No. 1 ➔ 1m40s – 2m10s (Mitte)
Wolfgang Rihm – Streichquartett No. 3 Im Innersten ➔ 6m30s – 7m (Ende)
Karussell – Und der Wind endet nicht ➔ 44s – 1m14s
Element of Crime – Du hast mir gesagt ➔ 50s – 1m20s
Siegfried Matthus – Judith (Disk 1) ➔ 27m – 27m30s (Nebukadnezar)
Aribert Reimann – Wolkenloses Christfest 2 ➔ 3m30s – 4m
Silly – Alles Rot ➔ 26s – 56s
Udo Lindenberg – Durch die schweren Zeiten ➔ 48s – 1m18s
Friedrich Goldmann – Streichquartett No. 1 ➔ 0s – 30s (Anfang)
Wolfgang Rihm – Streichquartett No. 3 Im Innersten ➔ 1m – 1m30s (Anfang)
Karussell – Wie ein Fischlein unterm Eis ➔ 52s – 1m22s
Element of Crime – So wie du ➔ 45s – 1m15s
Siegfried Matthus – Judith (Disk 2) ➔ 22m45s – 23m15s (Holofernes töten) [manipuliert!]
Aribert Reimann – Lear (Fragmente) ➔ 6m30s – 7m [manipuliert durch falsche Zuordnung!]
Silly – S.O.S ➔ 40s – 1m10s
Udo Lindenberg – Mit dem Sakko nach Monakko ➔ 1m55s – 2m25s
Friedrich Goldmann – Streichquartett No. 1 ➔ 3m40s – 4m10s (Ende)
Wolfgang Rihm – Streichquartett No. 3 Im Innersten ➔ 3m10s – 3m40s (Mitte)
Karussell – Als ich fortging ➔ 1m10s – 1m40s
Element of Crime – Bring den Vorschlaghammer mit ➔ 30s – 1m
Siegfried Matthus – Judith (Disk 1) ➔ 8m5s – 8m35s (Das ist die Kunst) [manipuliert!]
Aribert Reimann – Wolkenloses Christfest 1 ➔ 22m40s – 23m10s [manipuliert!]
Blöcke – Herkunft (NB/AB)
Blöcke – Namen genannt
Anhang 3 – Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren
DATENREDUKTION Datenreduktion von Variablen zu Faktoren – Faktorenanalysen Musikalische Expertise Ausgangsvariablen: Anzahl Unterrichtsjahre am Instrument, Konzertbesuche pro Jahr, Musikhören pro Woche (Stunden) Eignung für Faktoranalyse (Bartlett-Test; Maß der Stichprobeneignung): ZGD (n=137): Chi-Quadrat(3)=22.826***; KMO=.600 MWD (n=70): Chi-Quadrat(3)=3.502, p=.321; KMO=.487 Faktor-Lösung (Anzahl der Faktoren; VA=Varianzaufklärung): ZGD: 1 Faktor; 49,785% VA MWD: Variablen an sich nicht geeignet Besonderheiten, spezifische Entscheidungen: MWD: Die Variable »Musikhören pro Woche« würde in einer Faktoranalyse hoch auf beide potentiellen Faktoren (Komponentenmatrix: .542 (1) und .718 (2)) laden und weist zudem die höchste Einzelladung (rotierte Komponentenmatrix: .894 (2)) auf. Da auch inhaltliche Überlegungen dafür sprechen, wird diese Variable stellvertretend für den Faktor »musikalische Expertise« zum Einsatz kommen. Resultierende(r) Faktor(en)/Prädiktor(en): musikalische Expertise
322 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Datenreduktion Hauptkomponentenanalyse – musikalische Expertise Variablen Unterrichtsjahre am Instrument Konzertbesuche pro Jahr Musikhören pro Woche (Stunden)
ZGD Faktor 1 .733
MWD Faktor 1 .786
Faktor 2 .001
.729
.542
.718
.652
.558
-.699
Auseinandersetzung mit politischen Themen Ausgangsvariablen: Auseinandersetzung (AS) mit allgemeinen politischen Themen; AS mit Wirtschaftspolitik; Aus. mit Kulturpolitik Eignung für Faktoranalyse (Bartlett-Test; Maß der Stichprobeneignung): ZGD (n=142): Chi-Quadrat(3)=102.362***; KMO=.630 MWD (n=71): Chi-Quadrat(3)=41.424***; KMO=.549 Faktor-Lösung (Anzahl der Faktoren; VA=Varianzaufklärung): ZGD: 1 Faktor; 65,765% VA MWD: 1 Faktor; 61,055% VA Besonderheiten, spezifische Entscheidungen: keine Resultierende(r) Faktor(en)/Prädiktor(en): AS mit politischen Themen Datenreduktion Hauptkomponentenanalyse – Auseinandersetzung mit politischen Themen Variablen AS mit allgemeinen politischen Themen AS mit kulturpolitischen Themen AS mit Wirtschaftspolitik
ZGD Faktor 1 .879
MWD Faktor 1 .886
.801
.754
.748
.691
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 323
Auseinandersetzung mit künstlerisch-kulturellen Themen Ausgangsvariablen: AS mit Bildenden Künsten; AS mit Literatur; AS mit Darstellenden Künsten; AS mit Tanz Eignung für Faktoranalyse (Bartlett-Test; Maß der Stichprobeneignung): ZGD (n=128): Chi-Quadrat(6)=121.773***;KMO=.768 MWD (n=67): Chi-Quadrat (6)=45.264***; KMO=.628 Faktor-Lösung (Anzahl der Faktoren; VA=Varianzaufklärung): ZGD: 1 Faktor; 58,694% VA MWD: 1 Faktor; 50,543% VA Besonderheiten, spezifische Entscheidungen: keine Resultierende(r) Faktor(en)/Prädiktor(en): AS mit künstlerisch-kulturellen Themen Datenreduktion Hauptkomponentenanalyse – Auseinandersetzung mit künstlerisch-kulturellen Themen Variablen AS Darstellende Künste, Oper AS Literatur AS Bildende Kunst AS Tanz
ZGD Faktor 1 .801
MWD Faktor 1 .870
.801 .769 .688
.713 .639 .591
324 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Auseinandersetzung mit diversen Musikgenres Ausgangsvariablen: AS mit Klassik; AS mit ZG Musik; AS mit Jazz; AS mit Rockmusik; AS mit Popmusik; AS mit Hard Rock/Heavy Metal; AS mit Schlager; AS mit Volksmusik; AS mit Hip Hop/Rap; AS mit Techno/Dance/House; AS mit außereuropäischer Musik; AS mit europäischer Folklore Eignung für Faktoranalyse (Bartlett-Test; Maß der Stichprobeneignung): ZGD (n=61): Chi-Quadrat(66)=252.388***; KMO=.673 MWD (n=36): Chi-Quadrat (66)=217.726***, KMO=.550 Faktor-Lösung (Anzahl der Faktoren; VA=Varianzaufklärung): ZGD: 4 Faktoren; 68,311% VA MWD: 4 Faktoren; 77,201% VA Besonderheiten, spezifische Entscheidungen: ZGD: hohe Ladung der Variablen »AS mit Popmusik« auf die Faktoren 1 und 2 > Zuordnung zu Faktor 2 aus inhaltlichen Überlegungen; hohe Ladung der Variablen »AS mit Volksmusik« auf Faktor 1 inhaltlich nur schwer plausibel zu erklären > daher wird diese Variable bei der Berechnung der Faktoren nicht berücksichtigt MWD: Variablen »AS mit [außereurop. Musik; europ. Folklore; Schlager; Volksmusik]« laden auf gemeinsamen Faktor Resultierende(r) Faktor(en)/Prädiktor(en): ZGD/MWD: AS mit Kunstmusik (Klassik, ZG, Jazz); AS mit elektronischer und/oder stark rhythmisch basierter Musik (Pop, Schlager, Techno/Dance/ House,Hip Hop/Rap); AS mit Rockmusik (Rock, Hard Rock/Metal) ZGD: AS mit exotischer und/oder folkloristischer Musik (außereurop. Musik, europ. Folklore) MWD: AS mit exotischer, folkloristischer und/oder kommerziell-volkstümlicher Musik (außereurop. Musik, europ. Folklore, Schlager, Volksmusik)
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 325
Datenreduktion Hauptkomponentenanalyse – Auseinandersetzung mit diversen Musikgenres Variablen
ZGD
MWD
Faktor
Faktor
Faktor
Faktor
Faktor
Faktor
Faktor
1
2
3
4
1
2
3
Faktor 4
AS Jazz
.730
-.258
-.169
.015
.550
.158
.379
.467
AS außereu-
.730
.183
-.071
-.473
.843
-.083
-.279
-.035
.665
-.144
.039
-.562
.774
.169
-.343
-.249
.622
.563
-.135
.068
-.220
.785
-.052
.066
.586
-.477
-.357
-.010
.765
-.014
.340
.393
.497
.026
.008
.323
.077
.802
-.158
.301
.441
-.274
-.258
.361
.771
-.048
-.372
-.083
.464
.730
-.144
-.061
-.374
.539
-.256
.530
.540
-.644
.025
.221
.767
-.055
.293
.131
AS Schlager
.266
.515
-.304
.464
.240
.530
-.620
-.341
AS
.482
-.035
.766
.212
.113
.472
.598
-.475
.463
.167
.683
.076
.133
.552
.597
-.361
rop. Musik AS europ. Foklore AS Hip Hop/Rap AS ZG Musik AS Popmusik AS Volksmusik AS Techno/ Dance/ House AS Klassische Musik
Rockmusik AS Hard Rock/Heavy Metal
326 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Auseinandersetzung mit Musikszenen Ausgangsvariablen: AS mit Szene für Neue Musik; AS mit Szene für Alte Musik; AS mit Jazzszene; AS mit Rockszene; AS mit Popszene Eignung für Faktoranalyse (Bartlett-Test; Maß der Stichprobeneignung): ZGD (n=87): Chi-Quadrat(10)=88.782***; KMO=.666 MWD (n=51): Chi-Quadrat (10)=33.593***, KMO=.603 Faktor-Lösung (Anzahl der Faktoren; VA=Varianzaufklärung): ZGD: 2 Faktoren; 69,954% VA MWD: 2 Faktoren; 60,846% VA Besonderheiten, spezifische Entscheidungen: Querladungen deuten auf nicht ganz klare Trennung der Faktoren hin > Lösung ist aufgrund inhaltlicher Überlegungen plausibel; Variable »AS mit Jazzszene« lädt auf beide Faktoren hoch > inhaltliche Zuordnung zu Faktor 2 Resultierende(r) Faktor(en)/Prädiktor(en): AS mit Szenen für Popularmusik (Popszene, Rockszene); AS mit Szenen für Kunstmusik (Alte-Musik-Szene, Neue-Musik-Szene, Jazzszene) Datenreduktion Hauptkomponentenanalyse – Auseinandersetzung mit Musikszenen Variablen AS Jazzszene AS Neue Musik-Szene AS Popmusikszene AS Alte Musik-Szene AS Rockmusikszene
ZGD Faktor 1 .776 .734 .727 .510 .558
Faktor 2 -.024 .431 -.428 .707 -.623
MWD Faktor 1 .647 .691 .436 .832 .483
Faktor 2 -.551 .104 .582 -.281 .547
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 327
Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung Ausgangsvariablen: aktive AS mit kult. Erbe der NB ist wichtig; Wiedervereinigung ist abgeschlossen; »Mauer in den Köpfen« existiert noch; Kulturbereich ist eine wichtige Aushandlungsplattform der dt.-dt. Integration; Bewertung der Ergebnisse der Wiedervereinigung; Bewertung der aktuellen politischen Lage in Dtl. Eignung für Faktoranalyse (Bartlett-Test; Maß der Stichprobeneignung): ZGD (n=165): Chi-Quadrat(15)=125.168***; KMO=.592 MWD (n=90): Chi-Quadrat (15)=55.736***, KMO=.608 Faktor-Lösung (Anzahl der Faktoren; VA=Varianzaufklärung): ZGD: 2 Faktoren; 56,433% VA MWD: 2 Faktoren; 60,846% VA Besonderheiten, spezifische Entscheidungen: ZGD und MWD: hohe Ladung der Variablen »Mauer in den Köpfen« auf Faktor 1 ist inhaltlich nicht plausibel zu erklären > daher wird diese Variable bei der Berechnung der Faktoren nicht berücksichtigt Resultierende(r) Faktor(en)/Prädiktor(en): Stellenwert des Kulturbereichs im Prozess der Wiedervereinigung; Bewertung der Wiedervereinigung, ihrer Ergebnisse und der aktuellen politischen Lage Datenreduktion Hauptkomponentenanalyse – Einstellungen zum Thema Wiedervereinigung Variablen AS kulturelles Erbe DDR/NB Kulturbereich als Aushandlungsplattform Einheit ist abgeschlossen Bewertung der Wiedervereinigung Bewertung politische Lage in Deutschland Mauer in den Köpfen
ZGD Faktor 1 .828
Faktor 2 -.133
MWD Faktor 1 -.407
Faktor 2 .524
.786
-.105
-.108
.800
-.108
.716
.694
-.007
.489
.652
.637
.439
.301
.569
.598
.420
.420
-.525
-.673
.337
328 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
ABSTRAKTION DER MUSIKALISCHEN STIMULI Rockmusik/ZG Musik Rockmusik – ZGD Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Rockmusik (ZGD)
Gefallen Ostrock Vertrautheit Ostrock Gefallen Westrock
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock
Gefallen Westrock
Vertrautheit Westrock
r p n r p n r p n
.382** .000 162
.588** .000 166 .321** .000 165
.331** .000 163 .638** .000 165 .458** .000 167
Rockmusik – MWD (ohne Zusatzinformationen) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Rockmusik (MWD, oI)
Gefallen Ostrock (oI) Vertrautheit Ostrock (oI) Gefallen Westrock (oI)
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock (oI)
Gefallen Westrock (oI)
Vertrautheit Westrock (oI)
r p n r p n r p n
.445** .000 73
.633** .000 82 .222 .054 76
.379** .001 78 .792** .000 75 .447** .000 82
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 329
Rockmusik – MWD (mit Herkunftslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Rockmusik (MWD, H)
Gefallen Ostrock (H) Vertrautheit Ostrock (H) Gefallen Westrock (H)
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock (H)
Gefallen Westrock (H)
Vertrautheit Westrock (H)
r p n r p n r p n
-.093 .442 71
.166 .143 79 .138 .231 77
-.265* .017 81 .656** .000 78 .372** .000 86
Rockmusik – MWD (mit Namenslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Rockmusik (MWD, N)
Gefallen Ostrock (N) Vertrautheit Ostrock (N) Gefallen Westrock (N)
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock (N)
Gefallen Westrock (N)
Vertrautheit Westrock (N)
r p n r p n r p n
.635** .999 70
.495** .000 78 .255* .031 72
.360** .002 74 .538** .000 74 .535** .000 80
330 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
ZG Musik – ZGD Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – ZG Musik (ZGD)
Gefallen ZG Ost Vertrautheit ZG Ost Gefallen ZG West
statistische Parameter
Vertrautheit ZG Ost
Gefallen ZG West
Vertrautheit ZG West
r p n r p n r p n
.565** .000 147
.790** .000 162 .502** .000 146
.520** .000 143 .804** .000 139 .647** .000 142
ZG Musik – MWD (ohne Zusatzinformationen) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – ZG Musik (MWD, oI)
Gefallen ZG Ost (oI) Vertrautheit ZG Ost (oI) Gefallen ZG West (oI)
statistische Parameter
Vertrautheit ZG Ost (oI)
Gefallen ZG West (oI)
Vertrautheit ZG West (oI)
r p n r p n r p n
.752** .000 77
.825** .000 78 .738** .000 74
.658** .000 75 .852** .000 75 .800** .000 77
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 331
ZG Musik – MWD (mit Herkunftslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – ZG Musik (MWD, H)
Gefallen ZG Ost (H) Vertrautheit ZG Ost (H) Gefallen ZG West (H)
statistische Parameter
Vertrautheit ZG Ost (H)
Gefallen ZG West (H)
Vertrautheit ZG West (H)
r p n r p n r p n
.644** .000 61
.782** .000 74 .686** .000 61
.596** .000 61 .816** .000 57 .702** .000 61
ZG Musik – MWD (mit Namenslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – ZG Musik (MWD, N)
Gefallen ZG Ost (N) Vertrautheit ZG Ost (N) Gefallen ZG West (N)
statistische Parameter
Vertrautheit ZG Ost (N)
Gefallen ZG West (N)
Vertrautheit ZG West (N)
r p n r p n r p n
.703** .000 57
.744** .000 71 .805** .000 57
.717** .000 58 .943** .000 56 .829** .000 57
332 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund Musik mit ostdeutschem Hintergrund – ZGD Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Musik mit ostdeutschem Hintergrund (ZGD)
Gefallen Ostrock Vertrautheit Ostrock Gefallen ZG Ost
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock
Gefallen ZG Ost
Vertrautheit ZG Ost
r p n r p n r p n
.382** .000 162
-.019 .810 164 .187* .017 163
-.060 .473 143 .243** .003 145 .565** .000 147
Musik mit ostdeutschem Hintergrund – MWD (ohne Zusatzinformationen) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Musik mit ostdeutschem Hintergrund (MWD, oI)
Gefallen Ostrock (oI) Vertrautheit Ostrock (oI) Gefallen ZG Ost (oI)
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock (oI)
Gefallen ZG Ost (oI)
Vertrautheit ZG Ost (oI)
r p n r p n r p n
.445** .000 73
.324** .004 78 .365** .002 73
.125 .292 73 .549** .000 71 .752** .000 77
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 333
Musik mit ostdeutschem Hintergrund – MWD (mit Herkunftslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Musik mit ostdeutschem Hintergrund (MWD, H)
Gefallen Ostrock (H) Vertrautheit Ostrock (H) Gefallen ZG Ost (H)
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock (H)
Gefallen ZG Ost (H)
Vertrautheit ZG Ost (H)
r p n r p n r p n
-.093 .442 71
.131 .281 70 .261* .030 69
-.035 .794 57 .625** .000 61 .644** .000 61
Musik mit ostdeutschem Hintergrund – MWD (mit Namenslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli: Musik mit ostdeutschem Hintergrund (MWD, N)
Gefallen Ostrock (N) Vertrautheit Ostrock (N) Gefallen ZG Ost (N)
statistische Parameter
Vertrautheit Ostrock (N)
Gefallen ZG Ost (N)
Vertrautheit ZG Ost (N)
r p n r p n r p n
.635** .000 70
-.030 .806 69 .202 .107 65
.232 .088 55 .460** .000 56 .703** .000 57
334 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Musik mit westdeutschem Hintergrund – ZGD Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Musik mit westdeutschem Hintergrund (ZGD)
Gefallen Westrock Vertrautheit Westrock Gefallen ZG West
statistische Parameter
Vertrautheit Westrock
Gefallen ZG West
Vertrautheit ZG West
r p n r p n r p n
.458** .000 167
.000 .997 162 .203* .010 160
.040 .640 142 .308** .000 142 .647** .000 142
Musik mit westdeutschem Hintergrund – MWD (ohne Zusatzinformationen) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Musik mit westdeutschem Hintergrund (MWD, oI)
Gefallen Westrock (oI) Vertrautheit Westrock (oI) Gefallen ZG West (oI)
statistische Parameter
Vertrautheit Westrock (oI)
Gefallen ZG West (oI)
Vertrautheit ZG West (oI)
r p n r p n r p n
.447** .000 82
.201 .082 76 .400** .000 74
.164 .159 75 .583** .000 74 .800** .000 74
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 335
Musik mit westdeutschem Hintergrund – MWD (mit Herkunftslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Musik mit westdeutschem Hintergrund (MWD, H)
Gefallen Westrock (H) Vertrautheit Westrock (H) Gefallen ZG West (H)
statistische Parameter
Vertrautheit Westrock (H)
Gefallen ZG West (H)
Vertrautheit ZG West (H)
r p n r p n r p n
.372** .000 86
.065 .581 74 .232* .045 75
.144 .267 61 .410** .001 61 .702** .000 61
Musik mit westdeutschem Hintergrund – MWD (mit Namenslabel) Korrelationen zwischen den musikalischen Stimuli – Musik mit westdeutschem Hintergrund (MWD, N)
Gefallen Westrock (N) Vertrautheit Westrock (N) Gefallen ZG West (N)
statistische Parameter
Vertrautheit Westrock (N)
Gefallen ZG West (N)
Vertrautheit ZG West (N)
r p n r p n r p n
.535** .000 80
-.126 .302 69 .065 .596 69
-.008 .955 58 .296* .023 59 .829** .000 57
336 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
FORSCHUNGSFRAGE 1: EINFLÜSSE AUF DIE BEWERTUNG DER MUSIKALISCHEN STIMULI Musikalische Expertise ZGD (ohne Zusatzinformationen) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Expertise (ZGD, oI) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse
Vertrautheit Rockmusik Ost
.231; F(8,27)=2.316*; n=36
1.
Vertrautheit ZG Musik Ost
.233; F(8,25)=2.253, p=.058; n=34
1.
Vertrautheit ZG Musik West
.218; F(8,23)=2.082, p=.081; n=32
1.
2.
2.
AS elektr./rhythm. basierte Musik: .272* (.349*) AS Popularmusikszenen: .336 (.527), p=.057 AS Kunstmusikszenen: .534* (.658*) AS elektr./rhythm. basierte Musik: .313 (.331), p=.062 AS Kunstmusikszenen: .395 (.519), p=.067
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 337
ZGD (mit Herkunftslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Expertise (ZGD, H) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse
Gefallen Rockmusik Ost
.225; F(8,29)=2.341*; n=38
1.
Vertrautheit Rockmusik West Gefallen ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.485; F(8,29)= 5.353***; n=38 .251; F(8,29)= 2.550*; n=38 .411; F(8,29)= 4.233**; n=38 .328; F(8,23)= 2.895*; n=32
1.
2.
1. 2. 1. 2. 1.
AS Kunstmusikszenen: -.278* (.544*) AS exot./folkl. Musik: .225 (.396), p=.063 AS Popularmusikszenen: .233 (.366), p=.079 AS Rockmusik: .238* (.497*) AS exot./folkl. Musik: .245* (.415*) AS Rockmusik: .251* (.562*) musikalische Expertise: -.052* (.413*) AS Kunstmusikszenen: .319 (.467), p=.065
ZGD (mit Namenslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Expertise (ZGD, N) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Gefallen Rockmusik West
.303; F(8,18)=2.415, p=.057; n=27
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse 1. 2.
AS Popularmusikszenen: .518** (.875) musikalische Expertise: -.064** (-.632**)
338 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Gefallen ZG Musik Ost
.364; F(8,19)=2.930*; n=28
1. 2. 3. 4. 5. 6.
Vertrautheit ZG Musik West
.287; F(8,17)=2.256, p=.076; n=26
1. 2. 3.
AS Popularmusikszenen: -.589** (-1.033**) musikalische Expertise: .044* (.449*) AS Kunst und Kultur: .258* (.420*) AS elektr./rhythm. basierte Musik: .362 (.573), p=.063 AS exot./folkl. Musik: -.210 (.372), p=.076 AS Rockmusik: .198 (.367), p=.085 AS elektr./rhythm. basierte Musik: .634* (.817*) AS Kunst und Kultur: .415* (.546*) musikalische Expertise: .047 (.396), p=.090
MWD (ohne Zusatzinformationen) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Expertise (MWD, oI) musikalische Stimuli
Gefallen Rockmusik Ost Gefallen Rockmusik West
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse]
.178; F(8,45)=2.430*; n=54 .116; F(8,44)=1.852, p=.093; n=53
1. 2.
Vertrautheit Rockmusik West
.218; F(8,43)=2.779*; n=52
1. 2.
Gefallen ZG Musik Ost
.567; F(8,44)=9.502***; n=53
1. 2. 3.
3. 1. 2. 3.
AS Rockmusik: .231* (.539*) AS elektr./rhythm. bas. Musik: .214* (.412*) AS Rockmusik: .216* (.398*) AS elektr./rhythm. bas. Musik: .212 (.329), p=.054 AS Kunst und Kultur: .275 (.323), p=.059 AS Rockmusik: 400** (.580**) AS Kunst und Kultur: .420* (.378*) AS elektr./rhythm. bas. Musik: .272* (.330*) AS Kunstmusik: .202* (.359*) AS Kunstmusikszene: .210* (.347*) AS Rockmusik: .166* (.319*)
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 339
4. 5. Vertrautheit ZG Musik Ost
.436; F(8,41)=5.741***; n=50
1. 2. 3. 4. 5.
Gefallen ZG Musik West
.547; F(8,43)=8.702***; n=52
1. 2. 3.
Vertrautheit ZG Musik West
.428; F(8,40)=5.491***; n=49
1. 2. 3.
AS Kunst und Kultur: .235* (.288*) AS Popularmusikszenen: -.187 (.286), p=.059 AS Kunst und Kultur: .346** (.398**) AS Rockmusik: .215* (.385*) AS Kunstmusikszenen: .250* (.379*) Musikalische Expertise: -.053* (-.280*) AS elektr./rhythm. bas. Musik: .173 (.258), p=.063 AS Kunstmusikszenen: .249* (.390*) AS Kunstmusik: .175 (.291), p=.086 AS Kunst und Kultur: .210 (.246), p=.054 AS Kunstmusik: .204 (.330), p=.096 AS Rockmusik: .149 (.266), p=.091 AS Kunst und Kultur: .218 (.249), p=.093
MWD (mit Herkunftslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Expertise (MWD, H) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Vertrautheit Rockmusik West
.137; F(8,44)=2.033, p=.064; n=53
Gefallen ZG Musik Ost
.371; F(8,43)=4.765***; n=52
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse] 1. 2. 3. 1.
AS Rockmusik: .285* (.480*) AS elektr./rhythm. bas. Musik: .287* (.416*) AS Kunst und Kultur: .276 (.305), p=.070 AS Kunstmusik: .301* (.402*)
340 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Vertrautheit ZG Musik Ost
.329; F(8,35)=3.640**; n=44
1.
Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.409; F(8,42)=5.319***; n=51 .423; F(8,34)=4.849***; n=43
1. 2.
2.
1. 2. 3. 4.
AS elektr./rhythm. bas. Musik: .263* (.338*) AS Kunstmusikszenen: .291 (.401), p=.082 AS Kunstmusik: .264* (.384*) AS Kunst und Kultur: .279* (.284*) AS elektr./rhythm. bas. Musik: .348** (.491**) AS Popularmusikszenen: -.323* (-.447*) AS Rockmusik: .215* (.356*) AS Kunst und Kultur: .278 (.327), p=.060
MWD (mit Namenslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Expertise (MWD, N) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse]
Gefallen Rockmusik Ost
.188; F(8,43)=2.472*; n=52
1.
Vertrautheit Rockmusik Ost
.220; F(8,39)=2.655*; n=48
1.
2.
2. 3.
Vertrautheit ZG Musik Ost
.499; F(8,34)=6,224***; n=43
1.
Gefallen ZG Musik West
.444; F(8,43)=6.095***; n=52
1.
2.
AS Kunst und Kultur: .377** (.476**) AS elektr./rhythm. basierte Musik: .199* (.329*) AS elektr./rhythm. basierte Musik: .387* (.538*) AS Kunst und Kultur: .521* (.488*) AS Popularmusikszenen: -.331 (.384), p=.083 AS Kunstmusikszenen: .268 (.400), p=.052 AS Kunst und Kultur: .252 (.284), p=.076 AS Kunstmusik: .241* (.367*)
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 341
Vertrautheit ZG Musik West
.511; F(8,34)=6.479***; n=43
1. 2. 3. 4.
AS Popularmusikszenen: .304* (.426* AS Rockmusik: .200* (.334*) AS elektr./rhythm. basierte Musik: .219* (.277*) AS Kunst und Kultur: .247 (.265), p=.092
Musikalische Präferenzen ZGD (ohne Zusatzinformationen) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Präferenzen (ZGD, oI) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse
Gefallen Rockmusik Ost Gefallen Rockmusik West
.182; F(4,52)=4.111**; n=57 .138; F(4,53)=3.289*; n=58
1.
Gefallen ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West
.155; F(4,52)=3.558*; n=57 .143; F(4,52)=3.338*; n=57
1.
2. 1. 2. 3.
2. 1.
MP Kunstmusik: -.195** (.414**) MP Rockmusik: .097* (.254*) MP exot./folkl. Musik: .162* (.335*) MP Kunstmusik: -.140* (-.260*) MP Rockmusik: .104 (.238), p=.062 MP Kunstmusik: .279** (.414**) MP Rockmusik: -.139* (-.254*) MP Kunstmusik: .263** (.412**)
342 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
ZGD (mit Herkunftslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Präferenzen (ZGD, H) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Gefallen Rockmusik Ost
.278; F(4,51)=6.288***; n=56)
Vertrautheit Rockmusik West Gefallen ZG Musik Ost Vertrautheit ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.150; F(4,52)=3.469*; n=57
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse 1. 2. 3. 1.
.157; F(4,52)=3.611*; n=57 .099; F(4,45)=2.351, p=.068; n=50 .231; F(4,52)=5.214**; n=57 .123; F(4,42)=2.612*; n=47
MP exot./folkl. Musik: .282** (.455**) MP Rockmusik: .192** (.370**) MP Kunstmusik: -.221* (-.330*) MP Rockmusik: .204* (.315*)
1.
MP exot./folk. Musik: .157 (.252), p=.075
1. 2.
MP Kunstmusik: .282* (.351*) MP elektr./rhythm. basierte Musik: .274 (.269), p=.070 MP elektr./rhythm. basierte Musik: .274** (.358**)
1. 1. 2.
MP elektr./rhythm. basierte Musik: .370* (.343*) MP Kunstmusik: .277* (.315*)
ZGD (mit Namenslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Präferenzen (ZGD, N) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Gefallen ZG Musik Ost
.359; F(4,38)=6.891***; n=43
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse 1.
MP Kunstmusik: .428*** (.604***)
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 343
Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.317; F(4,35)=5.531**; n=40 .191; F(4,34)=3.245*; n=39
1.
MP Kunstmusik: .439** (.584**)
1.
MP elektr./rhythm. basierte Musik: .374* (.374*) MP Kunstmusik: .329 (.335), p=.060 MP exot./folkl. Musik: -.242 (.334), p=.075
2. 3.
MWD (ohne Zusatzinformationen) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Präferenzen (MWD, oI) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse]
Gefallen Rockmusik Ost Vertrautheit Rockmusik Ost Gefallen Rockmusik West Vertrautheit Rockmusik West Gefallen ZG Musik Ost Vertrautheit ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.121; F(4,73)=3.642**; n=78 .090; F(4,67)=2.761*; n=72 .121; F(4,77)=3.786**; n=82 .106; F(4,73)=.3280*; n=78
1. 2.
.339; F(4,77)=11.382***; n=82 .249; F(4,70)=7.131***; n=75 .331; F(4,70)=10.150***; n=75 .296; F(4,67)=8,466***; n=72
1.
MP Kunstmusik: .383*** (.558***)
1.
MP Kunstmusik: .387*** (.504***)
1.
MP Kunstmusik: .377*** (.563***)
1.
MP Kunstmusik: .410*** (.559***)
1. 1. 2. 1. 2.
MP Rock: .154** (.340**) MP exot./folkl./ko.-vo. Musik: .167* (.266*) MP Rock: .157* (.239*) MP exot./folkl./ko.-vo. Musik: .266** (.340**) MP Rock: .139* (.235*) MP Rock: .161* (.225*) MP exot./folkl./ko.-vo. Musik: .191 (.200), p=.093
344 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
MWD (mit Herkunftslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Präferenzen (MWD, H) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse]
Vertrautheit Rockmusik Ost Vertrautheit Rockmusik West Gefallen ZG Musik Ost Vertrautheit ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.109; F(4,67)=3.164*; n=72 .125; F(4,76)=3.857**; n=81
1.
MP Kunstmusik: .184 (.236), p=.078
1.
MP Rock: .181** (.294**)
.161; F(4,69)=4.515**; n=74 .195; F(4,54)=4.514**; n=59 .205; F(4,69)=5.704**; n=74 .277; F(4,55)=6.649***; n=60
1.
MP Kunstmusik: .338** (.395**)
1.
MP Kunstmusik: .362** (.476**)
1.
MP Kunstmusik: .319** (.406**)
1.
MP Kunstmusik: .364*** (.518***)
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 345
MWD (mit Namenslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – musikalische Präferenzen (MWD, N) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Gefallen Rockmusik Ost Vertrautheit Rockmusik Ost Gefallen ZG Musik Ost Vertrautheit ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.052 F(4,71)=2.038, p=.098; n=76 .147; F(4,64)=4.048**; n=72 .129; F(4,67)=3.629**; n=72 .340; F(4,53)=8.340***; n=58 .292; F(4,68)=8.426***; n=73 .289; F(4,53)=6.787***; n=58
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse] 1.
MP exot./folkl./ko.-vo. Musik: .209* (.266*)
1.
MP Kunstmusik: .262* (.298*)
1.
MP Kunstmusik: .336** (.432**)
1.
MP Kunstmusik: .413*** (.541***)
1.
MP Kunstmusik: .408*** (.515***)
1.
MP Kunstmusik: .424*** (.530***)
346 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Politische Einstellungen ZGD (ohne Zusatzinformationen) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – politische Einstellungen (ZGD, oI) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Gefallen Rockmusik Ost Gefallen ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West
.100; F(3,54)=3.118*; n=58 .213; F(3,54)=6.144**; n=58 .133; F(3,54)=3.909*; n=58
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse 1. 2.
ES WV Kultur: .219* (.317*) AS Politik: -.145* (-.273*)
1.
AS Politik: .381*** (.518***)
1.
AS Politik: .276** (.394**)
ZGD (mit Herkunftslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – politische Einstellungen (ZGD, H) Musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Gefallen Rockmusik Ost Vertrautheit Rockmusik Ost Vertrautheit Rockmusik West
.082; F(3,57)=2,784*; n=61 .186; F(3,56)=5.484**; n=60 .165; F(3,58)=5.032**; n=62
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse 1.
ES WV Kultur: .256* (.341*)
1.
ES WV Kultur: .357** (.417**)
1.
ES WV Kultur: .391** (.442**)
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 347
Gefallen ZG Musik Ost Vertrautheit ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West Vertrautheit ZG Musik West
.090; F(3,58)=3.002*; n=62 .072; F(3,50)=2.374, p=.081; n=54 .078; F(3,57)=2.868, p=.055; n=61 .075; F(3,47)=2.358, p=.084; n=51
1.
ES WV Kultur: .216* (.273*)
1.
AS Politik: .259* (.323*)
1.
AS Politik: .139 (.222), p=.096
1.
AS Politik: .293* (.347*)
ZGD (mit Namenslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – politische Einstellungen (ZGD, N) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Vertrautheit ZG Musik West
.088; F(3,38)=2.323, p=.090; n=42
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) tendenziell signifikante Ergebnisse
1. AS Politik: .319* (.387*)
MWD (ohne Zusatzinformationen) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – politische Einstellungen (MWD, oI) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Gefallen Rockmusik Ost
.180; F(3,76)=6.768**; n=80
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierten Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse] 1. 2.
AS Politik: .179** (.314**) ES WV Kultur: .222* (.254*)
348 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
Vertrautheit Rockmusik West Gefallen ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West
.043; F(3,76)=2.196, p=.095; n=80
1.
ES WV Ergebnisse: -.406* (.229*)
.135; F(3,77)=5.168**; n=81 .197; F(3,72)=7.132**; n=76
1.
AS Politik: .253** (.346**)
1.
AS Politik: .317*** (.447***)
MWD (mit Herkunftslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – politische Einstellungen (MWD, H) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Vertrautheit Rockmusik Ost
.071; F(3,68)=2.797*; n=72
1.
Vertrautheit Rockmusik West Vertrautheit ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West
.057; F(3,79)=2.667, p=.053; n=83
1.
.063; F(3,55)=1.223, p=.310; n=59 .095; F(3,70)=3.549*; n=74
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse]
2.
1.
ES WV Kultur: .255 (.204), p=.092 ES WV Ergebnisse: -.336 (.201), p=.085 ES WV Ergebnisse: -.307 (.197), p=.071
AS Politik: .286** (.339**)
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 349
MWD (mit Namenslabel) Multiple Regressionsanalyse: Bewertung der Stimuli – politische Einstellungen (MWD, N) musikalische Stimuli
Güte des Regressionsmodells (korr. R²; Sig. des Modells;n)
Vertrautheit Rockmusik Ost Gefallen ZG Musik Ost Gefallen ZG Musik West
.062; F(3,67)=2.537, p=.064; n=71 .069; F(3,67)=2.742*; n=71 .095; F(3,67)=2.355, p=.080; n=71
Faktoren, die die Bewertung der musikalischen Stimuli beeinflussen (Prädiktoren; geordnet nach Effektgröße der standardisierte Beta-Koeffizienten) Betakoeffizienten (standardisiert) [tendenziell signifikante Ergebnisse] 1.
ES WV Kultur: .344* (.236*)
1.
AS Politik: .291** (.348**)
1.
AS Politik: .222* (.259*)
350 | Getrennt vereint – Stimmen und Klänge der Nachwendezeit
FORSCHUNGSFRAGE 3: UNTERSCHIEDE IN DER BEWERTUNG VON MUSIK MIT OST- UND WESTDEUTSCHEM HINTERGRUND Nicht manipulierte Stimuli im Zwischengruppendesign t-Tests – Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund (ZGD) Kategorien
Fragebogen (n)
Mittelwert
Standardabweichung
dCohen,Signifikanz; (Effektstärke)
Rockmusik Ost
1
3.47
1.02
p=.084
Rockmusik West
(n=59)
3.67
1.19
Rockmusik Ost
2
3.54
1.16
Rockmusik West
(n=62)
3.61
1.11
Rockmusik Ost
3
3.82
1.29
Rockmusik West
(n=49)
3.96
1.31
ZG Musik Ost
1
3.33
1.28
.42**
ZG Musik West
(n=57)
3.02
1.31
(schw. Ef.)
ZG Musik Ost
2
2.89
1.35
p=.447
ZG Musik West
(n=61)
2.83
1.34
ZG Musik Ost
3
3.24
1.23
ZG Musik West
(n=45)
3.29
1.49
p=.513
p=.450
p=.776
Manipulierte Stimuli im Messwiederholungsdesign Da Fragebogen 4 aufgrund des Designs bereits mehr Stimuli enthielt als die Fragebögen 1 bis 3, habe ich in diesem Fall aus pragmatischen Gründen (um die Aufmerksamkeit der Probanden nicht zu überlasten etc.) weniger Stimuli manipuliert und mich dabei für die Vertreter der Zeitgenössischen Musik (als Genre, das eine größere Spannweite in den Bewertungen erwarten lässt) entschieden.
Anhang 3 –Detailergebnisse der statistischen Analyseverfahren | 351
t-Tests – Bewertung von Musik mit ost- und westdeutschem Hintergrund (manipulierte Stimuli, MWD) Kategorien
Gefallen ZG Musik »Ost« (West)
Setting (n) Mittelwert 2
2
3
Vertrautheit ZG Musik »West« (Ost)
1.80
p=.138
3.01
1.67
2.62
1.88
2.63
1.77
2.74
1.56
.25*
2.92
1.64
(schwacher Effekt)
2.27
1.65
p=.151
2.38
1.67
(n=91)
Gefallen ZG Musik »West« (Ost) Vertrautheit ZG Musik »Ost« (West)
2.83
p=.897
(n=79)
Vertrautheit ZG Musik »West« (Ost) Gefallen ZG Musik »Ost« (West)
dCohen,Signifikanz; (Effektstärke)
(n=92)
Gefallen ZG Musik »West« (Ost) Vertrautheit ZG Musik »Ost« (West.)
Standard -abweichung
3 (n=78)
Musikwissenschaft Dagobert Höllein, Nils Lehnert, Felix Woitkowski (Hg.)
Rap – Text – Analyse Deutschsprachiger Rap seit 2000. 20 Einzeltextanalysen Februar 2020, 282 S., kart., 24 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4628-3 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4628-7
Helen Geyer, Kiril Georgiev, Stefan Alschner (Hg.)
Wagner – Weimar – Eisenach Richard Wagner im Spannungsfeld von Kultur und Politik Januar 2020, 220 S., kart., 6 SW-Abbildungen, 5 Farbabbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4865-2 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation, ISBN 978-3-8394-4865-6
Rainer Bayreuther
Was sind Sounds? Eine Ontologie des Klangs 2019, 250 S., kart., 5 SW-Abbildungen 27,99 € (DE), 978-3-8376-4707-5 E-Book: 24,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4707-9
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Musikwissenschaft Eva-Maria Houben
Musical Practice as a Form of Life How Making Music Can be Meaningful and Real 2019, 240 p., pb., ill. 44,99 € (DE), 978-3-8376-4573-6 E-Book: 44,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4573-0
Marianne Steffen-Wittek, Dorothea Weise, Dierk Zaiser (Hg.)
Rhythmik – Musik und Bewegung Transdisziplinäre Perspektiven 2019, 446 S., kart., 13 Farbabbildungen, 37 SW-Abbildungen 39,99 € (DE), 978-3-8376-4371-8 E-Book: 39,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4371-2
Johannes Müske, Golo Föllmer, Thomas Hengartner (verst.), Walter Leimgruber (Hg.)
Radio und Identitätspolitiken Kulturwissenschaftliche Perspektiven 2019, 290 S., kart., 22 SW-Abbildungen 34,99 € (DE), 978-3-8376-4057-1 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4057-5
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