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German Pages 330 Year 2014
Jonas Grauel Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen
Kulturen der Gesellschaft | Band 10
Jonas Grauel (Dr. phil.) ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Exzellenzcluster »Integrated Climate System Analysis and Prediction« (CliSAP) an der Universität Hamburg. Seine Forschungsschwerpunkte sind Konsum- und Wirtschaftssoziologie.
Jonas Grauel
Gesundheit, Genuss und gutes Gewissen Über Lebensmittelkonsum und Alltagsmoral
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Inhalt
Danksagung | 7 1
Einleitung | 9
2
Konsum und Moral: Zum Forschungsstand in der Soziologie | 19
2.1 Menschliche Bedürfnisse und der Nutzen von Konsumgütern | 20 2.2 Theoretische Perspektiven auf Konsum | 23 2.3 Perspektiven auf die Moralität des Konsums | 34 2.4 Fazit | 45 3
Die Forschungsperspektive | 49
3.1 Moral als habituell verankerte Sinnkonstruktion | 50 3.2 Moral im Geflecht von Alltagstätigkeiten | 78 3.3 Fazit: Implikationen und Lehren der Perspektive für Methodologie und Forschungsprogramm | 83 4
Methodischer Zugang und Forschungspraxis | 89
4.1 Rekonstruktive Methodologie und Dokumentarische Methode | 90 4.2 Sampling und Zugang zum Feld | 99 4.3 Interviewbedingungen und -durchführung | 103 4.4 Auswertungsschritte | 106 5
Moralische Orientierungen beim Konsum von Lebensmitteln | 111
5.1 Falldarstellungen | 114 5.2 Konzeptionen des ›guten‹ Konsums | 186 6
Konsummoral in der Alltagspraxis | 205
6.1 Die interaktive Verhandlung von Konsummoral im Kontext des Haushalts | 206 6.2 Reflexivität und Routine | 227 7
Die sinnbezogene Wechselwirkung zwischen Konsummoral und sozialer Distinktion | 241
7.1 Abgrenzungen nach ›unten‹ | 245 7.2 Abgrenzungen nach ›oben‹ | 260
7.3 Relativierung von vertikaler Ungleichheit | 270 7.4 Fazit | 273 8 Diskussion der Ergebnisse und theoretische Schlussfolgerungen | 281
8.1 Konsummoral als Alltagsmoral | 282 8.2 Das Verhältnis von Moral und Konsumpraxis | 286 8.3 Konsummoral im Kontext sozialer Ungleichheit | 293 Anhang | 299
A: Beispielinterpretation | 299 B: Liste der Interviewpartner | 303 Literaturverzeichnis | 307
Danksagung
Das vorliegende Buch ist zugleich meine Dissertation an der Philosophischen Fakultät der Universität Siegen, die ich für die Publikation leicht überarbeitet habe. Danken möchte ich zunächst meinem Betreuer und Erstgutachter Christian Lahusen. Er hat mir bei der Wahl meines Themas größtmögliche Freiheit gelassen, mich in schwierigen Phasen aufgebaut und mit unzähligen anregenden Kommentaren zum Gelingen der Arbeit beigetragen. Eine bessere und persönlichere Betreuung hätte ich mir nicht wünschen können. Mein Dank gilt auch meiner Zweitgutachterin Karin Schittenhelm sowie den Teilnehmern und Teilnehmerinnen ihrer Forschungswerkstatt, in der ich meine Arbeit mehrfach diskutieren durfte. Ich habe dort sehr viel über qualitative Methoden der Sozialforschung gelernt und zahlreiche wertvolle Hinweise erhalten. Meine Arbeit hat zudem stark profitiert von vielen anregenden Gesprächen mit Bettina Grimmer, Uta Liebeskind, Christiane Schürkmann und Matthias Siembab. Alle vier haben zudem an einer von mir initiierten Gruppe teilgenommen, in der wir gemeinsam erste Interviews diskutiert und interpretiert haben, was zur Intersubjektivität der Ergebnisse entscheidend beigetragen hat. Für alle vorgebrachten Argumente übernehme ich selbstverständlich die alleinige Verantwortung. Eine große Hilfe war mir Angelika Hammes, die bei der mühseligen Arbeit der Interviewtranskription ein über das übliche Maß hinausgehendes Engagement gezeigt hat. Dank gebührt auch meinen Eltern Günther Grauel und Heide Grauel-Ebelt, die mir das Promovieren durch seelische, handwerkliche und finanzielle Unterstützung in einiger Hinsicht erleichtert haben. Dem Seminar für Sozialwissenschaften an der Universität Siegen danke ich für die Gewährung eines sechsmonatigen Promotionsabschlussstipendiums. Zu guter Letzt möchte ich all meinen Interviewpartnern und -partnerinnen danken, die so großzügig waren, mir interessante Einblicke in ihren Alltag zu gewähren. Ohne sie wäre die vorliegende Studie nicht möglich gewesen.
1 Einleitung
»Das Vegetarierdasein äh hat so seine Schattenseiten […] man isst nicht nur einfach kein Fleisch sondern man is Vegetarier ja das heißt man hat ne Botschaft […] das heißt man is das personifizierte schlechte Gewissen des Fleischessers der neben einem sitzt und äh das ging mir unheimlich auf n Zeiger […] der andere Aspekt is und ich glaub der is eigentlich noch gravierender is eigentlich die die zwangsläufige Inkonsequenz das heißt ähm wenn man sich nich komplett kasteien will […] nehmen Sie diese Tütensuppe da war […] immer irgendwie noch so n tierisches Produkt mit drin obwohl’s nur ne Zwiebelsuppe war so […] Sie drehen jedes Produkt um und kucken was is da drauf […] und dann fängt man an zu überlegen das heißt äh das wirklich so konsequent zu gestalten is glaub ich zumindest hier ähm schwierig und zwar je nachdem bis zu welchem Grad gibt ja auch immer Vegetarier dann gibt’s ja Laktovegetarier dann gibt’s ja Veganer wat es alles gibt die haben dann keine Lederschuhe und alles ähm bis zur sozialen Isolation wo man im Prinzip sich nur noch mit Leuten abgeben kann die genauso leben wie man selbst« (Herr Staudt)
Dieser Bericht eines Konsumenten1 über seinen nach zwei Jahren abgebrochenen Versuch, aus Tierschutzgründen als Vegetarier zu leben, dürfte Erinnerungen selbst bei denjenigen wachrufen, die keine Erfahrungen mit vegetarischer Ernährung gemacht haben. Denn egal, ob es um gesundheitsbewusste Ernährung, den Kauf umweltfreundlicher Produkte oder darum geht, weniger Lebensmittel in den Abfall zu werfen: Viele Menschen haben in der ein oder anderen Weise bereits darüber nachgedacht, das eigene Konsumverhalten zum ›Guten‹ zu verändern.2 Solche Vorhaben gelingen in manchen Fällen, in anderen hingegen nicht,
1
Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist in diesem Buch, sofern nicht anders gekennzeichnet, immer auch die weibliche Form mitgemeint.
2
Anführungszeichen werden im Folgenden mit folgender Bedeutung verwendet: Einfache Anführungszeichen (›…‹) werden genutzt, um eine Distanzierung des Autors vom Wortsinn anzuzeigen, insbesondere, um bei Begriffen wie ›gut‹, ›richtig‹, und
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manchmal bleibt es auch bei dem Gedanken. Das Zitat illustriert allerdings drei Sachverhalte besonders anschaulich: •
•
•
Erstens sind Konsumpraktiken in einen sozialen Kontext eingebettet. Die Sinndeutungen anderer Personen, denen wir im Alltag begegnen, prägen unsere eigenen Deutungen des ›guten‹ Konsumverhaltens mit, da die eigenen Handlungen gegenüber anderen erklärt oder gerechtfertigt werden müssen. Dies kann auch antizipatorisch geschehen, ohne dass eine Rechtfertigung von anderen eingefordert wird oder es zu expliziter Kommunikation kommt. Zweitens zeigt sich, dass intendierte Veränderungen des Konsumverhaltens vor dem Hintergrund bereits eingespielter Routinen stattfinden: So implizierte Herrn Staudts Ernährungsumstellung eine Veränderung seiner Einkaufsroutinen, da er nun auf die besonders genaue Betrachtung der Inhaltsstoffe angewiesen war. Drittens spielen Gelegenheitsstrukturen der räumlichen Umwelt eine Rolle: Welche vegetarischen Produkte sind verfügbar? Wo sind sie verfügbar? Müssen dafür möglicherweise Umwege in Kauf genommen werden? Diese Aspekte sind wichtige Rahmenbedingungen, welche eine Umsetzung gewünschter Veränderungen des Konsumverhaltens in die Tat erschweren oder befördern können.
Wer darüber hinaus in den letzten Jahren die mediale Berichterstattung verfolgt hat, dem dürfte kaum entgangen sein, dass alltägliche Konsumaktivitäten in heutigen Industriegesellschaften eine neue Problematisierung erfahren haben. Während noch vor wenigen Jahrzehnten Lebensmittelknappheit und -hygiene Probleme darstellten, deren Überwindung nicht zuletzt den Erfolg der industrialisierten Massenproduktion begründeten (Bildtgård 2008: 122), stehen heute Themen im Fokus der Debatte, die eher mit einem Überfluss an Lebensmitteln assoziiert werden. Lebensmittelskandale wie BSE oder Dioxin in Eiern, der durch zunehmenden CO2-Ausstoß verursachte Klimawandel und die Sorge um die Verschlechterung der allgemeinen Gesundheit durch Übergewicht und Herzkrankheiten sind allesamt auch als Folge des Massenkonsums interpretiert worden. Im Zuge dieser Debatten stehen neben den Systemen der Produktion von Lebens›schlecht‹, ›falsch‹ etc. zu verdeutlichen, dass es sich nicht um eine Wertung des Autors handelt, sondern um eine bestimmte, empirisch auffindbare soziale Konstruktion des Guten und Schlechten. Doppelte Anführungszeichen (»…«) werden für wörtliche Übernahmen benutzt, etwa dann, wenn zentrale Begriffe der Interviewpartner in der Interpretation zitiert werden.
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mitteln auch die Konsumenten in der Kritik, sie werden als (Mit-) Verantwortliche adressiert. In medialen Debatten kommt es zu einer Moralisierung des Konsums, zu einer Bewertung von Konsumgütern, -orten und -praktiken und nicht zuletzt der Konsumenten als ganze Personen als ›richtig‹ bzw. ›gut‹ und ›falsch‹ bzw. ›böse‹ – oder zumindest dazu, dass einige Lebensmittel als ›ethischer‹ als andere dargestellt werden (Goodman et al. 2010: 1783). Während beispielsweise häufig Konsumverzicht aus Nachhaltigkeitsgründen gelobt wird, ist der Konsum von Fleisch – besonders wenn er als zu häufig empfunden wird und die Produkte aus Massentierhaltung stammen – in die Nähe des ›Bösen‹ gerückt worden, wie etwa die Frage eines Artikels in einem Sondermagazin der »Zeit« suggeriert: »Fleisch essen mit gutem Gewissen – geht das überhaupt?« Aber auch moralische Widersprüche, etwa zwischen Gesundheits- und Umweltbewusstsein, werden thematisiert: »Wir essen mehr Fisch denn je. Das ist gesund für uns, aber schädlich für die Ozeane.« Worum es dabei im Einzelnen auch geht, kennzeichnend für die Debatten ist insbesondere die Aufforderung an den Einzelnen, bewusste und verantwortliche Entscheidungen zu treffen: Konsum wird damit zu einem Mittel gesellschaftlicher Problemlösung, Einzelne werden in ihrer Konsumentenrolle als moralische Akteure angesprochen, die mit ihren Entscheidungen Verantwortung für sich und andere übernehmen sollen. Im Alltagsleben der Menschen bilden öffentliche Debatten dieser Art einen Hintergrund für die Auseinandersetzung mit der Frage, was ›guter‹ Konsum ist und wie das eigene Konsumverhalten damit praktisch in Bezug zu setzen ist. In der vorliegenden Arbeit stelle ich die Erzählungen von Menschen über ihre alltägliche Konsumpraxis in den Mittelpunkt. Am Beispiel des Lebensmittelkonsums gehe ich den folgenden drei Fragen nach: • • •
Erstens: Welche verschiedenen Verständnisse des moralisch ›guten‹ bzw. ›schlechten‹ Konsums sind empirisch auffindbar? Zweitens: In welchem Verhältnis stehen diese Typen der Konsummoral zur alltäglichen Praxis? Drittens: Wie wird Konsummoral im Kontext sozialer Ungleichheit verhandelt?
Bereits die Sprache von unterschiedlichen Moralauffassungen verrät dabei, dass eine soziologische, konstruktivistische Perspektive eingenommen wird, die Moral als soziales Konstrukt und nicht als Set objektiv gegebener moralischer Wahrheiten auffasst. Diese Fragestellung halte ich angesichts einer wissenschaftlichen Debatte für angebracht, in der die Zusammenhänge von Konsum und Mo-
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ral zwar intensiv thematisiert worden sind, allerdings meist unter einer – je nach Disziplin – entweder theoretisch oder empirisch eingeengten Perspektive: Die Moralphilosophie beschäftigt sich nicht mit den empirisch auffindbaren Moralvorstellungen, sondern beteiligt sich selbst an der Suche nach Antworten, wie ein der heutigen Zeit angemessenes ethisches Konsumverhalten aussehen sollte, wobei hier oft differenzierter argumentiert wird als in den Massenmedien. Zwar wird dabei darauf hingewiesen, dass es angesichts der komplexen Organisation der heutigen Lebensmittelproduktion für Konsumenten schwer ist, die Konsequenzen ihres Handelns zu überblicken und zu beurteilen. Dennoch wird in der Regel auch hier Konsumenten eine Mitverantwortung für kollektive Probleme wie Umweltschutz und soziale Verantwortung zugeschrieben, die aus ihrem Konsumhandeln resultieren (vgl. z.B. Almassi 2011; Coff 2006; Neuner 2008). Die Zuschreibung von Verantwortung an die Konsumenten erscheint damit geradezu als Voraussetzung dafür, dass es sinnvoll ist, eine Ethik des Konsums zu entwerfen. Der ethische Diskurs über Konsum, der über populärphilosophische Bücher (z.B. Erlinger 2011: 155-180) auch einer breiteren Allgemeinheit zugänglich gemacht wird, fordert die Einzelnen damit ebenfalls zu ethisch reflektierten und verantwortungsvollen Entscheidungen auf. Allerdings gibt es auch Philosophen, die explizit nicht den Anspruch verfolgen, normativ begründete Antworten zu geben, sondern vielmehr zu einem Durchdenken verschiedener Handlungsoptionen anregen und somit den eigenen Auftrag als optativ verstehen (Schmid 2007: 19). Aus einer wirtschaftswissenschaftlichen Perspektive – die Konsum vor allem als Marktentnahme von Gütern betrachtet und damit das Moment des Kaufens in den Mittelpunkt rückt – erscheint eine Verknüpfung von Moral und Konsum zunächst nicht selbstverständlich. Zum einen stand das Konzept des Nutzens hier lange Jahrzehnte im Mittelpunkt, wobei meist ein relativ enges Verständnis von Nutzen als Eigennutz vorherrschte, während Moral als vernachlässigbar angesehen wurde (vgl. z.B. Homann 2007). Um Phänomene wie den Kauf von FairTrade-Produkten dennoch in gegebene Theoriegebäude einbauen zu können, wird dann der Eigennutz des Altruismus konstatiert, Moral wird als rein kognitiver Prozess verstanden und auf rationale individuelle Entscheidungsfindung reduziert. Eine bessere Information des Konsumenten über ethische Aspekte der Warenproduktion scheint dann in Verbindung mit einem als gegeben angenommenen gesunden Menschenverstand der Schlüssel zu sein, um moralisch richtigen Konsum zu befördern. In der psychologischen Forschung ist das Thema der Konsummoral bislang erstaunlich wenig behandelt worden. Wenngleich es einige von Psychologen (mit-)verfasste Publikationen zum Thema gibt, so fehlen bislang ausgereifte und
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erkennbar in den disziplinären Traditionen verankerte Forschungsansätze und -programme. Vereinzelte Studien liegen aber vor, aus einer behavioristischen Sicht findet sich etwa die Fragestellung, wie sich das Verhalten von Menschen ändert, nachdem sie mit umweltfreundlichen Produkten konfrontiert worden sind und umweltfreundliche Produkte gekauft haben (Mazar/Zhong 2010). Für die Soziologie – die über das Kaufen hinaus den gesamten Prozess des Konsums von Bedürfnisentstehung bis Entsorgung betrachtet – ist die Erkenntnis, dass Konsum immer auch mit moralischen Implikationen verknüpft ist, hingegen nichts Neues oder Ungewöhnliches. Dies gilt zum einen auf der Mikroebene der konsumierenden Akteure. Jeder Einzelne muss seine Konsumaktivitäten für legitim halten, um sie vollziehen zu können, so dass jedem Handeln eine meist unbewusste Vorwegnahme der moralischen Rechtfertigbarkeit zugrunde liegt, egal wie diese letztendlich aussieht. Zum anderen gilt dies auch auf der Makroebene der Gesellschaft als Ganzer. Da Konsum direkt oder indirekt andere beeinflusst und mit Ansprüchen auf knappe Ressourcen einhergeht, müssen kollektive Regeln im Umgang mit Konsum gefunden werden. Dass Konsum – zumal der von Lebensmitteln, der ja der Aufrechterhaltung des menschlichen Lebens dient – auf enge und vielfältige Weise mit Moral verknüpft ist, ist also weder eine neue noch erstaunliche Einsicht. Auch öffentliche Debatten um Konsummoral, in denen einige Konsumpraktiken als moralisch achtenswert gelobt, andere wiederum als schlecht für das Gemeinwohl verteufelt werden, sind bereits seit Jahrhunderten zu beobachten (Hilton 2004), wobei immer wieder neue Dichotomien der Unterscheidung zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Konsum ins Feld geführt worden sind. In der aktuellen soziologischen Debatte, die sich mit den Verbindungen von Konsum und Moral beschäftigt, ist allerdings eine seltsame Lücke zu beobachten: Von Seiten der Gesellschaftstheorie wird betont, dass Konsummoral in differenzierten modernen Gesellschaften nur im Plural zu haben ist (Hellmann 2008), da eine allgemein verbindliche Moral außerhalb rechtlicher Regelungen nicht mehr existiere. Für pluralistische Gesellschaften ist daher zu erwarten, dass sich ganz verschiedene Vorstellungen des moralisch ›guten‹ Konsums gegenüberstehen, die oft nicht miteinander vereinbar sind. Reinhold Hedtke bringt dies in einem fiktiven Beispiel treffend zum Ausdruck: »Der eine übernimmt konsummoralische Verantwortung für die nachhaltig wirtschaftende Kaffeekleinbauernkooperative in Costa Rica – und kauft –, der andere für die von Managern eingeschüchterten, drangsalierten und entrechteten Verkäuferinnen bei Lidl oder Schlecker – und kauft nicht. Der Dritte glaubt an den freien Markt als eine moralisch überlegene Institution, die Freiheit, Wohlstand und Gerechtigkeit garantiert. Er übernimmt
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konsumtive Verantwortung für den freien Weltmarkt. Unproduktiven, kleinbäuerlichen Strukturen künstlich das Leben zu verlängern, das ist dann unmoralisch. Dann heißt es: Tchibo ja gerne, GEPA bitte nicht. Oder auch: Ich kaufe beim Aldi – für die Effizienz!« (Hedtke 2005: 47-48)
In der empirischen Forschung findet sich diese Gegensätzlichkeit von Moralvorstellungen aber nur bedingt wieder. In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Studien erschienen, die das Konzept des »ethischen Konsums« in den Mittelpunkt stellen und ein relativ eng begrenztes Spektrum an Konsumpraktiken fokussieren: Es geht meist um umweltfreundlichen Konsum oder den Kauf fair gehandelter Produkten sowie um Konsumenten(gruppen), die ethischen Konsum als persönliches Projekt und wichtigen Teil ihrer Selbstidentität verstehen. Im Zentrum steht dabei stets eine Vorstellung des ›guten‹ Konsums, bei der es darum geht, die Interessen von »Schutzobjekten« wie Umwelt, Tieren oder entfernt lebenden anderen Menschen bei Konsumentscheidungen zu berücksichtigen. Bleibt man bei Hedtkes Beispiel, so ist zu konstatieren, dass die Konsummoral des Aldi-Käufers von der empirischen Forschung vergessen wird, obwohl er doch den Großteil der Bevölkerung besser zu repräsentieren scheint als der Käufer des Kaffees der Kleinbauernkooperative. Damit läuft die empirische Forschung Gefahr, eine verengte Perspektive auf Konsummoral einzunehmen und somit einen Teil der empirisch vorhandenen Sinnorientierungen nicht richtig zu erfassen. Darüber hinaus impliziert die gesellschaftstheoretische Feststellung einer pluralisierten Konsummoral auch die Möglichkeit der Entstehung gesellschaftlicher Konfliktlinien, wenn sich unterschiedliche Vorstellungen über ›guten‹ und ›schlechten‹ Konsum gegenüberstehen. Eigene Vorstellungen bezüglich des ›richtigen‹ Konsums können moralisierend gegen andere gewendet werden, deren Haltungen oder Verhalten diesen Vorstellungen vermeintlich nicht entsprechen und die daher potentiell als ›unmoralisch‹ wahrgenommen werden können. Die Frage, inwiefern und auf welche Weise Konsummoral auch zu einer moralischen Distinktion eingesetzt wird, mittels derer sich soziale Gruppen gegenüber anderen als ›besser‹ positionieren, ist in der bisherigen Forschung dabei bisher lediglich angerissen worden (z.B. Adams/Raisborough 2008), so dass noch viele Forschungsfragen unbeantwortet sind. Vor diesem Hintergrund sind die bereits angesprochenen drei Fragestellungen der vorliegenden Studie einzuordnen: Angesichts der unnötigen Einengung der empirischen Forschung ist es erstens angebracht, in einer offeneren Weise an das Phänomen der Konsummoral heranzugehen. Dazu ist es sinnvoll, gerade nicht spezielle Gruppen selbsternannter ethischer Konsumenten zu untersuchen, sondern Menschen in den Blick zu
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nehmen, deren Konsumentenidentität nicht um einen ›ethischen‹ Konsumstil zentriert ist, die also als ›gewöhnliche‹ Konsumenten zu betrachten sind. Damit besteht die Chance, sowohl die inhaltliche Varianz verschiedener Moralvorstellungen in den Blick zu bekommen, als auch zu zeigen, welche Rolle Moral für die große Gruppe ›gewöhnlicher‹ Konsumenten überhaupt spielt. Die Arbeit setzt sich damit zum Ziel, eine Typik von Konsummoralen herauszuarbeiten. Diese Fragestellung hat in erster Linie einen explorativen Charakter und verlangt nach einem offenen und unvoreingenommenen Blick auf das, was die Beforschten zu sagen haben. Angesichts der intensiven medialen und alltagsweltlichen Debatten um Konsum ist dabei sicherzustellen, dass bei der Interpretation nicht unreflektiert verbreitete Ansichten übernommen werden, wie sie eingangs geschildert wurden. Eine rekonstruktive Verfahrensweise wirkt dieser Gefahr entgegen, da insbesondere das empirische Material als Ausgangspunkt der Theoriebildung dient. Angebracht ist daher ein Wechselspiel zwischen der Interpretation des erhobenen Datenmaterials und theoretischer Lektüre, um zu verhindern, dass das der sozialwissenschaftlichen Literatur zu entnehmende Wissen den Blick auf den Forschungsgegenstand einengt. Im Laufe des Forschungsprozesses wird dann erst entschieden, welche theoretischen Konzepte sich als sinnvoll erweisen, um den Gegenstand angemessen zu beschreiben. Während der Auswertungen stellte sich dabei insbesondere heraus, dass es unzureichend ist, Moral als ein System abstrakter und allgemeiner kognitiver Überzeugungen zu behandeln, die Akteure einmal erwerben und dann beibehalten. Vielmehr wurde deutlich – das einleitende Zitat illustrierte dies bereits –, dass es sinnvoller ist, von einer praktischen Moral zu sprechen, einer Moral also, in der die Komplexität von Alltagspraxis selbst in Urteile einbezogen wird. Als zweites Ziel ergab sich daraus, das Verhältnis von Konsummoral und Praxis zu beschreiben. Aus dieser Perspektive kann in den Blick genommen werden, wie normative Fragen der Gestaltung relevanter Praktiken des Lebensmittelkonsums im Kontext des umfassenderen Alltagslebens verhandelt werden. Praktiken wie Einkaufen, die Zubereitung des Essens und der eigentliche Verzehr müssen im Alltag mit einer Vielzahl anderer Tätigkeiten koordiniert und mit anderen Menschen abgestimmt werden, so dass die für diese Praktiken aufgebrachte Zeit und Energie notwendigerweise stark begrenzt sind. Wie in diesem Spannungsfeld Abwägungen zwischen Idealvorstellungen über ›guten‹ Konsum und Praxis vorgenommen, wie Abweichungen von Idealvorstellungen erklärt und wie angesichts der Komplexität des Alltagslebens Deutungen aufrechterhalten werden, dennoch einen ›guten‹ Konsum zu praktizieren, ist somit ein weiteres Thema der Arbeit.
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Neben einer offenen Herangehensweise lässt aber auch eine rekonstruktive Herangehensweise dem Forscher die Möglichkeit, eigene Fragestellungen zu verfolgen, die eher aus einem theoretischen Interesse als aus dem Datenmaterial selbst hervorgegangen sind. Drittens nehme ich daher die Frage nach den sinnhaften Wechselwirkungen zwischen Konsummoral einerseits und sozialer Distinktion andererseits in den Blick. Diese Frage resultiert aus meinem ursprünglichen Interesse an der Frage, inwiefern ›moralische‹ Konsumpraktiken auch der sozialen Distinktion im Sinne von Bourdieu (1987) dienen. Allerdings fügt sich diese Fragestellung letztlich gut in das restliche Vorhaben ein, da eine Betrachtung der sinnhaften Orientierungen von Konsummoral gewissermaßen zwei Seiten von Moral betrachten kann: Auf der einen Seite steht die persönliche Ethik, die moralische Maßstäbe umfasst, die Personen an ihr eigenes Verhalten anlegen. Auf der anderen Seite kann diese Ethik moralisierend und abgrenzend gegen andere gewendet werden. Wie dies im Kontext vertikaler sozialer Schichtung geschieht, ist daher ebenfalls eine Frage, die im Rahmen dieser Arbeit betrachtet wird. Es ist sinnvoll, eine Untersuchung von Konsummoral als Fallstudie zu konzipieren. Konsum kann kaum als ein zusammenhängendes konzeptuelles Feld verstanden werden, denn je nach Produktbereich können die involvierten Aktivitäten und Gegenstände beträchtlich variieren (Warde 1997: 19). Mit der praktischen Logik eines bestimmten Konsumbereichs hängen auch moralische Probleme zusammen, die sich in anderen Bereichen nicht oder in anderer Weise stellen. So ist Essen im Gegensatz zu vielen anderen Konsumaktivitäten mit dem Akt der Inkorporierung (Fischler 1988: 279) verbunden, womit Essen enge und intime Beziehungen zwischen dem Konsumenten und dem, was er isst, herstellt (Goodman et al. 2010: 1784). Das deutsche Sprichwort »Man ist, was man isst« macht diese Relationen deutlich, denen immer auch ein moralischer Gehalt zugesprochen werden kann: Für den Vegetarier mag der Konsum von Fleisch etwa ein moralischer Verstoß gegen das Recht der Tiere auf Leben sein; zu viele Süßigkeiten zu essen, kann als zügellos gelten. Ich habe mich darüber hinaus auch für das Beispiel des Lebensmittelkonsums entschieden, da es sich um ein vielgestaltiges Phänomen handelt, das komplexe Analysemöglichkeiten verspricht: Essen und die damit verbundenen Tätigkeiten sind einerseits relativ banale alltägliche Routinen, andererseits aber auch stark mit Bedeutung aufgeladene Tätigkeiten, mit denen soziale Zugehörigkeiten und Abgrenzungen zwischen Nationen, Geschlechtern, sozialen Klassen usw. markiert werden (Lupton 1996). Da alle Menschen in ihrem Alltag mit Essen konfrontiert sind, eignet sich der Konsum von Lebensmitteln zudem besonders für eine Studie, die ›gewöhnliche‹ Konsumenten in den Blick nimmt.
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Die Ergebnisse der Studie werden in folgender Weise dargestellt: In Kapitel 2 wird zunächst der Stand der Konsumforschung dargelegt, um die Forschungsfrage einerseits in einem breiteren Feld sozialwissenschaftlicher Ansätze zu verorten, andererseits innerhalb der Ansätze, die sich explizit mit Konsummoral beschäftigen. Darauf folgt in Kapitel 3 eine Theoriediskussion, im Zuge derer die eigene Forschungsperspektive erörtert wird. Es geht hierbei insbesondere darum, den zentralen Begriff der »Moral« zu erörtern, handlungstheoretische Grundannahmen zu klären und die gewählte Perspektive auf Konsummoral darzulegen. Daran anschließend wird in Kapitel 4 der methodische Zugang dargelegt und die eigene Forschungspraxis erörtert. Die Kapitel 5 bis 7 schließlich bilden den eigentlichen Kern der Arbeit. In Kapitel 5 geht es zunächst darum, auf Basis von acht exemplarischen Fallanalysen das Feld der unterschiedlichen moralischen Orientierungen beim Konsum von Lebensmitteln auszuloten, um im Anschluss eine Typisierung dieser Orientierungen zu leisten. Kapitel 6 beschäftigt sich mit der Frage der Verhandlung von Konsummoral in der Alltagspraxis: einerseits im engeren sozialen Kontext des Haushalts, da Fragen des ›richtigen‹ Konsums insbesondere mit anderen Haushaltsmitgliedern verhandelt werden, andererseits hinsichtlich der Frage, wie reflexive Prozesse des Nachdenkens über Konsummoral praktische Routinen beeinflussen. In Kapitel 7 werden schließlich die Arten und Weisen betrachtet, wie in Bezug auf den Konsum von Lebensmitteln moralische Distinktion von anderen sozialen Gruppen zum Ausdruck gebracht werden. In diesen zentralen inhaltlichen Kapiteln wird abwechselnd mit detaillierten sequenzanalytischen Interpretationen und typisierenden Darstellungen gearbeitet. Abschließend erfolgt in Kapitel 8 eine Diskussion der Ergebnisse sowie der Schlussfolgerungen in Bezug auf theoretische Implikationen.
2 Konsum und Moral: Zum Forschungsstand in der Soziologie
Während die Wirtschaftswissenschaften sich bei der Analyse des Konsums vor allem auf die Verwendung von Einkommen für Zwecke des Konsums konzentrieren (Hellmann 2005: 13) und in erster Linie das Moment der Marktentnahme von Gütern untersuchen (Hedtke 2001: 59), hat die Soziologie ein allgemeineres Verständnis von Konsum. Demnach kann jedes Moment eines umfassenden Prozesses Gegenstand konsumsoziologischer Analysen sein, der Präferenzbildung, Kriterienwahl und -gewichtung, Informationssuche mit anschließender Wahlentscheidung, Durchführung des Kaufs, Nutzung bzw. Ge- und Verbrauch von Gütern und Dienstleistungen sowie Entsorgung und Weichenstellung für künftigen Bedarf umfasst (Wiswede 2000: 24; Hellmann 2010: 179; Campbell 1995). Die spezifisch soziologische Perspektive besteht dabei in erster Linie darin, Konsum als soziales Geschehen zu betrachten. Dies bedeutet, die soziale Formung und die soziale Ausrichtung von Konsumverhalten in den Blick zu nehmen (Wiswede 2000: 25). Soziologische Betrachtungen zielen in der Regel darauf ab, den fundamental sozialen Charakter des Konsumgeschehens herauszustellen. Der Konsum von Lebensmitteln wird in dieser Arbeit als spezifisches Anwendungsfeld von Moral betrachtet. Alltagspraktische Moral kann nicht losgelöst von dem Praxisbereich untersucht werden, auf den sie sich bezieht, da mit der Praxis bestimmte moralische Probleme einhergehen, die sich in anderen Bereichen nicht oder anders stellen. Aus diesem Grund ist nun im Folgenden herauszuarbeiten, wie eine adäquate Perspektive auf den Konsum von Lebensmitteln aussehen kann. Zunächst wird dabei in Kapitel 2.1 auf konsumtive Bedürfnisse und den Nutzen von Konsumgütern eingegangen, da Bedürfnisse selbst eine moralische Dimension aufweisen, wie im empirischen Teil der Arbeit zu zeigen sein wird. Der Großteil dieses Kapitels beschäftigt sich im Anschluss damit, verschiedene Perspektiven auf Konsum voneinander abzugrenzen, um auf dieser Basis innerhalb des Forschungsfeldes eine der Fragestellung angemessene eige-
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ne Position herauszuarbeiten. Dazu werden in Kapitel 2.2 generelle Ansätze der Konsumforschung besprochen, um den eigenen Ansatz im weiteren Feld sozialwissenschaftlicher Theorien zu verorten. Anschließend werden in Kapitel 2.3 verschiedene Ansätze der Untersuchung von Konsummoral besprochen, um die eigene Fragestellung auch in diesen spezifischeren Debatten zu lokalisieren.
2.1 M ENSCHLICHE B EDÜRFNISSE VON K ONSUMGÜTERN
UND DER
N UTZEN
Die Kommunikation von Bedürfnissen weist eine moralische Dimension auf, die in den dieser Arbeit zugrunde liegenden Interviews immer wieder aufscheint. Diese kommt zum Ausdruck, wenn bestimmte Konsumgüter als »brauchbar« oder »unbrauchbar«, als »nötig« oder im Gegenteil als »überflüssig« bezeichnet werden. Dabei schwingt immer auch mit, dass überflüssiger Konsum ›schlecht‹ und somit moralisch verwerflich ist. Im Kontext der Fragestellung erscheint es daher hilfreich zu rekonstruieren, wie die Beforschten Bedürfnisse zum Ausdruck bringen, welchen Konsum sie als notwendig definieren und was im Gegenteil als überflüssiger Konsum dargestellt wird. Hilfreich für dieses Vorhaben sind in der Konsumforschung gängige Unterscheidungen zwischen verschiedenen Arten von Bedürfnissen sowie von Produkteigenschaften, die sich auf diese Bedürfnisse beziehen. Zunächst ist darauf hinzuweisen, dass aus soziologischer Perspektive konsumtive Bedürfnisse nicht als natürlich gegebene oder rein individuelle Präferenzen zu verstehen sind, sondern immer in soziale Prozesse eingebunden sind. Don Slater stellt dies deutlich heraus: »When I say ›I need something‹, I am making at least two profoundly social statements: firstly, I am saying that I ›need‹ this thing in order to live a certain kind of life, have certain kinds of relations with others [...], be a certain kind of person, carry out certain actions or achieve certain aims. [...] Secondly, to say that ›I (or we - my social group, my community, my class) need something‹ is to make a claim on social resources, to claim an entitlement.« (Slater 1997: 2-3)
Das Zitat macht deutlich, dass in der Behauptung, etwas zu brauchen, Ansprüche auf soziale Identitäten und knappe Ressourcen zum Ausdruck kommen. Identitäten können nur innerhalb von Gesellschaft entstehen, da sie auf kulturelle Ressourcen zurückgreifen und stets sozialer Anerkennung und Bestätigung bedürfen, die nur in gesellschaftlicher Kommunikation erfolgen können (Bauman 1988: 51). Ansprüche auf knappe Ressourcen wiederum verweisen auf Vertei-
K ONSUM UND M ORAL : F ORSCHUNGSSTAND | 21
lungskonflikte, die sowohl auf gesellschaftlicher Ebene als auch in kleineren sozialen Einheiten – etwa in Familien – gelöst werden müssen. Sehr grundlegend unterscheidet Kai-Uwe Hellmann zwischen Konsum erster und zweiter Ordnung. Konsum erster Ordnung entspringt der natürlichen Beschaffenheit des Menschen. Findet dieser Konsum nicht statt, so steht das Überleben selbst in Frage. Dagegen richtet sich der Konsum zweiter Ordnung »auf die Befriedigung sekundärer Bedürfnisse, also sämtlicher Bedürfnisse, für die keine echte Notwendigkeit reklamiert werden kann« (Hellmann 2010: 179-180). Letztere seien daher ausschließlich Luxusbedürfnisse, in Anlehnung an Sombarts Definition »Luxus ist jeder Aufwand, der über das Notwendige hinausgeht« (1967 [1922]: 86). Hellmann orientiert sich hier an einem objektiven Begriff von Notwendigkeit, durch den sichtbar wird, dass ein Großteil des Konsums in modernen Industriegesellschaften kontingent ist, also immer auch anders möglich wäre. Ob eine objektive Definition von Notwendigkeit, die sich auf das pure Überleben bezieht, dem Alltagsverständnis gerecht wird, ist jedoch eine empirische Frage. Weitere Differenzierungen Sombarts sensibilisieren dafür, dass durchaus auch Bedürfnisse, die objektiv Luxus sein mögen, als subjektiv notwendig erachtet werden können: Die Unterscheidung zwischen physiologischer Notdurft und Kulturnotwendigkeit (ebd.) weist darauf hin, dass immer auch die kulturellen Konventionen sozialer Referenzgruppen und der Mehrheitsgesellschaft mitbestimmen, was als notwendig verstanden wird. Zudem unterscheidet Sombart zwischen quantitativem und qualitativem Luxus (ebd.: 87). Ersterer bezieht sich auf die »Vergeudung« von Gütern, etwa wenn mehrere Streichhölzer für das Anzünden einer Zigarre verwendet werden, obwohl bereits eines für den funktionalen Zweck ausgereicht hätte. Letzterer bezieht sich auf verfeinerte Güter: »Verfeinerung ist alle Zurichtung der Güter, die für die notdürftige Zweckerfüllung überflüssig ist« (Ebd.). Damit ist eine Differenzierung angesprochen, die in der heutigen Marketingforschung verwendet wird, die von Grund- und Zusatznutzen von Konsumprodukten spricht. Diese Unterscheidung nimmt nicht mehr Bezug auf ein objektives Verständnis von Notwendigkeit. Grundnutzen zielt auf »die aus den technisch-funktionalen Basiseigenschaften eines Produktes resultierende Bedürfnisbefriedigung« (Meffert 2008: 399). Zusatznutzen betrifft hingegen die darüber hinausgehende Bedürfnisbefriedigung, womit auch psychische und soziale Funktionen angesprochen sind. Etwas präziser lässt sich diese Differenz mit Colin Campbell erfassen, der zwischen Zufriedenheit (»satisfaction«) und Vergnügen (»pleasure«) als zwei Modi menschlichen Empfindens unterscheidet, die auf unterschiedliche Weise mit den Eigenschaften von (Konsum-)Objekten in Verbindung stehen:
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»Objects possess utility or the capacity to provide satisfaction. It is, in this sense, an intrinsic attribute of real things: food can relieve hunger, clothes provide warmth, houses shelter, people affection. Pleasure, on the other hand, is not an intrinsic property of any object but is a type of reaction which humans commonly have when encountering certain stimuli. Pleasure is not even a property of stimuli, but refers to the capacity to react to stimuli in a certain fashion. To search for satisfaction is thus to engage with real objects in order to discover the degree and kind of their utility, whilst to search for pleasure is to expose oneself to certain stimuli in the hope that they will trigger a desired response within oneself.« (Campbell 2005 [1987]: 61)
Zufriedenheit ist nach Campbell definiert durch die Abwesenheit objektiv feststellbarer Mangelzustände an etwas (ebd.). Konsumobjekte besitzen in ihrer materiellen Beschaffenheit Eigenschaften, mit denen sich Mangelzustände beseitigen lassen und die somit Befriedigung verschaffen. Eben darin besteht der Grundnutzen oder der Gebrauchswert von Produkten. Vergnügen ist hingegen vom Konsument selbst, seinem inneren Zustand und seinen vergangenen Erfahrungen abhängig – so nutzt sich die Erlebnisintensität ab, wenn sich bestimmte Stimuli wiederholen und man ihnen über einen längeren Zeitraum ausgesetzt ist.1 Damit lässt sich auch eine Unterscheidung zwischen Bedarfen (»needs«) und Bedürfnissen (»wants«) treffen: Erstere sind objektiv, Letztere lediglich subjektiv bestimmbar. Der Vorteil von Campbells Unterscheidung besteht vor allem darin, dass er die unterschiedlichen Handlungslogiken der Suche nach dem Gebrauchsnutzen und der Suche nach Erlebniswerten herausstreicht. Allerdings zielt sie vorwiegend auf innengerichtete Erlebnisqualität ab und berücksichtigt zu wenig andere soziale Funktionen des Konsums. Diese werden im nächsten Abschnitt im Zuge der Diskussion unterschiedlicher theoretischer Perspektiven auf Konsum näher aufgezeigt. 1
Campbells Definition von Befriedigung als Behebung von Mangelzuständen mag etwas verwirren. Während er in Bezug auf Essen und Kleidung unmittelbar einleuchtend erscheint, ist er in Bezug auf andere Konsumgüter weniger gut nachvollziehbar. Dennoch kann die Unterscheidung auch hier angewandt werden: Der praktische Nutzen eines Korkenziehers bestünde demnach darin, den »Mangelzustand« einer ungeöffneten Flasche Wein zu beseitigen. In dieser Funktion stiftet er Befriedigung. Jedoch kann ein Korkenzieher auch ein Vergnügen stiftendes Objekt sein, etwa wenn dessen besonders schönes Design seinem Besitzer Anlass dazu gibt, sich selbst als Mensch mit gutem Geschmack wahrzunehmen. Gleichzeitig wird an diesem Beispiel deutlich, wie schwierig die Unterscheidung zwischen »objektiv« und »subjektiv« ist, da das Öffnen einer Flasche Wein nicht objektiv überlebensnotwendig ist und daher als rein subjektiver Wunsch verstanden werden kann.
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2.2 T HEORETISCHE P ERSPEKTIVEN
AUF
K ONSUM
Im Folgenden ist nun genauer zu klären, wie ein für die Zwecke dieser Arbeit adäquates Verständnis von Konsum aussehen kann. Innerhalb der sozialwissenschaftlichen Konsumforschung2 lassen sich verschiedene theoretische Perspektiven auf den Handlungsbereich des Konsums sowie den Konsumenten als Akteur identifizieren. Im Folgenden werden diese Ansätze mit dem Ziel diskutiert, die eigene Studie im Kontext der wichtigen Theorieströmungen der letzten Jahrzehnte zu verorten. Vier Ansätze sind dabei besonders bedeutsam: • • •
•
Erstens ist Konsum als Bestandteil des Kreislaufs von Produktion und Konsumtion betrachtet worden. Zweitens ist Konsum als Resultat und Ausdruck sozialer Strukturen beschrieben worden. Eine dritte Perspektive versteht Konsum vor allem als Mittel der Findung und des Ausdrucks persönlicher Identität in einer Gesellschaft, die immer weniger von Traditionen bestimmt wird und daher Selbstfestlegungen erfordert. Viertens wird Konsum als Set weitgehend routinisierter und relativ banaler Alltagspraktiken verstanden.
Für die vorliegende Studie hat sich dabei der letztgenannte Ansatz als besonders geeignet für die Beantwortung der Fragestellungen und zur Erhellung des Datenmaterials erwiesen. In den Interviews thematisieren die Befragten über weite Strecken den ganz gewöhnlichen Konsumalltag und gehen nur selten auf besondere Ereignisse wie etwa Besuche in speziellen Restaurants ein. Der Einkauf und der häusliche Konsum von Lebensmitteln ist ein Bereich, der stark durch Alltagsroutinen geprägt ist, so dass Ansätze wenig Erklärungskraft aufweisen, die Konsum als expressiven Ausdruck von Identität oder sozialer Distinktion begreifen (vgl. Bennett et al. 2009: 167-168; Warde 1997: 200). 2.2.1 Konsum als Teil des Wirtschaftskreislaufs Für Don Slater ist der Konsument im modernen Denken ein schizoider Charakter (1997: 33). Auf der einen Seite wird er als souveräner und freiheitsliebender
2
Hellmann (2010: 184) weist darauf hin, dass die internationale Konsumforschung stark interdisziplinär angelegt ist, so dass eine Konsumsoziologie in Reinform kaum zu beobachten ist.
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Held gefeiert, auf der anderen Seite als machtloser Narr verspottet. Beide Betrachtungsweisen haben dabei aber gemeinsam, dass sie die Logik des Konsums als Resultat der wirtschaftlichen Wechselbeziehungen zwischen Produktion und Konsumtion betrachten. Auf der einen Seite ist der Konsument als Held der Moderne konzeptualisiert worden. Diesem Bild zufolge ist er ein souveräner Entscheider, der seine Bedürfnisse genau kennt und unter Berücksichtigung von Budgetrestriktionen auf Basis rationaler Kalkulation maximale Bedürfnisbefriedigung anstrebt (Slater 1997: 34-35). Konsumenten sind demnach der absolute Souverän in der Marktwirtschaft: Ihre Einkommensverwendung entscheidet letztlich darüber, was produziert wird und was nicht. Durch die Entscheidungsmacht des Konsumenten wird der Theorie nach die Güterproduktion so gelenkt, dass vorhandene Bedürfnisse optimal befriedigt werden (Hedtke 2001: 47). Dieses Bild ist von zwei Seiten gespeist worden: Zum einen von den Modellen der neoklassischen Standardmikroökonomik, die – zumindest in ihrer ursprünglichen Variante – von Akteuren ausging, die gegebene und stabile Präferenzfunktionen haben, vollständig über Preise und Qualitäten von Marktgütern informiert sind und sich rational und nutzenmaximierend verhalten. Dabei wird stets davon ausgegangen, dass Individuen als atomistisch isolierte Akteure frei von Beeinflussung durch ihr soziales Umfeld handeln (ebd.: 19). Zum anderen wurde dieses Akteursbild, das von der Wirtschaftswissenschaft auch aus modellierungstechnischen Gründen verteidigt wird, in den 1980er Jahren von (neo-)liberalen Politikern wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher zu einem normativen Ideal erhoben, in dem freie Konsumwahl als ideales Modell von Bürgerschaft propagiert wurde (Slater 1997: 38): Konsumenten sollten dieser Vorstellung nach als aktive und selbstverantwortliche Unternehmer ihres eigenen Lebens agieren. Konsumentscheidungen wie der Kauf eines Hauses, von Aktienpaketen oder Versicherungen werden als Investitionsentscheidungen begriffen. Konsumentensouveränität kommt laut Slater eine Schlüsselfunktion in diesem liberalen Gesellschaftsmodell zu, da sie persönliche Freiheit, Vernunft und gesellschaftlichen Fortschritt vereint: »Hence the heroism of consumption: the most trivial purchase of a Chicken McNugget is an enactment of individual self-determination, of the rational calculation of ends and means, and of the energetic social advancement produced by these forces.« (Slater 1997: 35) Das strenge Akteursbild des homo oeconomicus wurde in den letzten Jahrzehnten auch in den Wirtschaftswissenschaften immer weiter aufgeweicht. So wurde die Annahme vollständiger Information aufgegeben (Hedtke 2001: 21) sowie zugestanden, dass sich Konsumentscheidungen je nach Rationalitätsgrad unterscheiden (ebd.: 61-62). Dieses Konzept des Konsumenten dominierte die
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wissenschaftliche Debatte bis in die 1970er Jahre hinein, und auch heute noch lässt sich ein nachhaltiger Einfluss feststellen, der sich in dem nach wie vor weit verbreiteten Gebrauch von Konzepten bewusster und rationaler Wahl in der Konsumforschung auch außerhalb von Ökonomie und Marketing dokumentiert, wie sich etwa an den zahlreichen Studien zeigt, die sich an die »Theory of Planned Behavior« (Ajzen 1991) anlehnen. Eine zweite Vorstellung – die oft mit der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule in Verbindung gebracht wird – beschreibt Konsumenten dagegen als irrationale und materialistische Sklaven ihrer eigenen Bedürfnisse, die mit Leichtigkeit durch Werbung und Marketing manipuliert werden können. Ein solches Bild findet sich bereits bei Karl Marx, der zwar durchaus die komplexen Wechselwirkungen zwischen Produktion und Konsumtion reflektiert (Bögenhold 2000: 99-100), letztlich aber die Praxis des Konsums voll und ganz determiniert sieht durch die Produktion, die nicht nur die Konsumobjekte in Form von Waren produziert, sondern auch die Art und Weise des Konsumierens bestimmt und die Bedürfnisse der Konsumenten schafft (vgl. Marx 1972 [1859]: 237-238). Auch für Horkheimer und Adorno sind Konsumenten den Machenschaften von Kulturindustrie und Werbung hilflos ausgeliefert: »Je fester die Positionen der Kulturindustrie werden, um so summarischer kann sie mit dem Bedürfnis der Konsumenten verfahren, es produzieren, steuern, disziplinieren« (Horkheimer 1969: 152). Diese Sichtweise wird auch als »Produktionsparadigma« bezeichnet (Hellmann 2004: 33), in dem die Beziehungen zwischen Konsumtion und Produktion als einseitig durch die Sphäre der Produktion bestimmt gedacht werden. Dieses Paradigma wird aus zwei Gründen kaum noch als haltbare Position akzeptiert: •
Erstens wurde vielfach darauf hingewiesen, dass Marktforschung und Produktdesign keinesfalls darauf abzielen, die Motivationsstruktur von Konsumenten zu manipulieren. Vielmehr suchen sie diese möglichst genau zu ergründen, um Produkte besonders genau auf die ohnehin schon vorhandenen Bedürfnisse der Konsumenten abstimmen zu können (Campbell 2005 [1987]: 47; Ullrich 2011: 123). Miller und Rose beschreiben Techniken der Marktforschung auch als produktiv, da sie neue Verhältnisse möglich machen, die Menschen zu sich selbst und zu anderen durch das Medium von Konsumgütern eingehen können (1997: 3). Den Produzenten – die selbstverständlich Vermarktungsinteressen verfolgen – gehe es dabei vor allem darum, die Wahrnehmung von Produkten mit den Selbstbildern der Konsumenten zur Deckung bringen.
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•
Zweitens wird betont – und diese Kritik ist im Kontext dieser Arbeit bedeutsamer –, dass Konsumpraktiken eine Eigenlogik zugrunde liegt, die keineswegs auf die Vermarktungsinteressen von Produzenten zurückgeführt werden kann. So wurde z.B. darauf hingewiesen, dass Akteure Güter nach der Marktentnahme via Bedeutungszuschreibung »singularisieren«, womit ihr Warencharakter aufgehoben wird (Sayer 2003: 346; Holt 1998: 20).
2.2.2 Konsum als Ausdruck sozialer Strukturen Eine zweite wichtige Perspektive bezieht sich auf eine weit zurückreichende soziologische Tradition, die Konsum als Ausdruck der sozialen Position in der Gesellschaft sieht. Demzufolge dient Konsum einerseits dazu, die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, Schicht oder Subkultur symbolisch zum Ausdruck zu bringen, andererseits der Distinktion von Gruppen, denen man nicht angehören möchte (Wiswede 2000: 49). Lucia Reisch (2002) bezeichnet dies als Positionsfunktion des symbolischen Konsums. Konsumprozesse werden in dieser Perspektive nicht in ihrer Beziehung zur Produktion konzeptualisiert, sondern als Resultat und Ausdruck sozialer und kultureller Strukturen gedacht (vgl. Halkier 2010: 21-22). Mit der »Theorie der feinen Leute« zeigte Thorstein Veblen (2007 [1899]), dass Angehörige der Oberschicht im Amerika des 19. Jahrhunderts ihren eigenen Reichtum durch ein verschwenderisches Konsumverhalten demonstrativ zur Schau stellten, um auf den eigenen Status hinzuweisen und so ihr soziales Ansehen zu mehren. Auch Georg Simmel geht in seinem Aufsatz über die Philosophie der Mode davon aus, dass die sozialen Funktionen der Mode darin bestehen, die Zugehörigkeit zu gleich gestellten Klassen zu signalisieren und sich gleichzeitig von tiefer stehenden gesellschaftlichen Klassen abzuheben (Simmel 2006 [1905]).3 Pierre Bourdieu (1987) schließlich beschreibt für Frankreich in den 1960er Jahren Konsumpraktiken als Teil eines symbolischen Klassenkampfs, in dem es um die Durchsetzung gesellschaftlich anerkannter Lebensstile und geschmacklicher Präferenzen geht.4 Die Arten und Weisen des Konsumie3
Simmel versteht Mode in einem breiten Sinn als »die gesellschaftlichen Formen, die Kleidung, die ästhetischen Beurteilungen, de[n] ganze[n] Stil, in dem der Mensch sich ausdrückt« (Simmel 2006 [1905]: 13).
4
Lebensstil- und Konsumbegriff sind nicht deckungsgleich, weisen aber große Schnittmengen auf. Lebensstile sind eng an Konsumpraktiken gebunden, Konsum umfasst aber auch Bereiche, die kaum lebensstilrelevant sind (näher dazu siehe Rössel/Pape 2010). Im Kontext von Lebensstilen spielen insbesondere Konsumgüter und praktiken eine Rolle, die stilisierbar sind und damit distinktiv wirksam gemacht wer-
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rens begreift Bourdieu als Resultat und Ausdruck von Klassenunterschieden, gleichzeitig werden durch Konsummuster Klassenstrukturen reproduziert (vgl. Müller 1986: 162). Bourdieus Erklärungsmechanismus sieht dabei wie folgt aus: Unterschiedliche materielle Existenzbedingungen und die damit zusammenhängenden Erfahrungen bringen klassenspezifische Habitus – definiert als Bündel von Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungs- und Handlungsschemata – hervor.5 Der Habitus fungiert dann als »Erzeugungsformel« der Praxis (Bourdieu 1987: 278) und der Lebensstile. Die Konsumpraktiken einer Vielzahl von Menschen, die unter ähnlichen Verhältnissen aufgewachsen sind, ähneln sich zwar und gehen auf ihre gemeinsame soziale Lage zurück, subjektiv nehmen die Einzelnen ihr Konsumhandeln aber als freie Entscheidung wahr und sind sich der Mechanismen, die zum Ausschluss bestimmter Wahloptionen führen, nicht bewusst. Da die Wahrnehmbarkeit von unterschiedlichen Lebensstilen eine Quelle von Aversionen ist (Bourdieu 1987: 105), werden die passiv durch den Habitus produzierten Unterschiede mittels Praktiken der Distinktion aktiv symbolisch bekräftigt und so reproduziert. Bedeutsamer als die Auswahl von Konsumgütern und Freizeittätigkeiten ist dabei die Art und Weise der Aneignung, in der die Fähigkeit zum Ausdruck kommt, Güter und Praktiken angemessen beurteilen, klassifizieren und würdigen zu können. Demnach ließen sich Distinktionsgewinne im Frankreich der 1960er Jahre nicht mehr einfach – wie dies noch Veblen beschrieb – durch mit Geld erkauften demonstrativen Konsum erzielen. Stattdessen muss Konsum nun durch eine angemessene Rezeptionsweise begleitet werden. Die Bedeutung der Frage, was konsumiert wird, sinkt also zugunsten der Frage, wie konsumiert wird. Kulturellem Kapital kommt daher eine zunehmend wichtige Rolle für die Performanz anerkannter Konsumstile zu. Aus Sicht einer Theorie relativer Deprivation kann der Besitz von Konsumgütern schließlich als Zeichen der Gleichwertigkeit mit anderen gelesen werden. Andrew Sayer zufolge geht es den Akteuren in den zuvor von Bourdieu analysierten sozialen Kämpfen weniger darum, Macht und Kapital um ihrer selbst willen anzuhäufen, sondern um die Teilhabe an sozialen Praktiken, denen ein Wert an sich zugemessen wird (Sayer 2005b: 95), weshalb die sozialen Kämpfe eine ethische Dimension aufweisen. Da die Verfügung über Konsumgüter oft Voraussetzung für die Teilhabe an diesen Praktiken ist (Sayer 2003: 349), kann Konsum auch Gleichwertigkeit und Teilhabe symbolisieren. den können. Bourdieu behauptet die Möglichkeit der Stilisierung für eine Vielzahl von Produktbereichen von Mineralwasser über Autos bis hin zu Wochenzeitschriften (vgl. Bourdieu 1987: 355), wobei die höchste Distinktionskraft dem Kunstkonsum zukommt. 5
Zum Habitusbegriff vgl. auch Kapitel 2.1.1.
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Gemeinsam ist den skizzierten Ansätzen ein Blick auf Konsum als relationales soziales Phänomen, denn die Beziehungen zwischen verschiedenen sozialen Gruppen lassen sich an den konsumvermittelten Distinktionspraktiken ablesen. Die Handlungsspielräume einzelner Akteure sind dieser Vorstellung zufolge – im Gegensatz zu den zuvor besprochenen Ansätzen, die Konsum als Funktion der Wirtschaft betrachten – nicht universell bestimmbar, sondern von der Beschaffenheit der sozialen Strukturen sowie der Position der Akteure in ihnen abhängig: Auch wenn bei Bourdieu die soziale Position das Handeln nicht absolut determiniert, so tendiert er doch zu einer strukturalistischen Lesart. Den oberen Klassen schreibt er dabei mehr Gestaltungsfreiraum in Form von Stilisierungsmöglichkeiten zu als den unteren Klassen, die aufgrund ihrer geringen Ressourcen einen Geschmack an dem entwickeln, was für sie verfügbar ist.6 Bis vor wenigen Jahrzehnten bestand in der Soziologie Einigkeit darüber, dass Klasse die wichtigste soziale Trennlinie in Hinsicht auf Konsum darstellt (Warde 1997: 8; Holt 1998: 1). Und auch heute noch wird sozialen Strukturen eine große Bedeutung für die Erklärung von Konsumverhalten zugemessen (Holt 1998: 19-22; Bennett et al. 2009: 251). 2.2.3 Konsum als Ausdruck der persönlichen Identität Die Vorstellung von Konsum als Abbild insbesondere vertikal hierarchischer sozialer Strukturen ist seit den 1980er Jahren immer mehr in die Kritik geraten. Sowohl die Ansätze von Beck (1986) und Giddens (2009 [1991]), die der Theorie reflexiver Modernisierung zuzurechnen sind, aber auch postmoderne Theoretiker wie etwa Bauman (2001; 2010) sowie der Kultursoziologe Gerhard Schulze (2005 [1992]) sehen den strukturierenden Einfluss von sozialen Klassen stark im Schwinden begriffen. Wie andere Lebensbereiche auch wird das Konsumverhalten immer mehr aus traditionellen Bindungen herausgelöst. Infolgedessen erodieren althergebrachte Handlungssicherheiten, wie adäquater Konsum aussieht. Es entsteht ein Zwang, sich selbst entscheiden zu müssen und auf Grundlage dieser Entscheidungen eine Identität zu kreieren. Gemeinsam ist den Autoren, dass sie als Konsequenz sozialstruktureller Umbrüche einen veränderten Modus der Vergesellschaftung sehen:7 Beck zufol6
Entscheidend für Bourdieus Argumentation ist jedoch, dass die sozialen Akteure selbst die soziale Bedingtheit ihrer Geschmäcker verschleiern. Selbst der »Geschmack der Notwendigkeit« wird noch als persönliche Wahl präsentiert, so dass die ohnehin einzige Option präferiert wird (Bourdieu 1987: 585).
7
Sowohl Beck, Giddens, Bauman als auch Schulze konstatieren einen Übergang von einem früheren in ein späteres Stadium der modernen Gesellschaft: Beck und Giddens
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ge führen die Anhebung des Lebensstandards sowie zunehmende Bildungs- und Mobilitätschancen, die durch den Wohlfahrtsstaat allen zugutekommen, zu einem umfassenden Individualisierungsprozess, in dem die Menschen »aus traditionalen Klassenbedingungen und Versorgungsbezügen der Familie herausgelöst und verstärkt auf sich selbst und ihr individuelles Arbeitsmarktschicksal […] verwiesen« werden (Beck 1986: 116). Gerhard Schulze zufolge hängen Konsumchancen immer weniger vom Einkommen ab, Beziehungen können zunehmend frei gewählt werden (Schulze 2005 [1992]: 176ff.). Im Zuge dieser sozialstrukturellen Umbrüche geraten Individuen jedoch in neue marktvermittelte Abhängigkeiten (Beck 1986: 119; Giddens 2009 [1991]: 197). Damit geht eine veränderte Sozialisation in der Konsumgesellschaft einher: Während die militärischen, bürokratischen und wirtschaftlichen Institutionen der überwundenen Moderne Wahlmöglichkeiten eliminieren und die Menschen zu monotonem Routineverhalten erzogen hätten, würden die Menschen heute zu Konsumenten erzogen (Bauman 2001: 313). Marktvermittelter Konsum ist für Bauman eine Form der sozialen Kontrolle, die kapitalistische Institutionen stärkt und Machtstrukturen reproduziert, aber mit offenen Armen angenommen wird, da sie Freiheiten selbst für diejenigen bietet, die in anderen Lebensbereichen kaum Freiheiten erleben (Bauman 1988: 61). Im Konsumenten sieht Bauman die idealtypische Sozialfigur der Gegenwart, deren Bedeutung weit über das eigentliche Feld des Konsums hinausreicht (Bauman 2010). Zentral für die Rolle des Konsumenten ist es, Wählen als Tugend und permanente Wahlmöglichkeiten als Chance zu begreifen, nach unmittelbarer Bedürfnisbefriedigung zu streben, in Anschluss daran aber stets ein neues Verlangen zu haben und aktiv nach der Verführung durch Konsumangebote zu suchen (Bauman 2001: 313-314). Schulze sieht analog dazu die Suche nach schönen Erlebnissen als zentrales Handlungsziel heutiger Konsumenten (Schulze 2005 [1992]: 429). Doch auch außerhalb des Supermarkts ist es typisch für das Leben in der Spätmoderne, wählen zu können. Dies geht allerdings immer auch mit dem Zwang einher, sich der Wahl nicht mehr entziehen zu können (Giddens 2009 [1991]: 81; Beck 1986: 190; Bauman 2001: 315) und somit die sprichwörtliche »Qual der Wahl« zu haben. Für die Einzelnen bedeutet diese Situation zwar eine Vielfalt von Optionen für die Ausgestaltung des eigenen Lebens, andererseits aber auch den Zwang, beschreiben diesen Prozess als reflexive Modernisierung. »Reflexiv« wird die Moderne deshalb, weil die Gesellschaft zunehmend mit Folgeproblemen der Entwicklungen konfrontiert wird, die sie selbst hervorgebracht hat (vgl. Beck 1986: 26). Bauman diagnostiziert hingegen einen Übergang von der Arbeits- zur Konsumgesellschaft (Bauman 2001: 312) bzw. von der soliden zur flüchtigen Moderne (Bauman 2003), Schulze die Entstehung der Erlebnisgesellschaft.
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über sich selbst bestimmen zu müssen, womit eine beträchtliche Unsicherheit einhergeht, wie richtige Entscheidungen getroffen werden können. Während soziale Identität früher qua Geburt festgelegt war, muss das Individuum seine Identität nun selbst kreieren (Bauman 2003: 43). Da Sozialität an Erwartungen gebunden ist, müssen unter Bedingungen vielfältiger Optionen Selbstfestlegungen getroffen werden (vgl. Varul 2004: 19), um gegenüber sich selbst und anderen berechenbar zu sein. Dies geschieht laut Giddens vor allem durch die reflexiv durchdachte Wahl eines Lebensstils, wobei Konsumentscheidungen eine bedeutende Rolle zugesprochen wird (2009 [1991]: 81): »Each of the small decisions a person makes every day – what to wear, what to eat, how to conduct himself at work, whom to meet with later in the evening – [...] are decisions not only about how to act but who to be.« (Giddens 2009 [1991]: 81)8 Im Zuge der bereits angesprochenen Reflexivität der spätmodernen Gesellschaft wird auch das Selbst zu einem reflexiven Projekt, für das sich das Individuum selbst verantwortlich fühlt und sich selbst darüber befragt, wie es leben soll (Giddens 2009 [1991]: 75-76). Zygmunt Bauman stellt die geradezu paradigmatische Rolle des marktvermittelten Konsums hinsichtlich der Aufgabe des modernen Individuums heraus, ein eigenes Selbst zu definieren und diesem Selbst Ausdruck zu verleihen: »The market method [of self-construction, JG] consists in selecting symbols of identity from the large pools of goods on offer. Selected symbols can be put together in all sorts of ways, thus making possible a great number of ›unique combinations‹. For virtually every projected self, there are purchasable signs to express it.« (Bauman 1988: 63)
Demnach werden Identitäten in der Konsumgesellschaft durch eine individuelle Bricolage aus Konsumgütern und Stilmitteln konstruiert. In einer sozialen Welt, in der die Lebensentwürfe nicht mehr durch Traditionen festgelegt sind und es in nahezu jeder gesellschaftlichen Position mehr oder minder große Wahl- und Stilisierungsmöglichkeiten gibt, suggeriert dies, dass Konsum nicht mehr eindeutig als Symbol der gesellschaftlichen Position entziffert werden kann. Damit kommt der Expressionsfunktion des Konsumhandelns eine gestiegene Bedeutung zu: Mittels Konsum wird demnach vor allem Identität bzw. ein Selbstkonzept zum Ausdruck gebracht (Reisch 2002: 236). Dieser Ausdruck kann einerseits an das eigene Selbst gerichtet sein, um eine Wahrnehmung der eigenen Identität zu erfahren: So wurde in der Konsumforschung gezeigt, dass Konsumgüter in Phasen persönlicher Veränderungen das eigene Selbstkonzept stützen können (Schouten 8
Giddens sieht den Begriff des Lebensstils an die Möglichkeit des freien Wählens gebunden und unterscheidet sich darin von Bourdieu.
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1991). Andererseits kann Konsum dem »impression management« dienen, um gezielt den Eindruck zu steuern, den man auf andere macht (Wiswede 2000: 49). Für Bauman – der diese Entwicklung freilich sehr kritisch beurteilt – ist gerade Letzteres in der Konsumgesellschaft zu einer Notwendigkeit geworden. Da Menschen essentiell auf Anerkennung ihrer Identität durch andere angewiesen seien, müssen Wege gefunden werden, um Selbst-Konstruktionen zu kommunizieren, was besonders gut mittels sichtbar nach außen getragener Konsumaktivitäten gelinge: »The market way consists, as it were, in building up the self using images. The self becomes identical with visual clues other people can see and recognize as meaning whatever they are intended to mean.« (Bauman 1988: 63) Konsum wird hier als Kommunikation der persönlichen Identität verstanden. Anhand visueller Hinweise wird anderen zu verstehen gegeben, wer man ist. Einen ernstzunehmenden Einwand gegen das Verständnis von Konsum als Kommunikation der persönlichen Identität bringt Colin Campbell (1997) vor. Er weist am Beispiel von Kleidung darauf hin, dass via Konsum nur sehr selten präzise und allgemein verständliche Botschaften übermittelt werden können – selbst der Anzug im Bewerbungsgespräch, der in Hinblick auf die Klarheit der Botschaft eher die Ausnahme als die Regel ist, könne lediglich zum Ausdruck bringen, dass sein Träger eine ordentliche und respektable Person ist. Die symbolische Bedeutung von Konsum sei daher nicht richtig beschrieben, wenn sie als analog zur sprachlichen Kommunikation verstanden werde: •
•
•
Erstens können Objekte bedeutsam sein, ohne eine symbolische Bedeutung zu haben – dies ist der Fall, wenn Bedeutung und Gebrauchswert in eins fallen. Zweitens können Objekte als symbolisch bedeutsam gelten, ohne dass die Bedeutung spezifisch und unzweideutig ist, wie dies oft bei Kunstwerken der Fall ist. Drittens sei es ein Fehlschluss, aus der Tatsache des öffentlichen Tragens von Kleidung abzuleiten, dass diesem Verhalten eine bewusste Intention der Kommunikation von Botschaften zugrunde liege (ebd.: 348).
Eben diesem Fehlschluss erliegt Anthony Giddens, wenn er davon ausgeht, dass die immer geringere Relevanz von Traditionen automatisch zu einer Welt führt, die von reflexiv handelnden Akteuren bevölkert ist (Campbell 1996a: 149). Ohne Zweifel kann Konsum in vielfältiger Weise Expressionsfunktionen erfüllen. Allerdings ergibt sich aus Campbells Einwand, dass es sinnvoll ist, es als eine empirische Frage zu verstehen, wo und wie solche Expressionsfunktionen zum Tragen kommen.
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2.2.4 Konsum als alltägliche Praxis Ein vierte Perspektive auf Konsum, die seit Anfang der 2000er Jahre zunehmende Prominenz genießt (vgl. Gronow et al. 2001; Halkier 2010; Warde 2005; Thompson 2011), schließt unmittelbar an Campbells Kritik an. Dieser vierte Ansatz begreift Konsum als weitgehend banale, habitualisierte und routinierte Alltagspraxis. Konsumenten werden dabei als durch praktische Gegebenheiten beschränkte Akteure verstanden, die in Abhängigkeit von ihrem sozialen Kontext sowie auf Basis ihrer praktischen Erfahrungen handeln (Halkier 2010: 25). Dabei wird argumentiert, dass es Konsumbereiche gebe, in denen die Positions- und Expressionsfunktionen des Konsums kaum eine Rolle spielen: Jukka Gronow und Alan Warde kritisieren in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Sammelband »Ordinary consumption«, dass die Konsumforschung sich einseitig auf spektakuläre Inszenierungen von Konsum wie modische Kleidung oder den Besuch »hochkultureller« Veranstaltungen konzentriert habe, wogegen Bereiche wie der alltägliche Konsum von Lebensmitteln oder der Verbrauch von Wasser und Strom vernachlässigt worden seien. Um die soziale Nutzung von wenig sichtbaren und damit auch kaum stilisierbaren Konsumgütern zu erklären, bedürfe es jedoch eigener Ansätze und Konzepte (Gronow/Warde 2001: 4). Diese Perspektive betont die Bedeutung von Routinen für Konsumverhalten und nimmt damit eine Gegenposition zu Vorstellungen von Konsum als rationalem Handeln oder bewusster Inszenierung von Identität oder Status ein. Routinen sind für menschliches Verhalten unverzichtbar, da sie die Komplexität von Entscheidungsfindung reduzieren, ein Gefühl von Normalität und ontologischer Sicherheit herstellen (Giddens 1984: xxiii), Verhalten voraussehbar machen (Ilmonen 2001: 17) und Ressourcen für andere Tätigkeiten freistellen (Campbell 1996a: 160). Angesichts der hohen Bedeutung von Routinekonsum hat Alan Warde (1994: 896-897) vorgeschlagen, analog zu gängigen Unterscheidungen zwischen Handeln und Verhalten (Campbell 1996b: 25) zwischen »choice« und »selection« zu unterscheiden. Während »choice« bewusste, gut informierte und subjektiv als bedeutsam wahrgenommene Konsumentscheidungen bezeichnet, beschreibt »selection« die routinierte und wenig informierte Auswahl, die kaum Bedeutung für die Identität des Konsumenten hat und letztlich keine echte Entscheidung ist. Allerdings bedeutet diese Betonung von Routinen nicht, dass nicht auch der Reflexivität eine bedeutende Rolle für Konsum zukommt. Bente Halkier weist darauf hin, dass eine klare Trennung zwischen reflexiven und routinisierten Konsumpraktiken nahezu unmöglich erscheint (Halkier 2001: 27), weshalb es darauf ankomme, das Verhältnis von Routine und Reflexivität im Alltagshandeln
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genauer zu bestimmen. Die Autorin zeigt dabei vier typische Verhältnisformen auf: • • • •
Erstens können Routine und Reflexivität eng miteinander verzahnt sein. Zweitens können verschiedene Routinen reflexiv gegeneinander abgewogen werden. Drittens können Routinen als Entlastung von den Mühen der reflexiven Bearbeitung von Problemen wahrgenommen werden. Und schließlich können viertens können Routinen durch Reflexivität rationalisiert und legitimiert werden (ebd.: 43).
An dieser Aufzählung wird deutlich, dass Reflexivität nicht automatisch dazu beiträgt, Routinen zu verändern, sondern sie sowohl stützen als auch zu ihrer Modifikation beitragen kann. Hinsichtlich der Handlungspotentiale von Akteuren nimmt die Perspektive von Konsum als Alltagspraxis damit eine optimistischere Position ein als die Ansätze, die Akteure in ihrer Konsumentenrolle durch Wirtschaft oder Sozialstruktur determiniert sehen, ohne dabei aber Akteure als vollständig rational oder selbstbestimmt zu verstehen. Die Betonung von Routinen und der Banalität des Alltags darf ebenfalls keineswegs dahingehend missverstanden werden, dass soziale und symbolische Prozesse, in denen Konsumobjekte und -praktiken mit Bedeutung aufgeladen werden, keine Rolle für gewöhnliche Konsumpraktiken spielen, zu denen das alltägliche Einkaufen, Kochen und Essen gezählt werden können. Angesichts der Tatsache, dass Essen die organische Substanz an der Schwelle zwischen Leben und Tod ist, wird es sogar als »symbolic medium par excellence« (Morse 1994: 95) beschrieben. Wenn Konsum nicht sichtbar für andere inszeniert wird, heißt das keinesfalls, dass Konsumgütern oder auf Konsum bezogenen Handlungen keine sinnhaften Bedeutungen zugeschrieben werden. Wie Deborah Lupton (1996) zeigt – und wie im empirischen Teil dieser Arbeit noch deutlicher werden wird – sind etwa Lebensmittel mit einer Vielzahl symbolischer Bedeutungen verbunden, sie können für Gesundheit oder Krankheit stehen, mit Natürlichkeit oder Unnatürlichkeit assoziiert werden oder als typisch männlich bzw. weiblich gelten. Die symbolische Dimension des Konsumhandelns wird aus dieser Sicht jedoch kaum über die intentionale Performanz von Identität oder Status prozessiert, sondern durch sozial geteilte Wissensbestände und Bedeutungszuschreibungen, auf die im praktischen Handeln implizit zurückgegriffen wird (vgl. Reckwitz 2002: 246). Diese Bedeutungen werden in der sozialen Praxis kontinuierlich reproduziert, aber auch transformiert:
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«Consumption, then, is part of the cultural reproduction of social relations, a rather concrete process carried out through social practices in mundane life. This view of things can be mechanical, can imply that consumption is inevitably conformist as well as an agent for ensuring social conformity. Yet precisely because consumption is an everyday practice in which actual social agents skilfully use cultural resources (Ianguage, things, images) to deal with their needs, it necessarily involves reinterpretations, modifications, transgressions – and can be used to culturally challenge as well as culturally reproduce social order.« (Slater 1997: 148)
Insgesamt interessieren sich Ansätze, die Konsum als Alltagspraxis begreifen, vor allem für Fragen, wie soziale Handlungen ausgeführt werden, wie die Mikroprozesse des Handelns beschaffen sind und durch das soziale Geschehen beeinflusst werden (Halkier/Jensen 2011: 103).
2.3 P ERSPEKTIVEN
AUF DIE
M ORALITÄT
DES
K ONSUMS
Nachdem nun die wichtigsten theoretischen Perspektiven auf Konsum allgemein dargestellt wurden, ist nun genauer in den Blick zu nehmen, wie das Verhältnis von Moral und Konsum in der soziologischen Literatur diskutiert wird. Ein Blick auf den Forschungsstand offenbart zunächst eine große und unübersichtliche Vielfalt von Untersuchungsgegenständen und Perspektiven. Bei genauerer Betrachtung können jedoch drei Forschungsstränge voneinander abgegrenzt werden: •
•
•
Die erste Perspektive betrachtet auf gesellschaftstheoretischer Ebene die Konsumgesinnungen verschiedener Gesellschaftstypen – etwa traditionaler und moderner Gesellschaften – und untersucht die Mischungsverhältnisse verschiedener Konsumgesinnungen im historischen Wandel. Zweitens gibt es eine Vielzahl neuerer Forschungen, die Konsummoral in einem engeren Sinne untersuchen. Das Konzept des ethischen Konsums steht hier im Mittelpunkt, meist geht es dabei um hochgradig bewusste und explizite Formen der Konsummoral sowie um Konsumenten, deren Identitätskonstruktionen sich um ethischen Konsum drehen. Drittens ist in den letzten Jahren eine Reihe von Forschungen entstanden, die die Moral des Konsums im weiteren Sinne als Alltagsmoral untersuchen. Im Kontext der letztgenannten Debatte ist auch die hier vorliegende Arbeit zu verorten.
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2.3.1 Die Moralität des Konsums als Konsumgesinnung Ein Forschungsstrang der Konsumsoziologie untersucht die Moral des Konsums, indem sie die Wertsysteme in den Blick nimmt, die dem Konsumieren zugrunde liegen. Dieser Forschung zeichnet sich durch ein spezifisches Moralverständnis aus, nach dem jeglicher Handlung auch eine moralische Komponente zugrunde liegt:9 »[…] the accomplishment of all human action requires the presence of the twin and closely inter-related processes of motivation and justification (or legitimation), and […] this second process inevitably involves an ethical component. Hence the question should not be whether, or to what extent the conduct of individuals in the marketplace should be regarded as governed by moral or ethical considerations. Rather, what is the nature of the moral and ethical ideas that, at any one time, serve to underpin such conduct, and in particular enable consumers to regard their action as »legitimate«.« (Campbell 2006: 221)
Dieser Sicht zufolge ist Moral etwas den alltäglichen Handlungen Implizites, das aber durch den Forscher aufgedeckt werden kann. In der empirischen Forschung geht es demzufolge darum, die dem Konsumieren zugrunde liegenden moralischen Aspekte, den »Ethos« (Geertz 1968) des Konsums, aufzudecken. Caruana (2007: 294) bezeichnet diese Sichtweise als die klassisch-soziologische Perspektive, die in der Tradition von Weber und Durkheim steht und darauf abzielt, die fundamentalen sozialen Strukturen herauszuarbeiten, die dem Verhältnis von Moral und Gesellschaft zugrunde liegen. Folgt man diesem Verständnis, so lässt sich nicht zwischen moralischem und nicht-moralischem Konsum unterscheiden, denn jeder Konsum hat insofern eine moralische Dimension, als ihm eine bestimmte Konsumgesinnung zugrunde liegt (Wiswede 2000: 53), die Wertvorstellungen sowie Normen und Legitimierungen von Konsummustern umfasst. In dieser Tradition ist Max Webers berühmte Studie zur protestantischen Ethik (Weber 2006 [1904/05]) einzuordnen, in der detailliert die religiösen Hintergründe eines puritanischen Arbeitsethos beschrieben sind, die eine starke Zurückhaltung bei Konsum, Genuss und Luxus propagiert und stattdessen harte Arbeit als Wert an sich schätzt und die Ausdehnung des Erwerbsstrebens in den Mittelpunkt rückt. Wiswede versteht eine solche Haltung idealtypisch als Konsumgesinnung einer Arbeitskultur (2000: 55), in der Freizeit vor allem der Reproduktion der Arbeitskraft dient. Hinsichtlich des Konsums herrscht eine Beschränkung auf das Notwendige vor, Luxus und Überfluss werden abgelehnt. Die Aufklärungsbewegung des 16. und 17. Jahrhunderts brachte mit dem Glau9
Vgl. auch Barnett et al. (2005a: 19-20) .
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ben an Fortschritt, Freiheit, Gleichheit, Rationalität und einer instrumentellen Haltung zur Natur die Wertegrundlagen der modernen Industrieproduktion hervor (Michaelis 2000: 15), deren Entstehen Voraussetzung des über den Markt vermittelten Massenkonsums waren (Corrigan 1997: 9). Weber erklärt in erster Linie, wie auf Seiten der Produzenten eine Neigung zu Erwerb und Akkumulation entsteht. Spätestens mit der Durchsetzung des Kapitalismus und der Massenmärkte stellt sich jedoch die Frage, wie sich diese Entwicklungen in einer veränderten Konsumgesinnung niederschlagen, da Massenmärkte auf Konsum angewiesen sind, um weiter expandieren zu können. Den Wurzeln der Wertorientierungen, die einer der Konsumkultur entsprechenden Gesinnung zugrunde liegen, geht Colin Campbell (2005) in seiner vielzitierten Studie »The Romantic Ethic and Spirit of Modern Consumerism« nach, die analog zu Webers »protestantischer Ethik« angelegt ist. Er möchte darin die Frage beantworten, wie sich die Disposition des modernen Konsumenten entwickeln konnte, unersättlich immer wieder neue Bedürfnisse hervorzubringen, obwohl doch Konsum in vorindustriellen Gesellschaften durch Traditionen bestimmt war und das Streben nach Selbstverbesserung durch Konsumausweitung geradezu als unmoralisch verstanden wurde (Campbell 2005 [1987]: 37-39). Die Antwort findet er, wie der Titel bereits nahelegt, in der Romantik. Die Romantiker konzipierten den Menschen als einzigartiges Individuum, dessen »Selbst« zum persönlichen Gott wird, gegenüber dessen Wünschen Gefühle der Verpflichtung bestehen. Intensives emotionales Erleben und kreativer Ausdruck werden zu einer ethischen Doktrin der Selbstentwicklung erhoben (Campbell 1983: 285-287). Dieses neue Ethos legitimiert Konsum als Mittel der Selbstexpression, womit traditionelle Beschränkungen des Konsums wegfallen. Die Gesinnung einer Konsumkultur drückt sich darin aus, dass der Freizeit nun ein höherer Stellenwert zukommt, und damit auch dem Luxuskonsum. Konsumbedürfnisse werden daher zunehmend als unbegrenzt angesehen (Wiswede 2000: 55). Huttunen und Autio (2010) zeigen in einer aktuellen Studie für Finnland, dass diese historisch weit zurückreichenden Formen – sowohl das Arbeits- als auch das Konsumethos – auch heute noch Bedeutung haben und stark mit der Generationszugehörigkeit zusammenhängen: Insbesondere bei älteren Menschen der unmittelbaren Nachkriegsgeneration ist ein auf die protestantische Ethik zurückgehendes Ethos erkennbar, das sparsamen Umgang sowohl mit Geld als auch mit Material als wichtige moralische Regeln umfasst. Bei den Menschen im mittleren Alter, die während des wirtschaftlichen Aufschwungs aufgewachsen sind, findet sich ein Ethos, bei dem die Maximierung des Eigeninteresses und die Erwartung des Konsumenten, gute Ware für gutes Geld zu bekommen, im Vordergrund stehen. Ein dritter Typ ist das ökologisch-ethische Ethos, das infolge
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der wachsenden Aufmerksamkeit für Umwelt- und Klimaprobleme in den letzten Jahrzehnten entstanden ist. Bei diesem Ethos stehen sozial und ökologisch verantwortliche Konsumentscheidungen im Mittelpunkt, die mittlerweile von vielen als Teil eines guten Haushaltsmanagements empfunden werden. Auch Eva Barlösius’ (2004) Studie zur Essmoral kann zu diesem Forschungsstrang gezählt werden, da sie eine der Makroebene verhaftete Perspektive auf Moral als gesellschaftsweit anerkannte Unterscheidungen zwischen ›richtig‹ und ›falsch‹ einnimmt. Sie untersucht die These, dass in modernen Gegenwartsgesellschaften eine Individualisierung vormals kollektiver Essmoral stattgefunden habe. Ihren Ergebnissen zufolge ist eine Individualisierung vor allem für den moralischen Appell, sich bewusst zu ernähren, feststellbar. Andere Appelle – etwa die Kommunikation darüber, dass das Essen in früheren Zeiten besser war – erfüllen dagegen eher kollektive Identitätsfunktionen. Barlösius beschreibt diese essmoralischen Gebote als einheitlich anerkannt und argumentiert, dass sich deren Geltung gerade in der Rechtfertigung praktischer Abweichungen zeige. Einen Moralpluralismus postuliert Barlösius dagegen nicht. Im Vordergrund des beschriebenen Forschungsstranges steht die gesellschaftstheoretische Frage nach den idealtypischen Konsumgesinnungen bestimmter Gesellschaftsformen. Diese Frage spielt in der vorliegenden Arbeit nur eine untergeordnete Rolle, hilfreich ist allerdings das diesen Ansätzen gemeinsame Verständnis, dass die moralischen Grundlagen des Handelns den Akteuren selbst nicht notwendigerweise bewusst sind. Die Moral des Konsums kann in Anschluss an das obige Zitat von Campbell als eine Reihe von habitualisierten Legitimationsideen verstanden werden, die der Praxis als generatives Prinzip zugrunde liegen und die in der Kommunikation lediglich dann zum Vorschein kommen, wenn sie durch Dritte herausgefordert und problematisiert werden. Wie in Kapitel 4 noch näher auszuführen ist, stellt das Interview eine Situation dar, in der es durch argumentationsfördernde Fragen zu einer solchen Problematisierung kommt, durch die moralische Ideen sichtbar werden können. Diese Vorstellung sensibilisiert dafür, dass Konsummoral nicht immer in expliziter Form deutlich wird, sondern oft nur implizit thematisiert wird. 2.3.2 Die Debatte um ethischen Konsum im engeren Sinne In den letzten Jahren ist eine Vielzahl von Veröffentlichungen entstanden, die sich mit »ethischem Konsum« bzw. mit Konsumethik befassen. Dabei handelt es sich nicht um einen klar abgrenzbaren Forschungsstrang, sondern vielmehr um mehrere Studienfelder, die das Thema unter verschiedenen Perspektiven betrachten (Newholm/Shaw 2007): So werden unter dem Label Konsumethik Verstöße
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gegen Marktregeln untersucht (z.B. Raubkopien) (Lopes 2010; Vitell 2003), unternehmerische Bemühungen um das Angebot ›ethischer‹ Konsummöglichkeiten (Caruana/Crane 2008) sowie philosophische, theologische und naturwissenschaftliche Perspektiven auf Konsumethik (Crocker et al. 1998). Der mit Abstand am stärksten gewachsene und im Kontext dieser Arbeit relevanteste Forschungsstrang beschäftigt sich jedoch mit Individuen und Gruppen, die sich selbst als »ethische Konsumenten« bezeichnen (Newholm 2005: 108). So wurden etwa Fair-Trade-Konsumenten und -Aktivisten (Varul 2010, Varul 2009; Brown 2009; Doran 2009) untersucht, die »voluntary simplicity«-Bewegung (Sandlin/Walther 2009; Cherrier 2007; Etzioni 1998), »anti-consumers« (Cherrier 2009; Iyer/Muncy 2009), »green consumers« (Connolly/Prothero 2008; Moisander/Pesonen 2002; Lockie et al. 2002) und »Freegans« (Barnard 2011).10 Im Wesentlichen lassen sich dabei vier soziologische Perspektiven auf ethischen Konsum unterscheiden: Erstens wird ethischer Konsum als persönliches Projekt und wichtiger Teil der Selbstidentität untersucht. Häufig wird hierzu Michel Foucaults Konzept persönlicher Ethik (Foucault 1991) herangezogen (vgl. etwa Cherrier 2009: 182; Moisander/Pesonen 2002: 331; Quastel 2008; Varul 2010: 370). Als Forschungsfrage rückt so in den Blick, auf welche Art und Weise Konsumenten ein Bild von sich als ethisch ›gute‹ Personen konstruieren und zum Ausdruck bringen können (Moisander/Pesonen 2002: 330). In diesem Sinne kann »ethical selving« verstanden werden als »the mediated work of creating oneself as a more virtuous person through practices that acknowledge responsibilities to others« (Barnett et al. 2005b: 30). Ein zentrales Ergebnis dieser Forschung ist, dass es beim ethischen Konsum nicht nur darum geht, Gutes zu tun, sondern vor allem auch darum, gut zu sein (Varul 2010: 370). Zweitens wird die Frage nach der Handlungsmacht (»agency«) von Konsumenten diskutiert, mittels ethisch motivierter Kaufentscheidungen Märkte und Gesellschaft zum Positiven zu verändern (Holzer 2006). Zentral ist in diesem 10 Diese Aufstellung weist auf die Pluralität von Moralvorstellungen hin, die auch innerhalb der verschiedenen konsumkritischen Bewegungen zu finden sind, die aber in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt werden können: Während Fair Trade auf die Errichtung gleichberechtigter Handelsbeziehungen zwischen erster und Dritter Welt abzielt (Varul 2008: 655), ohne eine Grundsatzkritik am kapitalistischen Wirtschaftssystem zu äußern, kritisieren einige Stränge der »anti-consumption«-Diskurse die durch die Konsumkultur hervorgebrachte Entfremdung (vgl. Cherrier 2009: 184-185; Lamla 2006: 23-28), die »Freeganer«-Bewegung wiederum zielt auf eine Kritik der durch das kapitalistische System hervorgebrachten Lebensweisen und propagiert den Ausstieg aus jeglicher Form von Geldwirtschaft (Barnard 2011).
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Zusammenhang das Konzept des »citizen-consumers«, das von einer Verschmelzung von Bürger- und Konsumentenrolle ausgeht (Kneip 2010: 59) und soziale Praktiken beschreibt, die im individuellen Eigeninteresse verankerte konsumistische Ideale einerseits und bürgerschaftliche Ideale kollektiver Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl andererseits miteinander vereinen (Johnston 2008: 232). Hier kann zwischen einer optimistischen Perspektive, in der Bürger-Konsumenten als potentiell bedeutsame Agenten sozialen Wandels und demokratischer Restrukturierung begriffen werden (Micheletti 2003: 16; Soper 2007), sowie einer pessimistischen Perspektive unterschieden werden, in der die Idee, dass Konsumenten mit ihren Entscheidungen zu einer Lösung vorhandener gesellschaftlicher Probleme beitragen sollen, als neoliberale Strategie betrachtet wird, vormals staatliche Verantwortlichkeit auf die Individuen abzuwälzen (Sulkunen 2010; Shamir 2008: 329ff.).11 Im Zusammenhang mit der Frage der Handlungsmacht von Konsumenten ist ethischer Konsum zudem unter der Perspektive der Theorie neuer sozialer Bewegungen (Barnard 2011: 422; Cherrier 2007: 324-325) untersucht worden. Drittens ist von einigen Autoren in Betracht gezogen worden, dass ethischer Konsum dazu dienen kann, Statusdistinktion zu betreiben. Isabelle Szmigin und Marylyn Carrigan betonen, dass ethisch motivierte Konsumpraktiken oft mit einer Präferenz für bestimmte Einkaufsorte und der Ablehnung von Produkten, die andere akzeptieren, einhergehen (2006: 610). Da Konsumpraktiken in der Öffentlichkeit vollzogen und in sozialen Netzwerken diskutiert werden, kommt es – egal ob Statusdistinktion intentional angestrebt wird oder nicht – zur Etablierung sozialer Unterscheidungen und Wertungen. Matthew Adams und Jayne Raisborough (2008) rücken von der ›starken‹ These ab, dass der Konsum von FairTrade-Produkten eine distinktive Praxis im Sinne einer intentionalen symbolischen Bekräftigung von Klassenunterschieden darstelle. Vielmehr erzeuge das wachsende Bewusstsein um die Ungerechtigkeit von Klassenunterschieden (Sayer 2005a) und die zunehmende Vorstellungskraft vom Leiden anderer (Wilkinson 2005) Schuldgefühle, die tendenziell abschwächend hinsichtlich distinktiver Praktiken wirken. Jedoch geschehe die Verarbeitung dieses Problembewusstseins hoch selektiv und klassenspezifisch. Und moralischer Konsum sei eine Praktik ebendieser klassenspezifischen Verarbeitung. Somit stellen sie die ›schwache‹ These auf, der Konsum von Fair-Trade-Produkten sei ein Versuch der englischen Mittelschichten, ihr schlechtes Gewissen als Globalisierungsgewinner abzumildern (Adams/Raisborough 2008: 1177-1178). Keith Brown (2009) greift auf das Konzept des »moral boundary drawing« (Lamont 1992) zu11 Für einen guten Überblick der pessimistischen wie der optimistischen Perspektive der Handlungsmacht von Konsumenten siehe Halkier (2010: 9-14).
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rück, um zu untersuchen, inwiefern amerikanische Fair-Trade-Aktivisten sich gegenüber Outsidern der Szene als moralisch höherwertig positionieren. Brown kommt zu dem Ergebnis, dass moralische Grenzen gegenüber den »out-groups« eher innerhalb von wertehomogenen Gruppen und von besonders engagierten Aktivisten zum Ausdruck gebracht werden, während Moralisierungen – aufgrund ihres hohen Streitpotentials – gegenüber Außenstehenden vermieden werden. Insgesamt lässt sich damit festhalten, dass ein Distinktionspotential ethischer Konsumpraktiken zwar gegeben ist, oft aber eher verdeckt bleibt und in der lebensweltlichen Kommunikation gegenüber denjenigen, die verachtet werden, kaum explizit zum Ausdruck gebracht wird (vgl. Beetz 2009: 258). Viertens ist ethischer Konsum im Kontext der Theorien reflexiver Modernisierung thematisiert worden. Nico Stehr hat die These aufgestellt, dass die erhöhte und erweiterte Reflexivität der Spätmoderne zu einer »Moralisierung des Konsums« (Stehr/Adolf 2008) führe. Dem reflexiven Konsumenten wird ein »broader sense of agency in the realm of consumption choices, reflected in knowledge seeking, evaluation and discernment« (Guthman 2002: 299) zugesprochen. Anthony Giddens argumentiert, dass die zunehmende Globalisierung ein neues Niveau an Verflechtungen des Handelns zwischen geographisch weit entfernten Räumen hervorbringt: »Die alltäglichen Handlungen eines Individuums besitzen heute weltweite Konsequenzen. Meine Entscheidung zum Beispiel, ein bestimmtes Kleidungsstück oder ein besonderes Nahrungsmittel zu kaufen, hat vielfältige globale Implikationen. Sie wirkt sich nicht nur auf den Lebensunterhalt eines Menschen auf der anderen Seite der Erde aus, sondern kann auch den ökologischen Zerstörungsprozeß beschleunigen, der möglicherweise Folgen für die ganze Menschheit hat.« (Giddens 1996: 115)
Auch die Selbst-Identität ist von dieser zunehmenden Verflechtung geprägt, sie wird Giddens zufolge zu einem reflexiven Projekt, das sich zu den sich rapide wandelnden Bedingungen sozialen Lebens verhalten müsse. Dabei legt Giddens nahe, dass Individuen im Rahmen der »life politics« zunehmend globale Interdependenzen in ihre ethischen Überlegungen einbeziehen: »[...] life politics concerns political issues which flow from processes of self-actualisation in posttraditional contexts, where globalising influences intrude deeply into the reflexive project of the self, and conversely where processes of self-realisation influence global strategies.« (Giddens 2009 [1991]: 214) Der Wissenssoziologe Nico Stehr sieht einen expliziten Zusammenhang zwischen erweiterter Reflexivität in einer globalisierten Welt und Konsum aus moralischen Motiven: Neues Wissen über globale Produktionsbedingungen, das
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zum Beispiel durch höhere Bildungsniveaus und das Internet in steigendem Maße zur Verfügung steht, und ein steigender Wohlstand führten zumindest manchmal zu einer Berücksichtigung altruistischer Motive bei Konsumentscheidungen (Stehr 2007: 73). Gerade weil das zunehmende Wissen etwa über den Entstehungsprozess von Produkten uneinheitlich sei, weil auch das wissenschaftliche Expertenwissen zu keiner eindeutigen Meinung gelange, erhöhe sich die Unsicherheit, was denn objektiv vorteilhafte Konsumentscheidungen seien. Um die so entstehenden Unsicherheiten zu kompensieren, orientierten Menschen ihre Kaufentscheidungen daher eher an Werten und moralischen Vorstellungen über ›richtig‹ und ›falsch‹, die in sozialen Netzwerken verbreitet werden, als an vermeintlich objektiven Faktoren wie dem Gebrauchswert (ebd.: 262). An dieser Perspektive ist kritisiert worden, dass von einer scheinbar universellen und einheitlichen Wirkung von Reflexivität ausgegangen werde, während die spezifischen Arten und Weisen, wie sich Reflexivität herausbildet und vollzieht, nicht betrachtet würden (Adams/Raisborough 2008: 1169). Dass reflexives Wissen und Wohlstand scheinbar automatisch zu einem moralischen oder, noch enger gefasst, gar altruistischen Konsumverhalten führen, ist nicht haltbar ohne eine Spezifizierung der Bedingungen, unter denen dies geschieht. So zeigen etwa John Connolly und Andrea Prothero, dass sich die von ihnen interviewten umweltbewussten irischen Konsumenten große Sorgen über globale Zustände machen, sich gleichzeitig aber zutiefst ratlos fühlen, welche Schlüsse daraus in Hinblick auf ihr eigenes Handeln zu ziehen sind (Connolly/Prothero 2008: 131132). 2.3.3 Die Moralität des Konsums als Alltagsmoral In der Debatte herrscht mittlerweile Einigkeit darüber, dass die Grenzen zwischen ethischem Konsum und gewöhnlichem Konsum höchst unscharf verlaufen, wenn sie denn überhaupt empirisch identifizierbar sind. Newholm und Shaw (2007) weisen darauf hin, dass viele Definitionen des ethischen oder sozial verantwortlichen Konsums problembehaftet sind. Ein früher Definitionsversuch lautete etwa: «The socially conscious consumer can be defined as a consumer who takes into account the public consequences of his or her private consumption or who attempts to use his or her purchasing power to bring about social change.« (Webster 1975: 188) In ähnlicher Weise spricht Deirdre Shaw (2007: 136) davon, dass ethische und politische Konsumenten darum besorgt sind, Entscheidungen zu treffen, in denen sich eine Sorge um das Allgemeininteresse widerspiegelt, und nennt unter anderem den Kauf von Produkten, die umweltfreundlich oder unter gerechten
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Arbeitsbedingungen hergestellt wurden, als Beispiele.12 Beagan et al. weisen darauf hin, dass auch Konsumenten, die industriell produzierte Produkte, Marktkapitalismus und sogenannte »convenience foods« befürworten, einen ethischen Standpunkt zum Ausdruck bringen (2010: 753). Dieser beziehe sich lediglich auf eine andere Vorstellung des Allgemeininteresses als diejenige, die Shaw im Auge hat. Zum einen wird in den oben zitierten Definitionen von vornherein eine bestimmte Art von Konsum als ethisch eingesetzt. Damit wird der theoretische Blick eingeengt, da nicht mehr gesehen werden kann, welche alternativen Moralkonzeptionen empirisch möglich sind. Zum anderen laufen derartige Definitionen Gefahr, implizit eine Dichotomie zwischen einem vermeintlich ethischen – hier sozial verantwortlichen – Konsum und einem dann unethischen Alltagskonsum zu suggerieren. Dies wird im sozialwissenschaftlichen Diskurs jedoch kaum noch als haltbare Position angesehen. Als Konsens hat sich dagegen in der Literatur durchgesetzt, dass jegliches Konsumverhalten auf vielfältige Weise moralische Fragen (Wilk 2001: 246) und verschiedene Formen ethischer Anliegen (Barnett et al. 2005a: 19-20) berührt. Im Zuge dieser Distanzierungen von simplifizierten Konzepten des ethischen Konsums ist in den letzten Jahren eine Reihe von Forschungsarbeiten entstanden, die sich mit der Moral bzw. Ethik des alltäglichen Konsums befassen (z.B. Adams/Raisborough 2010; Beagan et al. 2010; Halkier 2010; Hall 2011; Johnston et al. 2011; Miller 1998; Ulver-Sneistrup et al. 2011). Im Kontext dieser Debatte ist auch die vorliegende Arbeit zu verorten. In der Literatur werden die vielfältigen Arten und Weisen moralischer und ethischer Bezüge alltäglicher Konsumpraktiken herausgestellt. In Abgrenzung zur Literatur um ethischen Konsum stehen weniger Identitätspraktiken im Sinne eines »ethical selvings« im Vordergrund. Vielmehr geht es um die impliziten moralischen Bedeutungen von Alltagspraktiken, die Aushandlung von Wertvorstellungen im Alltag und verschiedene Konzeptionen des ›guten‹ Konsums. Die moralischen Dimensionen alltäglicher Konsumpraktiken werden dabei unter verschiedenen Perspektiven und Fragestellungen untersucht:
12 Die Tatsache, dass Autoren, die sich intensiv mit dem Thema beschäftigen, auf der einen Seite reflektieren, wie problematisch viele Begriffsdefinitionen sind, an anderen Stellen aber selbst ähnliche Definitionen verwenden, scheint darauf hinzudeuten, dass immer noch implizit davon ausgegangen wird, es ließen sich objektiv ›gute‹ von ›schlechten‹ Konsumpraktiken trennen. Dass in Aufsätzen Beforschte immer wieder in einer objektivierenden Weise als »ethical consumer« bezeichnet werden (vgl. z.B. Carey et al. 2008: 557), ist ein weiteres Indiz dafür.
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Erstens ist darauf hingewiesen worden, dass Konsum meist im Kontext von Familie und weiteren sozialen Netzwerken stattfindet. Von manchen Autoren wird das Einkaufen im Alltag als Teil einer Arbeit der Fürsorge für nahestehenden Personen und damit als genuin altruistische Tätigkeit begriffen (Miller 1998): »[Shopping, JG] is a labor of love, for it is a part of the work that maintains and regenerates the relationships that unite families« (Carrier 1990). Das familiäre Sich-um-einander-Kümmern sieht Sarah Marie Hall (2011: 629) als typisches Beispiel einer alltäglichen Moralpraktik im Sinne einer Ethik der Fürsorge an, wie sie Carol Gilligan (1988: 131) als typisch weibliche Moral beschrieben hat.13 Darüber hinaus werden im Kontext von Haushalten Moralvorstellungen im Umgang mit Konsumgütern auf vielfältige Weise verhandelt und sind Teil der Kindererziehung. Dazu gehören etwa Sparsamkeit, der schonende Umgang mit Ressourcen und gesunde Ernährung (Hall 2011). Zweitens wird untersucht, wie Konsumenten mit den in Mediendiskursen und Produktmarketing immer häufiger auftauchenden moralischen Appellen umgehen, mittels informierter Konsumentscheidungen Gutes zu tun (Adams/Raisborough 2010) bzw. Verantwortlichkeit für gesellschaftliche Probleme wie etwa den Umweltschutz zu übernehmen (Halkier 2010). In diesem Zusammenhang ist herausgestellt worden, dass es eine Reihe von Möglichkeiten gibt, auf moralische Appelle zu reagieren: Während sich ein Teil der Beforschten mit den Appellen identifiziert und versucht, sie so weit wie möglich praktisch umzusetzen, sind andere um eine pragmatische Abwägung mit alltagspraktischen Anforderungen bemüht. Eine weitere Gruppe befragt moralische Appelle kritisch darauf, ob das in ihnen propagierte Gute denn tatsächlich gut sei.
13 Mit der Essensverpflegung verbundene Aktivitäten werden nach wie vor größtenteils von Frauen übernommen. Aus einer feministischen Sicht birgt eine Sichtweise, die dies in Begriffen von Fürsorge und Liebe fasst, die Gefahr einer einseitig positiven Konnotierung. Es stellt sich zudem die Frage, ob Frauen die Arbeit der Fürsorge aus tiefliegenden moralischen Dispositionen heraus übernehmen (vgl. Gilligan 1988) oder aus einer unterlegenen Machtposition (DeVault 1994: 10). Marjorie DeVault betont, dass auch der Terminus »Arbeit« oft nicht dem Empfinden der Frauen gegenüber Aktivitäten der Versorgung ihrer Familie gerecht werde, da sich unbezahlte Arbeit und Freizeit hier überschneiden (ebd.: 4ff.). In beiden Fällen gilt jedoch, dass im Rahmen von alltagsbezogenen Konsumpraktiken auch moralische Werte und Prinzipien verhandelt werden (Hall 2011: 629), die sich auch auf die Geschlechterverhältnisse selbst beziehen können.
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Drittens ist untersucht worden, was ›gewöhnliche‹ Konsumenten unter ethischem Konsum verstehen, wobei eine große Vielfalt von Moralvorstellungen sichtbar wird: Cooper-Martin und Holbrook (1993) haben ihre Befragten aufgefordert, zehn Konsumerfahrungen zu nennen, bei denen ethische Überlegungen oder moralische Implikationen eine Rolle gespielt haben. Die Bandbreite der Antworten ist äußerst umfassend und reicht von Verweisen auf konservative Sexualmoral und religiöse Moralvorstellungen bis hin zum Kauf nationaler Produkte. Auch in anderen Studien wird auf die Bedeutung des Kaufs von Lebensmitteln aus der Region oder aus dem eigenen Land als ein möglicher Weg hingewiesen, Solidarität zur lokalen oder nationalen Gemeinschaft zum Ausdruck zu bringen (Adams/Raisborough 2010: 267; Beagan et al. 2010: 763; Johnston et al. 2011: 303). Luedicke et al. (2010) zeigen, dass zwischen den Befürwortern und Gegnern bestimmter Konsumgütermarken häufig latente Konflikte ausgetragen werden, in denen die jeweils andere Seite als moralisch ›böse‹ konzipiert wird. In ihrer Studie zeigen sie, dass sich die Fahrer schwerer Geländewagen als Verteidiger amerikanischer Werte sehen und ihre Gegner als Bedrohungen der Größe ihrer Nation. Diejenigen, die die Geländewagen ablehnen, sehen sich hingegen als Verteidiger von Gemeingütern – etwa der Umwelt – und ihre Gegner als sozial unverantwortliche Konsumenten (ebd.: 1029). Zu guter Letzt findet sich in empirischen Studien ›gewöhnlicher‹ Konsumenten auch jene explizite Konsummoral, die auch in der Debatte um ethischen Konsum im engeren Sinne im Zentrum steht: Hier geht es darum, sich mittels bewusster Konsumentscheidungen um »Schutzobjekte« wie Tiere, Umwelt, Kinder etc. zu kümmern (vgl. Hedtke 2005: 49).
Festhalten lässt sich somit, dass ein Bestreben der hier beschriebenen Perspektive ist, die eindeutige Abgrenzbarkeit eines genuin ›ethischen‹ Konsums in Frage zu stellen und die vielfältigen Weisen herauszuarbeiten, in denen alltägliches Konsumverhalten durch moralische Ideen unterfüttert ist. Für die zu Beginn formulierte Fragestellung dieser Arbeit erweist sich die zuletzt beschriebene Perspektive als geeignet, da sie einerseits anschlussfähig ist für eine lebensweltliche Betrachtung von Konsummoral (vgl. Kap. 3.1.4), andererseits eine Offenheit für die vielfältigen Arten und Weisen bewahrt, wie sich Konsummoral in Alltagspraktiken manifestiert. Dass dies aufgrund der Beschaffenheit der Moral in modernen Gesellschaften besonders angemessen ist, wird nun im nächsten Kapitel zu zeigen sein.
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2.4 F AZIT In der Soziologie gibt es eine lange Tradition, die allgemeinen Wertvorstellungen, Normen und Legitimierungen zu untersuchen, die mit Konsum verbunden werden. Ältere Forschungen sind dabei meist gesellschaftstheoretisch angelegt, im Zentrum stehen die vorherrschenden Konsumgesinnungen verschiedener historischer Gesellschaften. In der Forschung jüngeren Datums wird zwar öfter ein handlungstheoretischer Zugang gewählt, gleichzeitig hat mit der Konzentration auf den Begriff des ›ethischen‹ Konsums aber eine starke empirische Verengung der Debatte stattgefunden (vgl. Kap. 2.3.2). Um die Debatte wieder offener zu führen, erscheint es daher vielversprechend, Konsummoral als Alltagsmoral zu untersuchen (vgl. Kap. 2.3.3), denn so ergeben sich eine Reihe von bislang nicht ausreichend beantworteten Fragen. Im Folgenden wird nun betrachtet, wie sich die Perspektive der Alltagsmoral des Konsums in Bezug setzen lässt zu den in Kapitel 2.2 dargestellten allgemeinen Perspektiven auf Konsum und welche Implikationen sich daraus für die vorliegende Arbeit ergeben. Damit ist eine wichtige Vorarbeit geleistet, um im folgenden Kapitel die eigene Forschungsperspektive auf Konsummoral darzulegen. Konsum als Teil des Wirtschaftskreislaufs zu betrachten, hat zur Folge, den Blick auf die Beziehungen zwischen der Sphäre der Produktion und der Konsumtion zu richten, womit sich Fragen nach der Macht von Konsumenten in Marktbeziehungen stellen (vgl. Wiswede 2000: 40ff.). Die tatsächlichen Auswirkungen des Konsumhandelns auf die Sphäre der Produktion werden in dieser Arbeit nicht weiter untersucht, da die Moralvorstellungen und die alltägliche Praxis von Konsumenten im Mittelpunkt des Forschungsinteresses stehen (vgl. Kap. 1). Die Möglichkeit einer Einflussnahme auf Produktionsprozesse durch Kaufentscheidungen wird allerdings auch seitens meiner Befragten immer wieder thematisiert, weshalb es zumindest der Vollständigkeit halber wichtig ist, die genannte Perspektive auf Konsum zu kennen. Die Forschungen in diesem Bereich haben sich einerseits damit befasst, welche Auswirkungen die Nachfrage nach Gütern, denen besondere ethische Qualitäten zugeschrieben werden, auf Märkte und die Funktionsweise des Wirtschaftssystems hat: In diesem Zusammenhang ist konstatiert worden, dass sich Unternehmen neuen Absatzmärkten selten verschließen (Hedtke 2005: 50), ohne dass aber damit grundlegende Strukturveränderungen der Unternehmenspraxis oder gar des Wirtschaftssystems verbunden sein müssen (Engels 2010: 125). Andererseits wurde die Frage gestellt, inwiefern moralische Vorstellungen eine wichtige Basis für kollektiv organisiertes politisches Handeln, etwa für Konsumentenproteste, bilden können (Baringhorst 2010).
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Ein zweiter Strang der sozialwissenschaftlichen Literatur betrachtet Konsum als Ausdruck sozialer Strukturen. Demnach dienen Konsumpraktiken dazu, soziale Positionen symbolisch zum Ausdruck zu bringen, so dass durch materielle Güter, kulturelle Praktiken sowie deren Verwendungs- und Rezeptionsweisen Rückschlüsse auf die soziale Stellung des Konsumenten gezogen werden können. Für die vorliegende Arbeit ist diese Perspektive wertvoll, da sich die soziologisch relevante Frage stellt, inwiefern soziale Distinktion nicht nur über die Zurschaustellung von ökonomischem Reichtum oder kulturell-ästhetischem Geschmack betrieben wird, sondern auch auf moralischem Gebiet, in dem sich bestimmte Gruppen gegenüber anderen als moralisch besser deuten. Welche Rolle moralische Distinktion im Bereich des Konsums von Lebensmitteln spielt, wird insbesondere in Kapitel 7 thematisiert. Dabei soll allerdings ein offener Blick dafür gewahrt bleiben, dass nicht nur Güter und Praktiken als Hintergrund moralischer Distinktion dienen können, die – wie der Konsum von fair gehandelten Waren – explizit als ›ethischer‹ Konsum gerahmt werden (vgl. Kap. 2.3.2). Vielmehr soll die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass implizit auch eine Reihe ganz gewöhnlicher Konsumpraktiken zur moralischen Grenzziehung genutzt werden. Eine dritte Perspektive grenzt sich von der strukturellen Sichtweise ab und begreift Konsum als Ausdruck der persönlichen Identität. Dabei wird davon ausgegangen, dass die Individuen in spätmodernen Gesellschaften aus traditionellen Strukturen freigesetzt worden sind und daher selbst die Verantwortung für die Ausgestaltung ihres Lebens übernehmen müssen, wobei sie mit einer Vielzahl von Wahlmöglichkeiten konfrontiert sind. Marktvermittelter Konsum wird für die Vertreter dieser Perspektive zum Paradigma des Lebens in der Spätmoderne und zum vorherrschenden Mittel, um das eigene Selbst zu stilisieren und zum Ausdruck zu bringen. In Bezug auf Konsummoral ist aus dieser Perspektive gefragt worden, inwiefern Menschen ein Bild von sich selbst als moralisch gute Person entwerfen und wie sie versuchen, sich diesem Bild mittels Konsumpraktiken anzunähern (vgl. Varul 2010). Auch hier sollte aber in Betracht gezogen werden, dass idealisierte Selbstbilder verschiedene Formen annehmen können. Wie in Kapitel 2.3.3 gezeigt wurde, orientiert sich nicht nur die Käuferin von Fair-Trade-Produkten an dem Wunsch, in moralischem Sinne ›gut‹ zu sein, sondern – neben weiteren Beispielen – auch die Frau, die sich als liebende und sorgende Mutter einer Familie begreift. Für die vorliegende Studie erweist sich das Verständnis von Konsum als Ausdruck der persönlichen Identität als hilfreich, um prinzipiell nachvollziehen zu können, dass Vorstellungen des ›guten‹ Konsums immer auch durch die Vorstellungen geprägt sind, wer und wie man sein möchte. Allerdings rücke ich die Bedeutung der persönlichen Identität nicht ins
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Zentrum der Betrachtung, da individuelle Selbstinszenierungen im vorliegenden Material deutlich weniger präsent sind als in Studien zu anderen Konsumbereichen wie etwa Kleidung oder Automobilen. Da Konsum in vielen Bereichen (u.a. bei Lebensmitteln) abseits von Stilisierungen und Inszenierungen oft im Privaten stattfindet und stark an praktischen Bedürfnissen orientiert ist, wurde von Vertretern eines vierten Ansatzes die Wichtigkeit betont, Konsum als banale und routinierte Alltagspraxis zu begreifen. Nicht die bewusste Entscheidung für einen Lebensstil und dessen Inszenierung steht dann im Vordergrund, sondern die praktische Vereinbarkeit verschiedener Tätigkeiten im Alltag sowie Gelegenheitsstrukturen beim Einkauf, der Zubereitung und dem Verzehr von Lebensmitteln. Die konkreten Strukturen des Alltags spielen ebenfalls eine wichtige Rolle, z.B. wie viele und welche Personen gemeinsam in Haushalt leben, wie die Aufgaben bei der Organisation der Verpflegung organisiert sind und wie die Tagesabläufe der verschiedenen Personen strukturiert sind. Dieser Ansatz erscheint damit theoretisch am besten geeignet, um die zentralen Fragen der vorliegenden Arbeit zu bearbeiten, deren Ziel es ja ist, in einer offenen Weise verschiedene Konstruktionen des moralisch ›guten‹ und ›schlechten‹ Konsums zu rekonstruieren und dabei auch in den Blick zu nehmen, in welchem Verhältnis diese Typen der Konsummoral zur alltäglichen Praxis stehen (vgl. Kap. 1). Innerhalb dieser sehr breiten Forschungslandschaft ist die in dieser Arbeit vertretene theoretische Position am ehesten dem letztgenannten, praxistheoretischen Ansatzes zuzuordnen (vgl. Kap. 3). Dieser Ansatz scheint den Eigentümlichkeiten des Lebensmittelkonsums und den eingangs formulierten Forschungsfragen besonders gut gerecht zu werden, da er die Komplexität von Alltagsstrukturen berücksichtigt. Somit kann auch erklärt werden, warum Menschen in der Praxis oft nicht (oder nicht vollständig) so konsumieren, wie nach den Annahmen der zweiten und dritten Perspektive hinsichtlich sozialer Position oder Lebensstil zu vermuten wäre. Daher rücke ich das Verständnis von Konsum als ›gewöhnlicher‹ und routinierter Alltagspraxis theoretisch in den Vordergrund, während den anderen Ansätzen ergänzende Funktionen zukommen. Die Sicht auf Konsum als Ausdruck sozialer Strukturen ist hilfreich, um die in den Interviews zum Ausdurck kommenden Distinktionen gegenüber anderen sozialen Gruppen einordnen zu können. Die Perspektive auf Konsum als Ausdruck persönlicher Identität ist schließlich wertvoll, da sie deutlich macht, dass sich Selbstbilder auch in den Vorstellungen darüber widerspiegeln, wie Essen, Einkaufen und Ernährung gestaltet werden sollen.
3 Die Forschungsperspektive
Nachdem nun das weitere Feld der Ansätze sozialwissenschaftlichen Konsumforschung sowie die spezifischen Perspektiven auf Konsummoral dargelegt wurden, ist es das Ziel des folgenden Kapitels, meine eigene theoretische Perspektive auf das Phänomen der Alltagsmoral des Konsums von Lebensmitteln zu entwickeln. Im Kontext einer rekonstruktiven Verfahrensweise geht es dabei besonders darum, durch die eigene Perspektive die theoretische Sensitivität (Strauss 1998: 36) im Umgang mit dem Material zu erhöhen, ohne den Blick zu verengen. Das empirische Material soll durch die Perspektive gewissermaßen »›zum Sprechen‹ gebracht« werden (Kalthoff 2008: 20). Die theoretische Position, die im Laufe dieses Kapitels entwickelt wird, ist als sozial- bzw. metatheoretisch zu bezeichnen (Lindemann 2008: 109). Das bedeutet, es geht um jenen Typ von Theorie, mittels dessen zunächst die grundlegenden Annahmen über die Beschaffenheit des Gegenstandes expliziert werden. Der »Spagat« zwischen Offenheit und Erhöhung theoretischer Sensivität gelingt dabei im Forschungsprozess durch ein Hin- und Herwechseln zwischen Empirie und Theorie, die Forschungsperspektive wird somit nicht vor jeglichem Herantreten an das Material entwickelt, sondern in Auseinandersetzung mit diesem stellt sich heraus, welche metatheoretischen Kategorien sich als hilfreich für das Verständnis und die Kontextualisierung des Materials erweisen. Im Zentrum steht dabei zunächst eine Reihe von metatheoretischen Fragen, die grundlegende Annahmen über die Beschaffenheit des Moralischen betreffen (Kap. 3.1). Im Zuge dieser Diskussion werden auch handlungstheoretische Grundannahmen der Studie diskutiert, die anschließend noch einmal konkretisiert werden (Kap. 3.2). Abschließend fasse ich in einem Fazit die eigene Forschungsperspektive noch einmal zusammen (Kap. 3.3).
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3.1 M ORAL ALS HABITUELL VERANKERTE S INNKONSTRUKTION Emile Durkheim sah in der Moral eine durch und durch gesellschaftliche Kraft: Moralische Handlungen betreffen demnach niemals rein persönliche Ziele und Interessen, sondern beziehen sich immer auf das Kollektivbewusstsein. Moralisch Handelnde sind als »Diener« von sozialen Gruppen – etwa der Familie, der Nation oder der Menschheit als Ganzes – anzusehen, da sie in deren Interesse handeln (Durkheim 1973: 109ff.).1 Moralität besteht für Durkheim darin, »mit einer Gruppe solidarisch zu sein« (Durkheim 1992 [1977]: 466), Moral erfüllt also die Funktion, die Gesellschaft zu integrieren. Michael Beetz fasst Durkheims Interesse an der Funktion der Moral dahingehend zusammen, dass Moral für die »lebenspraktische Einheit von Mensch und Gesellschaft« (2009: 251) sorge. Beetz verweist jedoch darauf, dass in modernen pluralistischen Gesellschaften zunächst nicht mehr so einfach einsichtig erscheint, worin diese Einheit eigentlich besteht (ebd.). Denn Durkheim zufolge sollen sich Individuen in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften organisch eingliedern (1992 [1977]: 183). Zwar gibt es auch in modernen Gesellschaften noch einheitlich geteilte moralische Regeln, die bei abweichendem Handeln Tadel oder Sanktionierung hervorrufen. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn es um die Wahrung der Würde und der Rechte des Individuums geht. Zu denken ist etwa an das Verbot von Tötungen, Diebstahl oder Folter. Daneben gibt es jedoch auch beträchtliche Bereiche, in dem kein einheitlicher Konsens darüber mehr besteht, welche Verhaltensweisen als ›richtig‹ und ›falsch‹ gelten. Der Bereich des Konsums ist dafür exemplarisch. Konsummoral scheint in differenzierten modernen Gesellschaften nur im Plural zu haben sein (Hedtke 2005). Gerade aus systemtheoretischer Perspektive ist betont worden, dass »in einer Kontingenzkultur wie der Marktwirtschaft Moral als universal geltendes Verhaltensregelwerk chancenlos bleibt, weil die Kontingenz der Verhältnisse dem strukturell zuwiderläuft« (Hellmann 2008: 272). Möglich ist unter diesen Bedingungen nur eine Vielzahl von Moralitäten, von denen aber keine einzige den strukturellen Moralpluralis-
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Durkheim weist explizit darauf hin, dass das Wesen der Moralhandlung nicht darin besteht, Opfer für andere zu erbringen (1973: 110). Kollektivinteressen zu verfolgen, kann auch Handlungen beinhalten, die selbstbezogen sind, denn »[d]ie Pflichten des Individuums sich selbst gegenüber sind in Wirklichkeit Pflichten gegenüber der Gesellschaft« (1992 [1977]: 470). Beispiele dafür sind etwa die Sorge um die eigene Gesundheit (vgl. Varul 2004: 29ff.; Wilk 2001: 254-255) oder generell die Sorge um sich (Foucault 2005 [1984]).
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mus überwinden kann.2 Soziologisch stellt sich damit die Frage, wie dieser Pluralismus denn im Einzelnen aussieht: Welche Konsummoralitäten gibt es in der gesellschaftlichen Praxis? Und handelt es sich dabei in erster Linie um individuelle Vorlieben und Selbstfestlegungen oder herrschen in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, Klassen, Milieus oder Stilgemeinschaften spezifische Deutungen vor? Um die Vielfalt der Konsummoralitäten genauer zu ergründen, bietet eine Perspektive, die Moral als soziale Sinnkonstruktion versteht, einen sinnvollen Ausgangspunkt. Wenn Moral – wie im Folgenden noch näher auszuführen ist – die Unterscheidung zwischen ›gut‹ und ›böse‹ betrifft, dann lässt sich feststellen, dass Menschen das, was sie unter ›gutem‹ Konsum verstehen, auf sehr verschiedene Arten und Weisen konstruieren können: »Thus, whilst it may be considered good to be ›ethical‹, consumers can also construct ›the good‹ as independence (independent travel), prudence (savings, bargain hunting), health (Aromatherapy, Gym), luxury (e.g. Rolex watches) and even hedonism (e.g. Club 18-30’s infamous sun-sea-sex-holidays).« (Caruana 2007: 299) Weiterhin stellt sich die Frage, wie sich moralischer Sinn manifestiert und in welchen Formen er sich beobachten lässt. Einen ersten Anhaltspunkt hierfür liefert wiederum Michael Beetz (2009: 252), der zwischen einer soziologischen und einer entwicklungspsychologischen Tradition des sinnbezogenen Moralparadigmas unterscheidet.3 Aus Sicht der Ersteren äußert sich der soziale Sinn der
2 Dies gilt zumindest für den legalen und gesellschaftlich akzeptierten Konsum. In den Randbereichen des nicht akzeptierten Konsums scheint durchaus noch eine weitreichende Einheitlichkeit der moralischen Vorstellungen gegeben, welches Verhalten ›richtig‹ und welches ›falsch‹ ist. Das Verbot des Konsums harter Drogen oder des Verzehrs von Fleisch wilder Tiere abseits des Jagdwilds (Beardsworth/Keil 1997: 209) sind hier als Beispiele zu nennen. Für die restlichen Konsumbereiche gilt dagegen, dass die Vorstellungen über ›guten‹ und ›bösen‹ Konsum uneinheitlich sind. 3
Die Soziologie der Moral kann bisher kaum als eigenständige und etablierte spezielle Soziologie bezeichnet werden, vielmehr kann ein Interesse an Moral in verschiedenen soziologischen Gebieten konstatiert werden (vgl. Abend 2008: 87). So wird beispielsweise in der Wirtschaftssoziologie die Rolle von Moral auf Märkten betont (vgl. u.a. Fourcade/Healy 2007; Stehr 2007; Beckert 2006; Münch 1994). Neben empirischen Studien zu moralbezogenen Themen haben sich in den letzten Jahren immerhin einige Autoren mit Aufgabenstellung, Epistemologie, Konzepten und Theorien einer Soziologie der Moral beschäftigt (Beetz 2009; Abend 2008; Ignatow 2009; Liebig 2007; Sayer 2005b, Sayer 2005a, Sayer 2002). Michael Beetz unterscheidet zwischen drei Arten und Weisen, in der die Soziologie mit Moral konfrontiert ist: Das sinnbezogene Moralparadigma lässt sich abgrenzen gegenüber dem ökonomischen und dem
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Moral in Form eines bestimmten Kommunikationstyps, wie Niklas Luhmann deutlich macht: »Ich verstehe unter Moral eine besondere Art von Kommunikation, die Hinweise auf Achtung oder Mißachtung mitführt. Dabei geht es nicht um gute oder schlechte Leistungen in spezifischen Hinsichten, und [sic!] etwa als Astronaut, Musiker, Forscher oder Fußballspieler, sondern um die ganze Person, soweit sie als Teilnehmer an Kommunikation geschätzt wird.« (Luhmann 2008 [1990]: 256-257)
In ganz ähnlicher Weise beinhaltet für Jörg Bergmann und Thomas Luckmann moralische Kommunikation »sozial wertende Stellungnahmen […], die geeignet sind, das Ansehen, das Image, die Ehre oder den Ruf der benannten oder identifizierbaren Personen zu beeinträchtigen oder zu steigern« (Bergmann/Luckmann 1999: 23). Es geht also um die Kommunikation von Achtung oder Missachtung, wobei immer die ganze Person im Blickpunkt steht, und nicht nur ihr Verhalten in der Rolle eines Funktionsträgers: Moralkommunikation thematisiert damit die Zugehörigkeit oder Nichtzugehörigkeit zu imaginierten moralischen Gemeinschaften (vgl. Varul 2004: 15-16). Die Entwicklungspsychologie setzt dagegen beim individuellen moralischen Urteilsvermögen an (Beetz 2009: 251): Der psychische Sinn der Moral tritt demnach in Form moralischer Urteile auf, die sich auf Verhaltensweisen beziehen und mit dem Code ›gut‹ und ›böse‹ operieren. Ein solcher sinnbezogener Moralbegriff ist für die vorliegende Arbeit hilfreich: normativ-politikzentrierten Moralparadigma (Beetz 2009: 252). Ersteres steht in der Traditionslinie des methodologischen Individualismus, wie ihn etwa Coleman (1991) vertritt. Im Zentrum dieses Ansatzes steht die rationale Erklärung von moralischem Handeln aus dem Eigeninteresse der Akteure (Liebig 2007: 50-52), wobei Moral als Altruismus verstanden wird: Es geht darum zu erklären, warum eigeninteressierte Akteure manchmal die Interessen anderer in das eigene Handeln einbeziehen. Dieser Ansatz wird in der vorliegenden Studie nicht weiter verfolgt, da er eine zu enge Auffassung von Moral als Vorteilshandeln vertritt. Letzten Endes ist das ökonomische Moralparadigma unsoziologisch, da das Soziale immer nur als Randbedingung individualisierter Entscheidungen gesehen wird. Nicht beachtet wird dabei, dass Akteure das Soziale auch in sich tragen. Das Bezugsproblem des »normativen« Moralparadigmas ist die Frage nach der Geltung normativer Ordnung (Habermas 1996; Honneth 1992). Auch dieser Ansatz wird hier nicht weiter verfolgt, da für die vorliegende Studie ein rekonstruktiver und deskriptiver Zugang zu Moral gewählt wurde, der nicht danach fragt, ob die zu beschreibenden Moralvorstellungen verbindliche Geltung beanspruchen können.
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Erstens bietet er eine relativ klare Abgrenzung von Moral von anderen Phänomenen – etwa ästhetischer Bewertung, die mit dem Code schön/hässlich operiert. Zweitens gibt dieses Verständnis relativ klare Kriterien an die Hand, mittels derer im zu analysierenden Interviewmaterial Aussagen als Ausdruck moralischen Sinns identifiziert werden könnten.4
3.1.1 Die Verortung von Moral innerhalb und außerhalb der Subjekte Wie im empirischen Teil der Studie ersichtlich wird, findet sich im Interviewmaterial tatsächlich eine Vielzahl von wertenden Aussagen, die sich entweder auf Personen oder Verhaltensweisen beziehen und somit als sozialer bzw. psychischer Sinn klassifiziert werden können. Beetz’ Unterscheidung zwischen den beiden Formen moralischen Sinns eignet sich somit als heuristisches Instrument für die Datenauswertung. Allerdings birgt diese Unterscheidung die Gefahr, die Analyse von Moral soziologisch zu verkürzen. Luhmann sowie Bergmann und Luckmann vertreten die Position, dass soziologisch relevant lediglich die Moralkommunikation ist, moralische Urteile werden hingegen als »psychischer Sinn« aus der soziologischen Analyse heraus definiert. Moral wird demzufolge außerhalb der Subjekte in der Kommunikation verortet. Dagegen lässt sich einwenden, dass Kommunikationsprozesse zwar mit beeinflussen, »was in einer Gesellschaft als moralisch relevant angesehen wird und auf welche moralischen Modelle man dabei zurückgreifen kann« (Liebig 2007: 44). Allerdings müssen Akteure diese Moralmodelle erst verinnerlichen, um sie später wieder äußern zu können (ebd.).
4
In dieser Arbeit stelle ich den Begriff der Moral ins Zentrum, nicht hingegen die Unterscheidung zwischen moralischen Normen und Werten. Moralische Normen beziehen sich auf konkrete und verbindliche Regeln, deren Nichtbeachtung sanktioniert wird (Fein 1997: 15/16), sie lassen sich mittels der Dichotomie ›richtig‹/›falsch‹ beschreiben. Moralische Werte sind dagegen abstrakter, nicht direkt handlungsleitend und mittels der Dichotomie ›gut‹/›böse‹ zu beschreiben. Auffällig ist, dass die von mir Befragten in den Interviews kaum handlungsleitende Normen diskutieren. Dies erscheint plausibel, da eine rigide normative Kontrolle von Konsumverhalten in funktional differenzierten modernen Gesellschaften kaum mehr existiert (Campbell 2006: 217). Zumindest innerhalb des rechtlich Erlaubten kann damit jeder so konsumieren, wie er möchte (Hellmann 2008: 274); und lediglich der Entzug sozialer Anerkennung im lebensweltlichen Umfeld (vgl. Woodward 2006; Varul 2011) verbleibt als Mechanismus, um ›falsches‹ Konsumverhalten zu sanktionieren.
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Moralsoziologie als reine Kommunikationsanalyse zu begreifen, ist daher keineswegs Konsens in der Soziologie. Moral lässt sich einerseits als ein Stück in den Akteuren verinnerlichte Gesellschaft begreifen, andererseits kann im Anschluss an Foucault persönliche Ethik als Gegenstück zu gesellschaftlichen Moralgeboten verstanden werden. Diese beiden Konzeptionen sind im Folgenden darzulegen. Besonders anschaulich lässt sich Moral als Stück verinnerlichter Gesellschaft in Anschluss an den Bourdieu’schen Habitusbegriff darstellen. Der Habitus ist definiert als ein Bündel von handlungsgenierenden Schemata des Denkens, Wahrnehmens und Bewertens. Akteure erwerben diese Schemata abhängig von ihrer sozialen Umwelt und den damit verbundenen Erfahrungen im Laufe ihres Lebens. Der Habitus ist als generative, praxiserzeugende Formel zu verstehen (Bourdieu 1987: 278). In spezifischen Situationen werden bestimmte habitualisierte Neigungen aktiviert und darüber bestimmte Arten und Weisen des Handelns hervorgebracht. Er kann somit als Gelenkstück zwischen Struktur und individuellem Handeln verstanden werden, welches »die Praxis an die Struktur anpasst und damit die praktische Reproduktion der Struktur gewährleistet« (Müller 2005: 29-30): »Der Habitus ist nicht nur strukturierende, sondern auch strukturierte Struktur: das Prinzip der Teilung in logische Klassen, das der Wahrnehmung der sozialen Welt zugrunde liegt, ist seinerseits Produkt der Verinnerlichung der Teilung in soziale Klassen. Jede spezifische soziale Lage ist gleichermaßen definiert durch ihre inneren Eigenschaften oder Merkmale wie ihre relationalen, die sich aus ihrer spezifischen Stellung im System der Existenzbedingungen herleiten, das zugleich ein System von Differenzen, von unterschiedlichen Positionen darstellt. [...] In den Dispositionen des Habitus ist somit die gesamte Struktur des Systems der Existenzbedingungen angelegt, so wie diese sich in der Erfahrung einer besonderen sozialen Lage mit einer bestimmten Position innerhalb dieser Struktur niederschlägt.« (Bourdieu 1987: 279)
Somit werden Regelmäßigkeiten im praktischen Handeln produziert, ohne dass diese subjektiv intendiert sind (Bourdieu 1976: 166-168). Bourdieu selbst hat in seinem Werk Phänomenen der Moral nur geringe Beachtung geschenkt (vgl. Lamont 1996: 25; Müller 1986: 186); daher schließe ich mich den Autoren an, die auf die Bedeutsamkeit des Bourdieu’schen Habituskonzepts für die Moralsoziologie hingewiesen haben (z.B. Sayer 2005b: 51). Gabriel Ignatow weist darauf hin, dass sich mittels des Habituskonzeptes nachvollziehen lässt, wie mora-
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lische Urteile durch das soziale Umfeld beeinflusst werden (Ignatow 2009: 99).5 Analog zu ästhetischen Einstellungen, die durch materielle Bedingungen und Lebensstile im eigenen Umfeld geprägt werden (Bourdieu 1987: 278), spiegeln sich in individuellen moralischen Urteilen die moralischen Diskurse des sozialen Umfelds wider (Ignatow 2009: 110): »Within cultures and subcultures, different ways of feeling, thinking, and talking relevant to moral judgment are internalized by individuals. The result is a moral habitus for each person, a complex matrix of cognized emotions and embodied cognitions that is a foundation for moral judgments of the self and others.« (Ignatow 2009: 108)
Diesem Verständnis zufolge ist Moral ein Bündel von verinnerlichten Dispositionen, die moralische Urteile und moralisch relevante Reaktionsweisen produzieren. Dies kann etwa eine Neigung sein, sich zu empören, wenn man sich ungerecht behandelt fühlt, oder bestimmte Handlungsweisen anderer zu verurteilen.6 Moralische Urteile und Reaktionen basieren auf habitualisierten Dispositionen, die in bestimmten Situationen gewissermaßen automatisch abgerufen werden. Ähnlich argumentiert Andrew Sayer, der Bourdieus Habitustheorie zwar um moralische Dispositionen erweitern möchte, dabei aber Bourdieus Ansicht problematisiert, dass Lernen und Entwicklung nahezu ausschließlich unterbewusst durch praktische Einübung und Wiederholung zustande kämen. Es ist Sayer beizupflichten, wenn er Bourdieus Annahme kritisiert, dass das, was Menschen in sozialen Feldern zum Erfolg verhelfe und antreibe, vor allem ein unterbewusstes Gespür für das Spiel sei (2005b: 23ff.). Sayer betont dagegen das bewusste »Monitoring« von Lernprozessen, die Rolle des Begreifens von Gründen bei der Bildung habitueller Dispositionen sowie die universelle Fähigkeit des Menschen 5
Ignatow knüpft an psychologische Erkenntnisse an, die die Relevanz von Emotionen für moralische Urteile betonen. Während dem grundsätzlich zuzustimmen ist, wird die Bedeutung von Emotionen im Kontext dieser Arbeit ausgeklammert, da hier in erster Linie die moralischen Sinndeutungen interessieren. Ich halte Ignatows BourdieuRezeption zudem für problematisch, da er konstatiert, dass Bourdieu die körperlichen und kognitiven Bestandteile des Habitus als strikt getrennt voneinander betrachte und die verkörperlichte Natur von Erkenntnis nicht anerkenne (vgl. Ignatow 2009: 99). Dies halte ich für eine nicht zutreffende Rezeption, betont Bourdieu doch gerade, dass sich Handlungsmuster und praktisches Wissen in den Körper und nicht in das Bewusstsein einprägen (Bourdieu 1976: 195; Rehbein 2006: 92).
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Moralische Kommunikation ist demnach als Ausdruck von verinnerlichten Dispositionen zu begreifen, und Ziel der soziologischen Analyse ist es, diesen moralischen Habitus zu rekonstruieren.
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zur unablässigen Reflexivität. Ein zweiter Strang der Kritik zielt darauf ab, dass neben einem Gespür für das Spiel auch die Hingabe an Aktivitäten, Dinge und Personen, denen ein Wert an sich zugeschrieben wird, eine Handlungsressource darstellt. Sayer weist auf die Wertrationalität vieler Handlungen und auf die Verankerung dieser Werte in guten Gründen hin, die zwar ins Unbewusste absickern können, aber nichtsdestotrotz latent vorhanden bleiben und bei Bedarf reaktiviert und überdacht werden können. Eine andere Möglichkeit, Moral innerhalb der Subjekte zu verorten, bietet Foucaults Begriff der persönlichen Ethik. In seinem Spätwerk zur Geschichte der Sexualität entwickelt Foucault ein Interesse an den Möglichkeiten des selbstbestimmten Handelns der Subjekte jenseits von Macht und normierenden Diskursen (Kögler 1994: 167). Ethik bezieht sich auf das Verhältnis der Subjekte zu sich selbst. Dieser Dimension schreibt Foucault eine eigene Qualität gegenüber moralischen Regeln und Vorschriften sowie dem Handeln in Bezug auf diese zu (vgl. 1991: 352). Ethik ist dabei ein Bereich, den Foucault mit Freiheit in Verbindung bringt und dem er Widerstandspotentiale zuschreibt. Während geltende normative Vorschriften und Praktiken durch Sozialisation erlernt werden, stellen Praktiken des Selbst für ihn eine fundamentalere Realität dar, die mit einem Stück Autonomie verbunden ist (Foucault 2005 [1984]: 876) und gezielt in Selbstregie genommen werden kann (Kögler 1994: 168): »Ist ein Handlungscode gegeben sowie ein bestimmter Typ von Handlungen (die man nach ihrer Übereinstimmung oder Abweichung im Verhältnis zum Code bestimmen kann), so gibt es verschiedene Arten, moralisch »sich zu führen«, verschiedene Arten für das handelnde Individuum, nicht bloß als Agent, sondern als Moralsubjekt jener Aktion zu operieren.« (Foucault 1986a: 37)
Foucault versteht Ethik aufgrund dieser partiellen Autonomie als »reflektierte Praxis der Freiheit« (2005: 879). Ethisches Handeln ist eine Aktivität der SelbstFormung als moralisches Subjekt. Die kreative Seite und der teleologische Aspekt stehen im Vordergrund, denn es geht darum, Vorstellungen von sich selbst als moralisches Wesen zu entwickeln. Zudem wird damit auch Prozesshaftigkeit des ethischen Handelns betont. Es geht also weniger darum, Akteure als abgeschlossene Moralsubjekte zu verstehen als um die Arten und Weisen, wie sie darauf hinarbeiten, ein moralisches Selbst zu entwickeln. Foucaults Ethikbegriff eignet sich dazu, Arten und Weisen der Selbstfestlegung zu analysieren, die gerade dann bedeutsam werden, wenn es keine einheitlichen moralische Regeln mehr gibt, wie dies für den Bereich des Konsums in modernen Gesellschaften typisch zu sein scheint. Matthias Zick Varul betont,
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dass sich gerade Lebens- und Konsumstile als ein bedeutendes Feld anbieten, in dem die alltäglichen Bedürfnisse nach Moral gestillt werden können, die durch den Wegfall einer gemeinschaftlich geteilten Moral nun unbefriedigt sind. Denn da es in geldwirtschaftlich geprägten Gesellschaften zu einer Herauslösung der persönlichen Lebensführung aus zuvor ständischen Prinzipien kommt, entstehen wählbare – oder, da die Menge verfügbaren Geldes der praktischen Realisierung Grenzen setzt, zumindest als wählbar empfundene – Konsum- und Lebensstile: »Weil gesellschaftliche Moralansprüche verfallen, muß Moral individuell für die Beziehungen im Nahbereich neu konstruiert werden. Lebensstile - dem Ideal nach Selbstfestlegungen freier Wahl - werden deshalb moralisch relevant. Dass Lebensstile als frei wählbar gelten, ist eine Möglichkeitsbedingung für ihre Moralisierung. In vorgegebenen Lebensweisen kann immer nur die Konformität zur Vorgabe moralisch beurteilt werden, nie die Lebensweise selbst.« (Varul 2004: 19)
Wenn Lebensführung nicht mehr traditionell oder qua Geburtsstatus festgelegt ist und somit Spielräume der freien Entscheidung möglich werden, dann entsteht zunehmend die Notwendigkeit der Selbstfestlegung, da Sozialität über Erwartungen organisiert ist: »Ethik als zentraler Bestandteil von bewußtem Lebensstil ist, so scheint es, notwendig, um mit einer Freiheit umzugehen, in der die Lebensführung nicht mehr von außen vorgegeben wird; sie ist als »Praxis der Freiheit« vielleicht unabdingbar. Insofern ist Foucault (1987: 118) zuzustimmen, der auch ihren sozialen Aspekt betont: nämlich daß man in einer Situation der Freiheit erst durch eine ethische Lebensführung sozial handlungsfähig wird. Als Selbstfestlegungen unter Bedingungen der Freiheit sind Lebensstile ethische Unterfangen – als Grenzziehungen sind sie moralische Projekte.« (Varul 2004: 24)
Damit kann nun unter Rückgriff auf Varul (2004) eine – nicht immer ganz trennscharfe – Unterscheidung zwischen den Begriffen Moral und Ethik eingeführt werden: Von »Ethik« soll im Anschluss dann gesprochen werden, wenn es um Selbstfestlegungen der Lebensführung unter Bedingungen der Freiheit geht, also um die »Akzeptanz und Befolgung von Normen im eigenen Handeln« (ebd.).7 7
Foucault sieht zwar in Praktiken des Selbst durchaus ein Freiheitspotential, andererseits spielt Macht bei ihm eine zentrale Rolle. Zu jeder Zeit sind gesellschaftliche Modelle der Verhältnisse zu sich selbst entwickelt worden (Foucault 1986a: 41), die den Einzelnen dazu auffordern, sich in einer bestimmten Weise zu führen. Von Arbeitslosen wird etwa im Zuge neoliberaler Diskurse erwartet, sich selbst als Jobsuchende zu verstehen, die aktiv dafür Verantwortung übernehmen, Arbeit zu finden,
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Von »Moral« soll in Anschluss an Bergmann und Luckmann (1999) sowie Luhmann (2008) dagegen dann gesprochen werden, wenn es um die Beurteilung des Verhaltens anderer geht.8 Dabei ist davon auszugehen, dass beide Komponenten etwa durch Qualifikationsmaßnahmen und kontinuierliche Bewerbungen auf dem Arbeitsmarkt (Suárez/Pascual 2007). Selbstverhältnisse werden also nicht völlig frei durch jeden Einzelnen entwickelt, sondern sind selbst eine Form, durch die gesellschaftliche Macht ausgeübt wird. Dies gilt auch für den marktvermittelten Konsum: «[Consumption] serves as a key arena in which people are made up as selves who can exercise freedom and responsibilities by exercising their capacities to choose, where these are understood to be a realization of the innate, private right to individual autonomy.« (Barnett et al. 2005b: 30). Zygmunt Bauman sieht das freie Individuum als soziale Konstruktion der modernen Gesellschaft, die ihre Mitglieder dazu erzieht, sich als frei wählende Konsumenten zu verstehen und sich verantwortlich für ihre Handlungen zu fühlen (1988: 6-7). Genau diese Erzeugung von Verantwortlichkeit kann als Form der Kontrolle verstanden werden, etwa wenn Menschen in ihrer Konsumentenrolle zunehmend dazu aufgerufen werden, sich (mit-)verantwortlich für allerlei gesellschaftliche Probleme wie etwa die Zerstörung der Umwelt zu fühlen. Damit wird eine vormals staatliche Aufgabe in individuelle Verantwortung übergeben. 8
Eine andere übliche Unterscheidung versteht Ethik als Teilgebiet des menschlichen Wissens, während Moral dessen Gegenstand ist. Ethik betrifft demzufolge philosophische Werke, in denen systematisch Vorstellungen bezüglich des moralisch Richtigen und Falschen entwickelt werden, Moral hingegen die gelebten Vorstellungen (Ossowska 1972: 16-17); Luhmann (2008) hat Ethik daher auch als »Reflexionstheorie der Moral« bezeichnet. Insofern wird eine Binnendifferenzierung eingeführt, wenn in dieser Arbeit innerhalb der gelebten Moral zwischen Moral und Ethik unterschieden wird. Jo Littler (2009) weist darauf hin, dass der Begriff Moral deutlich stärker mit negativen Konnotationen aufgeladen ist als der Begriff Ethik. Moralisieren birgt immer die Gefahr einer Eskalation im Streit (Luhmann 2008: 260), mit Moral wird oft auch eine gewisse Rigidität verbunden. Ethik hingegen wird als flexibleres Konzept verstanden, das offener für einen vielfältigen Gebrauch ist und neue Denkweisen über soziale Verantwortlichkeit, den Begriff des Guten und Handlungen erlaubt, mit denen Ungerechtigkeiten reduziert werden können (Littler 2009: 10-11). Ethik wird sozusagen als die gute Seite, Moral als die böse Seite ein und derselben Medaille verstanden. Gerade deshalb erscheint aber bedenklich, dass ein großer Teil der Literatur das Konzept des ›ethischen Konsums‹ anwendet, ohne auch die Moral des Konsums zu untersuchen, denn so entsteht eine etwas einseitige Sicht, die lediglich auf die guten Seiten abzielt. Die Momente, wenn persönliche Ethik in Moralisierung anderer umschlägt, scheinen bisher nur wenig untersucht. Eine umfassende soziologische Untersuchung von Konsummoral muss letztlich beide Konzepte im Blick haben und empirisch klä-
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eng zusammenhängen, denn jede Ethik tendiert zu moralischen Verallgemeinerungen, wie etwa in Lebensstilkämpfen zu beobachten ist, in denen »die je eigene Lebensführung gegen Regulierungen verteidigt wird und der für sie notwendige Zugang zu Ressourcen erstritten wird« (Varul 2004: 24). Das Verständnis von Ethik als Selbstfestlegung unter Bedingungen der Freiheit bedeutet, Ethik als bewussten Prozess der Selbstformung zu beschreiben (vgl. Quastel 2008: 28). Dieses Verständnis kommt gut in Reinhold Hedtkes Überlegungen zur Moral des Konsums zum Ausdruck: »Moralischer Konsum verlangt Distanzieren, Nachdenken, Beurteilen und dann erst Konsumieren. Moralische Konsumenten handeln distanziert, sie treffen freie, ethisch reflektierte Wahlentscheidungen.« (2005: 49). Das an Bourdieu anknüpfende Verständnis bringt Moral hingegen zunächst nicht mit Reflexivität in Verbindung. Bourdieu zufolge wirken verinnerlichte Dispositionen zunächst ungebremst; und es ist äußerst schwierig, diese Neigungen in Selbstregie zu nehmen, so dass echte reflexive Entscheidungen getroffen werden können: »Im Grunde kommt der Determinismus nur im Schutze der Unbewußtheit zum Tragen, unter geheimer Mittäterschaft des Unbewußten. [...] Das bedeutet, daß die Akteure eine Chance, überhaupt so etwas wie »Subjekte« zu werden, nur in dem Maße haben, wie sie das Verhältnis, in dem sie zu ihren Dispositionen stehen, bewußt beherrschen und wie sie wählen, ob sie sie »agieren« lassen oder im Gegenteil am Agieren hindern [...]. Aber diese Arbeit des Umgangs mit den eigenen Dispositionen ist nur um den Preis einer ständigen, systematischen Aufklärungsarbeit möglich. Unterbleibt eine Analyse dieser subtilen, über die Dispositionen wirkenden Determinierungen, macht man sich zum Komplizen des unbewußten Agierens der Dispositionen, das selber mit dem Determinismus Hand in Hand geht.« (Bourdieu/Wacquant 1996: 170-171)
Während der späte Foucault also durchaus Chancen sieht, über Praktiken des Selbst zumindest partielle ethische Autonomie zu erlangen, bleibt Bourdieu dieren, wie das Verhältnis von ethisch-reflexiven Praktiken der Ausgestaltung des Selbstverhältnisses und einer eher habitualisierten Moral zu bestimmen ist. Zudem gilt es zu berücksichtigen, dass auch persönliche Ethik leicht in Moralisierung anderer kippen kann (Varul 2004: 24). Als Leitbegriff wird in dieser Studie Moral genutzt. Wenn allgemein von Konsummoral die Rede ist, geht es um die gelebte Moral im umfassenden Sinn, darunter auch jene Selbstpraktiken, die im Foucault’schen Sinne als »ethisch« bezeichnet werden können. Im Zuge detaillierter Interpretationen wird dann von Ethik gesprochen, wenn es um mehr oder weniger reflektierte Selbstfestlegungen unter der Bedingung von Freiheit geht.
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ser Möglichkeit gegenüber skeptisch. Um diese gegenübergesetzten Positionen miteinander zu vereinen, halte ich Andrew Sayers (Sayer 2005b: 42ff.) modifiziertes Habituskonzept für geeignet. Sayer übernimmt zwar den Begriff der Disposition und weist darauf hin, dass Moral oft in spontanen – also nicht ethisch reflektierten – Reaktionen zum Ausdruck kommt. Gleichzeitig verweist er jedoch auch darauf, dass sich moralische Dispositionen nicht lediglich in Abhängigkeit von sozialen Kategorien und den mit ihnen verbundenen Interessen ausbilden, sondern oft genug auf vergangenen Reflexionen beruhen und somit in guten Gründen verankert sind (ebd.: 47). Sayers Verständnis weist damit eine Nähe zum Handlungskonzept auf, das Anthony Giddens in seinem Werk »Die Konstitution der Gesellschaft« darlegt (1984). Giddens weist darauf hin, dass ein Großteil der alltäglichen Praxis routinisiert abläuft. Routinen sind habitualisierte Handlungen, die wie selbstverständlich ablaufen. Ihre Basis ist das praktische Bewusstsein, das aus dem stillschweigenden Wissen der Akteure besteht, wie sie in sozialen Kontexten agieren, ohne dass sie dieses Wissen direkt explizieren können (ebd.: xxiii). Allerdings ist dieses Wissen über Rationalisierungen reflexiv zugänglich, etwa wenn Individuen gefragt werden, warum sie etwas getan haben (ebd.: 281), was aber noch keine Transformation von Routinen impliziert. In Anschluss an dieses Konzept lässt sich nun die konkretere Frage stellen, in welchen Situationen und durch welche Lebensereignisse Akteure überhaupt dazu kommen, über ihre moralischen Dispositionen und ihre moralisch relevanten Handlungsroutinen nachzudenken: Inwiefern kann eine solche Reflexivität Ausgangspunkt für eine Veränderung von Routinen sein oder gar zu einer systematischen Haltung führen, im Zuge dessen das eigene Konsumverhalten einer beständigen reflexiven Kontrolle unterworfen wird? Hier bieten die Theorien der reflexiven Modernisierung Anhaltspunkte: Während Reflexivität immer schon ein elementarer Bestandteil menschlichen Handelns war (Giddens 1984: 5), erhält sie in spätmodernen Gesellschaften eine neue Qualität, da nun »soziale Praktiken ständig im Hinblick auf einlaufende Informationen über ebendiese Praktiken überprüft und verbessert werden, so daß ihr Charakter grundlegend verändert wird« (1995: 54).9 Die Reflexivität der 9
Hinzuweisen ist hier auf den deutlichen Bruch zwischen Giddens’ früheren Werken (vgl. etwa 1984) und seinen Arbeiten zur reflexiven Modernisierung (2009 [1991]; 1995; 1996). Während in den früheren Werken noch eine deutliche Nähe zu Bourdieus Verständnis des Habitus feststellbar ist, verstellt die Konzentration auf das reflexive Projekt des Selbst in der Spätmoderne Giddens den Blick auf seine früheren Argumente bezüglich der partiellen Natur der Reflexivität, die Bedeutung des praktischen Bewusstseins sowie unbeabsichtiger Konsequenzen und ihren Beitrag zur Reproduktion der sozialen Bedingungen des Handelns (Adams 2006: 513).
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ständig neues Wissen produzierenden Gesellschaft schlägt sich auch im Selbst nieder, das zu einem reflexiven Projekt wird (Giddens 2009 [1991]: 32-34) und in moralischer Hinsicht mit der Aufgabe konfrontiert wird, moralisch rechtfertigbare Formen des Lebens zu kreieren, die die Selbstaktualisierung im Kontext globaler Verflechtungen fördern (Giddens 2009 [1991]: 215). Auch wenn Giddens hier ziemlich vage bleibt, suggerieren seine Ausführungen doch, dass alltägliche Entscheidungen an moralischer Tragweite gewinnen, da sie zunehmend Fragen des verantwortlichen Handelns gegenüber entfernten Anderen in einer globalisierten Welt betreffen. Insbesondere die kontinuierliche Konfrontation mit medial vermittelter Informationen über Lebensmittel und Ernährung ist dabei ein bedeutendes Instrument, durch das häufig althergebrachte Konventionen in Frage gestellt und Reflexivität ausgelöst werden kann (Halkier 2010). Eine weitere Quelle möglicher Denkanstöße sind persönliche Krisenerfahrungen, die mit neuen Lebenssituationen einhergehen (Giddens 1984: 61). Empirisch ist somit interessant, inwiefern neue Informationen und Erfahrungen Denkprozesse anregen, die konsummoralische Überzeugungen und damit zusammenhängende Praktiken potentiell transformieren können. Aus der Debatte um die Verortung der Moral innerhalb oder außerhalb der Subjekte lässt sich der Schluss ziehen, dass die Analyse von Moral soziologisch verkürzt wird, wenn sie sich lediglich auf die auf die ganze Person bezogene Kommunikation von Achtung und Missachtung beschränkt. Moralische Urteile, die mit dem Code gut/böse operieren und sich auf Verhaltensweisen beziehen, sollen daher im Folgenden nicht mit Beetz (2009) als Ausdruck psychischen Sinns verstanden werden, sondern als Manifestationen habitualisierter Moralüberzeugungen, die immer auch an die sozialen Bedingungen ihrer Entstehung gekoppelt sind und daher auch sozialer Sinn sind. Menschen können sich ihre Ethik nicht in atomistischer Weise selbst erschaffen, sondern müssen auf bereits in der sozialen Welt vorhandene Konzeptionen zurückgreifen. Dabei spielt sowohl eine Rolle, welche moralisch relevanten Erfahrungen eine Person in der Vergangenheit gemacht hat, als auch, welche Moralvorstellungen in seiner Umgebung vertreten werden.10 Wie gezeigt, findet ein solches Verständnis von Moral Rückendeckung in den Werken Pierre Bourdieus, des späten Michel Foucault und des frühen Anthony Giddens, wobei diese Autoren den Akteuren unterschiedlich große Möglichkeiten einräumen, ihr eigenes Verhalten reflexiv zu steuern. Für die Zwecke dieser Arbeit erscheint Andrew Sayers (2005b: 42ff.) Konzept moralischer Dispositionen besonders hilfreich, da es einerseits die Habitualisierung von Moral betont, andererseits Akteuren aber auch die Möglichkeit zu ethischer Reflexivität einräumt. Als empirische Frage ergibt sich daraus: 10 Ähnlich argumentiert Liebig (2007).
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durch welche Erfahrungen Reflexionen über die eigenen Dispositionen ausgelöst werden und inwiefern dadurch Versuche vorgenommen werden, das eigene Handeln gezielt in Selbstregie zu nehmen. Für eine soziologische Konzeption verinnerlichter Moral ist demnach auch kein Rückgriff auf die Forschungen zur Entwicklung moralischer Urteilskompetenzen nötig, wie sie im Zentrum der Entwicklungspsychologie stehen (vgl. z.B. Kohlberg 2010). Diese interessiert sich vor allem für die Zusammenhänge zwischen im Laufe des Lebens erworbenen kognitiven Kompetenzen und der Komplexität der zur Urteilsbegründung herangezogenen Begründungen. Eine Soziologie der Moral interessiert sich dagegen eher dafür, in Abhängigkeit von welchen Kontexten und sozial geprägten Erfahrungen Akteure ihre spezifischen moralischen Überzeugungen erwerben. 3.1.2 Die situative und zeitliche Variabilität von Moral Mit der Frage der Verortung von Moral gehen in der Regel auch Annahmen darüber einher, wie stark Moral zeitlich und nach situativem Kontext variiert. Dabei lässt sich tendenziell feststellen, dass Autoren, die Moral als Kommunikationsform verstehen, von einer größeren Variabilität ausgehen als diejenigen, die Moral als habituell verankert betrachten: Aus dem Fokus auf moralische Kommunikation ergibt sich der Schluss, dass Moral ein stark situationsabhängiges Phänomen ist, da die kommunizierte Moral je nach emotionaler Verstrickung der Kommunizierenden und dem jeweiligen Publikum unterschiedlich ausfallen kann (Bergmann/Luckmann 1999: 18). Diese Annahme ist plausibel und für den Bereich der Konsummoral auch empirisch belegt: So zeigt etwa Brown (2009) für bewusste Konsumenten, Aktivisten und Ladeninhaber in der Fair-TradeBewegung, dass moralische Überzeugungen bezüglich des richtigen oder falschen Konsumverhaltens nur in Situationen geäußert werden, in denen bekannt ist, dass alle Anwesenden ähnliche Meinungen vertreten. In wertheterogenen Gruppen wird es dagegen vermieden, Moral als Begründung für Produktkäufe zu thematisieren (ebd.: 864ff.). Stattdessen wird der Kauf von Produkten, denen ethische Qualitäten zugeschrieben werden, neu gerahmt und durch Hinweise auf Geschmack und Qualität begründet. So wird gezeigt, dass Akteure je nach Situation und Publikum unterschiedlich zu Moralisierung neigen. Allerdings berechtigt dies nicht zur Annahme, dass die von Brown untersuchten Akteure ihre Grundüberzeugungen zu den betreffenden Produkten und Konsumpraktiken ändern, wenn sie in verschiedenen sozialen Kontexten agieren. Angesichts des hohen Engagements der untersuchten Akteure für fairen Handel erscheint diese Annahme eher nicht plausibel.
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Eine hohe Dauerhaftigkeit von moralischen Werten postuliert insbesondere Ronald Inglehart (1998: 53-55). Er geht mit seiner Sozialisationshypothese davon aus, dass Wertprioritäten insbesondere durch die materiellen Bedingungen geprägt werden, denen Menschen in ihrer Kinder- und Jugendphase ausgesetzt sind. Im Erwachsenenalter bleiben die Überzeugungen allerdings weitgehend konstant. Inglehart bringt in Anlehnung an die Maslow’sche Bedürfnispyramide daher eine materialistische Begründung von Wertprioritäten vor. Vertreter kognitivistischer Moraltheorien wie etwa Raymond Boudon (2009; 1997) begründen die zeitliche Konstanz moralischer Überzeugungen dagegen durch die Verankerung von Moral in guten Gründen. Boudon spricht – ähnlich wie auch Habermas (Habermas 1996: 11) – moralischen Urteilen und Überzeugungen eine kognitive Dimension zu. Lernprozesse sind dieser Sicht nach nicht lediglich durch Nachahmen und praktisches Einüben ausgezeichnet, sondern stark durch eine Komponente des Begreifens und der Einsicht geprägt (Sayer 2005b: 28). Boudon zufolge ist es nur schwer möglich, sich einmal gewonnenen kognitiven Einsichten zu entziehen: Wer die Gründe für ein physisches Gesetz wie etwa die Schwerkraft verstanden hat, kann die Welt nicht mehr anders betrachten. Mit Einsichten in die Richtigkeit moralischer Prinzipien oder Institutionen verhält es sich letztlich nicht anders: Wer beispielsweise die Gründe kennengelernt habe, warum die Demokratie besser sei als andere Regierungssysteme, könne sich dieser Bewertung kaum mehr entziehen (Boudon 1997). Aus diesem Grund gehen die Kognitivisten von einer zeitlich ausgedehnten Konstanz von Moralüberzeugungen und -urteilen aus. Moralische Urteile müssen nur dann revidiert werden, wenn grundlegend neue Erkenntnisse über den in Frage stehenden Gegenstand erworben werden. Die kognitivistische Sicht auf Moral sollte dabei keineswegs so verstanden werden, dass sie Menschen als hoch reflektierte Wesen begreift, denen die Gründe für eine Vielzahl von moralischen Haltungen ständig präsent wären. Vielmehr sehen die Kognitivisten moralische Gefühle als eine verinnerlichte, ins Unbewusste abgesickerte Form kognitiv gelernter Begründungen: Sie stellen implizite Urteile dar und bilden als Warnsignale eine intuitive Erfahrungsbasis, anhand derer reflektierte Begründungen kontrolliert werden können (Habermas 2000: 39). Eine andere Auslegung der Frage nach der situativen Variabilität von Moral legen dagegen die Ansätze des amerikanischen Pragmatismus und des darauf basierenden symbolischen Interaktionismus nahe: Das bisherige Argument betraf die zeitliche Konstanz oder Variabilität verinnerlichter moralischer Grundüberzeugungen, die sich auf bestimmte Situationsklassen oder inhaltliche Problembereiche beziehen. Aus Sicht des Pragmatismus wird hier jedoch die Unterbestimmtheit von Situationen nicht genügend beachtet. Kreativität und Experimen-
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talität sind demnach elementare Bestandteile jeglicher menschlichen Handlung, da etablierte soziale Normen und bestehende individuelle Ziele nie alle Kontingenzen konkreter Situationen abdecken (Schubert 2009: 346-347). Der Pragmatismus legt ein Handlungsmodell zugrunde, nachdem Handeln von Gewohnheiten ausgeht, die auf überlieferten kulturellen Werten, sozialen Normen und etablierten subjektiven Überzeugungen basieren (vgl. Joas 1992: 190). Bewusst werden diese erst, wenn es durch eine Konfrontation mit äußeren Umständen zu Handlungsproblemen kommt: Daraufhin setzt eine Phase des kreativen Experimentierens ein, in der neue Deutungen geschaffen werden können, indem die situativen Umstände produktiv genutzt werden: »Jede Situation enthält nach Auffassung der Pragmatisten einen Horizont von Möglichkeiten, der in der Krise des Handelns neu erschlossen werden muss.« (Ebd.: 196) Schließlich müssen die neu gewonnenen Überzeugungen abschließend »gerechtfertigt und als sinnvoll ausgewiesen werden« (Schubert 2009: 349). Demzufolge kann kaum von einem fixierten Set an moralischen Wertüberzeugungen ausgegangen werden, denn »the actual situations in which we live are continually changing our values themselves« (Mead 1938: 460).11 Herbert Blumer sieht moralische Prinzipien und Ideen als Objekte, deren Beschaffenheit ebenso wie die physischer oder sozialer Objekte in den Bedeutungen besteht, die sie für Akteure haben. Dabei sind diese Bedeutungen nicht fixiert, sondern werden im Prozess des menschlichen Zusammenlebens »geschaffen, bestätigt, umgeformt und verworfen« (1975: 91). Konkrete moralische Urteile bilden sich demnach induktiv in Auseinandersetzung mit Handlungsproblemen; Moralüberzeugungen müssen kreativ an Alltagssituationen angepasst werden. Jedoch sollte die Position des Pragmatismus und 11 An anderer Stelle beschreibt Mead Moral als die Beurteilung von Verhalten aus der Perspektive des verallgemeinerten Anderen und – auf einer höheren Stufe – durch den universalisierten Anderen. Er beruft sich dabei auf den kategorischen Imperativ von Kant, sieht die Rationalität des Individuums aber nicht als vorsozial gegeben, sondern als sozial konstituiert an (Mead 1967 [1934]: 379). Dies spricht für eine Reduzierung der Kontingenz von Moralvorstellungen und führt in der Figur des universalisierten Anderen sogar zu einem objektiven ethischen Maßstab: Für Mead sind Handlungen dann als moralisch gut zu beurteilen, wenn erstens im Handeln Ziele präsent sind »which lead to the realization of the self as a social being« (ebd.: 385). Zweitens müssen im Handeln die Interessen aller Gesellschaftsmitglieder mitberücksichtigt werden (ebd.: 386). Die empirisch vorfindbaren Moralvorstellungen sind nach Mead allerdings dynamisch und werden transformiert, wenn Akteure im reflexiven Handeln die Gesellschaft, in der sie leben, gedanklich rekonstruieren: »But moral changes are those that take place through the action of the individual as such. He becomes the instrument, the means, of changing the old into a new order« (ebd.: 386-387).
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symbolischen Interaktionismus nicht so gelesen werden, dass Moral notwendigerweise situativ kontingent ist und ständig neu geschaffen werden muss.12 Denn schließlich wird davon ausgegangen, dass die Phase des kreativen Experimentierens nur dann ausgelöst wird, wenn neue Handlungsprobleme auftreten, während ansonsten Gewohnheitshandeln vorherrscht. Eine ähnliche Auffassung von Moral legen Praxistheorien (vgl. Reckwitz 2002) nahe. Bente Halkier (2010) beschäftigt sich mit Lebensmittelkonsum als einem Feld, in dem traditionelle Handlungsorientierungen durch Mediendiskurse zunehmend in Frage gestellt werden. Sie möchte herausarbeiten, wie Menschen mit dieser Anfechtung früherer Selbstverständlichkeiten umgehen. Normativität versteht sie dabei als »praktische Moral«, die sich auf Aspekte der praktischen Bewältigung eines ›guten‹ Konsumhandelns bezieht: »When normative doings and sayings in practices are performed, it means that the normative is constructed in the social processes and thereby not pre-formed by values, rules or structures.« (2010: 37) Halkier (2010: 37) bevorzugt den Begriff der Normativität gegenüber dem Begriff der Moral, da Ersterer in Bezug zu sozialen Normen steht, die die Handlungspraxis direkter und flexibler regulieren als abstrakte moralische Werte. In eine solche praktische Moral fließen demnach nicht nur Vorstellungen dessen ein, wie man in einer idealen Welt handeln sollte, sondern auch ein umfassendes Verständnis des komplexen Alltags mitsamt seinen vielfältigen, nicht immer leicht zu vereinbarenden Anforderungen sowie Zwängen, Gelegenheiten, Zeitstrukturen usw. Um die Bedeutung von Moral beim Konsum von Lebensmitteln umfassend zu beschreiben, reicht es demzufolge nicht aus, die abstrakten Werte und Idealvorstellungen des ›guten‹ Konsumierens herauszuarbeiten. Vielmehr muss auch gezeigt werden, wie diese Vorstellungen im Alltag in eine praktisch bewältigbare Form gegossen werden. Der offensichtliche Kontrast zwischen den Positionen der Kognitivisten und der Pragmatisten und der Praxistheorie rückt die Frage ins Blickfeld, ob die beiden Ansätze nicht über unterschiedliche Dinge sprechen: Wenn die Kognitivisten über Moral reden, so geht es tendenziell um relativ abstrakte moralische Urteile, die rational begründet werden können und in Form von Zustimmung zu Aussagen messbar sind (vgl. etwa Boudon 2009: 43). Dagegen geht es bei den symbolischen Interaktionisten und Praxistheoretikern um die komplexe und situativ flexible Moral des Alltags, die durch die Konfrontation mit praktischen Handlungserfordernissen neu geformt wird. Für eine Untersuchung der moralischen Vorstellungen, die sich auf alltägliche Praktiken des Konsums von Le12 Eine derartige Lesart des symbolischen Interaktionismus findet sich bei Liebig (2007: 45).
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bensmitteln beziehen, erweisen sich die Konzepte der letzteren Theoriestränge als naheliegend. Konsummoral ist nicht als situativ kontingent aufzufassen, denn sie beruht auf habituellen Dispositionen, die einen gewissen Grad an Trägheit aufweisen und immer wieder ähnliche Urteile hervorbringen. Gleichzeitig wird sie beständig durch die Kontingenzen der Konsumpraxis herausgefordert und erfährt so potentielle Veränderungen. Für die empirische Untersuchung lässt sich aus diesem Gegensatz die Frage ableiten, inwiefern Spannungen zwischen abstrakten moralischen Idealen und dem konkreten Handeln im Alltag sichtbar werden und auf welche Arten und Weisen die Akteure mit diesen Spannungen umgehen. 3.1.3 Moralische Wahrheit An dieser Stelle ist es angebracht, noch einmal etwas systematischer aufzuzeigen, worin die genuin soziologische Perspektive auf Moral besteht, die im Rahmen dieser Arbeit verfolgt wird. Grob zusammenfassend kann die Aufgabe einer Soziologie der Moral beschrieben werden als die soziologische Untersuchung der Natur, der Ursachen und der Konsequenzen menschlicher Ideen über das Gute und Rechte (Abend 2008: 87), wobei insbesondere betrachtet wird, wie soziale Prozesse zur Formierung dieser Ideen in ganzen Gesellschaften oder einzelnen sozialen Gruppen beitragen (Caruana 2007: 289). Entscheidend ist die Annahme, dass sich Moral immer von sozialen Strukturen, kulturellen Überlieferungen und individuellen Sozialisationserfahrungen her verstehen lässt. Gegenüber der Moralphilosophie, die aus einer 1.-Person-Teilnehmerperspektive heraus argumentiert, lässt sich die soziologische Perspektive durch die Einnahme einer 3.Person-Beobachterrolle in Bezug auf Moral abgrenzen (NunnerWinkler/Edelstein 2000: 11). Angesichts der empirisch beobachtbaren Vielfalt von Moralvorstellungen ist in der Sozialwissenschaft die These des »deskriptiven Relativismus« Konsens, der zufolge verschiedene Personen und Gruppen miteinander konfligierende moralische Überzeugungen haben können (Abend 2008: 92). Darüber hinaus stellt sich die schwierigere Frage, wie sich soziologische Studien über Moral zu den Problemen moralischer Wahrheit und der Werturteilsfreiheit positionieren sollten. Die klassische soziologische Antwort auf diese Fragen hat Max Weber formuliert: Moralische Urteile sind nicht wahrheitsfähig. Sie können zwar für wahr gehalten werden, aber nicht objektiv wahr sein, da sie lediglich Ergebnis sozialer Praktiken und damit sozial konstruiert sind (Abend 2008: 88). Darüber hinaus sollte sich die Soziologie Werturteilen möglichst enthalten. Wenn dies auch nicht für alle Aspekte des Forschungsprozesses wie etwa die Auswahl von Methodologie und Fragestellung möglich ist,
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so sollten die Wertüberzeugungen des Forschers doch keinen Einfluss auf die Feststellung empirischer Tatsachen und die Auswahl von Theorien zur Erklärung dieser Tatsachen haben (Weber 1968 [1922]). Diese neutrale Haltung wird aber keineswegs von allen Soziologen geteilt. Vielmehr plädieren einige Soziologen dafür, dass Sozialwissenschaft und Philosophie gegenseitig stärker voneinander lernen sollten, wenn es um Fragen der Moral geht. Beklagt wird zum einen der soziologische Reduktionismus, der die moralischen Urteile von sozialen Akteuren zu oft auf Machtinteressen zurückführt (Sayer 2005b: 6-7) und zu wenig als an rechtfertigbaren Prinzipien orientiertes Abwägen (Nunner-Winkler/Edelstein 2000: 11) versteht. Zum anderen wird die soziologische Neutralität angesichts offensichtlicher Ungerechtigkeiten selbst als untugendhaft dargestellt (vgl. etwa Shafer-Landau 2003: 1-2). Der amerikanische Soziologe Gabriel Abend (2008) verteidigt dagegen das Projekt einer Soziologie der Moral, kritisiert aber, dass die Soziologie die seit Weber erfolgten Entwicklungen (meta-)ethischer Theorien nur unzureichend rezipiert habe, die die beiden genannten Postulate ernsthaft in Frage stellen. So existiert mit dem moralischen Realismus mittlerweile eine bedeutende Strömung in der Metaethik, die die Position vertritt, dass eine moralische Realität existiere, die unabhängig davon bestehe, ob irgendein Akteur an sie glaube, und die nicht konstruiert werde, sondern nur entdeckt werden könne (Shafer-Landau 2003: 13-18). Moralische Überzeugungen sind demnach ›wahr‹, wenn sie objektiven moralischen Fakten entsprechen. Auch das Postulat der Werturteilsfreiheit müsse hinterfragt werden, da bereits die Sprache, Konzepte, Kategorien und Definitionen, durch die wir die empirische Welt begreifen, theorie- und wertbeladen sind (Abend 2008: 113). Die Soziologie sollte Abend zufolge diese Debatten kennen, um ihre Positionierung nicht auf Basis veralteter und kaum haltbarer Standpunkte zu vertreten. Der philosophischen Position des moralischen Realismus am nächsten kommen in der Soziologie die bereits eingeführten kognitivistischen Ansätze. Boudon und Habermas gehen davon aus, dass sich die Richtigkeit moralischer Urteile prinzipiell auf dem gleichen Weg herausstellt wie die Wahrheit deskriptiver Aussagen, nämlich durch starke Begründungen (Boudon 1997: 11) bzw. diskursive Argumentation (Habermas 2000: 45).13 Moralisches Wissen beruht demnach auf einem Lernprozess, und diese Vorstellung eines Lernprozesses erlaube es, die historische Kontingenz von moralischen Überzeugungen und ihre univer13 Der Unterschied zum philosophischen moralischen Realismus liegt darin, dass hier die universelle Geltung moralischer Urteile als Resultat sozialer Prozesse diskursiver Argumentation gesehen wird und Geltung nicht unabhängig von diesen Prozessen denkbar ist.
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selle Geltung zusammenzudenken (Nunner-Winkler/Edelstein 2000: 12). Ein mögliches Ziel einer Kooperation zwischen Philosophen und Sozialwissenschaftlern wäre demnach »universell gültige von legitimerweise kulturspezifisch und individuell variierenden Aspekten von Moral zu unterscheiden« (ebd.). 14 Allerdings ist fraglich, ob mit einem solchen durchaus ehrenwerten Projekt für eine soziologische Studie von Alltagsmoral viel gewonnen wäre. Von der Existenz universell gültiger moralischer Wahrheiten auszugehen, wirft für die Beobachtung empirischer Moralüberzeugungen schwierige Fragen auf. Zunächst impliziert eine solche Perspektive eine Änderung der soziologischen Fragestellung, die dann lauten müsste, aufgrund welcher Erfahrungen Akteure zu ihren objektiv mehr oder weniger ›richtigen‹ Moralauffassungen kommen (Abend 2008: 110). Im Anschluss daran stellt sich die Frage, auf welcher Basis ein sozialwissenschaftlicher Beobachter davon ausgehen kann, die für seinen Gegenstandsbereich relevanten moralischen Fakten zu kennen, um die empirisch beobachtbaren Moralüberzeugungen daran messen zu können. Es ist fraglich, ob der Rückgriff auf ein Set philosophisch gut begründeter ethischer Handlungsrichtlinien (vgl. z.B. Coff 2006) diese Lücke schließen kann, da vorab die konkreten Umstände und Restriktionen des Alltags kaum berücksichtigt werden können, denen die Beforschten ausgesetzt sind. Zudem würde der Wissenschaft so ein privilegierter Zugang zur moralischen Realität zugeschrieben, womit der Standpunkt des Forschers tendenziell verabsolutiert wird. Dies erscheint nicht mit aktuellen wissenschaftstheoretischen Prinzipien vereinbar, da die eigene Perspektivität nicht ausgeschaltet werden kann (Bohnsack et al. 2007: 10; vgl. auch Kap. 4). Darüber hinaus muss danach gefragt werden, auf welcher gesellschaftlichen Ebene etwaige moralische Fakten überhaupt zu verorten wären. So ist in Betracht zu ziehen, dass Zustände, die objektiv als grob ungerecht charakterisiert werden können, nicht dem Handeln Einzelner zurechenbar sind, sondern aus komplexen Handlungsgeflechten resultieren, die in arbeitsteilig organisierten 14 Explizit oder implizit liegt derartigen Argumentationen meist ein Bezug auf die Einsicht zugrunde, dass Menschen von Natur aus verletzlich sind und sowohl leiden als auch aufblühen können (vgl. z.B. Sayer 2005a: 950). Für die Philosophin Mary Midgley markiert Moral in erster Linie die Ernsthaftigkeit von Angelegenheiten, die damit zu tun haben, was für einen Menschen von Natur aus wichtig ist. Damit wird die Grenze der kulturellen Konstruierbarkeit des ›Guten‹ und ›Schlechten‹ herausgestellt, so könne z.B. in keiner Kultur totale Einsamkeit oder totale Immobilität als ›gut‹ gelten (Midgley 1972: 222). Die Soziologie sieht dagegen kaum inhaltliche Einschränkungen, welche Überzeugungen eine moralische Dimension annehmen können: »At a substantive level, any practice or belief somehow related to, say, how one ought to live could be legitimately called a moral one« (Abend 2008: 117-118).
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Gesellschaften an der Tagesordnung sind (vgl. Bauman 1988: 50). Eine normative Position – deren Entwicklung durchaus lohnenswert erscheint – müsste daher gegebenenfalls nicht danach fragen, wie nun ein moralisch ›richtiges‹ Konsumverhalten auf individueller Ebene aussieht, sondern wie nicht wünschenswerte Zustände, die aus dem in ein komplexes gesellschaftliches Umfeld eingebetteten Konsumverhalten resultieren, vermindert werden können, ohne einzelne Gruppen zu moralisieren, deren Überzeugungen von vermeintlichen moralischen Fakten abweichen. Aus normativer Sicht besonders interessant erscheint dann die Analyse möglicher Unterschiede zwischen idealisierten Vorstellungen des ›guten‹ und ›richtigen‹ Konsums und der praktischen Alltagsmoral, da so gefragt werden kann, welche Gegebenheiten Menschen daran hindern, einen ›guten‹ Konsum zu realisieren. Bestimmte Moralvorstellungen als objektiv moralisch ›richtig‹ oder ›falsch‹ zu betrachten, beinhaltet daher die Gefahr, kollektive und politische Ansätze eher zu erschweren. Zu guter Letzt ist noch darauf hinzuweisen, dass sich auch innerhalb der Philosophie nicht ansatzweise ein Konsens über die Frage der Existenz moralischer Wahrheiten herausgebildet hat. Angesichts der bestehenden Unsicherheiten ist es daher für die Soziologie ratsam, eine agnostische Haltung bezüglich der Frage nach moralischer Wahrheit anzunehmen und nach wie vor so vorzugehen, als wäre Moral nicht wahrheitsfähig (Abend 2008: 107). Darüber hinaus argumentiert Abend, dass aus der Feststellung, dass eine Soziologie der Moral nicht vollkommen wertfrei vorgehen kann, keineswegs folgt, dass sie deshalb zu einer normativen Ethik werden muss (ebd.: 117). Kerninteresse der Soziologie bleiben die Rekonstruktion dessen, was Menschen als moralische Angelegenheit verstehen, sowie die Erforschung der sozialen Hintergründe dieser Überzeugungen, ohne die Inhalte dieser Moralitäten zu beurteilen. Diese Position ist nicht dahingehend zu verstehen, dass der Forscher als Person einer moralischen Beliebigkeit das Wort redet. Derartige Beurteilungen sollen lediglich aus der soziologischen Analyse selbst herausgehalten werden. Möglich und sinnvoll erscheint jedoch eine empirische Wendung der Debatte, indem danach gefragt wird, ob die Beforschten selbst von der Existenz objektiver moralischer Wahrheiten ausgehen oder im Gegenteil relativistische Ansichten vertreten. Forsyth (1980; 1992) unterscheidet vier Typen persönlicher Moralphilosophien durch Ausprägungen auf den beiden Dimensionen Idealismus und Relativismus. Idealistische Positionen sind nach Forsyth dadurch gekennzeichnet, dass grundsätzlich vermieden werden sollte, anderen Leid oder Schaden zuzufügen. Weniger idealistische Positionen gehen dagegen davon aus, dass Leid zu verursachen manchmal notwendig ist, um Gutes zu produzieren. Ein hoher Relativismus ist dadurch gekennzeichnet, dass die Berücksichtigung situative Umstände bei der moralischen Bewer-
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tung von Handlungen höher als ethische Prinzipien eingestuft werden. Personen mit geringer relativistischer Ausprägung argumentieren hingegen, dass moralisches Handeln eine Orientierung an Prinzipien erfordert. Forsyth selbst setzt diese Typologie in quantitativen Studien ein, in denen die Probanden mit vorgeformten moralischen Aussagen konfrontiert werden. Auf Basis offener, qualitativer Erhebungen ist es sicher nicht möglich, Befragte eindeutig den Typen zuzuordnen, die Typologie kann aber zumindest als heuristisches Suchraster dienen, etwa um zu bestimmen, ob sich in Aussagen der Beforschten eine idealistische Orientierung dokumentiert. Die Kritiker der hier vorgebrachten Perspektive beklagen, dass der soziologische Blick moralisch urteilende Akteure als Objekte betrachtet, deren Funktionsweise analysiert wird (Nunner-Winkler/Edelstein 2000: 11). Typisch für diesen soziologischen Blick sind etwa die Positionen von Pierre Bourdieu (1987: 520) und Michèle Lamont (1992). Sie beschreiben Moral als Ressource in Klassenkämpfen, die – ähnlich wie kulturelle und ökonomische Ressourcen – eingesetzt wird, um sich von anderen abzugrenzen und die eigene soziale Position zu sichern. Unterschiedliche Moralvorstellungen bilden sich demnach entlang von Klassengrenzen, die stark durch ökonomische und kulturelle Teilungen geprägt sind. Dagegen plädieren von der Moralphilosophie beeinflusste Kritiker, dass den Akteuren die grundlegende Möglichkeit zu Reflexivität, Hingabe, Begeisterungsfähigkeit und Wertrationalität zugestanden werden sollte (Sayer 2005b: 4250), die zunächst unabhängig von der Klassenzugehörigkeit seien. Sayer weist auf den besonderen Charakter moralischer Urteile hin, der sie von anderen Dimensionen, wie etwa Ästhetik, unterscheidet: • • •
Bei Moral gehe es erstens darum, wie Menschen einander behandeln, sie sei folgenschwerer als Ästhetik und daher stärker sozial reguliert. Zweitens wiesen Werte eine Tendenz zur Generalisierung auf. Und drittens produziere die Reziprozität sozialer Beziehungen mit anderen auch eine Tendenz zu Konsistenz, Integrität und Fairness, die zwar oft durch partikulare Interessen und Machtunterschiede durchbrochen, aber dennoch hoch geschätzt würden.
Aus diesem Grund sei davon auszugehen, dass moralische Dispositionen weit weniger stark als ästhetische über die Sozialstruktur hinweg variieren (Sayer 2005b: 47ff.). Sayers Perspektive konfligiert jedoch nicht notwendigerweise mit einem soziologischen Blick auf Moral. So kann durchaus die Möglichkeit in Betracht gezogen werden, dass – in Übereinstimmung mit der kognitivistischen Sichtweise – Akteure in ihren Urteilen auf rechtfertigbare Prinzipien zurückgrei-
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fen und somit gute Gründe für ihre Urteile haben. Welche Prinzipien dies aber sind, kann wiederum abhängig sein von den Erfahrungen, die Menschen als Angehörige bestimmter sozialer Kategorien gemacht haben. Die Varianz der Moralurteile ergäbe sich dann nicht – wie bei Bourdieu – aus den Macht- und Anerkennungsinteressen der Akteure, sondern aus unterschiedlichen Erfahrungen, aus denen heraus möglicherweise auch jeweils andere Probleme als dringlich erlebt werden. Dies ist wiederum vereinbar mit der Perspektive des Pragmatismus und des symbolischen Interaktionismus. 3.1.4 Die Betrachtung von Moral auf der lebensweltlichen Ebene Nachdem sowohl die Verortung der Moral innerhalb und außerhalb der Akteure, die Frage der zeitlichen und situativen Varianz und sowie der Existenz objektiver moralischer Wahrheiten diskutiert wurden, ist nun als letzte grundlegende Frage zu klären, auf welcher gesellschaftlichen Ebene Moral untersucht wird. In der Soziologie wird häufig differenziert zwischen der gesamtgesellschaftlichen Makroebene, der Mikroebene lebensweltlicher Interaktion sowie der Mesoebene der Organisationen, Berufsgruppen oder Milieus. Diese Unterscheidungen sind rein analytischer Natur, aber es lässt sich festhalten, dass sich Gesellschaftstheorie im Kern mit der Frage beschäftigt, wie komplexe gesellschaftliche Formationen strukturiert sind. Dagegen beschäftigen sich Handlungstheorien mit dem sinnhaften Handeln von Individuen und Gruppen in sozialen Interaktionen (Miebach 2010). Die vorliegende Studie versteht sich in erster Linie als interaktionstheoretisch, sie zielt darauf ab, Aussagen über Konsummoral auf der Ebene der Lebens- und Alltagswelt zu generieren. Dieser Zugang erscheint fruchtbar und folgerichtig, da die bisherige Diskussion bereits gezeigt hat, wie stark Moral selbst in routinisierte Praktiken ›eingeschrieben‹ und daher in den Strukturen des Alltags gegenwärtig ist. Dennoch soll die Gesellschaftstheorie hier nicht gleich beiseite geschoben werden, denn auch aus ihr lassen sich wichtige Fragen für die Analyse der praktischen Lebensführung gewinnen. Ich konzentriere mich dabei insbesondere auf Differenzierungstheorien, stelle deren Beiträge zur Rolle von Moral in modernen Gesellschaften dar und frage nach den Implikationen dieser Debatte für die vorliegende Arbeit. Schließlich wird zu klären sein, wie ein adäquates interaktionistisches Verständnis aussehen kann. Differenzierungstheorien beschäftigen sich damit, die Rolle von Moral im gesamtgesellschaftlichen Gefüge zu bestimmen, wobei im Wesentlichen zwei Diagnosen zu unterscheiden sind: Für Emile Durkheim kommt Moral eine zentrale Funktion bei der Integration moderner Gesellschaften zu. Durkheim schreibt der Moral einen grundlegend kollektiven Charakter zu: Moralische Regeln sind
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von der Gesellschaft gemacht, moralisches Handeln zielt immer auf ein Kollektivinteresse ab (1973), und die Funktion der Moral besteht darin, den Einzelnen zum »integrierten Teil eines Ganzen zu machen« (1992 [1977]: 468). Da sich in arbeitsteiligen Gesellschaften gemeinschaftliche Lebenserfahrungen auflösen, ändert sich jedoch der Charakter der Moral. Während sie in nicht arbeitsteiligen Gesellschaften aus Ähnlichkeiten erwächst (Durkheim 1992 [1977]: 181), bilden in arbeitsteiligen Gesellschaften Unterschiede ihre Grundlage. In Zusammenhang damit wird Moral zu einem abstrakten Kult des Individuums, der vor allem allgemeine Pflichten gegenüber anderen Menschen und sich selbst umfasst. Durkheim versteht Moral in differenzierten Gesellschaften als organische Solidarität (vgl. Luhmann 2008: 12), die den Einzelnen nicht direkt an die Gesamtgesellschaft bindet, sondern ihn indirekt über sein Milieu integriert (Durkheim 1992 [1977]: 181). An diese Argumentation knüpft Talcott Parsons an, dem zufolge der Zusammenhalt eines sozialen Systems unter Bedingungen zunehmender Differenzierung durch Arbeitsteilung sichergestellt werden muss. Dies geschieht einerseits durch eine Einbeziehung neuer Elemente in den normativen Rahmen der Gesellschaft, andererseits durch Werteverallgemeinerung (Parsons 1972: 40-42). In diesem Prozess werden moralische Werte immer abstrakter, so dass »sie das soziale Handeln ohne Rückgriff auf partikularistische Verbote wirksam regeln« (ebd.: 26). Die Funktion der nun allgemeineren Grundlagen der normativen Kultur ist es, die sich im Zuge der Arbeitsteilung ausdifferenzierenden Interessenlagen wieder »unter einen Hut zu bringen«. Für Parsons sichern moralische Werte – neben ästhetischen, kognitiven oder religiösen Werten – somit die Erhaltung der normativen Struktur des Systems moderner Gesellschaften. Moralischen Werten kommt nach Parsons selbst unter Bedingungen einer sich differenzierenden Gesellschaft eine wichtige Rolle zu, da sie eine notwendige Ressource sind, auf die Mitglieder eines Kollektivs zurückgreifen müssen, um sich auf Normen zu einigen, die ihr Zusammenleben regeln (vgl. Schneider 2002a: 152-153). Dagegen argumentieren andere klassische Theoretiker, dass Moral mit der Ausdifferenzierung der modernen Gesellschaft ihre integrative bzw. strukturerhaltende Rolle unweigerlich verliert. Für Max Weber führt der mit dem Entstehen des Kapitalismus in Gang gesetzte Rationalisierungsprozess zu einer Verdrängung der Religion als zentraler Wertsphäre »aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale« (Weber 1920: 564). Religion gerät in zunehmenden Konflikt mit den sich ausdifferenzierenden Wertsphären der Ökonomie, Politik, Ästhetik, Erotik und Wissenschaft, die je ihrer Eigengesetzlichkeit und eigenen Wertmaßstäben folgen (ebd.: 542ff.). Folge der Rationalisierung ist für Weber nicht nur ein unüberbrückbarer »Antagonismus verschiedener Werte und letzter Stellung-
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nahmen zu Fragen der Welt, der Gesellschaft und des einzelnen Lebens« (Müller 1992: 54), sondern auch der Verlust eines Maßstabs, an dem der ethische Wert rationalen Handelns gemessen werden kann (Weber 1920: 552). Eine weitaus radikalere Differenzierungsthese vertritt Niklas Luhmann, der in einer Zuspitzung des Parson’schen Strukturfunktionalismus von selbstreferentiell operierenden Funktionssystemen spricht. Luhmann weist darauf hin, dass die Funktionssysteme einer differenzierten Gesellschaft gerade nicht über Moral gesteuert werden (Luhmann 2008 [1993]: 167). Die Codes der Funktionssysteme decken sich nicht mit dem moralischen Code von ›gut‹ und ›böse‹. Eine Zuordnung der moralischen Unterscheidung zur Dichotomie Regierung/Opposition etwa wäre undemokratisch, da das Prinzip der Wählbarkeit damit negiert würde (Luhmann 2008 [1997]: 187). Ein Funktionssystem, das mit dem Moralcode operiert, gibt es jedoch nicht. Luhmann vermutet die Gründe dafür in der Ausdifferenzierung des Rechtssystems, das bereits »hinreichende Orientierung an normativen Erwartungen und hinreichende Sicherheit in Bezug auf ihre Durchsetzbarkeit« (ebd.: 185) zu erzeugen vermag. Resultat der funktionalen Differenzierung sind damit der Verlust des institutionellen und bindenden Charakters der Moral (Bergmann/Luckmann 1999) sowie eine Pluralisierung der Moralvorstellungen, die gerade für den Bereich des Konsums kennzeichnend ist.15 Kai-Uwe Hellmann beschreibt die Vielfalt von Konsummoralitäten als Folge der funktionalen Ausdifferenzierung von Recht und Wirtschaft. Die moderne Marktwirtschaft lasse sich als Kontingenzkultur beschreiben, in der »Moral als universal geltendes Verhaltensregelwerk chancenlos bleibt, weil die Kontingenz der Verhältnisse dem strukturell zuwiderläuft« (2008: 272). Solange rechtliche Grenzen nicht überschritten werden, kann daher jedes Konsumverhalten moralisch gerechtfertigt werden. Gemeinsamkeiten zwischen den genannten gesellschaftstheoretischen Entwürfen liegen in der Diagnose der sozialen Differenzierung, des Bedeutungsverlusts von Religion sowie einer Pluralisierung von Werten und moralischen Regeln in der modernen Gesellschaft.16 Ein Dissens findet sich hingegen in Bezug 15 Die These der De-Institutionalisierung der Moral in modernen Gesellschaften wird in dieser Arbeit nicht weiter verfolgt. Es sei darauf hingewiesen, dass im soziologischen Diskurs gegenüber dieser These auch Skepsis geäußert wird (vgl. Rosa/Corsten 2005; Liebig 2007). Daran anschließend kann vorgebracht werden, dass Konsummoral nicht nur in lebensweltlichen Diskursen kommuniziert wird, sondern auch in medialen oder politischen Diskursen eine Rolle spielt, man denke hier nur an staatliche Ernährungspolitik (vgl. z.B. Coveney 2006). Eine gesellschaftstheoretische Analyse von Konsummoral erscheint daher durchaus möglich und interessant. 16 Für den Vergleich zwischen Weber und Durkheim vgl. Müller (1992: 56).
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auf die Frage, ob es oberhalb der Ebene pluralisierter Lebensentwürfe einen Wertekonsens gibt, dem eine den gesellschaftlichen Zusammenhalt stabilisierende Funktion zukommt oder nicht.17 Was kann dieser Debatte nun aber für die Analyse der praktischen Lebensführung entnommen werden? Einerseits ergibt sich aus der Feststellung, dass funktionale Differenzierung dazu tendiert, eine Pluralität an Moralvorstellungen hervorzubringen, die empirische Frage, wie diese Pluralität inhaltlich und in ihrer Form beschaffen ist. Sind wir etwa mit einer ganz und gar unübersichtlichen Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungen konfrontiert, so dass Moral letztlich zu einer individuellen Angelegenheit wird? Oder gibt es vielmehr eine begrenzte Anzahl inhaltlich voneinander unterscheidbarer Ideen des ›guten‹ Konsums? Und wenn Letzteres der Fall ist, wie können diese Ideen inhaltlich beschrieben werden? Andererseits ergibt sich die Frage, inwiefern es ungeachtet aller Diversität bestimmte moralische Universalien gibt bzw. moralische Aspekte, bezüglich derer es einen gesellschaftlichen Konsens gibt. Durkheims Feststellung, dass es in modernen Gesellschaften zu einem »Kult des Individuums« kommt, würde etwa auf einen Konsens hindeuten, der die Diversität an Vorstellungen unterfüttert oder sie vielmehr erst hervorbringt. Während auf der Ebene gesellschaftlicher Funktionssysteme die Wirkung von Moral durchaus strittig ist, so scheint die Lebenswelt der eigentliche Ort zu sein, an dem Moral sozial relevant wird. Andrew Sayer argumentiert, dass Menschen durch und durch normativ wertende Wesen sind, deren wichtigste Fragen und Anliegen sich darum drehen, was an den alltäglichen Geschehnissen gut oder schlecht ist, wie sie von anderen behandelt werden und wie man selbst richtig handelt (Sayer 2011: 1). Eine moralische Dimension ist für Sayer unumgehbar in jedes Handeln und jede Interaktion eingeschrieben, weil soziale Geschehnisse das Wohlbefinden sowohl im Positiven wie im Negativen beeinflussen und die Menschen daher im Innersten berühren (vgl. 2005b: 9-10). Moral ist in der unmittelbar gegebenen Lebenswelt wohl daher so bedeutsam, weil moralische Urteile Menschen emotional schwer treffen können. Dies gilt besonders, wenn die Urteile von anderen kommen und somit das Streben nach Anerkennung betroffen ist. Aber auch im Verhältnis eines Individuums zu sich selbst können moralische Urteile eine wichtige Rolle spielen und sein Wohlbefinden beeinflussen. Illustrieren lässt sich dies z.B. an der gebräuchlichen Redewendung, dass jemand »hart gegen sich selbst« sei, deren Bedeutung sich so interpretieren lässt, dass
17 Auch wenn für Parsons nicht Integration die Funktion der Moral ist, so bilden moralische Werte doch zumindest die Basis für die Legitimierung und Erhaltung konkreter Normen, deren Funktion ihrerseits die Integration des sozialen Systems ist (vgl. Parsons 1972: 20).
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eine Person sein eigenes Handeln als moralisch schlecht beurteilt und unter diesem Urteil dann leiden muss. Den Begriff der Lebenswelt hat insbesondere Alfred Schütz geprägt, der sie als selbstverständlichen und fraglos hingenommenen Bereich der Wirklichkeit beschreibt: »Sie ist der Wirklichkeitsbereich, an der [sic!] der Mensch in unausweichlicher, regelmäßiger Wiederkehr teilnimmt. Die alltägliche Lebenswelt ist die Wirklichkeitsregion, in die der Mensch eingreifen und die er verändern kann, indem er in ihr durch die Vermittlung seines Leibes wirkt. Zugleich beschränken die in diesem Bereich vorfindlichen Gegenständlichkeiten und Ereignisse, einschließlich des Handelns und der Handlungsergebnisse anderer Menschen, seine freien Handlungsmöglichkeiten. [...] Die Lebenswelt des Alltags ist folglich die vornehmliche und ausgezeichnete Wirklichkeit des Menschen.« (Schütz/ Luckmann 1975: 23)
Die Lebenswelt ist für Schütz stets intersubjektiv und kulturell geprägt: Menschen werden in eine historisch gegebene Kulturwelt hineingeboren, die ihnen als Bezugsrahmen dient, zudem müssen sie davon ausgehen, dass andere Menschen diese Welt in gleicher Weise erleben wie sie selbst. Die Analyse der Lebenswelt setzt daher an dem an, was die Akteure als selbstverständliche Wirklichkeit begreifen, sie beschäftigt sich mit einer Rekonstruktion dieser Wirklichkeit. Jürgen Habermas baut auf dem Schütz’schen Konzept der Lebenswelt auf und begreift die Lebenswelt als einen Vorrat intersubjektiv geteilten und meist als selbstverständlich vorausgesetzten Wissens (1985b: 182ff.). Dieser Wissensvorrat bildet einen Horizont für konkrete Situationen, in denen stets nur ein geringer Ausschnitt des Lebenswelt aktuell relevant ist (ebd.: 187). Aktuelle Äußerungen erhalten ihren Sinn immer in diesem Kontext der intuitiv vertrauten, kulturell vorinterpretierten Wirklichkeit (ebd.: 199-201). Kulturelle Deutungsschemata, normative Ordnungen und Persönlichkeitsstrukturen sind als Komponenten der Lebenswelt jedoch nicht stabil, sondern sie müssen sich kontininuierlich reproduzieren, um fortzubestehen (ebd.: 208). Auch wenn hier nicht der Raum ist, auf Habermas’ Kernthema des kommunikativen Handelns einzugehen, so verdeutlicht sein Begriff der Lebenswelt, dass Moral – ebenso wie andere kulturelle Orientierungsmuster – »sozial institutionalisiert und von den handelnden Personen sozialisatorisch internalisiert« (Schneider 2002b: 212) wird und sich lebensweltlich reproduzieren muss. Möchte man Moral als Sinnkonstruktion der Praxis beobachten, so sind diese Konstruktionen als Resultat lebensweltlicher Prozesse aufzufassen.
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Aus theoretischer Sicht ist es sinnvoll zu fragen, wie Sinnkonstruktionen entstehen. Einen sinnvollen Ausgangspunkt bietet der symbolische Interaktionismus, der menschliches Handeln wesentlich durch die sinnhaften Bedeutungen geprägt sieht, die mit den physikalischen (Gegenstände), sozialen (andere Menschen) und abstrakten (Ideen, moralische Prinzipien) Objekten des Handelns verknüpft sind. Bedeutungen werden dabei weder als Ding-inhärent noch als rein subjektiv-psychische Komponente gesehen, sondern als Resultat sozialer Interaktionsprozesse: »Die Bedeutung von Objekten für eine Person entsteht im Wesentlichen aus der Art und Weise, in der diese ihr gegenüber von anderen Personen, mit denen sie interagiert, definiert worden sind. So lernen wir allmählich, dass ein Sessel ein Sessel ist, dass Ärzte eine bestimmte Art von Fachleuten sind, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten eine bestimmte Art eines Aktenstückes ist, und so weiter. Aus einem Prozess gegenseitigen Anzeigens gehen gemeinsame Objekte hervor – Objekte, die dieselbe Bedeutung für eine gegebene Gruppe von Personen haben und die in derselben Art und Weise von ihnen gesehen werden.« (Blumer 1975: 90)
Allerdings wird die Bedeutung, die ein Objekt für eine Person annimmt, nie als automatische Übernahme oder Anwendung bereits in der sozialen Umwelt vorhandener Bedeutungen verstanden. Vielmehr müssen vorhandene Bedeutungen immer durch die Handelnden interpretiert werden, wobei Bedeutungen sowohl reproduziert als auch verändert werden. Menschen bringen Bedeutungen nicht in einer atomistischen Weise aus sich selbst hervor, sondern sie entspringen den interaktiven Situationen, die Menschen im Laufe ihres Lebens erleben. Dieses Verständnis bietet meines Erachtens Anknüpfungspunkte an das Habituskonzept im Anschluss an Bourdieu. Dabei erscheint eine Sichtweise auf Moral als habituell verinnerlichte Dispositionen sowohl vereinbar mit dem Postulat der Kognitivisten, dass Moral in guten Gründen verankert ist, als auch mit dem Pragmatismus, nach dem sich moralische Überzeugungen induktiv durch eine Beobachtung der Handungspraxis bilden, aus der heraus kognitive Urteile erst abgeleitet werden. Letztlich liegen beide Positionen gar nicht weit auseinander, denn es lässt sich behaupten, dass ›gute Gründe‹ für moralische Überzeugungen abhängig sind von Erfahrungen, die Menschen im Laufe ihres Lebens machen. Diese Gründe wären dann nichts anderes als die innere Rechtfertigung kreativ erprobter Handlungsmuster bei den Pragmatisten. Gelingt ein solcher Prozess, können neue legitimierte Regeln habitualisiert werden (Schubert 2009: 349-359). Somit ist prinzipiell geklärt, dass moralische Sinnkonstruktionen immer aus den Erfahrungen sozialer Interaktionen im Lebenslauf heraus entstehen. Jedoch
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stellt sich die Frage, entlang welcher sozialen Grenzen spezifische Sinndeutungen variieren bzw. welche sozialen Gruppen gemeinsame Deutungen teilen. Bourdieu kritisiert am Interaktionismus, dass »die Wahrheit der Interaktion nie völlig in der Interaktion liegt, so wie sie sich der Beobachtung offenbart« (Bourdieu 1992: 139). Er geht davon aus, dass Akteure gesellschaftliche Strukturen im Habitus verinnerlicht haben, die in der Interaktionssituation selbst fortwirken, so dass die konkreten lebensweltlichen Interaktionen auch durch die umfassenderen gesellschaftlichen Strukturen mit geprägt sind. Bourdieu illustriert dies am Beispiel von Interaktionen zwischen Personen, die unterschiedliche Positionen innerhalb gesellschaftlicher Hierarchien einnehmen. Selbst wenn in der Interaktion – etwa zwischen einem Universitätsprofessor und einem ungelernten Arbeiter – die soziale Distanz symbolisch negiert wird, so wird sie doch auch aufrechterhalten, wenn diese Negierung anerkannt wird, was in Wendungen wie »er ist gar nicht hochmütig« zum Ausdruck kommt (ebd.: 140). Bourdieu bringt hier also die These zum Ausdruck, dass es insbesondere die durch die Verteilung kulturellen und ökonomischen Kapitals bestimmten Positionen im sozialen Raum sind (Bourdieu 1987: 195ff.), die die Herausbildung klassenspezifischer Alltagswirklichkeiten prägen. Eine Vielzahl von Soziologen geht allerdings davon aus, dass Klassengrenzen für die Alltagswirklichkeit in den sich immer stärker ausdifferenzierenden Gesellschaften an Relevanz verlieren, insbesondere, was das Konsumverhalten angeht. Alan Warde (1997: 1-19) fasst die soziologische Debatte in Bezug auf die Frage zusammen, welche Gruppen Geschmack und Normen beim Konsum teilen. Die Antworten in der soziologischen Theorie variieren von Diagnosen des Konsums als gesellschaftsweit einheitliches Massenphänomen (Horkheimer 1969) über sich neu formierende Lebensstilgruppen, die sich über geteilte Selbstbilder definieren (Bauman 2010), bis hin zu stark individualisierten Konsumentscheidungen (Beck 1986; Featherstone 1987) (vgl. dazu auch Kap. 2.2). Hinzu kommt, dass sozialstrukturelle Teilungen jenseits von Klassenhierarchien ebenfalls eine Rolle spielen können. So haben die Autoren einer Reproduktionsstudie zu Bourdieus »Feinen Unterschieden« darauf hingewiesen, dass kultureller Konsum im England nach der Jahrtausendwende maßgeblich entlang von Teilungen des Alters, des Geschlechts und der Ethnizität variiert (Bennett et al. 2009). Für den hier interessierenden Gegenstand der Konsummoral deutet sich in der vorhandenen Literatur eine ähnliche Lage des Forschungsstandes an: So sieht Gerhard Schulze Stilgemeinschaften auch als Glaubensgemeinschaften, die grundlegende Wertvorstellungen vom »guten Leben« teilen (2005 [1992]: 112). Seiner Theorie nach läge es nahe, dass Konsummoral entlang frei wählbarer Freizeitmilieus variiert. Luedicke et al. (2010) zeigen hingegen, dass es bei An-
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hängern bestimmter Marken, sogenannten »brand communities«, häufig zu moralisch aufgeladenen Konflikten kommt, in der die opponierenden Gruppen sich jeweils selbst als Verteidiger einer moralischen Ordnung sehen und ihre Gegner als diejenigen darstellen, die normative Ideale untergraben (Luedicke et al. 2010: 1017). Insgesamt kann der Literatur daher entnommen werden, dass Konsummoral entlang verschiedener sozialer Teilungen variieren, gleichzeitig aber auch soziale Teilungen transzendieren kann, so dass keinesfalls abschließend geklärt ist, welche Gruppen eine bestimmte Konsummoral teilen.
3.2 M ORAL IM G EFLECHT
VON
ALLTAGSTÄTIGKEITEN
Zu Beginn dieser Arbeit wurden drei grundlegende Fragen formuliert: •
• •
Erstens soll beantwortet werden, welche Vorstellungen des ›guten‹ und ›rechten‹ Konsums von Lebensmitteln sich in den Erzählungen der Beforschten dokumentieren und wie sie in Bezug stehen zu den alltäglichen Praktiken des Konsums im Alltag. Diese Frage zielt auf die Varianz und die Typisierung der Moralvorstellungen, die mit dem Konsum von Lebensmitteln verknüpft sind. In den vorangehenden Kapiteln wurde bereits herausgestellt, dass Einkaufen, Kochen und Essen zu großen Teilen Tätigkeiten sind, die im Alltagsleben stetig wiederkehren und die daher einem hohen Grad der Routinisierung unterliegen. Aus diesem Grund wurde argumentiert, dass es dem Gegenstand in besonderer Weise gerecht wird, den Konsum von Lebensmitteln unter einer alltagspraktischen Perspektive (vgl. Kap. 2.2.4) und die Moral des Konsums als Alltagsmoral zu betrachten (vgl. Kap. 2.3.3). Eine zweite Frage zielt in diesem Kontext auf das Verhältnis von Moral und Konsumpraxis ab. Drittens wurde danach gefragt, ob und – wenn ja – wie Konsummoral im Kontext vertikaler Schichtung behandelt wird und inwiefern sie der Abgrenzung zwischen sozialen Schichten dient. Diese Frage kann – neben der alltagspraktischen Perspektive – auch von einem Verständnis von Konsum(-moral) als Ausdruck sozialer Strukturen profitieren (vgl. Kap. 2.2.2).
Um diesen Fragen gerecht zu werden, wurde im bisherigen Verlauf dieses Kapitels ein Moralverständnis entwickelt, das sich an das Bourdieu’sche Habituskonzept anlehnt, dieses aber modifiziert: Die moralischen Vorstellungen, Urteile und
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Kommunikationen, die mit dem Handlungsbereich des Lebensmittelkonsums verbunden sind, werden als Hervorbringungen habitualisierter Moraldispositionen betrachtet, wobei angenommen wird, dass moralische Dispositionen in Abhängigkeit von Sozialisationserfahrungen erworben werden und eine gewisse Trägheit aufweisen. Gleichzeitig wird aber mit Anthony Giddens und Andrew Sayer davon ausgegangen, dass Akteure zumindest von Zeit zu Zeit in einer reflexiven Verbindung zu den Gründen ihres Tuns stehen. Zudem muss in Betracht gezogen werden, dass Akteure in spätmodernen Gesellschaften durch die Auflösung hergebrachter Sozialmilieus und standardisierter Lebensläufe (vgl. Beck 1986) mit einer erhöhten Vielfalt an Diskursen und Erfahrungen konfrontiert sind, was die These einer Pluralisierung von Habitusformen nahelegt (vgl. Bennett et al. 2009: 27). Am Habitusbegriff festzuhalten, ohne die strukturalistische Schlagseite in Bourdieus Handlungstheorie zu übernehmen, ist handlungstheoretisch sinnvoll, da der Rückgang von Traditionen keineswegs automatisch rationale Akteure produziert, die ihr gesamtes Verhalten reflexiv beobachten und intentional beabsichtigen (Campbell 1996a). Habitualisierung und Routinisierung bleiben vielmehr Grundlagen menschlichen Handelns, weshalb Bourdieus Vorstellung des Habitus als »System generativer Schemata von Praxis« (1987: 279) aktuell bleibt. Im Folgenden bleibt noch der Begriff der Praxis näher zu erläutern. Dazu wird nun abschließend auf die Theorie sozialer Praktiken eingegangen, um zu konkretisieren, wie eine alltagspraktische Perspektive auf Konsum und die darauf bezogene Moral aussehen kann. Andreas Reckwitz (2002) positioniert die Theorie sozialer Praktiken als eigenständigen Strang der Sozialtheorie gegenüber anderen Theorieansätzen. Er weist darauf hin, dass es kein ausgearbeitetes und konsolidiertes Theoriegebäude einer Theorie sozialer Praktiken gibt, vielmehr finden sich Elemente einer solchen in den Arbeiten einer Vielzahl sozialwissenschaftlicher Denker, wie etwa dem frühen Anthony Giddens, Pierre Bourdieu und dem späten Michel Foucault, um nur einige zu nennen. Reckwitz ordnet die Theorie sozialer Praktiken den Kulturtheorien zu, die Handeln durch eine Rekonstruktion der symbolischen Strukturen und des Wissens zu erklären suchen. Diese ermöglichen den Handelnden bestimmte Interpretationsweisen der Welt und ihnen entsprechende Handlungsweisen und schließen andere aus (2002: 245-246). Kulturtheorien können von normorientierten Ansätzen – wie sie etwa bei Durkheim oder Parsons zu finden sind – sowie von zweckorientierten, z.B. Rational-Choicebasierten Ansätzen der Handlungstheorie abgegrenzt werden. Innerhalb der Kulturtheorien kann die Theorie sozialer Praktiken wiederum von Strömungen abgegrenzt werden, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte bei der Verortung
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der handlungsprägenden symbolischen Strukturen vornehmen.18 Die Spezifik der Theorie sozialer Praktiken gegenüber den restlichen Kulturtheorien besteht – wenig überraschend – darin, dass das Soziale in Praktiken verortet wird: »A practice (Praktik) is a routinized type of behavior which consists of several elements, interconnected to one other: forms of bodily activities, forms of mental activities, things and their use, a background knowledge in the form of understanding, know-how, states of emotion and motivational knowledge. A practice – a way of cooking, of consuming, of working, of investigating, of taking care of oneself or of others, etc. – forms so to speak a block whose existence necessarily depends on the existence and specific interconnectedness of these elements, and which cannot be reduced to any one of these single elements.« (Reckwitz 2002: 249-250)
Praktiken sind typische Arten und Weisen des Handelns und des Verstehens, die miteinander auf eine nichtbeliebige Art verknüpft sind. Kognitive Strukturen – Wissen, Denken, Einstellungen – und das praktisch, durch Körper performierte Handeln werden damit nicht als Gegensätze gedacht, wie dies etwa das in der Konsumforschung öfter angewandte Konzept des »attitude-behaviour gap« (Boulstridge/Carrigan 2000) impliziert, sondern als zwei Seiten einer Medaille verstanden. Unter Rückgriff auf den Sozialphilosophen Theodore Schatzki (2002) haben Konsumforscher konkretisiert, was unter Praktiken verstanden werden kann: Sie sind ein Geflecht praktischer Aktivitäten (»doings«) und ihrer Repräsentationen (»sayings«), die durch drei Komponenten miteinander verknüpft sind: Praktische Verständnisse (»practical understandings«) umfassen Wissen und Fähigkeiten, was und auf welche Weise etwas zu tun ist; Prozeduren (»procedures«) sind Instruktionen, Prinzipien und Regeln darüber, auf welche Weise etwas getan wird; Engagements (»engagements«) sind emotionale und normative Orientierungen, die bezogen sind auf das »was« und »wie« des Tuns (Warde 2005: 134; Halkier/Jensen 2011: 104). Die konkreten Aktivitäten, die im Rahmen spezifischer Essenspraktiken vollzogen werden, sind demnach über ein bestimmtes Verständnis und bestimmte Verhaltensregeln koordiniert.19 Zudem 18 Theorien des »Mentalismus« sehen die mentalen Strukturen des menschlichen Gehirns als entscheidenden Ort, an dem sich das Soziale niederschlägt. Theorien des »Textualismus« verorten das Soziale dagegen außerhalb des Menschen, in Texten, Diskursen und der Kommunikation. Zu guter Letzt wird das Soziale in intersubjektivistischen Theorien in den symbolischen Interaktionen verortet (Reckwitz 2002). 19 Der besseren Anschaulichkeit halber sei dies an zwei Beispielen illustriert: Eine Esspraktik wie das Kochen eines dreigängigen Menüs für ein gemeinsames Abendessen mit dem Partner ist koordiniert durch ein bestimmtes Verständnis von Essen (z.B. Es-
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werden Praktiken nicht allein von menschlichen Akteuren getragen. Materiellen Artefakten und Techniken wird in Praxistheorien eine zentrale Rolle für soziale Regelmäßigkeiten zugeschrieben, sie sind »Träger und stabilisierende Ankerpunkte von Praktiken« (Schmidt 2012: 63).20 Eine Analyse von Konsummoral – die ja stets auf Urteile abzielt – konzentriert sich allerdings notwendigerweise auf die Bedeutungsebene von Praktiken, während die Ebene der Performativität weniger in den Blick gerückt wird. Materialität rückt daher bei einer Analyse von Konsummoral nur dann in den Blick, wenn über Praktiken, deren Bestandteil immer auch Artefakte sind, geurteilt wird. Besonders geeignet für die Zwecke dieser Arbeit erscheint die von Bente Halkier (2010) in Anschluss an Schatzki (2002), Reckwitz (2002) und Warde (2005) ausgearbeitete Variante der Theorie sozialer Praktiken. Diese kann als sozialkonstruktivistisch aufgefasst werden, da sie den Blick der Analyse lenkt »towards the multiplicity of social categories and dynamics, and towards the ways in which social categories and dynamics are produced socially« (Halkier/Jensen 2011: 104). Für die Untersuchung von Konsumphänomenen sind insbesondere zwei Potentiale einer als sozialkonstruktivistisch verstandenen Theorie sozialer Praktiken herauszustellen: sen ist Genuss oder Ausdruck von Kreativität Lupton 1996: 145), bestimmten Prozeduren (z.B. Kochbücher sichten, verschiedene Spezialgeschäfte aufsuchen, spezielle Kochgeräte benutzen) und Engagements (z.B. Zeit investieren, das Erreichen von Exzellenz als Koch). Die Esspraktik des Kaufs von Take-away-Essen auf dem Weg von A nach B (vgl. Halkier/Jensen 2011) zeichnet sich dagegen durch ein anderes Verständnis von Essen aus (z.B. Essen als Energielieferant, analog zum Benzin des Autos Lupton 1996: 143), andere Prozeduren (z.B. Essen im Gehen) und Engagements (z.B. das Notwendige hinter sich bringen) aus. 20 Zentral für Materialität ist das Konzept der »affordances«, welches abzielt auf die »Qualitäten und Gebrauchsgewährleistungen von Dingen, die ein praktischer Sinn an ihnen zugleich (kognitiv) erkennt und (körperlich-praktisch) realisiert« (Schmidt 2012: 31). Einerseits beschreibt das Konzept Angebote für Gebrauchsweisen, die von den Dingen ausgehen, andererseits können Eigenschaften von Objekten aber nur in Zusammenspiel mit bestimmten Fähigkeiten von Akteuren zur Geltung gebracht werden, so dass Affordanzen weder vollständig dem Subjekt noch dem Objekt zugeschrieben werden können. Auch die materielle Dimension von Praktiken lässt sich auf obiges Beispiel beziehen (vgl. Kap. 3, Fußn. 19): Ein Fertiggericht legt andere Gebrauchsweisen nahe (ohne diese ganz zu determinieren) als die Kombination aus frischem Gemüse, Gewürze in Dosen, Herd, Pfannen und Töpfen. Die Materialität ist also grundlegender Bestandteil der Praktiken, dies spiegelt sich auch in der alltagssprachlichen Unterscheidung zwischen Aufwärmen und Kochen wider.
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Erstens ermöglicht die praxistheoretische Perspektive, Konsum nicht in erster Linie als intentionale und individuelle Wahlentscheidungen in den Blick zu nehmen, wie dies die neoklassische Standardmikroökonomik oder die Ansätze tun, die Konsum als Ausdruck persönlicher Identität verstehen (vgl. Kap. 2.2). Stattdessen wird die Perspektive umgedreht: Nicht individuelle Bedürfnisse oder Entscheidungen, sondern der Vollzug von Praktiken ist der eigentliche Anlass für Konsum. Konsum ist aus dieser Sicht als Moment in beinahe jeder Praktik zu verstehen und nicht als eigene Praktik (Warde 2005: 137). Die performative Dimension des Handelns – etwa die Art und Weise der praktischen Durchführung von Aktivitäten wie Einkaufen, Zubereitung und Verzehr von Essen – rückt damit gegenüber der abstrakten, wenn nicht gar fiktiven, Situation der Entscheidung in den Vordergrund der Analyse. Die konsumierenden Individuen werden in diesem Zusammenhang – in Abgrenzung beider Varianten der Perspektive von Konsum als Teil des Wirtschaftskreislaufs – weder als souveräne Entscheider verstanden noch als manipulierte Idioten, sondern als kompetente Träger sozialer Praktiken (Reckwitz 2002: 256), die über ein implizites praktisches Wissen verfügen, wie bestimmte Tätigkeiten durchzuführen sind. Zweitens ermöglicht sie, Konsum als Phänomen zu analysieren, das an den Schnittstellen vielfältiger Praktiken und sozialer Beziehungen stattfindet und durch die Einbettung in ein komplexes Netz an Alltagsaktivitäten mitbestimmt wird (Halkier/Jensen 2011: 102). Im Alltag muss eine Vielzahl von Praktiken aus den Bereichen Arbeit, Freizeit, Haushalt und Familie miteinander koordiniert werden, was oft zu Konflikten und Kompromissen zwischen den Anforderungen und Erwartungen der einzelnen Praktiken führt (Halkier 2010: 31). Wie Menschen einkaufen, Essen zubereiten und ihre Mahlzeiten einnehmen, ist daher immer auch abhängig davon, wie ihr restliches Alltagsleben aussieht. In Übereinstimmung mit einer solchen Perspektive arbeitet Gill Valentine (1999) in einer empirischen Studie heraus, wie innerhäusliche Essenspraktiken in Abhängigkeit vom Haushaltstyp, konkreter praktischer Alltagsarrangements und lebensphasenspezifischer Gegebenheiten variieren. Deutlich wird in ihren Fallbeschreibungen etwa, dass die berufstätige Mutter einer vierköpfigen Familie ganz andere Koordinationsleistungen bei der Essensverpflegung zu bewältigen hat als ein nach dem frühen Tod seiner Frau alleinstehender Mann, der nun lernen muss, für sich selbst zu kochen. Insgesamt kann somit festgehalten werden, dass die Theorie sozialer Praktiken die dargelegte Perspektive auf Konsummoral im Alltag sinnvoll ergänzt. Sie legt insbesondere nahe, den Blick auf die Bedeutung praktischer Gegebenheiten und sozialer Beziehungen im Alltagsleben zu richten. In Kapitel 3.1.1 wurde bereits argumentiert, dass Moral etwas ist, das den Akteuren selbst nicht in vollem
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Umfang reflexiv verfügbar ist, sondern durch habitualisierte Dispositionen hervorgebracht wird. Das praxistheoretische Verständnis von Konsum legt nun ebenfalls die Perspektive nahe, dass Konsummoral weniger von abstrakten Wertvorstellungen geprägt ist als von der konkreten Alltagspraxis. Ein solcher Blick auf die moralischen Urteile im Alltag beugt zudem einer schnellen Verurteilung der befragten Akteure vor, da en Detail verständlich gemacht werden kann, mit welchen Restriktionen und Chancen sie de facto konfrontiert sind. Gleichwohl muss darauf hingewiesen werden, dass der zentrale Gegenstand dieser Studie die Moral bleibt und nicht Praktiken selbst ins Zentrum der Analyse gerückt werden. Die Untersuchung von Praktiken würde ein anderes Methodendesign und auch eine viel kleinteiligere Analyse implizieren, da die Untersuchung von Praktiken aufgrund ihrer vielen Dimensionen und Trägerschaften sehr aufwändig ist.
3.3 F AZIT : I MPLIKATIONEN UND L EHREN DER P ERSPEKTIVE FÜR M ETHODOLOGIE UND F ORSCHUNGSPROGRAMM Die Fragestellungen der vorliegenden Studie gingen aus der Beobachtung hervor, dass sich die bisherige soziologische Forschung zur Moralität des Konsums stark auf objektivistische Definitionen von ›ethischem‹ Konsum stützt, die selbst einer ganz bestimmten Idee des moralisch ›Guten‹ verhaftet. Die empirische Forschung ist zudem stark auf selbsternannte ›ethische‹ Konsumenten fokussiert. Um dieser Einseitigkeit zu begegnen, ist eine explorative Untersuchung über die alltägliche Moralität des Konsums angebracht, die offen für verschiedene Verständnisse des moralisch ›guten‹ Konsums und ihre Einbettung in die alltägliche Handlungspraxis ist. Auf dieser Basis ist es möglich, zu einem adäquateren und umfassenderen theoretischen Verständnis des Gegenstands der Konsummoral zu gelangen. Offenheit für Entdeckungen im Datenmaterial ist die Stärke rekonstruktiver methodischer Herangehensweisen. Aus diesem Grund wurde ein rekonstruktiver Zugang für die vorliegende Studie gewählt (ausführlicher dazu Kap. 4), dessen Hauptanliegen es ist, selbst zur Theoriegenerierung beizutragen, anstatt bestehende Hypothesen zu überprüfen (Bohnsack 2008: 10). Offenheit bedeutet jedoch nicht, ohne theoretisches Vorverständnis an die Daten heranzutreten, um Theorie rein induktiv aus den Daten zu gewinnen, wie dies von den Begründern der »Grounded Theory« beschrieben worden ist (vgl. Strauss/Corbin 1996: 7). Um das Verhältnis zwischen Theorie und Empirie genauer zu fassen, wird in der jüngeren wissenschaftstheoretischen Debatte zwischen Sozialtheo-
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rien und Theorien begrenzter Reichweite unterschieden, wobei Erstere festlegen, »was überhaupt unter sozialen Phänomenen verstanden werden soll und welche Konzepte zentral gestellt werden« (Lindemann 2008: 109). Bereits Karl Mannheim hat darauf hingewiesen, dass die soziale Welt ähnlich wie eine Landschaft nur perspektivisch erfassbar ist (1980: 212): Die Entwicklung gegenstandsbezogener Theorien setzt daher einen Blickwinkel in Form beobachtungsleitender Annahmen voraus. Die Explikation einer erkenntnisermöglichenden Forschungsperspektive war das Ziel der vorangegangen Kapitel. Die verwendete Literatur dient dabei in erster Linie dazu, die »theoretische Sensibilität« zu erhöhen, um Feinheiten im Datenmaterial erkennen zu können (Strauss/Corbin 1996: 25), die dem Forscher ohne Kenntnis entsprechender Konzepte entgehen würden. Theoretische Sensibilität entwickelt sich in einem iterativen Prozess, in dem sich der Forscher zwischen einer Beschäftigung mit theoretischen Ansätzen und der Interpretation der Daten hin- und her bewegt. Im Laufe dieser Suchbewegungen stellen sich bestimmte theoretische Kategorien und Konzepte als hilfreich heraus, um das empirische Material »zum Sprechen« zu bringen (Kalthoff 2008: 20). Andererseits können sich auch theoretische Konzepte als unfruchtbar erweisen, von denen sich der Forscher zu Beginn ein hohes Potential für die Beleuchtung der Daten versprach. Die endgültige Darstellung der Forschungsperspektive ist daher als Ergebnis eines Erkenntnisprozesses zu lesen, den ausführlich zu dokumentieren die Lesbarkeit dieser Arbeit eher behindern würde. Der Rest des Kapitels dient nun dazu, die Forschungsperspektive noch einmal zusammenzufassen und Implikationen für das weitere Vorgehen aufzuzeigen. Moral als Sinnkonstruktion Im Anschluss an das sinnbezogene Moralparadigma innerhalb der Soziologie wird Moral zunächst als soziale Sinnkonstruktion verstanden, mittels der zwischen ›gut‹ und ›böse‹ unterschieden wird. Damit geht die These einher, dass verschiedene Personen und Gruppen ihre Moral auf unterschiedliche Art und Weise konstruieren. Moral wird somit nicht mehr als einheitliches Set von Regeln verstanden, die von allen Mitgliedern der Gesellschaft kollektiv anerkannt werden, sondern es wird die Möglichkeit einer Pluralität von Moralvorstellungen in Betracht gezogen, die miteinander konfligieren und gesellschaftliche Teilungen mitbegründen können. Ein solches konstruktivistisches Verständnis beugt zudem einer objektivierenden Sichtweise vor, die davon ausgeht, dass sich ein Set an objektiv moralisch ›richtigen‹ Konsumpraktiken identifizieren lässt.
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Moralforschung als Habitusanalyse Das Luhmann’sche Verständnis von Moral als besonderer Art der Kommunikation, die sich auf die Achtung und Missachtung anderer als ganze Personen bezieht, wird jedoch als unnötige Einengung des Gegenstandsbereichs einer Soziologie der Moral betrachtet. Zwar wird Moral nur anhand von geäußerter Kommunikation für Sozialwissenschaftler sichtbar, dennoch ist aber ein Zugang zu verinnerlichter Moral möglich (vgl. dazu Kap. 3.1). Daher wird ein weiter gefasster Moralbegriff verwendet, der neben moralischer Kommunikation auch Verhaltensweisen betreffende moralische Urteile und Überzeugungen einbezieht, die – in Anschluss an Pierre Bourdieu – als Hervorbringungen habituell verinnerlichter Dispositionen aufgefasst werden. Diese werden erworben in einem bestimmten sozialen Umfeld, den darin erfahrenen Interaktionen und der individuellen Verarbeitung dieser Erfahrungen. Mit dem Habitusbegriff übernehme ich allerdings nicht Bourdieus These eines Klassenhabitus, der zufolge Moral eng an Positionen in einem durch Einkommens- und Bildungsungleichheiten strukturierten sozialen Raum gebunden wäre. Vielmehr wird als empirische Frage offengelassen, entlang welcher sozialer Teilungen Konsummoral variiert. Moral als verinnerlichte Dispositionen zu begreifen, beinhaltet zudem die Annahme, dass sich Akteure ihrer eigenen Moral nicht immer in vollem Umfang reflexiv bewusst sind, sondern sie nur implizit zum Ausdruck bringen. Dieses Verständnis ermöglicht es mir, anhand detaillierter Fallanalysen zunächst verschiedene moralische Disposition zu rekonstruieren und diese anschließend zu Typen zu verdichten. Persönliche Ethik und Moralisierung anderer als zwei Seiten einer Medaille Mit der Sichtweise, Moral als Teil des Habitus zu betrachten, ist aber die moralisierende Achtungskommunikation als Teil des begrifflichen Instrumentariums nicht gleich über Bord zu werfen. Vielmehr bringt der Habitus moralische Urteile hervor, die sich auf die persönliche Ethik beziehen – also die Maßstäbe, die an das eigene Verhalten angesetzt werden. Diese Urteile können aber auch auf fremdes Verhalten angewendet werden und münden dann potentiell in moralischen Grenzziehungen gegenüber anderen. Persönliche Ethik und moralische Distinktion sind somit als zwei Seiten einer Medaille anzusehen, da ethische Überzeugungen im Kontext von Lebensstilkämpfen in moralische Verallgemeinerungen umschlagen können. Damit stellt sich die Frage, inwiefern moralische Maßstäbe des ›guten‹ Lebensmittelkonsums in moralische Grenzziehungen um-
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gemünzt werden und gegenüber welchen Gruppen Abgrenzungen erfolgen. In Anschluss an die soziologische Moralforschung, die den Streitwert von moralischer Kommunikation betont, wird davon ausgegangen, dass Urteile über andere Gruppen in der alltagsweltlichen Interaktion mit ebendiesen kaum explizit geäußert werden. Gerade daher eignet sich das Interview als Erhebungsform, da hier moralische Grenzziehungen gegenüber anderen womöglich eher geäußert werden, da sie nur indirekt gegenüber dem Interviewer als Unbeteiligtem vorgebracht werden. Zur alltagspraktischen Perspektive auf Konsum und Konsummoral Aktivitäten wie Einkaufen, Kochen und Essen sind alltägliche Tätigkeiten, die sich in kurzer Frequenz wiederholen und daher einem hohen Grad der Routinisierung unterliegen. Aufgrund des alltäglichen Charakters ist es sinnvoll, den Konsum von Lebensmitteln unter einer alltagspraktischen Perspektive zu betrachten. Damit rücken in der Analyse die Arten und Weisen der praktischen Durchführung von Konsumaktivitäten in den Vordergrund. Zudem wird so ermöglicht, die Einbettung des Konsumhandelns in ein komplexes Netz von anderen Aktivitäten und sozialen Beziehungen zu betrachten. Darüber hinaus wird angenommen, dass die Komplexitäten der Handlungspraxis in moralische Urteile mit einbezogen werden: Dies bedeutet, dass nicht allgemeine, übersituative Moralurteile, sondern vielmehr die praktische Moral des Alltags im Fokus der Analyse steht. Moral wird dabei weder als situativ kontingent – da habituelle Dispositionen träge sind und in ähnlichen Situationen ähnliche Reaktionsweisen hervorbringen – noch als überzeitlich gültig aufgefasst, da praktische Handlungsprobleme und neue Erfahrungen beständig gegebene Überzeugungen herausfordern können bzw. die Berücksichtigung der speziellen Situation erfordern. Die Betonung der Relevanz von Handlungspraxis darf allerdings nicht dahingehend missverstanden werden, dass Akteure als lediglich auf von außen vorgegebene praktische Gelegenheiten und situative Erfordernisse reagierend konzipiert werden. Der Habitusbegriff erinnert daran, dass die erworbenen Dispositionen die Art und Weise mitbestimmen, wie sie mit praktischen Gegebenheiten aktiv umgehen. Darüber hinaus wird den Akteuren zugestanden, praktische Handlungsprobleme reflexiv zu verarbeiten und so zu neuen Standpunkten zu gelangen.
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Moral als impliziter Bestandteil von Konsumpraktiken Die gewählte soziologische Perspektive verhält sich agnostisch gegenüber der philosophischen Frage, ob es objektive moralische Wahrheiten gibt oder nicht. Ein solcher neutraler Blick stellt sicher, dass dem Forscher gegenüber den Beforschten kein privilegierter Zugang zu moralischer Wahrheit eingeräumt wird, er also nicht in der Position ist zu beurteilen, welche der von ihm beobachteten Moralvorstellungen ›besser‹ oder ›schlechter‹ sind. Aus dieser Sichtweise ergibt sich auch, dass nicht unkritisch von ›ethischem‹ oder ›moralischem‹ Konsum bzw. Konsumenten gesprochen werden sollte, um jedem möglichen Missverständnis vorzubeugen, dass andere Konsumpraktiken oder Konsumenten amoralisch oder gar unmoralisch seien. Eine klare Trennung zwischen ethischem und gewöhnlichem Konsum wird durch dieses Verständnis unterlaufen. Stattdessen wird die Annahme zugrunde gelegt, dass moralische Orientierungen ein Bestandteil jeglicher Konsumpraxis sind, weshalb nicht zu analysieren ist, ob und inwiefern Akteure moralisch konsumieren, sondern welche moralischen Ideen ihrer Konsumpraxis zugrunde liegen. Implikationen für die Methodologie und das Forschungsprogramm der Studie Aus dem konstruktivistischen Moralverständnis und der Annahme, dass moralische Ideen ein Teil jeglicher Konsumpraxis sind, ergibt sich die Anforderung einer offenen Herangehensweise, die es ermöglicht, verschiedene Moralvorstellungen empirisch zu erheben und zu analysieren. Darüber hinaus ist eine Forschungsmethodik zu wählen, die imstande ist, eine Habitusanalyse zu leisten und die moralischen Dispositionen aufzudecken, die den Urteilen, Überzeugungen und der moralischen Kommunikation zugrunde liegen. Da davon ausgegangen wird, dass Akteure sich ihrer habitualisierten Alltagsmoral nicht immer in vollem Umfang bewusst sind, ist es zudem wichtig, dass es die Herangehensweise ermöglicht, auch implizite moralische Ideen zu analysieren, die »zwischen den Zeilen« mittransportiert werden. Damit dies gelingt, ist es wichtig, die Beforschten gerade nicht in ein ausschließlich reflexives Verhältnis zu ihrer Moral zu setzen, wie dies in Forschungen geschieht, die ihre Forschungsobjekte mit moralischen Dilemmata konfrontieren. Stattdessen muss den Beforschten die Möglichkeit gegeben werden, sich ausführlich erzählend über ihren Alltag zu äußern, um auf dieser Basis implizite Alltagsmoral rekonstruieren zu können.
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Zusammenfassend lassen sich folgende Leitfragen für die empirische Analyse formulieren: • • • • •
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Welche allgemeinen Konzeptionen des ›guten‹ und ›rechten‹ Konsums finden sich in den Interviews? Wird Moral explizit zum Thema gemacht, oder lassen sich Moralvorstellungen lediglich implizit erkennen? Wie wird Lebensmittelkonsum in Bezug auf performativ-praktische Alltagssituationen verhandelt? Wie wird das Verhältnis zwischen Vorstellungen des ›guten‹ und ›rechten‹ Konsums und dem Alltagshandeln thematisiert bzw. problematisiert? Inwiefern werden dabei reflexive Praktiken der ethischen Selbstformung sichtbar, und inwiefern kommt eine eher durch Routinen und praktische Gegebenheiten geprägte Alltagsmoral zum Vorschein? Welche moralischen Abgrenzungen gegenüber anderen sozialen Gruppen lassen sich beobachten?
4 Methodischer Zugang und Forschungspraxis
Eine Arbeit, die sich zum Ziel setzt, die impliziten, dem Konsumgeschehen zugrunde liegenden Moralitäten aufzuzeigen, ist mit verschiedenen methodischen Ansprüchen und Problemen konfrontiert. Aus der eingangs geschilderten Fragestellung sowie der theoretischen Annäherung an die Verknüpfungen zwischen Moral und Konsum ergeben sich zwei wesentliche Implikationen hinsichtlich einer geeigneten methodischen Herangehensweise. Erstens ist dem explorativen Anliegen der Studie Rechnung zu tragen: Um die moralischen Ideen herauszuarbeiten, die jeglicher Konsumpraxis implizit sind und diese unterfüttern, muss gezeigt werden, wie Akteure als Konsumenten die Wirklichkeit verstehen, in der sie handeln. Erst dann kann gezeigt werden, welche Moralvorstellungen diesen Wirklichkeitskonstruktionen zugrunde liegen. Es muss zudem sichergestellt werden, dass die Exploration des Unbekannten nicht unbemerkt zur Reproduktion von impliziten Vorannahmen des Forschers wird. Ein dieser Zielsetzung adäquater Forschungsansatz muss dieser Gefahr auf den verschiedenen Stufen des Forschungsprozesses Rechnung tragen: Bei der Datenerhebung ist größtmögliche Offenheit gegenüber den Sinndeutungen und Relevanzsetzungen der Beforschten nötig, die mitunter deutlich von denen des Forschers abweichen können. Die Auswertungsmethode muss sicherstellen, dass die Aussagen der Beforschten nicht fehlinterpretiert und in ein schon vorher gegebenes, implizites Raster gepresst werden. Ein adäquates Theorieverständnis muss berücksichtigen, dass die Soziologie es mit einem Gegenstand zu tun hat, der durch die Akteure bereits sinnhaft gegliedert ist. Zweitens sollen konsummoralisch relevante Phänomene nicht lediglich in Form von kognitiven Einstellungen, sondern umfassender in ihrer Komplexität erfasst werden: Wahrnehmen, Denken und Handeln stehen gleichermaßen im Fokus. Wie in Kapitel 3.1 bereits ausgeführt wurde, wird Moral im Rahmen dieser Arbeit weder als System allgemeiner und übersituativer kognitiver Überzeu-
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gungen noch als rein situativ gebundene Moralkommunikation, sondern als verankert in habitualisierten Dispositionen betrachtet. Der Habitus als generative Formel der Praxis bringt demnach die moralischen Urteile ebenso wie das betreffende praktische Handeln im Alltag hervor, auf das sich diese Urteile beziehen – mitsamt möglichen Ambivalenzen und Widersprüchen zwischen Moralurteilen und Praxis. Die Frage nach der impliziten Moral des Konsums benötigt dabei eine Herangehensweise, mit der es möglich ist, auch diejenigen Moralitäten aufzudecken, die von den Beforschten nicht explizit in Form von Alltagstheorien über das eigene Handeln zum Ausdruck gebracht werden können. Benötigt wird also ein Verfahren, das es ermöglicht, zu den praxisgenierenden Schemata des Habitus vorzudringen, die den Akteuren selbst nicht unbedingt bewusst sind.
4.1 R EKONSTRUKTIVE M ETHODOLOGIE UND D OKUMENTARISCHE M ETHODE Um dem explorativen Charakter der Studie Rechnung zu tragen, erscheint ein rekonstruktives Verfahren in mehrfacher Hinsicht angemessen und fruchtbar. Ausgangspunkt rekonstruktiver Forschung ist die Eigenschaft der Soziologie, es stets mit Menschen und ihrem sozialen Handeln zu tun zu haben. Sie ist im Gegensatz zur Naturwissenschaft mit einem Gegenstandsbereich konfrontiert, der bereits über sich selbst Bescheid weiß. Die soziale Welt ist immer schon durch die Beforschten sinnhaft gedeutet und verstanden, wobei die Art und Weise der jeweiligen Interpretationen von Wirklichkeit handlungsleitenden Charakter hat (Bohnsack 2008: 22). Wissenschaftliche Modelle über das Soziale basieren stets auf den Konstruktionen der Alltagswelt und sind damit – wie es Alfred Schütz ausgedrückt hat – Konstruktionen »zweiter Ordnung« (vgl. Soeffner 2004: 12). Innerhalb der rekonstruktiven Sozialforschung wird daher die Position vertreten, dass sozialwissenschaftliche Theorien mit den Deutungen der Menschen im Alltag vereinbar bleiben sollten (Rosenthal 2011: 39). Gewährleistet wird dies durch zwei leitende Prinzipien rekonstruktiver Forschung: •
Erstens verlangt das Prinzip der Offenheit, dass der Forschungsgegenstand erst dann durch den Forscher theoretisch strukturiert wird, wenn sich diese Strukturierung durch die Beforschten selbst herausgebildet hat (Hoffmann-Riem 1980: 343). Praktisch bedeutet dies, dass Hypothesen nicht vor der Datenerhebung aufgestellt, sondern erst aus dem Material heraus generiert werden (ebd.: 345).
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Zweitens besagt das Prinzip der Kommunikation, dass ein Zugang zu bedeutungsstrukturierten Daten nur durch eine Kommunikationsbeziehung zwischen Forscher und Beforschten möglich wird. Diese gelingt nur, wenn bei der Datengewinnung die Regeln der alltagsweltlichen Kommunikation befolgt werden (ebd.: 348), so dass sich die Gesellschaftsmitglieder in der ihr eigenen Sprache ausdrücken können.
Ein rekonstruktives Verfahren, das sich für die Zwecke dieser Studie besonders eignet, ist die Dokumentarische Methode, wie sie Ralf Bohnsack (2008) auf Basis der Ethnomethodologie und der Wissenssoziologie Mannheims ausgearbeitet hat. Wie im Folgenden zu erläutern ist, bietet sie eine methodologische Basis, die dem Forscher einen adäquaten Zugang zu den ihm selbst oft fremden Sinndeutungen der Beforschten eröffnet. Im Anschluss ist dann zu zeigen, dass sich die Dokumentarische Methode darüber hinaus auch als Habitusanalyse eignet. Den sich unterscheidenden Deutungen zwischen Forscher und Erforschten wird die Dokumentarische Methode gerecht, in dem sie auf Karl Mannheims Unterscheidung zwischen zwei Modi der Erfahrung bzw. der Sozialität zurückgreift (Bohnsack 2008: 59-61): Die Teilhabe an einem gemeinschaftlich geteilten »Erfahrungsraum« ermöglicht gegenseitiges Verstehen, ohne dass die der Erfahrung zugrunde liegende Erkenntnis explizit in Worte gefasst werden muss. Mannheim verdeutlicht dies am Beispiel eines Fremden, der zum ersten Mal einen Raum betritt und bei dem die anwesenden Einheimischen bereits aus den Gesten und seiner Haltung auf sein gesamtes Sein als Nichtzugehöriger der hiesigen Gemeinschaft schließen (Mannheim 1980: 209). Jeder der Einheimischen versteht, dass auch die anderen Einheimischen den Eintretenden als Fremden einordnen werden. Die verstehensbasierten »konjunktiven« Erfahrungen schlagen sich mit der Zeit in Kollektivvorstellungen nieder, in denen überindividuelle Bedeutungen festgelegt sind, die von den Eingeweihten intuitiv verstanden werden (Mannheim 1980: 231-232), dabei aber einen atheoretischen Charakter haben, das heißt den Beteiligten selbst nicht unbedingt reflexiv zugänglich sind.1 Fehlt der gemeinsame Erfahrungshintergrund, müssen die Akteure hingegen in 1
Erfahrungsgemeinschaften beschränken sich dabei keineswegs auf kleine Gruppen, in denen alle Mitglieder persönlich miteinander interagieren. Wie Mannheim in seinem berühmten Aufsatz über »Das Problem der Generationen« argumentiert, führen auch ähnliche soziale Lagen wie die Zugehörigkeit zu einer sozialen Klasse oder einer Generation zu ähnlichen Erfahrungen. Soziale Lagen haben gemeinsam, dass sie »Individuen auf einen bestimmten Spielraum möglichen Geschehens beschränken und damit eine spezifische Art des Erlebens und Denkens […] nahelegen« (Mannheim 1970 [1926]: 528).
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eine kommunikative Beziehung treten, die durch gegenseitige Interpretation – definiert als die »theoretisch-reflexive Explikation des Verstandenen« (Mannheim 1980: 272) – geprägt ist. Karl Mannheims Lehre der »Standortgebundenheit des Denkens« verdeutlicht, dass auch Wissenschaftler bestimmten Erfahrungsräumen angehören, etwa einem Bildungsmilieu, einer Generation und einem Geschlecht. Daraus ergibt sich, dass Sozialwissenschaftler nicht über einen vermeintlich objektiven Standpunkt verfügen, der ihnen einen privilegierten Zugang zum Wissen der Akteure ermöglicht. Die Forscher verfügen lediglich über eine andere Analyseeinstellung, indem sie das implizite Wissen, über das sich die Akteure größtenteils selbst nicht bewusst sind, begrifflich-theoretisch explizieren (Bohnsack et al. 2007: 12). Die Subjektivität des Forschers ist daher methodisch zu kontrollieren, aber keinesfalls auszuschalten, da sie auch als Quelle von Kreativität dient und letztlich die einzige Möglichkeit darstellt, überhaupt Erkenntnis zu generieren (Bohnsack 2008: 196).2 Die Lehre der Standortgebundenheit des Denkens ermöglicht darüber hinaus, unterschiedliche sinnhafte Konstruktionen der Wirklichkeit auf die konjunktiven Erfahrungsräume zurückzuführen, in denen diese entstanden sind. Neben diesem theoretischen Zugriff berücksichtigt die Methodologie der dokumentarischen Methode die Prinzipien der Offenheit und der Kommunikation auf den einzelnen Stufen des Forschungsprozesses. Bei der Erhebung wird auf eine weitestmögliche Reduktion der Eingriffe des Forschers gesetzt, um eine methodische Kontrolle über die unterschiedlichen Interpretationsrahmen von Forschenden und Erforschten zu erreichen. Den Beforschten wird durch offene Fragen Gelegenheit gegeben, ihre eigenen Relevanzsysteme zu entfalten, so dass sich Unterschiede zu denen des Forschers manifestieren können (Bohnsack 2008: 20). Bei der Auswertung wird methodische Kontrolle durch ein durchweg vergleichendes Vorgehen gesichert. Die Orientierungsrahmen der Erforschten werden nicht im Kontrast zu den eigenen Erfahrungen des Forschers, sondern immer im Vergleich mit weiteren empirischen Fällen rekonstruiert (Bohnsack 2008: 137). Durch das systematisch komparative Vorgehen bei der Analyse wird so die Gefahr ausgeschaltet, dass das zu Erforschende, Unbekannte in das Mu2
Karl Mannheim zieht eine treffende Analogie zwischen physischen Landschaften und der sozialen Welt: »Denn die Landschaft ist ein Gegenstand, der prinzipiell nur perspektivisch erfaßbar ist. Verschwindet die Perspektivität, verschwindet die Landschaft« (Mannheim 1980: 212). Ebenso verhält es sich mit der sozialen Welt, die nicht »an sich« erkennbar ist, sondern nur von einem bestimmten Standpunkt in ihr selbst beobachtbar ist. Aus diesem Grund ist es sinnlos, auf die Objektivität des Forschers zu hoffen, und fruchtbar, seine Perspektive als Chance zu begreifen, überhaupt einen Blick auf die soziale Welt zu bekommen.
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ster der Selbstverständlichkeiten eingeordnet wird, die aus der Alltagserfahrung des Forschers resultieren (Nohl 2007: 256). Zudem lässt sich die dokumentarische Methode auch als Habitusanalyse verstehen. Sie bietet damit den gewünschten Zugriff auf die Dispositionen, die mit Bourdieu als die »Erzeugungsformeln« (Bourdieu 1987: 278-279) sowohl der moralischen Urteile als auch der Konsumpraxis selbst verstanden werden können. Zwischen dem Bourdieu’schen Habitusbegriff und dem Mannheim’schen Gedanken der Standortgebundenheit des Denkens existieren unverkennbare Parallelen: Das im Habitus einverleibte Orientierungswissen – welches von geschmacklichen Präferenzen bis hin zu Weltbildern reicht – trägt Spuren der sozialen Verhältnisse, in denen es erworben wurde (Meuser 2007: 210). Der atheoretische Charakter des in konjunktiven Erfahrungsräumen erworbenen Wissens entspricht dabei Bourdieus Beschreibung des Habitus als praktischer Sinn. In beiden Fällen wird Verstehen nicht als »Akt der bewussten Zuwendung auf die Situation«, sondern als »integraler Teil des Handelns in der Situation« verstanden (ebd.: 212). Aus Sicht einer rekonstruktiven Methodologie ist ein weitgehend quantitativ orientiertes methodisches Vorgehen, wie es Bourdieu in den meisten seiner Werke verfolgt, jedoch nicht hinreichend, um das Wirken habitueller Dispositionen in der Handlungspraxis aufzuzeigen. Die Rekonstruktion eines Habitus gelingt vielmehr erst dann, »wenn sich zeigen lässt, wie er sich in fallspezifischen Kontexten dokumentiert« (ebd.: 214). Die dokumentarische Interpretation nach Mannheim zielt nun gerade darauf ab, die der Handlungspraxis zugrunde liegenden generativen Schemata herauszuarbeiten: Um ein Kulturgebilde – egal ob es sich dabei um ein Kunstwerk oder um eine sinnhafte menschliche Handlung handelt3 – vollständig in seinem Sinn zu erfassen, ist es notwendig, es nicht nur aus sich selbst heraus zu verstehen, sondern über das Gebilde 3
Mannheim unterscheidet zwischen objektivem Sinn, intendiertem Ausdruckssinn und Dokumentsinn von Kulturgebilden und illustriert die Unterschiede am Beispiel der Handlung eines Mannes, der einem Bettler ein Geldstück gibt (1970: 105ff.). Der objektive Sinn kann hier als »Hilfe« bezeichnet werden und zielt lediglich auf den objektiven sozialen Zusammenhang ab. Um ihn zu erfassen, ist keine Kenntnis des Innenlebens der Beteiligten notwendig. Der intendierte Ausdruckssinn ist dagegen nicht vom Subjekt ablösbar und durch einen Interpreten nicht erfassbar (vgl. auch Nohl 2008: 9). Der Dokumentsinn zielt auf das der Tat des Mannes zugrunde liegende generative Schema ab, das seine Handlung hervorbringt. So könnte seine Gabe von jemandem, der sie in Bezug zu anderen Taten des Mannes setzt – die gleichermaßen als Dokumente aufgefasst werden – als Heuchelei gedeutet werden. Wichtig ist hier der Hinweis, dass ein Dokument nie ohne Bezug auf andere Dokumente entschlüsselbar ist, weshalb der Suche nach Homologien eine große Bedeutung zukommt.
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hinauszugehen und es als Teil von etwas Größerem aufzufassen (Mannheim 1970 [1921-1922]: 104). Das Gebilde wird als Dokument eines umfassenderen Musters verstanden, ein Kunstwerk kann so als Dokument eines Zeitgeistes, eine Handlung als Dokument eines individuellen oder kollektiven Habitus verstanden werden. Die Entschlüsselung des dokumentarischen Sinns der Aussagen der Befragten in Interviews oder Gruppendiskussionen kann damit als Habitusanalyse verstanden werden. Zentral ist hierfür in der dokumentarischen Methode der Begriff der Orientierung bzw. des Orientierungsrahmens. Indem vergleichend untersucht wird, wie verschiedene Individuen oder Gruppen ein Thema behandeln, lässt sich die Spezifität einer Orientierung in Abgrenzung zu anderen Orientierungen herausarbeiten. Sofern innerhalb eines Falles mehrere homologe Orientierungen gefunden werden, können diese als Teil eines umfassenderen Orientierungsrahmens aufgefasst werden. Durch dieses Verfahren wird gewährleistet, zum impliziten Wissen vorzudringen, welches dem Prozess der Konstruktion von Realität zugrunde liegt: »Forscher(innen) bleiben also nicht bei der Rekonstruktion der begrifflich(-theoretischen) Explikationen der Erforschten stehen, sondern rekonstruieren zugleich die diesen begrifflichen Konstruktionen zugrunde liegenden impliziten Vergleichshorizonte der Erforschten [...].« (Bohnsack 2008: 201) Die Analyse zielt nicht darauf ab, die Motive oder die intentionalen Handlungsentwürfe der Erforschten offenzulegen (Bohnsack 2007: 226). Vielmehr dringt sie zum handlungsleitenden Wissen bzw. zu den generativen Schemata der Praxis vor. Aus diesem Grund erweist sich die rekonstruktive Methodologie auch als geeignet, wenn es um implizite Moral – die als besondere Form des atheoretischen Wissens betrachtet werden kann – geht. Abschließend ist zu betonen, dass der Habitusbegriff hier zunächst lediglich herangezogen wird, um die Äußerungen der Beforschten als Dokumente habitueller Dispositionen zu verstehen und so einen Zugang zu den generativen Schemata ihrer Praxis zu gewinnen. Ob Habitusformen tatsächlich entlang der Grenzen sozialer Klassen variieren (Bourdieu 1987: 279), sei dahingestellt. 4.1.1 Zur Methodologie dokumentarisch interpretierter Interviews Die empirische Analyse der dem Konsumhandeln zugrunde liegenden moralischen Orientierungen basiert in dieser Studie auf einer Reihe von Interviews. Narrativ fundierte Einzelinterviews eignen sich in besonderer Weise für eine Habitusanalyse, da den Interviewteilnehmern ausführlich die Gelegenheit gegeben wird, über ihre Handlungspraxis zu berichten. Die Stärke von narrativ fun-
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dierten Einzelinterviews liegt darin, dass sich über sie »die sozialisationsgeschichtliche Genese der Dispositionen erfassen« (Maschke/Schittenhelm 2005: 325) lässt. Das Interview ist als eine individualisierende Methode anzusehen, da die Erzählungen zunächst dem Orientierungsrahmen einzelner Personen folgen. Dies bedeutet jedoch nicht, dass sich aus dem Interview keine Information über das Soziale entnehmen lässt. Das Kollektive bildet sich in Interviews auf zweierlei Weise ab: Einerseits kommt Kollektivität an Stellen zum Ausdruck, in denen Befragte rückblickend thematisieren, dass Entwicklungsverläufe nicht autonom durch die eigenen Intentionen gesteuert sind, sondern durch fremdgesetzliche Geschehnisse (Bohnsack 2008: 119). Dies ist etwa zu erkennen in der Falldarstellung von Frau Kamps, die ihre Hinwendung zu einem nachhaltigen Konsumverhalten nicht als Resultat einer intentionalen Überlegung schildert, sondern als beeinflusst durch die verschiedenen Stationen ihres Lebenslaufes (vgl. 4.1.3). Andererseits greifen die Befragten während des Interviews erzählerisch auf Erlebnisse in den konjunktiven Erfahrungsräumen zurück, in denen sie ihr implizites Handlungswissen erworben haben, so dass ein Zugang zu den kollektiven Formen des Erlebens möglich wird. Jedoch geschieht der Zugriff auf das Kollektive im Interview auf eine indirektere Weise als in Gruppendiskussionen, denn kollektive Orientierungen müssen »aus den primären Erfahrungsrahmen einer individuellen […] Thematisierung des Lebens in analytischer Abstraktion erst herausgelöst werden« (ebd.: 120). Eine Weiterentwicklung des Auswertungsverfahrens der dokumentarischen Methode für Interviewdaten liefert Nohl (2008). Sowohl biographische als auch leitfadengestützte Interviews können dokumentarisch interpretiert werden, allerdings muss es sich um narrativ fundierte Interviews handeln. Das heißt, die Fragen sollen den Informantinnen möglichst viel Raum einräumen, längere Darstellungen entfalten zu können, um das oben beschriebene Postulat der Offenheit zu erfüllen. Als entscheidendes neues Element gegenüber dem von Bohnsack (Bohnsack 2008: 32-56) entwickelten Auswertungsverfahren greift Nohl auf die Textsortentrennung zurück, die Fritz Schütze (1987) im Rahmen der Narrationsstrukturanalyse entwickelt hat. Dabei wird zwischen Erzählungen, Beschreibungen, Argumentationen und Bewertungen unterschieden. •
Erzählungen sind dadurch gekennzeichnet, dass in ihnen Handlungs- und Geschehensabläufe geschildert werden, die ein Anfang und ein Ende haben und deren Elemente in einer eindeutigen zeitlichen Aufeinanderfolge angeordnet sind, was sich typischerweise in der Formulierungen wie »erst«, »und dann…« usw. niederschlägt. Erzählungen wird eine besondere Bedeutung zugemessen, weil sie einen besseren Zugang zur erlebten
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Erfahrung ermöglichen als die anderen Textsorten (Nohl 2008: 29-30). Grund dafür sind die sogenannten Zugzwänge des Erzählens (Kallmeyer/Schütze 1977): Längere Darstellungen zwingen den Erzähler dazu, seine Erzählung zu komplettieren, zu kondensieren, zu detaillieren und in ihrer Gestalt abzuschließen. Im Zuge dieser Zwänge »verstrickt sich der Erzähler in den Rahmen seiner eigenen Erfahrungen und lässt damit […] einen tiefen Einblick in seine Erfahrungsaufschichtung zu« (Nohl 2008: 29-30). Beschreibungen haben einen abstrahierenden Charakter. In ihnen werden »immer wiederkehrende Handlungsabläufe oder feststehende Sachverhalte« (Nohl 2008: 27) geschildert, die temporal nicht eindeutig geordnet sind. In den vorliegenden Interviews dominierte diese Textsorte, was als Hinweis auf die hohe Routinehaftigkeit der konsumrelevanten Praktiken Einkaufen, Essenszubereitung und Verzehr gelesen werden kann. Auch wenn die genannten Zugzwänge bei Beschreibungen weniger ausgeprägt sind, so ist auch ihnen eine gewisse Nähe zur erlebten Erfahrung zuzusprechen. Argumentationen schließlich sind »(allltags-)theoretische Zusammenfassungen zu den Motiven, Gründen und Bedingungen für eigenes oder fremdes Handeln« (Nohl 2008: 28). Wenn Interviewpartner argumentieren, tun sie dies, weil sie glauben, dem Interviewer einen Sachverhalt erklären oder sich rechtfertigen zu müssen, was immer auf die aktuelle Situation verweist und nicht auf die vergangenen erlebten Erfahrungen. Sie stellen daher die Textsorte dar, die am wenigsten nah an der erlebten Handlungspraxis liegt. Oft kommen im Zuge von Argumentation auch Bewertungen zum Ausdruck, die ebenfalls der aktuellen Situation des Interviews verhaftet sind, da sie von vergangenen Bewertungen einer erlebten Erfahrung abweichen können. Aufgrund der Ferne argumentativer Passagen zum impliziten Handlungswissen der Akteure ist die Dokumentarische Methode dieser Textsorte gegenüber eher skeptisch eingestellt (Nohl 2008: 22).
4.1.2 Zur Bedeutung von Argumentationen und Bewertungen für die Rekonstruktion von Moral Diese Skepsis wird in der vorliegenden Studie nur teilweise geteilt: Es ist der Ansicht zuzustimmen, dass konkret erlebte Erfahrungen auf dem Wege der Interpretation von Argumentationen nicht rekonstruiert werden können. Allerdings erscheint es in Bezug auf moralische Dimensionen des Handelns geradezu unab-
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dingbar, auf Argumentationen zurückzugreifen, da Erklärungen und Rechtfertigungen mitunter auf Moralvorstellungen verweisen. Moral beinhaltet per definitionem eine Unterscheidung zwischen ›gut‹ und ›schlecht‹ und hat somit einen grundlegend evaluativen Charakter. Derartige Wertungen können zwar in Erzählungen und Beschreibungen eingebettet sein, werden aber nur auf Basis von argumentativen und wertenden Einschüben für den Forscher sichtbar. Daraus ergibt sich, dass die moralisch relevanten Komponenten des Handelns nicht allein auf Basis von Erzählungen und Beschreibungen rekonstruiert werden können. In Bezug auf das Handeln von Konsumenten hat Colin Campbell die Bedeutung von antizipatorischen Legitimationen betont: »[…] the accomplishment of all human action requires the presence of the twin and closely inter-related processes of motivation and justification (or legitimation), and that this second process inevitably involves an ethical component. Hence the question should not be whether, or to what extent the conduct of individuals in the marketplace should be regarded as governed by moral or ethical considerations. Rather, what is the nature of the moral and ethical ideas that, at any one time, serve to underpin such conduct, and in particular enable consumers to regard their action as »legitimate«.« (Campbell 2006: 221)
Campbell führt weiter aus, dass sich Konsumenten im Glauben befinden müssen, dass der Kauf eines Produkts eine legitime Handlung darstellt. Sie müssen ihr Handeln als »verteidigbar« ansehen für den Fall, dass eine dritte Person dieses Handeln in Frage stellt (2006: 221). Es ist davon auszugehen, dass die Vorwegnahme einer solchen Rechtfertigungssituation in der Regel nicht als bewusste Überlegung vor der Handlung stattfindet, sondern weit öfter unbewusst in Form von Dispositionen zum Tragen kommen kann (vgl. hierzu Kap. 3.1). Das Interview stellt nun eine soziale Situation dar, in der die Informanten damit konfrontiert sind, die erzählten und beschriebenen Konsumhandlungen gegenüber dem Interviewer auch zu erklären. Diese Erklärungen sind zwar nicht per se gleichzusetzen mit der von Campbell erwähnten vorweggenommenen Legitimierbarkeit von Handlungen, denn sie können auch Ex-post-Rationalisierungen darstellen. Jedoch wurde gegen den Einwand, dass die geäußerten Rechtfertigungen ausschließlich der spezifischen Situation des Interviews verhaftet bleiben (Bergmann/Luckmann 1999) mit Bourdieu (1992: 139), bereits vorgebracht, dass die argumentativen Äußerungen in einer konkreten Interaktionssituation nie nur aus der Spezifität dieser Situation selbst emergieren, sondern habituell verankerte Strukturen in der Situation fortwirken. Demzufolge können auf Basis von Aussagen im Interview auch latent vorhandene Dispositionen rekonstruiert werden, etwa wenn Befragte verschiedene Themenbereiche immer wieder auf eine homo-
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loge Art und Weise behandeln. Mit Matthias Zick Varul (2004: 246-248) lässt sich darüber hinaus anführen, dass es in Situationen narrativer Selbstdarstellung keineswegs nur um »impression management« im Sinne von Goffman (1969) gegenüber dem Interviewer geht, sondern vor allem auch um die Kontinuierung der eigenen Identität: Selbstdarsteller sind auch ihr eigenes Publikum, weshalb Interviewte in der Regel bemüht darum sind, Kohärenz herzustellen und kognitive Dissonanzen zu vermeiden: »Die Explikation von Haltungen, Einstellungen und Kenntnissen hat den Charakter von Selbstbeweisen« (Varul 2004: 247). Im Interview vorgebrachte moralische Bewertungen und deren argumentative Begründungen sind demzufolge weder adäquat als allzeit gültige Überzeugungen aufzufassen, die unabhängig von dem fortbestehen, was einem Menschen im weiteren Verlauf seines Lebens passiert, noch als rein situative, lediglich in der Interviewsituation emergierende Bedeutungen. Argumentationen bergen somit durchaus wertvolle Analysepotentiale: Vergleicht man die moralischen Gehalte, die in argumentativen Passagen explizit benannt werden, mit dem implizit-moralischen Wissen, das in Erzählungen und Beschreibungen zum Ausdruck kommt, so wird ein Blick auf die Spannungsverhältnisse zwischen erlebten Erfahrungen und Erklärungs- und Rechtfertigungsversuchen möglich. Diese Relationen können interessante Aufschlüsse darüber geben, wie Akteure mit möglichen Widersprüchen zwischen ihren Handlungen und von außen (etwa durch den Interviewer) an sie herangetragenen normativen Erwartungen umgehen. Um dennoch der spezifischen Interaktionssituation gerecht zu werden, ist es bei der Interpretation argumentativer Passagen wichtig, das soziale Verhältnis, das mit der jeweiligen Standortgebundenheit sowohl des Interviewers als auch der Befragten verbunden ist, sorgfältig zu reflektieren. Darüber hinaus weisen die oben vorgebrachten theoretischen Argumente darauf hin, dass sich an Argumentationen selbst moralrelevante implizite Wissensbestände herausarbeiten lassen. Es ist sinnvoll, dies an einem Beispiel zu verdeutlichen: Im Interview mit Frau Steinhoff, einer Sozialpädagogin im Alter zwischen 26 und 30 Jahren, bittet der Interviewer darum zu erläutern, worauf es ihr bei Produkten ankomme. Daraufhin beschreibt sie, dass sie und ihr Freund »nur fairen Kaffee, nur fairen Tee« und »nur Freilandeier« kaufen. Sie erläutert, dass sie das eigentlich »nicht so strikt machen« würde, ihr Freund aber »sehr dahinter« sei. Wenn sie selbst entscheiden könnte, würde sie »schon Freilandeier kaufen«, jedoch nicht den »fairen Kaffee«. Der Interviewer stellt daraufhin die Frage, warum sie sich für die Freilandeier, nicht aber für den »fairen Kaffee« entscheide. Daraufhin argumentiert sie:
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»(lacht) Ja is ne gute Frage (lacht kurz) Der is so teuer (lacht kurz) [Interviewer: (lacht) Okay] Ja is ja is einfach nur der Preis ich mein ich weiß was dahinter steckt und das is ja auch gut aber n Sozialpädagogen-Gehalt is halt au nich so viel und wenn du nur auf solche wenn du nur solche Produkte kaufst dann geht das ganz schön ins Geld (.) Das muss man einfach sagen auch wenn ich damit vielleicht n bisschen ähm grade nicht die Meinung von nem Sozialpädagogen vertrete (lacht kurz) Aber so is das«
Der Interviewer stellt ihr Kaufverhalten hier als widersprüchlich dar und fordert Frau Steinhoff zu einer Erklärung heraus. Zieht man den Kontext des Interviews heran, so wird deutlich, dass diese Situation geradezu typisch ist für das, was Frau Steinhoff in ihrer Beziehung erlebt, in der sie sich gegenüber ihrem Freund rechtfertigen muss, der für den Kauf »fairer«, aber relativ teurer Produkte eintritt. Ebenfalls wird jedoch deutlich, dass sie sich gegenüber dessen Haltung abgrenzt und eine andere Position vertritt. Der Interviewer rückt nun mit seiner Frage nach Erklärung in eine ähnliche Rolle wie die des Freundes. Deutlich wird auch, dass Frau Steinhoff sich keineswegs affirmativ an die vom Interviewer vorgegebene Idee anpasst, dass Kaufverhalten konsequent sein sollte, sondern vielmehr eine alternative Deutung verteidigt. Frau Steinhoff expliziert hier eine Alltagstheorie, deren Gehalt in etwa lautet: »Ich kaufe keinen fair gehandelten Kaffee, weil er zu teuer ist.« Darüber hinaus wird jedoch als impliziter Gehalt deutlich, dass sie eine legitime Position darin sieht, als Konsumentin zuallererst auf das eigene begrenzte Budget zu achten. Eben dies kann als der moralische Gehalt identifiziert werden, der ihrer Aussage zugrunde liegt. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Argumentationen, in denen Handlungsgründe expliziert werden, Elemente beinhalten, die selbst implizit bleiben und nicht erklärt werden. An dieser Stelle soll die Interpretation der implizit erkennbaren Moralvorstellungen nicht weiter vertieft werden, zumal dazu eine Analyse weiterer Interviewpassagen notwendig wäre (siehe aber Kap. 6.1.3). Es ging lediglich darum, zu demonstrieren, dass es prinzipiell möglich ist, auch anhand der Interpretation von argumentativen Passagen implizites, handlungsorientierendes Wissen aufzuzeigen, und dass es gerade in Bezug auf moralisch relevantes Wissen sogar unabdingbar ist, auf Argumentationen und Bewertungen zurückzugreifen.
4.2 S AMPLING UND Z UGANG
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Studien, die auf der Methodologie rekonstruktiver Sozialforschung basieren, haben in der Regel einen ausgeprägt explorativen Charakter: Sie folgen einer »Lo-
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gik des Entdeckens« (Rosenthal 2011: 13), die eng mit dem oben bereits angesprochenen »Prinzip der Offenheit« (Bohnsack 2008: 20) zusammenhängt. Ziel ist es, Aussagen über die dem Wissenschaftler noch nicht bekannten Aspekte des interessierenden Forschungsfeldes zu treffen. Aus diesem Grund ist es weder möglich noch wünschenswert, bereits vor Beginn der Feldforschung Hypothesen aufzustellen, die anschließend auf Basis der Daten überprüft werden. Vielmehr geht es darum, im Verlauf des Forschungsprozesses nach und nach auf Basis erster Erkenntnisse zu später immer besser empirisch gesättigten theoretischen Annahmen zu gelangen. Dies hat für das Sampling qualitativer Studien Konsequenzen: Die Fallauswahl orientiert sich nicht wie in quantitativen Studien am Kriterium der statistischen Repräsentativität, sondern verfolgt das Ziel, anhand der ausgewählten Fälle die theoretisch relevanten Kategorien des Forschungsfeldes abzudecken (Rosenthal 2011: 83) bzw. »den Gegenstand in seinen diversen Varianten und Ausprägungen« zu repräsentieren (Schittenhelm 2009: 5). Um dies leisten zu können, ist es sinnvoll, auf das von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickelte Prinzip des theoretischen Samplings zurückzugreifen (Strauss/Corbin 1996: 148ff.). Das Sampling erfolgt dabei im Laufe des Forschungsprozesses, so dass Theoriebildung, Datenerhebung und Auswertung keine getrennt aufeinanderfolgenden Schritte darstellen. Vielmehr stellt das theoretische Sampling eine Kette von Auswahlentscheidungen dar, die sukzessive getroffen werden, zunächst auf Basis theoretischer und praktischer Vorkenntnisse, dann auf Basis einer sich entwickelnden, empirisch immer mehr gesättigten, gegenstandsbezogenen Theorie (Strübing 2008: 30-31).4 Die zentralen Fragen der Studie zielen darauf ab, die Varianten der Alltagsmoral des Konsums von Lebensmitteln bei ›gewöhnlichen‹ Konsumenten zu 4
Glaser und Strauss sind dafür kritisiert worden, den Eindruck zu erwecken, dass die Theoriebildung der Grounded Theory allein auf Induktion beruhe, so dass die Theorie quasi ohne Zutun des Forschers aus den Daten emergiere. Dies ist als das »induktivistische Selbstmißverständnis« der Grounded Theory bezeichnet worden (Kelle 1994: 341). Aktuellere Weiterentwicklungen betonen dagegen stärker die Rolle der Abduktion als wichtigen Erkenntnismodus qualitativer Forschung (Strübing 2008: 51-53): Neues Wissen entsteht dabei vor allem durch gedankliche Sprünge oder kreative Blitze bei der Interpretation von Daten. Angesichts der vorliegenden Fakten, die sich nicht in bestehende Theorien einordnen lassen, wird nach Erklärungen gesucht, die durchaus waghalsig sein können und in eine forschungsleitende Hypothese münden. In Anschluss daran können deduktiv Voraussagen aus der Hypothese abgeleitet werden und induktiv nach Fakten gesucht werden, die die Annahmen weiter stützen (Reichertz 2003: 13). Ein adäquates Verständnis des Theoriebildungsprozesses ist demnach in einem Wechselspiel aus Abduktion, Induktion und Deduktion zu suchen.
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identifizieren, deren Verhältnis zur Konsumpraxis zu untersuchen sowie die Frage nach den sinnhaften Wechselwirkungen zwischen Konsummoral und sozialer Distinktion im Kontext vertikaler Schichtung zu untersuchen. Da jedes Mitglied der Gesellschaft Lebensmittel konsumiert und somit eine äußerst breite Zielgruppe für die Untersuchung in Frage kam, galt es, einen Mittelweg zu finden: Einerseits ist eine heterogene Gestaltung des Samples nötig, um die Chance zu erhöhen, verschiedene Konsummoralitäten in angemessener Breite zu erfassen. Andererseits galt es jedoch, die Varianz des Samples nicht zu groß werden zu lassen, um hinreichende Gemeinsamkeiten für Fallvergleiche innerhalb des Samples sicherzustellen. Als gangbare Lösung erschien es daher, zunächst einige Ausschlusskriterien festzulegen sowie über wichtige sozialstruktureller Parameter wie Geschlecht, Alter, Bildungsgrad, Einkommen und Haushaltsformen Heterogenität im Sample zu produzieren, ohne dabei zu beanspruchen, die komplette Bandbreite der Gesellschaft abzudecken: Bereits zu Beginn der Untersuchung wurde entschieden, lediglich Personen zu interviewen, die im Haushalt alleinoder mitverantwortlich für die Versorgung mit Lebensmitteln sind und die sich nicht mehr in der schulischen oder beruflichen Ausbildungsphase befinden. Dies erschien sinnvoll, um Interviewpartnern zu rekrutieren, die an den interessierenden Praktiken auch selbst umfänglich beteiligt sind und darüber etwas zu erzählen haben. Zudem wurden ausschließlich Befragte ohne Migrationshintergrund in die Untersuchung einbezogen, da bei Migranten durch ihre Verbundenheit mit den Esskulturen ihrer Herkunftsländer eine Vielfalt zu erwarten ist, die im Zuge der vorliegenden Studie kaum adäquat erfassbar wäre und einer eigenen systematischen Untersuchung bedürfte. Die Interviewpartner wurden in Siegen sowie dem näheren Umland rekrutiert. Diese Wahl erscheint der Zielsetzung angemessen, da ein großer Teil der Bevölkerung im Einzugsbereich kleinerer Großstädte und großer Mittelstädte lebt. Bei der Auswertung wurde die räumliche Lage der Wohnorte nicht weiter berücksichtigt. Es ging lediglich darum sicherzustellen, dass die Interviewpartner weder in einem Umfeld leben, das durch eine ausgeprägte urbane Subkultur bestimmt ist, noch in einem ländlichen Raum, der stark durch Landwirtschaft geprägt ist. Hinsichtlich der sozialstrukturellen Kriterien wurde das Sample sukzessive so ergänzt, dass eine hinreichende Varianz in Hinblick auf Geschlecht, Alter, Haushaltstypen sowie Bildung und Einkommen hergestellt werden konnte. Hinsichtlich der Haushaltstypen wurde beschlossen, das Sample auf Singles und Paare jeweils mit und ohne Kinder zu begrenzen, um Vergleiche anstellen zu können, aber nicht zu viel Varianz zuzulassen. Beim Feldzugang wurde auf verschiedene Rekrutierungswege zurückgegriffen, um die angestrebte Heterogenität innerhalb der breiten Zielgruppe zu erreichen. Einerseits wurden gemeinnützige Vereine mit der Bitte, Kontakt zu Ver-
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einsmitgliedern herzustellen, andererseits Betriebsräte von mittelständischen Firmen angesprochen. Hierbei wurde von der Annahme ausgegangen, dass sich in Vereinen mit verschiedenen inhaltlichen Ausrichtungen jeweils Menschen aus verschiedenen sozialen Milieus finden lassen. Betriebsräte von mittelständischen Firmen wurden als Informanten genutzt, da sie Kontakt zu bestimmten Berufsgruppen (etwa: Gering- oder Besserverdiener) herstellen können, um das Sample gezielt in Hinblick auf diese Kriterien zu erweitern. In einer zweiten Phase wurde planvoll einerseits nach hochqualifizierten Gutverdienern gesucht, andererseits nach Menschen in einer prekären sozialen Lage, da diese Gruppen nach der ersten Phase des Samplings noch wenig repräsentiert waren. Die Schulleiter zweier Gymnasien vermittelten mir Kontakt zu einigen Lehrern, weitere Interviewpartner wurden über persönliche Bekannte rekrutiert. Um das Sample zu vervollständigen, wurde abschließend eine Zeitungsanzeige geschaltet, in der eine geringe finanzielle Belohnung versprochen wurde. Auf diese Anzeige meldeten sich insbesondere Geringverdiener. Insgesamt kamen über die verschiedenen Kontaktwege 25 Interviews zustande, die im Zeitraum von Mai 2010 bis Dezember 2011 geführt wurden. Wie gewünscht zeichnet sich das Sample durch eine Heterogenität der genannten Kriterien aus, wobei etwas mehr Frauen sowie mehr Interviewpartner mit einem höheren Bildungsabschluss und einem überdurchschnittlichen Einkommen rekrutiert wurden.5 Insgesamt wurden zehn Männer und 15 Frauen befragt. Fünf Befragte leben alleine, sieben in einem gemeinsamen Haushalt mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin, zwölf mit Partner/-in und ein oder mehreren Kindern, eine Befragte lebt gemeinsam mit ihrem erwachsenen Sohn. Vier Befragte sind jünger als 30 Jahre, 13 sind zwischen 31 und 50 Jahren alt und acht über 55 Jahre. 14 der Interviewpartner haben das Abitur oder Fachabitur, sieben weitere einen Realschulabschluss und vier einen Hauptschulabschluss als höchsten allgemeinbildenden Schulabschluss. Hinsichtlich des monatlich verfügbaren Haushaltseinkommens ist es sinnvoll, das Nettoäquivalenzeinkommen nach der gebräuchlichen OECD-Skala zu betrachten, um die Einkommen unterschiedlich großer Haushalten vergleichen zu können. Das mittlere nominale Nettoäquivalenzeinkommen der privaten Haushalte lag in Deutschland im Jahr 2006 bei 1437 Euro (Statistisches Bundesamt; GESIS-ZUMA; WZB Berlin 2008: 164). Sieben Befragte leben in Haushalten, die mit weniger als 75 Prozent des monatlichen Einkommens auskommen müssen und damit in prekärem Wohlstand oder gar in re5
Die Darstellung der soziodemographischen Beschaffenheit des Samples dient hier lediglich dazu, die erfasste Heterogenität zu dokumentieren. Sie soll keinesfalls suggerieren, dass die hier genannten Merkmale in entscheidender Weise die Sinnorientierungen determinieren, die erst in der qualitativen Analyse aufgezeigt werden können.
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lativer Armut leben. Bei vier Befragten liegt eine mittlere Einkommenslage vor. Elf Befragte leben in Haushalten, die mehr als 125 Prozent des mittleren Nettoäquivalenzeinkommens zur Verfügung haben, drei weitere verweigerten die Auskunft über ihre Einkommenssituation. Schließlich sind die Berufe der Befragten ein guter Indikator für die soziale Klasse, da die berufliche Position sowohl Bildung, Einkommen und berufliches Prestige widerspiegelt. Auf Basis der ausgeübten Berufe habe ich die Befragten im Klassenschema von Daniel Oesch (2006) verortet. Oesch unterscheidet zwischen verschiedenen Arbeitslogiken einerseits und Qualifikationsniveaus andererseits. Er gelangt so zu einem Klassenmodell, das den Teilungen moderner Dienstleistungsgesellschaften gut gerecht wird.6 Bei Rentnern habe ich den zuletzt ausgeübte Beruf als Kriterium genutzt; bei Paaren, in denen die Partner unterschiedlichen Berufsklassen zuzuordnen sind, habe ich jeweils den Partner mit der höheren Klassenlagerung für den gesamten Haushalt herangezogen. Vereinfachend habe ich drei Kategorien gebildet, die lediglich die vertikale Dimension des Klassenschemas berücksichtigen: Insgesamt sechs Befragte können zur oberen Mittelklasse gerechnet werden, zu der Experten und professionelle Berufe gehören. 13 Befragte sind der mittleren/unteren Mittelklasse zuzuordnen, zu der semi-professionelle Berufe sowie qualifizierte Ausbildungsberufe gehören. Zu guter Letzt können sechs Befragte zur Kategorie Arbeiterklasse/prekär Beschäftigte/Arbeitslose gerechnet werden, die Un- und Angelernte in Berufen, die sich weitgehend durch Routinearbeit auszeichnen, sowie Arbeitslose umfasst.
4.3 I NTERVIEWBEDINGUNGEN
UND - DURCHFÜHRUNG
Bei der Suche nach Interviewpartnern bat ich die Personen, die als Informanten fungierten, mir die Telefonnummern der in Frage kommenden Interviewpartner zukommen zu lassen, um die Initiative für die Kontaktaufnahme selbst in der Hand zu haben. Beim ersten Telefongespräch fragte ich, an welchem Ort die Befragten das Interview gerne durchführen würden. Einige Interviews – insbeson-
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Allgemein sind Klassen »Gruppierungen struktureller Positionen im Wirtschaftssystem« (Solga et al. 2009: 25). Oeschs Klassenschema schließt an die Arbeiten von Goldthorpe (z.B. 1992) an und ist in der Tradition Weber’scher Klassentheorien zu verorten, die Klassen »durch ihre Stellung im Distributionsprozess, nämlich als Positionen auf dem Markt« (Solga et al. 2009: 27) definieren und von marxistischen Theorien abzugrenzen sind, die Klassen an das Eigentum an Produktionsmitteln gebunden sehen.
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dere diejenigen, die mir über Betriebsräte oder Schulleiter vermittelt wurden – fanden am Arbeitsplatz statt. Die meisten der durch Vereine vermittelten Interviews fanden in Vereinsräumen statt, teilweise direkt bei einem Vereinstreffen. Von den restlichen Interviewpartnern entschied sich etwa die Hälfte für ein Treffen in einem Café, die andere Hälfte bat mich, zu ihnen nach Hause zu kommen. Gemäß der rekonstruktiven Methodologie kommt es im Interview darauf an, dass sich die Sinnsysteme und Relevanzsetzungen der Interviewpartner entfalten können. Arnd-Michael Nohl (2008: 7) weist darauf hin, dass dies sowohl im Rahmen leitfadengestützter Erhebungsverfahren als auch narrativer Interviews möglich ist. Wichtig ist dafür, dass die Interviews narrativ fundiert sind und auf die Artikulation von Erfahrungen und Orientierungen zielen (ebd.). Um einerseits diese Offenheit zu generieren, andererseits aber auch sicherzustellen, dass die mich interessierenden Themenbereiche im Interview in geordneter Weise abgehandelt werden können, entschied ich mich zu Beginn der Feldphase für eine Form des Leitfadeninterviews, die Cornelia Helfferich (2011: 179) als »teilnarrativ« bezeichnet hat. Diese Interviewform stellte sich im weiteren Verlauf – zumindest in einzelnen Aspekten – als problematischer Zugang heraus, den ich später korrigiert habe. Für das teilnarrative Interview wird ein Leitfaden ausgearbeitet, der in mehrere Bereiche untergliedert ist, wobei zu jedem Bereich zunächst eine erzählauffordernde Leitfrage gestellt wird. Nach der Erzählung sollen dann zunächst immanente Nachfragen gestellt werden, die sich auf Aspekte der Erzählung beziehen. Anschließend können exmanente Nachfragen gestellt werden, um den Forscher interessierende Themen anzusprechen, die vom Befragten selbst nicht angesprochen wurden. Dann kann der Interviewer zum nächsten Bereich überleiten, für den die Prozedur wiederholt wird (vgl. Helfferich 2011: 181ff.). Diese Leitfadenform schien dem Thema Konsum von Lebensmitteln in besonderer Weise gerecht zu werden, da sie es ermöglichte, je eine Eingangsfrage zu den Bereichen Einkauf, Zubereitung und Verzehr von Essen zu stellen. In einem gesonderten Abschnitt stellte der Interviewer die Frage »Machen Sie sich manchmal Gedanken darum, ob Sie mit Ihrem Konsum indirekt auch Dinge unterstützen, die Sie eigentlich nicht befürworten?«, mittels derer die Haltung zu ethisch problematischen Dimensionen des Lebensmittelkonsums erhoben wurde. Die Erfahrungen mit diesem Leitfaden sind grundsätzlich positiv, jedoch zeigten sich auch Grenzen: Zum einen schienen bei einigen Interviews die Befragten trotz der offen gestalteten Fragen nicht richtig ins Erzählen zu kommen.7 Bei der Auswertung der ersten Transkripte fiel zudem auf, dass sich 7
Hier ist allerdings anzumerken, dass die Schwächen der ersten Interviews nicht allein auf das verwendete Leitfadenprinzip zurückzuführen sind, sondern auch auf die zu diesem Zeitpunkt geringe Praxiserfahrung des Interviewers und die Schwierigkeit, in
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nur wenige echte Erzählungen im Material, aber ein hoher Anteil von Beschreibungen fanden. Das ist jedoch nur teilweise auf den Leitfaden zurückzuführen, sondern eher in dem Tatbestand begründet, dass Einkaufen, Kochen und Essen Tätigkeiten sind, die sich im Alltag regelmäßig wiederholen und daher starker Routinisierung unterworfen sind. Dies zeigte sich daran, dass Befragte oft dann in Beschreibungen verfielen, wenn um die Erzählung konkreter Situationen gebeten wurde. Es ist zu vermuten, dass es den Befragten bei routinehaften Tätigkeiten schwer fällt, im Nachhinein die Besonderheiten einer konkreten Situation herauszustellen, weshalb sie weitgehend abstrahierend beschreiben. Nach einer eingehenderen Beschäftigung mit der rekonstruktiven Methodologie und den Erfahrungen mit den zunächst gewählten Leitfadeninterviews wurden mir die Vorteile narrativer Interviews bewusst.8 Da ich mit der Länge der bisherigen Interviews und dem Anteil an Erzählungen nicht zufrieden war, entschied ich mich dafür, die verbleibenden Interviews nach der Methode des narrativen Interviews zu führen, indem nur eine Erzählaufforderung gestellt wird. Alle bisher zu einzelnen Bereichen gestellten Erzählaufforderungen blieben für den Nachfrageteil erhalten, so dass die Vergleichbarkeit zu den ersten Interviews gewahrt wurde. Als Eingangsfrage wurde formuliert: »Ich bin interessiert an den persönlichen Erfahrungen, die Sie als Käufer und Konsument von Lebensmitteln gemacht haben. Vielleicht können Sie damit beginnen, von der Zeit zu erzählen, als Sie aus dem Elternhaus ausgezogen sind und sich dann selbst versorgen mussten, und wie es dann weiterging bis zum heutigen Tag. Ich bin an allem interessiert, was Ihnen zu diesem Thema in den Sinn kommt. Sie haben so viel Zeit, wie Sie möchten. Ich werde nun keine weiteren Fragen stellen, sondern nur zuhören und einige Notizen zu den Dingen machen, zu denen ich später Nachfragen möchte.« Diese Methode erwies sich dabei aus vier Gründen als die produktivere und erfolgreichere Erhebungsform: •
Erstens kamen alle Interviewpartner, die mit dieser Frage konfrontiert wurden, schnell in einen Erzählfluss. Zwar wichen sie in einigen Fällen stark vom Thema ab, was aber etwas über die Relevanz des Themas für sie aussagt.
der Interviewsituation an der richtigen Stelle die geeigneten immanenten Nachfragen zu stellen. 8
Für die exzellente Einführung in die Durchführung narrativer Interviews danke ich Nicole Witte, an deren Workshop zur biographischen Methode nach Gabriele Rosenthal (vgl. Rosenthal 2004) ich im April 2011 an der Universität Siegen teilnehmen durfte.
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Zweitens motivierte die biographisch orientierte Eingangsfrage stärker zu Erzählungen über die Vergangenheit. Dadurch wurde es möglich, etwas darüber zu erfahren, durch welche einschneidenden Erlebnisse die Informanten zu ihren heutigen Orientierungen gekommen waren. Dagegen konzentrierten sich die Ausführungen in den Leitfadeninterviews stark auf den aktuellen Lebensabschnitt. Drittens konnte die durchschnittliche Dauer der Interviews gegenüber den Leitfadeninterviews mehr als verdoppelt werden. Viertens gelang es nun besser, effektive erzählgenerierende immanente Nachfragen zu stellen. Auch konnten so mehr Erzählungen generiert werden, wenn auch der Anteil der Beschreibungen aus oben genannten Gründen nach wie vor hoch blieb.
4.4 AUSWERTUNGSSCHRITTE Für die Auswertung habe ich einige Fälle ausgewählt und einer sehr intensiven Interpretation unterzogen, während ich andere Fälle nur zur Ergänzung herangezogen habe. Relativ schnell stellte sich heraus, dass sich in einigen Interviews sehr deutlich zentrale moralische Orientierungen dokumentierten, während andere Fälle weniger hergaben, was teilweise auch daran lag, wie gut es dem Interviewer gelang, die Befragten zu längeren Darstellungen zu motivieren. Die Auswahl hing dabei im Wesentlichen davon ab, wie gut sich typische, auch in anderen Fällen auffindbare Orientierungen an einem Fall herausarbeiten ließen. Insgesamt spiegeln die näher interpretierten und dargestellten Fälle die Vielfalt der Sinnorientierungen im Material weitestmöglich wider. Bei der Auswertung ging ich entlang der Arbeitsschritte vor, wie sie Bohnsack (2008: 134ff.) für die dokumentarische Interpretation erarbeitet hat. Zentral ist dabei die von Karl Mannheim (1980: 85ff.) entwickelte Unterscheidung zwischen immanenten und dokumentarischen Sinngehalten, die in der Trennung zweier Interpretationsschritte – der formulierenden und der reflektierenden Interpretation – aufgegriffen wird.9 Vorbereitend wird jedoch zunächst das Interview durchgehört und ein thematischer Verlauf angefertigt, in dem die Themen des Interviews in ihrer zeitlichen
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Einen Gegenstand immanent zu verstehen, bedeutet, ihn losgelöst von seinem zeitlichen und kulturellen Entstehungszusammenhang zu verstehen. Dagegen zielt das dokumentarische Verstehen darauf ab, einen Gegenstand genau aus diesem Entstehungszusammenhang heraus zu verstehen (1980: 85ff.).
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Abfolge festgehalten werden. Diese thematischen Verläufe dienen dazu, einen Überblick über das Interview zu erhalten und relevante Textabschnitte für die Transkription zu identifizieren (Nohl 2008: 66). Die dokumentarische Methode interessiert sich dabei in der Regel nicht für die Gesamtgestalt des erhobenen Materials, sondern für diejenigen Abschnitte, in denen die theoretisch interessierenden Aspekte einerseits sowie die subjektiven Relevanzsysteme der Interviewten andererseits in besonderer Deutlichkeit hervortreten. Neben diesen beiden Kriterien werden weiterhin Abschnitte zur Transkription und Interpretation ausgewählt, auf deren Basis Vergleiche mit anderen Interviews möglich werden, etwa auf Basis gleicher Themen oder gleicher impliziter Orientierungsrahmen (Nohl 2007: 258-259). Die so ausgewählten Abschnitte werden dann einer detaillierten formulierenden Interpretation unterzogen, die noch innerhalb des »immanenten« Sinngehalts bleibt. In Bezug auf Interviews ist dabei die zu beantwortende Frage, »was« in einer zu interpretierenden Passage gesagt wurde. In der Praxis bedeutet dies, die Darstellungen der Interviewten sowie die Fragen des Interviewers noch einmal in eigenen Worten zusammenzufassen, wobei bewusst auf die Verwendung sozialwissenschaftlicher Begriffe verzichtet wird (Nohl 2008: 77). Die formulierende Interpretation zielt damit auf den in einer Passage kommunikativ explizierten objektiven Sinn (vgl. Kap. 4, Fußn. 4). Der darauf folgende Schritt der reflektierenden Interpretation (Bohnsack 2008: 135-139) ist das eigentliche Kernstück der dokumentarischen Methode, denn er bezieht sich auf die Ebene des Dokumentsinns. Nun geht es nicht mehr um die thematischen Gehalte, sondern um die Rekonstruktion des Rahmens, in dem ein Thema behandelt wird. Im Fokus steht nun nicht mehr das »was«, sondern das »wie«, die Art und Weise, in der ein Interviewpartner über das Thema spricht. Folgende Fragen soll die reflektierende Interpretation beantworten: »Was zeigt sich hier über den Fall? Welche Bestrebungen und/oder Abgrenzungen sind in den Redezügen impliziert? Welches Prinzip, welcher Sinngehalt kann die Grundlage der konkreten Äußerung sein? Welches Prinzip kann mir verschiedene (thematisch) unterschiedliche Äußerungen als Ausdruck desselben ihnen zugrunde liegenden Sinnes verständlich machen?« (Przyborski/Wohlrab Sahr 2010: 289)
In Bezug auf die reflektierende Interpretation von Interviews hat Arnd-Michael Nohl (2008: 48-50) vorgeschlagen, zunächst eine formale Interpretation vorzunehmen, in der die Textsorten festgehalten werden, die in der interessierenden Passage vorkommen. Auf dieser Basis kann beurteilt werden, ob die Passage sich auf vergangene erlebte Erfahrungen bezieht oder eher der aktuellen Inter-
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viewsituation Rechnung trägt. Anschließend werden die semantischen Gehalte einer Sequenzanalyse unterzogen. An diesem Punkt ist es äußerst wichtig, bereits Vergleiche mit anderen Interviews heranzuziehen. Einerseits erleichtert dies die Interpretation, denn die Art und Weise, wie ein Thema in einer konkreten Äußerung behandelt wird, kann so in Kontrast zu einer zweiten Art und Weise, das Thema zu behandeln, herausgearbeitet werden. Andererseits dient der Vergleich aber auch der methodischen Kontrolle der Perspektive des Forschers (Nohl 2008: 54-57; vgl. auch 4.1). Darüber hinaus helfen fallinterne Vergleiche dabei, eine homologe Bearbeitung verschiedener Themen durch die Befragten aufzuzeigen (Nohl 2007: 257-258). Finden sich solche Homologien, so ist dies ein starker Hinweis auf generative, handlungsleitende Orientierungen. Die ersten so entstandenen Interpretationen habe ich dabei stets im Kreis von Kolleginnen und Kollegen diskutiert.10 Um die Vorgehensweise transparent zu machen, findet der interessierte Leser eine Beispielinterpretation im Anhang. Auf Basis der so erstellten Interpretationen wurden umfangreiche Falldarstellungen erarbeitet (Kap. 5.1). Dabei ging es nicht darum, Fälle allumfassend – etwa im Sinne einer chronologischen Darstellung von Lebensereignissen – darzustellen, wie dies in Zusammenhang mit narrativen Interviews oft vorgeschlagen wird (vgl. Przyborski/Wohlrab Sahr 2010: 363). Vielmehr war das Ziel, die Eckpunkte der in den Interviews sichtbar werdenden zentralen handlungsleitenden Orientierungen herauszuarbeiten. Dieses Vorgehen hat zum einen den Vorteil, dass einzelne Orientierungen nicht aus dem Fallkontext herausgelöst werden müssen, sondern in ihren Bezügen und ihrer Komplexität dargestellt werden können, zum anderen kann aber gleichzeitig bereits eine gezielte Vorbereitung auf die angestrebte Typisierung erfolgen. Dem Ziel einer Habitusanalyse werden Falldarstellungen gerecht, da homologe Orientierungen, die im Interview auch in Bezug zu unterschiedlichen Themengehalten auftauchen, aufgezeigt werden können. Dies sei an einem Beispiel verdeutlicht: Bei Frau Meine (vgl. Kap. 5.1.6) zieht sich eine Orientierung an gesunder Ernährung, die insbesondere in Verbindung mit einem schlanken Körper diskutiert wird, wie ein roter Faden durch das gesamte Interview. Daneben diskutiert sie zwar auch die Verantwortung des Konsumenten im gesellschaftlichen Kontext, doch geschieht dies erst spät im Nachfrageteil des Interviews und nimmt einen vergleichsweise kleinen Raum im Interview ein – während etwa bei Frau Kurz (5.1.2) und Frau Kamps 10 Erste Interpretationsergebnisse konnte ich in verschiedenen Gruppen diskutieren: Zu nennen sind die Forschungswerkstatt von Karin Schittenhelm, das Lehrstuhlkolloquium von Christian Lahusen sowie meine eigene Interpretationsgruppe, an der je nach Verfügbarkeit Bettina Grimmer, Uta Liebeskind, Christiane Schürkmann und Matthias Siembab teilgenommen haben.
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(5.1.3) dieser Orientierungsrahmen schon früh im Erzählteil auftaucht und in Bezug auf verschiedene Themen wiederholt deutlich wird. Die Materialpräsentation konzentriert sich daher auf die Interviewstellen, an denen sich typische Sinnorientierungen aufzeigen lassen, die auch fallimmanent besonders wichtig sind – bei Frau Meine also der gesundheits- bzw. schlankheitsbewusste Konsum. Andere Orientierungen werden erwähnt und in den Fallkontext eingeordnet, aber nicht eingehend analysiert, insofern sich daran keine neuen theoretischen Argumente festmachen lassen. Diesen Kriterien folgte auch die Fallauswahl: Die im Folgenden zu analysierenden Fälle wurden ausgewählt, da an ihnen typische Orientierungen, die sich auch im restlichen Material wiederfinden, besonders prägnant aufgezeigt werden können. Die Auswahl der Fälle zielt zudem darauf ab, die wichtigsten Sinnorientierungen, die sich im Material finden, zu repräsentieren. Schließlich wurden in Anschluss an die Falldarstellungen sinngenetische Typiken herausgearbeitet. Eine sinngenetische Typenbildung zielt darauf ab, die Sinnmuster zu identifizieren, die als generative Schemata praktische Handlungen hervorbringen; sie ist daher auch als Habitusanalyse zu verstehen (Bohnsack 2007: 231). Sie stellt diese verschiedenen Sinnmuster zunächst nebeneinander, noch ohne danach zu fragen, welche sozialen Bedingungen zu ihrer Genese geführt haben (Mannheim 1980: 86). Dazu werden die zuvor im Rahmen der reflektierenden Interpretation rekonstruierten Orientierungsrahmen einerseits vom Einzelfall abstrahiert, indem das fallübergreifend Gemeinsame zweier oder mehrerer Orientierungsrahmen aufgezeigt wird. Ein so abstrahierter Typus wird dann von anderen Sinntypen abgegrenzt. Andererseits werden die einzelnen Typen spezifiziert, indem »Kontraste in der Gemeinsamkeit« (Bohnsack 2007: 236) – also Varianten innerhalb eines Typus – aufgezeigt werden. Der empirische Teil dieser Arbeit – die Kapitel 5 bis 8 – basiert weitestgehend auf sinngenetischen Analysen. Die Darstellung variiert dabei zwischen sequenzanalytischen Interpretationen (Kap. 5.1, 6.1, 7.1 bis 7.3) und typisierenden Darstellungen (Kap. 5.2, 6.2 und 7.4). In der Regel gilt dabei, dass zunächst detailliert belegt wird, wie Sinnorientierungen im Material auffindbar sind, um anschließend Typisierungen vorzunehmen. Darüber hinaus hat Ralf Bohnsack die soziogenetische Typenbildung als weitergehenden Analyseschritt vorgeschlagen. Sie zielt darauf ab, die Erfahrungsräume zu ermitteln, innerhalb derer spezifische Orientierungen generiert worden sind, um so deren Entstehungsbedingungen zu ermitteln. Sinnorientierungen werden somit als »Fragmente« kollektiver Erfahrungshintergründe erfasst (Nohl 2011). Dies gelingt laut Bohnsack dann, wenn die Beziehung einer Typik zu anderen Typiken herausgearbeitet wird (z.B. Bildungs-, Alters-, Ge-
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schlechts- und Migrationslagerung), um so zu zeigen, in welchem dieser verschiedenen Erfahrungsräume ein Phänomen verortet ist (Bohnsack 2007: 246). Die in bisherigen Arbeiten gebildeten soziogenetischen Typologien stützten sich in erster Linie auf theoretisch geleitete Suchstrategien, die »entlang etablierter Dimensionen gesellschaftlicher Heterogenität verliefen« (Nohl 2011: 10). Zu Beginn der Studie bestand das Vorhaben, eine soziogenetische Analyse der moralischen Orientierungen beim Konsum von Lebensmitteln vorzunehmen. Dieses Vorhaben wurde allerdings im Laufe des Forschungsprozesses aufgegeben. Zwar deutete sich im Material immer wieder an, dass aufgefundene Orientierungen in Verbindung mit sozialen Kategorien wie Klasse, Altersgruppen, Geschlecht und Haushaltsformen stehen. Insgesamt erwies sich die Suche der soziogenetischen Verortung von Konsummoralitäten jedoch als nicht erfolgreich, da sich immer wieder Fälle fanden, die quer zu den ersten Annahmen über die Beschaffenheit der Erfahrungsräume standen (vgl. dazu ausführlicher Kap. 8).
5 Moralische Orientierungen beim Konsum von Lebensmitteln
Ausgangspunkt dieser Arbeit war die von einer konstruktivistischen Perspektive angeregte Feststellung, dass der Gegenstand der Moral in modernen Gesellschaften von verschiedenen Gruppen unterschiedlich definiert werden kann: Während einige – um ein Beispiel der Moralforscherin Maria Ossowska (1972: 219) zu zitieren – das Tragen knapper Bikinis am Strand für eine moralische Frage halten, ist dies für andere lediglich eine ästhetische. Dies gilt auch für den Zusammenhang von Konsum und Moral: Es lassen sich keinesfalls so einfach bestimmte Konsumpraktiken (bspw. der Kauf von Fair-Trade-Produkten) als objektiv moralisch ›gut‹ von anderen Praktiken abgrenzen (vgl. Hedtke 2005). Konsumenten können ganz unterschiedliche Vorstellungen davon haben, was ›guter‹ Konsum oder im Gegenteil ›böser‹ bzw. ›schlechter‹ Konsum ist (Caruana 2007: 299). Zudem wurde darauf hingewiesen, dass Moral nicht nur abstrakte und überzeitliche Überzeugungen betrifft, sondern dass einerseits das praktische Konsumhandeln selbst durch normativ-moralische Grundideen unterfüttert ist und andererseits die Komplexitäten der Alltagspraxis mit in moralische Urteile einfließen. Im Zentrum dieses Kapitels steht nun die Rekonstruktion der sozialen Konstruktionen, mittels derer moralisch zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Konsum getrennt wird. Wie bereits im theoretischen Teil der Arbeit aufgezeigt wurde, hat sich jedoch herausgestellt, dass Moralvorstellungen in den Interviews immer im Kontext der alltäglichen Konsumpraxis verhandelt wurden, so dass die Frage, wie Konsummoral in Bezug auf performativ-praktische Alltagssituationen verhandelt wird, im Folgenden immer mit thematisiert wird. Dies geschieht in zwei Schritten: Zunächst werden acht ausführliche Falldarstellungen präsentiert. Dieser Weg wurde gewählt, um detailliert zeigen zu können, wie die verschiedenen moralischen Orientierungen im Kontext von Alltagspraxis verhandelt werden. Zudem lässt sich auf diese Weise herausarbeiten, ob einzelne Orientierungen für die Befragten tatsächlich handlungsleitend sind oder nicht. Die Reihenfolge der
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Falldarstellungen kann bereits als Vorbereitung einer sinngenetischen Typik (vgl. Kap. 4.4) gelesen werden, die im Anschluss an die Fallpräsentationen kondensierend dargestellt wird. Diese Typik wird durch komparative Analysen vorbereitet, die bereits in die Falldarstellungen eingebaut werden. Bereits in den Beschreibungen der Fälle können so Gemeinsamkeiten und Unterschiede aufgezeigt werden, es wird also bereits von fallspezifischen Orientierungsfiguren abstrahiert (vgl. Bohnsack 2007: 234). Tabelle 1: Eine vorläufige Typisierung konsummoralischer Orientierungsrahmen
Herr Dürnberger Frau Kurz Frau Kamps Frau Henning-Löw Frau Tiedemann Frau Meine Frau Müller Herr Martens
Gutes Gewissen:
Genuss:
Gesundheit:
Geld:
Konsum als Übernahme von Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext
Konsum als Teil eines schönen Lebens
Konsum im Kontext von Ernährung und Körperbildern
Sparen und Gebrauchswertorientierung als Tugend und Zwang
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Um dem Leser einen Überblick zu geben, sei vorwegnehmend kurz dargestellt, was ihn in den Falldarstellungen erwartet: Grob lassen sich im empirischen Material vier Orientierungen unterscheiden, die sich im Laufe der Analyse als besonders bedeutsam herausgestellt haben. Es handelt sich dabei nicht einfach um
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Themen, sondern eher um unterschiedliche Rahmungen, in denen Themen wie Einkaufen, Kochen und Essen diskutiert werden. Tabelle 1 gibt einen Überblick, anhand welcher Fälle diese Rahmungen besonders deutlich aufgezeigt werden können. Die Kreuze zeigen dabei an, welche der vier Orientierungsrahmen für die einzelnen Fälle besonders bedeutsam sind. Zunächst werden drei Fälle dargestellt, bei denen eine Orientierung an der Frage nach der persönlichen Verantwortung des Konsumenten im gesellschaftlichen Kontext im Vordergrund steht. Anschließend werden zwei Fälle beleuchtet, bei denen der Lebensmittelkonsum vorwiegend im Kontext der Frage diskutiert wird, was ein gutes bzw. schönes Leben ist. Deutlich wird dabei, dass die Moralisierung des Konsums in Deutungskämpfen um legitime Lebensstile eine Rolle spielt. Wie Tabelle 1 zeigt, spielt in einigen der für diese beiden Teilkapitel ausgearbeiteten Fälle eine Orientierung an Gesundheit bereits eine wichtige Rolle. Hierzu wird ein weiterer Fall präsentiert. Abschließend werden zwei weitere Fälle vorgestellt, bei denen der Sparsamkeit und einer Orientierung an Gebrauchswerten eine zentrale Bedeutung zukommt. Sparen wird hier gleichermaßen im Positiven als moralische Tugend wie im Negativen als Zwang zum Sparenmüssen sichtbar, durch den andere konsummoralische Tugenden erschwert werden. Wie bereits erläutert, steht bei dieser Auswahl im Mittelpunkt, welcher Orientierung fallimmanent eine besonders große Relevanz zukommt. Die Zuordnung von Herrn Dürnberger zum Typ »Konsum als Übernahme von Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext« bedeutet demnach nicht, dass etwa der Umgang mit Geld oder Gesundheit im Interview gar keine Rolle spielen. Wie in der Falldarstellung deutlich wird, behandelt Herr Dürnberger den Umgang mit Geld jedoch lediglich am Rande, gerade weil er über genügend Geld verfügt, um sich – zumindest in Zusammenhang mit dem Lebensmittelkonsum – nicht allzu viele Gedanken darüber machen zu müssen. Es handelt sich bei dieser Zuordnung also lediglich um eine vorläufige Vereinfachung, die einerseits der Komplexität der Fälle nicht vollständig gerecht wird, andererseits auch nicht alle Aspekte abdecken kann, die durch die oben genannten Leitfragen aufgeworfen werden. Wie bereits gesagt, dient diese Klassifizierung hier zunächst dazu, dem Leser eine vorläufige Übersicht zu bieten, bevor die aufgefundenen Orientierungen im Anschluss an die Falldarstellungen typologisch verdichtet beschrieben werden können.
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5.1 F ALLDARSTELLUNGEN 5.1.1 »Ich mach mir schon die Gedanken, so weit wie möglich fair zu sein zu anderen Menschen, zu der Natur« – Herr Dürnberger Herrn Dürnberger habe ich durch den Kontakt zu einem Verein kennengelernt. Er ist Mitte zwanzig und seit einem Unfall vor einigen Jahren körperlich behindert, kann aber selbständig leben. Offiziell ist er arbeitslos, seinen Lebensunterhalt bestreitet er seit dem Unfall durch die finanzielle Unterstützung seiner Eltern. In seiner Freizeit spielen ehrenamtliche Aktivitäten eine große Rolle. Er lebt alleine, schläft und isst aber öfter in einer WG zweier Freunde, die offenbar älter sind als er.1 Diese Lebenssituation prägt Herrn Dürnbergers Tagesablauf und sein Einkaufs- und Essverhalten, wie bereits zu Beginn des Interviews deutlich wird. Auf die Bitte des Interviewers, einen üblichen Tagesablauf und die Rolle des Essens darin zu schildern, antwortet er: »Mein Tagesablauf (.) es gibt kein üblichen Tagesablauf jeder Tagesablauf sieht anders aus ich steh auf wann ich Lust hab ich geh ins Bett wenn ich Lust hab ähm Essen (.) ist für mich eigentlich nur Nebensache ich esse (.) eigentlich eh sehr unregelmäßig also (.) ich ess sehr häufig bei Roland und Dieter2 abends mit um acht Uhr (.) das is öh (.) weiß ich einfach dass was aufn Tisch kommt [Interviewer: Das heißt die kochen dann was oder-] Genau und ansonsten äh hol ich mir dann immer eh im Restaurant oder Café oder Kneipe d ähm das Essen was wo ich gerade Hunger drauf hab geh auch regelmäßig mit meiner Freundin irgendwo ins Restaurant essen es- regelmäßig nicht aber äh unregelmäßig aber immer noch (.) nach Lust«
In dieser Passage dokumentiert sich eine Orientierung an Spontaneität als einem Prinzip, das den Tagesablauf strukturiert (»ich steh auf wann ich Lust hab ich geh ins Bett wenn ich Lust hab«). Herr Dürnberger präsentiert sich als jemand, der nach seinen eigenen Launen handelt, ohne Einschränkung durch äußere oder innere Zwänge. Dies gilt auch für das Essen (»ich ess sehr unregelmäßig«, »wo ich gerade Hunger drauf hab«). In Zusammenhang damit wird deutlich, dass sich
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Um die Anonymität der Interviewpartner zu wahren, wurden einige Informationen abstrahiert, in Einzelfällen wurden Erkennungsmerkmale leicht verfremdet.
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Die in Interviewzitaten genannten Namen sind – ebenso wie die Namen der Interviewpartner – Pseudonyme.
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Herr Dürnberger selbst keinerlei Gedanken um Speisepläne, Einkaufen und die Zubereitung von Essen machen muss, da er entweder in der befreundeten WG oder auswärts isst. Dieser Kontext erhellt die Bemerkung, dass Essen nur eine »Nebensache« ist: Essen erscheint insofern als Nebensache, als es ein Bereich ist, der in seinen Gedanken kaum eine Rolle spielt, weil nichts geplant werden muss. Die Möglichkeit, in der befreundeten WG mit zu essen, wird als praktische Gelegenheit geschildert (»weiß ich einfach dass was aufn Tisch kommt«). Der Formulierung lässt sich entnehmen, dass Herr Dürnberger nicht ins Kochen involviert ist, er kann offenbar kommen oder auch nicht, aber ihm wird etwas serviert, wenn er da ist. In Bezug auf das Auswärtsessen wird deutlich, dass er auch hier seinen spontanen Lüsten folgt (»immer noch nach Lust«). Die hier geäußerten Orientierungen finden sich an anderen Stellen im Interview wieder. So beschreibt Herr Dürnberger, dass er selbst lediglich Süßigkeiten und Zigaretten selbst kaufe und das restliche Einkaufen aufgrund seiner Behinderung anderen überlasse. Ebenso zeigt sich an anderen Stellen im Interview, dass Herr Dürnberger über genügend Geld verfügt, um sich auswärts Essen zu kaufen, ohne dabei auf die Kosten achten zu müssen (»Preis spielt eigentlich keine Rolle bei mir«, »kann feines Essen sein in der Zimmermannsstube3«). In den weiteren Ausführungen ist auffällig, dass Herr Dürnberger sich häufig am Körpergefühl nach dem Essen orientiert. Auf die Frage des Interviewers, auf welche Kriterien es ihm bei der Auswahl des Essens ankommt, berichtet er: »Preis spielt eigentlich keine Rolle bei mir Hauptsache es ist lecker und gut und ich ich fühl mich danach gut und ich hab also ich kenn das so wenn ich viel von Fastfood esse oder wenn ich mich viel von Fastfood ernähre dann fühl ich mich so abgemattet und man frisst übermäßig viel und ich weiß nicht nee eher weniger also dann dann dann wird mir einfach schlecht und ich hab keinen Hunger irgendwie«
Das Wohlgefühl nach dem Essen präsentiert Herr Dürnberger hier als wichtiges Kriterium für die Auswahl des Essens. Der Formulierung (»wenn ich viel von Fastfood esse«) lässt sich allerdings entnehmen, dass er trotz des Wissens um das schlechte Gefühl Fastfood isst, in manchen Phasen sogar »viel«. Als These kann hier formuliert werden, dass sein an spontanen Launen orientierter Lebensstil dazu beiträgt, dass es nicht immer gelingt, den Wunsch in die Praxis umzusetzen, so zu essen, dass er sich danach wohlfühlt. Auch an anderer Stelle zeigt sich eine solche Diskrepanz zwischen einer Orientierung an einem guten Körpergefühl und der Handlungspraxis. So berichtet Herr Dürnberger davon, dass er
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Der Name des Restaurants wurde geändert.
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sich gut fühle, wenn er »das gesunde Gemüse« esse, um direkt im Anschluss darauf hinzuweisen, dass er mehr davon essen müsste. Im Erzählteil des Interviews thematisiert Herr Dürnberger von sich aus zunächst nicht explizit die Fragen der moralischen Bezüge seines Konsumhandelns. Dies geschieht erst im Nachfrageteil, als der Interviewer ihn fragt, ob er sich manchmal Gedanken darum mache, ob er mit seinem Konsum Dinge unterstütze, die er eigentlich nicht befürworte. Hier kommt es zu folgender Antwort: »Ähm ja also es is es is leider manchma- es is eigentlich relativ unmöglich in diesem System mh (3) dass ich mach mir schon die Gedanken dass man wie wie wie weit also so weit wie möglich ähm fair zu sein zu zu anderen Menschen zu der Natur aber manchmal isses halt weil s weils nix leckeres gibt in die Richtung wobei s immer mehr wird oder wenn ich einfach ähm anner Frittenbude oder oder am ich mal Abends unterwegs bin äh gibt es manchmal gar keine Möglichkeiten ähm äh was fair gehandeltes oder was faires für die Umwelt und Natur zu konsumieren (3) Uuund ähm (3) aber es is is is is is (2) aber ich denke dass ich also ich mach mir halt die Gedanken dass ich halt so fair wie möglich sein möchte äh äh wenns mömömöglich is äh versuch ich natürlich was ja wie soll ich sagen nich faires mir fehln so grad die Worte zurzeit«
Zunächst wird in der Argumentation deutlich, dass Herr Dürnberger eine Relation herstellt zwischen sich selbst als Konsument und dem weiteren gesellschaftlich-ökologischen Kontext, der hier ganz allgemein als »andere Menschen« und »die Natur« bezeichnet wird. Als Orientierungsgehalt wird sichtbar, dass durch Konsum eine Beziehung zwischen dem Konsumenten einerseits und Dingen und Menschen andererseits hergestellt wird, die vom Konsumakt betroffen sind. Der wiederholten Verwendung des Begriffes »fair« lässt sich entnehmen, dass Konsumenten ein Handlungsspielraum zugesprochen wird, die gegebene Beziehung zwischen sich und der Welt unterschiedlich auszugestalten. Konsumenten haben demnach eine gewisse Freiheit, mit der auch Verantwortung einhergeht. Je nachdem, wie sie die Beziehung zwischen sich und der Welt ausgestalten, ist ihr Handeln zu beurteilen – als »fair« oder »unfair«. Hier wird die Vorstellung einer kausalen Verknüpfung zwischen Konsumhandlungen als »Ursachen« einerseits und einer Vielzahl möglicher »Wirkungen« – wie etwa Umweltschäden – andererseits sichtbar. Zudem zeigt sich, dass sowohl Handlungen als auch Produkte selbst »fair« sein können: Wie es Herr Dürnberger ausdrückt, kann man »was faires« konsumieren. Die Qualität der Beziehung zwischen Konsumenten und der Welt wird gewissermaßen in den Konsumgütern angelegt und ist darin objektiviert. Moralisch ›gutes‹ Konsumverhalten ist demnach direkt an den Kauf bestimmter Produkte gekoppelt. Die Produkte sind somit die entscheidende ver-
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mittelnde Instanz, die Produktwahl entscheidet über die Qualität der Beziehung zwischen dem Konsumenten und der Welt. Wer »faire« Produkte kauft, entscheidet sich dabei für eine Selbst-Welt-Beziehung auf Augenhöhe, in der Umwelt und entfernte Andere als Gleichberechtigte wahrgenommen werden. Wer hingegen »unfaire« Produkte kauft, gestaltet die Beziehung ungleich und stellt sich selbst und die eigene Lebensqualität über das Wohlergehen anderer. Herr Dürnberger scheint den Begriff »fair« zu übernehmen, der in Verbindung mit sogenannten fair gehandelten Produkten (Nicholls/Opal 2005) gebraucht wird: Umweltfreundlich hergestellte Produkte erscheinen demnach in einer ähnlichen Weise »fair« zur Natur, wie fair gehandelte Produkte versuchen, Machtungleichgewichte freier Handelsbeziehungen zu reduzieren. Jedes Produkt kann damit als mehr oder weniger fair bzw. unfair beurteilt werden: In der Argumentation wird damit als zugrunde liegendes Prinzip sichtbar, durch das eigene Handeln keine Schäden gegenüber denjenigen zu verursachen, mit denen man als Konsument in Beziehung steht. Dies kann mitunter durchaus die ganze Welt sein, denn von Umweltschäden, die durch die Produktion eines Konsumguts verursacht werden, können letztlich Menschen, Tiere und Natur insgesamt betroffen sein. Hier dokumentiert sich also eine universalistische Orientierung, der zufolge der Handelnde idealerweise die Konsequenzen des eigenen Handelns für die ganze Welt berücksichtigt und solche Entscheidungen trifft, die andere nicht oder zumindest so wenig wie möglich beschädigen. Es wird jedoch zugleich deutlich, dass Herr Dürnberger das Enaktierungspotential dieser Orientierung im Alltag als äußerst gering wahrnimmt. Dies lässt sich der Argumentationsfigur entnehmen, dass es ein »System« gebe, das verantwortliches Konsumentenhandeln behindere oder gar unmöglich mache. Das System erscheint hier geradezu übermächtig als ein Mechanismus, der sich auch gegen den Willen des Einzelnen reproduziert, welcher somit machtlos ist und sich gegen die herrschende Systemlogik nicht wehren kann. Für das Schlechte in der Welt, das – wie bereits sichtbar wurde – auch an Konsumentscheidungen festgemacht werden kann, ist demzufolge nicht allein der Konsument verantwortlich, sondern das System. Herr Dürnberger spricht damit dem System Verantwortungsfähigkeit zu und konzipiert es somit als moralischen Akteur, der seiner Verantwortung allerdings nicht gerecht wird. Hier stellt sich die Frage, warum Herr Dürnberger so argumentiert. In erster Linie mutet die Argumentation wie eine Entschuldigung für das eigene Handeln an, das den Prinzipien der eigenen Argumentation nicht immer genügt. Zudem werden Dilemmata zwischen der Verantwortung des Konsumenten und anderen Orientierungen sichtbar. Im Fall von Herrn Dürnberger steht die Orientierung an konsumtiver Verantwortung zum einen mit dem Bedürfnis nach
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Genuss in Konflikt (»weils nix leckeres gibt«), zum anderen mit der Orientierung, auch spontanen Bedürfnissen und Lüsten nachgehen zu können (»wenn ich einfach ähm anner Frittenbude oder oder am ich mal abends unterwegs bin«). Das tatsächliche Handeln steht zudem in Bezug zu den Gelegenheitsstrukturen der räumlichen Umwelt: Das Orientierungsdilemma kann sich auflösen, wenn gar keine Option besteht, Essen zu konsumieren, das den Ansprüchen all dieser Orientierungen gleichzeitig gerecht werden würde. Hingegen thematisiert Herr Dürnberger an keiner Stelle seine Bereitschaft, in solchen Konfliktsituationen nach Alternativen zu suchen, die seiner universalistischen Orientierung, keinen Schaden anzurichten, eher gerecht werden, was möglicherweise auch Konsumverzicht in Situationen einschließen könnte, in denen keine entsprechenden Optionen zur Verfügung stehen. Damit erscheint die Argumentation Herrn Dürnbergers zunächst paradox: Denn auf der einen Seite wird dem Konsumenten Handlungsspielraum und Verantwortlichkeit in globalem Maßstab zugeschrieben, auf der anderen Seite werden praktische Handlungszwänge im Alltag und Orientierungsdilemmata benannt, die dazu führen, dass das Prinzip der »konsumtiven Verantwortung« praktisch nicht immer umgesetzt werden kann. Das geringe Enaktierungspotential führt bei Herrn Dürnberger aber offenbar nicht dazu, dass er das Ideal des »fairen« Konsums modifiziert oder aufgibt. In dem Wunsch, trotz der widersprüchlichen Alltagserfahrungen dennoch »fair« sein zu wollen, wird der positive Horizont, zu dem die Orientierung strebt, deutlich. Dieser besteht darin, zumindest eine gewisse Reflexivität bezüglich der Konsequenzen des eigenen Konsumhandelns aufrechtzuerhalten und eine Haltung der Gleichgültigkeit zu vermeiden. Als Herr Dürnberger nach Worten sucht, versucht der Interviewer, ihm zu helfen: Interviewer: Also wo vielleicht Dinge wo die wo du denkst s hat keine negativen Konsequenzen Herr Dürnberger: Keine gibt es nich ich glaube jede jede Nahrungsmittelaufnahme hat irgendwo negative Konsequenzen der Transport äh übern Transport über äh über über über Lohndumping über ähm Fälschungen der Siegel wo Siegelmissbrauch betrieben wird (.) Also bei uns gibt’s eigentlich auch immer nur essen ausm Bioladen meisten- häufig fast immer ausm Bioladen oder öhähöhäh fair gehandelte soweit es halt möglich ist und äh ja gut manchmal schmeckt halt auch die Dosensuppe von Aldi einfach besser
Auch wenn der Interviewer hier mit dem Wort »Konsequenzen« eine inhaltliche Proposition vorgibt, die bisher nur implizit erkennbar war, führt die Antwort doch zu einer differenzierteren Darstellung seitens Herrn Dürnberger: Er bestä-
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tigt zunächst die vom Interviewer vorgegebene Orientierung, womit noch einmal die Vorstellung einer kausalen Verknüpfung zwischen Konsumhandlungen und gesellschaftlich-ökologischen Konsequenzen deutlich wird. Auch das geringe Enaktierungspotential wird noch einmal deutlich: Das Ideal einer Handlung, die ohne negative Folgen für andere bleibt, ist de facto unerreichbar. In den genannten Beispielen dokumentiert sich dann ein Wissen um die komplexen sozialen Zusammenhänge, die entlang von Wertschöpfungsketten bestehen. Trotz der Argumentation, dass Konsumenten quasi hilflos einer Systemlogik ausgeliefert sind – was eine Zuschreibung von Verantwortlichkeit an den Einzelnen mehr oder weniger ausschließt –, schließt nun interessanterweise eine Beschreibung des eigenen Konsummusters an, die als Rechtfertigung gegenüber dem Interviewer gelesen werden kann (»also bei uns gibt’s eigentlich immer nur Essen ausm Bioladen«). Zum einen zeigt sich hier, dass nicht nur einzelne Produkte, sondern auch Einkaufsorte einen ›richtigen‹ Konsum verkörpern können: Essen aus dem Bioladen erscheint damit per se als ›fairer‹ Konsum. Herr Dürnberger signalisiert dem Interviewer somit, dass in dem Haushalt, in dem er häufig isst, gemäß der aufgeworfenen Orientierung konsumiert werde. Er reklamiert für sich und sein unmittelbares Umfeld also einen ›guten‹ bzw. verantwortlichen Konsumstil. Der Verweis auf die anderen WG-Freunde (»bei uns«) kann als Hinweis auf die soziale Relevanz des Orientierungsrahmens gelesen werden: Herr Dürnberger bewegt sich offenbar in einem Umfeld, in dem es normal ist, individuelle Konsumentscheidungen in Verbindung mit dem gesellschaftlich-ökologischen Kontext zu betrachten. In der abschließenden Bemerkung (»manchmal schmeckt halt auch die Dosensuppe von Aldi einfach besser«) wird jedoch auch ein negativer Horizont deutlich, der in einem übertrieben konsequenten Streben nach Umsetzung des »fairen« Konsums besteht, in dem keine Ausnahmen zugunsten alternativer Orientierungen mehr zugelassen sind. Hier zeigt sich, dass trotz der universalen Idee eine rigide Haltung abgelehnt wird, die auf einer 100-prozentigen Umsetzung des Prinzips im Handeln besteht: Ausnahmen sollen also ausdrücklich erlaubt sein. Auch dies ist letztlich als eine moralische Haltung zu verstehen. Fazit Herr Dürnberger Betrachtet man abschließend noch einmal Herrn Dürnbergers Ausführungen, so fällt zunächst die Diskrepanz zwischen dem Erzählteil und dem Nachfrageteil des Interviews auf. Zunächst wurde deutlich, dass Herrn Dürnberger das Essen weitgehend seinem spontan-ungeplanten Tagesablauf unterordnet und sich offenbar kaum Gedanken darüber macht, wo und was er isst. Andererseits kommt in der Argumentation auf die Frage des Interviewers ein hoher Idealismus im
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Sinne von Forsyth (1980) zum Ausdruck: Es sollte grundsätzlich vermieden werden, anderen Leid oder Schaden zuzufügen (vgl. Kap. 3.1.3). Was moralisch ›richtiger‹ Konsum ist, ist dieser Vorstellung nach nicht dem persönlichen Belieben überlassen, sondern es gibt objektiv ›richtige‹ – und somit auch ›falsche‹ – Arten und Weisen des Konsumierens. In Zusammenhang damit thematisiert Herr Dürnberger auch, inwiefern das eigene Handeln in bestimmten Situationen vom Ideal abweicht. Dabei handelt es sich teilweise um freiwillige Ausnahmen, die auf eine Skepsis gegenüber rigider Regelbefolgung hindeuten und die Position erkennen lassen, dass moralisch relevante Handlungen auch abwägend und situativ zu beurteilen sind. Teilweise kommen Ausnahmen jedoch auch unfreiwillig aufgrund äußerer Gegebenheiten zustande. Abschließend wurde auch der Versuch erkennbar, den eigenen Konsumstil trotz dieser Abweichungen vom Ideal als im Großen und Ganzen den hohen moralischen Ansprüchen genügend zu präsentieren. Hilfreich zum näheren Verständnis dieses Musters erscheint die Unterscheidung zwischen kulturellen Skripts und Codes. Dave Horton unterscheidet in seiner Analyse der Performanz von Identität bei Umweltaktivisten zwischen »green scripts«, allgemeineren Narrativen, zu denen sich Aktivisten bekennen müssen, um zur Szene zu gehören, und »green codes«, spezifischeren Normen, die durchaus gebrochen werden dürfen, solange ein solcher Verstoß mit der Geltung der allgemeineren Skripte in Verbindung gebracht werden kann (2003: 68). Ein Einkauf im Supermarkt statt im Bio-Laden ist in diesem Sinne zwar ein Verstoß gegen die anerkannte ›gute grüne Praxis‹, der aber rechtfertigbar ist, wenn die Anerkennung des Skripts – etwa durch den Verweis auf Schuldgefühle – kommuniziert wird (ebd.). Zudem weist er darauf hin, dass auch Überperformanz, eine zu strikte Befolgung der Codes in der Szene der Aktivisten abgelehnt wird. In diesem Sinn lassen sich Herrn Dürnbergers Ausführungen als Dokument der Skripts und Normen lesen, die in seinem sozialen Umfeld, das er an anderer Stelle mit »sehr viele politisch korrekte Menschen« umschreibt, als selbstverständlich gelten. Darüber hinaus lässt sich festhalten, dass im Fall von Herrn Dürnberger das ethische Ideal und die Alltagsroutinen in einem spannungsreichen Verhältnis zueinander stehen. Deutlich wird, dass Herr Dürnberger zwar offenbar ein weit reichendes Verständnis dafür hat, wie seine Praktiken in Verbindung mit umfassenden ökonomischen, sozialen und ökologischen Systemen stehen. Diese Reflexivität wird in der Literatur oft als Grundvoraussetzung für ein verantwortliches Konsumhandeln gesehen (Quastel 2008: 34; Young 2003). Allerdings wird hier ein Fall dessen sichtbar, was Bente Halkier als »reflexivity drowning in routinisation« (2001: 36) bezeichnet: In bestimmten Alltagssituationen – bei Herrn Dürnberger ist dies etwa das Ausgehen am Abend – werden Ak-
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teure an ihre ethisch relevanten Gedanken schlicht nicht erinnert. Ethischer Konsum kann im diskursiven Bewusstsein stark verankert sein, ohne sich im praktischen Bewusstsein alltäglicher Tätigkeiten niederzuschlagen (ebd.: 37). Diese Diskrepanz lässt sich bei Herrn Dürnberger nicht nur bei den Erwägungen in Hinblick auf den weiteren gesellschaftlichen und ökologischen Kontext beobachten, sondern auch hinsichtlich der Sorge um sich selbst, die in der Orientierung an einem guten Körpergefühl nach dem Essen zum Ausdruck kam. Am Beispiel von Herrn Dürnberger wurde eine Orientierung an konsumtiver Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext deutlich. Mehrere Befragte thematisieren ihr Konsumverhalten im Rahmen dieser Orientierung, weshalb von einer typischen Orientierung gesprochen werden kann. Allerdings werden im Material verschiedene Spezifikationen deutlich, die im Folgenden am Beispiel der Interviews mit Frau Kurz und Frau Kamps dargestellt werden. 5.1.2 »Konsequent kauf ich keine Müller-Produkte, weil der Konzernchef rechts orientiert argumentiert« – Frau Kurz Frau Kurz habe ich durch den Kontakt zu einem gemeinnützigen Kulturverein kennen gelernt. Sie ist Mitte vierzig und arbeitet als Pädagogin. Vor einigen Monaten ist sie zu ihrem langjährigen Freund und dessen 18-jähriger Tochter ins nähere Umland gezogen, davor hat sie in einer Wohngemeinschaft in Siegen gelebt. Auch im Interview mit Frau Kamps kommt eine Orientierung an konsumtiver Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext zum Ausdruck. •
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Allerdings zeigt sich erstens eine andere Art und Weise, wie individuelles Konsumverhalten mit gesellschaftlichen Konsequenzen verknüpft wird, die als politischer Konsum beschrieben werden kann. Zweitens wird eine weitere Variante des Umgangs mit Widersprüchen bzw. Dissonanzen zwischen wünschenswertem Handeln und der Wahrnehmung der eigenen Alltagspraxis deutlich. Bei Frau Kurz zeigen sich insbesondere zwei Zwänge: zum einen die Frage, inwieweit ein ›guter‹ Konsumstil psychisch verkraftbar ist, zum anderen die Frage, welches Wissen benötigt wird, um ›guten‹ Konsum realisieren zu können.
Auf die Frage des Interviewers, wie das alltägliche Einkaufen bei ihr und ihrer Familie gestaltet sei, beschreibt sie zunächst, dass sie sehr gerne Lebensmittel einkaufe, bevorzugt in einem Einkaufszentrum auf dem Weg zwischen ihrem
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Haus und der Arbeit, da es dort Parkmöglichkeiten und alle wichtigen Geschäfte gebe: »Hier is alles zusamm Getränkeladen Aldi ähm ein Drogeriemarkt ein ein Rewe Rewe is teuer ja ok aber ich kauf da ein (lacht) (.) Ja Einkaufsgewohnheiten ich geh immer erst in den Aldi aber das werden wahrscheinlich viele machen weil ich kauf dort gerne auch ähm Obst und Gemüse weil die Sachen wirklich immer frisch sind (.) weil die einfach viel verkaufen (.) dann ansonsten auch gerne viele Markenartikel weil die einfach auch n andern Geschmack habn dann geht man halt dann in den [Interviewer: Könn Se da n Beispiel nenn] ich nehme Haferflocken da würd ich wirklich nur Köllnflocken essen und nicht die Billichvariante oder auch bei dem ein oder anderen Müsli (.) oder wenns drum geht ähm ja eingefrorenen Spinat würd ich auch eher von ner bekannten Firma nehm als (.) Aldi oder oder was weiss ich wen gibts denn da noch der Lidl hat auch schon wieder Marken (lacht) (.) Mittlerweile hat Aldi auch ich will nich so viel von Aldi reden (lacht) sehr viele Bioprodukte die ich äh dann auch eigentlich sofort immer einpacke wenn das Produkt ääh ja mich sowieso angesprochen hätte«
An den argumentativen Einschüben wird deutlich, dass Frau Kurz offenbar das Bedürfnis empfindet, ihr Einkaufsverhalten gegenüber dem Interviewer zu erklären. Sie geht dabei davon aus, dass den Einkaufsorten ein allgemein bekanntes Image zugesprochen wird, bezieht dieses in ihre Argumentation ein und positioniert sich dazu. Es wird deutlich, dass sie Rewe als verhältnismäßig teuren Supermarkt sieht. Dort einzukaufen könnte bei anderen die Assoziation hervorrufen, man sei kein sparsamer Mensch und würde unnötig viel Geld ausgeben. Frau Kurz trägt ihre Aussage hier eher selbstbehauptend vor, in der Formulierung dokumentiert sich, dass sie sich um dieses mögliche Urteil anderer nicht kümmert (»Rewe is teuer ja ok aber ich kauf da ein«). In der Aussage zum Einkauf im Aldi (»aber das werden wahrscheinlich viele machen«) kommt die Wahrnehmung zum Ausdruck, dass Aldi zwar von manchen mit einem negativen Image in Verbindung gebracht werde, mittlerweile aber viele erkannt hätten, dass dies unberechtigt sei. Im Unterschied zum Rewe bleibt es hier nicht bei einer selbstbehauptenden Erklärung à la »ich mach das eben so«. Stattdessen begründet Frau Kurz den dortigen Einkauf inhaltlich mit Bezug auf die ›objektive‹ Qualität von Obst und Gemüse. Hier zeigt sich, dass Aldi in Frau Kurz’ Umfeld offenbar noch nicht vollständig als legitimer Einkaufsort anerkannt ist. Dort einkaufen zu gehen erfordert eine Rechtfertigung, die etwa durch Verweise auf die gute Qualität erfolgen kann. Im weiteren Verlauf orientiert sich Frau Kurz an der Unterscheidung zwischen Markenprodukten und Handelsmarken bzw. NoName-Produkten. Es wird deutlich, dass sie bei einigen Produktgruppen Marken
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als Garant für guten Geschmack ansieht. Zudem bestätigt sich hier die obige Interpretation, dass Frau Kurz Aldi nicht als legitimen Einkaufsort empfindet (»ich will nich so viel von Aldi reden«). Erneut wird deutlich, dass sich der Einkauf im Aldi nur erklären lässt, indem auf eine uneingeschränkt als ›gut‹ anerkannte Konsumpraxis verwiesen wird, wie etwa der Kauf von Bio-Produkten. Insgesamt wird somit deutlich, dass sich Frau Kurz stark an der sozialen Anerkennung der Einkaufsorte und Produkttypen orientiert. Während sie Marken- und BioProdukte als uneingeschränkt legitim präsentiert, bedarf der Einkauf im Aldi einer Erklärung. Bereits im Erzählteil des Interviews tauchen Bezüge zur Verantwortung des Konsumenten im gesellschaftlichen Kontext auf, die allerdings größtenteils ambivalent bleiben, da sie nie besonders stark expliziert werden und in Zusammenhang mit multiplen Motiven vorgetragen werden. Mehrfach verweist Frau Kurz im Interview auf die positiven Eigenschaften von Bio-Produkten, die sie mit geringer Pestizid-Belastung und teilweise auch besserem Geschmack assoziiert. Das Bio-Siegel bezeichnet sie als vertraut und damit auch als »vertrauenserweckend«, wobei eine Vorstellung zum Ausdruck kommt, dass man dem vertraue, was man kenne. Sie beschreibt, dass sie gerne regionale Produkte kaufe (»das motiviert mein Kaufkonsum«), und nennt kurze Transportwege und die geringe Rolle von Zwischenhändlern als Gründe. Insgesamt wird deutlich, dass Produkte als ›gut‹ verstanden werden, die in mehrerer Hinsicht die Distanz zwischen dem Konsumenten und der Natur reduzieren, einerseits sollen Lebensmittel möglichst naturbelassen, andererseits soll die Nähe zu den Produzenten möglichst gering sein. Allerdings weist sie einschränkend darauf hin, dass sie solche Kriterien beim Einkaufen nicht konsequent verfolge. Sie weist darauf hin, dass dies ähnlich sei »wie mit dem Tierschutz«: Sie setze sich zwar für Tiere ein, die Haltungen der meisten Tierschützer seien ihr aber zu radikal. Daraufhin fragt der Interviewer nach, wie sie zum Konsum von Fleisch eingestellt ist: »Ich hab jahrelang vegetarisch gegessen aus dem Grunde wei- ich hab n Film gesehn über Tiertransporte un dat war für mich so n Auslöser ich gedacht hab nä außerdem jagt eine Fleischkatastrophe die nächste also von Schweinepest äh BSE Geflügel äh war auch irgendwatt äh un un das hört ja auch gar nich auf (.) un hab dann ne Zeit lang nur immer gesacht ich esse nur Fleisch wennich äh das Tier mit Namen kenne also (lacht) Das hört sich zwar danach an für Kinder immer als ob ich deren Haustier essen (spricht lachend) wollte (wieder normal) Es ging aber dann eher da drum dass ähm (.) st jetz wirklich die die Kuh is vom Bauern im Dorf oder äh ich hab auch Förster inner Bekanntschaft die dann ma n Hasen geschossen habn das hätt ich dann gegessen oder hab ich auch (2) ja hab ich jahrelang nich gegessen«
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Die vegetarische Ernährung diskutiert Frau Kurz einerseits in Zusammenhang mit Tierschutz, andererseits in Zusammenhang mit Tierseuchen. Darüber hinaus wird deutlich, dass das Töten von Tieren für Frau Kurz kein moralisches Problem darstellt, sondern vor allem die Art der Tierhaltung. Die Massentierhaltung ist gleich aus mehreren Gründen problematisch: Sie ist schlecht für die Tiere, produziert Krankheiten und wirkt anonymisierend und entfremdend (»ich esse nur Fleisch wenn ich das Tier mit Namen kenne«). Frau Kurz bringt den Verzicht auf Fleisch mit mehreren Motiven in Verbindung, die miteinander verflochten sind. Die Nichtidentifizierbarkeit eines dominanten Motivs erscheint dabei typisch und taucht auch in anderen Interviews auf. Hier zeigt sich die komplexe Gemengelage an konsumrelevanten Deutungen. In der weiteren Argumentation zeigt sich dann, dass der Konsum von Fleisch bei Frau Kurz offenbar auch eine Kompensationsfunktion erfüllt: »Es kommt bei mir das mein ich eben auch mit von wegen Kompensation Alter Unzufriedenheit ich versuche aufzuhörn zu rauchen s hat noch nich ganz hingehaun (lacht) Un ab da hab ich wieder Fleisch gegessen weil ich das irgendwie ähm also ich hab Fleisch nie weggelassen weil’s mir nich schmeckt sondern äh das das war n echter Verzicht un mit dem Rauchen das is ne Sache die fällt mir sehr sehr schwer«
Deutlich wird hier zunächst eine Orientierung an der psychischen Komplexität, mit der Frau Kurz sich bei der Umsetzung der selbst gesetzten Ziele auseinandersetzen muss. Der Konsum von Fleisch und Zigaretten wird in Bezug gesetzt zu Alter und zu Unzufriedenheit. Um das Ziel, mit dem Rauchen aufzuhören, zu erreichen, brauchte Frau Kurz die Belohnung, wieder Fleisch essen zu dürfen. Erkennbar wird implizit auch eine Wertung, dass es eigentlich schlecht ist, Unzufriedenheit durch Konsum zu kompensieren, was aber trotz dieser Erkenntnis nur schwer gelingt. Um Kompensation zu vermeiden, bedarf es Willenskraft, und dies ist eine begrenzte psychologische Ressource, die nach Frau Kurz nicht ausreicht, um gleichzeitig auf Fleisch und Zigaretten zu »verzichten«. In der Aussage, das Weglassen von Fleisch sei ein »echter Verzicht« gewesen, kommt zum Ausdruck, dass Verzicht ein Moment des Entbehrens und eines der Selbstüberwindung enthalten muss, um ihn umzusetzen. Hier kommt eine Spannung zwischen zwei moralischen Normen zum Ausdruck, die das Selbstverhältnis betreffen: Michel Foucault zeigt, dass in den antiken griechischen und römischen Gesellschaften dem moralischen Imperativ, sich um sich selbst zu kümmern bzw. Sorge um sich zu tragen, eine immense Bedeutung zukommt (Foucault 1986b: 62). Im Christentum dagegen verwirklichte sich das Heil durch Verzicht auf das Selbst, und die Sorge um sich gewann die Konnotation des Egoistischen
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(Foucault 2005: 880). Beide Prinzipien kommen in der Passage zum Tragen: Einerseits wird eine Moral der Entbehrung in dem selbst auferlegten Zwang sichtbar, zum Wohl der Tiere auf Fleisch zu verzichten. Gleichzeitig hat die Moral des Verzichts aber eine Grenze, die darin besteht, sich nicht über die Maßen des psychisch Ertragbaren zu belasten. Hier wird eine Sorge um sich im Sinne einer Rücksichtnahme auf die aktuellen Bedürfnisse und Lüste deutlich. Deutlicher wird die Orientierung am gesellschaftlichen Kontext jedoch im Anschluss an die Frage des Interviewers, ob sich Frau Kurz Gedanken darum mache, ob sie mit ihrem Konsum Dinge unterstütze, die sie eigentlich nicht gut finde: »Ja klar logisch [Interviewer: Was was wär das oder worum gehts da] Also ers mal das andere Beispiel konsequent kauf ich keine Müllerprodukte (lacht kurz) weil äh da ja erwiesenermaßen der Konzernchef (.) ähm ich sach ma rechts äh orientiert argumentiert und auch ähm hier und da sicherlich handelt bei Lidl kauf ich auch nich ein das war aber schon vor dieser Überwachungskamera-Affäre weil die äh Jahrzehntelang äh Gewerkschaften un un Betriebs- ähm dingenskirchen verhindert haben auch im Grunde ausgeschlossen habn wenn die sich da formieren wolltn (lacht kurz) und Schlecker ähm auch nich geh ich auch nich hin DM bin ich n großer Fan von«
Wie Herr Dürnberger diskutiert auch Frau Kurz das eigene Konsumhandeln in Verbindung mit dem gesellschaftlichen Kontext. Allerdings unterscheidet sich die Art und Weise, in der sie dies tut, in mehrfacher Hinsicht: Zunächst werden divergierende moralische Prioritäten sichtbar: Frau Kurz verweist auf deutsche Mitarbeiterinteressen (»weil die jahrzehntelang Gewerkschaften verhindert haben«) sowie auf politische Haltungen, die sie ablehnt (»weil der Konzernchef rechts orientiert argumentiert«). Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass hier stärker als bei Herrn Dürnberger die politische Dimension des Konsumhandelns thematisiert wird: Zwar sind Überschneidungen erkennbar, da es auch bei Frau Kurz darum geht, Konsumentscheidungen zu treffen, die letzten Endes die Interessen bestimmter ›Schutzobjekte‹ (hier etwa die der Mitarbeiter deutscher Unternehmen) befördern sollen. Jedoch formuliert Frau Kurz im Gegensatz zu Herrn Dürnberger keine universelle moralische Regel, sondern zielt in ihren Ausführungen auf »einzelne Aspekte der Politik der hinter den Marken stehenden Unternehmen, die beeinflusst werden soll« (Schoenheit 2007: 216): Sichtbar wird eine Logik von Bestrafung (Boykott) und Belohnung (Kauf) von Unternehmen, je nachdem, ob diese bestimmte als wünschenswert erachtete gesellschaftliche Ziele wie adäquate Behandlung von Mitarbeitern befolgen oder nicht. Hinsichtlich ihres persönlichen Verhaltens thematisiert Frau Kurz dabei in
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erster Linie den Boykott bestimmter Marken und Einzelhändler: Hier zeigt sich ein impliziter Unterschied zwischen einer Orientierung an der »Politik hinter den Marken« und einer Orientierung am allgemeinen moralischen Ziel, niemandem Schaden zuzufügen. Bei Letzterer geht es eher darum, direkt durch gezielten Kauf ›guter‹ Produkte negative Externalitäten zu vermeiden oder positive Wirkungen für bestimmte ›Schutzobjekte‹ zu erzielen. Bei Ersterer geht es eher darum, über das Wahrnehmen der »Exit-Option« (Hirschman 1974), also durch Nichtkauf Druck auf Firmen auszuüben, die dadurch zu Veränderungen ihrer falschen Politik (hier gegenüber Mitarbeitern) bewegt werden sollen. Nur indirekt über die Beeinflussung der Firmenpolitik werden dann möglicherweise positive Effekte für andere erzielt. Hier zeigt sich, dass Frau Kurz’ Äußerungen treffend mit dem Konzept des politischen Konsums beschrieben werden können. Dieses thematisiert laut Ingo Schoenheit »die Verschränkungen des privaten und des öffentlichen Raumes und die den Konsum mitbegründende Zielsetzung, Einfluss auf das Verhalten ›Anderer‹ zu nehmen, um so die gewünschten (sozialen, ökologischen, usw.) Veränderungen zu erreichen« (Schoenheit 2007: 216).4 Auch wenn es Überschneidungen gibt, so wird doch sichtbar, dass das Ziel, über Kaufen die Politik der Unternehmen zu beeinflussen, eine andere Verknüpfung zwischen individuellem Konsumhandeln und gesellschaftlichem Kontext impliziert als die Logik der konsumtiven Verantwortung. Frau Kurz schließt die Beschreibung ihres Boykottverhaltens mit folgendem Kommentar: »Also mich beeinflusst das sehr wenn ich ähm wenn ich so ne Nachricht kriege s is aber nich so dass ich mich tagtäglich damit beschäftige insofern wie gesacht diese Konsequenz hab ich nich (.) (lacht) [Interviewer: Is ja auch schwierig] Ja (also) da müsste man sich auch n ganzen Tach damit beschäftigen wo und was man wo kaufen kann (.) wie lange und wie oft«
Frau Kurz expliziert hier eine Alltagstheorie, der zufolge sie hinsichtlich ihres Kaufverhaltens stark von Medienberichten beeinflusst ist. Dem Kontext dieser 4
An anderen Stellen im Interview thematisiert Frau Kurz auch die ökologische Belastung durch Fleischkonsum, die Überfischung der Meere sowie den Verzicht auf Fleisch aus Tierschutzgründen. An diesen Stellen wird kein Bezug zur Politik bestimmter Unternehmen, sondern ein direkterer Bezug zwischen Konsumentscheidungen und negativen externen Konsequenzen (etwa für die Tiere) sichtbar. Dies zeigt, dass Frau Kurz’ Ausführungen nicht durchgehend der ›politischen‹ Variante einer Thematisierung von Konsumhandeln im weiteren gesellschaftlichen Kontext verhaftet sind: Bei einem Fall können also mehrere voneinander typisch abgrenzbare Orientierungen sichtbar werden.
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Äußerung lässt sich entnehmen, dass es um Berichte geht, in denen kritisch über die Vorgehensweisen von Produktionsfirmen und Einzelhändlern im Konsumgüterbereich berichtet wird. Deutlich wird hier einerseits, dass Frau Kurz nicht aktiv nach entsprechenden Informationen sucht, sondern sich lediglich an Informationen orientiert, die sie passiv im Rahmen der ohnehin stattfindenden Mediennutzung wahrnimmt (»wenn ich so ne Nachricht kriege«). Dies ist ein Hinweis darauf, dass ihr Boykott bestimmter Marken oder Einkaufsorte nicht als systematische Haltung zu verstehen ist.5 Andererseits thematisiert Frau Kurz die starke Wirkung (»mich beeinflusst das sehr«), wenn sie Informationen über Aspekte von Firmenpolitik erhält, die ihren Zielen widersprechen. Dem lässt sich entnehmen, dass konkretes Wissen über das faktische Handeln von Firmen für Frau Kurz eine entscheidende Rolle spielt. Wissen induziert einen Handlungsdruck, was sich in mehreren Interviewpassagen durch den Verweis auf ein »schlechtes Gewissen« dokumentiert. Die Erwähnung des schlechten Gewissens deutet hier auf eine intensive Internalisierung der Haltung hin, durch eigenes Konsumhandeln Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext übernehmen zu können. Der Verweis auf die mangelnde Konsequenz (»diese Konsequenz hab ich nicht«) lässt sich in diesem Kontext als Entschuldigung gegenüber dem Interviewer verstehen. Hier zeigt sich, dass auch Frau Kurz in ihrer Argumentation einen universalen Referenzrahmen verwendet: Es gibt viele Missstände in der Welt, die potentiell auch über Konsumentscheidungen zum besseren beeinflusst werden könnten. Konsequent wäre es, alle Firmen zu boykottieren, mit deren Politik man nicht einverstanden ist. Jedoch verweist Frau Kurz auf die Zeitressourcen, die für die aktive Suche nach Informationen aufgewendet werden müssten (»da müsste man sich auch n ganzen Tach damit beschäftigen«). Dies zeigt noch einmal deutlich, dass Frau Kurz konkrete Informationen über das Vorgehen einzelner Firmen als Voraussetzung für ›richtiges‹ Handeln als Konsument einsetzt: Ohne zeitaufwändige Recherche konkreter Informationen ist ›guter‹ Konsum nicht möglich. Dagegen verweist Herr Dürnberger stärker auf Siegel oder bestimmte Einkaufsorte als Orientierungskriterien, womit Begründungen des moralisch richtigen Konsums ein Stück weit standardisiert und damit unabhängiger von Informationen zu jedem einzelnen Produkt bzw. Einkaufsort werden (vgl. dazu auch Hedtke 2005: 50). In Zusammenhang mit der Rolle des konkreten Wissens wird damit bei Frau Kurz auch eine weitere Variante eines pragma5
Ein weiterer Hinweis, dass bei Frau Kurz keine systematische Haltung des politischen Konsums vorliegt, kann darin gesehen werden, dass sie im gesamten Interview nicht thematisiert, inwiefern die Medienberichte selbst möglicherweise kritisch hinterfragt werden müssen: So beschreibt sie etwa ihr Wissen als sicheres Wissen, so beschreibt sie etwa die politische Orientierung des Müller-Chefs als »erwiesenermaßen« rechts.
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tischen Umgangs mit Moral im Alltag sichtbar, die dem Motto ›Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß‹ folgt.6 Dies erinnert an ein Phänomen, das in der Literatur als »willful ignorance« beschrieben worden ist. So haben Studien gezeigt, dass Konsumenten, denen ethisch relevante Produktattribute – wie etwa nachhaltige Produktion – wichtig sind, es vermeiden, Informationen über Produkte zu suchen, wenn diese Informationen Abwägungskonflikte hervorrufen könnten (Ehrich/Irwin 2005). Brown (2009: 809) weist darauf hin, dass diese Strategie es Akteuren erlaubt, Produkte zu kaufen, die sie besonders begehren, aber dennoch den Glauben aufrechtzuerhalten, ein ethischer Konsument zu sein, der so oft wie möglich Kriterien sozialer Verantwortlichkeit berücksichtigt. Wenn der Kauf von Produkten Gewissensbisse verursacht, die im Gegensatz zu politischen oder moralischen Überzeugungen stehen – wie dies Frau Kurz für sich beschreibt –, kann konkretes Wissen den Akteur in Situationen bringen, in denen innere Abwägungskonflikte zwischen pragmatischen Handlungsmotiven und tieferen Wertüberzeugungen entstehen. Auf eine systematische Suche nach Wissen zu verzichten, kann dann als Strategie zur Vorbeugung kognitiver Dissonanzen (Festinger 1978) verstanden werden. Vergleichendes Fazit Frau Kurz Im Vergleich mit Herrn Dürnberger wird als Gemeinsamkeit zunächst deutlich, dass beide im Nachfrageteil den eigenen Konsum in Bezug auf den gesellschaftlichen Kontext diskutieren. Beide stellen eine Verbindung zwischen individuellen Konsumentscheidungen und gesellschaftlichen Konsequenzen her, auf dessen Basis dem Konsumenten eine (Mit-)Verantwortung für die Folgen der eigenen Kaufentscheidungen zugeschrieben wird. Im Unterschied zu Herrn Dürnberger bringt Frau Kurz Bezüge zu Tier- und Umweltschutz bereits früher im Interview selbständig auf. Ein weiterer Unterschied zeigt sich darin, dass Herr Dürnberger eine universelle moralische Regel formuliert, nach der Konsumenten möglichst keine negativen Konsequenzen für andere verursachen sollen. Frau Kurz hingegen macht als Aufgabe des Konsumenten deutlich, zur Behebung konkreter gesellschaftlicher Missstände beizutragen, die etwa von Journalisten oder Gewerkschaften aufgedeckt werden. Das Mittel dazu ist in erster Linie Kaufzurückhaltung bzw. -verlagerung zu Firmen, die eine moralisch akzeptable Politik verfolgen. Ähnlich wie bei Herrn Dürnberger wird auch bei Frau Kurz 6
An anderer Stelle verweist Frau Kurz jedoch – ebenso wie Herr Dürnberger – auf mangelnde Handlungsalternativen beim Kauf gewisser Produkte. Sie verwendet also gleichermaßen fehlende Optionen und begrenztes Wissen als »Entschuldigung« für inkonsequentes Handeln im Alltag.
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eine Diskrepanz zwischen dieser abstrakten Vorstellung eines ›guten‹ Konsums und dem praktischen Handeln im Alltag deutlich. Eine Gemeinsamkeit ist hier darin zu sehen, dass beide Lust und persönliche Belastbarkeit als Grenzen des Verzichts thematisieren, der im Rahmen der Übernahme konsumtiver Verantwortung vonnöten ist. Allerdings wird deutlich, dass es bei beiden ein jeweils unterschiedliches »Nadelöhr« gibt: Herr Dürnberger traut sich offenbar generell Urteile darüber zu, wie man ›richtig‹ konsumiert wird. Doch führt sein spontaner Lebensstil zu vielen Situationen, in denen die Möglichkeiten zu ›richtigem‹ Konsum nicht vor Ort verfügbar sind. Frau Kurz problematisiert dagegen eher die Wissenskomponente: Da sie ›richtigen‹ Konsum im gesellschaftlichen Kontext auf die Firmenpolitik bezieht, bedarf es konkreten Wissens, um sich entscheiden zu können. Eine aktive und systematische Suche nach solchem Wissen ist jedoch für Frau Kurz zu aufwändig, um sie im Alltag durchgängig umzusetzen. Daher kommt es zu einer partiellen Umsetzung, etwa wenn Frau Kurz »konsequent« keine Produkte der Firma Müller kauft oder nicht zu Schlecker geht. Das Prinzip des politischen Konsums kann dabei als eine mögliche Antwort auf die Amoralität von anonymen Marktbeziehungen gelesen werden. Matthias Zick Varul (2004) argumentiert, dass das Entstehen der modernen Geldwirtschaft eine Entmoralisierung von Tauschbeziehungen zur Folge hat, da die Akteure, die in sie eintreten, als ganze Personen keine Rolle mehr spielen, sondern nur noch in ihrer Funktion als Geldgeber oder -nehmer. Ob man den Tauschpartner achtet oder verachtet, spielt demnach keine Rolle mehr. Der politische Konsum kann insofern – dies wird deutlich an Frau Kurz’ Ausführungen – als eine einseitige Remoralisierung des Konsums beschrieben werden, indem Konsumenten ihre Tauschpartner auf Basis von Achtung auswählen. Individualisierter politischer Konsum, wie er im Fall von Frau Kurz hier vorliegt, kann jedoch nicht im eigentlichen Sinne als Moralkommunikation begriffen werden, denn – wie Boris Holzer herausgestellt hat – Firmen können nur beobachten, ob jemand kauft oder nicht, allerdings nicht, aus welchen Gründen (2006: 412). Erst durch eine Kollektivierung des politischen Konsums – etwa in Kampagnen – werden deutliche Signale über die moralischen oder politischen Kaufmotive der Konsumenten kommuniziert.
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5.1.3 »Man muss sich natürlich die Frage stellen, was hinterlasse ich den Kindern, inwieweit kann ich Verantwortung auch da übernehmen?« – Frau Kamps Im Interview mit Frau Kamps wird eine weitere Variante der Thematisierung konsumtiver Verantwortung deutlich: Frau Kamps bezieht sich weder auf allgemeine moralische Ziele, noch spricht sie über Boykottaktionen oder gezielte Käufe, die auf die »Politik hinter den Marken« gerichtet sind. Im gesamten Interview behandelt Frau Kamps weder fair gehandelte Produkte in Zusammenhang mit Lebensbedingungen der Menschen in der Dritten Welt noch die Interessen und Arbeitsbedingungen von deutschen Beschäftigten in produzierenden Betrieben und im Einzelhandel. Eine Orientierung an den Verknüpfungen des eigenen Konsumhandelns mit dem gesellschaftlichen Kontext wird jedoch in Bezug auf ökologische Nachhaltigkeit sichtbar. Dieses Thema wird im Interview immer wieder behandelt, insbesondere mit Bezug auf die Verantwortung gegenüber den eigenen Kindern. Somit kann als These formuliert werden, dass das Spezifische am Fall von Frau Kamps die Thematisierung konsumtiver Verantwortung an der Schnittstelle zwischen dem breiteren gesellschaftlichen Kontext und dem engeren sozialen Umfeld ist. Darüber hinaus wird deutlich, dass Frau Kamps handwerkliche Produktion, Kleinbetriebe und regionale Produkte als wesentliche Merkmale für Qualität und Nachhaltigkeit benennt. Frau Kamps habe ich durch den Kontakt zu einer Schule kennengelernt, an der sie als Lehrerin arbeitet. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern zusammen und ist Ende dreißig. Zu Beginn des Interviews fordert der Interviewer Frau Kamps auf, etwas über ihre Lebensgeschichte zu erzählen und dabei insbesondere auf die Themen Einkauf und Ernährung einzugehen. Sie beginnt damit, erst über ihre Herkunftsfamilie zu erzählen, berichtet dann über ihre Studienzeit, den Umzug in eine gemeinsame Wohnung mit ihrem Mann während des Referendariats, um schließlich auf die Situation der Familiengründung und die heutige Zeit einzugehen. Frau Kamps stellt die Veränderungen, die sie beim Kauf und Konsum von Lebensmitteln vollzogen hat, als einen Lernprozess dar, in dem sie zunächst ein Bewusstsein für Qualität – und später auch für Ökologie – entwickelte: Zunächst argumentiert sie, dass die alltäglichen Geld- und Zeitsorgen während des Studiums sie dazu gezwungen hätten, vor allem auf die drängendsten eigenen Bedürfnisse zu achten (»da hat man mehr geschaut wie komm ich selber über die Runden«). Durch die Herkunftsfamilie ihres Mannes wurde sie dann jedoch mit einem bewussteren Konsumstil konfrontiert (»wo schon immer auf diese Bereiche geachtet wurde«), den sie so von ihrer Familie aus nicht kannte. Dazu gehörte der Einkauf auf dem Wochenmarkt und der Käsetheke so-
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wie unverpackter Produkte, wobei deutlich wird, dass sie dieses Einkaufen in der Familie ihres Mannes mit einer höheren Qualität verbunden hat. An verschiedenen Stellen thematisiert Frau Kamps schließlich, dass die Geburt des ersten Kindes ihren Blickwinkel verändert habe (»hoppla ich hab auch ne Verantwortung«). Schließlich kommt sie auf die heutige Situation zu sprechen: »Also seit etlichen Jahren is es jetzt so natürlich sicherlich auch verstärkt durch die Kinder die man hat man macht sich ganz anders Gedanken und die finanzielle Lage is natürlich auch ne andere wir achten schon jetzt sehr auch drauf dass man zum Beispiel keine großartig verpackten Lebensmittel kauft das heißt Brot wird eben beim Bäcker gekauft wo man auch genau weiß das is n kleiner Betrieb also auch keine Großbäckerei sondern der einfach handwerklich noch alles selber macht (.) beim Metzger ähnlich da is auch keine Kette sondern wir gehen zu nem kleinen Metzger wo wir auch wissen da steckt dieser handwerkliche Betrieb dahinter da kommt das Fleisch auch aus der Region«
Frau Kamps grenzt den Lebensmittelkonsum in der Zeit seit der Familiengründung hier zunächst von früheren Lebensphasen ab und markiert ihn als vergleichsweise bewussten Konsum (»man macht sich ganz anders Gedanken«). Argumentativ begründet Frau Kamps diese Veränderung mit der Geburt der Kinder und den gestiegenen finanziellen Möglichkeiten der Familie. In der weiteren Beschreibung wird eine Dichotomie sichtbar, in der Frau Kamps regionale Produkte aus traditionell-handwerklicher Fertigung in Kleinbetrieben einerseits und Produkte aus industrieller Massenfertigung (»keine Großbäckerei«) andererseits unterscheidet. Wenig verpackte, handwerklich gefertigte und regionale Lebensmittel stellt sie dabei als die bessere Alternative dar, wobei sie diese Präferenz als Resultat von Bewusstwerdung darstellt (»macht man sich ganz andere Gedanken«, »achten schon jetzt sehr drauf«). Deutlich wird auch, dass es Frau Kamps wichtig ist, etwas über die Herkunft und Produktion der Waren zu wissen (»wo man auch genau weiß«), wobei sie dies mit bestimmten Einkaufsorten verbindet (»wir gehen zu nem kleinen Metzger wo wir wissen da steckt dieser handwerkliche Betrieb dahinter«). Handwerklichen Betrieben schreibt sie also eine größere Transparenz zu, während Ladenketten und Großbetriebe aufgrund ihrer Intransparenz abgelehnt werden. Offen bleibt hier jedoch noch, hinsichtlich welcher Produktattribute Frau Kamps sich Transparenz wünscht und ob es daneben auch noch andere Motive für die Präferenz handwerklich hergestellter Produkte gibt. An einer anderen Stelle im Interview bestätigt sich diese Interpretation: Auf die Frage des Interviewers, ob Frau Kamps gewissen Produkten und Firmen eher vertraue als anderen, beschreibt sie in einer nüchternen Art, bei welchen Einkaufsorten die Produktionsbedingungen der Produkte objektiv bes-
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ser nachvollziehbar seien. Deutlich wird hier, dass Vertrauen für Frau Kamps eher eine Notlösung ist, besser sei es zu wissen: Sie unterscheidet hier zwischen Hofläden einerseits (»wo ich genau weiß die Eier kommen aus dem Nachbarort«) und dem Supermarkt andererseits (»da kann auf der Verpackung sehr viel stehen«). Im Vergleich zu Frau Kurz und Herrn Dürnberger ist auffällig, dass Frau Kamps die abstrahierend-beschreibenden Aussagen über ihr Einkaufsverhalten an keiner Stelle relativiert oder durch Verweise auf mangelnde Konsequenz einschränkt (»das Brot wird eben beim Bäcker gekauft«, »wir gehen zu nem kleinen Metzger«). Im Vergleich mit anderen Befragten thematisiert Frau Kamps im gesamten Interview kaum Abweichungen von ihren Idealvorstellungen, auch finden sich keine Entschuldigungen oder Rechtfertigungen, wie dies etwa bei Frau Kurz und Herrn Dürnberger sichtbar wurde. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Frau Kamps keinen Widerspruch wahrnimmt zwischen ihrer Einkaufspraxis und ihren Überzeugungen. Auf Letztere kommt sie dann direkt im Anschluss zu sprechen: »und ähm ansonsten wir gehen natürlich auch schon mal in Supermarkt aber wir kaufen auch einmal in der Woche im Hofladen ein der bei uns äh in nem Stadtteil is (.) und ähm ja ich sag mal dieser Aspekt der der Nachhaltigkeit dass man wirklich auch schaut wo kommt was her welche Transportwege stecken dahinter das is natürlich ähm mittlerweile auch etwas wo wir schon sehr drauf achten und dass man auch sagt es sollte (.) der Zeit angemessen sein ich brauch eben nich im Winter Erdbeeren die irgendwoher kommen oder ich muss auch keine Frühkartoffeln aus Ägypten haben da gibt es einfach ganz andere Möglichkeiten (2) das natürlich neben dem Gesundheitsaspekt wenn man (.) gerade dran denkt Hofladen (.) das is (.) ja (.) schon entscheidend wie gesagt diese zwei Aspekte Gesundheit aber eben auch (2) die Umwelt«
In dieser Passage äußert Frau Kamps eine Alltagstheorie über die Motive, die hinter der Präferenz für bestimmte Einkaufsorte und Produkte stehen, wobei sie ökologische Nachhaltigkeit und Gesundheit in den Vordergrund stellt. Eine nachhaltige Konsumorientierung verknüpft sie dabei mit einer Achtsamkeit für Transportwege und saisonaler Verfügbarkeit von Lebensmitteln. Aus der eigenständigen und frühen Thematisierung im Erzählteil des Interviews lässt sich folgern, dass diese Aspekte bedeutsam für Frau Kamps’ Selbstwahrnehmung als Konsumentin sind, die sie auch dem Interviewer präsentieren möchte. Deutlich wird auch, dass der Hofladen ein Einkaufsort ist, der für Frau Kamps in besonderer Weise Gesundheit und Nachhaltigkeit verkörpert. Der Passage lässt sich zudem entnehmen, dass der Hofladen in der Nähe des Wohnorts der Familie
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Kamps liegt (»der bei uns äh in nem Stadtteil is«), was als Hinweis auf eine günstige räumliche Gelegenheitsstruktur gewertet werden kann, die es Frau Kamps erleichtert, entsprechend ihren Vorstellungen einzukaufen. Im weiteren Verlauf bittet der Interviewer Frau Kamps, näher zu beschreiben, wie es dazu gekommen sei, dass Gesundheit und Nachhaltigkeit an Bedeutung für ihr Konsumverhalten gewonnen hätten. Frau Kamps berichtet daraufhin von drei Ereignissen, denen sie einen Einfluss in dieser Frage zuspricht: Erstens erzählt sie von ihrem Biologie- und Chemiestudium, durch das sie für die Problematik von Pestiziden in Lebensmitteln sensibilisiert worden sei. Zudem wird in ihrer Ausführung deutlich, dass unter den Studenten bereits ein gewisses Umweltbewusstsein herrschte (»auch durch die Biologie […] es war schon immer klar dass man auch früher gesagt hat für kurze Strecken man kann zu Fuß gehen man kann mit Fahrrad fahren«). Zweitens thematisiert sie an mehreren Stellen die Geburt und das Aufwachsen der Kinder als eine wichtige Erfahrung, die sie weiter dafür sensibilisiert habe, Aspekte von Gesundheit und Nachhaltigkeit beim Konsum von Lebensmitteln zu beachten: »n erster Knackpunkt kam sicher durch die Geburt unseres ersten Kindes auch wenn man dann anfängt fürn Kind mit zu kochen dann stellt man sich noch mal ganz anders die Frage mm was geb ich meinem Kind was is da drin (.) denn ein kindlicher Organismus reagiert ja auch noch ganz anders (2) als n Erwachsener«
Hier zeigt sich eine Orientierung an der Frage, was die richtige Ernährung für das eigene Kind ist (»was geb ich meinem Kind«). In der Wahl der Begrifflichkeiten (»Organismus«, »reagiert«) dokumentiert sich, dass Frau Kamps die Antworten auf diese Frage in wissenschaftlichen Erkenntnissen sucht. Offen bleibt allerdings, ob es hier vor allem um ernährungsphysiologische Fragen nach der Menge und Zusammensetzung der Nährstoffe oder um die bereits zuvor angesprochene Problematik von Pestiziden (»was is da drin«) geht. Im Kontext des Interviews erscheinen beide Varianten plausibel. Im weiteren Verlauf verwendet Frau Kamps öfter wissenschaftliche Begrifflichkeiten, so grenzt sie sich etwa gegenüber Vegetariern mit dem Argument ab, dass sie fleischlose Ernährung »vom ernährungsphysiologischen her« kritisch sehe. Frau Kamps diskutiert gesunde Ernährung also sowohl in Bezug auf die richtige Nährstoffzusammensetzung als auch in Hinblick auf Schadstoffreste im Essen. In der weiteren Ausführung stellt Frau Kamps schließlich einen direkten Bezug zwischen nachhaltigem Konsum und der Verantwortung für die eigenen
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Kinder her. Auf die Frage des Interviewers, wie es zur »Stärkung des ökologischen Gedankens« gekommen sei, antwortet sie: »Es is ähm mit Sicherheit auch durch die Kinder verstärkt worden denn (.) Kinder wenn sie größer werden die fragen ja auch sehr viel hören dann schon mal Nachrichten mit und dann dadurch wird man selber natürlich auch noch mal auf bestimmte Punkte gestoßen und muss sich dann natürlich auch immer die Frage stellen, was äh hinterlasse ich den Kindern inwieweit kann ich Verantwortung auch da übernehmen (.) dass ich sage okay wir haben wirklich in den und den Bereichen versucht ähm das positiv zu beeinflussen.«
Die Fragen der Kinder beschreibt Frau Kamps rückblickend als Anregungen, die ohnehin schon vorhandene Bereitschaft zu einem ökologisch verantwortlichen Konsumhandeln weiter auszubauen (»dadurch wird man selber natürlich auch noch mal auf bestimmte Punkte gestoßen«). Zum anderen sieht sie ihre Rolle als Konsumentin in direktem Zusammenhang mit der Frage, in welchem Zustand die Generation ihrer Kinder die Welt ›vererbt‹ bekommen (»was hinterlasse ich den Kindern«). Angesichts der Tatsache, dass es um ein Problem geht, das nur kollektiv und global zu lösen ist, ist bemerkenswert, dass Frau Kamps hier zunächst in der ersten Person Singular formuliert. Erst später wechselt sie zum Plural (»wir haben […] versucht«), wobei naheliegend erscheint, dass sie mit diesem »wir« sich und ihren Mann meint – und nicht ihre Generation.7 Diese Fokussierung auf den eigenen Beitrag ist möglicherweise dadurch erklärbar, dass es Frau Kamps neben dem Umweltschutz als an sich erstrebenswertes Ziel auch darum geht, ruhigen Gewissens gegenüber den eigenen Kindern sagen zu können, persönlich etwas gegen die drohende Umweltzerstörung getan zu haben. Dem lässt sich entnehmen, dass die Sorge um die Umwelt und die Fürsorge für die eigenen Kinder hier eng verknüpft sind: Einen Beitrag zum Umweltschutz zu leisten beinhaltet dieser Interpretation zufolge ein Moment der Beziehungspflege zu den eigenen Kindern. Diese gehören einer Generation an, die möglicherweise von den Folgen des Verhaltens der eigenen Generation unmittelbar betroffen 7
Für diese Interpretation spricht der unmittelbare Interviewkontext, in dem sie thematisiert, wie sie durch ihre eigenen Kinder für die Bedeutung von Nachhaltigkeit sensibilisiert worden sei. Daraus sowie aus der Formulierung »was hinterlasse ich den Kindern« lässt sich schließen, dass es hier um die Frage der Beziehung zwischen ihr und ihren eigenen Kindern geht und nicht um die Beziehung zwischen ihrer Generation und der Generation ihrer Kinder. Angesichts dessen erscheint es plausibel, dass das »wir« sich auf ihren Mann bezieht. Dafür spricht auch, dass sie Nachhaltigkeit im gesamten Interview nur in Verbindung mit ihrem eigenen Verhalten, an keiner Stelle jedoch als gesellschaftliches Problem behandelt.
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sein werden. Daraus ergeben sich Konfliktpotentiale, wenn die Kinder diese Folgen in Zukunft zu spüren bekommen werden. Umgekehrt kann jedoch auch die Erziehung der Kinder als Beitrag zum Umweltschutz verstanden werden: An einer anderen Stelle schildert Frau Kamps eine Situation, in der die Kinder das erste Mal mit ihrem Sportverein bei McDonalds essen gehen durften. Sie berichtet, dass sie den Kindern erklärt habe, dass sie nicht möchte, dass sie dort Fleisch äßen, weil dafür Regenwälder abgeholzt würden. Dass ihre Umwelterziehung bereits Erfolge zeitigt, kommt in der Beschreibung der Reaktion der Kinder auf das Essen bei McDonalds zum Ausdruck. Frau Kamps schildert, wie entsetzt sie über die großen Mengen an Verpackungsmüll gewesen seien, und die für sie interessante Erfahrung, dass ihre Kinder »selber so n Blick dafür haben«. Drittens diskutiert Frau Kamps die Eröffnung des bereits erwähnten Hofladens durch Bekannte als ein weiteres Ereignis, welches die Bedeutung von Gesundheit und Nachhaltigkeit beim Konsum von Lebensmitteln weiter verstärkt habe. Sie beschreibt dabei ausführlich, wie die Idee des Hofladens entstanden sei, welche Anbaumethoden die bekannte Familie benutze und wie sie die Arbeit aufteilen würden. Anschließend geht sie darauf ein, wie die Verfolgung dieses Prozesses ihren Geschmack beeinflusst habe: »Und das ham wir eben so alles mitbekommen wie sich das auch entwickelt hat und da war natürlich am Anfang auch so der Ged- der Gedanke dabei ähm wir wollen das gerne unterstützen (2) faktisch is es natürlich auch so man kommt letztlich auch auf den Geschmack wenn man sag ich mal (2) vorwiegend dann nur noch diese Produkte (.) isst ähm (.) sag ich mal was jetzt auch Joghurt Käse und so weiter angeht und wenn man dann mal wieder was norm- Normales in Anführungszeichen isst dann merkt man plötzlich doch dass da n deutlicher Unterschied is das is einfach so (.) ja«
Die Entstehung des Geschmacks an den Produkten aus dem Hofladen präsentiert Frau Kamps als eine eher beiläufige Entdeckung, die eher nebenbei aus der Motivation entstanden sei, die Bekannten zu unterstützen. Relevant für diese Entdeckung war der ebenfalls eher zufällige Vergleich mit konventionellen Produkten aus dem Supermarkt (»wenn man dann mal wieder was Normales in Anführungszeichen isst dann merkt man plötzlich doch, dass da n deutlicher Unterschied is«). Zieht man den weiteren Kontext des Interviews heran, so wird insgesamt deutlich, dass Frau Kamps die Ausbildung ihrer Präferenz für regionale, saisonale und handwerklich produzierte Lebensmitteln als ungeplante Serie von Sensibilisierungen präsentiert, die sie durch Erfahrungen in verschiedenen Lebensphasen durchlaufen hat. Dieser Erzählung nach präsentiert sie sich weder als jemanden, der guten Geschmack quasi als natürliche Einstellung mitbringt, noch
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als jemanden, der auf der Suche nach dem ›richtigen‹ Geschmack war. Vielmehr präsentiert sie ihren Geschmack allein als Resultat verschiedener äußerer Umstände. Vergleichendes Fazit Frau Kamps Auch wenn Frau Kamps in geringerem Maße als Herr Dürnberger und Frau Kurz die moralischen Ziele bzw. die moralische Relevanz ihres Konsumhandelns expliziert, so wird implizit doch deutlich, dass es darum geht, durch einen bewussten Konsumstil einerseits eine nachhaltige ökologische Entwicklung zu fördern und andererseits eine gesunde Ernährung der Familie sicherzustellen. Am Fall von Frau Kamps können im Wesentlichen zwei relevante Punkte aufgezeigt werden: •
•
Erstens wird ein weiterer Modus des Zusammendenkens des eigenen Konsumhandelns einerseits und des gesellschaftlichen Kontexts andererseits deutlich. Damit einhergehend wird zweitens eine weitere Variante der Mittel und der Umsetzung eines ›guten‹ Konsums sichtbar.
In Bezug auf den Modus des Zusammendenkens des eigenen Handelns und des breiteren gesellschaftlichen Kontextes lässt sich der Unterschied zu den bisher aufgezeigten Orientierungen besser verstehen, wenn man Parallelen der Argumentationen von Herrn Dürnberger und Frau Kamps mit verschiedenen Theorietraditionen der Moralphilosophie heranzieht. Dabei kann selbstverständlich nicht davon ausgegangen werden, dass die Befragten konsistente ethische Theorien verinnerlicht haben. Herrn Dürnbergers Argumentation weist jedoch eine deutliche Parallele zum Konsequentialismus (vgl. Schroth 2009: 56) auf: Das eigene Konsumhandeln wird in Bezug zum breiteren Kontext gesetzt, in dem negative Konsequenzen für andere thematisiert werden, die möglichst vermieden werden sollen. Damit wird gewissermaßen eine einseitige kausale Verknüpfung unterstellt, bei dem das Konsumhandeln als Ursache des potentiellen Leidens anderer gedacht wird. Da prinzipiell alle Menschen und die Umwelt mit in die Überlegungen einbezogen werden, ähnelt die Argumentation zudem dem Universalismus, durch den sich sowohl deontologische als auch konsequentialistische Strömungen ethischer Theorien auszeichnen (Schroth 2009). In Frau Kamps’ Ausführungen sind hingegen eher Parallelen zur Tugendethik erkennbar:
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»Virtue theory tends to imply a version of partiality in ethics, in which caring for and acting to benefit some people more than others is morally acceptable. [...] The key challenge presented in virtue ethics, then, is that of finding ways of combining intimate caring for particular others with humanitarian caring about others in general.« (Barnett et al. 2005a: 19)
Auch wenn Frau Kamps keine theoretisch-argumentative Aussage bezüglich ihrer Moralvorstellungen trifft, so wird in ihren Ausführungen über die Gedanken der richtigen Ernährung ihrer Kinder oder dem Wunsch, die bekannte Familie in ihrem Hofladen-Projekt zu unterstützen, doch zuallererst eine Sorge um ihr eigenes soziales Umfeld sichtbar. Über die Erkenntnispotentiale, welche die Tugendethik in Bezug auf ethische Implikationen von Konsum bereitstellt, schreiben Barnett et al. weiter: »[Virtue theory, JG] might lead us to acknowledge that concerns over the ethics of food production - evident in campaigns around GM foods, the use of pesticides, the BSE crisis, and the growth of organic food production - are not simply motivated by abstract concerns for ›the environment‹ or for ›future generations‹, but are intimately bound up with the forms of care and concern that shape everyday social relations of domestic family life.« (Barnett et al. 2005a: 19)
Eine ebensolche enge Verknüpfung der generellen Sorge um die Umwelt mit der Fürsorge und der Erziehung der eigenen Kinder ist in Frau Kamps’ Ausführungen unverkennbar: Einerseits wird deutlich, dass das Interesse, soziale Beziehungen zu pflegen, auch zu Veränderungen ihrer Dispositionen als Konsumentin geführt haben, wie die Geschichte um den Hofladen der Bekannten zeigt. Andererseits dient die Umsetzung eines nachhaltigen Konsumstils auch dazu, diese Beziehungen selbst positiv auszugestalten. Im Vergleich mit Herrn Dürnberger liegt dabei die These nahe, dass sich hier eine Spezifik der Lebensphase, der Haushaltsform und möglicherweise auch der Geschlechterrollen dokumentiert: Frau Kamps ist eingebettet in ein Netz von Verantwortlichkeiten für ihre Familie, in der sie als Frau und Mutter eine besonders zentrale Rolle spielt, mit der immer noch starke soziale Erwartungen der Fürsorge und des Kümmerns verbunden sind: Die Familie zu versorgen, ist immer noch vor allem Frauenarbeit (DeVault 1994: 95). Dagegen lebt Herr Dürnberger alleine und führt ein sehr eigenständiges Leben ohne Verpflichtungen gegenüber anderen Haushaltsmitgliedern. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Frau Kamps – im Gegensatz zu Herrn Dürnberger und Frau Kurz – an keiner Stelle im Interview mangelnde
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Konsequenz in Bezug auf die Ziele eines nachhaltigen Konsums und einer gesunden Ernährung der Familie thematisiert. Eine mögliche Erklärung dafür sind günstige Gelegenheitsstrukturen: So wurde deutlich, dass die Familie Kamps einen wohnortnahen Zugang zu einem Hofladen hat. Das Ehepaar verdient genügend, um sich ökologische und regionale Lebensmittel leisten zu können, und in Frau Kamps’ Beruf als Lehrerin lassen sich Arbeits- und Familienzeiten gut miteinander vereinbaren. Zwar hat auch Herr Dürnberger ausreichende monetäre Ressourcen zur Verfügung, die Idee eines konsequent ›fairen‹ Konsums widerspricht aber seinem spontanen Lebensstil. Dazu passt auch, dass Herr Dürnberger und Frau Kurz davon ausgehen, dass ›guter‹ Konsum Verzicht impliziert, während Frau Kamps von Wahlmöglichkeiten ausgeht, die keinen Verzicht mit sich bringen. Eine weitere plausible Erklärung ist jedoch, dass die moralischen Ideen, die Frau Kamps’ Ausführungen zugrunde liegen, deutlich besser mit der komplexen Handlungspraxis des alltäglichen Konsums vereinbar sind als die abstrakten und universalistischen Ideen, die Herr Dürnberger vorbringt. Barnett et al. (2005a) argumentieren, dass konsequentialistische und deontologische ethische Theorien unrealistische Annahmen bezüglich der Fähigkeiten gewöhnlicher Menschen treffen. Die Idee, das eigene Konsumverhalten an der Minimierung möglicher negativer Konsequenzen für andere auszurichten, ist demzufolge problematisch, da die Vielfältigkeit anderer Konsummotive nicht beachtet wird. Wie in Kapitel 2.2 gezeigt wurde, kann Konsum vielen Zwecken, wie der Ausbildung persönlicher Identitäten oder der Erfahrung von Normalität im Routinehandeln, dienen, die nicht immer mit universalistischen ethischen Zielen zu vereinbaren sind. Vor diesem Hintergrund erscheint gut erklärbar, warum Herr Dürnberger handlungspraktische Zwänge und Abweichungen von den idealen Vorstellung eines ›fairen‹ Konsums thematisieren muss. Dagegen erscheint es naheliegend, dass die praktische Umsetzung eines an ökologischer Nachhaltigkeit orientierten Konsumstils bei Frau Kamps auch deshalb gelingt, weil ihr Interesse an einem nachhaltigen Konsumstil nicht in Gegensatz zu den sozialen Beziehungen in ihrem unmittelbaren Umfeld steht, sondern sich beide Seiten vielmehr gegenseitig bestärken. Darüber hinaus wurde deutlich, dass sich ›guter‹ Konsum für Frau Kamps im Kauf von regionalen, handwerklich hergestellten Produkten manifestiert, die gegenüber dem Konsum von industrieller Massenware abgehoben werden. Hofläden, kleine Bäcker und Metzger, die selbst gefertigte Ware anbieten, sind Einkaufsorte, die sie mit ›gutem‹ Konsum verbindet. Um diese Präferenzen zu theoretisieren, ist es hilfreich, auf Colin Campbells (2005) Konzept des »craft consumers« – des handwerklichen Konsumenten – zurückzugreifen. Campbell möchte damit den in der Literatur vorherrschenden Bildern (vgl. Kap. 2.2) des
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Konsumenten eine weitere Variante hinzufügen: Dieses Bild stellt weder das rational kalkulierende Eigeninteresse ökonomischer Standardtheorien in den Vordergrund, noch präsentiert es den modernen Konsumenten – wie die kritische Theorie – als manipuliertes Objekt externer Kräfte, noch – wie viele postmoderne Autoren – als selbstbewussten Jongleur, der mit symbolischen Gehalten von Produkten spielt, um Identitäten oder Lebensstile zu kreieren. Stattdessen wird die Annahme zugrunde gelegt, dass das Bedürfnis nach Kreativität und Selbstexpression ein bedeutendes Motiv des modernen Konsumhandelns darstellt (Campbell 2005: 24).8 Das Konzept bezieht sich dabei auf eine basale Dichotomie zwischen handwerklicher Produktion und industrieller Massenproduktion (ebd.: 25) Ein »craft producer« zeichnet sich dadurch aus, dass er die persönliche Kontrolle über alle Prozesse der Herstellung hat. In ähnlicher Weise beschreibt »craft consumption« Aktivitäten, in denen Individuen die Produkte, die sie konsumieren, (teilweise) selbst herstellen (ebd.). Campbell sieht »craft consumption« als einen Versuch, anonyme Massenwaren in personalisierte oder gar humanisierte Objekte umzuwandeln (ebd.: 28). In diesem Sinne kann der handwerkliche Konsum als Versuch gesehen werden, modernen Entfremdungstendenzen entgegenzuwirken. Ulver-Sneistrup et al. (2011) zeigen anhand von qualitativen Interviews in Dänemark und Schweden, dass in den Ausführungen der Befragten ein Ideal sichtbar wird, nach dem ›gute‹ Lebensmittel einerseits von »craft producern« stammen und andererseits vom Konsumenten selber in adäquater Weise weiterverarbeitet werden. Je eher Produktion und Konsumtion miteinander verschwimmen und je näher der Konsument dabei selbst zu den Ursprüngen der Natur gelangt, desto besser: So wird etwa das Pilzesammeln im Wald von einer Befragten als ultimativer Luxus beschrieben. Dieses Ideal ist jedoch für die meisten Menschen in modernen Industriegesellschaften kaum erreichbar. Daher greifen sie auf ›Brücken‹ zurück, um dem idealen Konsum zumindest ein Stück näher zu kommen (Ulver-Sneistrup et al. 2011: 224). Der Kauf handwerklich hergestellter Produkte aus kleinen Betrieben oder auf lokalen Märkten stellt eine solche Brücke dar, eine andere ist die Kombination und Weiterverarbeitung industriell gefertigter Produkte zu einem eigenen Endprodukt. Theoretisch kommen die Autoren dann zu dem Schluss, dass Konsum heute mehr und mehr von einem Arbeitsethos durchdrungen wird:
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Mit Sayers (2003) Unterscheidung zwischen »internal« und »external goods« ließe sich sagen, dass »craft consumption« laut Campbell vor allem darauf abzielt, die internen Güter zu genießen, die etwa aus der Freude des Selbermachens resultieren. Dagegen sind externe Güter wie etwa die Anerkennung, die aus dem Vollzug legitimer Praktiken resultieren kann, eher nachrangig.
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»What matters is how much one will work with one’s consumption, and no matter how simple the work, one must love it. This work is then characterized by romantic craftsmanship myths such as ›the true love‹ invested, the handmade, the sacred of the organically emerged, the joy of the natural being, and the absence of touch by evil (industrial) hands.« (Ulver-Sneistrup et al. 2011: 231)
Das Aufkommen einer solchen Vorstellung des ›guten‹ Konsums kann den Autoren zufolge als Gegenreaktion zur Industrialisierung verstanden werden, die vielen Kulturkritikern zufolge den Arbeiter nicht nur in der Fabrik entfremdet hat, sondern auch zu einem passiven Konsumenten gemacht hat. Manuelle Arbeit wird demgegenüber nun zu einer kulturellen Kategorie, die Romantik oder gar Erlösung zurück in den profanen Bereich des Konsums bringt (UlverSneistrup et al. 2011: 232). Frau Kamps’ Ausführungen können anhand des Konzepts des handwerklichen Konsums genauer beleuchtet werden: Damit wird sichtbar, dass sich Frau Kamps’ Vorstellungen eines ›guten‹ Konsums entlang der angesprochenen Dichotomie zwischen handwerklicher Produktion und industrieller Massenproduktion bewegen. Ihr Unbehagen an der industriellen Massenproduktion wird vor allem in Hinblick auf die mangelnde Transparenz der dahinter stehenden Prozesse deutlich, wodurch ihr Ziel, gesunde und nachhaltige Produkte auszuwählen, deutlich erschwert wird. In kleinen Betrieben einzukaufen, in denen Produktionsprozesse zumindest ansatzweise einsichtig sind, ist zudem verknüpft mit dem Anliegen, sich in angemessener Weise um die Objekte der eigenen Fürsorge – seien es ihre eigenen Kinder oder die Natur – kümmern zu können: Nur hier ist sichergestellt, dass die Produkte ›gut‹ für diese Objekte sind. Es wird noch zu zeigen sein, dass Frau Kamps nur eine spezifische Ausprägung der Orientierung auf handwerklichen Konsum repräsentiert. So spielt bei ihr, im Gegensatz zu Frau Tiedemann (siehe unten), die eigene kreative Weiterverarbeitung von über den Markt bezogenen Produkten kaum eine Rolle. Im Folgenden wird noch zu zeigen sein, dass für mehrere Befragte ›guter‹ Konsum in enger Verbindung mit handwerklicher Fertigung und kleinen Betrieben und Händler steht, jedoch damit ganz unterschiedliche Sinngehalte und Motive verbunden werden. 5.1.4 »Unterwegs hab ich dann lauter so Hofläden gesehen mit Spargel und so, da geh ich rein und da kauf ich dann auch richtig lustbetont ein« – Frau Henning-Löw Mit Frau Henning-Löw wenden wir uns nun einem Fall zu, anhand dessen ein anderer Typ von Konsummoral aufgezeigt werden kann: Bisher standen ver-
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schiedene Varianten der Thematisierung konsumtiver Verantwortung einzelner Akteure gegenüber ihrem gesellschaftlichen Kontext im Mittelpunkt. Moral wurde hier im Rahmen des Bezugs des eigenen Handelns zum gesellschaftlichen Kontext mehr oder weniger explizit behandelt. Hier wurde ein spezifisches Verständnis deutlich, dem zufolge ›gute‹ Konsumenten ihr näheres oder weiter entferntes soziales Umfeld sowie die Umwelt in ihre Kaufentscheidungen einbeziehen, mit dem Ziel, deren Interessen zu schützen. Im Folgenden soll es dagegen um andere Entwürfe des ›Guten‹ gehen, bei denen die Frage, wie man andere behandeln soll, zurücktritt hinter die Frage breiterer Ideen, was ein gutes Leben ausmacht (vgl. Sayer 2005b: 8). Auffallend ist dabei, dass Moral durch die Befragten hier kaum noch explizit zum Thema gemacht, sondern eher implizit, gewissermaßen zwischen den Zeilen sichtbar wird. Das überrascht nicht, da Bergmann und Luckmann in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen haben, dass Moral ein »ein so inniger Bestandteil unseres Alltagslebens [ist] […], daß sie in der Regel unsichtbar bleibt« (1999: 13). So wird – wie im Folgenden zu zeigen ist – bei Frau Henning-Löw auch die Frage des Einkaufens, des Essens und der Ernährung als Teil der Frage des ›richtigen‹ Lebensstils behandelt. Frau Henning-Löw habe ich über den Schulleiter eines Gymnasiums in der Nähe von Siegen kennengelernt, den ich gebeten habe, meine Suche nach Interviewpartnern im Lehrerkollegium anzusprechen. Frau Henning-Löw meldete sich daraufhin bei mir. Sie ist um die 60 Jahre alt und lebt zusammen mit ihrem Mann, die beiden Kinder sind bereits erwachsen und von zu Hause ausgezogen. Mit ihr führte ich eines der längsten Interviews, Frau Henning-Löws Ausführungen sind ausgreifend und detailliert und reichen zudem bis weit in die Vergangenheit zurück. Dabei wird zum einen immer wieder eine Orientierung an Genuss, kulinarischen Erlebnissen und den ästhetischen Dimensionen des Essen deutlich: So schildert sie etwa die ersten Besuche ausländischer Restaurants in den siebziger Jahren als Entdeckung oder »totales Erlebnis«, einen Besuch in einem Sternerestaurant kommentiert sie mit den Worten »boah Wahnsinn«. Sich selbst bezeichnet sie als Genussmensch, Lebensmittel beschreibt sie oft mittels ästhetisierender Adjektive (»schöne Sachen«, »tolles Frühlingsgemüse«). Zum anderen diskutiert sie an mehreren Stellen Fragen der gesunden Ernährung, wobei sie sich in Zusammenhang mit diesem Thema einerseits an der Vorstellung orientiert, dass der Körper bestimmte Stoffe braucht, die ihm über die Ernährung zugeführt werden müssen (»kriegen die genügend Vitamine und alles was so der Mensch für ne gesunde Entwicklung braucht«). Andererseits behandelt sie mehrfach Übergewicht als durch gesunde Ernährung zu vermeidendes Übel (»wenn ich meine Schüler anschaue, das is ja teilweise furchtbar was die auf den Rippen mitschleppen«). Der hohe Stellenwert der Themen Genuss und Gesundheit
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kommt auch in Frau Henning-Löws Antwort auf die Frage des Interviewers zum Ausdruck, wie Essen und Ernährung im heutigen Alltag gestaltet seien: »Ja also (.) mm (5) wir essen (4) doch schon bewusst, also viel (2) viel ähm (.) Ballaststoalso mein Mann is Mediziner da is bei uns sowieso `n Thema die gesunde Ernährung dass ich also schon bewusst einkaufe ähm (.) nach der Qualität aber auch nach Lust also wenn ich jetzt zum Beispiel was man eigentlich ja nicht machen soll Lust auf (zieht Luft ein) Zucchini hab im Februar dann weiß ich das sind natürlich äh Ausländische und dann kauf ich mir die aber auch ähm«
Frau Henning-Löw beschreibt ihre Ernährung zunächst als »doch schon bewusst«, wobei zunächst etwas unklar bleibt, was damit genau gemeint ist. Der argumentative Einschub über den Beruf des Mannes sowie dem Hinweis auf Ballaststoffe deutet zunächst darauf hin, dass Frau Henning-Löw mit »bewusster« Ernährung in erster Linie eine gesunde Ernährung verbindet, anschließend nennt sie in diesem Zusammenhang aber auch »Qualität« und »Lust«. Die Frage des Sich-Bewusst-Seins bezieht sich demnach auf mehrere Dimensionen: Es geht darum, die eigenen Neigungen zu kennen, aber auch das praktische Handeln in Übereinstimmung zu diesen Neigungen zu gestalten (»dass ich also schon bewusst einkaufe«). Dem »bewussten« Konsum wird hier implizit ein ›blind‹ verfahrender unbewusster Konsum gegenübergestellt, bei dem die Auswahl des Essens nicht von gesundheitlichen oder Qualitätsaspekten geleitet wird, sondern einfach nur beliebig irgendetwas gekauft wird. Interessant ist insbesondere, dass Frau Henning-Löw ihren Umgang mit Lüsten hier als »bewusst« präsentiert. Dem lässt sich entnehmen, dass Frau Henning-Löw ihre Lüste kennt und zu ihnen steht. Hier wird ein Kontrast zu Frau Steinhoff (vgl. Kap. 6.1.3) deutlich, die ihre Lüste problematisiert und in Zusammenhang mit Versuchen thematisiert, sie im Zaum zu halten. Als Beispiel für einen Lustkauf nennt sie anschließend den Kauf von importierten Zucchini im Februar, wobei sie sich gegen eine von ihr wahrgenommene normative Vorstellung abgrenzt, Gemüse möglichst saisongerecht und aus der Region zu beziehen (»was man ja eigentlich nicht machen soll«). Interessant ist hier, dass Frau Henning-Löw zum Thema des Genusses und der Lust (»Lust auf Zucchini«) zurückkehrt, obschon es eigentlich um das Thema Gesundheit ging. Hier zeigt sich, dass Genuss und Gesundheit eng verknüpft sind: Es geht offenbar darum, Gesundes zu genießen, wogegen der Verzicht auf das Gesunde – etwa auf Gemüse außerhalb der Saison – ausgeschlossen wird. Offen bleibt hier, warum der Kauf von importiertem Gemüse vermieden werden sollte: Handelt es sich hier um einfaches Hörensagen im Sinne von ›das macht man eben so‹, oder
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hat Frau Henning-Löw bestimmte Gründe wie Umweltschutz oder die Unterstützung der heimischen Wirtschaft im Sinn, weshalb man »eigentlich« anders einkaufen sollte? So oder so lässt sich jedoch entnehmen, dass Frau Henning-Löw ihre persönliche »Lust« auf bestimmte Lebensmittel höher gewichtet als die möglichen Zweifel an ihrer Handlungsweise. Direkt im Anschluss fährt sie fort: »und in den letzten Jahren koch ich eigentlich immer mehr asiatisch (.) äh wir sind also begeisterte Chinafahrer waren also jetzt schon viermal da (2) und das is ja (.) vom Ernährungswert her das Gesündeste überhaupt äh (2) also unglaublich ähm (.) wenn man konsequent äh asiatisch isst (.) die fangen ja schon morgens mit verschiedensten Gemüsen an und das is einfach traumhaft, (.) und (.) auch vom Ernährungswert her also ich weiß ähm (.) wenn wir- wenn wir (.) wenn wir vierzehn Tage in China sind und dreimal täglich (.) zwanzig verschiedene Sachen dann hab ich mindestens zwei Kilo weniger ohne dass ich irgendwie- einfach diese (.) äh konsequent (.) tolle (.) leichte Küche (4) also (.) Spaß (.) am Essen Spaß am Kochen«
In der Beschreibung der Chinareisen und deren Einflüsse auf die eigene Küche orientiert sich Frau Henning-Löw erneut am Thema Gesundheit. Hier wird einerseits ein Bezug zu wissenschaftlichen Erkenntnissen der Ernährungsphysiologie deutlich (»vom Ernährungswert her«). Ernährung ist demnach dann gut, wenn sie dem Körper die Nährstoffe gibt, die er braucht. Erkennbar wird darüber hinaus jedoch auch, dass Essen vor allem auch Spaß machen sollte: Die chinesische Küche sei ideal, da sie Genuss und schöne Erlebnisse verschaffe, zudem aber quasi als automatisches Nebenprodukt eine gesunde Ernährung sicherstelle. Dies zeigen die Adjektive, mit denen Frau Henning-Löw die asiatische Küche beschreibt (»traumhaft«, »tolle leichte Küche«) sowie die darauf folgende generelle Beschreibung (»Spaß am Essen, Spaß am Kochen«), bei der offen bleibt, ob sie sich noch auf die asiatische Küche bezieht oder – die Denkpause könnte darauf hinweisen – ein allgemeines Resümee bezüglich der Frage des Interviewers nach der alltäglichen Gestaltung des Essens im Allgemeinen darstellt. Das Ideal, das hier sichtbar wird, ist also ein Stil des Essens, bei dem gesunde Ernährung und Genuss mit einer gewissen Leichtigkeit verbunden werden. Diese Verbindung kommt mehrfach im Interview zum Ausdruck, auch in Bezug auf das Einkaufen von Lebensmitteln: »Zum Beispiel gestern war ich in in Osnabrück ähm und unterwegs äh hab ich dann lauter so Hofläden gesehen mit Spargel und so da geh ich rein und da kauf ich dann auch richtig lustbetont ein« Frau Henning-Löw thematisiert hier »Lust« in Verbindung mit dem Hofladen und Gemüse (»Spargel«); dagegen beschreibt sie an anderer Stelle eine Ab-
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neigung gegen Fastfood (»Pommes äh mag ich sowieso nicht«).9 An keiner Stelle berichtet sie hingegen von kleinen Sünden oder Ausnahmen, die in Gegensatz zu einer ›gesunden‹ Ernährung stünden. Dem lässt sich entnehmen, dass sich Frau Henning-Löw insgesamt als jemand darstellt, der sich nicht zu gesundem Essen zwingen muss, sondern gewissermaßen von Natur aus einen Geschmack an dem hat, was gesund ist und schlank hält. Diese Haltung wird insbesondere im Kontrast zu Frau Steinhoff deutlich (vgl. Kap. 6.1.3), die im Interview einerseits ihre Abneigung gegen Gemüse und Obst und ihre Präferenz für fettes Essen schildert (»ich ess aber so ungerne Gemüse«, »ich ess lieber Schüps [Chips, JG]«), andererseits die Versuche beschreibt, sich dennoch gesund zu ernähren (»wir versuchen, nicht so viele Süßigkeiten zu kaufen«). Während bei Frau Steinhoff somit ein innerer Konflikt zwischen gesundheitlichen Zielen und Geschmack deutlich wird, präsentiert sich Frau Henning-Löw so, als ob sie ihren geschmacklichen Lüsten freien Lauf lassen kann, da sie sich sicher sein kann, aus sich selbst heraus das ›Gesunde‹ zu wählen. Den Aspekt des lustvollen Einkaufens thematisiert Frau Henning-Löw jedoch nicht nur in Bezug auf Gemüse, sondern auch in Bezug auf besonders schön präsentierte Produkte (»ich bin da so n bisschen anfällig wenn das hübsch verpackt ist«). Als der Interviewer sie bittet, ein Erlebnis darzustellen, als sie sich spontan von einem schönen Produkt hat ansprechen lassen, schildert sie: »Ja also zum Beispiel bei [lokaler Supermarkt, JG] is jetzt- die haben ja eine unglaubliche Auswahl ( ) an diesen (3) gefüllten Ravioli und Tor- Tortellini oder was und äh wenn das so durchsichtig is und man kann da draufgucken und dann is das schön mit Mehl bestäubt so als käm’s gerade frisch aus der Back-[stube, JG] is mir klar is nich (.) aber das sieht einfach toll aus und da kann ich dann schon mal zugreifen und sagen so da machste dir heut Mittag ne schöne Tomatensauce oder Käsesauce dazu und ist is also rein optische Verführung ne ich könnte wahrscheinlich auch die (2) ähm (.) getrockneten aus der Tüteah gut es is schon `n Geschmacksunterschied muss man einfach sagen ja, ähm (3) mm die Lust kommt durch die Augen (2) aber ich finde, das kann man sich auch mal gönnen (.) ne«
In der Beschreibung der frischen Nudeln orientiert sich Frau Henning-Löw stark an der Ästhetik des Produkts (»schön mit Mehl bestäubt«, »sieht einfach toll aus«). Ihren Reiz bezieht diese Ästhetik aus der Suggestion einer traditionellhandwerklichen Produktion (»so als käm’s gerade frisch aus der Back-[stube]«). 9
Der Hofladen ist ein Einkaufsort, der auch von anderen Befragten immer wieder als ›authentisch‹ und ›naturnah‹, im Sinne einer ökologischen Produktion von Lebensmitteln, beschrieben wird (siehe Kap. 5.1.3).
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Rational erkennt Frau Henning-Löw zwar, dass dies vermutlich nur eine Illusion ist (»is mir klar is nich«), was sie aber dennoch nicht davon abhält, sich verführen zu lassen. Hier wird ein Phänomen sichtbar, das Colin Campbell als »willing suspension of disbelief« beschrieben hat: »Disbelief robs symbols of their automatic power, whilst the suspension of such an attitude restores it, but only to the extent to which one wishes that to be the case. Hence through the process of manipulating belief, and thus granting or denying symbols their power, an individual can successfully adjust the nature and intensity of his emotional experience; something which requires a skilful use of the faculty of imagination.« (Campbell 2005 [1987]: 76)
Laut Campbell ist die willentliche Ausschaltung des Unglaubens ein zentrales Element für die Entwicklung der modernen Konsumkultur. Übertragen auf die obige Interviewpassage heißt dies, dass sich Frau Henning-Löw durch die bewusste Nichtbeachtung der Tatsache, industriell produzierte Nudeln zu kaufen, in das schöne Gefühl versetzen kann, ein besonderes, mit Liebe gefertigtes Produkt zu konsumieren. Dadurch versetzt sie sich in die Situation, etwas Schönes, möglicherweise gar etwas Aufregendes zu erleben, was sich besonders in der Umschreibung des Nudelkaufs als »optischer Verführung« dokumentiert. Deutlich wird hier zudem, dass der Kauf eines Produkts, dem Frau Henning-Löw zunächst einen eher geringen Mehrwert beim Gebrauchsnutzen zuschreibt (»ich könnte wahrscheinlich auch die getrockneten aus der Tüte…«), keineswegs negativ gedeutet wird. Im Gegenteil erscheint das Erlebnis als das eigentlich Wertvolle. Wie in Kapitel 5.1.5 noch zu zeigen sein wird, beschreibt Frau Tiedemann im Kontrast hierzu ähnliche Phänomene als Manipulation des Konsumenten durch optische Tricks. Dennoch belässt Frau Henning-Löw es nicht dabei, sondern verweist abschließend auf den besseren Geschmack (»is schon n Geschmacksunterschied, muss man einfach sagen«). Als offene These kann hier festgehalten werden, dass der antizipierte bzw. durch Erfahrungswerte bekannte Geschmack bei Lebensmitteln möglicherweise eine höhere Legitimität besitzt als die optische Aufmachung. Den Kauf eines vergleichsweise teuren Produktes auch mittels des besseren Geschmacks zu rechtfertigen, dürfte demnach eher auf soziale Akzeptanz stoßen als der Verweis auf die schöne Gestaltung des Produktes selbst bzw. der Verpackung. Denn bei Letzterem könnte die Gefahr bestehen, als mondän oder abgehoben wahrgenommen zu werden.10 10 Aussagen anderer Befragter erhärten die Vermutung, dass besserer Geschmack tatsächlich eher als legitimer Grund wahrgenommen wird, mehr zu bezahlen. Besonders diejenigen, die selbst wenig Geld zur Verfügung haben, lehnen es ab, Geld für schöne
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Wie die Beschreibung der verführerischen Kraft von Nudeln aus der Backstube zeigte, wird auch bei Frau Henning-Löw eine Orientierung am Ideal eines handwerklichen Konsums sichtbar. Frau Henning-Löw diskutiert dieses jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang als Frau Kamps. Im Interview erwähnt sie eine breite Vielfalt von Bezugsquellen bei Lebensmitteln: Neben einem hochpreisigen lokalen Supermarkt nennt sie den Bezug von Fisch bei einer Großhandelskette (»der hat den schönsten Fisch«) sowie bei Fischervereinen aus der Umgebung, Fleisch beim Metzger (»Metzger meines Vertrauens«) und Kartoffeln von einer Bekannten, die biologischen Anbau betreibt. Des Weiteren betont sie die Möglichkeit, über Kollegen Wild zu beziehen. Ähnlich wie Frau Kamps spielen bei Frau Henning-Löw Einkaufsorte abseits der Supermärkte eine große Rolle, jedoch beschreibt sie die Wahl des Einkaufsortes an keiner Stelle als Prinzipienfrage. Wie gezeigt kann bereits die Illusion, dass ein Produkt handgefertigt ist, ausreichen. Frau Henning-Löw thematisiert den Einkauf von Lebensmitteln immer wieder in Zusammenhang mit schönen Erlebnissen, wie dem »lustbetonten« Einkaufen, gut essen zu gehen sowie optischen Reizen beim Einkauf. Daher liegt nahe, dass es auch darum geht, mehr Zeit und Sorgfalt in die Auswahl von Lebensmittel zu investieren, und dafür ist es wichtig, eine große Vielfalt an Bezugsmöglichkeiten ausschöpfen zu können. Um jeweils die geschmacklich und ästhetisch besten Lebensmittel beziehen zu können, sollen bestimmte Einkaufsorte nicht aus prinzipiellen Gründen ausgeschlossen werden. Insgesamt lässt sich daraus folgern, dass das Ideal des handwerklichen Konsums bei Frau HenningLöw in Zusammenhang mit einer Suche nach Genuss und schönen Erlebnissen steht. Dazu gehören zwar auch nach handwerklicher Tradition gefertigte Produkte, allerdings keineswegs zwingend oder möglichst ausschließlich. In Kontrast zu Frau Kamps, die den Hofladen auch mit gesunden Produkten und Nachhaltigkeit in Verbindung bringt, diskutiert Frau Henning-Löw das Ziel der gesunden oder ökologisch vertretbaren Ernährung an keiner Stelle in Bezug zu bestimmten Einkaufsorten. Das Ideal der »craft consumption« wird bei Frau Henning-Löw geVerpackung zu bezahlen, während es als durchaus erstrebenswert wahrgenommen wird, mehr Geld zu haben, um sich schmackhaftere oder qualitativ hochwertige Produkte leisten zu können. So argumentiert etwa Frau Müller: »Wenn man sagt n n Mensch aus der Mittelschicht der der kauft dann (.) der kauft dann halt qualitativ hochwertigere Sachen […] wenn ich die nötigen Möglichkeiten hätte also das Kleingeld nötije Kleingeld, dann könnte ich äh schon mich […] vom Konsumverhalten dahinein bewegen, ohne jetzt gleich zu- gleich da was Besseres sein zu wollen.« Und an anderer Stelle: »Es gibt auch Produkte, die eigentlich über ihren Wert bezahlt werden […] man bezahlt es nur teurer, weil weil weil es halt bissel wat hermacht wenn da diewenn da ne Kiste mit’m Schleifchen drum is.«
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wissermaßen für die Suche nach Genuss und schönen Erlebnissen operationalisiert, wogegen die Frage, wie ein Produkt tatsächlich hergestellt wurde – die bei Frau Kamps im Vordergrund steht –, nur insoweit eine Rolle spielt, als mit der Produktqualität und der Ästhetik des Einkaufens Genuss und Erlebnisse verbunden sind. Die Priorität, die dem Genuss gegenüber einer Orientierung an konsumtiver Verantwortung zukommt, drückt sich im Interview anhand von Abgrenzungen gegenüber Menschen aus, die umgekehrte Prioritäten setzen: In ihrer Antwort auf die Frage des Interviewers, ob sie sich Gedanken über negative Konsequenzen ihres Konsums mache, berichtet sie zunächst über den Kauf von Kaffee einer zapatistischen Kooperative und ihr Bestreben, zugunsten der Milchbauern nicht die günstigste Milch zu kaufen.11 Schließlich erwähnt sie, dass sie solche Überlegungen nicht konsequent verfolge, und grenzt sich gegenüber Menschen ab, die sie in dieser Hinsicht als konsequenter wahrnimmt (»auf der einen Seite bewunder ich Leute die äh so konsequent sind aber meistens sind die dann auch dermaßen ideologisch«). Hier zeigt sich, dass Frau Henning-Löw die Berücksichtigung verantwortungsethischer Motive beim Konsum durchaus als ›gut‹ anerkennt, gleichzeitig wird aber die »Overperformance« des angebrachten Verhaltens kritisiert (vgl. Horton 2003: 68). An anderer Stelle berichtet sie von ihrer Schneiderin, die vegan lebe und äußerst besorgt wegen Schadstoffen im Essen sei: »Das hört sich jetzt blöd an meine Schneiderin wenn ich was Größeres zu ändern hab da bring ich das da in die- die is Veganerin (3) das sind ja arme Menschen okay aber (.) die sieht auch aus (gestikuliert) (2) und wenn man da das Thema Essen anschneidet ähm dann kricht man also lange Vorträge (.) und Eier äh nich weil die Chemikalien oder wie sagt sie mit Dioxin und weiß der Geier alles sind (ächzt) und da denk ich mir immer (2) dann darf man auch keinen Wein trinken denn- das macht sie sowieso nich aber (.) irgendwo mussis doch auch Essen was Lustvolles ja und wenn ich ähm so eng bin dass ich also Essen nur noch als (2) ähm (3) Überlebens- damit ich überlebe äh (.) so Menschen sind mir suspekt«
Diesen Passagen lässt sich entnehmen, dass Frau Henning-Löw Genuss und eine strikte Berücksichtigung konsumtiver Verantwortung für andere beim Lebensmittelkonsum in Konflikt miteinander sieht. Deutlich wird auch, dass sie die angesprochenen Pestizidbelastungen an keiner Stelle in Zusammenhang mit Ge11 Hier wird deutlich, dass Frau Henning-Löw ihren Konsum durchaus auch im Rahmen des gesellschaftlichen Kontextes diskutiert. Jedoch wird diese Orientierung erst im Nachfrageteil des Interviews sichtbar, was ein Hinweis auf die untergeordnete Bedeutung dieses Rahmens ist.
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sundheit diskutiert – die Angst vor Pestiziden erscheint damit als ungerechtfertigt. Echtes Genießertum setzt demzufolge auch voraus, den Speiseplan nicht aus ethischen Motiven oder einer übertriebenen Angst vor Pestiziden einzuengen – Veganer können demnach offenbar keine Genießer sein.12 An anderer Stelle im Interview thematisiert Frau Henning-Löw hingegen die oft schlechten Ernährungsgewohnheiten der »Unterschicht«. Hier wird deutlich, dass sie Menschen mit fehlender Bildung oder einem sehr geringen Einkommen keine Verantwortung für einen ›falschen‹ Ernährungsstil zuschreibt (»die sind ja gezwungen, so zu essen, wie sie dann aussehen«). Stattdessen sieht sie die Verantwortung bei der Politik (»es is in erster Linie ein politisches Problem«). Fazit Frau Henning-Löw Im Interview mit Frau Henning-Löw wird eine Konstruktion des ›guten‹ Konsums deutlich, der zufolge es darauf ankommt, Genuss und Gesundheit mit einer gewissen Leichtigkeit miteinander zu vereinen. Dies ist bemerkenswert angesichts des Befundes der Essenssoziologie, dass Genuss und Gesundheit in modernen Gegenwartsgesellschaften weitgehend als nicht miteinander vereinbare Gegensätze verstanden werden (Warde 1997: 78ff.; Lupton 1996: 80ff.). John Coveney etwa konstatiert: »[…] many of the foods that give us pleasure are the very foods that – in a nutritional context – cause us anxiety, and often guilt.« (2006: xiii). Angesichts der empirisch gut dokumentierten inneren Spannungen, die gerade Frauen im Umgang mit sogenannten »feel-good foods« äußern (vgl. Madden/Chamberlain 2010: 198), scheint Frau Henning-Löws Haltung ein geeignetes Mittel der distinktiven Abgrenzung von der Masse darzustellen: Sie muss – im Gegensatz zu vielen anderen Frauen – ihre Präferenz für gesundes Essen nicht als anstrengenden Prozess der Selbstdisziplinierung darstellen, sondern kann sie als quasi-natürlichen Geschmack präsentieren. Darüber hinaus werden implizit moralische Imperative deutlich, so dass eine allgemeine Geltung der eigenen Präferenzen als ›richtiger‹ Geschmack beansprucht wird: Essen soll möglichst als ein Quell des Lustgewinns und des Genusses betrachtet werden. Dar12 Johnston und Baumann (2010: 193ff.) zeigen, dass unter den von ihnen untersuchten Essensbegeisterten (»Foodies«) eine snobistische Haltung gegenüber Essen abgelehnt wird, das traditionell mit niedrigeren Klassen assoziiert wird. Stattdessen herrsche eine aufgeschlossene Haltung – die die Autoren als »omnivorousness« bezeichnen – vor, nach der jedes gut schmeckende und liebevoll zubereitete Essen geschätzt werden soll. Bei Frau Henning-Löw wird gewissermaßen eine andere Facette von »omnivorousness« deutlich, bei der es darum geht, kein Essen aus moralischen Gründen abzulehnen.
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über hinaus wird deutlich, dass der Genuss beim Essen zwar eine wichtige Rolle einnehmen sollte, dass aber andererseits nicht jeder Stil des Essens Genießertum verkörpern kann. Genuss sollte mit einer gesunden Ernährung verbunden werden, ohne dass Letztere jedoch den Genuss einschränkt oder auf bestimmtes Essen prinzipiell verzichtet werden muss. Sich zu einem gesundem Ernährungsstil zu zwingen – und dann nicht genießen zu können – erscheint demnach genau so schlecht wie der zügellose Genuss von ungesundem Essen – etwa Fastfood – und dessen etwaigen Konsequenzen wie Übergewicht. Als ethisches Ideal erscheinen damit ein quasi natürlicher Geschmack an gesundem Essen und die Fähigkeit, dieses Essen auch begrifflich explizit wertschätzen zu können – dies kommt in den ästhetisierenden Beschreibungen der Lebensmittel zum Ausdruck, die im Interview immer wieder auftauchen. Zusammenfassend lässt sich daher sagen, dass hier eine ethische Position – im Sinne der Selbstfestlegung der Lebensführung unter Bedingungen der Freiheit – erkennbar wird, die ästhetisches und leibliches Genießen in den Mittelpunkt rückt. Diese Ethik kann durchaus im Sinne einer Sorge um sich verstanden werden, der zufolge es geboten ist, sich um sich selbst, um »die Gesundheit der eigenen Seele zu kümmern« (Foucault 1986b: 67). Die Seinsweise, zu der Frau Henning-Löw durch ihre Praxis Zugang gewinnen möchte (vgl. Foucault 2005 [1984]: 876), ist die eines schönen und genussvollen Lebens, während sie eine asketische Moral des Verzichts im Sinne der Puritaner (vgl. Weber 2006 [1904/1905]: 146) ablehnt. Unterscheidet man – wie in Kapitel 3 eingeführt – zwischen moralischen Urteilen über bestimmte Verhaltensweisen und moralischer Kommunikation, die sich auf die Anerkennung der ganzen Person beziehen, so zeigt sich anhand des Interviews mit Frau Henning-Löw, dass nicht gegenüber allen Personen, die sich ›falsch‹ verhalten, auch Missachtung zum Ausdruck gebracht wird. Verachtet werden Personen für falsches Verhalten hingegen nur dann, wenn ihnen persönlich die Verantwortung für ihr Verhalten zugesprochen wird, was immer eine Zuschreibung der Freiheit, anders handeln zu können, impliziert. Wie gezeigt wird eine Moralisierung gegenüber Veganern und »konsequenten« Konsumenten deutlich, die mit ihrer rigiden Haltung das Ideal der Vereinigung von Genuss und Gesundheit verfehlen würden, nicht aber bezüglich sozial niedriggestellter Menschen, die sich falsch ernähren. In den Ausführungen von Frau Henning-Löw dokumentieren sich somit moralische Grenzziehungen, in denen ein Konflikt über Fragen des ›richtigen‹ Lebensstils zum Ausdruck kommt. Es geht dabei offensichtlich um Gruppen, die relativ wohlhabend und gebildet sind und daher als selbstverantwortlich gedacht werden. Am Fall von Frau Henning-Löw kann somit gezeigt werden, dass Konstruktionen des ›guten‹ Konsums insofern moralrelevant sind, als sie Positionen in einem latenten gesellschaftlichen Konflikt dar-
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stellen (vgl. Beetz 2009: 255). Eingehender wird die Beschaffenheit solcher Moralisierungen des Konsumverhaltens im Bereich des Essens in Kapitel 7 behandelt. 5.1.5 »Mittlerweile denke ich dann auch immer was is eigentlich nötig und was nich zum Leben« – Frau Tiedemann Frau Tiedemann habe ich durch einen Kontakt mit einem Künstlerverein kennengelernt. Sie ist eine Frau Ende sechzig und Rentnerin. Davor hat sie als Angestellte in einem Büro gearbeitet, sie beschreibt diese Arbeit aber als bloßen Gelderwerb, um sich ihrer Kunst widmen zu können. Auch ihr Mann, der schon vor längerer Zeit gestorben ist, war Künstler. Sie hat einen erwachsenen Sohn und lebt nun alleine in dem vormals von der Familie bewohnten Haus. Bei Frau Tiedemann wird – ähnlich wie bei Frau Henning-Löw – eine Orientierung an der Frage deutlich, was ein ›gutes‹ Leben ausmacht und durch welche Praktiken eine sinnvolle Lebensführung zu erreichen ist. Im Gegensatz zum Genusshedonismus von Frau Henning-Löw zeigt sich bei Frau Tiedemann jedoch eine asketische Haltung. Auf die Aufforderung des Interviewers zu erzählen, wie bei ihr der Einkauf von Lebensmittel aussehe, kommt es zunächst zu folgender Ausführung: »Jaa das is mittlerweile bei mir ich brauch ja (atmet aus) also sehr wenig ich geh eigentlich nur noch einmal in der Woche richtig einkaufen und äh bevorrate mich dann mit dem was ich gebrauche (.) Und ich guck aber auch äh (atmet aus) schon sehr äh nach Sonderangeboten das muss ich auch sagen weil man sonst (.) ja (.) nich so zurechtkommt nich mein bei mir geht alles Geld in die Kunst (lacht) (.) ja«
Frau Tiedemann leitet ihre Beschreibung ein mit dem Hinweis, dass sie nur sehr wenig »braucht«. Daran zeigt sich eine Orientierung am ›Notwendigen‹ sowie eine große Abgeklärtheit: Frau Tiedemann kennt ihre Bedürfnisse und hat sie im Griff.13 An der Unterscheidung zwischen heute und früher (»mittlerweile«, »nur noch«), wird zudem eine lebensbiographische Dimension deutlich. Das Einkaufen für den täglichen Bedarf betrachtet Frau Tiedemann eher als notwendige Arbeit denn als Tätigkeit, die an sich Spaß macht (»bevorrate mich dann mit dem
13 Besonders deutlich wird dies im Kontrast zu Frau Steinhoff, die mühsam mithilfe von rationaler Planung und Hilfsmitteln wie dem Einkaufszettel darum ringen muss, die eigenen Bedürfnisse zu kontrollieren, was ihr zudem nicht immer gelingt (vgl. Kap. 6.1.3).
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was ich gebrauche«). Rechtfertigend gegenüber dem Interviewer (»muss ich auch sagen«) argumentiert sie anschließend, dass sie Sonderangebote beachte. Dem lässt sich entnehmen, dass sie eine enge Preisorientierung nicht für ein adäquates Verhalten für jemanden in ihrer sozialen Position hält. Sie erklärt dies jedoch damit, dass »alles Geld« in die Kunst gehe. Daraus lässt sich folgern, dass die Kunst für Frau Tiedemann ein Lebensbereich ist, dem zentrale Bedeutung zukommt und dem sie in finanzieller Hinsicht Priorität gegenüber dem subjektiv weniger bedeutsamen Bereich des Lebensmittelkonsums einräumt. Dem lässt sich entnehmen, dass Sparsamkeit für Frau Tiedemann nicht eine Tugend »an sich« oder eine Vorsorge für schlechte Zeiten ist, sondern insbesondere in einigen Lebensbereichen dazu eingesetzt wird, um sich in anderen Bereichen etwas zu ermöglichen. Insgesamt werden somit drei wichtige Dimensionen erkennbar: die Frage nach dem, was »notwendig« ist, eine lebensbiographische Dimension sowie die Unterscheidung zwischen zentralen und nebensächlichen Lebensbereichen. Im weiteren Verlauf des Interviews äußert sich Frau Tiedemann kritisch gegenüber der modernen Konsumkultur, wobei sichtbar wird, dass diese Kritik in engem Bezug zu den bisher herausgearbeiteten Dimensionen steht. Auf die Frage des Interviewers, ob ihr eine Situation einfalle, in der sie Entscheidungsschwierigkeiten zwischen verschiedenen Produkten gehabt habe, kommt es zu folgender Antwort: »Nee eigentlich nich also vielleicht ich also ich dadurch dass ich ( ) jetz so in so nm gewissen Alter also von- bei mir isses jetz so dass ich äh eigentlich ziemlich äh (.) ja weiß was ich will und und dann nich mehr so viel hin und her und und äh mache und ich finde sowieso dieses (einatmen) äh diese sehr große äh ja meinetwegen Auswahl an Waschmitteln dies tausend Zeuch was es da gibt eigentlich is das überflüssig das muss man also wenn das äh richtig logisch ma betrachtet und da genau sich mit beschäftigt dann merkt man dass das im Endeffekt alles nur Augenwischerei ist Die sind alle eine is genau wies andere und es wird nur immer ne neue ( ) Marke noch ma wieder rausgebracht damit die Leute denken oh es gibt was Neues jetz müssn wer s kaufen un da bin ich muss ich ehrlich sagen so n bisschen drüber hinweg dass ich einfach denke die Sachen haben sich bewährt die nehm ich immer wieder und nich dass ich mich nich interessiere also ich guck schon was es alles so an äh neuen Dingen so gibt aber wie gesacht ich merk dann immer (spricht lachend) wieder dass ich denke (spricht wieder normal) nee es is ei-eigentlich Quatsch du kr- s-s is is eigentlich nich viel anderes was äh da drin sein kann«
Frau Tiedemann thematisiert hier insbesondere die Frage des Umgangs mit einem differenzierten Warenangebot. Deutlich wird ein positiver Horizont in der
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Orientierung am Bewährten (»weiß was ich will«; »nich mehr so viel hin und her«). Die kritischen Äußerungen zum großen Angebot an Konsumgütern14 (»tausend Zeuch«, »überflüssig«) beziehen sich auf die Frage, was »notwendig« ist und was nicht, wobei aber noch offenbleibt, auf welchen Kriterien diese Klassifizierung beruht. Weiterhin stellt Frau Tiedemann einen Zusammenhang her zwischen logischem Denken (»richtig logisch ma betrachtet«) und ihrer kritischen Haltung gegenüber dem großen Warenangebot. Hier zeigt sich eine Denkfigur, dass Nachdenken mehr oder weniger zwingend zu der von ihr vertretenen Haltung führt. Sie rationalisiert damit ihre Haltung, indem sie sie als einzig vernünftige Möglichkeit konzipiert. In der weiteren Argumentation wird erkennbar, dass die Klassifizierung in »notwendig« und »überflüssig« auf einer Unterscheidung zwischen der praktisch-gebrauchsmäßigen und der symbolischen Dimension von Produkten beruht: Die Vielfalt der Konsumgüter verspricht Differenzierung, in praktischer Hinsicht weisen die Produkte aber keine Unterschiede auf (»eine is genau wie’s andere«). Die Markenpolitik der Konsumgüterindustrie dient aus Frau Tiedemanns Sicht lediglich der symbolischen Abhebung der neuen Produkte zum Zweck der Konsumentenverführung (»damit die Leute denken oh es gibt was neues, jetzt müssn wer’s kaufen«), ohne aber einen Gebrauchswert zu bieten, der diese neuen Produkte von bereits vorhandenen unterscheidet. Hier wird deutlich, dass sie der symbolischen Dimension der Produkte keinen eigenständigen Nutzen zumisst (vgl. dazu auch Kap. 2.1). Die Ausbildung fester Konsumpräferenzen durch den wiederholten Rückgriff auf bewährte Produkte stellt Frau Tiedemann als persönlichen Entwicklungsprozess und positive Errungenschaft dar (»drüber hinweg«). Dem Hinweis gegenüber dem Interviewer (»nich dass ich mich nich interessiere«) lässt sich entnehmen, dass Frau Tiedemann besorgt ist, durch die vorangegangenen Ausführungen nicht mehr als aufgeschlossene und neugierige Person wahrgenommen zu werden – ein Eindruck, den sie vermeiden möchte. Frau Tiedemann präsentiert sich in dieser Passage insgesamt als Kritikerin der kapitalistischen Konsumkultur, die Strukturen und Akteure des Konsumgütermarktes hinterfragt und die durch eine kluge Analyse die auf die Manipulation des gemeinen Konsumenten zielenden Machenschaften der Produzenten entlarvt. Diese Art der Kritik steht in einer langen Tradition der »Feindschaft gegenüber dem Phänomen des Konsums« (Brewer 1997: 56), die spätestens im 18. Jahrhundert eingesetzt hat (Hilton 2004). Im weiteren Verlauf des Interviews wird schließlich noch deutlicher,
14 Frau Tiedemann expliziert ihre Kritik am Beispiel von Waschmitteln, implizit wird aber deutlich, dass sie auch ein anderes Beispiel hätte wählen können (»diese sehr große äh ja meinetwegen Auswahl an Waschmitteln«).
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dass es Frau Tiedemann mit ihrer Kritik der ausdifferenzierten Warenwelt insbesondere um die Frage einer sinnvollen Zeitverwendung geht: »Und klar wenn ich jetz so so bei Jüngeren dann manchmal sehe bei meiner Schwiegertochter die dann meinetwegen phfff zehn Sorten Waschpulver da stehn hat da denkt man das verwirrt die Menschen (spricht lachend) doch nur (lacht kurz) (spricht wieder normal) Ja dass man muss sich bei jeder Wäsche dann ungefähr tausend Gedanken machen was man äh benutzt (.) und wenn man äh gar nich so viel hat dann is das überhaupt gar keine Frage dann is das mehr so Routine un man muss da gar nich mehr lange so drüber nachdenken oder äh diese nebensächlichen Arbeiten.«
In der Passage zeigt sich eine deutliche Abgrenzung gegenüber der jüngeren Generation, die hier durch die Schwiegertochter repräsentiert wird, die dazu neigt, das differenzierte Produktangebot als sinnvoll anzuerkennen und entsprechend verschiedene Produktvarianten zu kaufen und zu benutzen (»die dann meinetwegen zehn Sorten Waschpulver da stehn hat«).15 Im Kontext von Frau Tiedemanns bisherigen Aussagen erscheint die Schwiegertochter als Opfer der Konsumgüterindustrie, da sie auf die »Augenwischerei« der Produktvielfalt hereinfalle und sich somit für dumm verkaufen lasse. Insgesamt zeigt sich, dass Frau Tiedemanns Kritik an der Markenpolitik der Anbieter auch eine Entsprechung auf Konsumentenseite findet: Implizit wird ein Imperativ sichtbar, dass ein vernünftiger Mensch sich nicht von der Vielfalt der Konsumangebote blenden lassen, sondern sich auf das Bewährte verlassen sollte. Die Ausdifferenzierung des Warenangebots erzwingt es, sich im Detail mit den Vor- und Nachteilen der einzelnen Produkte auseinanderzusetzen und Entscheidungen zu treffen, welches der vielen Produkte für jede spezifische Situation am besten geeignet ist (»man muss sich bei jeder Wäsche dann ungefähr tausend Gedanken machen«). Dem steht die Benutzung eines bewährten, universell anwendbaren Grundprodukts gegenüber (»wenn man gar nicht so viel hat«). Es wird deutlich, dass der Vorteil dieser Praxis darin besteht, Routinen ausbilden zu können. Frau Tiedemann orientiert sich hier an der Frage einer sinnvollen Zeitverwendung. An dem Hinweis auf die Nebensächlichkeit der Hausarbeiten wird nun noch einmal die Differenzierung zwischen verschiedenen Lebensbereichen sichtbar. Die Ausdifferenzierung der Produkte und die damit in Verbindung stehenden Praktiken lehnt sie somit ab, da 15 An einer anderen Stelle im Interview berichtet Frau Tiedemann von ihrem Sohn, der teure Weine kaufe. Hier wird eine analoge Kritik an der lediglich symbolischdistinktiven Dimension der teuren Weine sichtbar, die sich preislich abheben, aber gegenüber »einfachen« Weinen keinen höheren Gebrauchswert aufweisen, da sie nicht besser schmecken würden (vgl. dazu Kap. 7.2.3).
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Nebensachen wie das Waschen unnötigerweise zur Hauptsache aufgewertet werden. Während Frau Tiedemann wiederholt Fragen der »Notwendigkeit« von Konsumgütern thematisiert, erwähnt sie an keiner Stelle Lustkäufe oder das Bedürfnis, sich ab und zu etwas Besonderes zu gönnen. Insgesamt präsentiert sich Frau Tiedemann im Interview somit als eine sehr genügsame, geradezu asketische Person, die nur wenig auf leibliche Genüsse gibt. Argumentativ bringt sie ihren geringen Bedarf mit ihrer lebensbiographischen Situation in Verbindung, da sie nun »eben keine Familie mehr zu versorgen« habe. Darüber hinaus beschreibt Frau Tiedemann, dass sie im Gegensatz zu früher weniger in die Stadt fahre, worin sich – wie auch schon am Begriff des »Bevorratens« – tendenziell ein Rückzug aus dem öffentlichen Leben zeigt. Die Unterscheidung zwischen nebensächlichen und zentralen Lebensbereichen wird im Interview immer wieder sichtbar: So stellt sie die Arbeit im Garten und an der Kunst als den zentralen Inhalt ihres Tages dar (»dann is der Tach sehr ausgefüllt«), während Kochen und Essen als ungewollte Ablenkung von diesen Tätigkeiten beschrieben werden (»dann find ich das immer lästich mittachs da irgendwas zu machen«). Die etwas abschätzige Wortwahl deutet darauf hin, dass Frau Tiedemann der Zubereitung des Essens nur wenig Zeit einräumt und das von ihr konsumierte Essen wenig wertschätzt (»Fertigsuppe und so n Kram«). Hier wird deutlich, dass Frau Tiedemann nicht nur in finanzieller, sondern auch in zeitlicher Hinsicht klare Prioritäten zugunsten anderer Lebensbereiche wie der Kunst setzt, denen zudem offensichtlich eine identitätsbildende Bedeutung zukommt. Lediglich als Frau Tiedemann die Bewirtung von Gästen beschreibt, bringt sie eine positive Bewertung des Kochens und Essens zum Ausdruck. Dann habe sie »Spaß an speziellen Dingen die man denn ma so kochen könnte« sowie »am Anrichten un un so Dekoration«. Diese Ausführung erscheint angesichts der im restlichen Interview erkennbaren geringen Relevanz, Zeit in die Planung und die ästhetische Gestaltung von Essen zu investieren, zunächst widersprüchlich, ist aber erklärbar, wenn sie mit der lebensbiographischen Dimension in Bezug gesetzt wird: Die These liegt nahe, dass das Essen für Frau Tiedemann eine soziale Bedeutung hatte, als sie noch eine Familie hatte. Diese Bedeutung ist nun weitgehend entfallen, seit sie allein und etwas zurückgezogener lebt. Wenn Gäste zu Besuch sind, rückt diese soziale Bedeutung jedoch wieder in den Vordergrund. Im Interview inszeniert Frau Tiedemann die mit dem Alter einhergehende Konzentration auf das ›Wesentliche‹ dagegen als einen persönlichen Entwicklungsprozess. Hier kommt eine positive Umdeutung des Alters gegenüber dem Interviewer als Repräsentant der Außenwelt – und möglicherweise
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auch gegenüber sich selbst – zum Ausdruck, indem eine spartanische Lebensweise als Errungenschaft bewertet wird. In einer weiteren Passage erläutert Frau Tiedemann, dass es mit zunehmendem Alter auch in ihrer Kunst darauf ankomme »die Essenz versuchen zu repräsentieren un alles Andere und Überflüssige so n bisschen wegzulassen«. Im Gegensatz zum Konsum von Dingen des täglichen Bedarfs bleibt hier zunächst offen, mittels welcher Kriterien sie entscheidet, was überflüssig ist. Zumindest zeigt sich aber, dass es bei der Reduktion auf das Wesentliche in der Kunst nicht um Kostenreduktion durch Materialverzicht geht (»alles Geld was übrig bleibt so ungefähr wandert bei mir in die Kunst sehr viel oder auch Bücher und so da kann ich schlecht rausgehen und Blumengeschäfte (lacht) das is mein Konsum«). Dem lässt sich eine Differenz zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ marktvermitteltem Konsum entnehmen. Obwohl diese Unterscheidung nicht weiter thematisiert wird, deutet sich doch zumindest an, dass Ersterer den Kauf von Produkten umfasst, die entweder selbst produktiv weiterverarbeitet werden (Gartenbedarf, Kunstmaterialien) oder die eine eingehende geistige Auseinandersetzung mit dem Produkt ermöglichen (Bücher). Hier sei noch einmal an die obige Kritik Frau Tiedemanns an ihrer Schwiegertochter erinnert: Die Käuferin verschiedener Waschmittel erscheint der Argumentation nach als bloßes Opfer der Interessen der Konsumgüterindustrie, die Käuferin von Garten- und Kunstbedarf hingegen nicht. Als These kann daher festgehalten werden, dass Konsum dann ›gut‹ ist, wenn die Konsumentin ihre eigene Persönlichkeit, Kreativität oder ihre Deutungen in einen Prozess einbringen kann, in dem Konsum und Produktion ineinander verschmelzen und ein neues Produkt geschaffen wird. Möglicherweise geht es auch darum, dass die Konsumentin beim ›guten‹ Konsum an der Sinnproduktion beteiligt ist, während ›schlechter‹ Konsum dann dadurch gekennzeichnet ist, dass die Sinnhaftigkeit des Konsumakts von außen, etwa durch die Marketingexperten der Konsumgüterindustrie, vorgefertigt wäre, so dass der Konsum letztlich keinen authentischen Ausdruck der Persönlichkeit darstellt. Der Interviewer fragt schließlich, ob das Prinzip des Weglassens des Überflüssigen auch für ihr Einkaufsverhalten gelte, woraufhin es zu folgender Antwort kommt: »Ja ja is insgesamt is das in all´m jaja beim Einkaufen is das auch äh und bei allem eigentlich so dass man denn mittlerweile ja dass ich einfach mittlerweile (atmet ein) (.) dann auch immer denke äh was is eigentlich nötig und was is nich zum Leben oder s´is wird so eben so´n bisschen mehr so ne Philosophie (lacht kurz)«
Frau Tiedemann stellt hier die Reduktion auf das ›Wesentliche‹ (»was is eigentlich nötig zum Leben«) als Leitprinzip dar, das sich auf alle Lebensbereiche er-
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streckt (»insgesamt«, »wird so eben so n bisschen mehr so ne Philosophie«). In dieser Argumentation wird eine rationale Ethik sichtbar, die erstens systematisch das »Wesentliche« vom »Überflüssigen« trennen möchte, um zweitens auf alles Überflüssige so weit wie möglich zu verzichten. Vergleichendes Fazit Frau Tiedemann Im Fallvergleich zeigen sich gewisse Parallelen, aber auch Unterschiede zwischen Frau Tiedemann und Frau Henning-Löw. Beiden Frauen ist gemeinsam, dass sie die Frage des ›richtigen‹ Konsums von Lebensmitteln als Teil eines ›richtigen‹ Lebensstils diskutieren. Matthias Zick Varul (2004: 24) versteht Lebensstile – insofern es um Selbstfestlegungen unter Bedingungen der Freiheit – als ethische Unterfangen und – insofern es um Grenzziehung geht – auch als moralische Projekte. In diesem Sinne lassen sich letztlich die Ausführungen aller in dieser Studie Beforschten lesen. Jedoch wird bei Frau Tiedemann und Frau Henning-Löw deutlich, dass sich ethische Selbstfestlegungen keineswegs auf den Einbezug von ›Schutzobjekten‹ in das eigene Kauf- und Konsumhandeln beschränken müssen, sondern in einem weiteren Sinne die Frage betreffen, wie man leben soll. Bezüglich der Inhalte des ›richtigen‹ Lebens scheinen Frau Tiedemann und Frau Henning-Löw geradezu entgegengesetzte Haltungen einzunehmen: Konsumkritik, Askese und Reduktion auf das Notwendige auf der einen Seite; Umarmung der Konsumkultur, Genusshedonismus und die Begeisterung dafür, sich etwas zu gönnen, auf der anderen Seite. Bemerkenswert ist zudem, dass Frau Tiedemann ›Gesundheit‹ im gesamten Interview an keiner Stelle thematisiert. Bei ihr geht es hinsichtlich des Essens vorrangig um das Sattwerden, nicht darum, sich gesund zu ernähren. Hier liegt die These nahe, dass der asketische Lebensstil, den Frau Tiedemann immer wieder betont, eine Entkörperlichung und Vergeistigung umfasst. Während Frau Henning-Löws Genusshedonismus auf körperlich-innerliche Lust abzielt, geht es bei Frau Tiedemann um geistige Nahrung (die Lektüre von Büchern) und geistige Entäußerung (in der Kunst und der Gartenarbeit). ›Guter‹ Konsum ist für sie nicht etwas Reaktives, sondern Grundlage der kreativen Produktion. Der ethische Anspruch, der hier deutlich wird, ist der einer asketischen, methodisch kontrollierten Lebensführung. Religiöse Motive tauchen im Interview nicht auf, doch lässt sich durchaus eine Analogie erkennen zu religiösen Anhängern, die besorgt darum sind, ihre Fähigkeit unter Beweis zu stellen, fleischlichen Versuchungen zu widerstehen (Lupton 1996: 131). Denn auch bei Frau Tiedemann geht es um Verzicht auf Lust und Genuss, um sich ganz einer höheren Sache – der geistigen Tätigkeit in der Kunst – widmen zu können.
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Dabei zeigt sich wiederum eine Nähe zu Campbells Konzept des handwerklichen Konsums (vgl. 2005: 33). Im Gegensatz zu Frau Kamps, bei der eher der Kauf handwerklich produzierter Produkte im Vordergrund stand, thematisiert Frau Tiedemann stärker die eigene Weiterverarbeitung von Produkten. Dabei zeigt sich, dass sie dieses Verständnis des ›guten‹ Konsums als ein Prozess, in den auch eigene Arbeit einfließt, nicht in allen Lebensbereichen äußert. Gerade in Bezug auf das Kochen und Essen wurde deutlich, dass Frau Tiedemann auf Fertigprodukte zurückgreift. Wie gezeigt, steht dies in Bezug zur Unterscheidung zwischen wichtigen und unwichtigen Lebensbereichen. Danach sollte dem Konsum von banalen Alltagsdingen keine große Bedeutung beigemessen und nicht allzu viel Zeit darauf verwendet werden. Andererseits wurde deutlich, dass die geringe Bedeutung des Essens und Kochens auch mit Frau Tiedemanns Lebenssituation als alleinlebende Rentnerin sowie ihrer Betätigung als Künstlerin in Bezug stehen. Die Art und Weise, wie »craft consumption« praktiziert wird, scheint somit stark von den vergangenen Erfahrungen und Lebenssituationen der Akteure geprägt. 5.1.6 »Das wurde halt erst so richtig seitdem ich alleine lebe dass man sich einfach auch bewusst macht was man wirklich isst« – Frau Meine Bereits in den Falldarstellungen zu Frau Kamps und Frau Henning-Löw wurden Varianten der Thematisierung von bewusster Ernährung deutlich, die in einen – eher vagen – Zusammenhang mit Themen wie körperlichem Wohlbefinden und Gesundheit gebracht wurden. Mit Frau Meine wird nun noch ein Fall vorgestellt, bei dem eine bewusste Ernährung eine zentrale Orientierung ist, die insbesondere in Bezug zu Fitness und Attraktivität steht. Letztlich wird auch hier ein Zusammenhang mit der Frage des richtigen Lebensstils sichtbar. Frau Meine habe ich über eine Bekannte kennengelernt. Sie ist Mitte zwanzig, lebt mit ihrem Freund in einer Mietwohnung in Siegen und arbeitet ganztags als Arzthelferin. Das Interview findet bei Frau Meine zu Hause statt. Bereits in der Eingangserzählung unterscheidet Frau Meine zwischen ihrer heutigen Art und Weise des Einkaufens, Kochens und Essens und den diesbezüglichen Alltagspraktiken während der letzten Jahre des Zusammenlebens mit Vater und Bruder. Ihre eigene Entwicklung seit dieser Zeit schildert sie als Prozess der schrittweisen Bewusstwerdung über die damals ungesunde Ernährungsweise sowie als Suche nach einer besseren Ernährung. Als der Interviewer sie im Anschluss an die Eingangserzählung bittet, die Situation in ihrer Herkunftsfamilie noch etwas genauer zu schildern, antwortet sie:
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»Da hatten wir sehr viel Fertiggerichte also das waren dann auch so von so Ravioli sag ich mal bis über ähm (.) ja Tiefkühlfertigsachen (.) weil ich da halt auch noch in der Ausbildung war ähm und äh dann abends eben auch keine Lust mehr- also da hatte ich ne andere Arbeitszeit als hier keine Lust mehr hatte auch noch irgendwie was zu machen äh (.) da ähm hab ich für mich meistens Spaghetti gemacht eigentlich wirklich jeden Abend (.) äh und ja mein Bruder und mein Vater haben dann sich irgendwie so n (.) ja so n Mist dann da halt gemacht also (.) ja was ich grad auch schon sagte was jetzt ja auch noch gekauft wird aber was ich jetzt halt nich mehr esse ähm das war halt so ich hab so für uns eingekauft (.) aber gekocht hat fast jeder so für sich dann ähm nur da wie gesagt hatten wir halt mal n paar Äpfel oder so da aber da war mir das dann auch egal da war ich noch nich so ähm- (.) hab ich das halt noch nich so bewusst gemacht (.) und äh da hab ich auch immer eigentlich vom Arbeitsweg schnell mal angehalten ähm was eingekauft«
Der Beschreibung lässt sich entnehmen, dass Einkaufen, Essen und Ernährung damals für ihren Vater und ihren Bruder – aber auch für sie selbst – eher nebensächliche Tätigkeiten waren, die sich möglichst reibungslos in den Tagesablauf einfügen sollten und über die kaum nachgedacht wurde. An den mehr oder weniger deutlichen negativen Wertungen zeigt sich, dass sich Frau Meine aus ihrer heutigen Perspektive stark von der damaligen Gestaltung des Essens distanziert. Dies äußert sich erstens in der Erzählung, dass nur wenig Zeit und Mühe in die Besorgung und Zubereitung von Essen investiert worden sei (»sehr viele Fertiggerichte«, »schnell mal angehalten ähm was eingekauft«, »keine Lust mehr […] was zu machen«), wobei sie die durch ihre Ausbildung bedingten Zeitstrukturen als Rechtfertigung heranzieht. Zweitens wird deutlich, dass ihr ein abwechslungsreicher Speiseplan nicht wichtig war (»da hab ich für mich meistens Spaghetti gemacht eigentlich wirklich jeden Abend«). Allerdings hebt Frau Meine die von ihr selbst gekochten Spaghetti positiv von den Fertiggerichten ab (»so n Mist«), woran deutlich wird, dass sie bereits damals Fertiggerichte nur widerwillig akzeptierte.16 Zudem wurde das Kochen und Essen nicht als soziales Ritual gestaltet (»gekocht hat fast jeder für sich«). Frau Meine schildert an anderer Stelle, dass sie einige zaghafte Versuche unternommen habe, mit ihrem Vater und Bruder gemeinsam zu ko16 Frau Meine berichtet an anderer Stelle, dass der Vater nach dem frühen Tod der Mutter zunächst Tagesmütter beschäftigt habe, die für die Kinder kochten. Als Frau Meine 15 war und die letzte Tagesmutter aus gesundheitlichen Gründen aufhörte, kümmerte sich der Vater um das Essen und kaufte vor allem Fertigprodukte. Frau Meine beschwerte sich, konnte aber bei ihrem Vater nichts bewirken, bis sie selbst einen Führerschein hatte und von da an zum Supermarkt fahren konnte.
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chen, dies sei jedoch stets an den unterschiedlichen Tagesabläufen und dem mangelnden Willen aller Beteiligten gescheitert. Drittens schreibt sie sich selbst rückblickend eine gleichgültige Haltung gegenüber der ernährungsphysiologischen Gestaltung des Speiseplans zu. Dem Hinweis, dass es »halt mal n paar Äpfel« gegeben habe, lässt sich entnehmen, dass sie in den Äpfeln – die zudem nur ab und zu eingekauft wurden – letztlich das einzige Lebensmittel sieht, das für eine gesunde Ernährung steht, woraus auch hervorgeht, dass Frau Meine die damalige Ernährung insgesamt als schlecht und ungesund bewertet. Dem lässt sich einerseits entnehmen, dass sie ihrem früheren Selbst ein mangelndes Bewusstsein in Hinsicht auf gesunde Ernährung attestiert (»da war mir das dann auch egal«), woraus sich umgekehrt auch schließen lässt, dass sie sich dieses Bewusstsein heute zuschreibt. Deutlich wird zudem, dass sie den Schlüssel für eine bessere Gestaltung des Essens in einer stärker reflexiven Auseinandersetzung mit dem Thema sieht (»hab ich das halt noch nicht so bewusst gemacht«). Im späteren Verlauf des Interviews fragt der Interviewer Frau Meine nach einer Situation, in der ihr die Bewertung, dass Fertiggerichte »Mist« seien, zum ersten Mal bewusst geworden sei. Daraufhin berichtet Frau Meine: »Ja das war so vor ähm (.) ungefähr so drei oder vier Jahren (.) wo ich auch mit m Sport dann angefangen hab (.) ähm weil ich bis dahin immer noch gedacht hab ah ich hab gute Gene (.) äh ich (lacht kurz) hab da keine Probleme mit irgendwie ähm da ging’s erst mal nur darum ähm (.) dass da ja auch viele Sachen drin sind äh die halt nich unbedingt förderlich dann sind für n-ne Gewichtsreduktion also ich war jetzt nich irgendwie dick oder so«
Den ersten Impuls, Fertiggerichte durch selbst gekochte Gerichte zu ersetzen, diskutiert Frau Meine in Zusammenhang mit dem Ziel, etwas abzunehmen, und der Aufnahme sportlicher Aktivitäten. Die Ernährung mittels Fertiggerichten stellt sie als kontraproduktiv für das damalige Ziel der Gewichtsabnahme dar. Dem lässt sich entnehmen, dass sie Fertiggerichte mit einer ungünstigen Nährstoffzusammensetzung in Verbindung bringt. Interessant ist Frau Meines Erörterung, dass sie damals »nicht irgendwie dick oder so« gewesen sei. Daraus lässt sich folgern, dass ihr das eigene Körperbild wichtig ist und die Umstellung der Ernährung in einem Zusammenhang damit steht. Dies bestätigt sich im weiteren Verlauf des Interviews: An anderer Stelle diskutiert sie den damaligen Wunsch nach Gewichtsabnahme in Zusammenhang mit der Unzufriedenheit über das »eigene Spiegelbild«. Und auch in Bezug auf andere Personen – ihre Kollegin, mit der sie gemeinsame Diäten gemacht habe, und ihr Freund, der sich viel von Fastfood ernähre – betont sie ausdrücklich, dass diese nicht dick seien. Insge-
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samt ist daher der Schluss plausibel, dass es Frau Meine darum geht, einem von ihr wahrgenommenen gesellschaftlichen Ideal eines schlanken und fitten weiblichen Körpers zu entsprechen. Aufgabe einer »gesunden Ernährung« ist demnach nicht, Krankheiten vorzubeugen, sondern den eigenen Körper attraktiv zu halten. Ungefähr zwei Jahre später brachte sie Fertiggerichte zusätzlich mit einem hohen Gehalt an und einer Vielzahl von Konservierungsstoffen in Verbindung: »und ich sach mal so vor (.) einem Jahr so oder ein bis zwei Jahren da kam das halt so dass ich halt auch gedacht hab dass das ja auch wirklich ähm generell jetzt nich unbedingt so gesund sein kann dass man halt äh jeden Tach (.) irgendwelche Fertiggerichte isst weil man weiß ja mittlerweile ähm dass da viele Konservierungsstoffe drin sind die jetzt nich gut sind eben für den Körper an sich ähm weshalb wir halt auch eigentlich nie so Limonade oder so haben weil das purer Zucker is also ich achte halt darauf dass nich viel Zucker drin is nich viel Fett (.) ähm und ähm das war halt- also dass ich das ganz bewusst gedacht hab weil’s gesünder is das war so vor ein bis zwei Jahren«
Frau Meine diskutiert Konservierungsstoffe in Verbindung mit dem Thema Gesundheit: Sie deutet Lebensmittel als ungesund, die viele dieser Stoffe enthalten (»dass da viele Konservierungsstoffe drin sind die jetzt nicht gut eben sind für den Körper an sich«), wobei offenbleibt, welche potentiell schädlichen Wirkungen sie Zusatzstoffen zuschreibt. Auch das Thema der Nährstoffzusammensetzung von Lebensmitteln wird nun nicht mehr lediglich in Zusammenhang mit Körpergewicht und dem Wunsch abzunehmen betrachtet, sondern in den weiteren Kontext der allgemeinen Gesundheit gerückt (»weshalb wir eigentlich auch nie so Limonade oder so haben weil das purer Zucker is«). 17 Im weiteren Verlauf des Interviews spielt diese Orientierung an der Frage der richtigen Nährstoffaufnahme eine große Rolle. Sie berichtet davon, dass sie mit ihrer Kollegin gemeinsam angefangen hat, sich mit dem Thema zu befassen: »Das war so vor vor zwei drei Jahren mit meiner Kollegin da bin ich zusammen und ähm da fing das halt an dass man so n bisschen auch gekuckt hat ja was was is eigentlich was wie viel sollte man von wie viel am Tag zu sich nehmen als Frau als Mann und äh das ähm (.) ja, wie gesagt gewusst hatte man das halt schon ich mein hatte man ja auch früher in der Schule gehabt äh so Zusammensetzung von irgendwelchen (.) Lebensmitteln (.) 17 Interessant, dass sie hier von »wir« spricht, da sie an anderer Stelle im Interview berichtet, dass ihr Freund für sich selbst einkaufe und sich gänzlich anders ernähre als sie selbst. Die Pluralform könnte hier darauf hindeuten, dass die Partner bei Getränken im Konsens denken oder dass Frau Meine hier ihren Standpunkt durchgesetzt hat und sich das Paar darauf geeinigt hat, keine Limonade zu kaufen.
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aber da war einem das halt egal so wie einem vieles (spricht lachend) andere damals dann (spricht wieder normal) auch egal war und ähm ja das wurde halt eigentlich erst so richtig seitdem ich halt auch wirklich alleine- also alleine jetzt in Anführungszeichen lebe dass man sich einfach auch bewusst macht was man halt auch wirklich isst«
Deutlich wird in dieser Passage eine Orientierung an ernährungsphysiologischem Wissen (»was wie viel sollte man von wie viel am Tag zu sich nehmen als Frau als Mann«). Der Formulierung lässt sich dabei entnehmen, dass Frau Meine davon ausgeht, dass es objektives Wissen gibt, das als Leitlinie für eine rationale Ernährung dienen kann, die dem Körper genau das zuführt, was er für eine gute Funktionsweise braucht. Zwar thematisiert sie die Frage, welchen Informationen man Glauben schenken kann (»wobei man natürlich auch immer selektieren muss was so im Internet steht«), doch sie präsentiert sich als kompetente Mediennutzerin, die verlässliche und fragwürdige Informationen unterscheiden kann. Abschließend wird in der Ausführung eine Alltagstheorie deutlich, der zufolge ein abstraktes und grundlegendes Wissen um richtige Ernährung allein nicht ausreicht, um sich in der Alltagspraxis tatsächlich ›richtig‹ zu verhalten. Stattdessen bedarf es einer alltäglichen Arbeit des »Bewusstmachens«, in der die eigene Ernährungspraxis immer wieder mit dem objektiven Wissen abgeglichen wird. So schreibt sie den Wandel ihrer Beurteilung von Zusatzstoffen nicht mangelndem Wissen, sondern ihrer früheren Unbekümmertheit zu (»mir war es halt egal«). Den praktischen Wandel hin zu einer bewussteren Ernährung beschreibt sie im weiteren Verlauf des Interviews als einen Prozess, im Laufe dessen sie mit ihrer Kollegin verschiedene Arten und Weisen der Ernährung ausprobiert habe, von Nahrungsersatzmitteln über eine reine Obstdiät bis hin zu Trennkost. Dabei wird erkennbar, dass die beiden Frauen auf der Suche nach einem gesunden Ernährungsstil waren, der zudem im Alltag gut praktizierbar ist und den geschmacklichen Vorlieben nicht zu stark zuwiderläuft. Als vorläufigen Endpunkt dieser Suche präsentiert sie ihre momentane Praxis, morgens zu frühstücken, mittags eine kohlenhydratreiche Mahlzeit zu essen und abends auf Kohlenhydrate zu verzichten und hauptsächlich Salat und Gemüsesuppe zu essen. Ihren heutigen Speiseplan beschreibt Frau Meine dabei als relativ standardisiert. Sie präsentiert sich als wenig experimentierfreudige Einkäuferin und Köchin, so weist sie etwa darauf hin, dass sie immer wieder ähnliche Gerichte koche (»daraus mache ich dann immer ne Suppe«, »diese Standardsachen«), die sie hinsichtlich einzelner Zutaten wie bestimmter Salat- oder Gemüsesorten variiere. Daraus lässt sich folgern, dass Frau Meine – im Gegensatz zu Frau HenningLöw – nicht auf der Suche nach neuen kulinarischen Genusserlebnissen ist (»ich hab jetzt nichts dann dass ich mal exotisch irgendwie was einkaufe«). Zudem
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wird deutlich, dass sich Essen möglichst einfach in den Tagesablauf einbauen lassen soll (»Sachen die man eben schnell auch nehmen kann abwaschen und reinbeißen kann«; »weil ich dann halt […] schnellere Sachen koche«). Insgesamt zeigt sich somit, dass Frau Meine seit dem Auszug aus dem Haushalt des Vaters ihre Praxis umorientiert hat, indem sie stark vorverarbeitete Produkte mehr und mehr durch frische Produkte ersetzt hat, die sie selbst zubereitet. In anderen Punkten zeigt sich jedoch ein Fortbestand der Orientierungen, die sie bereits für die Zeit beschreibt, als sie noch mit Vater und Bruder zusammenlebte: So soll Kochen vor allem schnell gehen und wenig Mühe bereiten, und der Speiseplan variiert nur in relativ engen Grenzen. Betrachtet man das Interview im Ganzen, so wird zudem deutlich, dass Frau Meine eine ungesunde bzw. unbedachte Ernährung vor allem den Männern in ihrem unmittelbaren sozialen Umfeld zuschreibt: Mit ihrer Kollegin tauscht sie sich über Strategien einer bewussten Ernährung aus und probiert mit ihr verschiedene Ernährungspraktiken aus, wobei die Ernährung auch in Verbindung mit einer Sorge um den eigenen Körper verbunden ist. Dagegen würden sich die Männer, über die sie im Interview berichtet – ihr Bruder, ihr Vater und ihr Freund – unbewusst und ungesund ernähren, bei ihnen spiele Fastfood eine große Rolle. Entsprechend dieser Präferenzen ist auch das gemeinsame oder alleinige Essen im Alltag organisiert: Während sie mit ihrer Kollegin gemeinsam frühstückt, kochen sie und ihr Freund meist getrennt, ebenso wie sie früher getrennt von Vater und Bruder gekocht hat. Diese Unterschiede werden von ihr selbst jedoch nicht als geschlechtsspezifisch dargestellt, sondern als freie individuelle Entscheidung: Frau Meine berichtet, dass sie keine längeren oder gar bevormundenden Gespräche mit ihrem Freund über seine Präferenz für Fastfood führe, und begründet dies damit, dass er alt genug sei, »dass er’s dann selbst entscheiden kann«. Den meist sehr knappen Austausch über Ernährung mit ihrem Freund stellt sie als Spielchen zwischen den Geschlechtern dar. So stichele ihr Freund gegen sie, dass sie ein »Öko« sei, weil sie viel Gemüse esse, während Frau Meine kontert, dass dies besser sei als sein »Fertigfraß«. Allerdings betont sie gegenüber dem Interviewer, dass ihr Freund nicht so aussehe, als ob er viel Fastfood esse. Als offene Frage lässt sich festhalten, dass sich hier unterschiedliche normative Erwartungen an die Geschlechter dokumentieren, wonach Frauen Sorge für einen schlanken, attraktiven und gesunden Körper tragen sollen, während die Männer ihren inneren Neigungen zu gehaltvollerem Essen freien Lauf lassen dürfen. Geschlechtsspezifische Konnotierungen sowie Normen, die besagen, dass bestimmte Lebensmittel besser für Frauen oder Männer geeignet seien, sind in der essenssoziologischen Literatur seit langem dokumentiert. Kräftiges Essen, rotes Fleisch und große Portionen gelten etwa als männlich, kleine Porti-
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onen, Süßigkeiten, Gemüse und Salat gelten als weiblich (Bourdieu 1987: 300ff.; Lupton 1996: 104ff.). Auch Bezüge zu Essnormen und Körperbildern sind aufgezeigt worden: Fleisch wird mit Maskulinität und Körperkraft in Verbindung gebracht (Beardsworth/Keil 1997: 212), das Essen von Fleisch ist eng verknüpft mit Normen der Männlichkeit (Julier/Lindenfield 2005; Nath 2011). Von Frauen wird dagegen erwartet, persönliche Kontrolle über ihren Körperumfang zu haben und ihren Körper entsprechend gesellschaftlichen Erwartungen zu formen (Madden/Chamberlain 2010: 305), wozu Praktiken des Diäthaltens ein wichtiges Instrument sind. Neben den Ausführungen um bewusste und gesunde Ernährung, die das Interview mit Frau Meine über weite Strecken dominieren, diskutiert sie in geringerem Ausmaß auch Implikationen von Konsumentscheidungen im gesellschaftlichen Kontext. Im Erzählteil des Interviews thematisiert sie von sich aus ihre Überlegungen zum Bezug von Fleisch aus guter Tierhaltung. Deutlich wird, dass sie das Töten von Tieren nicht ablehnt und es praktisch nur für schwer umsetzbar hält, gänzlich ohne tierische Produkte auszukommen. Allerdings bekundet sie ihre Absicht, demnächst einen Metzger suchen zu wollen, um dort Fleisch zu beziehen, dessen Herkunft nachvollziehbar ist. Zudem möchte sie gerne kleine Betriebe unterstützen. Den Wunsch, kleine Betriebe zu unterstützen, greift Frau Meine im Nachfrageteil des Interviews noch einmal allgemeiner auf. Auf die Frage des Interviewers, ob sie sich Gedanken darum mache, ob sie indirekt mit ihrem Konsum Dinge unterstütze, die sie nicht befürwortet, antwortet Frau Meine: »Ja gut ähm Cola oder so sag ich mal diese ganz großen Konzerne (.) ähm (.) kaufen wir eh nich so häufig (.) und ähm aber da würde ich mir halt auch Gedanken machen dass ich einfach so n großen Konzern der- wo halt die die oberen das ganze Geld scheffeln und äh auch schon überlegen jo äh (.) das muss ja nich unbedingt sein«
Deutlich wird hier, dass Frau Meine Konzerne mit einer ungerechten Verteilung von erwirtschafteten Gewinnen in Verbindung bringt (»wo halt die die oberen das ganze Geld scheffeln«), wobei offen bleibt, wer mit den »Oberen« genau gemeint ist, möglicherweise werden hier das Topmanagement oder die Großaktionäre der Konzerne angesprochen. Als der Interviewer nachfragt, was das Problem mit Coca-Cola oder anderen großen Konzernen sei, führt Frau Meine aus: »Weil die halt natürlich auch das ganze Geld für für das ganze- für die für die Werbung Marketing und so natürlich haben das natürlich auch schön ausspielen und äh (.) viele das
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natürlich dann auch kaufen vielleicht schmeckt es auch besser (.) das andere schmeckt halt dann anders aber schmeckt mit Sicherheit auch und dass halt eben die Kleinen dadurch jetzt nich nur bei Cola ja auch bei den ganzen- wenn man mal kuckt was da überall hinter steht Nestlé zum Beispiel die haben ja (.) ganz viel also das is ja- die haben ja auch glaub ich in der Kosmetik haben die ja auch Sachen (.) wenn man mal hinten so drauf kuckt und es geht dann einfach nur darum dass man halt denkt dass die halt so die kleinen Betriebe da son bisschen ähm (.)die stehen halt da im Schatten und ähm (.) ja im schlimmsten Fall können die neben denen halt eben gar nich wirklich existieren (.)und das is halt so der Gedanke bei diesen- äh und weil die halt immer mehr Geld scheffeln und die anderen halt eben dann in die Röhre kucken (.) das is halt so das wo ich halt dann auch schon denken würde dann äh (.) lieber (.) irgendwo von von ner anderen Marke mal«
In der Argumentation skizziert sie die Marktkonkurrenz zwischen kleinen Betrieben und großen Weltkonzernen als eine David-und-Goliath-Situation. Auf der einen Seite stehen die großen Konzerne, die stark diversifizierte Produktpaletten anbieten können (»Cola an sich macht ja auch noch viele andere Sachen«) und über riesige Werbebudgets und dadurch einen großen Wettbewerbsvorteil gegenüber kleineren Betrieben verfügen, die ähnliche Produkte herstellen. Dem Hinweis, dass Cola von kleineren Anbietern auch schmeckt, lässt sich die Vorstellung entnehmen, dass Erfolg auf einem geschmacklich guten Produkt basieren sollte. Der große Markterfolg der Großkonzerne erscheint somit illegitim (»weil die halt immer mehr Geld scheffeln«), da er in keinem rechten Verhältnis zu den Leistungen der Herstellung eines guten Produkts steht, sondern allein auf ungleicher Kapitalverteilung beruht. Abschließend wird deutlich, dass Frau Meine es für wünschenswert hält, als Konsumentin kleinere Firmen zu unterstützen (»lieber irgendwo von ner anderen Marke mal«), wobei sich in der Formulierung (»wo ich halt dann auch schon denken würde«) offenbart, dass es hier eher um eine hypothetische Entscheidung geht denn um eine Situation, die Frau Meine bereits des Öfteren bewusst erlebt hat. In dem Verweis auf »die Oberen« wird zudem die Vorstellung deutlich, dass soziale Ungleichheit nicht zu groß werden sollte. Im Fallvergleich mit Frau Kamps zeigt sich, dass Frau Meine kleine Betriebe nicht unbedingt bevorzugt, weil sie eine höhere Transparenz bezüglich des Herstellungsprozesses bieten, sondern aus Gründen der Marktgerechtigkeit und um eine Vielfalt von Anbietern zu bewahren. Im weiteren Verlauf wird zudem deutlich, dass Frau Meine eine Solidarität mit kleinen Betrieben empfindet. Sie arbeitet selbst in einer kleinen Praxis, die einige Produkte anbietet, die durch Internetanbieter zunehmende Konkurrenz erfahren. Als offene Frage kann hier festgehalten werden, dass sie diese Erfahrung für die Überlebenssorgen kleinerer Betriebe sensibilisiert hat. In Bezug auf eigene Entscheidungen, Produkte von
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kleinen Firmen zu kaufen, berichtet Frau Meine, dass sie Eier von einem Hof nach Hause geliefert bekomme und Apfelsaft von einer kleinen Firma beziehe, die Saft auf Basis selbst gelieferter Äpfel presst. Diese Bemühungen scheinen jedoch eher punktuell zu sein, so berichtet sie etwa, hauptsächlich in einem großen Discounter einzukaufen. Jedoch argumentiert Frau Meine – im Gegensatz etwa zu Frau Kurz – an keiner Stelle defensiv oder entschuldigend in Bezug auf die mangelnde Konsequenz ihres Einkaufsverhaltens. Daraus lässt sich folgern, dass Frau Meine kein schlechtes Gewissen verspürt. Dies kann als Hinweis darauf gelesen werden, dass die Überzeugung, Produkte von kleinen Betrieben zu kaufen, nicht habituell verankert ist, sondern eher aufgrund aktueller Erfahrungen erhöhte Aufmerksamkeit erfährt. Vergleichendes Fazit Frau Meine Bei Frau Meine wird damit insgesamt eine Konzeption des ›guten‹ Lebensmittelkonsums deutlich, der zufolge es gilt, sich bewusst und gesund zu ernähren. Gesunde Ernährung wird dabei weniger in einen direkten Zusammenhang mit der Vermeidung von Krankheit gebracht – dies überrascht kaum bei einer jungen Frau wie Frau Meine –, sondern mit einem fitten, attraktiven und schlanken Körper. Deborah Lupton weist darauf hin, dass sich in den gegenwärtigen westlichen Gesellschaften eine säkularisierte Variante asketischer religiöser Praktiken findet, mittels derer Gläubige seelisches Heil erlangen wollten. Heutige Ernährungspraktiken sind Projekte der Körperoptimierung, deren weltliche Heilsversprechen Langlebigkeit, Jugendlichkeit und Attraktivität sind (Lupton 1996: 137). Wie die von Frau Meine beschriebene Suche nach einer ›guten‹ und praktibalen Form einer schlankheitsfördernden Ernährung zeigt, in der sie und ihre Kollegin die zu entbehrungsreichen Formen der Diät verwerfen, geht es dabei nicht ausschließlich um Fasten oder Verzicht. Dies macht Sinn, wird doch eine zu starke Enthaltsamkeit mit Magersucht und Krankheit in Verbindung gebracht. In jedem Fall geht es aber um Selbstdisziplin und methodische Kontrolle des Essverhaltens. Dies kann durchaus als moralischer Anspruch verstanden werden, gilt doch die äußere Erscheinung des Körpers als Hinweis auf die innere Wertigkeit und persönlichen Charakter (ebd.). Die Psychologen Hélène Joffe und Christian Staerklé argumentieren: »[…] social representations concerning body control propagate images of in-control bodies associated with moral rectitude and civility and out-of-control bodies linked to their converse« (2007: 404). Der schlanke und gesunde Körper wird somit als Ausweis moralischer Tugenden wie Selbstkontrolle, Durchhaltevermögen und Willenskraft verstanden (ebd.: 405). Die mehrfache Betonung Frau Meines, dass weder sie noch ihr Freund noch ihre
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Kollegin dick seien, ist in diesem Kontext als Bemühen zu lesen, auf keinen Fall mit der moralischen Verfehlung mangelnder Disziplin in Verbindung gebracht zu werden. Gesunde Ernährung ist dabei eine Praktik neben anderen (z.B. Sport), die einen schlanken und fitten Körper zum Ziel haben. Bei Frau Meine zeigt sich, dass eine bewusste oder gesunde Ernährung an der ernährungsphysiologisch ›richtigen‹ Nährstoffzusammensetzung festgemacht wird, wobei Fachwissen als Leitlinie dienen kann. Diese Orientierung wurde explizit sowohl bei Frau Meine als auch bei Frau Kamps besonders deutlich. Darüber hinaus wird Gesundheit in Verbindung gebracht mit frischen, gar nicht oder wenig industriell vorverarbeiteten Produkten, in denen wenig Zusatzstoffe enthalten sind, die möglicherweise schädlich für den Körper sind. Diese Orientierung teilt Frau Meine zwar mit Frau Kamps und – wie noch zu zeigen ist – Frau Müller (vgl. Kap. 5.1.7), im Fallvergleich wird allerdings deutlich, dass Frau Meine – etwa in Bezug auf Obst und Gemüse – die Dichotomie gesund/ungesund entlang der Trennlinie Selbstkochen/Fertiggerichte thematisiert, während sich Frau Kamps und Frau Müller stärker an der Trennlinie biologisch versus konventionell angebaute Produkte orientieren. Im Fallvergleich mit Frau Henning-Löw wird deutlich, dass Genuss und Ästhetik bei Frau Meine nur eine untergeordnete Rolle spielen. Essen soll zwar schmecken, der Aufwand für Besorgung und Zubereitung soll sich aber möglichst in Grenzen halten, um mit anderen Alltagserfordernissen möglichst gut vereinbar zu sein. Schließlich zeigte sich auch, dass Frau Meine in einem sozialen Umfeld lebt, in dem Essverhalten und Ernährung offenbar relativ deutlich an geschlechtsspezifische Erwartungen gebunden sind, wie sie in der Literatur dokumentiert worden sind (Lupton 1996: 104ff.). Dies zeigt sich sowohl in der Erzählung über die Ernährung des Vaters und des Bruders als auch in den Sticheleien zwischen Frau Meine und ihrem Freund. Deutlich wird hier, dass die sorgsame Pflege des eigenen Körpers durch bewusste Ernährung insbesondere eine an Frauen gerichtete Erwartung ist. Darüber hinaus diskutiert Frau Meine ihren Lebensmittelkonsum auch im gesellschaftlichen Kontext: Als Ideale zeigen sich hier der Konsum von Fleisch aus guter Tierhaltung und die Unterstützung kleiner Betriebe. In Bezug auf beide Ziele wird deutlich, dass Frau Meine durch Erfahrungen sensibilisiert wurde, die sie im Zuge ihrer Ausbildung und ihrer beruflichen Praxis gemacht hat. Der Umfang und die Positionierung im Interview sind allerdings ein Hinweis darauf, dass die Orientierung an Verantwortung für andere im Vergleich zum Thema Gesundheit eine geringere Bedeutung für Frau Meines Identität und Alltagspraxis hat.
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5.1.7 »Meine Mentalität is ne Sparmentalität und von daher habe ich auch wenn ich’s jetzt nich unbedingt gemusst hätte doch sparsam gelebt« – Frau Müller Bei Frau Meine konnte aufgezeigt werden, dass bewusste Ernährung in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Körpernormen gebracht wird. Am Fall von Frau Müller lässt sich diese Beobachtung fortspinnen. Jedoch zeigen sich bei ihr das gesellschaftliche Ideal eines schlanken Körpers und die damit in Verbindung gebrachte Praktik einer ›gesunden‹ Ernährung aus einer ganz anderen Perspektive. Frau Müller entspricht selbst nicht dem Ideal und artikuliert deutliche Widerstände gegen dieses Ideal. Ganz zentral ist jedoch zunächst ein anderes Thema: Der Umgang mit Geld wird bei Frau Müller als konsummoralisch relevantes Thema sichtbar, geht es doch um Sparsamkeit als Tugend an sich. Frau Müller lernte ich über eine Bekannte kennen, die Frau Müller durch ihre politischen Aktivitäten kennt. Sie ist eine Frau Ende vierzig und lebt als Hausfrau in einem Eigenheim mit ihrem erwachsenen Sohn zusammen. Ihr Mann ist vor einigen Jahren verstorben, ihre Witwenrente ist ihre Haupteinkommensquelle. Sie hat monatlich nur sehr wenig Geld zur Verfügung, da sie große Teile ihres Einkommens für monatliche Abzahlungen des Hauses aufwenden muss. Frau Müller ist eine übergewichtige Frau, die während des Interviews schwer- und kurzatmig spricht und sehr ausführlich erzählt. Im Interview mit Frau Müller spielt das Thema des Sparens und der Sparsamkeit eine große Rolle. Dies kommt bereits ganz zu Beginn zum Ausdruck, als der Interviewer Frau Müller dazu auffordert, über ihre persönlichen Erfahrungen als Käuferin und Konsumentin von Lebensmitteln zu erzählen: »Jo (.) äh (.) na gut als ich von zuhause ausgezogen bin na das als ich geheiratet hab da bin ich auch gleich wieder in Haushalt rein gezogen also war ich zuerst mal überhaupt nich selbständig (2) dat ging eigentlich erst (.) als et Schwiegermutter nich mehr so richtig gut ging dat se mir dann halt äh den Haushalt (.) mehr oder minder übertragen hat (.) jou ((seufzt)) also ich sag mal so meine Schwiegermudder war jetzt eher schon verschwenderisch lebender Mensch die hat (.) also mit dem Geld jetzt nich sehr gut gehaushaltet als ich das dann übernommen hab ham wer locker mal die Hälfte nur noch gebraucht (2) ich sag mal so ich bin von zuhause ich bin in nem Elternhaus groß geworden mir ham nie viel Geld gehabt (.) mein Vatter war Arbeiter der- die Arbeiter ham früher net so viel verdient (.) jo (seufzt) un äh von daher (.) hab ich quasi von der Pieke auf dat Sparen gelernt (2) und halt eben auch die Tatsache dass (.) gut nicht gleich teuer bedeuten muss und teuer nich gleich gut is ich denk mal das is n wichtiger Aspekt den man als äh Mensch (.) lernen muss um dann halt auch gegebenenfalls mit wenig Geld zurechtzukommen«
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Frau Müller schildert hier zunächst die Situation nach dem Auszug aus dem Elternhaus und der gemeinsamen Gründung eines Haushalts mit ihrem Mann und der Schwiegermutter. In der Bezeichnung der Schwiegermutter als eines »verschwenderisch lebende[n] Mensch[en]« drückt sich zunächst eine Dichotomie zwischen dem Notwendigen und dem Überflüssigen aus. Der Darstellung Frau Müllers, dass sie die monatlichen Ausgaben des Haushalts um die Hälfte habe reduzieren können, lässt sich entnehmen, dass sie viele Ausgaben der Schwiegermutter als unnötig bewertet. Dem Verweis auf das Erlernen des Sparens lässt sich entnehmen, dass Sparsamkeit für Frau Müller eine positiv bewertete Kompetenz darstellt (»n wichtiger Aspekt den man als äh Mensch lernen muss«). Dass zwischen ›gut‹ und ›teuer‹ kein zwingender Zusammenhang bestehe, beschreibt sie als »Tatsache«. Daran dokumentiert sich zunächst, dass sich Frau Müller ein eigenes, sicheres Urteil darüber zutraut, was ›gut‹ ist und was nicht. Eben diese Urteilsfähigkeit mache letztlich Sparkompetenz aus, da sie es ermögliche, Qualität auch unabhängig vom Preis zu erkennen. Im Umkehrschluss wird noch einmal deutlich, dass eine ausschließliche Orientierung am Preis von Produkten unter der Annahme, dass ein höherer Preis auch gute Qualität signalisiert, als irrational erscheint. Darüber hinaus schreibt Frau Müller der Neigung zur Sparsamkeit eine Vergrößerung von Handlungsspielräumen zu (»um dann halt auch gegebenenfalls mit wenig Geld zurechtzukommen«). Zunächst ermögliche es ihr, in Zeiten finanzieller Knappheit den Alltag praktisch zu bewältigen. An anderen Stellen im Interview diskutiert Frau Müller Sparsamkeit zudem als finanzielle Vorsorge für schlechte Zeiten sowie als psychischen Vorteil beim Umgang mit einem geringen finanziellen Spielraum (»deswegen fällt’s mir jetzt auch net so schwer so von diesem minimalen Geld zu leben«). Direkt im Anschluss fährt Frau Müller fort: »Ja gut wie gesacht ich (.) hab das- (.) ich hab dann des Haushaltsbudget gleich mal um de Hälfte verringert als ich dann für de Ein- für den Einkauf zuständig war weil ich dann eben (.) nicht nur Markenprodukte gekauft hab das is- das war schon gravierend muss ich sagen was da äh (.) für Einsparpotential war wenn man jetzt (.) statt (.) der teuren Markenprodukte eben zum Beispiel die Handelsmarke von von dem- von dem Laden wo man einkauft (.) kauft (.) dann und- wenn- wie man ja weiß steckt da auch eigen- eigentlich immer n Markenprodukt dahinter also is ja keine- is ja keine äh Schundware in dem Sinne steckt also immer n Markenprodukt hinter (.) ja (.) (atmet schwer) und dann war- war’s halt eben auch so (.) ich bin halt in n Haushalt rein gekommen wo ich nich so sparen musste hab aber (.) sag mal meine Mentalität is ne Sparmentalität und ich habe- von daher habe ich eigentlich schon auch wenn ich’s jetzt nich unbedingt gemusst hätte doch sparsam gelebt«
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In der Beschreibung des Einsparpotentials durch den Kauf von Handelsmarken dokumentiert sich eine Orientierung am Gebrauchswert von Produkten. Es wird deutlich, dass der Kauf von Markenprodukten Verschwendung ist, da hier nur für den Markennamen bezahlt wird, da der Gebrauchswert als gleich verstanden wird (»wie man ja weiß steckt da immer n Markenprodukt hinter«).18 Frau Müller präsentiert ihre Bewertung als sicheres Wissen, worin sich dokumentiert, dass sie den Konsumgütermarkt – zumindest in Hinblick auf gewisse Aspekte – nicht als intransparent und undurchschaubar erfährt. In der weiteren Elaboration schreibt sich Frau Müller eine generelle Disposition zum Sparen zu (»meine Mentalität is ne Sparmentalität«) und verweist darauf, dass sie auch in Zeiten gespart habe, als es nicht notwendig gewesen sei. Diese Aussage passt zu dem zuvor entworfenen Bild, nach dem Sparen Sicherheiten und damit auch Handlungsspielräume schafft. Auch im weiteren Verlauf des Interviews behandelt Frau Müller ausführlich das Thema des Sparens und Wirtschaftens mit wenig Geld. Ihre gesamte Eingangserzählung dreht sich im Kern darum, wie sie in verschiedenen Lebensphasen gewirtschaftet hat. Dabei wird deutlich, dass sie seit der Krankheit der Schwiegermutter als Hausfrau für die Verwaltung des gesamten Einkommens des Haushalts, das aus verschiedenen Quellen stammte, zuständig war. Selbst hat sie nie in einem erlernten Beruf gearbeitet, aber zeitweise Jobs als Putzfrau ausgeübt. Die überragende Bedeutung des Sparens dokumentiert sich dabei nicht nur in argumentativen Passagen, sondern kommt auch in Erzählungen zum Ausdruck: »Aber in der Zeit wo mein Mann halt arbeiten gegangen bin hab ich hab ich dann meine Sparsamkeit wirklich sehr gutes Polster angespart wir hatten (.) in in den zwölf Jahren die ich mit- die ich verheiratet war mit ihm bis dato hatte ich (.) in D-Mark 233.000 D-Mark gespart (lacht kurz) Tja da bin ich auch ganz stolz drauf«
Diese persönliche Geschichte von Frau Müller verdeutlicht noch einmal die immense Bedeutung des Sparens. Sie verdeutlicht, dass die eher theoretischreflektierenden Passagen mit der Erzählung der erlebten Erfahrung in Einklang stehen. In der abschließenden positiven Bewertung (»da bin ich auch ganz stolz drauf«) wird Sparsamkeit als persönliche Leistung dargestellt. In den Ausführungen von Frau Müller wird Sparsamkeit somit als moralische Tugend sichtbar. Während in der Eingangserzählung Sparen – durch den Verweis auf die zukunftssichernden Aspekte – zunächst als Tugend dargestellt wird, kommen im 18 Dieses Argument taucht bei mehreren Befragten auf. Es wird somit deutlich, dass sowohl die Käufer von Marken- als auch die von No-Name-Produkten Argumente zur Verfügung haben, um sich als die »Klügeren« fühlen zu können.
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weiteren Verlauf des Interviews jedoch auch die negativen Seiten des Sparenmüssens zum Ausdruck, die in Bezug zu den begrenzten finanziellen Möglichkeiten in der Gegenwart angesprochen werden. So thematisiert Frau Müller Abwägungen zwischen ökonomischen Aspekten mit gesundheitlichen und ethischen Aspekten beim Kauf von Produkten. Dabei zeigt sich jedoch, dass sie sich in der Praxis meist zugunsten der ökonomischen Erwägungen entscheidet, was angesichts der starken Orientierung an Sparsamkeit plausibel erscheint. In einer längeren, teils beschreibenden, teils argumentativen Ausführung unterscheidet sie zwischen natürlichen Produkten und »Designerprodukten«, die sie als hochgezüchtet bezeichnet und als unnatürlich ablehnt. Dabei verweist sie auch auf ihr christliches Weltbild und lehnt Genmanipulation als Eingriff in die natürliche und göttliche Ordnung ab. Sie schildert ihre großen Bedenken, dass »unnatürliche« Produkte negative Auswirkungen auf die Gesundheit hätten (»wer sacht mir denn wie das auf mich reagiert«). Anschließend verweist sie jedoch darauf, dass sie sich natürliche Produkte aufgrund ihres hohen Preises oft nicht leisten könne. Der Interviewer bittet sie daraufhin, ein konkretes Beispiel zu nennen, als sie etwas gekauft habe, das ihrer Vorstellung natürlicher Produkte widersprochen habe. Daraufhin berichtet sie: »Wenn ich beispielsweise beim Obst und Gemüse wenn ich dann kucke da sind die Bioprodukte die sind dann doch schon ne Ecke teurer als wie des was so aus konventionellem Anbau kommt und (.) wenn ich dann überlege dann denk ich mer Mensch (.) hättst ja eigentlich gerne Bioprodukte denn Bio- die Bio- äh äh Kohlrabi oder die Biopaprika oder so genommen und dann hast- hab ich dann aber am Ende doch die andern jenommen weil ich jedacht hab na ja dat- (.) da haste halt- du kannst- musst sehen dass de mit dem Geld umkommst«
Deutlich wird hier zunächst, dass Frau Müller Bioprodukte mit Natürlichkeit assoziiert und Lebensmittel aus konventionellem Anbau als vergleichsweise weniger natürlich ansieht. Zudem wird eine Präferenz für Bioprodukte deutlich (»Mensch hättst ja eigentlich gerne Bioprodukte«). Sobald es um die konkrete Kaufentscheidung geht, wechselt Frau Müller vom beschreibenden Modus in eine rudimentäre Erzählung (»und dann hab ich am Ende aber«), woran sich zeigt, dass Frau Müller sich in der beschriebenen Situation entgegen der geschilderten Präferenz entschieden hat. Offen bleibt hier zunächst, ob Frau Müller BioProdukte wirklich bevorzugt und diese kaufen würde, wenn sie mehr Geld zur Verfügung hätte, oder ob es sich lediglich um eine rhethorische Figur handelt, mit der Frau Müller nochmals unterstreicht, wie wichtig ihr Sparsamkeit ist. Anschließend geht sie auf den Kauf von Fleisch ein, wobei neben gesundheitlichen
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Bedenken auch ein moralischer Gewissenskonflikt in Hinsicht auf die Tierhaltung sichtbar wird: »Ja und beim Fleisch gut (.) wenn ich jetzt nich unbedingt äh so rechnen müsste würde ich wahrscheinlich beim Metzger gehen aber so geh ich dann halt doch äh beim Su- im Supermarkt dann dat Fleisch kaufen wohl wissend dat ich das dass äh (.) da am am Ende da ne ne (.) ne riesengroße Halle is wo wo Tausende von Schweinen dann da Schwein an Schwein drin stehen u nun (.) ich sage mal ich würd- (.) ich möcht’s gern in meinem Kopp ausschalten weil’s m- ei- wenn ich zu viel da drüber nachdenke ich muss sagen das klingt vielleicht irre aber ich hab mich schon dabei erlebt dass ich wenn ich n Huhn gekauft- ich hab dann das Huhn so vor mir gehabt und hab plötzlich (.) hab plötzlich jedacht »willst du dieses Tier essen?« hab dann das Viech rum ges- laufen sehen und hab gedacht willst du das essen (lacht kurz) (.) is also so das äh- aber dann dann musst ich da ganz schnell sagen »hier halt komm hör uff vergess- hör auf denk ni nach du isst Hühner- du isst Hühnerfrikassee gern« so und damit (.) so damit ich äh damit ich damit ich damit das irgendwie wieder (.) wieder hingekriegt hab«
Frau Müller unterscheidet zwischen Fleisch vom Supermarkt – welches sie mit Massentierhaltung assoziiert – und Fleisch vom Metzger. Sie stellt den Kauf und Konsum von Fleisch aus Massentierhaltung als belastend für ihr Gewissen dar (»hab plötzlich gedacht willst du dieses Tier essen?«). In dieser Passage wird ein Konflikt zwischen geschmacklichen Vorlieben an Fleisch und dem schlechten Gewissen in Bezug auf die Tierhaltung deutlich. Darüber hinaus zeigt sich, dass sie einen Verzicht auf Fleisch aus Gewissensgründen als Lösung dieses inneren Konflikts ausschließt. Dem Bericht über die Selbstermutigung (»komm hör uff du isst Hühnerfrikassee gern«) lässt sich im Gegenteil entnehmen, dass Frau Müller den Verzehr von Fleisch vor sich selbst durch Geschmacksvorlieben rechtfertigt: Die innere Selbstvergewisserung der eigenen Geschmacksvorliebe wird als Hilfe beim Wiederherstellen des Normalzustandes präsentiert (»damit ich das wieder hingekriegt hab«), indem sie Fleisch isst. Schließlich rechtfertigt sie den Kauf von Fleisch im Supermarkt auch damit, dass sie ihrem Sohn, der als Altenpfleger arbeitet (»dat issn Knochenjob, der muss Kraft haben«), ein »vernünftijes Essen« bieten muss, zu dem auch Fleisch gehört. Damit begründet Frau Müller, dass es für sie keine Alternative sei, weniger, aber teureres Fleisch beim Metzger zu kaufen. Deutlich wird hier, dass Fleisch als unverzichtbarer Teil einer ordentlichen Mahlzeit gesehen wird. Dies entspricht dem Bild wichtiger essenssoziologischer Studien der 1980er und 1990er Jahre (Charles/Kerr 1988; DeVault 1994), die aufzeigen, dass ein selbst gekochtes Essen bestehend aus Fleisch, Gemüse und Sättigungsbeilage von vielen Frauen als wichtiger Teil des
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Familienlebens sowie als elementar für die adäquate Versorgung der Angehörigen begriffen wird (Charles/Kerr 1988: 115). In der sozialwissenschaftlichen Literatur ist zudem häufig betont worden, dass auch in modernen westlichen Gesellschaften Fleisch als männliches Essen gilt, das mit Kraft und Virilität assoziiert wird (Lupton 1996: 105; Beardsworth/Keil 1997: 212-213). In einer längeren Ausführung thematisiert Frau Müller anschließend ihre Vorstellungen von guter und schlechter Tierhaltung sowie die Frage, wo man Fleisch aus guter Tierhaltung beziehen kann. Deutlich wird dabei zunächst, dass die zuvor ausgesprochenen Gewissensbisse beim Konsum von Fleisch sowohl mit der Tierhaltung als auch mit dem Töten der Tiere zusammenhängen. Insgesamt orientieren sich die Ausführungen weiter an der Unterscheidung zwischen den Einkaufsorten Metzger und Supermarkt. Den Metzger bringt Frau Müller in Verbindung mit Regionalität (»Der dann die Viecher wahrscheinlich aus der Umgebung so holt«), der Möglichkeit, als Konsument die Herkunft des Fleisches nachvollziehen zu können, sowie der Vorstellung von glücklichen Tieren, die artgerecht auf der Weide gehalten werden (»wie ich die Tiere auf der Weide gesehen hab und das sind so Sachen wie ich’s dann […] eben in Verbindung mit nem regionalen Metzger bringe«). Deutlich wird weiterhin, dass sie Massentierhaltung aus drei Gründen ablehnt: • • •
Erstens ist sie unnatürlich (»wider der natürlichen Herangehensweise«). Zweitens werden die Tiere für die Profitgier der Unternehmer zweckinstrumentalisiert (»damit se [...] möglichst viel Geld bringen«). Drittens ist Fleisch aus Massentierhaltung für den Endverbraucher auch gesundheitlich bedrohlich, weil unklar ist, mit welchen Inhaltsstoffen das Fleisch belastet ist (»stoppt [stopft, JG] wer weiß mit was für Zeuch voll, stoppt Antibiotika rein«; »schemischem Kraftfutter«).
Erkennbar wird hier eine Orientierung an der Dichotomie natürlich/künstlich, die im Interview immer wieder auftaucht. »Natürlich« produzierte Produkte sind demnach in mehrerer Hinsicht ›gute‹ Produkte, da sie sowohl die göttliche Ordnung als auch Tiere und den Endverbraucher schützen. Das ›Böse‹ wird hingegen mit der kapitalistischen Marktwirtschaft assoziiert, in der profitgierige Firmen die heiligen natürlichen Prozesse nicht achten und »künstliche« Produkte hervorbringen. In Bezug auf Sparsamkeit wird schließlich sichtbar, dass Sparen für Frau Müller nicht bedeutet, per se das Billigste zu kaufen. Während Frau Müller den Kauf von Markenprodukten als Verschwendung thematisiert, stellt sie den Kauf von Produkten, die mit Natürlichkeit und Gesundheit assoziiert werden, durchaus als wünschenswert dar. Den Verzicht auf Produkte mit solchen
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Eigenschaften stellt sie demnach nicht als Tugend, sondern als Zwang des Sparenmüssens dar. Die Zusammenhänge zwischen Essen und Gesundheit behandelt Frau Müller – neben Gesundheitsrisiken durch genmanipulierte Lebensmittel oder chemische Zusatzstoffe – auch in Hinblick auf Spannungen zwischen Gesundheit und Genuss: »Und essen was für ne Bedeutung hat essen für mich ach Gott ach Gott (lacht kurz) (2) ich sach mal et- meiner Meinung nach wird dem Essen vor allem in der heutijen Zeit eigentlich viel zu viel zu große Bedeutung gegeben vor allen Dingen dem was man dem was (.) ich für mich is in erster Linie wichtig dass ich- dass es satt- dass ich satt werde und dass es mir schmeckt (2) et geht mir nich so- es geht nich so sehr darum wenn ich jetzt esse wievdass ich da sitze und Kalorien zähle dann hätt- dann hab ich kein Appetit mehr wenn ich anfangen soll Kalorien zu zählen oder (.) wat weiß ich dat Leute dann daher kommen und sagen hier äh (.) du musst du musst dann äh Kohlehydrate essen oder du musst dann Eiweiße essen und das aber nich zusammen tun da sag ich (.) da sag ich Leute wat wat- dat iss ja allet- dat- ihr macht zum Essen ausm Essen ne Wissenschaft Essen is is Nahrungsaufnahme Essen dient dafür dass man leben dass man leben kann dat man nich stirbt ohne Essen stirbste«
Frau Müller misst Essen einerseits Sinn zu, weil es Lebensfunktionen aufrechterhalte (»ohne Essen stirbste«), andererseits als Quell von Genuss (»wichtig dass ich satt werde und dass es mir schmeckt«). Eine darüber hinausgehende Funktion des Essens als Selbstdisziplinierung (»dass ich da sitze und Kalorien zähle«) lehnt Frau Müller hingegen ab. Es wird deutlich, dass sie Kontrolle der Kalorienaufnahme oder Techniken der Trennkost als genussfeindlich einstuft (»dann hab ich keinen Appetit mehr«). Daraus lässt sich folgern, dass Frau Müller jegliche Rationalisierung der Praxis des Essens ablehnt (»ihr macht ausm Essen ne Wissenschaft«). Essen ist für Frau Müller etwas, über das man sich möglichst keine Gedanken machen sollte: ›Gut‹ sei vielmehr, einfach den verinnerlichten Geschmack ausleben zu können. Erkennbar wird hier eine deutliche Homologie zu Frau Müllers Ausführungen über Fleisch, wo ebenfalls das Auslebenkönnen des verinnerlichten Geschmacks im Vordergrund steht. Weiter fährt Frau Müller fort: »un un ähm sag ich okay sag ich ich ich bin ich bin kein Model ich bin nun mal n bisschen breiter als wie der Otto Normalmensch aber damit muss ich leben und ihr habt gefäll- dat gefälligst zu akzeptieren und wenn ich damit leben kann bitteschön dann habt ihr dat gefälligst zu akzeptieren ich meine ich hab- okay dat hab ich in der Vergangenheit auch ei-
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niges hinter mir ich hab ich hab auch drauf gehört wenn dann so wurde gesacht ach das musste mal machen das is gut davon nimmste ganz schnell ab (.) und ich hab eine Diät mal gemacht und und dat Ende vom Lied war (.) dass ich mein meine Gallenblase opfern durfte weil das ne Diät war die total ungesund war un un wo ich (.) wo ich krank geworden bin von wo ich am- wo ich dann n halbes Jahr Koliken als Ergebnis hadde (.) und das hat mich eigentlich ziemlich kuriert was Diäten anbelangt also von daher«
Der stark empörten Ausdrucksweise (»ihr habt dat gefälligst zu akzeptieren«) lässt sich entnehmen, dass es in dieser Passage um Frau Müllers Reaktion gegenüber einer moralisierenden Haltung in Zusammenhang mit Übergewicht geht, die sie seitens anderer Menschen erfahren hat. Offen bleibt hier zunächst, was genau Frau Müller mit »akzeptieren« meint. Im weiteren Kontext des Interviews erscheint jedoch die Deutung plausibel, dass es nicht lediglich um die Anerkennung des Übergewichts durch andere geht, sondern darüber hinaus um die Akzeptanz der damit in Verbindung gebrachten Handlungen, also auch ihres Umgangs mit Essen: Sie möchte von anderen Menschen nicht mit Diät-Tipps oder Appellen zum Abnehmen behelligt werden, sondern ihre inneren Neigungen ausleben dürfen. Es wird somit deutlich, dass sich Frau Müller gegen eine Deutung wehrt, der zufolge es verachtenswert ist, Dicksein einfach hinzunehmen, ohne etwas dagegen zu tun. In der weiteren Elaboration des Arguments stellt sie dann das Abnehmen selbst als irrational, da krankmachend dar und untermauert dieses Argument durch die Erzählung der schlechten Erfahrungen mit einer Diät. Sie präsentiert diese Erfahrung als Anlass für einen Sinneswandel hinsichtlich des Umgangs mit dem Druck von außen, an ihrem Körpergewicht etwas zu ändern (»hat mich ziemlich kuriert was Diäten anbelangt«). Im weiteren Verlauf des Interviews wird in einer Ausführung zum Thema Sport eine homologe Orientierung deutlich: Sie lehnt den empfundenen Imperativ, Sport zu treiben, um schlanker zu werden, als Teil des »Magerwahns« ab und legitimiert Dicksein durch den Verweis auf Individualität (»was is wenn n Men- alle Menschen dem Ideal entsprechen dann sind sie doch alle gleich geschaltet dann dann ham mir doch keine keine indive- individuellen Menschen mehr«). Vergleichendes Fazit Frau Müller Im Interview mit Frau Müller zeigt sich ein Bild des ›guten‹ Konsums, das mehrere Komponenten umfasst, die miteinander in einem spannungsreichen Verhältnis stehen. Zum einen wird Sparsamkeit als eine Tugend an sich präsentiert, die insbesondere die Kompetenz umfasst, qualitativ hochwertige Produkte erkennen zu können, ohne sich allein am Preis oder an der Marke zu orientieren. Sparsam-
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keit bedeutet allerdings nicht, konsequent zwischen funktional äquivalenten Produkten diejenigen mit dem niedrigsten Preis auszuwählen. Vielmehr wurde sichtbar, dass Natürlichkeit19 und eine ethisch vertretbare Produktionsweise – insbesondere bei Fleisch – für Frau Müller Werte sind, die höhere Preise rechtfertigen, so dass Mehrausgaben nicht als überflüssig gedeutet werden. Sparen ist in Hinblick auf diese Kriterien nicht zwangsläufig angebracht, die positive Sparkompetenz wird daher zu einem Sparzwang, wenn das Geld fehlt, um sich entsprechende Produkte leisten zu können. Allerdings zeigt sich, dass begrenzte finanzielle Mittel den Kauf von Produkten rechtfertigen, die dem skizzierten Ideal von Natürlichkeit und ethisch vertretbaren Produktionsweisen nicht entsprechen. Auch eine Lösung nach dem Muster »weniger, aber dafür Besseres« ist nicht möglich, da Frau Müller ihrem Sohn ordentliches Essen bieten möchte. Diese Orientierung verhandelt Frau Müller insbesondere im Kontext von Körperbildern und grenzt sich gegen die normative Forderung ab, dass man sich um das Ideal eines schlanken Körper bemühen solle. Frau Müller präsentiert ihren Geschmack zudem ganz anders als Frau Henning-Löw. So schmückt sie ihre Ausführungen nicht mit ästhetisierenden Adjektiven aus und thematisiert an keiner Stelle im Interview besondere Erlebnisse, die in Zusammenhang mit Essen oder Einkauf von Lebensmitteln stehen. Dies ist ein Hinweis darauf, dass Frau Müller in Hinsicht auf Geschmackserlebnisse keine Rationalisierungsstrategie verfolgt: Sie scheint nicht auf der Suche nach neuen und besonderen geschmacklichen Erfahrungen zu sein, sondern orientiert sich in erster Linie an ihrem erlernten Geschmack. Darüber hinaus wird eine Geschmacksdisposition deutlich, die konträr zu Frau Henning-Löws Geschmack ist: »Ich mach oft Essen wo ich Schlachsahne dran tu (.) darf natürlich der Ernährungsexperte nich hörn aber ich will Geschmack haben w- w- für mich soll Essen nach schmecken (lacht kurz)«. Der Passage lässt sich entnehmen, dass Frau Müller schmackhaftes Essen als nicht ohne weiteres mit gesunder Ernährung vereinbar sieht. Während Frau Henning-Löw ihren Geschmack als Geschmack am Gesunden präsentiert, wird hier ein Geschmack am Ungesunden deutlich. 19 Hana Librová beschreibt »Natürlichkeit« bzw. das Prinzip, »nah an der Natur« zu sein, als zentrales Element zeitgenössischer ökologischer Ideologie (2008: 1115). Natürlichkeit ist eine Qualität, die mit den übermäßigen manipulierenden Eingriffen in die Natur in der industrialisierten Gesellschaft kontrastiert wird. Librová zufolge finden sich in kulturellen Debatten der Moderne insbesondere zwei Modelle des Lebens in Einklang mit der Natur: der wandernde Eremit, der selbst Teil der Natur wird, sowie der sesshafte Kleinbauer, der zwar Eingriffe in die Natur vornimmt, diese aber eng begrenzt hält (ebd.: 1116). In Frau Müllers Ausführungen wird eine Nähe zu letzterem Modell als Ideal deutlich.
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Darüber hinaus ist die Neigung erkennbar, diesen Geschmack auch auszuleben und nicht zugunsten von gesundheitlichen Erwägungen zu kontrollieren. Dies steht auch in Gegensatz zu Frau Meine und Frau Kamps, bei denen Essen bewusst erfolgen und sich an dem orientieren soll, was der Körper ernährungsphysiologischem Wissen zufolge braucht. Was ›gesunde‹ Ernährung jedoch ihrer Ansicht nach eigentlich ist, bleibt eher diffus. Vielmehr werden hier verschiedene Varianten des Umgangs mit dem Dilemma zwischen körperlicher Disziplin einerseits und den Lüsten und Bedürfnissen des Körpers andererseits deutlich. Simon Williams geht mit dem französischen Philosophen Georges Bataille davon aus, dass menschliche Körper von Natur aus zu Exzessen neigen und Lust aus Verschwendung und Grenzübertretungen gewinnen können (1998: 438). Dem steht der Imperativ staatlicher Gesundheitspolitik gegenüber, sich in gesundheitsfördernden Praktiken zu engagieren (Coveney 2006: 101ff.). Etwas für einen attraktiven und schlanken Körper (Lupton 1996: 137) oder allgemeiner für die ›Gesundheit‹ zu tun, ist darüber hinaus in heutigen westlichen Gesellschaften von einem Mittel zu einem Selbstzweck avanciert (Crawford 1984: 66). In Frau Meines und Frau Kamps’ Orientierung an bewusster, an Fachwissen ausgerichteter Ernährung spiegeln sich somit Konformität mit gesellschaftlichen Körpernormen und Erwartungen bezüglich vermeintlich gesundheitsfördernder Praktiken sowie die Bereitschaft wider, sich entsprechend zu engagieren. Gesundheit wird hier eng mit methodischer Selbstkontrolle verbunden. Wie Robert Crawford jedoch ausführt, steht der Debatte um Gesundheit als Selbstkontrolle eine Konzeption gegenüber, in der gerade die heilsamen Qualitäten des Loslassens betont werden: »Instead of a language of will power and regulation, there exists a language of well-being, contentment, and enjoyment.« (Ebd.: 81) Eben dieser Widerstand gegen eine rationale Selbst-Kontrolle im Namen der Gesundheit wird auch von Frau Müller starkgemacht, aber auch von Frau Tiedemann. Beide Frauen sehen den Konsum von Lebensmitteln als einen Bereich an, der nicht zu stark Gegenstand von Reflexivität bzw. von Rationalisierungsstrategien sein sollte. Allerdings stehen hinter dieser Ansicht ganz unterschiedliche Beweggründe: Frau Tiedemann diskutiert diese Orientierung in Zusammenhang mit der Frage, was ein sinnvolles und ausgefülltes Leben ist und welchen Tätigkeiten man viel gedankliche Mühe widmen sollte und welchen nicht. Bei Frau Müller geht es dagegen darum, essen zu dürfen, was man möchte. Hier wird auch deutlich, dass Reflexivität in verschiedenen Bereichen als ›gut‹ oder ›schlecht‹ bewertet werden kann: Während Frau Müller das Reflektieren hinsichtlich einer ernährungsphysiologisch korrekten Zusammenstellung des Essens ablehnt, stellt sie die Reflexion in Hinsicht auf Natürlichkeit als wünschenswert dar.
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5.1.8 »Wenn dat Gemüse gemacht is un Sie kriegn das aufm Teller serviert wissen Sie nisch wo s herkommt, ob Sie jetz aufm Markt warn, beim Rewe warn oder beim Aldi« – Herr Martens Herrn Martens habe ich durch einen Kontakt zu einem Betriebsrat einer lokalen Firma aus der Metallbranche kennengelernt, in der er ganztags arbeitet. Er ist Mitte vierzig und wohnt zusammen mit seiner Frau und seiner Tochter im Teenageralter. Da seine Frau aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten kann und er in einem laufenden privaten Insolvenzverfahren steckt, ist die finanzielle Situation der Familie zum Zeitpunkt des Interviews als prekär zu bezeichnen. Mit Herrn Martens wird somit ein weiterer Fall vorgestellt, in dem der Umgang mit Geld eine bedeutende Rolle spielt. Im Unterschied zu Frau Müller wird dabei jedoch deutlich, dass der Kauf günstiger Produkte stets im Kontext vertikaler sozialer Ungleichheiten und deren Anerkennungsdimension diskutiert wird. Vor diesem Hintergrund ist es kaum überraschend, dass Herr Martens bei der Beschreibung seines Einkaufsverhaltens immer wieder auf das Thema angemessener Preise sowie auf Möglichkeiten zum Sparen zu sprechen kommt. So berichtet er etwa, dass die Familie Werbeprospekte nach Angeboten durchschaut und mit dem Kauf von Drogerieartikeln wartet, bis sie im Angebot sind. An anderer Stelle empört sich Herr Martens über die hohen Preise in einem lokalen Supermarkt (»Salatkopf eins einssiebzisch also da hörts auf ne da hörts wirklisch auf«). Bereits zu Beginn des Interviews kommt die Orientierung an günstigen Preisen zum Ausdruck. Auf die Eingangsfrage des Interviewers, wie denn das Einkaufen im Alltag in seinem Haushalt gestaltet sei, berichtet er: »Meine Frau die kümmert sich um et Einkaufen un so weiter un sie schreibt n Zettel wir gehn nachmittachs zusamm dann einkaufen ne weil isch hab da Spaß dran mit ihr dann zusamm da (beim) Gemüse guckn un so weiter un wir gucken halt (.) eher nach i sa jetz ma et muss net Creme fraiche von Doktor Oetker sein ne es gibt auch andre Firm da muss man sisch halt bisschen tiefer bücken Preis-Leistungs-Verhältnis da bezahlze neuneunzisch Cent un da unten kristet für neunseschzisch Cent zum Beispiel ne da nehm wer dat für neunseschzisch Cent natürlisch ne«
Zunächst kommt hier zum Ausdruck, dass die Aufgaben beim Einkaufen partiell nach geschlechtsspezifischen Rollen aufgeteilt sind, nämlich Herrn Martens’ Frau hauptverantwortlich für den Einkauf zuständig ist. Jedoch hilft er als Begleiter beim Einkauf mit, was sich auch darin dokumentiert, dass er die Preise verschiedener Produkte kennt. Das Einkaufen ist für ihn keine notwendige oder
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gar lästige Arbeit, sondern eher eine Freizeittätigkeit, die er zusammen mit seiner Frau genießen kann (»weil isch da Spaß dran hab mit ihr dann zusamm da beim Gemüse guckn«). In der weiteren Beschreibung thematisiert Herr Martens eine Präferenz für preisgünstige Produkte. Es dokumentiert sich dabei, dass Herr Martens die Leistungskomponente des erwähnten Preis-Leistungs-Verhältnisses in erster Linie am Gebrauchswert festmacht: Der Formulierung (»da unten kristet [kriegst du es, JG] für neunseschzisch«) lässt sich entnehmen, dass er das günstigere Produkt und das Markenprodukt als funktional gleichwertig versteht. Offen bleibt zunächst, ob der abschließende Kommentar (»natürlisch«) darauf verweist, ob es für Herrn Martens selbstverständlich ist, das günstigere Produkt zu wählen, da es für einen niedrigeren Preis das Gleiche bietet oder ob hier sein geringes Einkommen ausschlaggebend ist. Diese beiden Deutungen schließen sich allerdings nicht gegenseitig aus. Da die Wertung als Abgrenzung vorgetragen wird (»et muss net Creme fraiche von Doktor Oetker sein«) zeigt, dass Herr Martens letztlich anerkennt, dass das Markenprodukt mit einem symbolischen Mehrwert versehen ist, der in dem besseren Regalplatz im Supermarkt auch räumlich zum Ausdruck kommt (»muss man sisch halt ein bisschen tiefer bücken«). Der Formulierung lässt entnehmen, dass man sich – trotz der gewissermaßen symbolischen Erniedrigung, sich bücken zu »müssen« – nicht zu schade sein sollte, zum günstigeren Produkt zu greifen. Insgesamt dokumentiert sich in dieser Passage also eine abgrenzende Positionierung gegenüber einer Produkthierarchie, der zufolge Markenprodukte als ›besser‹ gelten. In Herrn Martens’ Ausführungen über seine Konsumpraktiken finden sich immer wieder solche Auseinandersetzungen mit der Frage, wie Konsumpraktiken, -produkte und Einkaufsorte bewertet werden. Die Argumentation folgt dabei stets dem bereits aufgezeigten Muster: Herr Martens distanziert sich von dem, was vermeintlich für ›besser‹ gehalten wird, und nimmt eine Umdeutung zugunsten des Gebrauchswertes vor. Es bleibt zwar offen, gegen wen er sich genau abgrenzt oder auf welchen Erfahrungen seine Urteile beruhen, jedoch liegt es nahe, dass seine Äußerungen Reaktionen auf öffentliche Mediendebatten darstellen.20 Den Distanzierungen lässt sich entnehmen, dass Herr Martens offenbar 20 Halkier (2010) argumentiert, dass in einer Mediengesellschaft alltägliche Konsumaktivitäten, die oftmals tradierten Mustern folgen, durch mediale Diskurse zunehmend in Frage gestellt werden. Dabei wird Konsumenten zunehmend auch eine (Mit-) Verantwortlichkeit für gesellschaftliche Fragen wie Umweltschutz oder Volksgesundheit zugeschrieben. Zu solchen normativen Forderungen müssen Menschen eine Haltung einnehmen. Da heute die meisten Menschen in ihrem Alltagsleben auf eine Vielzahl von medial vermittelten Informationen zurückgreifen, erscheint es plausibel, dass sich die in den Medien geäußerten Forderungen auch – gewissermaßen als Echos – in
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seine eigenen gegenläufigen Orientierungen in solchen Debatten für nicht anerkannt oder unterrepräsentiert hält, weshalb er sie verteidigen und rechtfertigen muss. Als der Interviewer Herrn Martens auffordert, von einem konkreten Einkaufserlebnis in der letzten Zeit zu erzählen, berichtet er zunächst von einem Einkauf in der letzten Woche, als er und seine Frau im Aldi Obst und Gemüse gekauft haben. Anschließend fährt er – ohne Intervention des Interviewers – argumentierend fort: »Also i sa ma so mir habn dat Geld nit dafür natürlisch sacht ma wär dat schön ma freitachs auf n Markt zu gehn ne da den Porree da einfach ma aber (.) man muss halt den Cent n paarma umdrehn ne.«
Herr Martens thematisiert hier die Differenzen zwischen den Einkaufsorten Aldi und Markt: Zum einen unterscheidet er hinsichtlich der Preise (Aldi ist günstig, der Markt ist teuer), zum anderen hinsichtlich der Qualität des Einkaufserlebnisses: Der Markt verspreche ein »schönes« Erlebnis, dort einzukaufen, stelle etwas Besonderes dar. Hier dokumentiert sich, dass Herr Martens eine Hierarchie von Einkaufsorten wahrnimmt, der zufolge der Markt als der bessere Einkaufsort gilt. Wiederum zeigt sich, dass Herr Martens selbst diese Wertung anerkennt, indem er dem Einkauf auf dem Markt einen höheren Erlebniswert zuspricht. Es wird deutlich, dass Herr Martens diesen Erlebniswert jedoch beim Einkaufen nicht berücksichtigen kann, was er mit ökonomischen Erwägungen begründet (»mir habn dat Geld nit dafür«). Die Orientierung an günstigen Preisen wird dabei nicht als individuelle Präferenz, sondern als Notwendigkeit beschrieben, von der alle Menschen mit niedrigem Einkommen gleichermaßen betroffen seien (»man muss halt den Cent n paarma umdrehn«). Weiter argumentiert Herr Martens: »(un) da sacht man sisch ok weil et is ja net schlescht et is ja auch frisch diese Vorurteile wer da hingeht kauft nur schleschte Ware is absolut falsch das is Blödsinn ne« Interviewer:
| nee nee nee das is (.) jaja |
Über die ökonomische Notwendigkeit hinaus begründet er den Einkauf im Aldi nun auch mit Qualitätsargumenten (»et is ja net schlescht«), wobei er explizit »Frische« als Kriterium nennt. Dem Verweis auf Vorurteile gegenüber AldiKunden lässt sich entnehmen, dass Herr Martens implizit auch Fragen der sozialen Anerkennung des Konsumhandelns thematisiert: In dem Vorurteil kommt den Interviews dieser Studie niederschlagen. Ebendies könnte eine Ursache für Herrn Martens’ Argumentationsweise sein.
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letztlich eine Moralisierung zum Ausdruck, in der die zuvor bereits erörterten Wertungshierarchien der Einkaufsorte gewissermaßen auf die Kunden übertragen werden. Den Aldi-Kunden wird darin letztlich die in einer Konsumgesellschaft wichtige Kernkompetenz abgesprochen, gute Qualität erkennen zu können (»wer da hin geht kauft nur schlechte Ware«). Die Reaktion des Interviewers deutet darauf hin, dass die Interaktionssituation im Interview für die defensivabgrenzende Argumentation von Herr Martens eine Rolle spielt: Dem schnell wiederholten »nee« lässt sich entnehmen, dass der Interviewer hier etwas richtigstellen möchte. Er geht davon aus, dass Herr Martens – der als Arbeiter einem jungen Akademiker gegenübersitzt – ihm selbst eine vorurteilsbeladene Haltung zuschreibt, und bemüht sich darum, zum Ausdruck zu bringen, dass dem nicht so ist. Der Interviewer versucht dem im weiteren Verlauf zu begegnen, in dem er Herrn Martens’ Wertungen an mehreren Stellen validiert, um ihn so zu ermuntern, seine eigene Haltung frei zum Ausdruck zu bringen. Allerdings ist die hektische Reaktion des Interviewers hier möglicherweise auch etwas verräterisch und zeigt, dass seine eigenen Wertungen eben doch nicht ganz mit Herrn Martens’ Wertungen übereinstimmen. Es muss daher in Betracht gezogen werden, dass die Abgrenzungen, die Herrn Martens immer wieder vornimmt, auch aus den Statusunterschieden zwischen ihm und dem Interviewer resultieren. Herr Martens verweist im weiteren Verlauf auf seine Erfahrung mit Aldi-Produkten: »Un so mir ham da auch noch nie so jetz wat Negatives gehabt ne wenn wir Gemüse da geholt habn oder auch Obst geholt habn ja dat heisst ja et gibt ja auch dieses sogenannte Bioobst ne aber da habn wer auch schon gehabt dat da n Apfel schneller geschimmelt hat als einer der im Sechserpack da abge- abgepackt war is auch schon gewesen also heisst net immer dat Bio gut sein muss ne (.) Un wer sacht mir denn dat dat Bio is isch kann ja auch Bio draufkleben un am Markt abgeben ne un sach dat sin Biomöhrn Biokartoffeln ne wer will das denn so genau kontrolliern«
Deutlich wird in dieser Passage eine Orientierung an sinnlicher Erfahrbarkeit. Herr Martens beurteilt Produkte anhand von Erfahrungseigenschaften wie Haltbarkeit, die für ihn als Konsumenten selbst sensorisch bemerkbar sind (»noch nie so jetz wat negatives gehabt«, »dat da n Apfel schneller geschimmelt hat«).21 21 In der Informationsökonomie wird unterschieden zwischen Sucheigenschaften, die bereits vor dem Kauf bestimmt werden können (z.B. Farbe), Erfahrungseigenschaften, die erst nach dem Kauf durch den eigentlichen Verbrauch festgestellt werden können (z.B. Geschmack eines Apfels), und Vertrauenseigenschaften, die Konsumenten nicht oder nur durch sehr hohen Aufwand überprüfen können (z.B. Schadstoffrückstände im Essen) (Rössel 2007: 169).
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Dies steht in Gegensatz zu Frau Kamps und Frau Müller, die sich stärker an Vertrauenseigenschaften wie Schadstoffrückständen orientieren, weshalb Expertenwissen und Vertrauen in Bezug auf die Herkunft des Produkts und seine Produktionsweise für sie eine größere Rolle spielen. Diese Orientierung erklärt auch Herrn Martens’ Beurteilung der Bio-Produkte, die hinsichtlich der Erfahrungseigenschaft Haltbarkeit durchfallen können (»also heißt net immer dat Bio gut sein muss«), wogegen Eigenschaften, die nicht durch den Konsumenten selbst überprüfbar sind, ausgeklammert werden (»un wer sacht mir denn dat dat Bio is?«). An anderer Stelle wird eine homologe Orientierung an sinnlicher Erfahrung in Bezug auf fertig gekochte Gerichte sichtbar: »Weil wenn dat Gemüse gemacht is un Sie kriegn das aufm Teller serviert wissen Sie nisch wo s herkommt ob Sie jetz aufm Markt warn beim Rewe warn oder beim Aldi wenns zubereitet is un isch wette mit Ihnen schmecken Sie auch nischt raus von wo das kommt«
Erneut nimmt Herr Martens Bezug auf sozial konstruierte Hierarchien der Einkaufsorte: Deutlich wird hier eine Abgrenzung von der Vorstellung, dass Gemüse vom Markt oder aus dem Rewe besser sei als Aldi-Gemüse. Die in dieser Auffassung behaupteten Qualitätsunterschiede werden Herrn Martens zufolge nivelliert, wenn die Lebensmittel zu Gerichten weiterverarbeitet werden (»wenn dat Gemüse gemacht is wissen Sie nisch wo s herkommt«). Der wahre Wert der Lebensmittel manifestiert sich Herrn Martens’ Argumentation zufolge ausschließlich in der sinnlichen Erfahrbarkeit während des Verzehrs, während die Hierarchie der Einkaufsorte Wertunterschiede lediglich suggeriere, ohne dass die behaupteten Unterschiede eine Substanz im Geschmack hätten. Hier zeigt sich eine Argumentationsstrategie, der zufolge es bei der Beurteilung von Lebensmitteln nur auf den Verzehr ankommt. In dieser Situation sind die symbolischen Gehalte, welche Hierarchien zwischen Einkaufsorten oder Produkten begründen können, weitestgehend ausgeschaltet, da Markenlogos, Verpackungen und Einkaufsort nicht mehr sichtbar sind. In Herrn Martens’ Argumentation dokumentiert sich damit eine Kritik am Konsumkapitalismus, der die eigentlichen Werte verschleiere und durch eine symbolische Aufladung von Produkten und Einkaufsorten substanzlose Differenzierungen produziere. Herr Martens fährt im Anschluss fort: »Ob es jetz Bio is oder vom Markt oder wie gesacht aus den andern ne (.) Es is ja nisch schleschter ne un nur weil isch der Herr Sounso bin un kann jeden Tag aufn Markt oder
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am Wochenende oder isch geh nur nach [lokaler, hochpreisiger Supermarkt, JG] oder nur nach m Rewe hat der vom Geschmack net mehr«
In dieser Passage stellt Herr Martens nun erneut einen Zusammenhang zwischen symbolischen Hierarchien der Konsumwelt und sozialen Unterschieden zwischen Konsumenten her. An dem Verweis auf den fiktiven »Herr Sounso«, der nur in hochpreisigen Einkaufsstätten einkaufe, wird Herr Martens’ Blick auf die soziale Relation zwischen seinem Umfeld und wohlhabenderen Menschen sichtbar. Hier dokumentiert sich, dass sich Klassenunterschiede für Herrn Martens auch an der Wahl des Einkaufsortes manifestieren. Sie ermöglicht denjenigen, die in den ›besseren‹ Geschäften einkaufen, das Gefühl, etwas Besseres zu sein. Aus dem bisher Gesagten lässt sich folgern, dass Herr Martens in seinen Ausführungen implizit die Anerkennungsdimension thematisiert, die mit den symbolischen Hierarchien der Konsumwelt verknüpft ist: Menschen, die mit geringen finanziellen Mitteln auskommen müssen und daher günstig einkaufen, wird Anerkennung vorenthalten, wenn ihnen vorgehalten wird, schlechte Ware zu kaufen. Der Einkauf im Discounter ist demnach mit einem negativen Symbolwert behaftet, während der Einkauf auf dem Markt oder den hochpreisigen Supermärkten mit symbolischen (Anerkennungs-)Profiten verbunden ist. Da aber das Einkaufen in den letztgenannten Orten gegenüber dem Discounter systematisch mit höheren Preisen verbunden ist, ist die symbolische Zuordnung von sozialen Wertigkeiten zu unterschiedlichen Einkaufsorten sozial parteiisch: Nur die Wohlhabenden können die symbolischen Profite des Einkaufs bei den sozial hoch anerkannten Einkaufsorten wie dem Markt einstreichen, während die ohnehin Benachteiligten durch ihren Einkauf im Discounter auch noch sozial abgewertet werden. Die Orientierung an symbolischen Hierarchien wird über weite Strecken im Interview mit behandelt. Auffällig ist jedoch, dass Herr Martens den Kauf und Konsum von Fleisch in einem anderen Orientierungsrahmen behandelt: Bei Fleisch spiele die Produktion durchaus eine Rolle für die Bewertung des Produkts, hier gehe es darum, Fleisch aus Massentierhaltung zu vermeiden und generell den Fleischkonsum zu senken. Herr Martens diskutiert Fleischkonsum zudem an keiner Stelle in Zusammenhang mit symbolischen Hierarchien und sozialer Ungleichheit. Auch grenzt er sich beim Thema Fleisch nicht gegen die Wohlhabenden ab, sondern gegenüber Menschen in einer ähnlichen sozialen Lage wie er selbst (»et sin ja viele sach isch ma finanziell so wie isch da stehe jetz wolln die aber net auf da Fleisch verzischten also nehm se dat billige abgepackte
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[…] ja un dat is dieser Teufelskreis«).22 Dabei wird deutlich, dass die Orientierung gegenüber dem Fleischkonsum in Zusammenhang mit der Tierliebe und dem Vegetarismus seiner Frau und seiner Tochter stehen. Aus diesem Grund wird Herrn Martens’ Orientierung näher in Kapitel 6.1.1 untersucht, welches die interaktive Entstehung von Konsummoral im Kontext von Haushalten näher betrachtet. Vergleichendes Fazit Herr Martens Insgesamt wird deutlich, dass Herr Martens das Thema des Einkaufens in einem Orientierungsrahmen diskutiert, der die sozial konstruierte Wertigkeit von Produkten, Einkaufsorten und Konsumpraktiken betrifft. Er kritisiert dabei eine Wertigkeitsordnung, in der all das als ›gut‹ und hochwertig gilt, was teuer ist: Markenprodukte, Produkte aus ökologischem Anbau und teure Einkaufsorte wie der Markt. Seine Kritik basiert dabei auf einer Unterscheidung zwischen dem ›eigentlichen‹ Gebrauchswert, der sich bei Lebensmitteln vor allem im Geschmack während des Essens manifestiert, und dem symbolisch vermittelten Zusatznutzen von Produkten. Als These kann festgehalten werden, dass Herr Martens die soziale Anerkennung mit behandelt, die über die Bewertung verschiedener Konsumpraktiken vermittelt wird. Andrew Sayers Unterscheidung zwischen »internal« und »external goods« (2003) hilft dabei, diese These zu erhellen: »Internal goods are those which are internal to a practice in which one takes part, such as specific achievements, skills, and satisfactions of participating in sports, art, music, academic study, cooking, or medicine, or which, alternatively, are internal to relationships, such as friendship or parenting. While I may achieve internal goods through these relationships and activities, they also bring me external goods of approbation, fame, prestige, and money.« (Sayer 2003: 347)
Die Differenzierung zwischen internen und externen Gütern lässt sich auch auf die Praxis des Einkaufens anwenden, wie sie in Herrn Martens Argumentation zum Ausdruck kommt. Demnach lässt sich unterscheiden zwischen der externen Anerkennung, die eine Tätigkeit wie Einkaufen auf dem Markt mit sich bringt, 22 An dieser Stelle wird exemplarisch deutlich, wie nahe persönliche Ethik und auf andere bezogene Moralisierung zusammenhängen. In den Begriffen von Beetz (2009: 256) ausgedrückt, untergräbt der Kauf von Billigfleisch die Einheit von individuellem und sozialem Leben (wobei Tiere hier auch als Teil der Gesellschaft verstanden werden) und ist somit »böse«.
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und den internen Befriedigungen, die aus dieser Tätigkeit resultieren. Zieht man diese Unterscheidungen heran, so wird deutlich, dass Herrn Martens’ Kritik vor allem auf die unterschiedliche Zuteilung von »external goods« abzielt, die mit Konsumpraktiken einhergeht, die mehr oder weniger Kaufkraft erfordern. Es wird deutlich, dass Herr Martens durchaus die internen Güter anerkennt, die mit Praktiken verbunden sind, an denen er selbst nicht teilhat (»natürlich wär es schön ma freitachs auf n Markt zu gehn«). Gleichzeitig wird deutlich, dass auch der Einkauf im Discounter mit internen Gütern verbunden ist, wenn Herr Martens auf den Spaß am gemeinsamen Einkauf mit seiner Frau oder den guten Geschmack der fertig zubereiteten Gerichte hinweist. Sayer betont, dass Menschen im Allgemeinen erwarten, dass externe Güter wie Anerkennung proportional zu internen Gütern vergeben werden (2003: 347): Eine Medaille an jemanden zu verleihen, der wenig geleistet hat oder die Logik der in Frage stehenden Praxis ignoriert, schmälert den Wert der Auszeichnung (Sayer 2005b: 114). Aus dieser Perspektive lässt sich nachvollziehen, dass Herr Martens es als ungerecht wahrnimmt, dass bestimmte Arten und Weisen des Einkaufens – die allesamt teuer sind – sozial parteiisch mit Anerkennung belohnt werden, während der Gang zum Discounter zu einem Anerkennungsentzug führt. Parallelen finden sich auch zu einem Argument des Kunsthistorikers Wolfgang Ullrich, der die These vertritt, dass sich in Narrationen, die über das Produktdesign vermittelt werden, auch Spannungen zwischen sozialen Klassen widerspiegeln. Ullrich verweist darauf, dass der fiktionale Gehalt von Konsumprodukten immer bedeutender werde. Sie dienen dazu »einzelne Tätigkeiten, Situationen oder Erfahrungen zu interpretieren, zu verfremden, zu verklären, mit zusätzlicher Bedeutung aufzuladen« (Ullrich 2011: 117). Überzeugende Produkte bieten Erzählungen und Rollenangebote. So kann sich der Konsument durch ein Duschgel etwa als jemand erleben, der sich gerade in einer besonders entspannenden oder kraftgebenden Situation befindet oder der eine interessante Rolle wie etwa Männlichkeit ausfüllt. In einer Radiosendung des Bayrischen Rundfunks erörtert Ullrich den Klassenbezug des Produktdesigns: »Für die sozial Schwachen gibt es ja eigentlich nur zynische Produkte bisher, nämlich Produkte, die im Grunde dasselbe verheißen wie teurere Produkte aber so schlecht dabei gemacht sind, […] da steht zwar auch drauf Harmonie oder Power oder irgendwas, […] aber das ist so schlecht inszeniert, dass eigentlich klar ist, dass das Produkt das gerade nicht leisten kann, das heißt diejenigen, die wenig Geld haben werden eigentlich die ganze Zeit nochmal darin bestätigt, dass sie die Loser sind, […] und das ist das eigentlich auch Brutale an der heutigen Konsumwelt, dass diejenigen, denen’s gut geht, die Geld haben sich Produkte leisten können die super inszeniert sind, die sie immer in tolle Rollen ver-
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setzen, die das plausibel auch schaffen und damit sozusagen immer auch noch so was wie Placebo-Effekte schaffen also wo’s den Leuten dann wirklich besser geht, wo sie mehr leisten können weil sie sich diese Produkte leisten können und umgekehrt sorgen die schlechten Produkte, die billigen Produkte, auf die jetzt die sozial Schwachen angewiesen sind, die erzeugen nur so was wie No-Cebo-Effekte, also denen geht’s dann eigentlich letztlich noch schlechter.« (Leitner 03.04.2011)
Ullrichs Argument lässt sich entnehmen, dass soziale Anerkennung letztlich auch über die fiktionalen Gehalte von Produkten vermittelt wird. Überträgt man die These auf Einkaufsorte – die ebenfalls Erlebnisse und Inszenierungen bieten –, so lassen sich Herrn Martens’ Ausführungen vor diesem Hintergrund als Reaktion auf die Wahrnehmung verstehen, dass die eigenen Konsumpraktiken nicht in dem Maße soziale Anerkennung erhalten. Der Einkauf auf dem Markt bzw. im Discounter wäre demnach als Symbol zu verstehen, das Akteuren ihre eigene soziale Lage wie einen Spiegel vorhält.23 Die Argumentation von Herrn Martens lässt sich daher als Strategie interpretieren, mit dieser schwierigen Situation umzugehen: Indem die Relevanz der Erlebnis- und Fiktionswerte des Konsums bestritten wird und der Gebrauchswert zum ›eigentlichen‹ Wert erhoben wird, kann sich Herr Martens von der Deutung abgrenzen, die er der Allgemeinheit zuschreibt. Im Fallvergleich mit Frau Müller, die sich in einer ähnlich schwierigen finanziellen Lage befindet, wird deutlich, dass beide einen unterschiedlichen Umgang mit den gesellschaftlich als dominant wahrgenommenen Wertungen verschiedener Konsumpraktiken haben: So erkennt Frau Müller etwa Obst und Gemüse aus ökologischem Anbau als besser an. In Hinsicht auf Lebensmittelquali23 Diese These ist nicht so zu verstehen, dass Einkäufe im Discounter automatisch zu Benachteiligungsgefühlen führen müssen. Vielmehr erscheint gerade entscheidend, ob ein alternatives Handeln möglich erscheint oder nicht – ob der Einkauf dort also als freie Entscheidung konzipiert werden kann. So trägt etwa Herr Staudt – der als Gymnasiallehrer in einer deutlich besseren finanziellen Lage ist als Herr Martens – selbstbewusst vor, dass er von der Qualität der Aldi-Produkte überzeugt sei und dort einkaufe, weil er Geld spare, das er in sein Haus investieren könne. Herr Staudt führt allerdings auch aus, dass er weitgehend »Edelprodukte« kaufe, die mittlerweile auch bei Aldi verfügbar sind, und führt als Beispiele französische Baguettesalami und Scampispieße an. Auch wenn im Material oft die Unterschiede zwischen verschiedenen Einkaufsorten thematisiert werden, darf somit nicht vergessen werden, dass einige Interviewpartner Differenzierungen in Hinblick auf Qualität ansprechen, die sich auf verschiedene an einzelnen Einkaufsorten erhältliche Produktvarianten beziehen. Produkthierarchien liegen also teilweise quer zu den Einkaufsorten.
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tät, die hier an geringer Schadstoffbelastung festgemacht wird, orientiert sie sich nach oben (vgl. Kap. 5, Fußn. 10), muss aber damit zurechtkommen, dass sie ihre Präferenzen aus finanziellen Gründen nicht ausleben kann. Bei Herrn Martens wird dagegen in stärkerem Maße eine Umdeutung sichtbar, nach der das günstigere, konventionelle Obst bei Aldi gar nicht schlechter, sondern sogar besser ist. Diese Deutung gelingt, da andere Kriterien wie etwa Haltbarkeit angelegt werden. Allerdings können diese unterschiedlichen Umgangsweisen nach Produktbereichen variieren, wie sich etwa bei Fleisch zeigt: Hier verurteilen beide die Massentierhaltung und skizzieren Fleisch aus tiergerechter Haltung als ›gutes‹ Fleisch, gehen aber unterschiedlich mit der ethischen Frage um, was dies für das eigene Konsumverhalten bedeutet, die sich daraus ergibt. Während Frau Müller angesichts ihrer Vorstellung, dass Fleisch zu einem ordentlichen Mahl dazugehöre, nicht bereit ist, weniger aber dafür teureres Fleisch zu kaufen – und infolgedessen mit einem schlechten Gewissen leben muss –, präsentiert sich Herr Martens als jemand, dem es erfolgreich gelungen ist, zugunsten der Tiere seinen Fleischkonsum deutlich zu reduzieren (vgl. Kap. 6.1.1). Herr Martens nimmt somit – solange es nicht um tierische Produkte geht – eine Gegenposition zur Idee des handwerklichen Konsums ein, besonders in der Variante, wie sie bei Frau Kamps sichtbar wurde: Die Produktionsweise spielt für Konsumentscheidungen bei Herr Martens eine vernachlässigbare Rolle. Wichtig sind nur die für den Konsumenten sensorisch erfassbaren Kriterien. Dagegen wurde bei Frau Kamps eine starke Orientierung an der Frage deutlich, auf welche Weise Produkte hergestellt werden.
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Wie die Falldarstellungen gezeigt haben, diskutieren die Interviewpartner das Thema des Lebensmittelkonsums auf eine äußerst vielfältige und komplexe Weise. Im Folgenden geht es nun darum, die Ergebnisse zu verdichten und auf ihren typischen Gehalt zuzuspitzen. Ziel einer sinngenetischen Typik ist es, die typischen Orientierungsrahmen herauszuarbeiten, die als Teil des Habitus der Akteure verstanden werden können. Um die Typik verschiedener Handlungsorientierungen aufzuzeigen, ist daher vom Einzelfall zu abstrahieren. Im Rest dieses Kapitels geht es zunächst darum, die verschiedenen Arten und Weisen der moralischen Trennung zwischen ›richtigem‹ und ›falschem‹ Konsum (Beetz 2009: 258) darzustellen. Zunächst geht es hier also eher um die relativ abstrakten Ideale des ›guten‹ Konsums. Dabei wird zunächst jeweils die grundlegende Logik der jeweiligen Konzeption aufgezeigt, um anschließend Varianten herauszuarbeiten.
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5.2.1 Übernahme von Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext Im Zentrum dieses Orientierungsrahmens steht die Frage der Verknüpfungen des eigenen Handelns mit dem gesellschaftlichen Kontext. Diese Orientierung zeichnet sich durch ein Bewusstsein der Beforschten darum aus, dass ihr Konsumhandeln mit Personen und Institutionen in verschiedenen sozialen wie geographischen Kontexten in Verbindung steht (Young 2003: 40; Sayer 2003: 342). Der eigene Konsum wird als Teil eines gesellschaftlichen Zusammenhangs begriffen, in dem soziale Ungerechtigkeiten und ökologische Probleme produziert werden, und es kommt ein Gefühl der Verantwortlichkeit zum Ausdruck: Das Konsumhandeln des Einzelnen kann dieser Auffassung nach einen Unterschied machen. Iris Youngs Begriff der »political responsibility« (2003) bringt gut zum Ausdruck, worum es hier geht: Demnach sind Akteure nicht verantwortlich für Missstände, weil sie diese direkt durch ihr Handeln verursacht haben, sondern sie sind in dem Maße (mit-)verantwortlich, in dem sie strukturell in die Entstehung verstrickt sind.24 Verantwortung ist demnach nicht an die Frage gebunden, wem die Schuld zugewiesen werden kann, sondern es geht – ganz im Sinne von Foucault – um ethische Selbstfestlegungen (vgl. Kap. 3.1). In den Ausführungen der Interviewpartner wird das Ziel deutlich, die eigene Verstrickung in Prozesse zu minimieren, die negative Konsequenzen für entfernte Andere, Tiere oder die Umwelt haben, und stattdessen Teil von strukturellen Prozessen zu werden, die weniger starke Ungerechtigkeiten hervorbringen. Zudem wurde die Vorstellung deutlich, dass verantwortliche Konsumpraktiken dabei helfen können, die Beziehungen im näheren sozialen Umfeld – insbesondere innerhalb des Familienhaushalts – positiv zu gestalten. Angesichts der in modernen Gesellschaften umfassenden Angewiesenheit auf Konsumgütermärkte bei der täglichen Versorgung ist dabei kaum überraschend, dass gerade die Entscheidung darüber, welche Einkaufsorte man besucht und welche Produkte man kauft, als zentral für das praktische Gelingen begriffen wird. Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext wird hier also in der Rolle als Konsument, vor allem über die Auswahl von Produkten
24 Dieses Verständnis zielt auf die Tatsache ab, dass in hochgradig differenzierten Gesellschaften Ungerechtigkeiten und Missstände meist nicht einzelnen Akteuren direkt zugeschrieben werden können, sondern aus komplexen Handlungsketten resultieren (vgl. Bauman 1988: 50).
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und den Nichtkauf anderer Produkte, übernommen. Dies sei an zwei Zitaten verdeutlicht:25 »Ja gut dann sach isch aber eher ähm dann spar isch zwei Monate (.) un hol mir n T-Shirt bevor isch da [beim Kleidungsdiscounter KIK, JG] für drei Euro eins hole un weiss n kleines Kind da in Indonesien un wo se alle herkomm die arbeitn da müssn da knuffn« (Herr Martens) »Wenn ma jetz an Schlecker denkt äh die ja ihre äh ihr eigenen Läden zumachen wollten un dann mit der äh XXL Läden die se dann mit den Leiharbeitnehmer bestücken wollten die äh (.) Drittel bis zur Hälfte weniger verdien ne i sach da kaufn mir nit ein ne« (Herr Kropp)
Wie die beiden Zitate zeigen, lassen sich verschiedene Varianten einer Orientierung an konsumtiver Verantwortung spezifizieren: Zum einen werden unterschiedliche moralische Prioritäten deutlich, die sich in verschiedenen »Schutzobjekten« dokumentieren: Während für einige Befragte der Schutz der Umwelt im Vordergrund steht, geht es anderen um die Arbeitsbedingungen und die Bezahlung der Angestellten deutscher Einzelhandelsketten, wieder anderen geht es um das Wohl von Tieren, die – wenn sie schon geschlachtet werden – doch zumindest unter guten Bedingungen aufwachsen sollen. Zum anderen werden unterschiedliche Modi deutlich, in denen das eigene Handeln und dessen Verstrickung in den weiteren gesellschaftlichen Kontext zusammengedacht werden: •
•
Erstens wurde – dargestellt am Fall von Herrn Dürnberger – eine universalethische Orientierung deutlich. Grundlage ist hier eine moralische Regel, nach der möglichst jede negative Konsequenz des eigenen Handelns für andere vermieden werden soll. Zweitens wurde deutlich, dass ›guter‹ Konsum auch als politische Verantwortlichkeit konzipiert werden kann, wie dies etwa im Zitat von Herrn Kropp oder in der Falldarstellung von Frau Kurz (vgl. Kap. 5.1.2) sichtbar wurde. Politischer Konsum zielt auf »einzelne Aspekte der Politik der hinter den Marken stehenden Unternehmen, die beeinflusst werden soll« (Schoenheit 2007: 216). In diesem Zusammenhang wird deutlich, dass auch Boykott, also der Nichtkauf von Produkten, eine Möglichkeit ist, um konsumtive Verantwortung zu übernehmen. Diese Option ist insbesonde-
25 Im Folgenden werden Zitate lediglich zur Illustration der von den Einzelfällen abstrahierten Orientierungsrahmen genutzt. Der an detaillierten Interpretationen und genauen Belegen interessierte Leser sei auf das Kapitel 4.1 verwiesen.
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re für Geringverdiener wichtig, da sie sich auch ohne Mehrausgaben realisieren lässt. Drittens wurde am Fall von Frau Kamps herausgearbeitet, dass konsumtive Verantwortung auch an einer Schnittstelle zwischen der Fürsorge für das eigene engere soziale Umfeld und dem breiteren Kontext stattfinden kann: Aus der Fürsorge für die eigenen Kinder kann sich etwa ein Gefühl der Verantwortung für die Umwelt ergeben, die für die kommende Generation erhalten werden soll. Umgekehrt kann umweltfreundlicher Konsum zu Erziehungszwecken genutzt werden und um Gemeinsamkeiten zwischen den Familienmitgliedern zu stiften.
5.2.2 Authentizität und handwerklicher Konsum Eine zweite typische Konstruktion des ›guten‹ Konsums bezieht sich auf die Frage, wo das Essen, das man isst, herkommt, wie es produziert und verarbeitet worden ist. Im Material findet sich immer wieder eine dichotome Gegenüberstellung: Auf der einen Seite wird Essen als ›gut‹ konzipiert, das aus der Region kommt, wobei die Produkte idealerweise nach einer traditionell überlieferten Art angebaut und verarbeitet werden, möglichst naturbelassen und einfach sind und im besten Fall in einem kreativen Prozess durch den Endverbraucher weiterverarbeitet werden oder gar von diesem selbst hergestellt wurden.26 Ein selbst zubereitetes Gericht aus frischen, regionalen oder selbst angebauten Zutaten wäre hier das typische Beispiel. Auf der anderen Seite wird Essen als ›schlecht‹ verstanden, welches anonymer Herkunft ist, der industriellen Massenproduktion entstammt, hochgradig prozessiert ist – etwa um es länger haltbar oder auf künstliche Weise schmackhaft zu machen – und kaum noch einer Weiterverarbeitung durch den Konsumenten bedarf. Ein mit einer Vielzahl von Konservierungsstoffen versetztes Fertiggericht, das nur aufgewärmt werden muss, ist hier das idealtypische Extrembeispiel. Jeff Pratt (2007) nutzt das Konzept der Authentizität, um diese Vorstellung ›guten‹ Essens näher zu beschreiben. Authentizität – der Begriff weckt Assoziationen wie echt, ehrlich, sich selbst treu – wird insbesondere Essen zugeschrieben, welches eine Geschichte und eine regionale Herkunft hat. Entscheidend ist zudem eine möglichst große Nähe zwischen dem Ursprung des Essens und dem Endverbraucher: »In the case of food (which is ingested) 26 Josée Johnston und Shyon Baumann beschreiben das Prinzip der Einfachheit näher, das mit ›gutem‹ Essen in Verbindung gebracht wird: »Simplicity is sought not just in the food itself–as in ›simple‹ fresh-picked peach–but also in the ways that food is produced, processed and presented–without excess fussiness, preparation, or detail.« (Johnston/Baumann 2010: 76)
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everything that comes between us and the food’s origins creates artificiality or pollution.« (Pratt 2007: 297) Claude Fischler argumentiert, dass Essen eine zentrale Rolle dabei spiele, soziale Zugehörigkeit zu Kulturen und Gruppen symbolisch zu vermitteln (1988: 280). Wenn es nun richtig ist, dass Lebensmittel durch eine alles gleichmachende Industrieproduktion ihrer Geschichte und ihres Ursprungs beraubt werden, dann kann dieser Prozess auch als Bedrohung traditioneller Bedeutungen von Essen verstanden werden (Lockie et al. 2000). Mit Colin Campbells Konzept des handwerklichen Konsums lässt sich die obige Unterscheidung zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Essen als Verlängerung der Dichotomie zwischen kreativem Handwerk und Fabrikarbeit verstehen: Während der Konsum von handwerklich produzierten Waren mindestens als guter Geschmack gelte, potentiell sogar als humaner, befreiender Akt des kreativen Selbstausdrucks, werde der Konsum von industrieller Massenware als weiterer Beitrag zur Entfremdung wahrgenommen (Campbell 2005: 39). Auch diese Orientierung sei durch zwei Zitate illustriert: »Ich hab also n Hobby wat auch ziemlich mit Natur zu tun hat hab als- bin Imker un äh deswegen is dat für mich eigentlich irgendwie so ne (.) ja so n wie sacht ma dazu (2) ja Lebensziel is n bisschen übertrieben aber irgendwie so n einfach so d- Maxime würd ich auch net sagen aber sach ich ma so dat mer ich finde dat einfach net in Ordnung wenn mer ( ) mit m Nahrungsmittel die die Natur hervorbringt so verändert dat se einfach ne mehr viel von übrich bleibt von der Ursprünglichkeit dat bedeutet natürlich auch (.) ich bin net so auch net eigentlich net so der Freund vom Supermarkt weil dat is ja alles auf lange Haltbarkeit und und schnellen ähähäh Durchsatz un so weiter« (Herr Grube) »Also ich würde auch unheimlich gerne sagn wa ma Obst und Gemüse auf nem Bauernhof kaufen wenn ich wüsste da der Bauer un ich seh es er hat da seine Bäume stehn un hat da sein Garten u- hat die Sachen angepflanzt würd ich das unheimlich gerne machen da wär ich auch bereit etwas mehr zu bezahln« (Frau Amann)
Dieser Orientierungsrahmen wird in Zusammenhang mit verschiedenen Bezügen diskutiert, auch hier sind also Spezifizierungen aufzuzeigen: •
Erstens wird der Kauf von Lebensmitteln aus der Region und von kleinen, traditionell arbeitenden Betrieben – etwa Bäcker, Metzger, Bauernhöfe – in Verbindung gebracht mit Transparenz, Vertrauen und Umweltfreundlichkeit.27 In dieser Hinsicht sind »authentische« Lebensmittel eher
27 Einige Befragte äußern zudem eine Solidarität mit kleinen Betrieben, deren Marktfähigkeit erhalten werden solle. Kleine Lebensmittellieferanten werden als Nahversor-
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ein Mittel zum Zweck, da Transparenz nötig ist, um andere Ziele wie eine gesunde Ernährung oder einen umweltfreundlichen Konsum zu realisieren. Zweitens wird deutlich – etwa im obigen Zitat von Herrn Grube oder in der Falldarstellung von Frau Müller –, dass Prinzipien wie Natürlichkeit, Einfachheit und Ursprünglichkeit des Essens auch als Wert an sich begriffen werden. Hier wird die Nähe zu Campbells These deutlich: Durch industriell hergestellte Lebensmittel wird einerseits die Einheit zwischen Mensch und Natur zerstört, andererseits geht im Zuge von Arbeitsteilung und Maschinisierung auch der Bezug zum traditionellen Handwerk verloren. Industriell produzierte Ware ist somit ein Produkt entfremdeter Arbeit, die nicht mehr durch ein Gesicht repräsentiert wird, wie dies das traditionelle Handwerk des Bauers, des Bäckers und des Metzgers noch vermochten. Der Konsum ›natürlicher‹ bzw. ›traditionell‹ hergestellter Lebensmittel verspricht dagegen, die zerstörten Verbindungen symbolisch (wieder-)herzustellen. Drittens wird »authentisches« Essen in Zusammenhang gebracht mit einer Orientierung am lustvollen Genießen von Essen und der Suche nach neuen Geschmackserlebnissen. Besonders deutlich zeigte sich dies bei Frau Henning-Löw. Diese Orientierung kann als Ausdruck eines Habitus verstanden werden, der in der Literatur mit den sogenannten »Foodies« in Verbindung gebracht wird, Personen, die sich sehr für Essen interessieren und es als eine Form der Kunst begreifen (Johnston/Baumann 2010: 5359). Authentizität ist nach Johnston und Baumann eines der Kernelemente, über das Foodies Essen evaluieren und legitimieren (ebd.: 69).
Wie lässt sich nun die implizite Moral beschreiben, die dieser Konzeption zugrunde liegt? Ulver-Sneistrup et al. stellen die These auf, dass ein Arbeitsethos die Konsumkultur durchdrungen und die Führung über die Konsumethik übernommen habe (2011: 231). Diese These scheint zunächst etwas vage und birgt die Gefahr eines Missverständnisses: Sie ist keinesfalls als Rückkehr zu einer puritanischen Zurückhaltung beim Konsum zu verstehen (vgl. Kap. 2.3.1). Vielmehr scheint hier eine romantische Sehnsucht nach Ursprünglichkeit und einem natürlichen Zustand ohne Entfremdungsgefühle zum Ausdruck zu kommen: ›Guter‹ Konsum wird vor allem bestimmt durch die Art und den Aufwand der Arbeit, der in die zu konsumierenden Produkte geflossen ist: »What matters is ger geschätzt, ihr unternehmerischer Mut wird bewundert, zudem wird ihnen Erhalt von Vielfalt zugeschrieben, während Konzerne eher als homogenisierende Kraft gesehen werden.
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how much one will work with one’s consumption, and no matter how simple the work, one must love it.« (Ebd.) ›Guter‹ Konsum ist demzufolge nicht passiv, sondern umfasst den Einsatz von Fertigkeit, Wissen, Urteilskraft und Leidenschaft (Campbell 2005: 23), um die zu konsumierenden Objekte so zu bearbeiten und so zu transformieren, dass sie ihren entfremdenden Charakter verlieren. Als Ideal erscheint die Auflösung der Grenzen zwischen Konsum und Produktion, die sich in reinster Form im Prinzip des »Do it yourself« manifestiert (Watson/Shove 2008).28 Das moralische Postulat, das hinter diesem Typ aufscheint, lässt sich wie folgt beschreiben: »Gib Deinem Konsum Authentizität und einen von Dir selbst bestimmten Sinn. Tu dies, indem Du Produkte kaufst, die nicht durch entfremdete Arbeit hergestellt wurden, oder indem Du die Gegenstände Deines Konsums selbst herstellst oder weiterverarbeitest.« Wer dies nicht tut, läuft Gefahr, als fremdbestimmt wahrgenommen zu werden und somit in den Augen von anderen den Status eines autonom handelnden moralischen Subjekts zumindest partiell zu verlieren. Dies kam deutlich in Frau Tiedemanns Beschreibung ihrer Schwiegertochter zum Ausdruck, die sich auf die ausdifferenzierten Produktpaletten einlässt und damit auf die Tricks der Konsumgüterindustrie »hereinfällt« (vgl. Kap. 5.1.6). Daher lässt sich die These aufstellen, dass es bei dieser Orientierung letztlich auch um Selbstkontrolle bezüglich der Sinnhaftigkeit der eigenen Konsumaktivitäten geht. Die Sinn-Relevanzen dieser Aktivitäten sollen nicht von außen kommen, sondern selbstbestimmt sein. Die Selbstherstellung und Zubereitung des gesamten Essens – geschweige denn aller im Alltag benötigen (Konsum-)Objekte – ist jedoch in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften kaum denkbar, und in letzter Konsequenz angesichts des immensen Arbeitsaufwands wohl auch kaum erwünscht. Gerade deshalb erscheint der Kauf von »authentischen«, traditionell-handwerklichen oder naturna28 Jeff Pratt (2007) argumentiert, dass der »alternative« Sektor der Lebensmittelproduzenten aus Marketinginteressen heraus versucht, die durch die Massenproduktion zerstörte Verbindung zwischen Konsum und Produktion wiederherzustellen. In oft romantisierenden Diskursen werden Produktgeschichten konstruiert, die sich um das Lokale, Traditionelle und Authentische ranken, wobei die dahinter stehenden Firmen ebenfalls in erster Linie profit- und marktorientiert operieren. Insofern sei die Dichotomie zwischen einem industriellen Mainstream und einem vermeintlich authentischem alternativem Sektor der Lebensmittelproduzenten kritisch zu betrachten, zumal diese Dichotomie zusehends durch das Wachstum des Letzteren aufweicht (Eden et al. 2008: 1046), im Zuge dessen eine Annäherung der Produktionsmethoden stattfinde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass die im Rahmen dieser Arbeit aufgefundenen Konsumorientierungen auch als Reaktion der Konsumenten auf diese Marketingbemühungen zu verstehen sind.
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hen Produkten so reizvoll: Sie bilden eine bequeme »Brücke«, die den modernen Konsumenten wenigstens ein Stück weit dem Ideal näher kommen lässt (UlverSneistrup et al. 2011: 228), ohne die enormen Vorteile des Bezugs von Gütern über den Markt aufgeben zu müssen. Offenbar muss der Beweis, ein ›guter‹ Konsument im Sinne der Logik des handwerklichen Konsums zu sein, immer nur partiell und in bestimmten Bereichen erbracht werden. 5.2.3 Sorge um sich und (gesundheits-)bewusste Ernährung Eine dritte typische Konzeption des ›guten‹ Konsums von Lebensmitteln bezieht sich auf das Postulat, dass man sich bewusst bzw. ›gesund‹ ernähren soll. Zunächst lässt sich festhalten, dass Essen – in Übereinstimmung mit den Ergebnissen einer älteren Studie von Charles und Kerr (1988: 114-127) – im vorliegenden empirischen Material auf zwei Weisen mit Gesundheit verknüpft wird: Die in diesem Kontext wichtigere Variante, die zunächst diskutiert wird, ist das Thema ›gesunder‹ Ernährung, darüber hinaus geht es um die Assoziation von ›unnatürlichem‹ Essen als potentiell giftig. Unter ›gesunder‹ Ernährung wird grob verstanden, dem Körper die Nährstoffe und Vitamine, die er benötigt, in der richtigen Menge zuzuführen. Dabei wird zu viel oder das Falsche zu essen vor allem mit Übergewicht und einem schlechten Körpergefühl in Verbindung gebracht, während kaum auf spezifische Krankheiten verwiesen wird, die in Zusammenhang mit einer Mangel- oder Überernährung stehen. Bei einigen Befragten wird eine Orientierung an ernährungswissenschaftlichen Erkenntnissen deutlich, die Hinweise in Bezug auf eine ›objektiv‹ richtige Ernährung verspricht. Allerdings thematisiert keiner der Befragten in detaillierter Weise ernährungswissenschaftliche Empfehlungen oder demonstriert Wissen über neue Forschungsergebnisse. Vielmehr bringen die meisten Befragten lediglich eine sehr vage Vorstellung zum Ausdruck, was gesunde Ernährung bedeute. Dies kommt im folgenden Zitat zum Ausdruck: »Also bewusste Ernährung heißt für mich (.) äh oder ne ausgewogene Ernährung ja dat heißt also dass ich mein Kindern nich immer (.) sieben Tage de Woche das gleiche vorgesetzt bekomme dass da also gewisse Abwechslungsvielfältichkeit da is äh dass also auch wir ham Kollegen in der Familie die einen essen auch ma Grünzeuch die einen sagen »ey wann gibt es Nachtisch« also da is ne große Bandbreite ja und dass man da drauf achtet sag ich ma dass also äh (.) dass also auch sag ich ma (.) Gemüse konsumiert wird dass auch dieses und jenes konsumiert wird äh dass sag ich ma Milchprodukte auch zu sich genomm werden und so weiter ja un nich dat einer sacht ok ich hab n Tunnelblick ich ess
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nur Nudeln ja da kommt keine Suppe drauf un Salatbla- ess ich schon gar net ja dat also auch da sag ich ma n bunter Mix stattfindet« (Herr Schneider)
Als Garant für ›gute‹ Ernährung werden Ausgewogenheit und Abwechslungsreichtum genannt, zudem werden einige Lebensmittel – allen voran frisches Gemüse und Milchprodukte – als gesund markiert, während andere Lebensmittel als ungesund gelten, insbesondere Süßigkeiten und fetthaltiges Fastfood. Deutlich wird dabei durchaus ein Bewusstsein darum, dass es keine ›an sich‹ gesunden oder ungesunden Lebensmittel gibt, sondern vielmehr die Menge und Zusammenstellung entscheidend ist: Daher ist es angemessener zu sagen, dass als ›gut‹ diejenigen Lebensmittel konzipiert werden, von denen man tendenziell – auch gegen die eigene geschmackliche Neigung – viel oder mehr essen sollte, während ›schlechte‹ Lebensmittel solche sind, deren Konsum tendenziell kontrolliert und limitiert werden muss (vgl. Madden/Chamberlain 2010: 298). Dass die Befragten gar nicht benennen können, welches Essen ›gesund‹ ist, legt die Vermutung nahe, dass es bei der Thematisierung ›gesunder‹ Ernährung eigentlich um die Disziplinierung und Normalisierung des Körpers geht. Gesundheit ist in modernen, industrialisierten, westlichen Gesellschaften zu einem grundlegenden Wert geworden (Crawford 1984: 62). Während Gesundheit noch im 18. Jahrhundert als Ergebnis göttlicher Gnade oder glücklichen Schicksals betrachtet wurde, trugen Aufklärung, protestantische Ethik und der Aufstieg der bürgerlichen Mittelklasse dazu bei, dass Gesundheit zunehmend als »outcome of scientifically informed practice upon a natural body« gedeutet wurde (Crawford 1994: 1349). Da Gesundheit nun als »machbar« galt, wurde sie zu einem moralischen Unterfangen, an dessen Gelingen die Integrität und Wertigkeit der Person festgemacht werden (Blaxter 1997; Crawford 1994; Crossley 2003; Varul 2004). ›Gesundheit‹ sollte in diesem Zusammenhang weniger als Status (etwa: die Abwesenheit von Krankheit) denn als Performanz begriffen werden. Bewusste Ernährung ist dann eine Praktik unter anderen, mit der ein Engagement für ›Gesundheit‹ performativ demonstriert wird. Der Körper wird in der Literatur oft als das wichtigste – da am deutlichsten sichtbare – Signal aufgefasst, mittels dessen die Richtigkeit des eigenen Verhaltens unter Beweis gestellt wird. Während der schlanke Körper als Ausweis von Selbstkontrolle und Disziplin gelesen wird, gilt der übergewichtige Körper als »out of control« und damit als sicheres Anzeichen moralischen Versagens (Joffe/Staerklé 2007: 404). Da Gesundheit in modernen Gesellschaften als zentraler Wert »heilig« ist, ist das Engagement in gesundheitsförderlichen Praktiken auch als säkularisierte Form religiöser Erlösung gedeutet worden (Crawford 1984: 63; Williams 1998: 440), wobei die Verheißungen von Jugendlichkeit, Attraktivität und Fitness jenseitige Heilsversprechen ab-
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gelöst haben (Lupton 1996: 137). Im Material wurde die Orientierung an Körpernormen besonders bei Frau Meine, aber auch bei Frau Henning-Löw deutlich. Andere Befragte – etwa Frau Kamps – beziehen sich nicht auf Körpernormen, was nahelegt, dass eine diszipliniert-bewusste Ernährung auch jenseits ihrer sichtbaren Konsequenzen am Körper bereits für sich als Ausweis ›richtigen‹ Verhaltens gelesen werden kann. Da wohl jeder kulturelle Diskurs seine Gegenseite mit produziert, ist es kaum erstaunlich, dass sich im vorgestellten Material auch Widerstände gegen den Imperativ der ›gesunden‹ Ernährung finden, wie etwa bei Frau Müller, die ihre ›ungesunden‹ Vorlieben verteidigt, auch mit Verweisen auf das seelische Wohl, das ›ungesundes‹ Essen zu stiften vermöge. Solche widerständigen Argumente bringen letztlich ein eigenes moralisches Postulat vor, indem individuellen Rechten und Unabhängigkeit ein größerer Wert zugestanden wird als der blinden Verpflichtung auf den kulturellen Wert der ›Gesundheit‹ (Crossley 2003: 512). Allerdings lässt sich auch eine Gemeinsamkeit zwischen beiden Haltungen beobachten, denn in beiden geht es um die »Sorge um sich« (Foucault 1986b: 62). Die Art und Weise, wie man für sich selbst sorgt und ob dabei die Sorge um den Körper oder um die Seele im Vordergrund steht, ist prinzipiell etwas, was die Subjekte für sich entscheiden können, wobei wie gezeigt in den westlichen Industriegesellschaften die Sorge um den Körper kulturell dominanter zu sein scheint. Daneben wird Essen als potentiell giftig thematisiert. Hier geht es um Rückstände von Pestiziden, Konservierungsstoffe, gentechnische Veränderungen oder allgemein um »Chemie« im Essen. Eine Überschneidung mit der zuvor dargestellten Konzeption des handwerklichen Konsums ist erkennbar, da insbesondere industriell hergestellte Lebensmittel als ungesund im Sinne von potentiell schädlich verstanden werden. Gesundheit wird in Verbindung gebracht mit biologisch angebauten Rohstoffen und verarbeiteten Produkten, die nicht unnötig versetzt sind mit »unnatürlichen« Zusatzstoffen. Einige Befragte weisen auch auf Allergien oder Unverträglichkeiten hin, die eine spezielle Ernährung erfordern. Auch hier werden Produkte des industriellen Mainstreams problematisiert, da die mangelnde Transparenz in Bezug auf Inhaltsstoffe von Allergikern als Risiko gesehen wird. In Zusammenhang mit Allergien wird gesundheitsbewusste Ernährung als unumgehbares Muss dargestellt, Ernährungsveränderungen erscheinen hier nicht als freie Entscheidungen für einen Lebensstil, sondern als schlichte Befolgung von medizinischen Notwendigkeiten.29 In Hinblick auf diese Dimension ungesunder Lebensmittel scheint insbesondere auch eine diffuse Angst
29 Zu diesem Ergebnis kommt auch Sarah Marie Hall (2011: 634) in einer ethnographischen Studie über die Alltagsethik des familiären Konsums in Nordengland.
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eine Rolle zu spielen, die mit Intransparenz und mangelndem Wissen in Bezug auf die Wirkungen der Inhaltsstoffe zu tun hat: »Ich würde gerne dafür sorgen dass mehr natürlische Produkte (.) vertrieben werden dass mehr Tiere (.) unter (.) lebenswerten Bedingungen groß werden können bevor se geschlachtet werden dass mehr äh Pflanzen nich mit irgendwelchen äh äh Schemikalien hier zugeschüttet werden oder womöglich genver- genmanipuliert werden (.) allein dieses Genmanipulierte dat is etwas wovor ich echt ich sag mal n richtiggehenden Horror hab weil ich nich weiß wie diese Sachen auf einen- auf den menschlichen Organismus wirken (.) das is ja (2) das is ja- (.) (
) Art von Manipulation isja (.) man kann es machen und
man weiß aber nich wie’s rau- was dabei raus kommt (.) et kann zum Beispiel sein dass dass durch Genmanipulation zum Beispiel Krebs entsteht es kann ja möglich sein man weiß es nich« (Frau Müller)
Letztlich wird somit deutlich, dass es bei dieser Variante der Diskussion von ›gesunden‹ Lebensmitteln nicht um Ernährung geht, sondern wiederum um die Frage des ›natürlichen‹ Essens. In dieser Deutung treffen die Konzeptionen des ›guten‹ Konsums als handwerklichen Konsums sowie als bewusster Ernährung aufeinander: Der Konsum ›natürlicher‹ Produkte stellt gewissermaßen das Mittel dar, um sich in gesundheitsorientierten Praktiken zu engagieren (zum Begriff der »Natürlichkeit« vgl. Kap. 5, Fußn. 19). 5.2.4 Genügsamkeit und die Konzentration auf das Notwendige Eine vierte typische Konzeption des ›guten‹ Konsums betrifft die Unterscheidung zwischen »Brauchen« und »Nichtbrauchen« bzw. zwischen »Nötigem« und »Überflüssigem«. Bereits die Wortwahl in manchen Interviews (»unnötig«, »überflüssig«) deutet darauf hin, dass mit der Differenz moralische Wertungen verknüpft sind. Es geht hier gewissermaßen um eine moralische Kernfrage der Konsumkultur: Wann ist Konsum legitim (= nötig) und wann nicht (= unnötig)? Gemeinsam ist diesem Orientierungsrahmen, dass die Beschränkung auf das Brauchbare und Notwendige als moralisch ›gut‹ gewertet wird, während alles darüber Hinausgehende mit Verschwendung assoziiert wird. Dabei geht es vor allem darum, die Verschwendung des eigenen Geldes zu vermeiden – so dass das Motiv der Sparsamkeit eng mit der Konzentration auf das Notwendige verbunden ist. Generell wird abgelehnt, Lebensmittel zu kaufen, auf die man keine Lust hat. Auch zu viel zu kaufen, wird mit der Gefahr assoziiert, Lebensmittel später womöglich wegwerfen zu müssen und daher zu verschwenden. Was als »notwendig« empfunden wird, ist dabei aber keineswegs gleichzusetzen mit dem
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objektiv Überlebensnotwendigen, andererseits wird aber auch nicht jedes Essen, nach dem die inneren Lüste verlangen, als notwendig verstanden. Die zentralen moralischen Tugenden, die im Rahmen dieser Konzeption des ›guten‹ Konsums zum Vorschein kommen, sind somit Genügsamkeit und Sparsamkeit.30 Diese Orientierungen sollten keinesfalls als reine ökonomisch-rationale Kalkulation aufgefasst werden, vielmehr geht es um eine ethisch-moralische Haltung, die dem Postulat folgt: »Bescheide Dich, verzichte auf (übermäßigen) Luxus und beschränke Dein Konsumverhalten auf das Notwendige.« In dieser Haltung lassen sich – wie bereits in Kapitel 5.2.3 – gewisse säkulare Überbleibsel einer protestantischen Ethik der innerweltlichen Askese (Weber 2006 [1904/1905]: 169) finden, deren nachhaltiger Einfluss in der Literatur vielfach betont worden ist (z.B. Buchholz 1998: 874; Steigerwald 2008; Witkowski 2003). Für die Zeit seit den 1960er Jahren wird jedoch eine nachlassende Bedeutung – wenngleich kein Verschwinden – dieser Arbeitsethik konstatiert, zugunsten einer Gesinnung, die Freizeit, Genuss und Luxus als Werte an sich versteht (Wiswede 2000: 55). Auch bei dieser Orientierung lassen sich verschiedene Varianten spezifizieren: •
Erstens wird die Konzentration auf das Notwendige in Zusammenhang mit Genügsamkeit diskutiert. Einige Befragte bringen eine spartanische Haltung in Bezug auf Essen und Lebensmittel zum Ausdruck: Essen wird hier als »Benzin« (Lupton 1996: 143) begriffen, das dazu dient, den Körper am Laufen zu halten, um sich Wichtigerem widmen zu können. Eine asketische Haltung kommt hier nicht unbedingt in Hinblick auf die Menge des Essens zum Ausdruck, sondern eher in Bezug auf die Zeit und den Aufwand, den man in die Vorbereitung und Planung des Essens investiert, sowie die Frage, ob man sich »etwas Besonderes« leistet oder nicht. Diese Haltung lässt sich gewissermaßen als Gegenstück zu einer Genussorientierung lesen, in deren Zentrum die Suche nach neuen – möglicherweise exotischen – Geschmackserlebnissen steht, in die auch Geld investiert wird. Die Befragten, die nicht nach Besonderheiten und Genuss suchen, bringen aber zum Ausdruck, dass kleine Genussausgaben – etwa der Selbstverwöhnung dienende Leckerbissen (Miller 1998: 40ff.) – erlaubt sind. Dies sei an einem Kommentar von Frau Müller illustriert: »n
30 Diese Tugenden beschreiben Huttunen und Autio (2010: 147) in ihrer finnischen Studie als zentrale Elemente des »agrarian consumer ethos«, den sie vor allem unter den Befragten finden, die in den 1920er und 1930er Jahren geboren wurden und somit durch Krieg und die Nachkriegszeit geprägt wurden.
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bisschen Luxus leist ich mir auch, meine Süßigkeiten die kauf ich mir.«31 Ein gewisser Grad an »Luxus« wird hier durchaus als notwendig dargestellt, insofern ein Verzicht mit einer seelisch belastenden Entbehrung in Verbindung gebracht wird. Im Material kommt somit in erster Linie keine absolute, sondern eine relative Genügsamkeit zum Ausdruck. Zweitens geht es um die Frage, welche Produktcharakteristika von Lebensmitteln notwendig bzw. überflüssig sind. Hierbei spielen Sparsamkeit und Preise eine wichtige Rolle: Als unnötig oder überflüssig werden insbesondere Produkte begriffen, die aufwändig verpackt sind und mehr kosten. Auch der Kauf von Markenprodukten wird in Zusammenhang mit unnötigen Mehrausgaben thematisiert, da Marken bei einem höheren Preis häufig kein höherer Nutzen zugesprochen wird als vergleichbaren, aber günstigeren No-Name-Produkten oder Handelsmarken: Damit ist keinesfalls gemeint, dass Markenprodukte generell abgelehnt würden, hier werden im Material durchaus unterschiedliche Präferenzen deutlich. Im Zusammenhang mit der Präferenz von Markenartikeln wird allerdings stets der bessere Geschmack thematisiert (»ansonsten auch gerne viele Markenartikel, weil die einfach auch n andern Geschmack haben«; »zum Beispiel bei Kaffee sin wir zum Beispiel da nehmen wir nur Marke aber da muss ich auch sagen gibt es wirklich geschmackliche Unterschiede«), höhere Preise sind nur gerechtfertigt, wenn die Marke als Synonym für Qualität steht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass beim Verzehr spürbare Eigenschaften wie guter Geschmack, Frische und gute Konsistenz als notwendige Produkteigenschaften angesehen werden. Dagegen werden Eigenschaften, die nicht das eigentliche Verzehrerlebnis betreffen – die Optik, die Verpackung, die Markensymbolik –, eher als verzichtbar dargestellt oder gar offen als unnötig abgelehnt. Darüber hinaus wird im Material drittens ein Bezug zur Notwendigkeit in der Frage sichtbar, welches Essen als kulturell adäquat gilt. Hier geht es nicht um Askese oder Selbstkontrolle, sondern um kulturelle Selbstverständlichkeiten. Dies wurde im Interview nur dann explizit deutlich, wenn die Notwendigkeit eines bestimmten Essens in Frage gestellt wurde. Bei Frau Müller zeigte sich dies etwa darin, dass sie gegenüber dem Intervie-
31 Alan Warde weist darauf hin, dass eine der zentralen Botschaften zeitgenössischer Diskurse über Essen besagt, dass wir gesund essen sollen, aber nicht, wenn es uns traurig macht: Der Genuss von ungesundem Essen wird durch den Bedarf der Seele oder des Gemüts gerechtfertigt (1997: 79). Insofern erfahren viele Menschen eine Spannung zwischen der Orientierung an gesunder Ernährung und dem Bedürfnis nach »Nervennahrung«.
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wer den Kauf größerer Mengen günstigen Fleisches verteidigt, indem sie darauf verweist, dass sie ihrem Sohn ein vernünftiges Essen bieten wolle. Fleisch wird hier insofern als notwendig verstanden, als es zu einem ordentlichen Essen einfach dazugehöre (vgl. Charles/Kerr 1988: 18). Was als notwendig empfunden wird, wird dabei wesentlich durch die Küche mitbestimmt – verstanden als das kulturelle Regelwerk, das definiert, welche Lebensmittel zusammenpassen und wann welche Speisen gegessen werden (Barlösius 1999: 123). So kommen in den Interviews immer auch bestimmte Auffassungen, welches Essen zu einem typischen Frühstück, Mittag- oder Abendessen gehört, zum Ausdruck. Meist wird nicht explizit thematisiert, welche Bestandteile dieser Mahlzeiten als unverzichtbar verstanden werden, vielmehr zeigt sich, dass es hier um Selbstverständlichkeiten geht. Was als notwendig gilt, ist damit auch abhängig von der Kultur (Sombart 1967 [1922]: 86). 5.2.5 Fazit Insgesamt kann festgehalten werden, dass sich vier typische Sinnkonzeptionen voneinander abgrenzen lassen, in denen jeweils moralische Trennungen zwischen ›gutem‹ bzw. ›richtigem‹ und ›schlechtem‹ bzw. ›falschem‹ Lebensmittelkonsum vorgenommen werden. • •
•
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Erstens kann ›guter‹ Konsum bedeuten, als Konsument Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext zu übernehmen. Zweitens kann es als ›gut‹ gelten, ›authentisch‹ zu konsumieren, womit gemeint ist, dass der mit dem Konsum verbundene Sinn selbst produziert worden ist. Dies kann etwa gelingen, indem ›handwerklich‹ bzw. ›naturnah‹ hergestelltes Essen konsumiert wird oder eigene Arbeit in das zu konsumierende Essen investiert wird. ›Guter‹ Konsum kann – drittens – auch als Engagement in gesundheitsförderlichen Praktiken begriffen werden. Insbesondere Selbstkontrolle und Disziplin werden hier als Ausweis einer moralisch tugendhaften Praxis gedeutet. Viertens kann es als moralisch ›gut‹ gelten, sich auf das Notwendige zu beschränken sowie genügsam und sparsam zu sein.
Die hier herausgearbeitete Typik beansprucht Geltung insbesondere für die breite Mehrheit derjenigen, für die der Konsum von Lebensmitteln eher eine gewöhnliche Alltagstätigkeit ist und deren Selbstidentität nicht in starkem Maße
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um ethischen Konsum zentriert ist. Die Typik beansprucht keine Vollständigkeit, da sich andere Vorstellungen des ›Guten‹ durchaus vereinzelt im Material andeuten.32 Die vier aufgezeigten Typen sind aber insofern markant, als sie in den Interviews immer wieder auftauchten. Der Vergleich mit anderen Typiken bestätigt, dass hier besonders bedeutsame Orientierungen erfasst wurden: Die zentralen alltagsmoralischen Orientierungen, die Sarah Marie Hall (2011) in ihrer ethnographischen Untersuchung von Familien in Nordwest-England ermittelt hat, sind die Unterscheidung zwischen Bedarfen und Wünschen, ein sorgfältiger Umgang mit dem verfügbaren Budget, die Vermeidung von Verpackungsmüll und Lebensmittelverschwendung sowie eine Sorge um die Gesundheit der Familienmitglieder. Die Behandlung dieser Themen findet sich auch bei den hier befragten deutschen Konsumenten wieder. Bente Halkier zeigt auf Basis von Interviews mit dänischen Konsumenten vier Typen des Verständnisses von Essenspraktiken auf: Essen wird von den Befragten als Notwendigkeit, Vergnügen, Beitrag zur Gesundheit sowie als Projekt zur Verbesserung der Welt konzipiert (2010: 51-55). Parallelen finden sich auch zu Eva Barlösius’ Grundmustern der gegenwärtigen Essmoral (2004). Die von ihr herausgearbeiteten moralischen Gebote, sich gesund zu ernähren, das Essen früherer Zeiten zu romantisieren und »Bio« gegenüber »Chemie« zu bevorzugen, spiegeln die beiden Konzeptionen des ›guten‹ Konsums als handwerklicher Konsum bzw. als (gesundheits-) bewusste Ernährung wider. Allerdings sind zwei wesentliche Unterschiede zu benennen: Zum einen konzentriert sich Barlösius auf das Essen, während die hier vorgeschlagene Typik das Kaufen stärker berücksichtigt – gerade die Orientierung an konsumtiver Verantwortung wird vornehmlich über den Kauf der ›richtigen‹ Produkte verwirklicht. Zum anderen nimmt Barlösius eine andere theoretische Perspektive ein: Sie sieht Moral als »kollektiv geteilte Überzeugungen« (ebd.: 48), die zentralen moralischen Gebote sieht sie als gesellschaftsweit 32 Erwähnenswert ist insbesondere eine weitere konsummoralisch relevante Konzeption: Dabei handelt es sich um die – durch Adam Smiths Werk über den Reichtum der Nationen (Smith 1776) bekannt gewordene – Vorstellung, dass privater Konsum positive Auswirkungen auf das Gemeinwohl habe. Jedoch bringt dies lediglich eine Befragte explizit zum Ausdruck. Auf die Frage des Interviewers, ob man mit Konsum ›Gutes‹ tun könne, antwortet Frau Claus: »Ja die Wirtschaft ankurbeln ne ich meine wenn ich kaufe dann profitieren die anderen auch davon.« Angesichts des Umfangs des Materialkorpus und der jahrhundertealten Tradition von Smiths Idee (Hilton 2004: 103) erscheint bemerkenswert, dass diese Vorstellung des ›guten‹ Konsums nicht öfter zum Ausdruck gebracht wird. Möglicherweise lässt sich daran ablesen, dass diese Deutung angesichts der mittlerweils seit Jahrzehnten geführten öffentlichen Debatten um die Zerstörung der natürlichen Ressourcen der Erde deutlich an Legitimität eingebüßt hat.
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anerkannt, was gerade in Rechtfertigungen bei praktischen Abweichungen zum Ausdruck komme. Hier wird dagegen in Betracht gezogen, dass Akteure nicht nur in der Handlungspraxis von kollektiven moralischen Geboten abweichen, sondern dass moralischen Ansprüchen unterschiedliche Prioritäten zugemessen werden können bzw. dass einige Ansprüche zugunsten anderer zurückgewiesen werden können. Die hier eingenommene theoretische Perspektive geht davon aus, dass die Befragten im Laufe ihres Lebens mit verschiedenen Erfahrungen konfrontiert sind, aus denen unterschiedliche Moralvorstellungen und Prioritäten resultieren können. Sie lässt daher Raum für eine Pluralität genuin moralischer Überzeugungen und nicht nur für verschiedene Rechtfertigungen von Abweichungen einer allgemein geteilten und anerkannten Moral. Gleichzeitig zeigen die Typik und der hier vorgenommene Vergleich mit anderen Typiken aber auch, dass der Vorrat an moralischen Sinnkonzeptionen beim Konsum von Lebensmitteln doch relativ begrenzt ist. Es kann kaum die Rede davon sein, dass sich das moralische Klima in zahllose Narrative zerstreut habe, wie postmoderne Theoretiker behaupten (vgl. Cherrier 2007: 321). Zumindest dürfte dies für die breite Mehrheit ›gewöhnlicher‹ Konsumenten gelten, auf die das Sample abzielte und für die es daher Geltung beanspruchen kann. Die in den gegenwärtigen Gesellschaften beobachtbare Vielfalt besteht weniger in unzähligen Erzählungen darüber, was ›guter‹ Konsum sei, als in den komplexen Arten und Weisen, wie Akteure die verschiedenen Konzeptionen des ›guten‹ Konsums miteinander verbinden und wie sie ihr praktisches Handeln reflexiv in Bezug zu moralischen Ansprüchen setzen. Damit ist die Relation der unterschiedlichen moralischen Orientierungen zueinander angesprochen, die nun abschließend zu reflektieren ist: Es stellt sich die Frage, inwiefern die vier Konzeptionen des ›guten‹ Konsums anschlussfähig aneinander sind oder ob sie im Gegenteil dazu tendieren, als widersprüchlich erlebt zu werden. Insgesamt scheint sich hier jedoch kein einfaches Muster der Relationen der verschiedenen Konzeptionen des ›guten‹ Konsums zueinander aufzeigen zu lassen.33 Dies sei hier lediglich an drei Beispielen aus den Falldarstellungen illustriert: •
Erstens kann ein Verständnis des ›guten‹ Konsums als Übernahme gesellschaftlicher Verantwortung einhergehen mit der Vorstellung, dass diese über den Konsum »handwerklich« produzierter Lebensmittel realisiert
33 Bente Halkier kommt in ihrer Studie junger dänischer Konsumenten zu dem ähnlichen Ergebnis, dass sich keine geradlinigen Beziehungen postulieren lassen zwischen verschiedenen Verständnissen von Essenspraktiken und der Art und Weise, wie sie sich zu Ansprüchen, man solle umweltbewusst konsumieren, positionieren (2010: 55).
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werden kann – was etwa bei Frau Kamps deutlich wurde. Dies ist allerdings keine zwingende Notwendigkeit, kann doch konsumtive Verantwortung auch durch den Boykott von Marken – siehe Frau Kurz – oder den Verzicht auf Fleisch – siehe Herr Martens – vollzogen werden. Zweitens scheint auf den ersten Blick eine hohe Affinität zu bestehen zwischen einem Verständnis des ›guten‹ Konsums als Konsum handwerklich oder traditionell produzierter Lebensmittel und der Orientierung an (gesundheits-)bewusster Ernährung. Dies ist allerdings lediglich dann der Fall, wenn – wie bei Frau Kamps und Frau Müller – Gesundheit mit »Chemie« im Essen in Verbindung gebracht wird, nicht aber, wenn gesund zu essen ausschließlich ernährungsphysiologisch verstanden wird, da es in diesem Fall lediglich wichtig ist, die richtige Nährstoffkombination zu sich nehmen, egal wie die Lebensmittel produziert wurden. Drittens scheint eine Spannung zwischen einer Konzentration auf das Notwendige und den anderen drei Konzeptionen des ›guten‹ Konsums zu bestehen: Wer Sparsamkeit als moralische Tugend begreift, wird tendenziell Schwierigkeiten mit der Vorstellung haben, mehr Geld für fair gehandelte oder ökologisch angebaute Lebensmittel auszugeben. Diese Spannung findet sich auch im Material wieder: Bei Frau Müller etwa zeigt sich ein Konflikt zwischen einer Orientierung an Sparsamkeit und an Essen ohne »Chemie« (vgl. auch den Fall von Frau Steinhoff in Kapitel 6.1.3, in dem sich ein Konflikt zwischen »fairem« Konsum und Sparsamkeit dokumentiert). Herr Martens erkennt bei Obst und Gemüse die Geltung der Logik des handwerklichen Konsums als »besser« nicht an, was ebenfalls in Zusammenhang mit der Konzentration auf das Notwendige und der Vermeidung überflüssiger Ausgaben steht. Allerdings finden sich auch Beispiele, in denen eine Orientierung an Notwendigkeit mit den anderen Typen verknüpft wird: Wie bereits erwähnt, kann eine Orientierung an konsumtiver Verantwortung nicht nur über das Kaufen ›ethischer‹ Produkte bedient, sondern über Konsumboykotte mit einer Orientierung an Sparsamkeit verbunden werden (vgl. den Fleischverzicht von Herrn Martens, weitere Beispiele finden sich in Kap. 6.2.5). Diejenigen, die ›Gesundheit‹ in erster Linie ernährungsphysiologisch deuten, konstatieren darüber hinaus, dass ›gesunde‹ Ernährung unabhängig vom ökonomischen Kapital sei (vgl. dazu die Argumentation von Frau Amann in Kap. 7.1.1).
Insgesamt zeigt sich damit, dass die jeweils moralisch hoch gewerteten Eigenschaften der vier Typen von den Interviewpartnern nicht zwangsläufig als zu-
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sammengehörig betrachtet werden, sondern dass vielmehr in den Ausführungen eine Vielzahl komplexer Beziehungen der jeweiligen Moraltypen zum Ausdruck kommt. Auf Basis dieser Beispiele sei abschließend darauf hingewiesen, dass Abstand genommen werden sollte von der Annahme simplifizierter Relationen zwischen den einzelnen Typen der Konsummoral in der Art und Weise: »Wer sich gesund ernährt, der wird auch ökologisch angebaute Produkte bevorzugen.« Dass sich für jeden der Moraltypen verschiedene Varianten auffinden lassen, sollte als Hinweis darauf verstanden werden, dass eher vielfältigere Sinnverknüpfungen zwischen den Typen möglich sind.
6 Konsummoral in der Alltagspraxis
Im vorigen Kapitel stand das Ziel im Mittelpunkt, typische Konzeptionen des ›guten‹ Konsums von Lebensmitteln aufzuzeigen. Nachdem ich damit die Vielfalt der im Material aufgefundenen Ideale präsentiert habe, nehme ich in diesem Kapitel das Verhältnis von Konsummoral und Alltagspraxis in den Blick. In der Konsumforschung wird häufig davon ausgegangen, dass abstrakte Werte und moralische Ideale in den Köpfen der Menschen existieren, aber mit der Handlungsrealität nur relativ wenig zu tun haben. Dies kommt zum Ausdruck im verbreiteten Konzept des »attitude-behaviour gap« (vgl. z.B. Barcellos et al. 2011; Boulstridge/Carrigan 2000; Carrigan/Attalla 2001), das eine Lücke zwischen Einstellungen und Handeln postuliert. Dass der Alltag mit seinen Zwängen immer auch einschränkende Wirkungen hat, erscheint unmittelbar einsichtig. Die Vorstellungen des ›guten‹ Konsums können in der Praxis nicht eins zu eins umgesetzt werden. Das Einkaufen, die Zubereitung von und die Mahlzeiten selbst müssen in den eigenen Tagesablauf eingepasst, mit anderen Tätigkeiten und gegebenenfalls auch mit anderen Personen zeitlich und organisatorisch abgestimmt werden. Eine Vielzahl praktischer Gegebenheiten spielt dabei eine Rolle, da von ihnen abhängt, welches Essen in welcher Situation mit welchem Aufwand verfügbar ist. Ein Beispiel dafür wurde bei Herrn Dürnberger sichtbar, der sich einerseits am Ideal eines sozial und ökologisch »fairen« Konsums orientiert, andererseits aber einen spontanen Lebensstil pflegt und infolgedessen von Situationen berichtete, in denen »faire« Produkte gar nicht verfügbar waren. Andererseits ist aber zu berücksichtigen, dass die Strukturen des Alltags immer auch eine ermöglichende und generierende Wirkung haben (vgl. Giddens 1984: 25, 169). George Herbert Mead argumentiert, dass konkrete Situationen zur Formung unserer Werte beitragen (vgl. Kap. 3.1.2): Dies lässt sich so verstehen, dass Menschen in konkreten Situationen immer auch etwas darüber lernen, wie bestimmte Handlungsprobleme gelöst werden können. Erst auf Basis dieser
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Erfahrungen können sich moralische Urteile über ›richtig‹ und ›falsch‹ überhaupt ausbilden. So zeigt sich in den Ausführungen der Befragten keineswegs nur das Scheitern, sondern auch das Gelingen ethischer Handlungspraxis: Die Gleichzeitigkeit dieser beiden Seiten lässt sich wiederum gut am Fall von Frau Müller illustrieren, die mit schlechtem Gewissen günstiges Fleisch – von dem sie vermutet, dass es aus Massentierhaltung stammt – für ihren Sohn kauft. Hier zeigt sich neben dem praktischen Misslingen der Orientierung am Tierwohl auch die Fürsorge für das Wohlergehen des Sohnes, der sich Fleisch als Bestandteil seiner Mahlzeiten wünscht. Konsumenten orientieren sich in Hinblick auf ihren Lebensmittelkonsum nicht lediglich an einem ethischen Ziel, sondern gleich an mehreren Zielen, die manchmal – je nach Situation – miteinander vereinbar sein mögen oder auch nicht, manchmal aber auch grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zueinander stehen. Gerade diese Uneindeutigkeit spezifischer Situationen in Hinblick auf konsummoralische Fragen macht den Blick auf die Alltagspraxis so interessant. Zwei Punkte haben sich dabei als besonders relevant erwiesen: •
•
Erstens zeigte sich im Material, dass Konsummoral mit anderen Personen, insbesondere anderen Haushaltsmitgliedern, diskutiert und ausgehandelt wird (Kap. 6.1). Für die Einzelnen sind diese Auseinandersetzungen zudem oft Auslöser eines Nachdenkens über die eigene Praxis. Daher ist zweitens das Verhältnis von Reflexivität und Routine zu betrachten (Kap. 6.2). Mit Reflexivität wird oft die Hoffnung auf einen bewussteren und damit auch besseren Konsum verbunden (Johnston/Szabo 2011). Allerdings zeigt sich, dass Reflexivität nicht notwendigerweise zu einer Veränderung eingespielter Routinen führt, sondern diese auch bekräftigen kann.
6.1 D IE
INTERAKTIVE V ERHANDLUNG VON K ONSUMMORAL IM K ONTEXT DES
H AUSHALTS
Moralische Haltungen sind nicht adäquat fassbar, wenn man davon ausgeht, dass sie in atomistischer Weise durch jeden Einzelnen selbst hervorgebracht werden. In diesem Kapitel möchte ich zeigen, wie konsummoralische Positionen im Umgang mit anderen Personen im lebensweltlichen Kontext der Akteure hervorgebracht werden. Die Argumentation ist im Folgenden zunächst vor allem auf die Verhandlung von Konsummoral in Partnerschaften und Familien bezogen. Natürlich kann die gesamte Argumentation auch weiter gedacht und auf die Ver-
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handlung von Konsummoral in anderen Haushaltsformen – etwa Wohngemeinschaften – und anderen sozialen Kontexten bezogen werden. Das vorliegende empirische Material weist jedoch auf die vorrangige Bedeutung von Partnerschaft und Familie hin. In privaten Haushalten findet ein bedeutender Teil des Konsums von Lebensmitteln statt: Menschen, die in Partnerschaften und Familien zusammenleben, essen häufig gemeinsam und tauschen sich über ihre Praktiken aus. Daher liegt es nahe, dass eine gegenseitige Orientierung auch in Bezug auf Konsummoral stattfindet. Diese These knüpft einerseits an einen Forschungsstrang der Soziologie des Essens an, der die soziale Organisation des Essens in Familien untersucht (vgl. Beardsworth/Keil 1997: 73-99), andererseits an die bereits eingeführte Literatur zur Moral des Konsums als Alltagspraxis (vgl. Kap. 2.2.4). Essen spielt der soziologischen und anthropologischen Literatur1 zufolge eine wichtige Rolle für die alltägliche (Re-)Produktion und Konstruktion von Familie, inklusive ihrer Identität, emotionalen Beziehungen und Machtbeziehungen (z.B. Charles/Kerr 1988: 17-38; DeVault 1994: 77-94; Lupton 1996: 37-67). In den wichtigen Studien der 1980er und 1990er Jahre wird die zentrale Rolle der Mütter betont, die meist den Hauptteil der Verpflegungsarbeit leisten. Mahlzeiten spielen eine wichtige Rolle in dem Bemühen der Frauen darum, Familie aktiv »herzustellen«, indem sie die Aktivitäten der Familienmitglieder koordinieren und sie zu gemeinsamen Zeiten um den Tisch versammeln (DeVault 1994: 7879), wodurch Austausch und gegenseitiges Vertrauen gefördert werden. Geteilte Essenspraktiken zielen demzufolge darauf ab, ein Gefühl der Einheit und Zusammengehörigkeit der Familie herzustellen (Charles/Kerr 1988: 17), wobei Frauen häufig ihre eigenen Präferenzen zurückstellen, um kollektiv geteilte Praktiken zu realisieren und Fürsorge für Partner und Kinder zum Ausdruck zu bringen (ebd.: 63). Allerdings ist kritisiert worden, dass sich diese Studien meist einseitig auf die Rolle der Frau und auf die Untersuchung der Kernfamilie mit Kindern konzentrieren, während gesellschaftliche Veränderungen der Geschlechterideologien, Haushaltsformen und Arbeitsteilung im Haushalt nicht genügend berücksichtigt werden (Kemmer 2000: 330).2 Diese Kritik wird durch 1 2
Für einen Überblick siehe Mennell et al. (1992). Dennoch sind es nach wie vor die Frauen, die einen Großteil der Verpflegungsarbeit leisten: Laut der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften 2008 bereiteten in 71 Prozent der befragten deutschen Haushalte mit gemeinsamer Haushaltsführung meist oder immer die Frauen Mahlzeiten zu, während dies in weniger als 6 Prozent der Haushalte hauptsächlich von den Männern übernommen wurde. Beim Einkaufen war die Aufteilung etwas ausgewogener, hier übernahmen in 43 Prozent der Haushalte die Frauen den Großteil der Arbeit, während in 45 Prozent der Haushal-
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Forschungsarbeiten bestätigt, die aufzeigen, dass die Verhandlung von Essenspraktiken innerhalb von Haushalten je nach Haushaltsform stark variieren kann (Valentine 1999) und dass Kinder eine zentrale Rolle in diesen Prozessen spielen (Carey et al. 2008). Gill Valentine zeigt etwa anhand von detaillierten Fallstudien die komplexen Dynamiken auf, die innerhalb von Familien ablaufen. Sie macht darauf aufmerksam, dass das Bild der Mutter, die über die Bereitstellung von Mahlzeiten Einheit und Zusammengehörigkeit der Familie herstelle, zu einfach sei (1999: 520). Zum einen tragen – sofern gemeinsame Essenspraktiken realisiert werden – auch andere Familienmitglieder dazu bei. Zum anderen wird neben dem Bemühen um Einheitlichkeit immer auch verhandelt, welche Lebensmittel einzelne Familienmitglieder zu welchen Zeiten und an welchen Orten für sich essen dürfen. Auch hierbei gibt es beträchtliche Differenzen zwischen den untersuchten Fällen. Während in einigen Familien individueller Konsum ausschließlich zu bestimmten Zeiten und Orten erlaubt ist (z.B. der Zeit in der Schule bzw. an der Arbeit) und zu Hause alle Familienmitglieder das Gleiche essen, werden in anderen Familien selbst zu den Kernmahlzeiten individuelle Vorlieben bedient. In der Literatur zur Alltagsmoral des Konsums ist betont worden, dass die Dynamik innerhalb von Familien eine wichtige Rolle dabei spiele, moralische Dispositionen und ethische Überzeugungen zu bekräftigen oder neu zu formen. Sarah Marie Hall (2011) zeigt in ihrer familienethnographischen Studie einige der vielfältigen Arten und Weisen, wie in Familien Fragen der Konsummoral verhandelt werden. Carey et al. (2008) berichten, dass in den von ihnen untersuchten Familien mit unter dreijährigen Kindern insbesondere die Mütter nach der Geburt ihres Kindes aktiv bestrebt gewesen seien, ›ethische‹ Konsumpraktiken zu verfolgen. Allerdings hätten sie – sobald die Kinder ihren eigenen Willen äußern konnten – oft zwischen ihren ethischen Präferenzen und den Wünschen der Kinder abwägen müssen (ebd.: 557). Insgesamt liegen bislang jedoch nur vereinzelte Ergebnisse darüber vor, wie sich Familienmitglieder in ihren konsummoralischen Überzeugungen gegenseitig beeinflussen, weshalb sich zentrale Fragen noch nicht annähernd klar beantworten lassen: Wie wird Konsummoral im Kontext des Haushalts verhandelt? Welche Folgen hat es für die wechselseitigen Beziehungen in der Familie, wenn ein Familienmitglied seine Überzeugungen und die damit verbundenen Praktiken ändert? Kommt es zu einer Konvergenz der moralischen Überzeugungen und, wenn ja, wann? Welche praktischen Arrangements werden getroffen, um mit divergierenden Ansichten umzugehen? Welchen Regelmäßigkeiten und Mustern folgen Aushandlungen der te die Partner gemeinsam einkauften (GESIS – Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften 2011).
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Konsummoral? Gibt es so etwas wie moralische Instanzen in Haushalten, denen die anderen folgen? Um diese Fragen beantworten zu können, wird der Schwerpunkt im Folgenden auf die Erzählungen der Interviewpartner über Interaktionen mit Familienmitgliedern gelegt, in deren Zentrum Fragen des ›guten‹ bzw. ›richtigen‹ Konsums stehen. In der vorliegenden Studie wurden Interviews mit Einzelpersonen geführt, so dass die verschiedenen Sichtweisen mehrerer Familienmitglieder nicht in die Analyse einbezogen werden können. Dennoch kann für die interviewten Personen gezeigt werden, wie sie mit den erlebten Interaktionen umgegangen sind, inwiefern dies zu einer Veränderung oder Bekräftigung des eigenen Standpunktes geführt hat und wie dadurch aus ihrer Sicht die Beziehung beeinflusst wurde. Ziel dieses Kapitels ist es zu rekonstruieren, in welchen Varianten dies stattfindet. Dabei wird sichtbar, dass die Interaktionsprozesse einerseits auf sprachlich-kommunikativen Aushandlungen beruhen können, bei der sich die Akteure am Ende auf eine bestimmte Definition eines Problems einigen und eine gemeinsame Lösung suchen. Hierzu werden zwei Fälle präsentiert: zum einen Herr Martens, bei dem deutlich wird, dass die Familienmitglieder konsensorientiert handeln; und zum anderen Frau Steinhoff, bei der sich eine konflikthafte Variante zeigt, in der die Partner versuchen, strategisch ihre Geltungsansprüche durchzusetzen. Andererseits kann es bei Personen, die sich nahestehen, zu Anpassungen von Deutungen und Handlungen kommen, die durch das Verhalten von anderen Haushaltsmitglieder ausgelöst werden, aber mit diesen nicht kommunikativ verhandelt werden. So können etwa – wie am Fall von Frau Amann zu zeigen ist – die Fragen von Kindern wunde Punkte treffen und so Denkprozesse auslösen. Hier handelt es sich nicht um eine explizite Verhandlung von Konsummoral, sondern um Anstöße der Veränderung moralischer Positionen, die durch Familienmitglieder ausgelöst werden. Bezüglich der moralischen Inhalte, die verhandelt werden, wird deutlich, dass es in den meisten Fällen um eine Auseinandersetzung mit Vorstellungen geht, die sich auf konsumtive Verantwortung im Kontext beziehen (vgl. Kap. 5.2.1). Das vorliegende Material zeigt damit auch, dass es in Partnerschaften und Familien ein kontinuierliches und mehr oder weniger erfolgreiches Bemühen darum gibt, in Bezug auf den Konsum von Lebensmitteln – der viele verschiedene Dimensionen wie Geschmack, Gesundheit, gutes Gewissen und Geldfragen betrifft – einen gemeinsamen Umgang mit unterschiedlichen ethischen Ansprüchen zu finden.
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6.1.1 »Meine zwei Mädels sin eh jetzt Totalvegetarier aber isch brauch auch net jeden Tag Fleisch« – Herr Martens Herr Martens wurde bereits in Kapitel 5.1.8 vorgestellt. Dort wurde herausgearbeitet, dass er Themen wie den Einkauf im Discounter und den Einkauf von Obst und Gemüse weitgehend im Kontext der ökonomischen Lebenslage und Fragen der Notwendigkeit diskutiert. Nur angedeutet werden konnte allerdings, dass der Fleischkonsum eine Ausnahme im Interview darstellt, denn dieses Thema wird im Rahmen von konsumtiver Verantwortung (vgl. Kap. 5.2.1) diskutiert. Diese Divergenz der Orientierungsrahmen bei unterschiedlichen Produktbereichen ist erklärbar durch die interaktiven Verhandlungen des Themas innerhalb der Familie. Als das Gespräch auf den Konsum von Fleisch kommt, berichtet Herr Martens, dass er »früher gerne noch Wurst un Fleisch un so gegessen« hat. Allerdings habe er nun den Konsum von Fleisch drastisch reduziert. Dies diskutiert er unmittelbar in Zusammenhang mit der Ernährungsweise seiner Tochter und seiner Frau, die »eh jetzt Totalvegetarier« seien. Er betont dabei, dass auch er nicht jeden Tag Fleisch brauche. Interessanterweise stellt er die Reduktion seines eigenen Fleischkonsums als einen noch nicht abgeschlossenen Prozess dar, womit sich die Möglichkeit andeutet, dass Herr Martens selbst auf dem Weg zum »Totalvegetarier« ist. Als der Interviewer sich noch einmal versichert, inwiefern Herr Martens seinen Fleischkonsum reduziert habe, kommt es zu folgender Antwort: »Gewaltisch ganz gewaltisch jetz einma im Monat Stück oder alle zwei Monate (.) Weil Sie das grad so sachten hab isch auch zur Frau gesacht isch hab mir mal s gegönnt n Luxus isch hab mir ma hunderfünfzich Gramm Aufschnitt mitgebracht ne so gut da bezahl se halt mehr für un dat is so der kleine Luxus den ma sisch ma hin un wieder erlauben tut ne«
Herr Martens präsentiert sich hier als Beinahe-Vegetarier, woraus sich folgern lässt, dass er eine Nähe zur Praxis seiner Frau und seiner Tochter zum Ausdruck bringen möchte. Den Kauf von Wurst stellt er als Luxus und damit als Ausnahme dar und kommuniziert dies so auch innerhalb der Familie (»hab isch auch zur Frau gesacht«). Der Verwendung von Begriffen wie »Luxus« und »gönnen« lässt sich entnehmen, dass Fleisch für Herrn Martens ein begehrenswertes Lebensmittel ist, den Geschmack am Fleisch hat er also nicht verloren. Daraus lässt sich folgern, dass die vegetarische Ernährung von Herrn Martens‘ Frau und Tochter auch sein eigenes Konsumverhalten beeinflusst und er sich den Praktiken und Haltungen der Frauen annähert.
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Als Auslöser seines veränderten Konsumverhaltens thematisiert Herr Martens Fernsehberichte darüber, »wie die Menschen mit den Tieren umgehn«. Dabei wird deutlich, dass er sich moralisch über die Methoden der Tierhaltung empört und Konsumenten eine Mitverantwortung für problematische Praktiken der Massentierhaltung zuspricht: »Wieso müssen die hier von NRW Pferde bis nach Saudiarabien im LKW transportiern mit wenisch Wasser un so weiter un so fort warum müssn Hühner in Legebatterien hängn aufm DIN A4 Blättschen mit so viel Hühnern auf so wenisch Platz ne warum muss sowat sein wegen Konsum ne«
Als der Interviewer im weiteren Verlauf nachfragt, inwiefern auch der Vegetarismus der Tochter eine Rolle gespielt habe, wird deutlich, dass die Sendungen in der gesamten Familie rezipiert und verarbeitet wurden: »Das hat alles damit zu tun gehabt ne die habn auch die Berischte gesehn un d-d-die Tochter die fing Rotz un Wasser an zu heuln ne die war fix un fertisch danach ne un da war dat Thema für sie dursch ne un meine Frau gut i sa ma Vegetarier s gibt ja Vegetarier die essen ja auch keine Nudeln weil da Ei mit drin is un dat sin ja die die nenn sisch glaub isch ja sogar noch n bisschen anders ne [Interviewer: Veganer gibt’s] Veganer rischtisch also so extrem is et noch net also et werdn noch (spricht lachend) Nüdelschen (spricht wieder normal) gemacht un meine Frau hat auch kein Problem mir n Stück Fleisch zuzubereitn ne oder hier das pack isch nischt an oder so dat is net so«
Dem Bericht lässt sich entnehmen, dass Herrn Martens’ Tochter als unmittelbare Reaktion auf die Sendung eine Selbstfestlegung getroffen hat, kein Fleisch mehr zu essen (»da war dat Thema für sie dursch«). Implizit wird deutlich, dass die Tochter eine begründete ethische Position entwickelt hat. In der Beschreibung der Haltung seiner Frau thematisiert Herrn Martens den zwischenmenschlichen Umgang zwischen Vegetariern und Fleischessern. Veganismus lehnt er als eine zu rigide Haltung ab; die Weigerung, Fleisch anzufassen, fasst er als übertrieben affektiert und künstlich auf. Der Formulierung »so extrem is et noch net« lässt sich entnehmen, dass Herr Martens Spannungen und Konflikte zwischen sich und seiner Frau befürchtet, falls sie Veganerin werden sollte. Positiv bewertet wird hingegen ein respektvoller Umgang des Vegetariers mit der Orientierung des Fleischessers, was sich an der Bereitschaft seiner Frau, weiterhin Fleisch für ihn zuzubereiten, exemplifiziert. Implizit lässt sich auch entnehmen, dass der potentielle Konflikt in Bezug steht zur Organisation der Hausarbeit bei den Martens: Seine Frau kocht für alle, daher ist es bedeutsam, wie sie mit den divergie-
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renden Ansichten zum Thema Fleisch umgeht. Durch das fürsorgliche Eingehen auf ihren Mann wird der mögliche Konflikt aber gelöst. Eine Alternative bestünde darin, dass jeder für sich kocht, so dass keine Verständigung über den Umgang mit Fleisch nötig wäre. Insgesamt lässt sich Herrn Martens’ Ausführungen entnehmen, dass innerhalb der Familie in Bezug auf das Fleischessen ein kommunikativ-verständigungsorientiertes Handeln im Sinne von Habermas (1985a: 143ff.) stattfindet. Nach Habermas gibt es mit Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit drei Geltungsansprüche, die an Verständigung orientierte Sprecher bezüglich ihrer Aussagen erheben. Entsprechend werden bei den Martens drei Einverständnisse deutlich: • • •
Die Familienmitglieder sind erstens darin übereingekommen, dass es wahr ist, dass Tiere bei der Fleischproduktion gequält werden; dass es zweitens nicht richtig ist, dies durch Fleischessen zu unterstützen; und dass drittens dennoch auf die Essbedürfnisse einzelner Familienmitglieder Rücksicht genommen wird. Dieses letzte Einverständnis zeigt sich darin, dass die Familienmitglieder Herrn Martens’ Bedürfnis als wahrhaftig anerkennen.
Herr Martens sucht in seiner Selbstpräsentation trotz seines Geschmacks an Fleisch den Konsens mit seiner Frau und seiner Tochter. Umgekehrt dokumentiert sich, dass er ein verständigungsorientiertes Handeln auch von seiner Frau erwartet. 6.1.2 »Die Kinder werdn größer, da musste so n bisschen ma umdenkn« – Frau Amann Während bei Herrn Martens eine auf Konsens abzielende Kommunikation zwischen den Familienmitgliedern sichtbar wird, zeigt sich im Interview mit Frau Amann, dass die Auseinandersetzung mit ihren Kindern einen Prozess des Nachdenkens über Aspekte der Konsummoral ausgelöst hat. Frau Amann habe ich durch den Betriebsrat einer mittelständischen Firma kennengelernt, in der sie als Kauffrau ganztags im Versand arbeitet. Das Interview fand im Büro des Betriebsrats in der Firma statt. Sie ist zwischen 35 und 40 Jahren alt und lebt zusammen mit ihrem Mann, einer Tochter und einem Sohn. Beide Kinder sind im Alter zwischen 5 und 10 Jahren. Seit einigen Jahren arbeitet ihr Mann halbtags und kümmert sich verstärkt um Haushalt und Kinder. Die Aufgabenteilung bei der Verpflegung sieht so aus, dass Frau Amann in Absprache mit ihrem Mann
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einen groben Wochenplan aufstellt. Den wöchentlichen Großeinkauf erledigt sie dann alleine, während ihr Mann kleine Zwischeneinkäufe übernimmt und täglich kocht. Wie bei Herrn Martens geht es auch bei der Neuverhandlung von Konsummoral in Frau Amanns Familie um das Thema Fleisch. Deutlich wird insbesondere eine Abwägung zwischen dem Geschmack ihrer Familie an Fleisch (»Wir sind nu ma F- Fleischesser zu Hause«) und der Frage einer adäquaten Tierhaltung (»das findn wir eigentlich ganz wichtich […] dass es ne vernünftige Viehhaltung is«). Dazwischen müsse man einen »Mittelweg« finden. Frau Amann berichtet, dass die Familie Fleisch oft auf einem Bauernhof kaufe. Sie assoziiert diesen mit guter Tierhaltung, während sie Wurst aus dem Discounter mit schlechter Tierhaltung in Verbindung bringt (»ich lese viel ich höre viel und so mit Massentierhaltung klar da kann man mir natürlich jetz wieder vorwerfen die Wurst kauf ich zwar im Discounter is klar s is schon ne gewisse Diskrepanz«). Insgesamt zeigt sich, dass Frau Amann die Produktion und den Konsum von Fleisch als gegebene und hinzunehmende Realität akzeptiert, mit der sich Konsumenten ein Stück weit abzufinden haben. Der Konsum von Fleisch wird zwar als moralisch relevantes Handlungsfeld gerahmt, jedoch zieht sie praktische Gründe und den Geschmack der Kinder als Rechtfertigungen heran, Wurst im Discounter zu kaufen: »Un die Kinder essen eben auch gerne Wurst aufm Brot wie gesach- wir kaufen auch auf dem Bauernhof aber es gibt halt nur ne geringe Auswahl jetz an Wurst die kaufen wer auch schonma da nur wie gesacht s reicht auch nicht für die ganze Woche«
Der Geschmack an Wurst wird in dieser Passage als gegebene, natürliche Disposition der Kinder dargestellt, die eine gute Mutter bedienen müsse. Den Verweis auf die Fürsorge nutzt Frau Amann hier für die Legitimierung des Kaufs der in Hinblick auf tierethische Aspekte ›schlechten‹ Wurst. An anderer Stelle erzählt Frau Amann von einer gemeinsamen Autobahnfahrt mit den Kindern, bei der die Tochter einen Viehtransporter sieht und sich darüber ein Gespräch entwickelt: »N ganz konkretes Beispiel war da war ich mit mein Kindern unterwegs irgendwie auf der Autobahn und wir fuhrn an einem Viehtransporter vorbei so die obligatorischn voll mit Schweinen (.) und dann frachte mich meine Tochter die war glaub ich damals so vier immer wissbegierich ah wo fahrn die was isn das ja ich sach das sin- Schweine ja wo fahrn die denn hin hm ja un da hab ich gedacht was machste jetz gibt nur zwei Alternativen das Kind anlügen o- die Wahrheit sagn ich hab mich dann für die Wahrheit entschiedn ich hab gesacht ja die fahrn zum Schlachthof hm ja was machen die da ja ich sach gut die werdn
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dann leider dann getötet und daraus wird dann die Fleisch und Wurst also das Fleisch gemacht und die Wurst die wir essn un so und das ham wir dann vielleicht irgendwann aufm Teller da war sie ja aber auch mit zufriedn also da gings Gott sei dank dann nich mehr ganz so weit dass sie sich das alles so ausgemalt hat aber in dem Moment hat man dann schon so n bisschen auch gedacht hm die Kinder werdn größer da musste so n bisschen ma umdenkn«
Frau Amann bezeichnet Viehtransporte als »obligatorisch«, also als verpflichtend. Darin dokumentiert sich, dass sie Viehtransporte sowie die anschließende Tötung der Tiere als letztlich unvermeidlich ansieht.3 Dies ist gewissermaßen ihr Ausgangspunkt, und vor diesem Hintergrund stellt sich das Problem, den Kindern die gesellschaftliche Tatsache der Tötung von Tieren zu vermitteln (»gibt nur zwei Alternativen das Kind anlügen o- die Wahrheit sagn«). In dem anfänglichen Zögern (»was machste jetz«) zeigt sich zunächst ein Unbehagen, der Tochter die Wahrheit zu sagen. Hier kommt die Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen ethischen Vorstellungen über die Unantastbarkeit von Leben einerseits und der Faktizität des systematischen Tötens von Tieren andererseits zum Ausdruck: Frau Amann ›weiß‹, dass das Töten von Tieren ›eigentlich‹ falsch ist, trägt es aber dennoch über ihr Konsumverhalten mit. Das Zögern kann als Angst gedeutet werden, dass diese Haltung von den Kindern als ethisch ›falsch‹ entlarvt werden könnte, wodurch sie selbst angreifbar und das Verhältnis zu ihren Kindern infrage gestellt werden könnte.4 Aus der Erleichterung darüber, dass sich die Tochter das Geschehen im Schlachthof nicht »ausgemalt hat«, lässt sich folgern, dass Frau Amann selbst genau dies getan hat. Die Frage der Tochter hat ihr das Schlachten vor Augen geführt. Die Sorge darum, dass es ihrer Tochter auch so gehen könnte, ist ein Hinweis darauf, dass sie die Bilder vor ihren eigenen Augen offenbar als schrecklich oder gar grausam bewertet. Ihre Kinder möchte sie davor bewahren, Bilder zu sehen, die sie selbst als schrecklich empfindet. Der Interviewer fragt daraufhin nach, ob diese Situation dazu geführt habe, dass sie sich nach neuen 3
Als weiterer Beleg für diese These lässt sich anführen, dass Frau Amann wörtlich von »Viehtransporten« spricht. Hierin dokumentiert sich, dass sie Schweine als Nutztiere sieht, die in erster Linie für den Menschen da sind und die somit auch zum Nutzen des Menschen getötet werden dürfen. Der Begriff »Vieh« grenzt diese Tiere von wild lebenden Tieren sowie Haustieren ab, bei denen im Umgang andere Regeln gelten.
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Eine alternative Erklärung des anfänglichen Zögerns besteht darin, dass Frau Amann die Kinder nur mit Dingen konfrontieren möchte, die deren geistiger Reife entsprechen. Das Zögern erklärt sich dann aus der Frage, ob das Kind schon reif für die unangenehme, aber zu akzeptierende Wahrheit über die Tötung der Tiere ist.
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Bezugsquellen von Fleisch umgesehen habe, was Frau Amann bestätigt. Diese Umorientierung untermauert die Deutung, dass der Kauf von Fleisch auf dem Bauernhof in Verbindung mit dem Unbehagen an der Diskrepanz zwischen ethischen Vorstellungen über das Leben und der gesellschaftlichen Praxis des Tötens zu lesen ist. Da ein Verzicht auf Fleisch für sie keine Lösung darstellt, kann der Kauf von Fleisch aus ›guter‹ Tierhaltung als eine Brücke verstanden werden, der das Unbehagen an der Tatsache des Tötens erträglicher macht. Bemerkenswert ist insbesondere, dass die Kinder selbst der Erzählung zufolge keine moralische Bewertung geäußert haben – das moralische Problem sieht Frau Amann selbst. Dem lässt sich entnehmen, dass die Frage der Kinder die Neuausrichtung des Bezugs von Fleisch ausgelöst hat. Frau Amanns Tochter scheint mit ihrer Frage einerseits einen ohnehin vorhandenen wunden Punkt getroffen zu haben, allerdings wird dieser in besonderem Maße getroffen, da es die Tochter (und nicht etwa ein Nachbar) ist, die die Frage stellt. Die Beziehung zu den Kindern spielt also eine entscheidende Rolle für die Neuorientierung beim Fleischkauf. Es wird einerseits deutlich, dass die Fragen und letztlich bereits die Anwesenheit der Kinder einen Einfluss auf das Konsumverhalten der Eltern haben. Andererseits zeigt sich auch, wie Frau Amann ihre eigene moralische Haltung ihren Kindern vermittelt, indem sie das Fleischessen als Selbstverständlichkeit behandelt. Der Fall von Frau Amann ist theoretisch interessant, weil es – im Gegensatz zum Fall von Herrn Martens – nicht nur darum geht, wie Handlungen legitimiert werden. Stattdessen wird deutlich, wie Personen die Legitimierungsfähigkeit von Handlungen antizipatorisch einschätzen. Im Kontext der Familie scheint dies für Frau Amann bedeutsam zu sein, um einerseits ihrer Vorbildfunktion gegenüber den Kindern gerecht zu werden, andererseits aber auch, um potentielle Störungen der Harmonie innerhalb der Familie vorbeugend zu vermeiden. Im Vergleich mit Herrn Martens werden unterschiedliche familiäre Dynamiken deutlich: Während der familiäre Kontext bei Frau Amann eher dazu führt, ihre Haltung der Normalität des Fleischessens zu bekräftigen, wird diese Haltung bei Herrn Martens durch die Re-Orientierung seiner Tochter verändert. Zwar findet auch bei Frau Amann ein durch die Fragen der Kinder ausgelöstes Umdenken statt, das allerdings stärker an den Problemen orientiert ist, wie den Kindern die Tatsache des Tötens von Tieren zu vermitteln ist, während bei Herrn Martens’ Familie eine noch stärkere Orientierung am Wohl der Tiere sichtbar wird. Das Alter der Kinder spielt hierbei eine entscheidende Rolle: Herrn Martens’ Tochter ist älter und vertritt eine begründete ethische Position. Dagegen wird die Dynamik in Frau Amanns Familie zwar durch die Kinder angestoßen, im weiteren Verlauf aber eher durch Frau Amann selbst bestimmt. Welche Rolle
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Frau Amanns Mann – der für das Kochen zuständig ist – dabei einnimmt, bleibt unklar. Frau Amann berichtet lediglich, dass die Familie einmal im Jahr eine größere Portion Fleisch von einem Freund des Mannes erhalte, der in der Landwirtschaft tätig ist. Ihr Mann scheint die Umorientierung auf Fleisch vom Bauernhof offenbar mitzutragen, womöglich auch, um den Freund zu unterstützen. Eine konsensorientierte Verständigung zwischen den Partnern deutet sich auch bei Frau Amann zumindest an. Ein weiterer Unterschied liegt jedoch in der finanziellen Situation der Amanns und Herrn Martens’ Familie: Während Amanns sich als Doppelverdiener den wöchentlichen Einkauf von hochwertigem Fleisch im Hofladen leisten können, ist die finanzielle Lage von Herrn Martens prekär. Während es für Herrn Martens also gleich in doppelter Weise günstig ist, auf Fleisch zu verzichten – sowohl finanziell als auch emotional in Hinsicht auf das Familiengefüge –, sind beide Faktoren bei Frau Amann genau gegensätzlich gelagert. 6.1.3 »Ich würd das ehrlich gesagt gar nich so strikt machen, mein Freund is da halt eher sehr dahinter« – Frau Steinhoff Frau Steinhoff habe ich durch den Kontakt zu einem Verein, der sich im sozialen Bereich engagiert, kennengelernt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie zwischen 25 und 30 Jahren alt, hat vor kurzem ihr Studium abgeschlossen und arbeitet nun als Sozialpädagogin. Daneben engagiert sie sich ehrenamtlich. Sie hat keine Kinder und lebt gemeinsam mit ihrem Freund in einer Mietwohnung. Frau Steinhoff und ihr Freund planen den Einkauf gemeinsam und gehen zusammen oder – je nachdem, wer Zeit hat – einzeln einkaufen. Frau Steinhoff betont, dass sie »versuchen«, abends zusammen zu kochen. Ihren Ausführungen lässt sich jedoch entnehmen, dass letztlich jeder für sich kocht (»deshalb kochen wir dann immer zwei verschiedene Sachen«), da ihr Freund Vegetarier ist und sie nicht auf Fleisch verzichten möchte. Auffällig ist bei ihr eine große Bedeutung der Beziehungsdimension für das Konsumhandeln. Bei Frau Steinhoff wird somit eine Verhandlung von Konsummoral im Kontext von Partnerschaftsfragen deutlich. Zudem liegt hier ein Fall vor, in dem die Vorstellungen des ›guten‹ Konsums zwischen den Partnern divergieren, wodurch sich ein stärkerer Fokus auf eine Aushandlung von Spielregeln des Handelns ergibt. Dies zeigt sich bereits im explorativen Teil des Interviews in der Antwort auf die Frage, wie der Einkauf von Lebensmitteln bei Frau Steinhoff und ihrem Freund aussieht:
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»Also wir haben ne Haushaltskasse (.) und da zahlen wir ähm ich hab n halbes Jahr Haushaltsbuch geführt wie viel Geld wir im Monat so brauchen und dann ham wer rausgestellt dass (.) wir ungefähr zwischen also so ungefähr 240€ brauchen im Monat deshalb zahlt jeder von uns 120€ inne Haushaltskasse und damit gehen wer dann immer einkaufen (.) schön auch mit Zettel und so also is schon selten dass wir jetz einfach so drauf los gehen weil wir eben festgestellt haben dass man da so viel Geld verballert ne«
Frau Steinhoff präsentiert sich in dieser Passage als Konsumentin, die unnötige Ausgaben vermeidet und das Budget für Lebensmittel auf das Notwendige begrenzt. Das Haushaltsbuch und das Anfertigen eines Einkaufszettels sind Instrumente der Rationalisierung, die es ermöglichen, das objektiv notwendige Budget festzulegen (»ham wer rausgestellt dass wir […] 240€ brauchen«). Spontanen Gelüsten zu erliegen und Dinge außer Plan zu kaufen, wird hingegen als verschwenderisch dargestellt (»ist schon selten dass wir jetz einfach so drauf los gehen weil […] man da so viel Geld verballert«). An der fast durchgehenden Formulierung in der »Wir«-Form zeigt sich, dass die Frage des Budgets auf das gemeinsame Zusammenleben als Paar bezogen ist: Die Kosten werden gleichmäßig auf die Partner verteilt, als offene Frage lässt sich festhalten, dass es offenbar um Beziehungsgerechtigkeit geht. Die Forschung zum Umgang mit Geld in Paarbeziehungen hat gezeigt, dass das in den 1950er und 60er Jahren vorherrschende Modell, in dem das vom männlichen Verdiener eingebrachte Geld im Austausch gegen die weibliche Hausarbeit als Haushaltsgeld markiert wird, zunehmend erodiert. Stattdessen entstehen neue Formen des »money management« wie gemeinschaftliches Pooling oder getrenntes Geldmanagement (LudwigMayerhofer et al. 2011). Zumindest für den Bereich der Dinge des täglichen Bedarfs zeigt sich bei Frau Steinhoff und ihrem Partner ein Pooling von Geldressourcen und somit eine gemeinschaftliche und auf Gleichheit beruhende Form des Umgangs mit Geld. Interessant ist jedoch, dass Frau Steinhoff lediglich bei ihrem Bericht über das Führen des Haushaltsbuches die »Ich«-Form verwendet, woraus sich entnehmen lässt, dass der Wunsch nach Sparsamkeit und einem festen Budget in erster Linie von ihr selbst und nicht von ihrem Freund ausgeht. Dies bestätigt sich im weiteren Verlauf des Interviews, in dem sich ein Konflikt mit dem Freund in der Frage zeigt, eher hochpreisige oder eher günstige Produkte zu kaufen. Auf die Bitte des Interviewers zu skizzieren, worauf es ihr bei Produkten ankomme, antwortet sie: »Ähm wir kaufen zum Beispiel nur fairen Kaffee nur fairen Tee wir kaufen ähm (.) nur Freilandeier Bio-Milch (lacht kurz) ich würd das ehrlich gesagt gar nich so strikt machen
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mein Freund is da halt eher sehr dahinter eben Vegetarier und nur faire Sachen ne auch nich bei H&M kaufen und so (lacht)«
Frau Steinhoff distanziert sich hier vom Kauf der »fairen Produkte«. Dem lässt sich entnehmen, dass es eine Uneinigkeit zwischen den Partnern bezüglich der Frage gibt, welche Produkte eingekauft werden sollen. Ihren Freund typisiert sie als Vertreter eines radikal ökologisch orientierten Lebensstils (»eben Vegetarier«) mit einer rigiden, auf »faire« Produkte ausgerichteten Kauforientierung. In dem mehrfach verwendeten »nur« dokumentiert sich Frau Steinhoffs Wahrnehmung, dass ihr Freund seine Kriterien der Produktauswahl in der Partnerschaft weitgehend durchsetzt. Daraufhin fragt der Interviewer, ob sie die »fairen« Produkte auch kaufen würde, wenn ihr Freund nicht darauf bestünde: Frau Steinhoff: Jaa äh vielleicht nicht so sehr (.) ich würd nicht unbedingt nur den fairen Kaffee kaufen muss ich ehrlich sagen ich würd schon Freilandeier kaufen und so (.) aber ich weiß nich ob ich wirklich dann eben die teurere Milch und den fairen Kaffee und ähm Interviewer: Was ist der Unterschied warum Freilandeier aber keinen fairen Kaffee Frau Steinhoff: (lacht) Ja is ne gute Frage (lacht) Der is so teuer (lacht) Ja also eigentlich is einfach nur der Preis ich mein ich weiß was dahinter steckt und das is ja auch gut aber (.) n Sozialpädagogen-Gehalt is halt au nich so viel und wenn du nur auf solche wenn du nur solche Produkte kaufst dann geht das ganz schön ins Geld (.) das muss man einfach sagen (1) auch wenn ich damit vielleicht n bisschen ähm grade nicht die Meinung von nem Sozialpädagogen vertrete aber (lacht) ja so is das
Hier dokumentiert sich ein Orientierungsdilemma zwischen dem Preisniveau und sozial-ökologischen Kriterien (»ich würd nicht unbedingt nur den fairen Kaffee kaufen«). An anderer Stelle berichtet Frau Steinhoff, dass sie während ihrer Studentenzeit ganz überwiegend die »allerbilligsten« Produkte gekauft habe. Vor diesem Hintergrund lässt sich folgern, dass Frau Steinhoff einerseits die Orientierung des Freundes an »fairem« Konsum ein Stück weit internalisiert hat (»ich würd schon Freilandeier kaufen«). Auf der kognitiven Ebene erkennt Frau Steinhoff, dass die angesprochenen »fairen« Produkte moralisch besser sind als die konventionell produzierten bzw. gehandelten Varianten (»ich weiß was dahinter steckt, und das ist ja auch gut«). Dem Kauf steht aber die Relation zwischen den verfügbaren finanziellen Mitteln und dem für Lebensmittel vorgesehen Budget entgegen (»dann geht das ganz schön ins Geld«). Daraus lässt sich schließen, dass Frau Steinhoff den Kauf »fairer« Produkte gegen ihre Vorstellung eines vernünftigen Budgets für Lebensmittel abwägt. Die rechtfertigende Argumentation (»n Sozialpädagogen-Gehalt is halt au nich so viel«; »Das muss
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man einfach sagen«) deutet darauf hin, dass sie dem Interviewer – der schließlich ihre Inkonsequenz in Bezug auf »fairen« Konsum hinterfragt – eine ähnliche Haltung wie ihrem Freund zuschreibt. Daraus lässt sich schließen, dass es in der Beziehung eine Auseinandersetzung darüber gibt, nach welchen Kriterien der gemeinsame Einkauf erfolgen soll: Frau Steinhoff muss sich im Alltag offenbar ständig gegen die Position ihres Freundes verteidigen, und der Verweis auf das geringe Gehalt ist in diesem Konflikt ihr Argument gegen den Kauf von aus ihrer Sicht teuren »fairen« Produkten. Setzt man dies in Bezug zur obigen Passage über die gemeinsame Organisation des Einkaufens als Paar, so wird deutlich, dass die gemeinsame Haushaltskasse zwar eine gleichmäßige Kostenbeteiligung sichert, nicht aber Verteilungskämpfe um die Frage verhindert, welche Produkte auf welchem Preisniveau von diesem begrenzten Budget gekauft werden sollen. Deutlich wird daran, dass aus Sicht von Frau Steinhoff eine egalitäre Geldverwendung vorgesehen ist, die Fairness und Gleichstellung in der Beziehung sichert. Der Kauf teurer Produkte, die nur einer der Partner präferiert, setzt dann zwar nicht die gleichmäßige Einzahlung in die Haushaltskasse außer Kraft. Dennoch scheint die angestrebte Gleichheit bedroht, da die Bedürfnisse und Wünsche eines Partners möglicherweise finanziell stärkeres Gewicht erhalten als die des anderen. Abschließend wird sichtbar, dass Sozialpädagogen für Frau Steinhoff einen bestimmten Moraltyp repräsentieren, der sich durch eine antimaterialistische Haltung auszeichnet. Es wird somit auch deutlich, dass sie sowohl gegenüber ihrem Freund als auch gegenüber der von ihr aufgeworfenen Klischeevorstellung ihres Studienumfelds eine alternative Position vertritt und diese auch behauptet. Bei Frau Steinhoff wurde sichtbar, dass die Partner keine geteilten Vorstellungen über ›guten‹ Konsum aufweisen, wenn auch in beschränktem Umfang eine Annäherung von Frau Steinhoff an die Position des Freundes zu beobachten ist. Während bei Herrn Martens eine Einigung auf eine normative Position deutlich wurde, die von allen Beteiligten als ›richtig‹ anerkannt wird, geht es hier eher um die Verhandlung von Spielregeln für den gemeinsamen Einkauf von Lebensmitteln. Beide Partner möchten, dass ihre Kriterien bei der Auswahl von Produkten möglichst berücksichtigt werden. Daher lässt sich die Handlungsrationalität – in Abgrenzung zum konsensorientierten Handeln, das bei Herrn Martens deutlich wurde – als eher strategisches Handeln bezeichnen (Habermas 1985a: 131). Offen bleiben muss an dieser Stelle, inwieweit der Freund auf Frau Steinhoffs Bedürfnisse eingeht. Der Konflikt erscheint aber tendenziell nicht lösbar, weshalb er durch Referenz auf grundlegendere Werte wie die Verteilungsgerechtigkeit der Kosten oder die sorgfältige Planung des Einkaufs zumindest partiell geschlichtet wird. Für diese Schlichtung scheint die Aufgabentei-
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lung im Haushalt wiederum bedeutsam zu sein: Die Planung des Einkaufs erfolgt gemeinsam – da hier darüber entschieden wird, wer wie viel Geld für welche Produkte ausgibt. Jedoch kochen beide Partner getrennt, um bezüglich der unterschiedlichen Ernährungsweisen nicht in Konflikt zu geraten. 6.1.4 »Meine Tochter achtet da sehr drauf, ich darf also kein Ei kaufen, das von Käfighaltung kommt« – Frau Bergmann Der Fall von Frau Bergmann lässt sich in zweierlei Hinsicht in die bisherige Typik einordnen: •
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Zum einen zeigt sich im Interview, dass hier die jüngere Generation – teils verkörpert durch ihre Tochter, teils als soziale Gruppe – als Vergleichshorizont herangezogen wird. In Zusammenhang damit wird erkennbar, dass Konsummoral hier im Kontext von Generationenverhältnissen ausgehandelt wird. Zum anderen wird deutlich, dass die divergierenden Positionen zwischen Frau Bergmann und ihrer Tochter weder konsensorientiert noch konflikthaft verhandelt werden, sondern durch eine Umstellung der Einkaufspraxis nach den Kriterien der Tochter, ohne dass Frau Bergmann deren moralische Haltung jedoch übernimmt.
Frau Bergmann habe ich durch den Kontakt zu einem örtlichen Sportverein kennengelernt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist sie 60 Jahre alt und lebt mit ihrem Mann und einer bereits erwachsenen Tochter zusammen. Sie und ihr Mann sind seit kurzem im Ruhestand, beide waren selbständig tätig in der Versicherungsbranche. Während ihr Mann sich nun ehrenamtlich engagiert, kümmert sich Frau Bergmann um den Haushalt. Frau Bergmann berichtet über Lebensmitteleinkäufe konsequent in der »Ich«-Form. Sie beschreibt sich in Hinblick auf die Zubereitung von Essen und bei anderen Haushaltstätigkeiten als die allein Verantwortliche im Haushalt (»Ja ich mache dann mein Haushalt«). Dabei wird deutlich, dass sie sich dafür zuständig fühlt, die Vorlieben ihres Mannes und ihrer Tochter zu bedienen (»für meine Tochter mehr Salat die isst lieber Salat«, »Nachtisch muss immer sein da mein Mann n Süßer is«). Diese Rollenverteilung entspricht den Befunden von Charles und Kerr (1988) und DeVault (1994), nach dem meist Frauen für die Verpflegungsarbeit zuständig sind und dabei die Bedürfnisse der Angehörigen über ihre eigenen stellen. Hinsichtlich der Einkaufspraktiken orientiert sie sich vorwiegend an lebenspraktischen Dimensionen. So thematisiert sie, welche Ge-
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schäfte gut zu erreichen sind und zu welchen Zeiten sie einkaufen geht. Deutlich wird auch, dass es ein festgesetztes Haushaltsbudget gibt (»und versuche dann mit mein´m Haushaltsgeld hinzukomm«). Insgesamt wird eine recht konventionelle Rollenverteilung nach dem Muster der Versorgerehe sichtbar. Auf die Frage des Interviewers, ob sich Frau Bergmann manchmal Gedanken darüber mache, mit ihrem Konsum Dinge zu unterstützen, die sie eigentlich nicht gut findet, antwortet Frau Bergmann: »Äh sagn mer ma (.) dass ich äh (.) meine Tochter achtet da sehr drauf ich darf also kein Ei kaufen das von Käfighaltung kommt woll also die is da mehr als ich ich achte da eigentlich weniger drauf und von dem ganzen Bio halt ich sowieso gar nichts«
Hier zeigt sich eine Diskrepanz zwischen Frau Bergmanns eigenen Kriterien beim Kauf von Eiern und denen der Tochter. Der Tochter ist die Haltung der Tiere ein Anliegen, während Frau Bergmann sich – das bleibt an dieser Stelle jedoch offen – mutmaßlich an Preis und Geschmack orientiert. Aus der Formulierung (»ich darf also kein Ei kaufen das von Käfighaltung kommt«) lässt sich schließen, dass Frau Bergmann den Erziehungsversuch der Tochter als eine Rollenumkehr wahrnimmt. Als Mutter und Hausfrau entscheidet üblicherweise Frau Bergmann selbst, was eingekauft wird und was gut für die Familie ist. Andererseits wird im Interview mehrfach deutlich, dass es Frau Bergmann auch als ihre Rolle versteht, sich an den Vorlieben der Familienmitglieder zu orientieren und diese gut zu verpflegen. Insofern bleibt Frau Bergmann ihrer Rolle treu, wenn sie den Wünschen ihrer Tochter nachkommt, obwohl sie die Meinung nicht teilt, dass man keine Eier aus Käfighaltung kaufen sollte. In Zusammenhang mit der abfälligen Bewertung von Bio-Produkten (»von dem ganzen Bio halt ich sowieso gar nichts«) dokumentiert sich eine Abgrenzung von der Vorstellung, dass Konsumenten die Aufgabe haben, auch im breiteren gesellschaftlichen Kontext Verantwortung zu übernehmen. Frau Bergmann bringt Bio-Produkte in Zusammenhang mit der Frage des Interviews. Daraus lässt sich ein Wissen Frau Bergmanns darum entnehmen, dass der Konsum biologisch erzeugter Lebensmittel von anderen Menschen oder in den Medien – ähnlich wie Eier aus tierfreundlicher Haltung – als ethisch ›gute‹ Produkte gesehen werden. Am Ende des Nachfrageteils wurden Frau Bergmann vom Interviewer einige Bilder vorgelegt, auf denen verschiedene Motive zu sehen sind, welche die Produktion von Lebensmitteln zeigen, mit der Bitte, diese zu kommentieren. Frau Bergmann geht auf drei Bilder ein, auf denen Massentierhaltung bzw. ein Schlachthof mit Schweinehälften zu sehen ist. Sie sagt, dass sie diese Bilder »be-
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rühren«. Daraufhin fragt der Interviewer, ob man auf Produkte verzichten sollte, die so hergestellt wurden: »Da sinmer wieder (bei) den Hühnern ja gut äh wie gesacht meine Tochter achtet schon sehr drauf wir bekommen die Hühner direkt vom Bauern äh de Eier direkt vom Bauern auch de Hühner wenn die haben möchte«
Der Interviewer gibt hier mit der Frage bereits eine Proposition vor, da die Frage im Kontext der gezeigten Bilder, die an sich schon eine moralisierende Wirkung haben, suggestiv wirkt und nahelegt, dass der Konsum von Fleisch aus Massentierhaltung ›schlecht‹ ist. Die Frage führt dann auch zu einer Rechtfertigung gegenüber dem Interviewer (»wie gesacht meine Tochter achtet schon sehr drauf«). Interessant ist, dass Frau Bergmann auf die Tochter verweist und von der Familie als Kollektiv spricht, was in starkem Kontrast zur vorherigen Distanzierung von der Haltung der Tochter steht. Die Orientierung der Tochter nutzt Frau Bergmann hier dazu, das Konsumverhalten der Familie als moralisch ›gut‹ im Sinne des vom Interviewer eingebrachten Rahmens einer Verantwortung des Konsumenten darzustellen. Insgesamt zeigt sich somit, dass es auf der Ebene der Vorstellungen und des Selbstbildes zu keiner Annäherung zwischen Tochter und Mutter kommt. Frau Bergmann bleibt trotz der Orientierung ihrer Tochter an ›guter‹ Tierhaltung dem Verständnis verhaftet, dass tierethische Aspekte für ihre Kaufentscheidungen keine Rolle spielen. Allerdings wird deutlich, dass sie den Wünschen der Tochter nachkommt, indem die Familie nun Eier vom Bauernhof bezieht. Möglicherweise spielt die Fürsorge für die Angehörigen oder auch nur der Wunsch nach Hausfrieden eine Rolle dabei, dass sie bei Eiern die eigenen Kaufkriterien zurückstellt. Allerdings sind Eier das einzige Lebensmittel, bei dem Frau Bergmann berichtet, sich an die Wünsche ihrer Tochter anzupassen.5 Dies lässt vermuten, dass sie ihrer Tochter nur einen symbolischen Akt ›guter‹ Lebensführung zugesteht, während sie letztlich größtenteils selbst bestimmt, welche Produkte eingekauft werden. Die Rolle des Mannes in diesem Konflikt scheint passiv zu sein. Dem Interview lässt sich entnehmen, dass er über die Höhe des Haushaltsgeldes entscheidet, seiner Frau aber dessen Verwendung komplett freistellt.
5
Frau Bergmann erwähnt zwar auch die Möglichkeit, ganze Hühner vom Bauernhof zu beziehen, lässt hier aber offen, ob die Familie diese Option tatsächlich nutzt (»wenn [man, JG] die haben möchte«).
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6.1.5 Fazit Das präsentierte Material zeigt einige der Varianten, in denen sich Menschen, die einen lebensweltlichen Kontext teilen, wechselseitig in Bezug auf Konsummoral aneinander orientieren. Diesen Befund hatte ich zu Beginn der Arbeit nicht im Blick, es handelt sich hier um ein so nicht erwartetes, erst rekonstruktiv erarbeitetes Ergebnis, das den Wert der gewählten Methodik unterstreicht. Im Nachhinien ist allerdings festzuhalten, dass das Erhebungsdesign nicht optimal darauf eingestellt war, die Aushandlung von Konsummoral in Haushalten zu untersuchen. Gruppendiskussionen und Familienethnographien könnten hier in Zukunft wertvolle Erkenntnisse liefern. Dennoch lassen sich bereits auf Basis der präsentierten Fälle einige wichtige Schlussfolgerungen ziehen. Im Folgenden werden folgende Punkte reflektiert: a) Welche Formen die Verhandlung von Konsummoral annehmen kann und b) welche Funktion sie haben kann, c) welche Schlussfolgerungen sich für die Konstruktion eines Selbstbildes als moralische Person ergeben, d) welche Rolle Haushaltsstrukturen für die Verhandlung von Konsummoral spielen und e) wie die Frage nach der Existenz moralischer Instanzen zu beantworten ist. Es wurde deutlich, dass zum einen unterschieden werden kann zwischen sprachlich-kommunikativen Aushandlungen, in denen sich die Familienmitglieder über Geltungsansprüche austauschen. Diese Aushandlungen können sowohl einen konsensorientierten als auch einen strategisch-konfliktorientierten Charakter haben. Zum anderen wurden Interaktionen sichtbar, in denen Konsummoral zwar nicht explizit verhandelt wurde, die aber dennoch zu einer einseitigen Anpassung entweder der Moralvorstellungen oder des praktischen Handelns führen können. Bei Frau Amann wurde – ausgelöst durch die Fragen der Kinder – eine partielle Neuorientierung beim Kauf von Fleisch sichtbar, bei Frau Bergmann und ihrer Tochter wurde deutlich, dass zwar keine Verständigung darüber erzielt wird, ob tierethische Kriterien beim Kauf von Lebensmitteln berücksichtigt werden sollten. Mit dem Kauf von Eiern vom Bauernhof wurde aber eine praktische Lösung gefunden, mit der Frau Bergmann zumindest eine symbolische Anerkennung der Wünsche ihrer Tochter zeigt. Deutlich wurde auch, dass die Aufgabenteilung im Haushalt bezüglich des Einkaufens und Kochens bedeutsam dafür ist, welche moralischen Probleme verhandelt werden müssen und wie sie gelöst werden können. Bezüglich der Funktion der Verhandlung von Konsummoral im Kontext der Familie kann die These aufgestellt werden, dass diese einen Beitrag dazu leistet, eine gemeinsame Lebenswelt oder eine gemeinsame Lebenspraxis zu finden. Für das Zusammenleben von Partnerschaften oder Familien ist es bedeutsam, einen
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gemeinsamen Umgang mit unterschiedlichen ethischen Ansprüchen an Konsum zu finden. Andrew Sayer zufolge geht es bei ethischen Fragen um die Einsichten der Menschen in die Fähigkeit anderer Lebewesen zum Aufblühen und zum Leiden, wodurch tiefes Mitgefühl ausgelöst werden kann. Er beschreibt Menschen als »beings whose relation to the world is one of concern« (2011: 2) und konzipiert moralische Gefühle als verankert in guten Gründen, weshalb Menschen intuitiv auf Ungerechtigkeiten mit Empörung reagieren (vgl. dazu Kap. 3.2). So wurde bei Herrn Martens, Frau Steinhoff und Frau Bergmann deutlich, dass ein oder mehrere Familienmitglieder bzw. Partner eine konsumtive Verantwortung für entfernte Andere, Tiere oder Umwelt verspüren. Bei Herrn Martens zeigte sich, dass die Annäherung an die Orientierungen seiner Frau und Tochter bedeutsam ist, um sich mit beiden als Einheit verstehen zu können. Kollektive Konsummoral kann also eine Funktion der sozialen Zusammenschließung erfüllen. Frau Bergmann teilt zwar das Gefühl ihrer Tochter nicht, auch in ihrer Konsumentenrolle für das Wohl von Tieren verantwortlich zu sein, doch versteht sie sich in ihrer Rolle als Hausfrau und Mutter für das Wohl der Familienmitglieder zuständig, weshalb sie dem Wunsch ihrer Tochter zumindest symbolisch Folge leistet. Bei Frau Steinhoff wurde zwar eine konflikthafte Variante der Aushandlung deutlich, bei der es vor allem darum ging, die Orientierungen an konsumtiver Verantwortung und Sparsamkeit miteinander abzuwägen. Jedoch zeigte sich, dass diese Abwägung nach Maßgabe gemeinsam gesetzter Standards geschieht, etwa einem festgesetzten Budget für Lebensmittel. Betrachtet man das hier präsentierte empirische Material, so zeigt sich, dass ein »ethical selving« – die Suche nach authentischem Selbstausdruck und Selbstkonstruktion als moralische Person zwar auch für die hier betrachteten Fälle bedeutsam ist (vgl. Kap. 2.3.2), wie etwa am Beispiel von Herrn Martens sichtbar wurde, der seinen weitgehenden Verzicht auf Fleisch als seine freie persönliche Entscheidung präsentiert und sich selbst damit auch als ›guten‹ Menschen konzipiert. Jedoch ist die Suche nach Selbstexpression keineswegs die vorrangig ins Auge springende Orientierung, die am hier präsentierten Material sichtbar wird. Eine viel entscheidendere Auffälligkeit wird darin sichtbar, dass in den Interviewpassagen eine starke Orientierung an den Partnern und Kindern ersichtlich wird, mit denen die befragten Personen in einem Haushalt zusammenleben und zu deren Haltungen sie hinstreben oder von denen sie sich abgrenzen. Aus diesen Beobachtungen ergeben sich zudem zwei theoretische Hinweise in Hinblick auf die Debatte um die Selbstkonstruktion von ›ethischen‹ Konsumenten (siehe Kap. 2.3.2):
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Erstens ist evident, dass ein Konsumstil, der sich an »konsumtiver Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext« (vgl. Kap. 5.2.1) orientiert, offensichtlich nicht der einzige Weg ist, sich als moralisch ›gute‹ Person zu entwerfen. Dies wird etwa bei Frau Amann und Frau Bergmann sichtbar, für die ›guter‹ Konsum eher bedeutet, eine gute Mutter zu sein, als sich ethisch gegenüber Tieren oder Menschen, die in Produktionsprozesse der Konsumgüter involviert sind, zu verhalten. Zum anderen sollte deutlich geworden sein, dass die Selbstkonstruktion als moralische Person, die ja immer auch über Konsumentscheidungen realisiert werden kann, in einem lebensweltlichen Kontext stattfindet, in dem mit anderen Personen ein kollektives Verständnis dessen ›ausgehandelt‹ werden muss, was ›guter‹ Konsum überhaupt ist. Und hier trifft eine Orientierung an Verantwortung im breiteren gesellschaftlichen Kontext nicht in jedem sozialen Umfeld auf die gleichen Voraussetzungen. Während etwa bei Herrn Martens sichtbar wurde, dass sich die Familienmitglieder in ihren konsummoralischen Haltungen gegenseitig stützen, wurde sichtbar, dass Frau Steinhoffs Freund mit seinem Verständnis von ›guten‹ Konsum auf Widerstände innerhalb der Partnerschaft stößt. Im Zuge der Entwicklung einer Forschungsperspektive bin ich davon ausgegangen, dass Konsummoral in modernen Gesellschaften pluralistisch ist. Als Konsequenz aus diesem Ansatz ergibt sich daher zweitens, dass Konsummoral im nahen sozialen Umfeld auszuhandeln ist. Im vorangegangen Kapitel konnte deutlich gezeigt werden, dass die Suche nach der eigenen persönlichen moralischen Integrität als Konsument immer auch in Interaktion mit Menschen im unmittelbaren lebensweltlichen Kontext verhandelt wird, etwa in Partnerschaftsverhältnissen und ElternKind-Verhältnissen. Diesbezüglich konnten zudem verschiedene Aushandlungsformen dargestellt werden.
Zudem gibt das Material einige Hinweise darauf, dass Haushaltsstrukturen eine wesentliche Rolle spielen, hierzu können aufgrund der geringen Fallzahl allerdings nur erste begründete Vermutungen angestellt werden. Einerseits ist zu vermuten, dass objektive Strukturen eine Rolle spielen: Die Zahl der im Haushalt zusammenlebenden Personen, ob Kinder anwesend sind sowie die Form der Familie (z.B. ob sich um ein Elternpaar handelt oder um Alleinerziehende) werden eine wesentliche Rolle dafür spielen, wie über Konsummoral diskutiert wird
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und welche Fragen erörtert werden.6 So zeigte der Fall von Frau Amann, dass Kinder Fragestellungen aufwerfen können, die dann von den Eltern bearbeitet werden müssen, wenn sie sich gegenüber ihren Kindern als moralisches Vorbild positionieren wollen. Die Haushaltsstrukturen bestimmen mit, welche Personen überhaupt gemeinsame Arrangements und Routinen finden und sich über diese auseinandersetzen müssen. Über die objektiven Strukturen hinaus ist jedoch vor allem bedeutsam, wie die inhaltliche Ausgestaltung der Arrangements aussieht, z.B. wie die Arbeits- und Aufgabenverteilung im Haushalt geregelt ist. Soziologische Arbeiten haben empirisch dokumentiert, dass die geschlechtliche Arbeitsteilung in verschiedenen gesellschaftlichen Milieus unterschiedlich verhandelt wird (Koppetsch/Burkart 1999; Frerichs/Steinrücke 1994). Cornelia Koppetsch und Günter Burkart unterscheiden das individualistische Milieu, in dem die Partnerschaftsideen durch Gleichheitsvorstellungen und das Modell zweier autonomer Subjekte geprägt ist, das familistische Milieu, in dem Autonomie partiell zugunsten der Herstellung einer Familienatmosphäre aufgegeben wird, und das traditionale Milieu mit patriarchalischen Leitvorstellungen (1999: 16-18). Das vorliegende Material deutet ebenfalls auf derartige Milieuunterschiede hin, wie im Vergleich von Frau Steinhoff und Frau Bergmann gut sichtbar wurde. Aus den jeweiligen Verständnissen der Rollen in der Partnerschaft scheinen sich dabei auch Implikationen für die Aushandlung von Konsummoral zu ergeben: Bei Frau Bergmann, deren Ehe dem traditionellen Versogermodell nahekommt, zeigte sich eine klare Aufgabenteilung. In derartigen Arrangements werden bestimmte Differenzen zwischen den Partnern erst gar nicht sichtbar bzw. können leichter ausgeblendet werden. So scheinen Verhandlungen etwa über bestimmte Produktcharakteristika bei Frau Bergmann und ihrem Mann auch deshalb nicht notwendig zu sein, da beide Partner den Einkauf als Sache der Frau ansehen. Frau Steinhoff und ihr Freund gehen dagegen eher von einem Ideal der Gleichberechtigung und der Aufgabenteilung aus, so dass es naheliegt, dass sie ihre Differenzen über die Art der zu kaufenden Produkte argumentativ verhandeln müssen. Die Arrangements zwischen den Geschlechtern haben also Auswirkungen darauf, welche konsumrelevanten Themen kommunikativ ausgehandelt werden und wie dies geschieht. Es muss allerdings darauf hingewiesen werden, dass es zwischen den beiden genannten Paaren gleich eine Reihe von Unterschieden gibt, die das gemeinsame Verständnis der Aufgabenteilung beeinflussen. Neben dem Alter sind möglicherweise auch die Dauer und die Phase der Beziehung ausschlaggebend, denn die Literatur hat gezeigt, dass die praktische Aufgaben6
Alleinerziehende wurden in dieser Arbeit nicht untersucht, es ist jedoch plausibel, dass die Aushandlungen eine andere Dynamik erfahren, wenn nur ein Elternteil im Haushalt lebt.
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teilung bei Paaren mit zunehmender Dauer der Beziehung nach der Heirat oder der Geburt von Kindern Traditionalisierungsprozesse durchläuft, in deren Verlauf Männer ihren Beitrag an der häuslichen Arbeit verringern (Grunow et al. 2007). Es handelt sich hier lediglich um einen Anfangsverdacht, systematische Vergleiche wären hier eine wichtige Aufgabe für die weitere Forschung, um herauszufinden, in welchen Varianten Konsummoral bei Paaren verhandelt wird. Abschließend bleibt noch die eingangs gestellte Frage nach moralischen Instanzen in Haushalten. Als Instanz können diejenigen Personen bezeichnet werden, die sich für moralische Angelegenheiten zuständig fühlen oder von anderen als zuständig angesehen werden. Sie bringen moralische Urteile in den innerfamilialen Diskurs ein und fordern gegebenenfalls eine veränderte Ausrichtung der kollektiven Praxis. Bereits die wenigen analysierten Fälle dokumentieren, dass es in den Haushalten der Interviewpartner ganz offensichtlich Personen gibt, die dies tun. Auch zeigt sich eine gewisse Vielfalt bezüglich der Frage, wer im Haushalt diese Rolle übernimmt: die Kinder im Jugend- oder jungen Erwachsenenalter bei Frau Bergmann und Herrn Martens, der Freund bei Frau Steinhoff und Frau Amann selbst. Dies ist ein Indiz dafür, dass die Kopplung zwischen der Rolle der moralischen Instanz und den übrigen Positionen und Rollen im Haushalt (wie z.B. Mutter, Vater, Kind oder Partner/Partnerin) allenfalls als lose gedacht werden kann. Am Fall von Frau Amann zeigte sich darüber hinaus, dass jüngere Kinder eine Sonderposition einnehmen können. Frau Amanns Kinder sind nicht im eigentlichen Sinne als moralische Instanz zu verstehen. Sie werfen Fragestellungen auf, die dann von den Eltern zum Anlass genommen werden, ihre Rolle als moralisches Vorbild für ihre Kinder zu reflektieren.
6.2 R EFLEXIVITÄT
UND
R OUTINE
Im vorigen Teilkapitel wurde gezeigt, dass Interaktionen im lebensweltlichen Kontext Anstöße sein können, über moralische Implikationen von Konsumpraktiken nachzudenken, was unter Umständen dazu führen kann, das eigene Handeln in Frage zu stellen und zu verändern. Diese Beobachtung führt nun zurück zu den im theoretischen Teil aufgeworfenen Fragen, wann Konsumpraktiken Gegenstand von ethischen Reflexionen werden und inwiefern diese zu einer Transformation von Routinen oder gar zu einer systematischen Arbeit an einem ethischen Selbst führen. Reflexivität scheint dabei in öffentlichen Debatten häufig als ein »Allheilmittel« gesehen zu werden, mittels dessen ein moralisch ›besseres‹ Konsumverhalten erreicht werden könne: Populär ist die Annahme, dass, wer nur einmal gründlich nachdenke, schon zu den einzig ›richtigen‹ und ver-
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nünftigen Schlüssen bezüglich seines Konsumverhaltens kommen müsste. Auf dieser Annahme fußt auch die Beliebtheit von staatlichen Informationskampagnen, durch die Konsumenten aufgeklärt werden sollen, um dann eigenverantwortlich die ›richtigen‹ Konsumentscheidungen zu treffen. Im Folgenden wird daher zu prüfen sein, inwiefern Reflexivität tatsächlich praxisverändernde Wirkungen hat. Die Frage nach der Bedeutung von Reflexivität knüpft einerseits an die soziologische Theoriedebatte um die Frage an, inwiefern Akteure durch reflexive Selbstarbeit ihre habitualisierten Dispositionen kontrollieren können (Kap. 3). Zum anderen schließt die Frage auch an die Debatte an, inwiefern mit erhöhter Reflexivität ein erweitertes Handlungspotential von Konsumenten einhergehe. In der Debatte um die Handlungsmacht (vgl. 2.3.2) von Konsumenten konstatieren Josée Johnston und Michelle Szabo, dass die Möglichkeit einer Konsumentenreflexivität ein notwendiger, wenn auch nicht hinreichender Faktor in Bezug auf die Transformation von Systemen der Lebensmittelproduktion sei (2011: 306). Sie könne dazu führen, dass Konsumenten Produktversprechen und Motive von Lebensmittelproduzenten kritisch hinterfragen und aufmerksam werden auf Spannungen zwischen ihrem konsumtiven Verlangen und ihrer Rolle als Bürger. Auf Basis dieser Überlegungen könne sich auch das Nachfrageverhalten ändern. In ihrer Untersuchung von Kunden der großen amerikanischen Bioladenkette »Whole Foods Market« kommen sie allerdings zum Ergebnis, dass derartige Reflexionen auf eine Vielzahl von Widerständen treffen: Zwar stellen die Autoren fest, dass bei vielen Befragten durchaus der Wunsch nach einem überlegteren Konsumhandeln besteht, allerdings sehen sie die Möglichkeit dazu in Konflikt mit geschmacklichen Dispositionen und praktischen Anforderungen des Alltagslebens. Somit konstatieren die Autoren, dass reflexive Denkprozesse alleine keine spezifischen Wirkungen auf Einkaufs- und Essenspraktiken garantieren (ebd.: 316). Kritisch ist zu dieser Studie anzumerken, dass sie auf einem eingeengten Reflexivitätsbegriff beruht: Die Autoren definieren im Vorhinein Kriterien, nach denen Reflexivität sich insbesondere in den oben genannten kritischen Haltungen zum System der Lebensmittelproduktion zeige. Eine solche Konzeption birgt die Gefahr, dass kritische Haltungen automatisch geadelt werden, während andere Ergebnisse reflexiver Prozesse möglicherweise gar nicht als solche wahrgenommen werden: Wie jedoch die eigenen Ergebnisse der Autoren zeigen, kann gerade das Beibehalten eingespielter Routinen auch ein Ergebnis reflexiven Innehaltens sein. Ein unvoreingenommeneres Verständnis liegt Bente Halkiers (2001) Untersuchung über den Beitrag von Reflexivität zur Reproduktion und Transformation alltäglicher Praktiken des Einkaufens und Essens zugrunde. In Anschluss an
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Giddens versteht sie Routinen als selbstverständlich wahrgenommene Handlungen, deren Basis implizites Wissen und praktisches Bewusstsein sind. Sie sind abzugrenzen von bewusst intendierten Handlungen (»action«).7 Giddens unterscheidet zwischen Intentionen und Gründen des Handelns. Motive – die auf die Bedürfnisse und das »Wollen« hinter dem Handeln abzielen – haben demnach nur in Ausnahmesituationen eine direkte Auswirkung auf das Handeln, in denen Routinen durchbrochen werden. Der Großteil menschlicher Handlungen ist dagegen nicht direkt motiviert (1984: 5-14). Reflexivität bezieht sich schließlich auf Reflexionen des eigenen Handelns, die oft durch die Konfrontation mit praktischen Handlungsproblemen auftreten (Halkier 2001: 29). Auf Basis von Interviews zum Umweltverhalten junger Dänen zeigt Halkier verschiedene Formen des Verhältnisses zwischen Routinen und Reflexivität auf. Diese Konzeption ist auch für die Analyse des vorliegenden Materials sinnvoll. Insbesondere ist der Autorin darin zuzustimmen, dass sich eine klare Unterscheidung zwischen Routinisierung und Reflexivität bei der empirischen Analyse kaum aufrechterhalten lässt (2001: 27), sondern dass vielmehr verschiedene Formen des Verhältnisses von Reflexivität und Routine zu beobachten sind. Im Folgenden werden diese Formen als Typik präsentiert, wobei auf die detaillierten sequenzanalytischen Falldarstellungen zurückgegriffen wird, die in den Kapiteln 5.1 und 6.1 dargestellt wurden. Die ersten drei der im Folgenden vorgestellten Typen finden sich dabei in ähnlicher Weise in der von Halkier ausgearbeiteten Typik, anschließend werden zwei weitere Muster des Verhältnisses von Reflexivität und Routine hinzugefügt. 6.2.1 In Alltagsroutinen untergehende Reflexivität Selbst bei Konsumenten, die sich selbst zuschreiben, bewusst zu konsumieren, kommt zum Ausdruck, dass es in manchen Situationen des Alltagslebens nicht gelingt, die ethischen Überlegungen über ›richtiges‹ Konsumhandeln praktisch in die Tat umzusetzen. In manchen Routinen des Alltags gehen Reflexionen geradezu unter, wie Bente Halkier in Hinblick auf das Umweltbewusstsein der von ihr interviewten Konsumenten anmerkt: 7
Giddens’ Unterscheidung zwischen diskursivem und praktischem Bewusstsein kann fruchtbar in Bezug gesetzt werden zur von Fritz Schütze (1987) entwickelten Textsortentrennung, die auch zur dokumentarischen Interpretation von Interviews herangezogen wird (vgl. Kap. 3.1.1). Das diskursive Bewusstsein kommt demnach insbesondere in der Textsorte der Argumentation zum Ausdruck, während längere Beschreibungen und Erzählungen, innerhalb derer der oder die Erzählende in die Zugzwänge des Erzählens gerät, einen Zugang zum praktischen Bewusstsein bieten.
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»In some cases, routinisation of consumption practices ›drown‹ reflections, so in particular ›zones‹ of life the young consumer is not reminded at all about the environmental aspect in the getting along of daily life. To put it another way: environmental consideration can be part of the person’s discursive consciousness in general, but is perhaps only part of her or his practical consciousness in particular everyday areas.« (Halkier 2001: 37)
Vorstellungen des ›guten‹ Konsums können also im diskursiven Bewusstsein vorhanden sein, ohne gleichzeitig auch im praktischen Bewusstsein verankert zu sein, welches Giddens (1984) zufolge Handeln zu großen Teilen steuert. Dieses Muster zeigt sich im Material mehr oder weniger deutlich für alle der vier Konzeptionen des ›guten‹ Konsums (vgl. Kap. 5.2). Verdeutlicht sei dies an zwei Beispielen: Herr Dürnberger expliziert im Interview ein universelles Prinzip der Konsumentenverantwortung (vgl. Kap. 5.1.1). Er argumentiert, dass er sich Gedanken darum mache, möglichst »fair« zu konsumieren. Mittels des eigenen Konsumhandelns sollen demnach möglichst wenige negative Konsequenzen für die Umwelt und andere Menschen verursacht werden, was durch den Kauf von Produkten gelingt, die fair gehandelt oder möglichst umweltfreundlich produziert wurden. Andererseits schildert Herr Dürnberger seinen Tagesablauf als sehr unstrukturiert und durch Spontaneität geprägt. Er ist viel unterwegs und berichtet, während seiner Unternehmungen spontan das Essen auszuwählen, auf das er Lust hat. Hier deutet sich an, dass die Konsumentscheidungen in Herrn Dürnbergers Alltagspraxis in erster Linie durch die konkret in einer Situation gegebenen Essmöglichkeiten bestimmt sind und weniger durch Überlegungen, welches Essen »fair« ist. In Bezug auf eine befreundete WG, in der er häufig isst, berichtet er jedoch davon, dass dort meistens Lebensmittel gekauft würden, die als »fair« gelten können. Auch bei Frau Steinhoff zeigt sich, dass ihre im Interview zum Ausdruck gebrachten Bemühungen um eine bewusst gesunde Ernährungsweise während der Arbeitszeiten kaum gelingen. Sie berichtet, dass sie und ihr Freund vor allem abends versuchen würden, »wirklich gesund irgendwie uns zu ernähren« – wobei sie vor allem die häufige Zubereitung von Salat als Beleg dafür anführt. An anderer Stelle zeigt sich dagegen, dass das Essen im von Arbeit geprägten Alltag der als gesund skizzierten Ernährungsweise zuwiderläuft: »Und zwischendurch das was der Bäcker um die Ecke zu bieten hat oder wo man halt grade vorbei kommt ne Mäckes [McDonalds, JG] (lacht) oder so ähm Pommes oder so was irgendwas fettiges schnelles« (Frau Steinhoff) Beide Fälle verdeutlichen somit, dass in einigen Bereichen des Alltagslebens die bewussten Überlegungen, wie ein ›guter‹ Konsum von Lebensmitteln aussehen sollte, schlicht nicht Teil des praktischen Bewusstseins sind. In beiden Beispielen kommt eine Unterscheidung zwischen dem häuslichen und dem außer-
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häuslichen Bereich zum Ausdruck. Dies legt die These nahe, dass die Vorstellungen des ›guten‹ Lebensmittelkonsums im häuslichen Bereich eher praktisch gelebt werden, was vermutlich auch mit der größeren Kontrolle zu tun hat, welche Produkte Bestandteil des Essens sind und wie sie verarbeitet werden. 6.2.2 Reflexivität als Abwägung zwischen Routinen Jenseits der Unterscheidung von Alltagsbereichen, in denen es mehr oder weniger gelingt, die Vorstellungen des ›guten‹ Konsums umzusetzen, lässt sich Reflexivität auch als eine allgemeinere Abwägung zwischen verschiedenen Routinen verstehen. Die während des Interviews gestellten Fragen führen – selbst wenn sie sehr offen formuliert sind – häufig dazu, dass sich die Befragten mit dem eigenen Handeln reflexiv auseinandersetzen. Viele Befragte reflektieren während des Interviews, dass ihre alltäglichen Konsumpraktiken von dem Handeln abweichen, das sie als wünschenswert und ›gut‹ skizzieren. Dies führt dann häufig zu argumentativ vorgebrachten Erklärungen der Diskrepanzen, die nicht lediglich als Rationalisierungen zu lesen sind, sondern auch als kommunikative Manifestation von Abwägungen zwischen verschiedenen routinisierbaren Verhaltensweisen begriffen werden können.8 Das als ›gut‹ verstandene Konsumverhalten wird dabei reflexiv als Alternative in Betracht gezogen, aber dann begründet abgelehnt. So fühlt sich etwa Frau Kurz (vgl. Kap. 5.1.2) persönlich von Informationen über moralisch fragwürdige Firmenpolitik betroffen und zieht daraus Konsequenzen für ihr Kaufverhalten. Eine systematische und konsequente Suche nach Informationen lehnt sie allerdings ab, da diese zu zeitaufwändig sei. Auch Frau Tiedemann zieht im Interview mehrfach die Möglichkeit von Alternativen gegenüber ihrer jetzigen Einkaufspraxis in Betracht: »Ich finde man muss den Tieren eben auch n wirklich äh lebenswertes Leben geben solange wie se auf der Erde sind und bevor se geschlachtet werden […] weil ich zu wenig verbrauche da bin ich immer so´n bisschen in der Zwickmühle sonst würd ich nämlich normalerweise schon vielleicht auch richtig ma zum Biobauern geh´n aber wenn se jetz
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Versteht man Erläuterungen und Rechtfertigungen als Rationalisierung, besteht meines Erachtens die Gefahr, die vollzogene Praxis als irrational und die Erläuterung lediglich als eine von den eigentlichen Gründen unabhängige Legitimierung zu deuten, die lediglich in Bezug auf die soziale Situation des Interviews Bedeutung hat. Hier soll jedoch in Betracht gezogen werden, dass in solchen Aussagen ernsthafte Überlegungen bezüglich alternativer routinisierbarer Verhaltensweisen zum Ausdruck kommen und dass die Akteure tatsächlich gute Gründe für ihre Praxis haben.
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meinetwegen denn für für fünf Eier die Woche (.) oder noch weniger äh das das lohnt sich bei mir immer alles nich« (Frau Tiedemann)
Die Routinisierung von Konsumpraktiken, die als moralisch ›gut‹ oder ›richtig‹ empfunden werden, erfordert häufig einen hohen Aufwand an Zeit, Kosten oder reflexiver Überlegung. Gerade wenn die praktischen Gegebenheiten zur Umsetzung des ›guten‹ Kaufverhaltens ungünstig sind – wenn etwa der Biobauer weiter entfernt ist als der Supermarkt –, werden alltagspraktische Aspekte als Gründe angeführt, warum ›guter‹ Konsum nicht gelinge. Reflexivität betrifft daher nicht nur Überlegungen, inwiefern das eigene Handeln in moralisch problematische strukturelle Prozesse verwickelt ist und ob daraus persönliche Verantwortung resultiert (vgl. Young 2003), sondern auch praktische Abwägungen darüber, welche Routinen des Einkaufens, Kochens oder Essens im Alltag praktikabel sind. Aus praxistheoretischer Sicht ist hier anzufügen, dass Menschen im Alltag an einer Vielzahl von Praktiken partizipieren, die miteinander zeitlich, räumlich und mit anderen Akteuren koordiniert werden müssen (Halkier 2010: 31; Southerton 2006: 443-444). In all diesen Praktiken müssen Akteure Anforderungen gerecht werden, was die Möglichkeiten für jeden einzelnen Praxisbereich notwendigerweise beschränkt. Die Erläuterungen und Rechtfertigungen im Interview als Abwägung zwischen verschiedenen Routinen zu begreifen, bedeutet daher, die Verstrickung der Akteure in eine vielschichtige Alltagspraxis ernst zu nehmen. 6.2.3 Routinen als Entlastung von Reflexivität In eine ähnliche Richtung zeigt ein weiteres typisches Verhältnis zwischen Routinen und Reflexivität: Routinen können ebenfalls als Entlastung von den Mühen der Reflexivität empfunden werden, weshalb sie regelrecht verteidigt werden gegenüber moralischen Forderungen, dass Konsumverhalten bewusster gestaltet werden solle. Dieses Muster zeigte sich bei Frau Tiedemann (vgl. Kap. 5.1.5), die dafür eintritt, bewährte Standardprodukte zu kaufen, anstatt die ausdifferenzierte Produktpalette – wie etwa bei Waschmitteln – zu nutzen. Als moralischer Gehalt wurde bei Frau Tiedemann deutlich, dass man seine Zeit mit sinnvollen Arbeiten – und nicht mit Nebensächlichkeiten wie Hausarbeit – verbringen solle. Die Nutzung verschiedener Varianten von Waschmitteln bedeutet für sie, auf die leeren Versprechungen der Werbung hereinzufallen und Zeit zu verschwenden, um für jeden Waschvorgang das richtige Mittel auszuwählen. Dagegen kann der Waschvorgang durch Treue zu einem bewährten Waschmittel routinisiert werden, womit sich Zeit für sinnvolle Tätigkeiten sparen lasse. Letztlich geht es also
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darum, sich in der Zeitverwendung nicht von der Konsumgüterindustrie vereinnahmen zu lassen. Bei Frau Müller zeigt sich diese Variante der Verhandlung von Routinisierung und Reflexivität in Zusammenhang mit der reflexiven Kontrolle des Essverhaltens hinsichtlich gesundheitlicher Aspekte. Sie verteidigt wiederum das Recht, so essen zu dürfen, wie es ihr schmecke, und verweist auf ihre schlechte Erfahrung mit Diäten. Während bei Frau Tiedemann die Notwendigkeit, in jeder Situation neu entscheiden zu müssen, als belastend dargestellt wird, sieht Frau Müller das reflexive Monitoring von Esspraktiken sogar mit negativen Konsequenzen verbunden, weshalb das Beibehalten von Routinen vorzuziehen ist. In öffentlichen Debatten wird häufig die Forderung an Konsumenten gerichtet, sich gesünder zu ernähren, insbesondere um Übergewicht und Herzkrankheiten zu vermeiden (Coveney 2006: 98-100). Angesichts des routinehaften Charakters eines Großteils des alltäglichen Konsumhandelns beinhalten solche Forderungen letztlich die Vorstellung, dass ein reflexiv-kontrolliertes Essverhalten zur neuen Routine werden solle. In der Reaktion von Frau Müller wird eine klare Zurückweisung dieser Forderung deutlich. Bei beiden Frauen kommt in der Ablehnung von Reflexivität in bestimmten Bereichen ein deutlich normativer Standpunkt zum Ausdruck: Es geht hier offensichtlich darum, eigene Relevanzsetzungen gegenüber Anforderungen zu verteidigen, denen sich die Frauen von Seiten des gesellschaftlichen Umfelds ausgesetzt fühlen. Deutlich wird hier, dass der Beibehaltung von Routinen selbst ein Wert zugeschrieben wird, der gegenüber anderen Werten abgewogen werden muss. 6.2.4 Erfahrungen als Anstoß für erweiterte Reflexivität Bei diesem Typ des Verhältnisses von Reflexivität und Routine geht es darum, dass spezifische praktische Erfahrungen – die häufig im Kontext veränderter Lebenssituationen stattfinden – ein reflexives Bewusstsein schaffen, infolge dessen neue Konsumroutinen etabliert werden können. Frau Kamps stellt ihre über die Jahre zunehmende Orientierung an Nachhaltigkeit und Gesundheit beim Kauf von Lebensmitteln als Prozess dar, in dem ein reflexives Bewusstsein ungeplant geschaffen wurde. Hierbei spielten die Umstände, mit denen sie im Laufe ihres Lebens konfrontiert war, eine wichtige Rolle: Das Chemiestudium machte sie auf die Problematik von Pestiziden in Lebensmitteln aufmerksam, die Geburt der Kinder weckten ein Bewusstsein für die Bedeutsamkeit einer ›gesunden‹ Ernährung, die Gründung eines Hofladens durch Bekannte sensibilisierte sie für die Wichtigkeit eines nachhaltigen Kons-
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umstils. Ein erhöhtes Bewusstsein für Nachhaltigkeit und Gesundheit – im Zuge dessen nun gewisse Formen des Nachdenkens über Konsumentscheidungen zur Routine geworden sind – kann somit als nicht beabsichtigtes Resultat eines Prozesses aufeinanderfolgender Lebenserfahrungen begriffen werden. Auch Frau Henning-Löw berichtet davon, dass die Geburt der Kinder ein Anlass war, die Ernährung der Familie bewusst umzustellen: »Und als dann meine Kinder geboren wurden da hab ich ähm (5) also eigentlich umgeschaltet wirklich auf sehr (.) ernährungsbewusstes Kochen und Essen und Einkaufen (6) weiß ich jetz nich ob ich da alles richtig gemacht hab aber ich hab auch viel dazu gelesen und äh (3) hab auch drauf geachtet dass sie sehr ausgewogen essen« (Frau Henning-Löw)
Bei Frau Meine spielten hingegen frustrierende Erfahrungen eine wichtige Rolle dabei, dass sie sich aktiv auf die Suche nach einer neuen Ernährungsroutine machte. Zunächst versorgte ihr Vater die Familie eine Zeitlang vorwiegend mit Fertiggerichten, später machte Frau Meine die Unzufriedenheit mit der eigenen Figur zu schaffen. Besonders interessant am Fall von Frau Meine ist dabei, dass sie rückblickend darauf hinweist, dass sie durchaus Schulwissen über Ernährung hatte, aus dem sie bereits früher Schlüsse über eine bessere Ernährung hätte ziehen können. Zugleich wurde auch deutlich, dass diese Überlegungen nur zu einer teilweisen Transformation ihrer Alltagspraxis führten: So behielt Frau Meine die Orientierung auf ein möglichst bequemes Einfügen des Kochens in den Alltag bei. Hier zeigt sich, dass erhöhte Reflexivität in einigen Bereichen mit fortgeschriebener Routine in anderen Bereichen einhergehen kann. Auch der Fall von Herrn Martens (vgl. Kap. 6.1) kann hier nochmals angeführt werden: Die Erschütterung der Tochter über die Massentierhaltung und ihr Entschluss, Vegetarierin zu werden, haben Herrn Martens eigenes Essverhalten beeinflusst. An den Beispielen wird deutlich, dass neue Erfahrungen einen Ausschlag zur Reflexion geben können. In diesen Fällen wird tatsächlich eine Transformation von Routinen sichtbar. Als plausible These ist festzuhalten, dass die von den Beforschten beschriebenen Verhaltensänderungen hin zu einem »bewussteren« Essverhalten in der Regel nicht allein durch die Konfrontation mit neuem kognitiven Wissen über gesunden oder nachhaltigen Konsum initiiert wurden, sondern begleitet wurden durch Veränderungen im sozialen Umfeld oder neue Lebenssituationen. Im Material wurden dabei einige »Schlüsselerfahrungen« sichtbar: Neue Bekannte oder Freunde können zu einer Konfrontation mit anderen Sinndeutungen und Konsumpraktiken führen, Umzüge oder die Geburt von Kindern können einschneidende Erlebnisse darstellen, die neue Perspektiven eröffnen, Medienberichte können emotionale Betroffenheit auslösen.
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6.2.5 Hilflosigkeit und Kreativität im reflexiven Umgang mit Konsumpraktiken Matthew Adams konstatiert ein theoretisches Patt zwischen Bourdieus Habitustheorie und den Theorien reflexiver Modernisierung. Zwar würden beide Theoriestränge differenziert und komplex argumentieren, insgesamt sei jedoch bei Bourdieu unverkennbar, dass sozialen Strukturen eine tendenziell handlungsdeterminierende Wirkung zugesprochen werde, während Giddens und Beck bei der Analyse von Reflexivität kulturelle und soziale Strukturen zu stark vernachlässigen würden (Adams 2006: 512-516). Um dieses theoretische Patt zwischen der Annahme erweiterter Reflexivität und der fortbestehenden Wirkung sozialer Strukturen aufzulösen, schlägt Adams vor, den Blick auf Handlungsressourcen zu richten, um die Möglichkeiten von Akteuren zu betrachten, ihr Handeln oder ihre eigene Lebenssituation nach Momenten reflexiven Gewahrwerdens zu ändern. Reflexivität – verstanden als Kapazität, über die eigene Lebenssituation nachzudenken – muss dabei als universelle menschliche Kompetenz angesehen werden (Sayer 2005b: 29-30). Für die Ärmsten könne Reflexivität das Bewusstsein mangelnder Handlungsfähigkeit jedoch noch verstärken, wenn zwar Misslichkeiten der eigenen Lage bewusst werden, aber keine Ressourcen zur Verfügung stehen, diese zu ändern: »Reflexivity in this context does not bring choice, just a painful awareness of the lack of it« (Adams 2006: 525). In Bezug auf die Möglichkeit, konsumtive Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext zu übernehmen, zeigt sich dieses Muster bei Frau Müller. Sie stellt im Interview ausführlich ihren Gedanken über die grausame Massentierhaltung und ihre Ablehnung gegenüber stark prozessierten und mit Zusatzstoffen versehenen Industrieprodukten dar. Allerdings sieht sie sich aufgrund ihrer knappen finanziellen Lage nicht imstande, die Produkte zu kaufen, die sie in Verbindung mit Natürlichkeit und guter Tierhaltung bringt (vgl. Kap. 5.1.7). Eine Reduktion des Fleischkonsums und den Kauf teureren Fleischs sieht sie angesichts der Bedürfnisse ihres Sohnes und ihrer eigenen geschmacklichen Präferenzen als keine adäquate Handlungsalternative an. Auch Frau Bluhm berichtet, dass sie gerne fair gehandelten Kaffee und »faire Milch« kaufen würde, sich diese Produkte aber finanziell nicht leisten könne.9
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Die Marke »Die Faire Milch« der Milchvermarktungsgesellschaft MVS wirbt unter anderem damit, den Milchbauern einen höheren als den marktüblichen Abnahmepreis zu garantieren, um ihnen eine kostendeckende Arbeit zu ermöglichen (http://www.diefaire-milch.de).
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Allerdings muss darauf hingewiesen werden, dass das Erlebnis, aufgrund begrenzter finanzieller Ressourcen keine konsumtive Verantwortung übernehmen zu können, nicht von allen einkommensschwachen Befragten geteilt wird. Herr Lochner berichtet, wann immer der Geldbeutel es zulasse, fair gehandelte oder ökologische Produkte zu kaufen. Dies sei möglich, wenn man Angebote nutze oder gezielt in Geschäften einkaufe, die solche Produkte relativ günstig anbieten. Bei Herrn Martens wurde deutlich, dass der Verzicht auf Fleisch für ihn eine Möglichkeit ist, mit den ethischen Problemen umzugehen, die er mit der Massenproduktion von Fleisch verbindet (vgl. Kap. 6.1.1). Frau Schröder und ihr Partner, die als Hartz-IV-Empfänger ebenfalls wenig Geld zur Verfügung haben, berichten, dass sie auf Produkte von Firmen verzichten, denen in Fernsehberichten vorgeworden wird, Kinderarbeit bei Zulieferern nicht auszuschließen oder die Arbeiter unter unwürdigen Bedingungen zu beschäftigen: »Das hat man aber damals dann auch im Fernsehn halt gehört und ich sach ma hier die ganzen schönen kinder-Produkte10 auch is alles gut und schön is schön gemacht für die Kinder ne (.) fängt bei Adventskalendern an kinder-Pingui und so weider sach ma ess ich auch gerne nur ich sach ma was auch wirklich dahinder steckt (.) äh (.) wie das alles zustande kommt die Kinder dann im Ausland viel in Afrika für Niedriglohn alles und dann (.) da sach ich nee also das sin schon Sachen sieht zwar schön aus aber sach ma unterstütz ich net« (Frau Schröder)
Dies legt nahe, dass Boykott eine wirksame Strategie ist, um sich auch unter eingeschränkten finanziellen Bedingungen als ethischer Konsument positionieren zu können. Hier finden sich Parallelen zum Befund einer amerikanischen Studie, deren Autoren betonen, dass einige der von ihnen Befragten mit niedrigem Einkommen eine kreative Umdeutung ethischer Konsumpraktiken vornahmen, um diese ihrer ökonomischen Lage anzupassen (Johnston et al. 2011: 307). Anstelle des Kaufs von ›ethischen‹ Produkten beweisen sie ihre ethische Haltung im Interview etwa durch Hinweise auf ihre Bemühungen bei der Reduzierung von Abfall. 6.2.6 Fazit Die Typik zeigt zunächst deutlich, dass Reflexivität sehr unterschiedliche Anlässe haben und zu unterschiedlichen Ergebnissen führen kann. Um diese Tatsache besser einordnen zu können, werden drei Formen von Reflexivität unterschieden: 10 Frau Schröder bezieht sich hier auf die Marke »kinder« des Ferrero-Konzerns.
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Erstens die banale Alltagsreflexivität, die Giddens als »reflexive monitoring of activity« (1984: 5) bezeichnet. Reflexivität ist hier selbst Teil von Routinen, sie ist eine Begleiterscheinung des alltäglichen Handelns. Giddens meint damit, dass Akteure mit den Gründen bzw. Ursachen ihres Handelns routinemäßig in Kontakt stehen und sie auf Nachfrage explizieren können, ohne sich dieser Gründe notwendigerweise bei jeder praktischen Handlung bewusst zu sein. Zweitens können bestimmte Formen der Reflexivität selbst zur Routine werden. Dies zeigt sich etwa im Interview mit Frau Kamps, die darüber berichtet, in ihrem Alltag routinemäßig über die verschiedenen Umweltimplikationen des Konsumhandelns nachzudenken. Diese Form der Reflexivität ist in der Literatur auch als reflexiver Habitus bezeichnet worden (Adams 2006: 520). Sie ist stets auf bestimmte Fragen konzentriert, etwa: Was muss ich tun, um umweltfreundlich zu konsumieren? Wie viel Kalorien darf ich höchstens zu mir nehmen, um mein Gewicht halten zu können? Diese Reflexionen verlaufen routinemäßig innerhalb bestimmter Bahnen und transzendieren diese nicht, sind aber mehr als ein rein reflexives Wahrnehmen der eigenen Praxis. Drittens sind Momente des reflexiven Innehaltens zu unterscheiden, in denen habitualisierte Routinen selbst in Frage gestellt werden. Vor allem dieser Form der Reflexivität kann ein Routinen transformierendes Potential zugesprochen werden. Wie dem Material zu entnehmen ist, treten solche Momente des Innehaltens am ehesten in Situationen auf, in denen Akteure mit neuen Lebenserfahrungen und Erlebnissen konfrontiert werden. Plausibel erscheint dabei die These, dass besonders Erfahrungen, die eine Verbindung zum unmittelbaren Nahumfeld der Akteure aufweisen, z.B. die Geburt eines Kindes oder das Kennenlernen eines neuen Freundes, der interessante Ansichten hat, Anstöße darstellen können, über ethische Implikationen des eigenen Konsumverhaltens nachzudenken, zu neuen moralischen Urteilen zu gelangen und zu guter Letzt die eigenen Praktiken zu verändern.
Reflexivität sollte daher keinesfalls als Wunderwaffe betrachtet werden, die geradezu im Alleingang zu einer bewussteren und somit auch ethisch besseren Konsumpraxis führt. Wie gezeigt wurde, können Überlegungen über ›richtigen‹ Konsum in Alltagsroutinen untergehen, sie können auf Basis alltagspraktischer Gegebenheiten als zu aufwändig empfunden werden, und die Routinisierung eines bewussten Konsumverhaltens kann selbst als belastende Anstrengung wahrgenommen werden. All dies sind Varianten und Ergebnisse von Reflexivität, die
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nicht zu einer Transformation von Konsumverhalten führen, sondern einen Verbleib bei bereits ausgebildeten Routinen begünstigen. In Bezug auf die hier untersuchten ›gewöhnlichen‹ Konsumenten ist zudem festzuhalten, dass eine systematische, durch reflexives Monitoring des eigenen Verhaltens gesteuerte Arbeit am eigenen Konsumverhalten im Sinne eines »taste for ethics« als einer Neigung, die ethische Richtigkeit des eigenen Verhaltens konstant zu hinterfragen (Varul 2010: 375), in den Erzählungen der Interviewpartner kaum festzustellen ist. Matthias Zick Varul weist darauf hin, dass in den von ihm geführten Interviews mit Fair-Trade-Konsumenten relativ deutlich wird, wie besorgt die Befragten um ihren moralischen Status sind. Dies wird etwa daran erkennbar, dass sie sich beim Interviewer rückversichern, ob sie auch ausreichend engagiert seien, um als ›gute‹ Konsumenten im Sinne des Fair-Trade-Gedankens zu gelten. Daraus schließt Varul, dass es ethischen Konsumenten nicht nur darum geht, Gutes zu tun, sondern vor allem darum, gut zu sein, und schlägt das Konzept des »ethical selvings« vor, um diese Tatsache zu beschreiben (Varul 2010: 370). Im Kontrast dazu betonen viele meiner Interviewpartner recht offenherzig, dass sie sich außerstande sehen, sich in Hinsicht auf ihr Einkaufs- und Essverhalten »konsequent« an dem zu orientieren, was sie selbst für moralisch wünschenswert halten. Die detaillierte Analyse der Formen des Verhältnisses von Reflexivität und Routine bietet auch Rückschlüsse für die Analyse spätmoderner Gesellschaften. Ulrich Beck (1986: 190) und Anthony Giddens betonen in ihren Werken zur reflexiven Modernisierung sehr stark das Moment von Wahlentscheidungen. Akteure haben demzufolge zunehmend »no choice but to choose« (Giddens 2009 [1991]: 84). Zudem geht Giddens davon aus, dass alltägliche Konsumwahlen auf fundamentale Weise mit Selbstidentität verknüpft sind und dass Alltagsentscheidungen in einer globalisierten Welt eine politisch-moralische Bedeutung zukommt: »Life politics […] is a politics of life decisions.« (Ebd.: 215) Alan Warde merkt zu den von Giddens skizzierten Akteuren an: »Such people are ›choosing‹ in the strong sense, since they recognize that decisions entail responsibilities« (1994: 895). Die hier vorgestellte Typik legt dagegen nahe, dass viele Situationen, die aus einer Außenperspektive als eine Entscheidungssituation im starken Sinne interpretiert werden können, von den Akteuren selbst gar nicht als solche wahrgenommen werden. Die meisten Entscheidungen des Alltags – etwa darüber, was man am Tag essen solle – sind schwache Entscheidungen, die nicht oder kaum mit dem eigenen Selbstbild oder den moralischen Ideen eines ›guten‹ Konsums (vgl. Kap. 5.2) verknüpft sind. Dies zeigte sich etwa bei Frau Steinhoff, die ihre Selbstwahrnehmung, sich um eine gesunde Ernährung zu kümmern, aufrechterhält, obwohl sie in einem wichtigen Alltagsbereich ihren eige-
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nen Vorstellungen von gesundem Essen nicht folgt. Aus diesem Grund ist es hilfreich, auf Alan Wardes Unterscheidung zwischen den Begriffen »choice« und »selection« zurückzugreifen, wobei letzterer Begriff die eher routinisierthabitualisierten Entscheidungen betrifft. Allerdings drückt sich in der erwähnten reflexiven Abwägung von ›guten‹ Konsumpraktiken mit den komplexen Gegebenheiten des Alltags auch aus, dass es für ›gewöhnliche‹ Konsumenten eben nicht alles ist, moralisch gut zu sein, sondern bereits viel bedeutet, den eigenen Alltag zu bewältigen. Damit ist keineswegs gesagt, dass nicht zumindest Ansätze eines »ethical selvings« zu beobachten wären. Diese zeigen sich jedoch im Material in einer weitgehend fragmentierten Weise. Lediglich in Situationen des reflexiven Gewahrwerdens – das Interview selbst stellt eine solche dar – wird die Normalität routinisierten Handelns durchbrochen.
7 Die sinnbezogene Wechselwirkung zwischen Konsummoral und sozialer Distinktion
Bereits bei der Entwicklung einer eigenen Forschungsperspektive wurde darauf hingewiesen, dass Ethik und Moral gewissermaßen als zwei Seiten einer Medaille beschrieben werden können. Während sich Ethik auf die Maßstäbe des eigenen Handelns bezieht, bezieht sich Moral auf die Bewertung des Handelns anderer (Varul 2004). Man sollte annehmen, dass in modernen Gesellschaften, die nicht auf Einheitlichkeit, sondern auf organischer Solidarität (Durkheim 1992 [1977]) und somit Unterschiedlichkeit basieren, moralische Verallgemeinerungen letztlich verpönt sind. Und dennoch droht die tiefsitzende moralische Überzeugung, »daß man das, was man von sich fordert, auch von anderen fordern könne«, auch in differenzierten Gesellschaften immer wieder durchzubrechen (Varul 2004: 24-25). Um diese dunklere Seite der Medaille der Konsummoral, auf der die moralisierende Abwertung des Verhaltens anderer Menschen zum Vorschein kommt, geht es im folgenden Kapitel. Dabei wird von der forschungsleitenden Annahme ausgegangen, dass die Moralisierung des Konsums die Funktion erfüllt, sich distinktiv von anderen sozialen Gruppen abzugrenzen. Aus diesem Grund gehe ich einleitend auf die bisherige soziologische Debatte um Distinktion durch Essen ein, um anschließend einige begriffliche Klärungen für die eigene empirische Untersuchung vorzunehmen. In der Soziologie gibt es spätestens seit Thorstein Veblens klassischem Werk »Die Theorie der feinen Leute« (2007 [1899]) eine Debatte über die Arten und Weisen, mittels Konsum hierarchische Distinktion und Zugehörigkeit zu Gruppen zu signalisieren (vgl. Reisch 2002, siehe auch Kap. 2.2). Als prominentester Beitrag zu dieser Debatte kann Pierre Bourdieus mittlerweile ebenfalls klassische Studie »Die feinen Unterschiede« gelten, in der er für das Frankreich der 1960er Jahre zeigt, wie unter anderem anhand von Essenspraktiken und ge-
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schmacklichen Präferenzen Klassenzugehörigkeit und Distinktion zum Ausdruck gebracht werden. In neueren Studien zu Essen und Konsum ist diese Sichtweise teils relativiert und teils bekräftigt worden. Alan Warde weist darauf hin, dass die Möglichkeiten eher gering sind, mittels des Konsums von Essen Identität und soziale Distinktion zum Ausdruck zu bringen (Warde 1997: 200). Wenn überhaupt, werden positionale und expressive Funktionen mit dem Essen außer Haus in Verbindung gebracht (Tomlinson 1994: 16). Dagegen seien der innerhäusliche Konsum und der Einkauf von Lebensmitteln im Wesentlichen geleitet von praktischen Erwägungen sowie von Idealen, die vom Großteil der Bevölkerung geteilt würden und kaum Klassenunterschiede erkennen ließen. Die Autoren einer großen englischen Replikationsstudie zu Bourdieus »Feinen Unterschieden« fassen zusammen, dass von allen untersuchten kulturellen Aktivitäten das häusliche Essen am stärksten durch eine Kultur des Notwendigen gekennzeichnet sei. Während die Diskussion angemessener Essrituale und richtiger Ernährung von moralischen Untertönen begleitet werde, finde symbolische Distinktion im Kontext des familiären Essens kaum statt (Bennett et al. 2009: 167-168). Dagegen betonen Wills et al. (2011), dass häusliche Esspraktiken nicht in einem sozialen Vakuum stattfinden, sondern in ein breiteres Beziehungsnetzwerk eingebettet sind. In ihrer vergleichenden qualitativen Studie finden sie deutliche Unterschiede zwischen den Esspraktiken in »working class«- und »middleclass«-Haushalten in Schottland und interpretieren diese als Resultat unterschiedlicher Klassenhabitus. In den untersuchten Arbeiterhaushalten herrscht demnach eine Präferenz für traditionelles schottisches Essen vor, die Funktion des Essens wird in erster Linie in der Sättigung aller Familienmitglieder gesehen; nur selten werden Gäste eingeladen, und die geschmacklichen Vorlieben der Kinder werden tendenziell als deren eigene Entscheidung akzeptiert. Dagegen präferierten die untersuchten Mittelklasse-Familien verschiedene ausländische Küchen. Innerhalb der Familien werden Debatten um gesunde Ernährung geführt. Repräsentative Funktionen des Essens spielen bei der Bewirtung von Gästen eine größere Rolle. Zudem wird ein größerer Wert darauf gelegt, den Geschmack der Kinder aktiv zu erziehen. Auch die Zeithorizonte der Orientierungen variieren den Autoren zufolge: Während es in den Arbeiterklasse-Familien in erster Linie um die praktische Bewältigung der Gegenwart gehe, sei die auf die Entwicklung eines guten Geschmacks gerichtete Erziehung der MittelklasseEltern stark auf das zukünftige kulturelle und soziale Kapital (Bourdieu 1983) ihrer Kinder ausgerichtet (Wills et al. 2011: 735-737). Diese Ergebnisse sind als Hinweis zu verstehen, dass Distinktion nicht unbedingt nur dann eine Rolle spielt, wenn sie im öffentlichen Raum für andere sichtbar performativ vollzogen
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wird. Auch vermeintlich isolierte oder private Konsumpraktiken können darauf gerichtet sein, die eigene Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe zu bekräftigen und sich gegenüber anderen abzugrenzen. Kaum empirisch untersucht worden ist dagegen bislang, inwiefern ›ethische‹ Konsumpraktiken für Zwecke der sozialen Distinktion genutzt werden. Johnston et al. (2011) weisen in einer amerikanischen Studie darauf hin, dass in ihren Interviews nur wenige direkte Moralisierungen anderer zu finden sind, die sich auf dominante Diskurse um ›ethisches Essen‹ – z.B. die Reduktion des Fleischkonsums oder umweltfreundliches Essen – beziehen. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass das Konsumverhalten anderer sozialer Klassen nur in Einzelfällen als ›unethisch‹ angegriffen wird, eher komme Distinktion in den Verweisen auf eigene Präferenzen hochqualitativer und gesundheitsfördernder Lebensmittel zum Ausdruck (ebd.: 306). In Anschluss an diese Debatte ergibt sich die Frage, inwiefern die in den vorigen Kapiteln untersuchte Alltagsmoral des Lebensmittelkonsums in Bezug zu sozialer Distinktion steht. Eingangs wurde unterschieden zwischen persönlicher Ethik und ihrer Entäußerung in Form von moralischer Kommunikation (vgl. Kap. 3). Während sich die letzten Kapitel in erster Linie mit den habituell verankerten Moralurteilen und -überzeugungen – also der persönlichen Ethik – beschäftigt haben, steht nun die explizit geäußerte moralische Kommunikation im Fokus, die immer eine Zuteilung von Achtung oder Missachtung gegenüber anderen als ganzer Person beinhaltet. Um dabei Phänomene der Distinktion in den Blick zu bekommen, geht es neben der Frage, wie moralisiert wird, insbesondere auch darum, gegen wen sich die Moralisierung des Lebensmittelkonsums richtet und wie inhaltliche Vorwürfe mit den Adressaten variieren. Zunächst sind jedoch einige begriffliche Klärungen notwendig. Bourdieu unterscheidet zwischen unterschiedlichen Bedeutungen von Distinktion, mit denen jeweils spezifische Funktionen einhergehen (Müller 2005: 34): Zum einen wird Distinktion als Differenz verstanden, die für den Handelnden eine kognitive, da Orientierung verleihende Funktion hat (ebd.). Zum anderen geht es um die Abgrenzung und Besserstellung gegenüber anderen, worin eine evaluative Funktion angesprochen ist.1 Wenn im Folgenden von Distinktion die Rede ist, so soll es ausdrücklich nur um Ersteres gehen, Distinktion wird also als Wahrnehmung und Bezeichnung sozialer Differenzen verstanden. Im Interviewmaterial kommen diese Differenzen in der Regel durch eine Abgrenzung der eigenen sozialen Gruppe von anderen sozialen Gruppen und durch Benennung der jeweiligen Unterscheidungsmerkmale deutlich zum Ausdruck. Diese 1
Darüber hinaus weist Müller (2005) auch auf die expressive Funktion der Distinktion hin, die im Kontext dieses Kapitels allerdings von nachrangiger Bedeutung ist.
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Feststellung von Unterschiedlichkeit muss dabei – wie im Folgenden zu zeigen ist – nicht notwendigerweise mit einer Bewertung einhergehen, sondern kann sich auch in einer nüchternen Beschreibung der Unterschiede erschöpfen. Moralisierungen werden hingegen in Anschluss an Bergmann und Luckmann als »sozial wertende Stellungnahmen, die sich auf Handlungen oder Personen beziehen und geeignet sind, das Ansehen, das Image, die Ehre oder den Ruf der benannten oder identifizierbaren Personen zu beeinträchtigen oder zu steigern« (1999: 23), verstanden. Es geht dabei um Kommunikation, die eine deutliche Wertung beinhaltet und mit der Achtung oder Missachtung zugeteilt wird. Im Begriff der Moralisierung ist nun gerade jene evaluative Dimension angesprochen, die im Folgenden aus dem Begriff der Distinktion ausgeklammert werden soll, um beide Dimensionen analytisch sauber zu trennen. Aus der Differenz zwischen Wahrnehmung und Benennung von Unterschieden zwischen der eigenen Gruppe und anderen Gruppen einerseits (Distinktion) und den wertenden Stellungnahmen zu den Merkmalen dieser anderen (Moralisierung) ergibt sich zusätzlich die Frage, welche typischen Relationen zwischen diesen Dimensionen im Material zu beobachten sind. Die nachfolgenden Analysen basieren weitgehend auf den Antworten zu einigen Fragen, mittels derer die Interviewpartner dazu aufgefordert wurden, ihr eigenes Konsumverhalten im Kontext sozialer Schichtung einzuordnen und wahrgenommene Unterschiede zu anderen sozialen Gruppen zu erörtern.2 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sich einige wenige Befragte deutlich vom Schichtbegriff abgrenzen, indem sie die Relevanz des Begriffes in Frage stellen. Hierin kommt zum Ausdruck, dass die Interviewpartner in ihren Ausführungen teilweise von der Interviewfrage abweichende »Repräsentationen 2
Aufgrund des Forschungsinteresses an vertikalen sozialen Ungleichheiten orientierten sich die Fragen am Schichtbegriff. Schicht wurde anderen Kategorien wie Klasse oder Milieu vorgezogen, um eine höhere Anschlussfähigkeit an die alltagsweltlichen Vorstellungen der Interviewpartner herzustellen. Die Fragen lauteten im Einzelnen: a) In der öffentlichen Debatte wird ja öfter über die sogenannten »sozialen Schichten« geredet. Welcher sozialen Schicht glauben Sie denn anzugehören?; b) Glauben Sie, dass Sie für Ihre Schicht »typisch« konsumieren? Können Sie beschreiben, was daran typisch ist?; c) Welchen Unterschied sehen Sie zwischen Ihrem Konsumverhalten und Leuten, die man zur Unterschicht / oberen Mittelschicht / Oberschicht [Nichtgenanntes abfragen] zählen würde? Während die Frage Schichten als Referenzgruppe vorgibt, ist sie offen in der Hinsicht, dass wertende Stellungnahmen durch die Frage nicht provoziert werden. Im Material dokumentiert sich, dass einige Interviewpartner nüchtern wahrgenommene Unterschiede zwischen sich und anderen Schichten beschreiben, während andere sich deutlich wertend abgrenzen.
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sozialer Ungleichheit« (Barlösius 2005) zugrunde legen. Ungleichheiten können zwar anhand von sozialwissenschaftlichen Messinstrumenten ›objektiv‹ beobachtet werden, müssen aber im lebensweltlichen Kontext durch die Agierenden gedeutet werden. Die Wahrnehmung einer Gesellschaft – z.B. als klassengegliederte oder individualisierte Gesellschaft – ist damit als soziale Konstruktionsleistung anzusehen (Kraemer 2010: 7; Nollmann/Strasser 2002). Die Komplexität des Materials ist damit hoch, da neben der Selbstverortung in einem imaginierten sozialen Raum auch die Deutung der Strukturierung dieses Raums durch die Beforschten in Betracht gezogen werden muss. Ein objektivistisches Klassenverständnis, das davon ausgeht, dass Klassen in der sozialen Welt existieren, ist nach dem heutigen Stand soziologischer Forschung nicht mehr haltbar. Klassen werden daher als »wohlbegründete theoretische Konstrukte« (Bourdieu 1997: 104) bezeichnet, die erst durch die Konzepte der Forscher beobachtbar werden. Im Unterschied zu den mehr oder weniger präzise definierten Kategorien von Forschern sind die Befragten jedoch Laien, die weder über eine Theorie der sozialen Strukturierung der Gesellschaft noch über die Mittel verfügen, mit denen Sozialwissenschaftler Klassen beobachten. Dies bedeutet nicht, dass die Befragten ›falsche‹ Vorstellungen hätten, jedoch bleiben die Aussagen der Befragten notwendigerweise relativ vage. Zwar gaben die Fragen des Interviewers Bezugspunkte wie »obere Mittelschicht« oder »Unterschicht« vor, allerdings bleibt unklar, wie diese Kategorien durch die Befragten ausgelegt werden. Aus diesem Grund sollten die Abgrenzungen relational interpretiert werden: Sie beziehen sich auf Gruppen, deren sozialer Status im Vergleich zum eigenen Status als höher oder niedriger bewertet wird. Insgesamt zeigt das Material eine deutliche Relation zwischen sozialer Positionierung und Moralisierung. Im Folgenden analysiere und vergleiche ich zunächst jeweils einige typische Abgrenzungen nach ›unten‹ (Kap. 7.1) und nach ›oben‹ (Kap. 7.2), da diese jeweils mit spezifischen Sinninhalten verbunden sind. Abschließend diskutiere ich einen Ausnahmefall, in dem eine Relativierung vertikaler Ungleichheit zum Ausdruck kommt (Kap. 7.3), und ziehe schließlich ein Fazit (Kap. 7.4).
7.1 ABGRENZUNGEN
NACH › UNTEN ‹
Im Material finden sich immer wieder Abgrenzungen gegenüber Gruppen, denen ein niedrigerer sozialer Status zugeschrieben wird als der eigene. Wie zu zeigen sein wird, zeichnen sich diese Abgrenzungen nach ›unten‹ durch spezifische Sinngehalte aus, die sie von den Abgrenzungen nach ›oben‹ unterscheiden. Die
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Vorwürfe beinhalten insbesondere, dass sich ein Teil der sozial Unterprivilegierten einseitig ernähre, zu stark auf industriell prozessierte Lebensmittel setze und das eigene Konsumverhalten in zu geringem Maße rational plane. 7.1.1 »Die Familien sagen sie könnten mit vier oder fünf Euro am Tach ihrn Kindern nichts Vernünftiges zu essen geben« – Frau Amann Im Interview von Frau Amann – die bereits in Kapitel 6.1.2 vorgestellt wurde – zeigen sich klare Abgrenzungen gegenüber Menschen, die in der sozialen Hierarchie unten stehen. Diese gehen zudem mit einer scharfen Moralisierung einher. ›Objektiv‹ kann Frau Amann aufgrund ihrer Ausbildung und ihres kaufmännischen Berufs zur mittleren Mittelklasse gezählt werden. Zur subjektiven Selbstverortung fragt der Interviewer im Nachfrageteil, welcher sozialen Schicht sich Frau Amann zurechnen würde. Darauf antwortet Frau Amann ohne zu zögern: »Also ich würd mich schon zur Mittelschicht die es ja angeblich irgendwann nich mehr geben soll aber schon zu der ja doch bessere Mittelschicht zähln gottseidank (.) Würd ich schon sagen«
Frau Amann liefert sofort eine eindeutige Einstufung (»Mittelschicht«), ohne die Kriterien für diese Zuordnung zu thematisieren. An der affirmativen Antwort auf die Frage zeigt sich zunächst, dass Frau Amann die Gesellschaft als hierarchisch gegliedert wahrnimmt. In Anbetracht einer zwar nicht unbedingt wahrscheinlichen, aber doch möglichen Zukunft, in der soziale Umwälzungen stattfinden könnten (»die es ja angeblich irgendwann nicht mehr geben soll«), ist Frau Amann dankbar, sich zur Mittelschicht rechnen zu können. An der schnellen Antwort wie auch an der Formulierung (»bessere Mittelschicht«) dokumentiert sich zum einen, dass die Positionierung in der gesellschaftlichen Hierarchie für Frau Amann von hoher subjektiver Bedeutung ist. In dem hektisch gesprochenen »gottseidank«, bei dem sie die Worte ohne Pause miteinander verbindet, wird zudem eine gewisse Angst deutlich, möglicherweise irgendwann nicht mehr zu dieser sozialen Gruppe zu gehören. Anschließend an diese Passage fragt der Interviewer nun danach, welche Unterschiede sie beim Konsumverhalten im Vergleich zu Leuten sieht, die »man« zur Unterschicht rechnen würde: »Ähm (3) ja schon dass wir drauf achten ok wie gesacht ich geh auch im Discounter einkaufen klar ähm aber wo wir jetz doch schon drauf achten was wir essen dass unsre Kin-
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der viele frische Sachen auch essen Obst Gemüse vielfältich und äh wenich Fastfood wenn Fastfood wie zum Beispiel Pizza dass wir die selber machen ähm un ich denke wir machen uns da schon viele Gedanken also die Unterschiede seh ich da schon.«
Frau Amann setzt zu einer Beschreibung von Unterschieden an, geht aber zunächst auf eine Gemeinsamkeit ein: Sie assoziiert den Einkauf im Discounter spontan mit der ›Unterschicht‹, wo sie auch selbst einkauft. Hinsichtlich des Speiseplans sowie der Praxis der Zubereitung von Essen grenzt sie ihre Familie hingegen ab: Sie macht deutlich, dass sie auf einen hohen Anteil frischer Zutaten, möglichst viele unverarbeitete Produkte, die durch eigene Arbeit verzehrfertig gemacht werden, und hohen Abwechslungsreichtum beim Essen Wert legt.3 Ihre Praxis beschreibt sie dabei in Zusammenhang mit der elterlichen Verantwortung für ihre Kinder. Dagegen schreibt sie der ›Unterschicht‹ implizit den Kauf von Fastfood, Fertigprodukten und einen insgesamt eintönigen, wenig gesunden Ernährungsstil zu. Zudem stellt sich Frau Amann gegenüber dem Interviewer als überdurchschnittlich reflektierte Konsumentin dar (»wir machen uns da schon viele Gedanken«), womit eine weitere Abgrenzung deutlich wird. Insgesamt zeigt sich hier eine deutliche Distinktion zwischen Mittel- und Unterschicht, die jedoch nicht alle Dimensionen der Konsumpraxis betrifft. Weiter führt Frau Amann aus: »Man folgt verfolgt ja natürlich viele Berichte auch am Fernsehn über (.) die sogenannten sozialen Schichten, Unterschichten Hartz vier Empfänger und in Großstädten wo Kinder dann zu ähm diesen Krippen gehn müssen mittachs oder dass sie Essen kriegen dass se ma wenigstens ne warme Mahlzeit am Tach haben und ähm ja das beschäftigt ein schon wenn man solche Berichte sieht und hört dass dann die Familien sagen sie könnten mit vier oder fünf Euro am Tach ihrn Kindern nichts Vernünftiges zu essen geben un man sieht dann da die Pizzaschachteln liegen oder so ähm da ergeben sich für mich dann wirklich Diskrepanzen weil ich denke wenn ich zum Beispiel Aldi Lidl oder sonstwo hingehe und kauf n Kilo Möhrn wenns auch nich Biomöhrn sin normale Möhrn die kosten vielleicht neunsiebzich Cent was kann ich aus diesem Kilo Möhrn alles machen und da denk ich da kostet so ne Fertichpizza selbst wenn es ne No Noname is is im Vergleich irre und da denk ich manchmal aber es mag auch n Vorurteil sein es betrifft natürlich nicht alle um Gottes 3
Bereits im Erzählteil des Interviews betont Frau Amann, dass sie auf frische, unverarbeitete Lebensmittel sowie das selbst Kochen großen Wert lege. Dieser Orientierungsrahmen wurde von Frau Amann selbst eingebracht, was ein Beleg dafür ist, dass die hier zitierte Ausführung nicht lediglich eine (strategische) Reaktion auf die Frage nach schichtspezifischem Konsumverhalten ist, sondern Frau Amanns eigene Wertvorstellungen widerspiegelt.
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willn manche sind auch einfach nur faul vielleicht auch dumm man weisses nich vielleicht sin se s von zu Hause nich gewöhnt wie man Essen zubereitet un das find ich einfach schlimm das find ich wirklich schlimm«
Frau Amanns Vorstellungen über die ›Unterschicht‹ basieren offenbar auf Informationen, die sie über indirekte Kanäle bekommen hat: Neben Fernsehberichten erwähnt sie an anderer Stelle, dass ihre Kinder in der Schule Kontakt mit anderen Kindern haben, »die nich genug zu essen haben«. Persönlicher Kontakt zu Menschen in prekärer finanzieller Lage wird im Interview hingegen an keiner Stelle erwähnt. Dementsprechend muten ihre Schilderungen auch stereotyp an. Die Schilderung der Berichte über Kinder, die zu Krippen gehen »müssen«, um »wenigstens« eine Mahlzeit zu bekommen, trägt sie mit großer Erschütterung vor. Auch wenn die Eltern nicht explizit erwähnt werden, attestiert Frau Amann hier implizit deren großes Versagen, da es deren Aufgabe wäre, für das leibliche Wohl ihrer Kinder zu sorgen und ihnen den erniedrigenden Gang zur wohltätigen Einrichtung zu ersparen. An der Einordnung der Thematik der Sendungen (»über die sogenannten sozialen Schichten Unterschichten Hartz vier Empfänger«) zeigt sich, dass Frau Amann die Vernachlässigung von Kindern als schichtspezifisches Problem wahrnimmt. Inwiefern die Sendungen die Lebenswirklichkeit dieser Schichten wiedergeben, wird dabei jedoch nicht thematisiert; an der Äußerung von Betroffenheit (»das beschäftigt ein schon«) zeigt sich vielmehr, dass Frau Amann die Berichte sehr ernst nimmt. Mit großer Empörung trägt Frau Amann außerdem vor, wie sie die Menschen in den Sendungen erlebt: Sie beklagen sich einerseits darüber, dass sie mit ihrem geringen Einkommen ihren Kindern »nichts Vernünftiges zu Essen geben« könnten, andererseits ist offensichtlich, dass sie Fertigpizzen kaufen, ein aus Sicht von Frau Amann verhältnismäßig teures Produkt. Die Klagen sieht Frau Amann als unberechtigt an, da sie selbst für das gleiche Geld mit Leichtigkeit eine »vernünftige« Ernährung realisieren könnte, indem sie etwa gesunde und frische Produkte vom Discounter kauft und diese selbst zubereitet. Hier zeigt sich, dass Frau Amann aus einer spezifischen Perspektive heraus urteilt: Die Gegenüberstellung von Fertigprodukten und Selbstzubereitung hat zum einen mit Zeitregimen, zum anderen mit Wissen und Fähigkeiten zu tun, die als Bestandteile kulturellen Kapitals (Bourdieu 1983) aufgefasst werden können: Es wird die Vorstellung deutlich, dass jeder mit geringen finanziellen Mitteln eine adäquate Ernährung realisieren kann. Dafür müssen lediglich etwas Zeit für die Zubereitung von frischem und gesundem Essen investiert und die Kompetenz angewandt werden, entsprechende Zutaten auszuwählen und aus diesen Zutaten etwas zu kochen. Es wird somit deutlich, dass wenig Geld für Frau Amann keine
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legitime Ausrede für eine ›schlechte‹ Konsumpraxis ist, da einkommensschwache Menschen andere Ressourcen mobilisieren könnten. Wer aber über diese Ressourcen nicht verfüge, sei »faul« oder »dumm«: Während Frau Amann einkommensschwache Menschen respektiert, die kulturelles Kapital einsetzen, um eine Konsumpraxis zu realisieren, die ihren Wertvorstellungen gerecht wird, verurteilt sie Menschen, die über diese Ressourcen nicht verfügen. Hingegen ist an keiner Stelle erkennbar, dass die eigene Praxis und die Bedingungen, denen sie unterworfen ist, kritisch zu den Urteilen über die ›Unterschicht‹ in Beziehung gesetzt werden: So berichtet Frau Amann an anderer Stelle, dass ihr Mann seit einigen Jahren halbtags arbeite und sich seitdem verstärkt um das tägliche Kochen kümmere. Insgesamt erscheint plausibel, dass Frau Amanns Verurteilung von Fertigprodukten mit ihrer Rolle als Mutter zweier Kinder zusammenhängt. Ihre Perspektive ist stark durch die Haushaltsform geprägt. Auch im restlichen Interview thematisiert sie die Themen Einkauf und Ernährung immer wieder in Bezug auf ihre Kinder. Dabei zeigt sich mehrfach, wie bedeutsam es ist, Kindern beim gemeinsamen Essen moralische Regeln (»Essen wegschmeißen das is ganz schlimm«) und kulturelle Kompetenzen (»dass sie wissen wenn sie eine Möhre sehn dass es eine Möhre ist«) zu vermitteln und beim Essen gemeinsam Zeit als Familie zu verbringen. Mehrfach nimmt Frau Amann dabei auch auf Abweichungen von diesen Vorstellungen Bezug, wobei stets starke Empörung oder Erschütterung zum Ausdruck kommt. Es wird somit insgesamt eine Vorstellung deutlich, nach der ›guter‹ Konsum zwar nur begrenzt ökonomisches Kapital, aber hohe Zeitkapazitäten und kulturelles Kapital voraussetzt. An anderer Stelle spricht Frau Amann von wohltätigen Einrichtungen wie der Tafel und bringt ihre Hoffnung zum Ausdruck »es wird auch wirklich von den Leuten genutzt die s brauchen un nich von andern ausgenutzt«. Die Moralisierung der der ›Unterschicht‹ zugeschriebenen Konsummuster weist damit Parallelen auf zu der gängigen Unterscheidung zwischen unverschuldet Armen, die respektiert werden können und denen Hilfe zuteilwerden darf, und selbstverschuldet Armen, die Hilfe nur ausnutzen.4 Diejenigen, die Zeit und Kompetenz einsetzen, um trotz ihrer Armut den geäußerten Wertvorstellungen gerecht zu werden, sind demnach zu unterscheiden von den Faulen und Dummen, die sich gehen lassen und ihren Kindern keine richtige Ernährung bieten. Als These kann die Vermutung festgehalten werden, dass in Frau Amanns Haltung möglicherweise eine Schutzfunktion gegen die oben bereits angesprochenen Prekaritätsängste zu sehen ist: Während in sozial unsicheren Zeiten Arbeit und Einkommen möglicherweise bedroht 4
Zur Unterscheidung zwischen ›deserving‹ und ›undeserving poor‹ siehe Adams und Raisborough (2008: 1174).
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sind, kann sie sich doch immer auf ihr kulturelles Kapital berufen, das es ihr ermöglicht, ihre Wertvorstellungen auch unter schwierigen Bedingungen zu realisieren. 7.1.2 »Der Verdacht liegt manchmal nahe, dass es möglicherweise soziale Schichten gibt, die tendenziell sich eher weniger informieren als wir es vielleicht tun« – Herr Staudt Ein sehr ähnliches Muster der Abgrenzung ›nach unten‹ findet sich auch im Interview mit Herrn Staudt, womit fallabstrahierend gezeigt werden kann, dass es sich hier um ein überindividuelles Sinnmuster handelt. Herrn Staudt habe ich durch den Kontakt zu einer Schule kennengelernt, an der er als Lehrer beschäftigt ist. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er zwischen 35 und 40 Jahre alt und lebt mit seiner – derzeit nicht berufstätigen – Frau und zwei Söhnen im Kleinkindalter in einer Mietwohnung. ›Objektiv‹ kann Herr Staudt aufgrund seines Berufs zur oberen Mittelklasse gerechnet werden. Auf die Bitte des Interviewers, sich selbst einer sozialen Schicht zuzuordnen, reagiert Herr Staudt zunächst mit deutlicher Ablehnung. Das Denken in Schichten bezeichnet er als »Kategorisierung«, die ihm »fremd« und »suspekt« sei. Daraus lässt sich entnehmen, dass Herr Staudt die pauschale Beurteilung von Menschen und die Abstrahierung von ihren individuellen Eigenschaften Unbehagen bereitet. Anschließend reflektiert er, dass sein Freundeskreis hauptsächlich aus Leuten bestehe, die wie er Akademiker seien und mindestens so viel verdienen wie er, betont aber noch einmal, dass er nicht »geneigt ist, in Schichten zu denken«. Dieser nachdrücklichen Distanzierung vom Schichtbegriff – trotz des Bewusstseins um die soziale Homogenität des Freundeskreises – lässt sich entnehmen, dass er sich selbst als jemanden versteht, der tolerant und frei von schnellen Vorurteilen ist und auch offen für Freunde wäre, die sich in einer anderen sozialen Lage befinden. So möchte er sich auch dem Interviewer präsentieren. Allerdings tauchen im weiteren Verlauf seiner Argumentation eine klare Vorstellung davon auf, was es bedeutet, ein ›guter‹ Konsument zu sein, sowie eine Moralisierung von Menschen, die von dieser Vorstellung abweichen: »Wir sehen schon mal Leute die vielleicht sich um die Ernährung (.) oder Kleidung ihrer Kinder vielleicht weniger Gedanken machen als wir wir machen uns Gedanken wir entscheiden uns immer bewusst vielleicht auch bewusst anders als andere oder als die meisten vielleicht aber ähm wie gesagt es sind bewusste Entscheidungen die konkret getroffen sind nach Reflektion und nach äh Recherchen wie auch immer und wir bilden uns ein dass
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wir manchmal beim Einkauf eben auch Leute sehen beobachten können die das offenbar nicht tun die meinetwegen einem Kind was ähnlich alt is wie unser Junge der dann schon mal `n Schokoriegel isst oder so dann denk ich oh Gott wie kann man das machen oder zum Beispiel ähm ähm was weiß ich Kinder sitzen im Auto und der Vater raucht zum Beispiel solche Dinge dann dann äh erwischen wir uns natürlich auch dabei dass wir kaum Leute kennen (.) die das so machen würden«
In dieser Passage diskutiert Herr Staudt die Unterschiede zu anderen Konsumenten insbesondere in Bezug auf »Ernährung oder Kleidung« der eigenen Kinder. Wie bereits bei Frau Amann zeigt sich hier eine haushaltsformspezifische Orientierung, die typisch für Familien mit jungen Kindern ist. Noch deutlicher als Frau Amann zieht Herr Staudt Reflexivität als Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen Konsumenten heran: Gute Kaufentscheidungen sind solche, denen Recherche und sorgfältige Abwägungen vorausgehen, um auf dieser Basis zu einem begründeten und daher rationalen Urteil zu kommen. An der Betonung, dass die eigenen Entscheidungen auch anders ausfallen können als die anderer Menschen, wird deutlich, dass Herr Staudt die eigene Auseinandersetzung mit durch Recherche zugänglichem Fachwissen höher bewertet als die Orientierung an dem, was andere Bekannte empfehlen. Hier wird eine Vorstellung deutlich, dass man sich als rationaler Konsument ein eigenes Urteil bilden sollte, anstatt blind auf die möglicherweise irrationalen Empfehlungen anderer zu hören. In der weiteren Argumentation stellt Herr Staudt einen Zusammenhang zwischen Reflexivität und richtigem Handeln in Bezug auf die Kinder her (»wie bilden uns ein, dass wir manchmal Leute sehen […], die das [bewusste Entscheidungen treffen, JG] offenbar nicht tun«) und exemplifiziert dies anhand von zwei Handlungsweisen, die er bei Fremden beobachtet hat. Diesen Beispielen lässt sich folgende Denkfigur entnehmen: Wer gründlich nachdenkt, würde Kindern im Alter von drei Jahren keine Schokolade geben und auch nicht vor den Kindern rauchen, da er zu dem Schluss kommen müsste, dass dies nur falsch sein kann, da es schlecht für die Kinder ist. Implizit wird somit zum einen die Vorstellung deutlich, dass Reflexionen mehr oder weniger zwingend zu den von Herrn Staudt vorgebrachten Wertüberzeugungen führen – etwa, dass kleine Kinder noch keine Süßigkeiten bekommen sollten.5 Diejenigen, die anders handeln, hätten nur nicht genug nachgedacht, Herr Staudt verurteilt damit insbesondere das unüberlegte Handeln dieser Menschen. In der weiteren Elaboration seines Arguments bezieht er dieses Argument nun auf soziale Schichten: 5
An mehreren Stellen im Interview verweist Herr Staudt darauf, dass er und seine Frau darauf achten würden, dass ihre Kinder möglichst wenig Zucker und keine Süßigkeiten konsumierten.
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»Ähm ich bin aber mm na ja im Moment noch weit davon entfernt da jetzt von Schichten zu sprechen obwohl der Verdacht manchmal nahe liegt ja aber wie gesagt dann ich will mich da nich in so äh in so Klischees da rein äh rein manövrieren lassen fände ich irgendwie (spricht leise) ungerecht (spricht wieder in normaler Lautstärke) aber der Verdacht liegt manchmal nahe dass es möglicherweise Bevölkerungs- oder soziale Schichten gibt äh die tendenziell sich eher weniger informieren oder eher weniger drauf achten als wir es vielleicht tun vielleicht«
An dieser Stelle zeigt sich zunächst noch einmal, dass Herr Staudt Menschen nicht auf Basis weniger Eindrücke kategorisieren möchte. Des Weiteren wird aber deutlich, dass Herr Staudt trotzdem die von ihm verurteilten Handlungsweisen sowie ein uninformiertes und unachtsames Konsumverhalten mit sozialen Schichten in Verbindung bringt. Letztlich wird hier somit eine klare moralische Distinktion deutlich: Den niedriger gelagerten sozialen Schichten wirft er letztlich Irrationalität bei Konsumentscheidungen vor. 7.1.3 »Ich betreue ja Hartz-IV-Empfänger und deren Konsumverhalten sieht eigentlich so aus, dass sie vollkommen planlos sich einfach schnelle, billige Lebensmittel kaufen« – Frau Steinhoff Frau Steinhoff wurde bereits in Kapitel 6.1.3 vorgestellt. Sie kann ›objektiv‹ aufgrund ihres Berufs als Sozialarbeiterin zur mittleren Mittelklasse gezählt werden (vgl. Oesch 2006). Bei Frau Steinhoff wird deutlich, dass die Selbstpositionierung in einer vertikalen Hierarchie sowie die Abgrenzung sowohl nach unten als auch nach oben eine große Rolle spielt. Es werden Moralisierungen in Bezug auf die ›Unterschichten‹ deutlich, die jedoch im Vergleich zu Frau Amann schwächer ausfallen. Zudem thematisiert Frau Steinhoff als kinderlose Frau nicht den Umgang von Eltern mit ihren Kindern, womit sich die bereits bei Frau Amann und Herrn Staudt angedeutete Haushaltsformspezifik erhärtet. Vielmehr ist bei ihr die Gestaltung des Tagesablaufs ein wichtiges Thema, wobei sie zwischen Menschen in Arbeit und Arbeitslosen differenziert. Insgesamt wird jedoch wie bei Frau Amann ein Muster deutlich, bei dem soziale Distinktion zwischen der eigenen Gruppe und ›Anderen‹ mit Moralisierung des Konsumverhaltens Letzterer einhergeht. Auf die Frage des Interviewers, zu welcher sozialen Schicht sie sich zähle, reagiert Frau Steinhoff zunächst etwas ungehalten: »Ja das is also mh das is schwierig und gemein das ist ne gemeine Frage [Interviewer: Warum denn] Ähm naja also so soziale Schicht sich da selber einzuordnen (3) Wie soll man das verantworten ohne arrogant zu klingen (lacht) Also ich mein ich könnt jetz ein-
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fach Mittelschicht sagen und ich könnte sagen ich komm jetz irgendwie aus nem bürgerlichen Elternhaus also ich weiß aber auch gar nich wieviel davon wahr ist also ich meine ich bin ähm ich habe zwar studiert aber mit meinem Sozialpädagogenjob bin ich wahrscheinlich so an der unteren Grenze ne auch mit meinem Einkommen und so was ähm ich bin die erste aus meiner Familie die überhaupt studiert hat also ich glaub meine Eltern könnten sich noch nich mal vorstellen wie ne Uni aussieht also die sind wirklich ähm sind halt auch äh schön also mein Vatter schön handwerklich ne und auch die Eltern von meinem Freund der ist auch Bergmann ne also das ist so Mutter dann vielleicht Verkäufer oder so was ne also das ist sehr…«
Sie begründet ihre Ablehnung der gestellten Frage damit, dass die Frage kaum zu beantworten sei, ohne arrogant zu klingen. Zunächst bleibt jedoch unklar, warum sie die Beantwortung der Frage so schwierig findet. Im Gegensatz zu Frau Amann reflektiert Frau Steinhoff den eigenen Bildungsabschluss, das Einkommen sowie die Berufe der Eltern als mögliche Kriterien einer Selbstzuordnung zu Schichten. Daran zeigt sich, dass sie über ein – vermutlich im Studium erworbenes – theoretisches Wissen über soziale Schichten verfügt und dieses anwendet, um die Frage zu beantworten. Jedoch sieht sie Inkonsistenzen zwischen den Kriterien: Während Frau Steinhoffs Studium eine Zuordnung zur Mittelschicht rechtfertigen würde, sprechen ihr geringes Einkommen sowie der handwerkliche Beruf des Vaters aus ihrer Sicht eher dagegen. Der Interviewer fasst das Gesagte anschließend in der Paraphrase zusammen, dass ihre Eltern an der Grenze zwischen Mittel- und Arbeiterschicht zu verorten seien, worauf Frau Steinhoff kommentiert: »Ja so Arbeiterklasse is vielleicht nich so verkehrt zu sagen und ähm ja und mich da jetz irgendwie drüberzustellen nur weil ich irgendwie ne Uni besucht hab oder so will ich halt irgendwie auch nich und wie gesacht mit meinem Job, also jetzt wenn man das jetzt gehaltlich sieht oder äh lieg ich wahrscheinlich noch unter dem was mein Vatter als Drucker verdient ne also also ja«
Nachdem Frau Steinhoff die Paraphrase des Interviews validiert, wird mittels der gewählten Formulierung in der weiteren Ausführung deutlich, dass sie die Begriffe »Mittelschicht« und »Arbeiterklasse« als Elemente einer sozialen Hierarchie versteht, in der Erstere deutlich über Letzterer steht (»mich da jetz irgendwie drüberzustellen […] will ich halt irgendwie auch nich«). Das Zögern bei der Selbsteinstufung resultiert nicht aus einem Infragestellen der sozialen Hierarchie, sondern aus der Schwierigkeit, sich selbst in dieser zu verorten: Frau Steinhoff scheint durchaus mit einer Identifikation mit der Mittelschicht zu liebäugeln, was
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sich an dem deutlichen Dilemma zeigt, in das sie die Frage bringt. Die Selbstzuordnung zur Mittelschicht würde jedoch bedeuten, sich sozial von den eigenen Eltern abzugrenzen und sich damit als etwas Besseres zu definieren. Hier zeigt sich, dass Frau Steinhoff offenbar einen latenten Druck fühlt, ihre soziale Herkunft nicht zu verraten. Dies erinnert an die Norm der Konformität, die Bourdieu (1987) in den »Feinen Unterschieden« den unteren Klassen zuschrieb: »Ermahnungen (»für was hält sich denn die?«; »sowas ist nichts für uns«), aus denen das Konformitätsprinzip spricht (die einzige explizite Geschmacksnorm der unteren Klassen), [...] implizieren darüber hinaus eine Warnung davor, sich durch Identifizierung mit anderen gesellschaftlichen Gruppen abheben zu wollen, also einen Befehl, nicht aus der Reihe zu tanzen.« (Bourdieu 1987: 596)
In Frau Steinhoffs Hadern mit der Antwort dokumentiert sich eben eine solche gefühlte Ermahnung, die sie davon Abstand nehmen lässt, sich selbst als der Mittelschicht zugehörig zu klassifizieren. In der Konklusion ihres Arguments zeigt sich schließlich eine Rationalisierung der nun vorgenommenen Selbsteinstufung: Sie präsentiert ihr im Vergleich zu dem des Vaters geringes Gehalt als Beweis für die Richtigkeit, sich trotz des Bildungsaufstiegs zur »Arbeiterklasse« zu zählen. Im weiteren Verlauf fragt der Interviewer dann danach, welche Unterschiede Frau Steinhoff zwischen dem Lebensmittelkonsum in ihrem eigenen Umfeld und bei Leuten beobachtet, »die man gemeinhin so jetzt wirklich zur Unterschicht zählen würde«: »Also ich betreue ja ähm viele Leute und davon sind viele Leute mh ja, so ungefähr in meinem Alter und ähm Hartz IV-Empfänger und ähm das sind dann vielleicht Menschen die man vielleicht dann irgendwie zur Unterschicht zählen musste müsste und ähm deren Konsumverhalten sieht eigentlich so aus dass sie wenn überhaupt vollkommen planlos äh sich einfach schnelle billige Lebensmittel kaufen wobei ich das auch verstehen kann mit dem Geld was die haben das ist halt nicht so viel ähm und vor allem sieht das bei denen halt auch so aus dass sie sie setzen halt auch andere Maßstäbe also da kommt’s halt viel auf also sag ich jetzt mal bei, bei den Personen die ich jetz betreue zum Beispiel kommt es halt viel da drauf an dass Kaffee und Zigaretten da is und das wird auch allem anderen vorgezogen also da sind jetz nicht welche dabei die sich wirklich was zu essen kochen oder so ne also die kaufen n Päckchen Fertigfrikadellen zwei Packungen Zigaretten und den billigsten Aufgusskaffee und damit is der Wocheneinkauf erledigt also so dass dann das merk ich halt immer wieder ich geh halt auch mit manchen Leuten einkaufen und ähm versuch das halt so n bisschen denen n bisschen beizubringen kauf doch mal n bisschen
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Obst oder kauf doch mal so und willste nich mal das kochen und wir könnten doch mal zusammen kochen und so nee Hauptsache billig schnell und Zigaretten (lacht)«
In der Argumentation typisiert und bewertet Frau Steinhoff die Handlungsorientierungen ihrer Klienten in Hinblick auf den Lebensmittelkonsum: Zum einen zeigt sich, dass Frau Steinhoff deren Alltagsorganisation kritisiert, die auch das Einkaufen betrifft (»planlos«) und im Gegensatz zu ihrem eigenen, rational geplanten Einkaufsverhalten steht (vgl. Kap. 6.1.3).6 Hier wird auch eine Kritik am Hineinleben in den Tag ohne jegliche zeitliche Vorausnahme der anstehenden Bedarfe und der darauf bezogenen Handlungen deutlich. Es zeigt sich eine Differenzierung zwischen einer zukunftsgerichteten und einer der Gegenwart verhafteten Orientierung. Diese Perspektiven sind insofern lebenslagenspezifisch, als eine der Zukunft verhaftete Perspektive die Möglichkeit voraussetzt, etwas erreichen zu können. Weiterhin schreibt sie ihren Klienten eine Orientierung am niedrigsten Preis zu. Dabei geht es jedoch nicht um die Preiswertigkeit eines Produkts im Sinne eines günstigen Verhältnisses von Preis und Qualität. Vielmehr geht es um Orientierung am niedrigsten Preis. Innerhalb einer Klasse als funktional äquivalent wahrgenommener Produkte soll das Produkt ausgewählt werden, welches am wenigsten kostet. Geschmack und Qualität fallen hier als Auswahlkriterium ganz weg. Wie Frau Amann bringt jedoch auch Frau Steinhoff prinzipiell Verständnis für die Orientierung an günstigen Preisen auf. Erst in Verbindung mit einer einseitigen Orientierung auf Genussmittel ohne Nährwert wird die Niedrigpreisorientierung zum Problem: Das durchaus positiv konnotierte ›preiswert‹ kippt dann um in das abwertende ›billig‹. Die Moralisierung des Konsumverhaltens der sozial Niedriggestellten wird somit weniger entlang der Unterscheidung von niedrig- und hochpreisigen Produkten vorgenommen, sondern eher anhand der Investition von Zeit und eigener Kompetenz in den Kauf von Lebensmitteln und die Zubereitung von Speisen und Getränken. Dies kommt besonders in der Unterscheidung der Zubereitung von Fertigprodukten und »Kochen« zum Ausdruck, die Frau Steinhoff sogar am Beispiel des Zubereitens von Kaffee thematisiert. Insgesamt erscheint die These naheliegend, dass das partielle Verständnis für die ›sozial Schwachen‹ und die im Vergleich zu Frau Amann weniger scharfe Moralisierung in Beziehung zu Frau Steinhoffs Beruf im sozialen Bereich stehen. Die6
Auch bei Frau Steinhoff spiegeln die distinktiv nach unten vorgebrachten Abgrenzungen die Selbsttypisierung des eigenen Verhaltens, wie sie zu Beginn des Interviews vorgebracht wurden, wider (vgl. Kap. 6.1.3). Dies zeigt, dass in der Moralisierung des Verhaltens anderer tatsächlich die eigenen Maßstäbe an andere angelegt werden, die diese vermeintlich nicht erfüllen.
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jenigen, die in solchen Berufen arbeiten, haben persönliche Kontakte zu ›sozial Schwachen‹, kennen deren schwierige Lage und müssen sich bei der Beurteilung nicht allein auf Medienklischees verlassen. Diese These kann durch andere Befragte, die in erzieherischen Berufen arbeiten, untermauert werden. So berichtet etwa Frau Kurz davon, dass sie Familien kennt, die eine gute Ernährung »nich hinkriegen« und die sich »die Fertichpizza bestelln«, betont aber auch ihr Verständnis dafür, dass sich diese Familien in einer schwierigen Situation befinden. Allerdings zeigt sich an den beschriebenen Erziehungsbemühungen (»versuch das halt so n bisschen denen n bisschen beizubringen«) gleichzeitig, dass sich Frau Steinhoff ihren Klienten überlegen fühlt: Die Rolle der Sozialarbeiterin und Erzieherin beinhaltet auch, als Anwältin der Gesellschaft aufzutreten, die den Klienten die sozial anerkannten und somit ›richtigen‹ Praktiken vermittelt. Dass Frau Steinhoff die von ihr propagierten Praktiken selbst nicht immer lebt, zeigt sich an wiederholten Beschreibungen im Interview, in denen Schwierigkeiten bei der Umsetzung ihrer Vorstellungen von gesunder Ernährung sichtbar werden. So zeigt sich etwa, dass sie im stressigen Arbeitsalltag immer wieder auf Fastfood zurückgreift und mit ihrem Freund nicht gemeinsam kocht, wie sie zunächst sagt, sondern aufgrund spezieller Vorlieben beide ihr eigenes Essen kochen. Somit zeigt sich, dass Frau Steinhoff ihrem Selbstbild nach zu denen gehört, die es ›richtig‹ machen, während ihre Klienten zu denen gehören, die es ›falsch‹ machen. Selbst bei denjenigen, die durch ihre Arbeit intensiven Kontakt zu den sozial Niedriggestellten haben, werden also noch stereotypische Zuschreibungen deutlich. 7.1.4 Fazit und Vergleich An den drei geschilderten Fällen wird eine Reihe von Gemeinsamkeiten deutlich, die sich auf Idealvorstellungen beziehen, wie Essen und Ernährung im Alltag gestaltet werden sollten7 •
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Erstens ist es wichtig, Wert auf eine gesunde und abwechslungsreiche Ernährung zu legen. Über die hier geschilderten Fälle hinaus lassen sich diese Vorstellungen an einer Vielzahl weiterer Fälle illustrieren. Besonders anschaulich wird dies im Interview mit Herrn Dürnberger; u.a. aber auch bei Frau Claus, Frau Kurz, Herrn Lehmann, Herrn Remmert, Herrn Martens, Frau Bergmann, Frau Lüdeke etc. Während nicht in allen dieser Interviews konkrete Distinktionen gegenüber der Unterschicht deutlich werden, so haben sie doch gemeinsam, dass sich die genannten Wertvorstellungen in all diesen Fällen mehr oder weniger deutlich zeigen.
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Zweitens sollte vorwiegend selbst mit frischen Zutaten gekocht werden, anstatt industriell vorverarbeitete Produkte aufzuwärmen. Lediglich die Befragten mit den höchsten Einkommen im Sample thematisieren das Auswärtsessen als positive und gern vollzogene Praxis. Beim Rest der Befragten zeigt sich dagegen eine deutlich positivere Konnotierung des heimischen Kochens. Dazu gehört schließlich auch die Betonung eines hinreichenden Wissens über Nahrungsmittel sowie Kompetenzen im Umgang mit ihnen. Drittens soll das Essen (und in den Haushalten mit einer modernen Geschlechterrollenteilung auch das Kochen) als Gemeinschaftsakt gestaltet werden. Viertens sollen informierte, reflektierte und daher rationale Konsumentscheidungen getroffen werden, wozu auch ein vernünftiger, vorausschauend-planender Umgang mit Geld gehört.
Mit diesen Vorstellungen und den ihnen entsprechenden Praktiken sind dabei zentrale Werte bzw. hoch geschätzte Ressourcen verknüpft: Gesundheit, sozialer Zusammenhalt der Kernfamilie, Natürlichkeit, rationale Vernunft sowie Wissen und Kompetenz. Implizit zeigt sich in dieser Aufstellung (gesund essen, den Einkauf planen statt spontan zu kaufen) ein »Ethos der Selbstkontrolle« (Joffe/Staerklé 2007). In der Orientierung an diesen Werten bzw. durch den Einsatz dieser Ressourcen gelingt es der Idealvorstellung nach, eine ›gute‹ Praxis des Essens und der Ernährung zu realisieren. Die Moralisierung der Konsumgewohnheiten eines gewissen Teils der ›Unterschicht‹ folgt diesen Vorstellungen, indem sie sich auf die Abwesenheit der positiv gewerteten Ideale und Praktiken konzentriert. Dies wird in der Verurteilung von Konsumpraktiken wie dem Kauf von Fertigprodukten, einseitiger Ernährung, vereinsamtem Essen vor dem Fernseher und an spontanen Gelüsten orientierten Einkäufen sichtbar. Jedoch gibt es auch Unterschiede zwischen den Fällen: Zum einen scheinen persönliche Erfahrungen im Umgang mit sozial Unterprivilegierten einen Unterschied zu machen: Im Gegensatz zu Frau Amann und Herrn Staudt wurde bei Frau Steinhoff, die als Sozialpädagogin Hartz-IV-Empfänger betreut, ein persönlicher Erfahrungshintergrund im Umgang mit sozial niedrig gestellten Menschen sichtbar. Zum anderen zeigen sich Unterschiede zwischen den Haushaltsformen: Während bei Frau Amann und Herrn Staudt die Moralisierung ›schlechten‹ Konsumverhaltens aus einer familiären Perspektive heraus den Umgang mit Kindern thematisiert, rahmt die kinderlose Frau Steinhoff die Unterschiede mit den unterschiedlichen Zeitstrukturen arbeitender und arbeitsloser Menschen. Beides bietet eine Erklärung dafür, dass Frau Steinhoff etwas weniger scharf moralisiert.
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Wie können diese Befunde nun erklärt werden? Auffallend ist zunächst, dass in erster Linie moralische Grenzziehungen (Lamont 1992: 4) herangezogen werden: Die wertenden Abgrenzungen betonen vor allem moralische Differenzen, nicht kulturell-ästhetische oder sozioökonomische.8 Andrew Sayer beschreibt die Logik der moralischen Distinktion so, dass soziale Gruppen sich selbst bestimmte Tugenden zuschreiben, deren Abwesenheit sie bei anderen Gruppen zu erkennen glauben (2005a: 953). Dabei werden die Tugenden selbst als universell übertragbar angesehen: »The working class do not say down-to-earthness is good only for their own class, the middle classes do not say cosmopolitanism is only a virtue in the middle classes. They claim that these things are good for everyone, only that they have them while their others unfortunately lack them.« (Sayer 2005a: 953)
Dies ist auch hier der Fall: Die Interviewpartner, die objektiv zur Mittelklasse gezählt werden können und sich dieser selbst zuordnen, generalisieren ihre Wertvorstellungen und kritisieren die sozial Unterprivilegierten dafür, nicht ihren Standards entsprechend einzukaufen und zu essen. Somit ist als weitere Auffälligkeit zu benennen, dass es in den Aussagen nicht um Abgrenzungen zwischen Teilfraktionen der gesellschaftlichen Mitte untereinander geht, sondern vielmehr gegenüber den sozial Unterprivilegierten. Die Art und Weise sowie die Struktur der Abgrenzungen weist darauf hin, dass es hier um das geht, was in der Literatur zur sozialen Ungleichheit als Grenze der »Respektabilität« bezeichnet wird: »Diese wird definiert durch Statussicherheit: Es kommt darauf an, eine beständige, gesicherte und anerkannte soziale Stellung einzunehmen, die durch Leistung oder Loyalität ›verdient‹ ist.« (Vester et al. 2001: 27)
Während Vesters Beschreibung sich auf den Status bezieht, den Akteure im Erwerbssystem erreichen, kommt in den Moralisierungen des Konsumverhaltens eine andere Seite der Medaille zum Ausdruck: Eine anerkannte Stellung als Konsument ist demnach damit verbunden, Konsum entsprechend den genannten Wertvorstellungen zu gestalten. In den Aussagen der Befragten kommt zwar ein Verständnis für ökonomische Hürden des ›guten‹ Konsums zum Ausdruck, doch der Status der Respektabilität muss durch die Pflege moralischer Tugenden 8
Allerdings sind diese Dimensionen nie ganz trennscharf bestimmbar, da etwa in der Kritik an Fertigprodukten sowohl eine moralische (unnatürlich, ungesund) als auch eine ästhetische Dimension (Ausdruck schlechten Geschmacks) enthalten sind.
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»verdient« werden, zu denen es gehört, sich auf das zu bescheiden, was man sich leisten kann, ohne dabei allerdings die »Sorge um sich« oder die eigenen Kinder zu vernachlässigen. Zygmunt Bauman hat die Empfänger von Sozialhilfe als »gescheiterte Bürger« der Konsumgesellschaft beschrieben, da sie nicht mehr imstande seien, ihre eigene Freiheit auszuüben, die vor allem an Konsumentscheidungen gekoppelt sei (1988: 67-70). Dies kommt etwa in Frau Amanns und Frau Steinhoffs Kritik am Kauf von Fertigpizza bzw. von Genussmitteln zum Ausdruck: Sozialhilfeempfänger dürfen diesen Vorstellungen nach nicht mehr frei auf Basis ihrer Bedürfnisse entscheiden, sondern sollen sich zunächst um vermeintlich objektive Bedarfe kümmern. Meine Befunde zeigen Parallelen, aber auch Unterschiede zu neueren britischen Studien, die sich mit der Distinktion der Mittelklassen von den abschätzig »chavs« genannten Teilen der Arbeiterklasse beschäftigen (Adams/Raisborough 2011; Hayward/Yar 2006): Der »chav« wird insbesondere anhand seines Konsumstils identifiziert, wobei dieser als vulgär, exzessiv, impulsiv und unbedacht wahrgenommen wird, was sich etwa an übertrieben großen Schmuckstücken, dickem Make-up und exzessivem Alkoholgenuss zeigt. Hayward und Yar weisen dabei darauf hin, dass der Diskurs um die »chavs« kaum deren ökonomisches Kapital, sondern vor allem deren fehlendes kulturelles Kapital thematisiert, welches geschmackvolle ästhetische Entscheidungen fördern könnte (2006: 14). Eine Gemeinsamkeit zum hier vorgestellten Material liegt darin, dass die Kritik am Ess- und Einkaufsverhalten der sozial Niedriggestellten ebenfalls kaum auf deren Armut abzielt – Geldknappheit und der Einkauf im Discounter werden inzwischen weitgehend respektiert –, sondern auf deren fehlende Kapazität, die ›richtigen‹ Produkte auszuwählen und daraus die ›richtigen‹ Mahlzeiten zuzubereiten. Wie bereits erwähnt, beziehen sich die Abgrenzungen im Bereich des Lebensmittelkonsums nur teilweise auf falschen ästhetischen Geschmack, sondern immer auch auf moralisch falsches Verhalten. Adams und Raisborough betonen, wie der exzessive Konsum des »chavs« einerseits als Überschreitung von ›zivilisierten‹ Erwartungen körperlicher Selbstkontrolle, andererseits als inkompetent dargestellt wird (2011: 93). Neben einer Kritik unkontrollierten Zu-viel-Essens (vgl. Kap. 5.1.4) kommt in der Thematisierung der unterschiedlichen Umgangsweisen verschiedener Schichten mit dem Konsum von Lebensmitteln eine Betonung der Inkompetenz der ›sozial Schwachen‹ zum Ausdruck. Zweitrangig erscheint dabei letztlich, ob diejenigen, die sich selbst als respektabel konzipieren, die dieser Normalität entsprechenden Vorstellungen im Alltag tatsächlich konsequent umsetzen. Betrachtet man die Interviews, so wird deutlich, dass dies von vielen Faktoren wie den Haushaltsstrukturen, den beruflichen Tätigkeiten und der Rollenverteilung im Haushalt abhängt: In Frau Amanns
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Beschreibungen kommt zum Ausdruck, dass sie und ihre Familie die genannten Vorstellungen weitgehend realisieren können. Dies hängt offensichtlich mit der Teilzeitarbeit ihres Mannes sowie den Prioritäten zusammen, die sie dem Kochen und gemeinsamen Essen aufgrund ihrer kleinen Kinder einräumen. Dagegen zeigt sich im Interview mit Frau Steinhoff anhand wiederholter Einschränkungen des Enaktierungspotentials in Bezug auf gesunde Ernährung und gemeinsames Kochen mit dem Freund, dass sie ihre Idealvorstellungen oft nicht umsetzen kann. Wichtiger jedoch als die tatsächliche konsequente Umsetzung erscheint es, erstens die Umsetzung der genannten Ziele überhaupt anzustreben und zweitens sich selbst und dem eigenen Umfeld glaubhaft zu machen, dass dies zumindest so weit gelinge, um das Selbstbild aufrechterhalten zu können. Dies zeigt sich etwa an Rechtfertigungen wie der folgenden von Frau Steinhoff, die die Diskrepanz zwischen dem Konsum von Fastfood im Alltag und ihrem Ziel einer gesunden Ernährung derart erklärt: »Wir versuchen dann eben auch wirklich gesund irgendwie uns zu ernähren, zumindest abends, weil man halt zwischendurch einfach nicht so viel Zeit zum Essen hat«
Interessant ist hier vor allem, dass Frau Steinhoff implizit auf ihre stressige Arbeit verweist (»einfach nicht so viel Zeit«) und damit auf einen anderen zentralen anerkannten kulturellen Wert zurückgreift, um ihre den eigenen Vorstellungen nicht genügende Ernährungspraxis zu rechtfertigen. Angesichts solcher Inkonsistenzen scheint die Funktion der Abgrenzung von den Konsumpraktiken der nicht-respektablen ›Unterschicht‹ darin zu liegen, als Kontrastfolie zu dienen, die dabei hilft, das eigene Verhalten mit dem Selbstbild in Einklang zu bringen. Dies würde auch erklären, warum bei den Abgrenzungen gerade auf besonders extreme Fälle zurückgegriffen wird – etwa Frau Steinhoffs Klienten, die sozialpädagogische Betreuung beanspruchen, oder sozial unterprivilegierte Menschen in Medienberichten, die oft sehr klischeehaft dargestellt werden.
7.2 ABGRENZUNGEN
NACH › OBEN ‹
Neben den Abgrenzungen ›nach unten‹ finden sich im Material auch Abgrenzungen ›nach oben‹, wobei sich Letztere in ihrem Sinngehalt deutlich unterscheiden: Hier findet sich zum einen der Vorwurf, dass das Konsumverhalten der Bessergestellten dazu diene, soziale Distinktion zu betreiben. Zum anderen wird den Reichen zugeschrieben, keine dem Reichtum entsprechende Verantwortung zu übernehmen.
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7.2.1 »Da gehn die oberen Klassen hin, gehn nur in so Biolädn rein« – Herr Martens Dies kann etwa am Beispiel von Herrn Martens illustriert werden. Herr Martens kann als gelernter Metallarbeiter ›objektiv‹ der unteren Mittelklasse zugeordnet werden, seiner Selbsteinschätzung zufolge zählt er sich zum »Mittelstand«, da er seinen finanziellen Verpflichtungen nachkommt und seiner Familie ein Dach über dem Kopf bietet. Zum Mittelstand zählt er »Leute wie unsereiner die jetz normal arbeitn gehn ne Familie ham ne Mietwohnung ham wissen se die jetz sach isch ma noch über de Rundn komm«. Herr Martens bringt den Begriff des »Mittelstandes« eigenständig bei der Diskussion der Frage ein, inwiefern man mittels Konsum etwas ›Gutes‹ tun könne. Herr Martens hatte in diesem Zusammenhang zuvor erzählt, dass er lieber auf ein teures T-Shirt spare, als es beim Kleidungsdiscounter KIK zu kaufen, dem vorgeworfen wird, Kinderarbeit in der Zuliefererkette zu dulden (vgl. Kap. 5.2.1). Er erörtert, dass es ihm leicht falle, bestimmte Produkte nicht zu kaufen, wenn er sich mit den Hintergründen beschäftigt habe. Anschließend vergleicht er, wie Menschen mit mehr Geld Kleidung einkaufen: »Gibt natürlisch Leute die ham Reibach intressiert die doch alles gar net die gehn aber auch nit nach KIK oder so die gehn hier nach S Oliver un Boss un wat nit alles ne dat is ja ne ganz andre (.) Grenze«.
Hier dokumentiert sich, dass Herr Martens einen Kontrast sieht zwischen dem Mittelstand und den Besserverdienern (»die ham Reibach«). Dieser Gruppe wirft er Desinteresse an den verantwortungsethischen Implikationen ihres Konsumverhaltens vor (»intressiert die doch alles gar net«). Im Kontrast zu dieser Verantwortungslosigkeit skizziert Herr Martens den Mittelstand als moralische Stütze der Gesellschaft: Die Angehörigen des Mittelstandes kommen ihren Verpflichtungen nach, kümmern sich um andere (Familie) und wissen mit Geld umzugehen (»über de Rundn komm«). Ähnliche Abgrenzungen ›nach oben‹ werden im Verlauf des Interviews wiederholt geäußert. Im Vorlauf zur folgenden Interviewstelle beklagt sich Herr Martens darüber, dass die Qualität von Lebensmitteln im Vergleich zu früher gesunken sei. Im Zuge dessen erwähnt er einen Bio-Supermarkt und berichtet, dass man einmal versuchen sollte, die Qualität einer Möhre aus diesem Supermarkt mit einer Möhre aus dem Aldi zu vergleichen. Ein Bekannter habe ihm berichtet, dass es dort »verdammt teuer« sei, womit sich der Einkauf dort »erledischt« habe. Daraufhin sagt der Interviewer, dass er gerne erfahren möchte, wie Herr Mar-
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tens die Leute wahrnehme, die im Bio-Supermarkt einkaufen. Darauf antwortet Herr Martens: Herr Martens: Äh ja da gehn die oberen Klassn hin ja Interviewer: Woran erkenn Sie das oder woran machen Sie das fest Herr Martens: Ja isch kenn zum Beispiel eine Frau von hier (.) die geht da nur einkaufen (.) un dat is (2) Interviewer: Betriebsleitung irgendwo Herr Martens: jaja gehn nur in so Biolädn rein
Herrn Martens’ Formulierung (»obere Klassen«) lässt sich entnehmen, dass er die Gesellschaft als hierarchisch in Klassen gegliedert wahrnimmt, wobei klar wird, dass er sich selbst nicht zu den oberen Klassen zählt und eine große Distanz zu ihnen wahrnimmt. Auf die Nachfrage, woran er das festmache, nennt er als Beispiel eine Frau, die er kenne, die ausschließlich im Bio-Supermarkt einkaufe. An der Pluralform wird hier eine Generalisierung des Einkaufs im Bioladen als Praxis der Bessergestellten sichtbar (»gehn nur in so Biolädn rein«), wobei diese Praxis einerseits als rigide wahrgenommen wird (»nur«), und sich andererseits eine große Distanz zeigt, die Herr Martens zu diesem Einkaufsort einnimmt (»so Biolädn«). Herr Martens fährt fort: Herr Martens: Andrerseits gesehn (2) wenn wir s hättn Interviewer:
|Warum machen die das ham Sie ne Idee |
Herr Martens: Würdn wir s anders vielleischt machn ne wenn Sie des hättn da würdn Sie vielleischt auch eher sagn isch geh doch da hin isch geh doch net zum Aldi da kommt nämlisch dieses da ham Se nämlisch wieder diesn Beigeschmack ne (abschätziger Tonfall) Wä wat soll ischn da wenn isch es da kriegn kann ne Aldi geht doch jeder hin (wieder normaler Tonfall) Natürlisch da gehn aber mittlerweile auch Leute hin die früher die Nase gerumpft ham die kenn isch auch (abschätziger Tonfall) Aldi wir (Zischlaut) nee geh mir fort (wieder normaler Tonfall) Die stehn ja selber mit m Einkaufswagn anner Kasse (.) Ne also i sa ma nur weil et solsche Lädn gibt un weil de da viel Geld für bezahlz heißt et net dat et besser is als dat wat isch mir dann woanders hole un dat is dat is escht meine Meinung«
Herr Martens stellt sich hier die Frage, ob er und seine Familie nicht auch im Bio-Supermarkt einkaufen würden, wenn sie viel Geld hätten, und stellt diese Frage auch dem Interviewer. An der Adressierung des Interviewers zeigt sich, dass Herr Martens den Interviewer und sich als »in einem Boot sitzend« versteht: Er versteht dessen Beziehung zu den ›oberen Klassen‹ als ähnlich distan-
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ziert wie seine eigene. Darüber hinaus wird hier allerdings auch eine generelle Kritik an einem System mit großer sozialer Ungleichheit deutlich: Geld verderbe letztlich den Charakter, jeder, der viel Geld habe, kaufe möglicherweise dort ein. Am Begriff des »Beigeschmacks« zeigt sich anschließend noch einmal deutlicher, dass Herr Martens denjenigen, die »nur« im Bio-Markt einkaufen würden, eine snobistische Haltung zuschreibt: Der Vorwurf besteht darin, sich für etwas Besseres zu halten und sich über die Kunden von Aldi zu stellen. Abschließend schildert Herr Martens die »Bekehrten«, die früher abschätzig über Aldi geredet hätten und nun selbst dort einkauften, und weist darauf hin, dass man in den teuren Bio-Läden keine bessere Qualität bekomme. Daran zeigt sich, dass Herr Martens den Bio-Läden vor allem eine Distinktionsfunktion zuschreibt. Der Einkauf dort ist nicht rational aufgrund besserer Qualität oder eines guten PreisLeistungs-Verhältnisses zu rechtfertigen, womit diejenigen, die dort einkaufen, nicht nur als snobistisch, sondern auch als dumm erscheinen, weil sie unnötig viel Geld ausgeben, ohne dafür etwas zu erhalten. Die Haltung, dass der Einkauf im Bio-Laden etwas Besseres sei als der Einkauf im Aldi, ist für Herrn Martens letztlich ein Ausdruck fehlender Anerkennung der moralischen Leistungen des »Mittelstandes«, da die mühsamen Anstrengungen, über die Runden zu kommen, nicht honoriert, sondern abschätzig belächelt würden. Eine ganz ähnliche Moralisierung des Einkaufsverhaltens der Wohlhabenden zeigt sich im Interview mit Frau Steinhoff:9 Auch sie wirft ihnen vor, sich mittels des Einkaufs von Bio-Produkten symbolisch distinguieren zu wollen, und kritisiert damit, dass es bei dieser Praxis eigentlich um den Klassenerhalt gehe: »Also ich glaub jemand der wirklich nur Bio Bio Bio-Qualität kauft will sich davon vielleicht irgendwie beweisen dass er sein Geld dass er genug Geld hat um das zu kaufen und nich in dem Lidl einkaufen geht oder so«
Ebenso wie Herr Martens wird bei ihr deutlich, dass es keinen sachlichen Grund für den ausschließlichen Kauf im Bio-Markt gegenüber dem Discounter gebe. Und ebenso wie Herr Martens bezieht sie sich in ihrem Urteil auf eine Beobachtung des Einkaufsverhaltens ihres Chefs, der eine renommierte Position einnimmt und dessen Frau – wie Frau Steinhoff berichtet – ausschließlich im BioLaden einkaufe.
9
Frau Steinhoffs Position wird hier – da sie nichts wesentlich Neues hinzufügt – nur kurz geschildert, um zu zeigen, dass hier eine typische, vom Einzelfall abstrahierbare Kritik an Konsumpraktiken sozial Bessergestellter vorliegt.
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7.2.2 »Wenn ich dann wieder die nächste Klasse höher sehe, dann geht’s dadrum sich durch Essen zu profilier’n« – Herr Dürnberger Herr Dürnberger, der bereits in Kapitel 5.1.1 vorgestellt wurde, ist ein Sonderfall, der sich anhand objektiver Kriterien nur schwer in ein Klassenschema einordnen lässt. Einerseits verfügt er nicht über eine abgeschlossene berufliche Ausbildung und ist arbeitslos. Er wäre damit der Kategorie Arbeiterklasse/Prekäre/Arbeitslose (vgl. Kap. 4.2) zuzuordnen. Dem widerspricht aber der familiäre Hintergrund: Herr Dürnberger selbst rechnet sich zur oberen Mittelschicht und verweist dabei auf seine »bildungselitäre« und finanziell gut gestellte Familie, die ihm – aufgrund seiner Behinderung – ermöglicht, nicht arbeiten zu müssen. Zudem verfügt er über ein hohes kulturelles Kapital, das sich unter anderem an seinem ehrenamtlichen Engagement in der Lokalpolitik festmachen lässt. In seiner Antwort zeigt sich gegenüber den beiden bisher vorgestellten Fällen eine andere Variante der Kritik am Konsumverhalten der Reichen. Auf die Frage des Interviewers, welche Unterschiede er zwischen dem Lebensmittelkonsum in seinem eigenen sozialen Umfeld und »Leuten, die man gemeinhin zur Oberschicht zählen würde« wahrnehme, antwortet Herr Dürnberger: »Gut in meinen Umkreisen is es halt so dass dass die Leute sich alle biologisch ernähren könn dass es dass es dann egal is obs´n Abendessen mal dreissig oder vierzig Euro kostet (einatmen) ähm (.) äh und das sind natürlich alles sehr viele politisch korrekte Menschen bei wobei ich aber auch feststelle dass dass wenn wenn ich dann wieder die nächste Klasse höher sehe dann dann wird da dann geht´s dann dadrum sich durch Essen zu profilier`n also ich hab jetz wieder den teuersten Kaviar gekauft von von Hand gestreichelten Stör aus Russland Naturstör weiß ich nich«
Zunächst beschreibt Herr Dürnberger die Menschen in seinem weiteren sozialen Umfeld als wohlhabend, gebildet und politisch interessiert. Wie bereits geschildert wurde, hat Herr Dürnberger eine sehr breite Vorstellung von »fairem Konsum« und versteht den Konsum von Bio-Produkten als »fair zur Natur« (vgl. Kap. 5.1.1). Vor diesem Hintergrund beschreibt Herr Dürnberger ökologisch verträglichen Konsum als übliche Handlungsorientierung in seinem Umfeld, wobei er sich der ökonomischen Voraussetzungen dafür bewusst ist und diese auch anspricht (»dass die Leute sich alle biologisch ernährn könn«). Von dem politisch korrekten und »fairen« Konsum in seinem Umfeld grenzt er anschließend den Konsumstil der wirklich Reichen ab (»die nächste Klasse höher«). An der leicht übertrieben-zynischen sowie stereotypen Sprache (»von Hand gestrei-
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chelten Stör«) zeigt sich eine abwertende Haltung gegenüber dieser Gruppe. An keiner Stelle wird dabei erkennbar, dass Herr Dürnberger bei seiner Beurteilung auf persönliche Erfahrungen zurückgreift. Er wirft den Reichen vor, sich durch »Essen zu profiliern«. Auch der Konsum von natürlichen Produkten (»Naturstör«), die im Rest des Interviews positiv bewertet werden, erscheint damit anrüchig. Daraus lässt sich folgern, dass Motive des Handelns für die moralische Beurteilung von Handlungen für Herrn Dürnberger eine Rolle spielen. Im Anschluss fährt er nach einer Denkpause fort: »Also (.) dass es dann auch den Menschen egal ist wie die Menschen behandelt werden weil sie auch kein Einfühlungsvermögen haben häufig weil man dann ja in einer ganz anderen Schicht aufgewachsen ist dass es dann einfach drum geht weiß ich nich, einfach die die Delikatessen zu bekommen, was auszuprobieren und nich nich unbedingt auf Fairness achtet immer unbedingt.«
Herr Dürnberger schreibt den Reichen zudem Gefühlskälte zu (»kein Einfühlungsvermögen«). Er zeichnet ein Bild von Reichen, die in einer eigenen abgekapselten Welt leben, in der die Sorgen und Probleme anderer Menschen nicht beachtet würden. Diese Abkapselung führt seiner Ausführung nach zudem dazu, dass die Reichen sich nur an Status und Genuss orientieren. Sie sehen die Verflechtung ihres Handelns mit der ökologischen und sozialen Umwelt nicht und übernehmen daher auch keine Verantwortung für diese. Hier dokumentiert sich eine positive Wertung einer interessierten Haltung gegenüber sozial und/oder räumlich entfernten Menschen und deren Lebenswelten. Als moralischer Imperativ wird hier sichtbar, sich über diese zu informieren und Respekt gegenüber ihren Problemlagen aufzubringen. An der Argumentation zeigt sich auch, dass Herr Dürnberger sein eigenes soziales Umfeld als moralisch überlegen ansieht. Während seine eigene Gruppe die Praxis des Konsumierens durch biologische Ernährung so ausgestaltet, dass die negativen Konsequenzen des individuellen Konsums für die Umwelt doch zumindest abgemildert werden, handeln die Reichen – trotz ihrer größeren finanziellen Möglichkeit zu »fairem« Konsum – unverantwortlich. Hier dokumentiert sich die Haltung, dass mit der Verfügung über Geld und Reichtum eine größere Verantwortung einhergehe, die sich auch in den Konsumentscheidungen niederschlagen sollte: Gerade weil die Reichen »fair« konsumieren könnten, ist ihr Nichthandeln verwerflich. Insgesamt wird in dem von Herrn Dürnberger angestellten Milieuvergleich deutlich, dass die »politisch korrekten Menschen« den Reichen moralisch überlegen sind, da Letztere blind gegenüber den Folgen ihres luxuriösen Lebensstils sind.
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7.2.3 »Ja, der is n Weinliebhaber, dem könnt ich keinen Wein hier kaufen in den Geschäften, das würde alles nich schmecken« – Frau Tiedemann Frau Tiedemann kann als gelernte Bürokraft der unteren Mittelklasse zugeordnet werden. Sie selbst schätzt sich als zugehörig zur Mittelschicht ein und macht dies einerseits an der Position ihres Vaters als Stadtangestellter fest, andererseits daran, dass man sich neben Notwendigkeiten auch kulturelle Veranstaltungen wie etwa Theaterbesuche leisten könne. Auf die Frage des Interviewers, welche Unterschiede sie zwischen ihrem Konsumverhalten und dem von Menschen sehe, die »ganz oben stehen«, thematisiert Frau Tiedemann vor allem den finanziellen Spielraum. Sie geht vor allem auf den mehr oder weniger großer Zwang zur Planung ein, wofür das vorhandene Budget eingesetzt werden solle. Während sie selbst in manchen Bereichen gut überlegen müsse, wofür sie ihr Geld ausgebe, könnten Wohlhabende – sie nennt hier ihren Sohn, der in einem prestigereichen und gut bezahlten Beruf arbeitet, als Beispiel – auch teure Dinge kaufen, wenn ihnen spontan der Sinn danach stehe. Besonders bei Luxusgütern des Alltags wie Weinen (»Genusssachen«) sieht sie diesen Unterschied. Der Interviewer fragt anschließend nach einem Beispiel, was sie bei ihrem Sohn beobachte, worauf Frau Tiedemann antwortet: »Ja der is n Weinliebhaber und der die kaufen natürlich so Weine dem könnt ich keinen Wein hier kaufen bei in den Geschäften (lacht) Das würde alles nich schmecken (lacht) […] würde das nich schmecken was ich hier kaufen würde (lacht) das wäre ja eben nich eigentlich so im Moment nich so nich sein Niveau was er da kaufen würde also das das is schon anders aber wie gesacht mir is das egal s (spricht lachend) macht mich nicht traurig«
In der Antwort auf die Frage nach dem Einkaufsverhalten des Sohnes berichtet Frau Tiedemann, dass dieser ein »Weinliebhaber« sei. In der starken Betonung der ersten Silbe schwingt implizit bereits mit, dass jemand, der ein Weinliebhaber sei, sich für etwas Besonderes und vielleicht sogar Besseres halte. Im Folgenden wird deutlich, dass sie den Geschmack ihres Sohnes als abgehoben beurteilt (»nich so sein Niveau«). Abschließend wird – an der Formulierung (»egal«), aber besonders an der lachend gesprochenen Passage – deutlich, dass sie letztlich selbstbewusst darüberstehen kann. Der Interviewer paraphrasiert daraufhin, dass Frau Tiedemann auch der einfache Wein schmecke, woraufhin sie ausführt:
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»Mir schmeckt auch der einfachere Wein das heißt ja für mich is es immer wichtig dass ich meine Kunst machen kann alles andere is äh da äh dadurch hat man schon auch irgendwie bisschen andere äh äh Einstellung also man man (.) jaja selbst so als wir frisch verheiratet warn da hatten wir eben auch nich viel wie gesacht auch als mein Mann noch studiert hat dann aber da war für uns immer irgendwie das Wichtigste dass man jeden Pfennich den man irgendwie über hatte, der wurde für Materialien verbraucht und so (2) das das is einfach ganz anders«
An der Betonung der Bedeutung der Kunst zeigt sich, dass Frau Tiedemann ganz andere Präferenzen hat als ihr Sohn: Die Kunst ist das eigentlich Wichtige, dagegen verliert die Frage, ob man sich teure Weine leisten kann, schlichtweg ihre Bedeutung, was auch ihre heitere Gelassenheit erklärt. In der Formulierung, dass sie durch die Kunst eine andere »Einstellung« habe, zeigt sich, dass sie bei sich und ihrem Sohn zwei grundlegend verschiedene und kaum vereinbare Haltungen sieht: auf der einen Seite der Materialismus ihres Sohnes, auf der anderen Seite die Konzentration auf die immaterielle Kunst. Dabei zeigt sich auch, dass sie das Kunstmachen gegenüber der Weinliebhaberei als etwas Höherwertiges betrachtet. Implizit wird auch deutlich, dass sie durch ihre Haltung letztlich imstande ist, trotz Verzicht auf Luxusgenussmittel wie teuren Wein mehr aus ihrem Leben zu machen: Sie kann sowohl einfache Dinge genießen (»mir schmeckt auch der einfachere Wein«) als auch das höhere Prinzip der Kunst. Dagegen muss ihr Sohn viel Geld ausgeben, um aus ihrer Perspektive nur vermeintlich bessere Weine zu kaufen. Der Rückgriff auf die Zeit, als sie frisch verheiratet war, macht deutlich, wie weit ihr Leben für die Kunst zeitlich zurückgeht: Das Prinzip, alles vorhandene Geld in die Kunst zu stecken, ist offenbar auch mit romantischen Erinnerungen an eine schöne Zeit des Jungseins und Zusammenseins mit ihrem nun verstorbenen Mann verbunden. Abschließend wird in der Betonung »das is einfach ganz anders« noch einmal eine grundlegende Grenzziehung zwischen ihrem Lebensstil und dem ihres Sohnes gezogen. 7.2.4 »Leute die weiter oben angesiedelt sin werfen viel mehr auch leichtherziger weg« Abschließend sei noch auf zwei weitere Varianten der moralisierenden Abgrenzung nach ›oben‹ hingewiesen, die von Befragten zum Ausdruck gebracht werden, die in prekärer Arbeit stehen bzw. arbeitslos sind. Frau Bluhm, eine Frau, die durch die jahrelange Pflegebedürftigkeit ihrer Mutter verarmt ist, stellt einen Zusammenhang her zwischen Verschwendung von Lebensmitteln und ökonomischem Kapital:
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»Leute die weiter oben angesiedelt sin werfen viel mehr auch leichtherziger weg (3) mh achten nicht so aufs Ablaufdatum weils leichter fällt neu zu kaufen«
Frau Schröder und ihr Partner Herr Ehrhardt kritisieren die Art und Weise, wie Wohlhabende beim Einkaufen mit Geld umgingen. Sie selbst sehen sich als zur Mittelschicht zugehörig und begründen dies damit, dass sie sich trotz Hartz-IVBezug viel leisten können, weil sie gut »rechnen«. Als der Interviewer fragt, wie ihrer Meinung nach Menschen Lebensmittel einkaufen, die der oberen Mittelschicht zuzurechnen sind, antwortet Herr Ehrhardt: »Ja die achten auf gar nichts (.) die können einfach zugreifen (1) die interessiert das nich ob das zehn Euro kostet oder 20 Euro kostet das interessiert die nich die nehmen sich das wodrauf sie Lust ham das is der Unterschied«
Anschließend diskutiert das Paar über Herrn Ehrhardts Eltern, die viel Geld hätten. Frau Schröder lobt sie dafür, dass sie dennoch ihr »Geld auch schön beisammen« halten für »schwere Zeiten«. Herr Ehrhardt erläutert dem Interviewer, seine Eltern »könnten im Endeffekt n ganzen Monat vom Feinkosthändler leben«, täten dies aber nicht. In beiden Zitaten kommt die Annahme zum Ausdruck, dass zu viel Geld tendenziell zu Acht- und Gedankenlosigkeit beim Konsum führe, weshalb Ausnahmen Lob verdienten. Die relative Armut wird moralisch positiv gedeutet, während Reichtum mit der Suspendierung moralischer Werte wie Sparsamkeit und Respekt vor Nahrungsmitteln einhergehe. Zum Ausdruck kommt hier, dass die eigene Orientierung an der »Konzentration auf das Notwendige« (vgl. 5.2.4) moralisierend gegen diejenigen gewendet wird, die verschwenderisch leben. 7.2.5 Fazit und Vergleich In allen erörterten Beispielen zeigt sich eine relationale Abgrenzung gegen soziale Gruppen mit höherem sozialem Status, insbesondere mit einem höheren ökonomischen Kapital. Die Abgrenzungen ›nach oben‹ lassen sich analog zu den Abgrenzungen ›nach unten‹ als bezogen auf eine relevante gesellschaftliche Trennlinie verstehen. Sie beziehen sich auf die »Grenze der Distinktion«, die laut Vester die führenden von den mittleren Volksmilieus abgrenzt: »Diese Grenze der Distinktion wird auch von unten wahrgenommen, jedoch mit anderen Vorzeichen. Ein Teil der mittleren und unteren Milieus sieht bei den oberen Milieus unerreichbare Vorbilder verwirklicht. Ein anderer Teil wertet die oberen Milieus nicht selten
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als dünkelhaft, verbildet, eingebildet und weltfremd oder, besonders wenn sie Macht ausüben, als rücksichtslos und nicht besonders ehrlich.« (Vester et al. 2001: 26)
Insgesamt werden drei verschiedene Varianten der Kritik der den Wohlhabenden zugeschriebenen Praktiken des Lebensmittelkonsums deutlich: •
•
Erstens werfen Frau Steinhoff und Herr Martens den Reichen vor, beim Einkaufen und Essen symbolische Distinktion zu betreiben, was besonders durch die Wahl prestigeträchtiger Einkaufsorte wie dem hochpreisigen Bio-Supermarkt geschieht. Auch Frau Tiedemann und Herr Eckhardt zielen auf die durch Geld erkaufte symbolische Distinktion der Reichen ab, die bei ihnen an Wein bzw. an Feinkost festgemacht werden. Allerdings wird in Frau Tiedemanns Ausführungen eine weitere Variante deutlich, da ihre Kritik einen anderen Hintergrund hat: Bei ihr geht es um einen Lebensstil, der sich mit der Kunst einem höheren Prinzip verschreibt. Ein solches Leben ist für sie sinnerfüllt, während ein Lebensstil, der sich um den Konsum von Luxusgütern dreht, sinnleer ist. Hier dokumentiert sich eine Perspektive, die sich dadurch auszeichnet, dass das kulturelle Kapital dem ökonomischen Kapital gegenüber als überlegen verstanden wird. Diese erinnert an die intellektuelle Kritik in den kulturellen Flügelkämpfen zwischen Intellektuellen und Unternehmern, die Bourdieu als »Varianten des herrschenden Geschmacks« bezeichnet (1987: 442ff.). Frau Tiedemanns Argumentationsfigur lässt sich somit entnehmen, dass es um die Legitimierung von Lebensstilen geht. Dagegen geht es bei Herrn Martens eher um die Ungerechtigkeit der sozial parteiischen Verteilung von Anerkennung, wenn ›teure‹ Einkaufsorte, Produkte und Konsumpraktiken gesellschaftlich höher gewertet werden als ›günstige‹ (vgl. Kap. 5.1.8). Hierin zeigt sich ein Bezug zu Andrew Sayers These, dass Klassenkämpfe sich auf Güter und Praktiken bezögen, die an sich Wertschätzung erfahren, weshalb eine Ungleichverteilung moralische Empörung hervorrufen könne (Sayer 2005a: 95ff.). Zweitens zielt Herrn Dürnbergers Kritik stärker auf die ethische Unverantwortlichkeit der Reichen ab, die »fair« konsumieren könnten, aber nur an Prestige und Status interessiert seien. Das Verständnis des ›guten‹ Konsums als Übernahme von Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext (vgl. 5.2.1) wird hier moralisierend gegen diejenigen gewendet, die die finanzielle Möglichkeit zum Handeln haben, sie aber nicht wahrnehmen. Den beiden Varianten unterliegt letztlich auch eine unterschiedliche Rahmung des Konsums von Bio-Lebensmitteln: Für Herrn Martens und
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•
Frau Steinhoff ist letztlich die Qualität von Produkten entscheidend, die an Kriterien wie Frische, Geschmack und Haltbarkeit festgemacht werden kann, die aber unabhängig von der Bio-Zertifizierung sind. Bio-Konsum ist aus dieser Sicht nicht rational begründbar und – aufgrund der hohen Preise – verdächtig, eine Praxis symbolischer Distinktion zu sein. Für Herrn Dürnberger stehen Bio-Produkte dagegen für Umweltverträglichkeit, deren Konsum er daher als moralisch überlegen versteht. Drittens wird den Reichen vorgeworfen, verschwenderisch zu sein, da sie unbedacht unnötige Dinge kaufen und schneller Lebensmittel wegwerfen würden. Hier wird das Verständnis des ›guten‹ Konsums als Konzentration auf das Notwendige (vgl. 5.2.4) moralisierend gewendet. Dieser Vorwurf wird dabei insbesondere von denjenigen vorgebracht, die selbst über sehr wenig ökonomisches Kapital verfügen. Mit Michèle Lamont (1996: 20-21) gesprochen finden sich damit sowohl kulturelle als auch moralische Grenzen bei der Abgrenzung nach ›oben‹.
7.3 R ELATIVIERUNG VON
VERTIKALER
U NGLEICHHEIT
Bei den bisher betrachten Fällen zeigten sich deutliche Distinktionen von anderen sozialen Gruppen, die zudem mit einer klaren Moralisierung des Konsumverhaltens dieser Gruppen einhergingen. Nun wird abschließend ein Sonderfall betrachtet, bei dem ein zumindest partielles Infragestellen der hierarchischen Ordnung der Gesellschaft erkennbar wird und Schicht und spezifische Konsumpraktiken als entkoppelt gedeutet werden. Während zu Beginn der Analyse vermutet wurde, dass sich mehrere Fälle finden, in denen sich eine Relativierung sozialer Ungleichheit zeigt, hat sich meist bei genauerem Hinsehen doch erwiesen, dass die meisten Befragten affirmativ auf die Frage nach schichtspezifischen Konsumpraktiken antworten und zumindest milde Formen der Moralisierung sichtbar werden. Als Beispiel sei hier auf Herrn Staudt verwiesen, der sich zwar vom Schichtbegriff explizit distanziert, implizit aber dennoch über das Verhalten empört, welches er mit niedrigeren sozialen Schichten in Verbindung bringt. Als Ausnahme zeigt sich bei Herrn Lehmann ein anderer relationaler Typ der Verbindung von Distinktion und Moralisierung.
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7.3.1 »Ich denk ma, wenn wir überhaupt von der sogenannten Unterschicht reden wollen, dass die auch beim Metzger einkauft« – Herr Lehmann Herrn Lehmann habe ich durch den Kontakt zu einem örtlichen Sportverein kennengelernt. Zum Zeitpunkt des Interviews ist er 38 Jahre alt, arbeitet in einem kaufmännischen Beruf und lebt mit seiner Frau und seiner Tochter im Teenageralter in einem Haus in der Nähe von Siegen. ›Objektiv‹ lässt er sich nach dem Klassenschema von Oesch (2006) der mittleren Mittelklasse zuordnen. Auf die Frage des Interviews nach der Selbstzuordnung zu einer Schicht antwortet er: »Ich denke ma ( ) Mittelschicht ganz einfach gesprochen äh wobei äh ich sach ma das s auch n Begriff ähm (.) ähm den jeder wahrscheinlich irgendwo anders interpretiern wird ähm ob man da jetz äh äh riesengroße Untersch- äh Unterschiede macht zwischen (.) ich sach ma ganz einfach Unterschicht Mittelschicht Oberschicht un so weiter ähm (.) wenn wir jetz nochma auf dat Thema zurückgehn äh zu dem Thema äh spielt das wahrscheinlich äh schon n gewissn Unterschied in welchem Bereich Sie äh dies Interview führen würdn ganz einfach gesprochen ähm aber (.) gut ich für mein Fall würde einfach sagen Mittelschicht.«
Herr Lehmann ordnet sich, ohne zu zögern und ohne die Kriterien dafür zu reflektieren, der »Mittelschicht« zu. Daraus lässt sich entnehmen, dass diese Zuordnung für ihn eine Selbstverständlichkeit ist. Im Anschluss relativiert er jedoch die Bedeutsamkeit des Schichtbegriffes durch den Hinweis, dass dieser auf viele verschiedene Weisen interpretiert werden könne. Er zeigt dann eine mögliche Interpretation auf, wobei an der hypothetischen Formulierung (»ob man jetzt riesengroße Unterschiede macht«) deutlich wird, dass er sich von einem Begriff distanziert, der deutliche und klar definierte Unterschiede zwischen den Schichten festschreibt. Die anschließende Aussage steht dazu nur scheinbar in Widerspruch: Herr Lehmann sagt, dass es einen »gewissen Unterschied« mache, mit Menschen aus welcher Schicht (»welchem Bereich«) der Interviewer über Konsum rede, was auch impliziert, dass es schichtspezifisch unterschiedliches Konsumverhalten gebe. Die direkte Ansprache des Interviewers ist hier aber als Hinweis darauf zu sehen, dass Herr Lehmann dessen Tätigkeit im Allgemeinen und die konkrete Frage nicht als unsinnig abtun möchte, weshalb er »gewisse Unterschiede« konstatiert, was sehr vage bleibt und auch an keiner anderen Stelle im Interview konkretisiert wird. Im weiteren Verlauf fragt der Interviewer nach den Unterschieden, die er zwischen dem Konsumverhalten in seinem eigenen Umfeld und dem der ›Unterschicht‹ sehe:
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»Ähm (.) ja (ausatmen) die Frage is net einfach zu beantworten um ehrlich zu sein was woll mer jetz oder wat wolln Se hörn von mir soll ich sagn ja gut wenn ich vom vom Konsumverhalten sage der die Unterschicht geht eher in Billichmärkte wie Aldi un Co äh die Mittelschicht in in äh ähm ja ich sach man in Supermärkten wie Rewe un Co un der andere geht zum Feinkosthändler ähm ich denke ma da ham wer teilweise doch äh äh äh sach ich ma ganz einfach ne Vermischung ne«
Herr Lehmann schreibt dem Interviewer zu, von ihm eine Aussage über klare Differenzen zu erwarten (»wat wolln Se hörn von mir«), und thematisiert eine denkbare Antwort, indem er den genannten Schichten Einkaufsorte zuteilt. Erneut formuliert er seine Antwort hypothetisch (»soll ich sagn«), woran deutlich wird, dass er sich von der explizierten Vorstellung deutlich distanziert. Im Gegensatz zu Frau Amann und Frau Steinhoff geht er weder auf andere mögliche Unterschiede, wie etwa Speisepläne oder Selbstkochen, noch die Zubereitung von Fertigprodukten ein. Auch in seiner Feststellung, dass es bezüglich der Einkaufsorte eine »Vermischung« gebe, zeigt sich eine Distanzierung von der Idee, dass man von einem ›schichtspezifischen‹ Einkaufsverhalten sprechen könne. Der Interviewer fragt daraufhin, ob Schicht für das Thema Konsum nicht »so ne Rolle« spiele: »Ich denke Schicht spielt beim Konsumverhalten schon irgendwo ne Rolle von der Gewichtung her aber ich sach m- äh ich denk ma ganz einfach dass äh ähm auf der ein Seite die ja wenn wir überhaupt von der sogenannten Unterschicht reden wolln dass die auch äh ähm ganz normale Supermärkte oder auch beim Metzger einkauft auf der andern Seite werdn mer garantiert auch äh Leute ham aus der Oberschicht die auch in Supermärkte gehn ne un vielleicht auch Aldi un Co also ich denke ma das mmh läuft n bisschen durchnander ne«
Herr Lehmann stellt insbesondere die Sinnhaftigkeit der Rede von der ›Unterschicht‹ infrage (»wenn wir überhaupt von der sogenannten Unterschicht reden wollen«). Daraus lässt sich folgern, dass er den Begriff als abwertend begreift und ihn vermeiden möchte, um andere nicht zu verurteilen. Hier wird also ein klares Abstandnehmen vom Moralisieren anderer und der Vorstellung deutlich, dass Konsum etwas mit sozialen Schichten zu tun habe. An dem Hinweis auf die »Vermischung« zeigt sich, dass Herr Lehmann die soziale Welt als bunte Vielfalt konzipiert, in der die Wahl der Einkaufsorte nicht durch soziale Herkunft oder Einkommen festgelegt sei. Das Einkaufsverhalten der ›Unterschicht‹ (»dass die auch beim Metzger einkauft«) wird hier als ›normal‹ konzipiert in dem Sinne, dass es nicht wesentlich vom Einkaufsverhalten in Herr Lehmanns eigenem
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Umfeld abweiche. Hiermit zeigt sich ein deutlicher Kontrast zu den bisher dargestellten Fällen: Im Gegensatz zu den Antworten von Frau Amann und Frau Steinhoff wird hier die Bedeutung der vertikalen Schichtung der Gesellschaft deutlich relativiert: Es zeigen sich keine deutlichen Abgrenzungen zu anderen sozialen Gruppen und kaum moralisierende Bewertungen. Im restlichen Interview taucht lediglich an einer Stelle eine Moralisierung des Konsumverhaltens anderer auf, die allerdings vom Interviewer provoziert wurde: Der Interviewer fragte, was Herr Lehmann am Konsumverhalten anderer nicht nachvollziehen könne. Zunächst weist Herr Lehmann darauf hin, dass er sich darüber »relativ wenig Gedanken gemacht habe«. Anschließend berichtet er, dass er nicht verstehen könne, warum sich manche Leute in einem teuren Supermarkt »den Wagen vollstopfen wo ma irgendwo den Eindruck hat, da is überhaupt kein System dahinter«. Hier wird – ähnlich wie bei Frau Steinhoff – eine Kritik des wahllosen, unüberlegten und spontanen Einkaufs deutlich, die aber nicht erkennbar auf eine soziale Gruppe bezogen wird. Insgesamt wird hier somit eine andere Relation von Distinktion und Moralisierung deutlich: Herr Lehmann distinguiert sich weder deutlich von anderen Gruppen, noch moralisiert er das Konsumverhalten anderer. Auffällig ist auch, dass Herr Lehmann an keiner Stelle im Interview über persönliche Erfahrungen mit bzw. Medienberichte oder Klischees über Menschen in einer anderen soziale Stellung berichtet.
7.4 F AZIT Die Ergebnisse legen zwei unmittelbare theoretische Schlüsse nahe. •
Erstens wird der Konsum von Lebensmitteln zum »symbolic boundary drawing« (Lamont 1992, Lamont 1996; Lamont/Molnár 2002) herangezogen.10 Lamonts Unterscheidung zwischen moralischen, kulturellen und
10 Symbolische Grenzen sind konzeptuelle Distinktionen, die Akteure zur Kategorisierung von Objekten, Personen und Praktiken nutzen. Soziale Grenzen stellen dagegen Objektivierungen sozialer Differenzen dar, die sich in ungleichem Zugang zu Ressourcen und sozialen Chancen niederschlagen (Lamont/Molnár 2002: 168-169). Lamont versteht beide Arten von Grenzen als gleichermaßen real: Während Erstere in intersubjektiv geteilten Vorstellungen existieren, manifestieren sich Letztere in Gruppierungen von Individuen. Symbolische werden dann zu sozialen Grenzen, wenn sie sich zu Mustern sozialer Ausgrenzungen wie Klasse oder ethnische Segregierung verdichten (Lamont/Molnár 2002: 169). Empirisch ist auf Basis des gegebenen Materials
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•
sozialen Grenzen hilft zu erkennen, dass im Bereich des Lebensmittelkonsums vor allem moralische Grenzen eine große Rolle spielen, die teilweise vermischt sind mit kulturellen Grenzen. Wie gezeigt wurde, kommen in den Abgrenzungen vor allem Vorwürfe eines moralisch falschen Verhaltens zum Ausdruck: Für die eigene Gruppe werden Tugenden behauptet, die anderen abgesprochen werden (Sayer 2005a: 953). Sozio-ökonomische Grenzziehungen spielen dagegen eine geringere Rolle, wie etwa an der verbreiteten Akzeptanz des Einkaufs günstiger Produkte im Discounter deutlich wird. Zweitens beziehen sich die in den Interviews gefundenen Moralisierungen hauptsächlich auf diejenigen, die an der Spitze sowie ganz unten in der sozialen Hierarchie stehen. Diese Relationierung wurde zwar durch die verwendeten Fragen nahegelegt, durch die weitgehend affirmativen Antworten aber bestätigt. Angesichts der Offenheit der Frage musste dies nicht zwangsläufig geschehen, wie der Fall von Herrn Lehmann zeigt. Insofern kann festgehalten werden, dass sich die Abgrenzungen im Bereich des Lebensmitteleinkaufs und des innerhäuslichen Essens weniger auf »Feine Unterschiede« zwischen sich ökonomisch nahestehenden Gruppen beziehen, wie Bourdieu (1987) konstatiert, sondern eher auf eine umfassendere gesellschaftliche Hierarchie. Wie bereits erörtert wurde, ist die gesellschaftliche Strukturbeschreibung von Vester et al. (2001) hilfreich, um die Distinktionen und Moralisierungen im Material zu kontextualisieren. Mit dem Verweis auf das Vester’sche Schema des sozialen Raums wird dabei nicht behauptet, dass sich die dargestellten abwertenden Fremdzuschreibungen auf konkrete Klassenmilieus beziehen, die sozialwissenschaftlich im Zuge statistischer Verfahren »konstruiert« werden (vgl. Bourdieu 1997). Die Abgrenzungen sind – wie eingangs beschrieben – relational bezogen auf statushöhere bzw. -niedrigere Gruppen. Die Moralisierung von Konsumpraktiken sollte deshalb nicht positional verstanden werden als bezogen auf klar voneinander abgrenzbare oder gar objektiv gegebene Klassen oder Schichten.11 Die von Vester beschriebenen genicht rekonstruierbar, wie die gegebenen Abgrenzungen sich zu sozialen Grenzen verdichten. Theoretisch plausibel ist allerdings die Annahme, dass die hier gefundenen Distinktionen Teil eines umfassenderen, nicht nur auf Konsum und Essen bezogenen Systems von symbolischen Grenzziehungen sind, welches alltagsweltliche Beziehungen und Gruppenbildungen, und damit auch soziale Grenzen, mitformt.
11 Ein positionales bzw. objektivistisches Verständnis sozialer Klassen wird in weiten Teilen der Soziologie zurückgewiesen. Michael Vester hat darauf hingewiesen, dass ein objektivistisches Klassenverständnis vor allem dem dogmatisierenden Schulmar-
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sellschaftlichen Trennlinien der »Respektabilität« und der »Distinktion« finden sich im Material in Bezug auf Vorstellungen über ›schlechte‹ Konsumpraktiken anderer Gruppen wieder. In diesem Sinne geht es in den Abgrenzungen nach ›unten‹ darum, die eigene Respektabilität zu beweisen. Hinsichtlich des Konsums von Lebensmitteln wird Respektabilität an bestimmte Vorstellungen gebunden: der Einkauf von frischen Lebensmitteln, die Planung von Einkäufen und die Vermeidung des Nachgebens gegenüber spontanen Gelüsten, die eigene Zubereitung von Mahlzeiten aus frischen Zutaten usw. Unterhalb dieser Grenze befindet sich den Vorstellungen der Befragten zufolge ein bestimmter Teil der sozial Unterprivilegierten. Mangelnde Respektabilität geht dabei nicht zwingend mit einer objektiv prekären sozialen Situation einher, vielmehr kommt es darauf an, wie man mit dieser Lage umgeht: Wer in einer prekären Lage rational planend mit Geld umgeht und sich um ›gesunde‹ Ernährung kümmert, kann daher durchaus respektabel sein. Oder wie es Frau Schröders Partner Herr Eckhardt formuliert: »Du machst dich selber zur untersten Schicht.« In den Abgrenzungen nach ›oben‹ geht es dagegen um eine Distanzierung von einem elitären Habitus, der denjenigen zugeschrieben wird, die sich an der Spitze der sozialen Hierarchie befinden: In Hinsicht auf den Konsum von Lebensmitteln wird den Eliten dabei vorgeworfen, symbolische Distinktion zu betreiben und, trotz finanzieller Handlungsspielräume, ethisch unverantwortlich zu handeln. Deutlich wird zudem, dass sich die moralischen Grenzziehungen nach ›unten‹ und nach ›oben‹ nicht eins zu eins auf die in Kapitel 5.2 rekonstruierten typischen Konzeptionen des ›guten‹ Konsums projizieren lassen. Allerdings lässt sich ein durchaus plausibles Muster rekonstruieren, das aufzeigt, welche Elemente der Konsummoraltypen für moralische Grenzziehungen verwendet werden. In den Abgrenzungen nach ›unten‹ werden Elemente der folgenden Ideale gebraucht: der handwerkliche Konsum (selbst kochen, nichtprozessierte Zutaten verwenden), die (gesundheits-)bewusste Ernährung sowie die Konzentration auf das Notwendige (nicht spontan kaufen, rationale Entscheidungen treffen). Nicht moralisch gegen statusniedrigere Gruppen gewendet wird das Ideal des gesellschaftlich verantwortlichen Konsums. Den höheren Statusgruppen werden dagexismus vorzuwerfen ist, während bereits Marx und Engels selbst im Kern ein relationales Klassenverständnis zugrunde legen. Demnach sind Klassen »durch ihre innere und äußere Beziehungspraxis zu definieren: Nach innen sind sie »Lebenszusammenhänge« von Menschen; nach außen nehmen sie eine bestimmte »gesellschaftliche Stellung« ein (Vester 2009: 57).
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gen weder ungesunde Ernährung noch fehlende Erfüllung des Ideals des handwerklichen Konsums vorgeworfen. Dagegen wird auch ihnen Irrationalität, vor allem aber verschwenderisches Konsumverhalten vorgehalten (unbedachter Konsum, Statuskonsum ist nicht begründet in ›echter‹ Notwendigkeit). Im Gegensatz zu den Statusniedrigeren wird den Statushöheren auch vorgeworfen, keine gesellschaftliche Verantwortung beim Konsumieren zu übernehmen. Von Menschen, die über Finanzkraft und höhere Bildung verfügen, wird somit auch die Übernahme von Verantwortlichkeit für den weiteren gesellschaftlichen Kontext (entfernte Andere, Umwelt) beim Konsum erwartet, während ein solcher Konsumstil von ›sozial schwachen‹ Menschen kaum verlangt wird. Betrachtet man diese Ergebnisse, so entsteht der Eindruck, dass mit dem Sample vor allem Weltbilder eingefangen wurden, die eine Nähe zu verbreiteten Vorstellungen von bürgerlichen Idealen aufweisen, zumindest kommen im vorgestellten Material immer wieder moralische Tugenden wie Selbstdisziplin und Mäßigung zur Sprache, die als klassisch bürgerlich gelten (vgl. Schulz 2005: 34). Die Aussagen der Befragten erinnern zudem in vielen Punkten an Pierre Bourdieus Beschreibung des Kleinbürgertums. Die kleinbürgerliche Haltung zum Essen zeichnet sich durch Maßhalten und Disziplin aus. Dieser Haltung liegt die Hoffnung zugrunde, dass eine bessere Zukunft durch Anstrengungen möglich wird, woraus die Neigung hervorgeht »untermittelbare [sic!] Wunscherfüllung zugunsten künftig erhoffter zurückzustellen« (Bourdieu 1987: 296). In meinen Interviews spiegelt sich eine solche Haltung zur Zukunft in der Verurteilung eines Hineinlebens in den Tags sowie spontaner und ungeplanter Einkäufe wider. Dagegen finden sich Orientierungen an Genusshedonismus erstaunlich selten (siehe aber Kap. 5.1.4). Die beschriebene Konsummoral wird dabei sowohl gegenüber statushöheren als auch gegenüber statusniedrigeren Gruppen abgegrenzt. Daraus lässt sich schließen, dass sich die Befragten nicht nur – wie es die Interviewfrage implizierte – einer mittleren sozialen Lage im Sinne einer Schicht zuordnen, die durch objektive Merkmale wie Beruf, Einkommen und Bildungsniveau beschreibbar ist. Stattdessen scheinen sie sich auch einer »ständischen Lage« im Sinne Webers (2005 [1921/1922]: 226) zuzuordnen, die auf einer spezifischen Art der Lebensführung gründet. Es ist daher plausibel, dass sich in der Abgrenzung nach ›oben‹ auch eine Empörung darüber dokumentiert, dass der »Mittelstand« von »denen da oben« keine angemessene Anerkennung für seine Bemühungen erhält, die Rolle des Bewahrers zentraler moralischer Werte in der Gesellschaft zu übernehmen. Auf Basis der Habitustheorie ist davon auszugehen, dass moralische Grenzziehungen nicht lediglich zufällig in der Situation des Interviews geäußert werden, sondern im Alltag in verschiedenen Situationen kommuniziert werden. So-
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wohl aus einer praxistheoretischen als auch aus einer interaktionstheoretischen Sicht erscheint es daher sinnvoll, Klasse nicht als objektiv gegebene Kategorie mit fixierten Grenzen zu begreifen, sondern als etwas, das durch die Praxis symbolischer Grenzziehungen immer wieder (neu) produziert und reproduziert wird und dabei Veränderungen erfährt. Die englische Soziologin Beverley Skeggs schlägt ein solches Verständnis vor: »Class [...] is not a pre-existing slot to which we are assigned, but a set of contestable relations; it is not given, but a process. It is the process of evaluation, moral attribution and authorization in the production of subjectivity that, I would argue, is central to understanding contemporary class relations.« (Skeggs 2005: 976)
Ein solches Verständnis impliziert, Bedeutungen von »Objekten« als Antworten oder Beziehungen zu diesem Objekt innerhalb einer symbolischen Ökonomie zu verstehen. Demnach geht es darum zu untersuchen, wie soziale Kategorien wie »Unterschicht« oder »Oberschicht« durch die Verständnisse anderer definiert und produziert werden (ebd.). In diesem Sinne sind die aufgezeigten Abgrenzungen als Teil eines umfassenderen Prozesses zu verstehen, in dem soziale Hierarchie produziert wird. Symbolische Prozesse, mit denen sich Personen in mittleren sozialen Lagen sowohl gegenüber marginalisierten Gruppen als auch gegenüber denjenigen an der Spitze der sozialen Hierarchie abheben, wirken demnach selbst in Bezug auf banalen Alltagspraktiken des Einkaufens, Kochens und Essens. Die Funktion solcher Herabsetzungen anderer kann dann darin bestehen, der eigenen Gruppe Wert zuzusprechen und für sie eine »position of judgment to attribute value« (Skeggs 2005: 977) zu beanspruchen. Ein derartiges Ergebnis mag erstaunen angesichts neuerer kultursoziologischer Studien, die ein Bild zunehmender Toleranz in den mittleren Gesellschaftsschichten zeichnen. So konstatieren Bennett et al. in ihrer breit angelegten Studie des kulturellen Konsums in England: »Openness to diversity is now widely dispersed among the higher echelons of the middle class, and it has become de rigueur to refrain from condemning or disparaging the tastes of other social groups.« (Bennett et al. 2009: 189) Ein solches Abstandnehmen von der expliziten Verurteilung der Konsumpraktiken anderer ist in den Interviews durchaus erkennbar, wie etwa die Fälle von Herrn Lehmann und Herrn Staudt zeigen, die explizit davon Abstand nehmen, spezifische Konsumpraktiken mit Schichten in Verbindung zu bringen. Auf die Frage, welche Konsumgewohnheiten anderer Menschen nicht nachvollziehbar erscheinen, antwortet Herr Remmert in einer Weise, die als typisch gelten kann: »Die Frage is sehr diffizil äh weil also die Beurteilung Konsumge-
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wohnheiten andrer Menschen […] nein kann man im Prinzip nich tun aus dem einfachen Grunde äh ich kann andere Konsumgewohnheiten nur sehr subjektiv beurteiln.« Während eine offene Verurteilung abgelehnt wird, kommen an vielen anderen Stellen implizite Moralisierungen zum Ausdruck, womit Jörg Bergmanns und Thomas Luckmanns Feststellung bestätigt wird, dass Moral im Alltag oft unsichtbar bleibt und nur zwischen den Zeilen gelesen werden kann (1999: 13). Dass Toleranz gegenüber anderen Gruppen mittlerweile in breiten Teilen der Gesellschaft zum guten Ton gehört, darf somit nicht damit verwechselt werden, dass Moralisierung und Distinktion verschwinden. Gleichzeitig sollten die Ergebnisse ebenfalls nicht in dem Sinne verstanden werden, dass die Moralisierung statusniedriger Gruppen eine Norm ist: Wie gezeigt gibt es sowohl Ausnahmefälle wie Herrn Lehmann als auch Befragte, die Verständnis für die schwierige Lage sozial Unterprivilegierter zum Ausdruck bringen. Dennoch zeigt das Material, dass moralische Grenzziehungen zum Alltag der Mittelschichten gehören, zu dem der Großteil der Interviewten gezählt werden kann. Eine verbreitete soziologische Erklärung für das Phänomen ist Statusangst: Moralische Grenzen werden besonders von denjenigen gezogen, die ihre eigene Position nicht als sicher empfinden. Sie sind sowohl ängstlich, dass sie von statushöheren Gruppen negativ betrachtet werden, als auch bezüglich des Risikos, zu denen abzusteigen, die sie verachten (Sayer 2005a: 953). Pierre Bourdieu hat aufgezeigt, dass die Ängstlichkeit in Bezug auf den eigenen Status ein typisches Merkmal der »aufsteigenden Klassen« (1987: 517) ist, die sich in der gesellschaftlichen Mitte befinden und deren Handeln darauf abzielt, den begonnenen Aufstieg fortzusetzen. Inwiefern Statusängste und mit ihnen einhergehend die Moralisierung statusniedrigerer und -höherer Gruppen zum Tragen kommen, steht dabei in engem Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Kontext und dem Angstklima, das in diesem produziert wird. In der Debatte um prekäre Erwerbsarbeit ist für die europäischen Gesellschaften seit den 1970er Jahren eine »Wiederkehr der sozialen Unsicherheit« konstatiert worden (Castel 2009). Gefühle der zunehmenden Unsicherheit gehen dabei mit der Auflösung des Sozialmodells des Industriekapitalismus einher, das Europa nach dem Zweiten Weltkrieg prägte: »Genauer betrachtet speist sich die »gefühlte Prekarisierung« aus unterschiedlichen Erfahrungen, die nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im sozialen Nahbereich gemacht werden und eine tiefgreifende Transformation von Erwartungssicherheiten anzeigen. Die bisherigen sozialen Erwartungssicherheiten beruhten auf dem Versprechen des alten rheinischen Sozialmodells, dass alle am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben können, solange man regulärer Erwerbsarbeit nachgeht oder zumindest im Falle von erzwungener
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Arbeitslosigkeit bereit ist, legale Erwerbsarbeit anzunehmen, die der eigenen beruflichen Qualifikation entspricht. Mit der Erosion des Sozialmodells werden zugleich die hieran gekoppelten Erwartungssicherheiten enttäuscht.« (Kraemer 2008: 85)
Prekarisierungsängste treten dabei auch unabhängig von tatsächlichen, anhand objektiver Kriterien messbaren Gefährdungen auf und reichen bis weit in die Mittelschichten hinein (Kraemer 2008: 86; Lengfeld/Hirschle 2009). Der Befund relativ deutlicher Abwertungen gegenüber statusschwächeren Gruppen und der Verteidigung der moralischen Hoheit gegenüber statusstärkeren Gruppen ist im Kontext eines zunehmenden gesellschaftlichen Angstklimas plausibel, das in Deutschland durch die Hartz-IV-Reformen seit 2004 in besonderem Maße befeuert worden ist (Lahusen 2010). Die Analyse des Falls von Frau Amann zeigt einen solchen Zusammenhang zwischen Statusangst und einer moralisierenden Abgrenzung deutlich. Dass die Infragestellung der moralischen Wertigkeit anderer Gruppen dabei nicht nur auf ihren Erwerbsstatus abzielt, sondern auch auf den Bereich des Konsums, der eher im Privaten stattfindet und einer Ideologie der freien Wahl unterliegt, dokumentiert dabei, wie umfassend diese Grenzziehungen sind.
8 Diskussion der Ergebnisse und theoretische Schlussfolgerungen
Ziel der Arbeit war es, •
•
•
erstens mittels eines explorativen und offenen Vorgehens für den Bereich des Konsums von Lebensmitteln eine Typik empirisch auffindbarer Konsummoralen zu rekonstruieren. Dabei galt es zweitens, stets die Komplexität des Konsumgeschehens mit zu berücksichtigen, indem die soziale Praxis in den Blick genommen wird, die Wahrnehmen, Denken und Handeln gleichermaßen umfasst, um auch mögliche Widersprüche und Ambivalenzen der Konsummoral in der Alltagspraxis aufzeigen zu können. Drittens bestand ein Interesse daran zu ermitteln, in welchem Verhältnis Konsummoral und soziale Distinktion im Kontext vertikaler Schichtung stehen.
In Übereinstimmung mit den oben genannten Fragen sind dabei insbesondere drei Punkte abschließend zu diskutieren: •
•
Erstens ist zu reflektieren, welchen Blick auf Konsummoral die entwickelte Perspektive eröffnet hat. Hier ergibt sich insbesondere eine Problematisierung von Konzepten, die auf ›ethischen‹ Konsum im engeren Sinn abstellen, wogegen ein Blick auf Konsummoral als Alltagsmoral stark gemacht wird. Zweitens ist zu diskutieren, welche Schlussfolgerungen hinsichtlich des Verhältnisses zwischen moralischer Haltung und praktischer Handlung zu ziehen sind. Hier grenzt sich die Studie von kognitivistischen Ansätzen und vom Bild eines rationalen und reflexiven Konsumenten ab.
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•
Drittens konnte gezeigt werden, dass konsummoralische Referenzen in einem weiteren gesellschaftlichen Kontext auch dazu dienen, Grenzziehungen zu statushöheren und statusniedrigeren sozialen Gruppen vorzunehmen, so dass Moral eine Distinktionsfunktion zuzusprechen ist. Die Annahme, dass Konsummoralität im substantiellen Sinn entlang sozialer Klassenteilungen variiert, konnte jedoch nicht bestätigt werden.
8.1 K ONSUMMORAL
ALS
ALLTAGSMORAL
Ein Anliegen der Arbeit war es, die Vorstellung in Frage zu stellen, dass sich ›ethischer Konsum‹ bzw. ›ethische Konsumenten‹ eindeutig definieren und objektiv abgrenzen lassen von ›gewöhnlichem Konsum‹ und ›gewöhnlichen Konsumenten‹. Ein Verständnis, das ein bestimmtes Set an Handlungsweisen oder Praktiken als ›ethisch‹ definiert, findet sich trotz kritischer Reflexion des Begriffs (z.B. Newholm/Shaw 2007: 259-260) in vielen sozialwissenschaftlichen Definitionen, zudem wird oft von Beforschten als »ethical consumers« gesprochen, womit deren Selbstverständnis objektiviert wird. Ethisches Handeln wird in der Literatur oft beschrieben als Handeln, das in Übereinstimmung mit einem Prinzip geschieht, welches sich (auch) am Wohl anderer oder dem Gemeingut orientiert (Beckert 2006: 109). Ethik wird hier relativ eng konzipiert und mit Altruismus gleichgesetzt. Noch problematischer ist allerdings, dass sich die sozialwissenschaftliche Forschung zum ›ethischen Konsum‹ weitgehend auf die Untersuchung von Konsumentengruppen konzentriert, die sich einem »commitment to be good« (Adams/Raisborough 2010: 262) verschrieben haben, wobei das ›Gute‹ meist darin gesehen wird, die Konsequenzen von Konsumentscheidungen für Tiere, Umwelt und entfernte Andere zu berücksichtigen. Dagegen wurde bisher zu wenig versucht, alternative Deutungen des Gemeinwohls zu untersuchen, die möglicherweise dem Mainstream-Konsumismus zugrunde liegen. Dies birgt nicht nur die Gefahr einer Verengung des Forschungsgegenstandes der Konsummoral, sondern auch die Gefahr der Suggestion, dass ›gewöhnliche‹ Konsumpraktiken oder Konsumenten nichtethisch oder unethisch seien bzw. handelten. Aus diesen Gründen wurde ein Verständnis vorgeschlagen, das davon ausgeht, dass jegliche Konsumpraxis von den Handelnden als legitim empfunden werden muss, um vollzogen zu werden, und daher auch eine moralische bzw. ethische Komponente aufweist (vgl. Campbell 2006). Diese muss dem Handelnden im Alltag nicht unbedingt immer bewusst sein, aber im Falle des Infragestellens von Handlungspraxis durch Dritte begründbar sein. Insofern kann man davon sprechen, dass Moral selbst in stark routinisiertes Handeln ›eingeschrieben‹
D ISKUSSION
DER
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ist. Ethik und Moral können als soziale Sinnkonstruktion betrachtet werden, die in Form von (teils impliziten) Urteilen über Verhaltensweisen sowie moralischer Kommunikation von Achtung bzw. Verachtung gegenüber ganzen Personen zum Ausdruck kommt. »Ethik« bezieht sich dabei auf das eigene Verhalten, »Moral« auf das Verhalten anderer. Ethik und Moral sind damit nicht an die Dichotomie Altruismus/Egoismus gebunden, denn auch auf das Eigeninteresse bezogene Handlungen wie die Pflege der eigenen Gesundheit können durchaus als ›richtig‹ bzw. ›gut‹ konstruiert werden. Diese Sichtweise rückt insbesondere die verschiedenen Varianten der Alltagsmoral in den Blick, als Konzeptionen, mittels derer Akteure zwischen ›gutem‹ und ›schlechtem‹ Konsumverhalten trennen. Insgesamt konnten vier Typen moralischer Sinnkonstruktionen aufgezeigt werden, die implizit oder explizit in den Interviews geäußert wurden. Einer der Typen – das Verständnis von Konsum als Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext – entspricht weitgehend dem, was in der Literatur als ›ethischer‹ Konsum im engeren Sinne behandelt wird (vgl. 2.3.2). Dass in einer rekonstruktiven Studie ›gewöhnlicher‹ Konsumenten ein solcher Typ identifiziert und von anderen abgegrenzt werden kann, macht deutlich, dass das Thema des ›ethischen‹ Konsums im engeren Sinne keineswegs lediglich Randgruppen oder besonderes engagierte Aktivisten sozialer Bewegungen beschäftigt, sondern tief in der Mitte der Gesellschaft verankert ist. Die meisten der Beforschten diskutierten zumindest einmal im Interview im Rahmen konsumtiver Verantwortung. Dass die Beforschten ihren Konsum nur partiell in diesem Rahmen diskutieren und oft problematisieren, warum eine praktische Umsetzung nicht gelingt, wird später noch zu diskutieren sein. In jedem Fall ist herauszustreichen, dass eine Beschäftigung mit Fragen konsumtiver Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext auch unter ›gewöhnlichen‹ Konsumenten verbreitet ist. Dies verdeutlicht, dass sich ›ethische Konsumenten‹ nicht als gegebene Gruppe abgrenzen lassen, weshalb von ihnen immer nur als Idealtyp und als Konstrukt die Rede sein sollte. ›Ethischer‹ Konsum sollte in keinem Fall als ein objektiv gegebenes Set von ›ethischen‹ Praktiken verstanden werden, sondern als soziale Konstruktion. Dies ergibt sich aus der Praxistheorie, in der neben Bedeutungen auch Körper, temporale Abläufe und materielle Objekte als Träger sozialer Praktiken verstanden werden (Schmidt 2012), so dass Praktiken zwar als ›ethisch‹ gedeutet werden können, aber neben der Deutungsebene immer auch weitere Dimensionen haben, die nicht per se ethisch sind. Im Moralverständnis konsumtiver Verantwortung spiegelt sich ein spezifischer kultureller Diskurs wider, in dem die Intention der Übernahme von Verantwortung in der Konsumentenrolle als ›ethisch‹ gerahmt wird. Das Repertoire an Konsumpraktiken, die damit verbunden werden – etwa der Konsum von fair gehandelten Produkten oder der Verzicht auf Fleisch – ist
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dabei als offen zu verstehen (vgl. Johnston et al. 2011: 295-296; Goodman et al. 2010: 1783). Es kann im Laufe der Zeit um neue Praktiken erweitert werden. Andererseits besteht ebenso die Möglichkeit, dass bestimmte Konsumpraktiken mit der Zeit als Selbstverständlichkeit angesehen werden und dann nicht mehr als ›ethisch‹ gelten (Hedtke 2005: 49). Daneben konnten jedoch auch drei weitere Typen alltäglicher Konsummoral rekonstruiert werden: So wird ›guter‹ Lebensmittelkonsum als in seiner Sinnhaftigkeit authentischer Konsum konzipiert – was etwa über den Konsum handwerklich gefertigter oder tradtionell hergestellter Produkte gelingen kann, als Engagement für eine gesunde Ernährung sowie als Konzentration auf das Notwendige. Die vier zentralen konsummoralischen Postulate, die sich im Material implizit abzeichnen, sind damit benannt: Übernehme Verantwortung! Wahre Authentizität! Sorge dich um dich selbst! Sei genügsam und verschwende nicht! Die Ergebnisse zeigen dabei, dass alle Typen dabei miteinander kombinierbar sind, so dass einfache Vorhersagen der Art »wer konsumtive Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext übernimmt, der wird Massenproduktion ablehnen und sich gesund ernähren« nicht möglich sind. Zu Zwecken einer soziologischen Analyse wurde eine konstruktivistische und relativistische Sichtweise auf Moral eingenommen, die Abstand von der Vorstellung nimmt, dass es eine objektive Substanz des Moralischen gebe. Dennoch lässt sich rückblickend argumentieren, dass jeder der rekonstruierten Typen auch eine ›objektive‹ moralische Dimension aufweist. Eine Grenze der kulturellen Konstruierbarkeit von Moral lässt sich darin sehen, dass Moral eng mit menschlichem Wohlbefinden verknüpft ist. Sie bezieht sich darauf, was Menschen von Natur aus brauchen, und wird daher als zutiefst wichtige und ernste Angelegenheit begriffen (vgl. Midgley 1972: 208; Sayer 2005b: 46): Alle vier Typen der Konsummoral beziehen sich (auch) auf gesellschaftliche Probleme, die mit dem menschlichem Wohlbefinden zu tun haben. Das Verständnis konsumtiver Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext zielt auf die komplexe Verstrickung des individuellen Konsumhandelns mit dem Schicksal weit entfernter Menschen, Tiere sowie der Umwelt ab. Das Verständnis des handwerklichen Konsums beschäftigt sich mit dem Problem von Entfremdungsgefühlen in hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaften. Das Verständnis des ›guten‹ Konsums als (gesundheits-)bewusster Ernährung zielt auf Probleme im Umgang mit dem hohen Gut Gesundheit, aber auch auf die Disziplinierung der Körper und Fragen der Toleranz bei Abweichungen von Körper- und Gesundheitsnormen ab. Schließlich beschäftigt sich das Verständnis des ›guten‹ Konsums als Konzentration auf das Notwendige mit der essentiellen moralischen Frage, was Menschen wirklich brauchen und welcher Konsum überflüssig ist. Somit kann konstatiert werden, dass die rekonstruierten Moraltypen einen Bezug zu den ›objektiven‹
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DER
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moralischen Fragen um das Thema des Konsums aufweisen, die Gesellschaften regulativ lösen müssen: »In any social setting, people confront a series of basic problems over the implications of consumption. These issues revolve around problems of distributive justice, balancing the goals and desires of people, the ownership and control of objects and resources, and the problem that consumption can destroy or deplete common resources. Because each person’s consumption affects others, the issue of the common good can never be escaped. People have to monitor and find ways to police each other’s behavior, to prevent free riding and ›tragedies of the commons‹. And in almost any environment people have to think about balancing immediate gratification with the longer-term requirements of the future, including the needs of future generations.« (Wilk 2001: 254)
Während Wilk hier die Frage anspricht, wie Gesellschaften als Ganze die angesprochenen Probleme lösen, hat die vorliegende Arbeit aufgezeigt, wie Akteure in ihrer Lebenswelt Bezüge zwischen ihrem eigenen Handeln und kollektiven Moralproblemen herstellen. Schließlich lässt sich noch einmal die in Kapitel 3.1.4 aufgeworfene Frage aufgreifen, ob moderne Gesellschaften lediglich durch eine Pluralität von Moralvorstellungen gekennzeichnet sind oder ob es darüber hinaus auch Anzeichen eines moralischen Konsenses gibt. Emile Durkheims Feststellung, dass es mit fortschreitender Arbeitsteilung zu einer »Ausdehnung des individuellen Bewusstseins« (Durkheim 1992 [1977]: 470) bzw. einem »Kult des Individuums« (Müller 1992: 52) komme, ist hier von entscheidender Relevanz. So waren ethische Selbstverpflichtungen im Material deutlich präsenter als moralische Fremdbewertungen: Nur selten wird von anderen explizit gefordert, was man selbst für richtig hält, der persönliche Geschmack des Einzelnen wird für gewöhnlich respektiert. Dies gilt auch dann, wenn in einem mikrosozialen Zusammenhang wie der Familie alle Beteiligten übereingekommen sind, dass die betreffenden Konsumweisen (z.B. eine fleischreiche Ernährung) moralisch problematisch sind. Der übergreifende moralische Konsens besteht somit in der Anerkennung individueller Bedürfnisse. In diesem Befund scheint ein »Kult des Individuums« deutlich auf. Er trifft sich auch mit der Diagnose von Campbell (2006), der feststellt, dass in der Moderne das Selbst die moralische Autorität ist, der sich Konsumenten moralisch verpflichtet fühlen. Konsum muss nicht mehr durch objektive Bedarfe gerechtfertigt werden, subjektive Bedürfnisse reichen dafür aus. Dieser Konsens widerspricht der Feststellung eines moralischen Pluralismus in modernen Gesellschaften nicht, vielmehr kann dieser unter der grundsätzlichen moralischen Anerkennung individueller Bedürfnisse besonders gut gedeihen.
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8.2 D AS V ERHÄLTNIS
VON
M ORAL
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K ONSUMPRAXIS
Eine Frage, die in der Literatur immer wieder gestellt wird und auch im Kontext dieser Arbeit eine Rolle spielte, ist diejenige nach dem Verhältnis von moralischer Haltung und Konsumpraxis. Im Zuge der Erarbeitung einer geeigneten Forschungsperspektive wurden verschiedene Konzeptionen von Moral diskutiert. Zu unterscheiden ist insbesondere zwischen Ansätzen, die allgemeine und relativ stabile Moralüberzeugungen in den Mittelpunkt stellen, und Ansätzen, die Moral als flexibel, situativ und stets in Auseinandersetzung mit praktischen Handlungserfordernissen verstehen. Ersteres Verständnis findet sich dabei eher in kognitivistisch orientierten Ansätzen. Eine Vorstellung stabiler kognitiver Einstellungen liegt einer Reihe von Studien zugrunde, die auf der »Theory of Planned Behavior« (Ajzen 1991) basieren. Ihr zufolge beeinflussen Einstellungen, subjektive Normen und Kontrollüberzeugung die Verhaltensabsicht, die selbst wiederum das Verhalten determiniert. In Bezug auf umweltfreundlichen und sozial verantwortlichen Konsum ist auf Basis dieses Ansatzes mit dem Begriff des »attitudebehaviour gap« auf die Inkonsistenz zwischen Worten und Taten hingewiesen worden (z.B. Barcellos et al. 2011; Boulstridge/Carrigan 2000; Carrigan/Attalla 2001). Dieses Konzept baut jedoch eine Dichotomie auf, die es so nicht gibt. Problematisch erscheint vor allem die Annahme einer einseitigen kausalen Wirkung von Einstellungen auf Verhalten, während nicht in Betracht gezogen wird, dass Verhalten auch Einstellungen hervorbringen kann bzw. beide Seiten untrennbare Teile umfassenderer Praktiken sind. Für die Analyse des Materials stellten sich sowohl Konzepte als unbefriedigend heraus, die Konsum als rein intentionales Verhalten verstehen, als auch solche, die Moral als abstrakte, allgemeine Überzeugungen verstehen. Bei der Analyse des Interviewmaterials zeigte sich bald, dass allgemeine und abstrakte Moralurteile für die Beforschten in der Beschreibung ihres Alltags kaum eine Rolle spielen. Die in den Interviews zum Ausdruck gebrachte Moralität bezieht sich vielmehr auf ein komplexeres Geflecht des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, also auf die soziale Praxis selbst. Um dem gerecht zu werden, erwies sich daher eine flexiblere und weniger statische Konzeption von Moral als sinnvoll, die im Anschluss an Theoriestränge des Pragmatismus und symbolischen Interaktionismus formuliert werden kann: George Herbert Mead zufolge verändert die kontinuierliche Verwicklung in praktische Situationen, die immer ein Stück weit einzigartig sind, auch die Wertüberzeugungen von Akteuren (1938: 460). Ein solches flexibles Verständnis legt nahe, dass Moral immer bezogen ist auf bestimmte Situationen, Bezugsgruppen und Verwendungszusammenhänge. Demnach gibt es auch kein einmal erworbenes und dann stabiles Set an Moral-
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überzeugungen. Vielmehr wird Moral selbst im Kontext menschlicher Interaktion beständig »geschaffen, bestätigt, umgeformt und verworfen« (Blumer 1975: 91). Die Frage, ob eine »Lücke« zwischen Moral und Handeln konstatiert werden kann, ist daher auch abhängig davon, welche Moralkonzeption zugrunde gelegt wird. Ein Verständnis, das Moral als allgemeine und abstrakte Urteile konzipiert, wird zu dem Schluss kommen, dass abstrakte kognitive Einstellungen und Werte das Handeln nur begrenzt anleiten. Ein praktisches, situatives Verständnis von Moral berücksichtigt dagegen die Möglichkeit, dass die Komplexität der Handlungspraxis selbst in konkrete moralische Urteile mit einbezogen wird, die aber differenzierter und situationsspezifischer ausfallen als die in Befragungen verwendeten Statements. Bente Halkier bevorzugt aus diesem Grund den Begriff der »Normativität« – bzw. der »praktischen Moral« – da sich mit ihm die spezifischen, praktischen und flexiblen Weisen der normativen Verhandlung des ›guten‹ Verhaltens in den Blick nehmen lassen (2010: 37). Dies schließt durchaus auch Relativierungen des ›Guten‹ mit ein, etwa wenn Konsumenten erklären, warum es nicht immer gelinge, den Idealvorstellungen gemäß zu konsumieren oder konstatieren, dass manchmal andere praktische Anliegen vorgehen. Ein solches Verständnis erscheint für weitere Studien der normativen und moralischen Dimension alltäglicher Konsumpraktiken hilfreicher als die Konzeption des »attitude-behaviour gaps«, da sie besser imstande ist, in den Blick zu nehmen, wie Menschen mit Konzeptionen des ›Guten‹ im Kontext komplizierter Alltagswirklichkeit umgehen. Damit soll keineswegs gesagt werden, dass die Konsumpraxis der Beforschten immer ihren Idealvorstellungen des ›guten‹ Konsums entspricht. Zum einen machten die Interviewpartner Ambivalenzen zwischen ihren Idealvorstellungen und ihrem Verhalten oft selbst zum Thema. Zum anderen wurde bei der Analyse des Materials auch des Öfteren deutlich, dass Befragte gewisse Ideen des ›Guten‹ äußern, aber nur begrenzt hinterfragen, inwiefern ihre Praxis diesen Ideen auch gerecht wird. In der Literatur zum »attitude-behaviour gap« sind vielfältige Gründe identifiziert worden, warum Konsumenten oft keine ›ethischen‹ Produkte kaufen: Als Faktoren sind zu hohe Preise betont worden (Pelsmacker et al. 2005), die fehlende Überzeugung der Wirksamkeit des eigenen Handelns (Bray et al. 2011) sowie fehlende Information über ethische Implikationen von Produkten (Carrigan/Attalla 2001). Konsequenterweise werden dann als politische Interventionsstrategen, mit denen ›besseres‹ Konsumpraktiken zu fördern seien, vorgeschlagen, Konsumenten besser zu informieren (Barcellos et al. 2011: 400) oder Kampagnen zu lancieren, die an die Verantwortlichkeit von Konsumenten appellieren (Fraj et al. 2007: 31). Dagegen möchte ich eine andere Erklärung anbieten: Die komplexe Alltagswirklichkeit der Akteure, die Gelegenheiten und
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Gegebenheiten der räumlichen Umwelt sowie die starke Verankerung des Handelns in habitualisierten Routinen spielen eine wichtige Rolle dabei, wann ›guter‹ Konsum – sei es im Sinne konsumtiver Verantwortung, (gesundheits-) bewusster Ernährung, im Sinne des »handwerklichen Konsums« oder der Konzentration auf das Notwendige (vgl. Kap. 5.2)1 – gelingt und wann nicht. Damit schließt sich die vorliegende Studie einer in den letzten Jahren erstarkenden Strömung in der Konsumsoziologie an, die den Nutzen der Theorie sozialer Praktiken für die Analyse von Konsumphänomenen herausstreicht (vgl. Warde 2005; Halkier et al. 2011). Aus praxistheoretischer Sicht sind drei Punkte hervorzuheben: •
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Erstens ist der Konsum von Lebensmitteln als eingebettet in ein komplexes Geflecht anderer Praktiken zu betrachten, die »Konkurrenten um Zeit und andere Ressourcen« (Shove 2009: 22) sind. Akteure können nur begrenzt Zeit, Geld und kognitive Ressourcen für das Einkaufen, Essen und Kochen aufwenden, sondern müssen diese Tätigkeiten unter Kompromissen und Abwägungen in die umfassenderen Strukturen ihres Alltags einbauen. Nicht Motive, Bedürfnisse und präferenzbasierte Wahlen werden dabei als dem Konsum vorgelagert angesehen, sondern routinisierte Praktiken, die Bedürfnisse und Gelegenheiten zur Wahl generieren (Halkier 2010: 29). Damit grenzen sich praxistheoretische Ansätze scharf von allen Ansätzen ab, die Konsum als intentional gewolltes Verhalten begreifen. Wichtige Themen, die die Befragten spontan in Hinblick auf ihr Konsumverhalten diskutierten, waren etwa die Strukturierung des Tagesablaufs, die Erreichbarkeit von Geschäften, wie das Einkaufen von Lebensmitteln mit anderen Tätigkeiten verbunden wird (wenn z.B. der Einkauf auf dem Weg von der Arbeit nach Hause erledigt wird), oder wie die Zubereitung von Essen und die Mahlzeiten mit anderen Mitgliedern des Haushalts abgestimmt werden. Diese Alltagswirklichkeiten bilden einen wichtigen Vorlauf und prägen in entscheidender Weise, wie Personen in Situationen geraten, in denen sie zumindest pro forma zwischen verschiedenen Optionen wählen können – wobei viele theoretisch denkbare Wahloptionen in diesen Situationen bereits ausgeschieden sind. KonsumSicherlich gibt es Unterschiede in Bezug auf die Art und Weise, wie Probleme der praktischen Umsetzung in Bezug auf die verschiedenen Konzeptionen des ›guten‹ Konsums diskutiert werden. In jedem Fall werden Schwierigkeiten der Umsetzung aber in Bezug auf alle Typen diskutiert: Auch die praktische Konsequenz in Bezug auf die Konzentration auf das Notwendige wird problematisiert, etwa wenn auf ungeplante Spontankäufe verwiesen wird.
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aktivitäten sind eingebunden in ein Netz anderer Tätigkeiten, weshalb selbst Wahlsituationen oft nicht als echte Entscheidungen erlebt werden. Die Organisation der Alltagspraxis basiert zudem weitgehend auf langfristig angeeigneten Gewohnheiten und eingespielten Routinen, die selbst durch ein größeres Wissen oder mehr Information nicht einfach durchbrochen wird. Zweitens gehen mit den praktischen Anforderungen immer auch moralische Anforderungen einher. Die Praxis ist stets mit Sinnstrukturen behaftet, die ethisch nicht immer eindeutig sind. Miteinander konfligierende Intentionen, Ideen des ›guten‹ Lebens und ethische Prinzipien erschweren ein konsistentes moralisches Handeln. Menschen müssen in ihrer Rolle als Lebensmittelkonsumenten daher stets verschiedene moralische Imperative (z.B. kümmere Dich um Dein Wohlbefinden und Deine Fitness, kümmere Dich um die Bedürfnisse Deiner Familie, kümmere Dich um die Umwelt) gegeneinander abwägen und miteinander in Einklang bringen. Die Vorstellung eines »attitude-behaviour gaps« greift daher immer nur teilweise: Während das Verhalten der einen ethischen Einstellung widersprechen mag, steht es mit einer anderen möglicherweise im Einklang. In diesem Sinne sollte Praxis – analog zu Giddens’ Strukturbegriff – nie nur als einschränkend, sondern immer auch als ermöglichend verstanden werden (vgl. Giddens 1984: 25). Drittens ist in Hinsicht auf politische Interventionen zu fragen, inwiefern Maßnahmen der umfangreicheren Information über Konsumgüter sowie Appelle an die Verantwortung des Einzelnen tatsächlich das Potential haben, zu ›besseren‹ Konsumpraktiken zu führen. Beiderlei Maßnahmen erscheinen insofern unzureichend, als sie den komplexen Gegebenheiten des Alltags nicht umfänglich gerecht werden. Aus praxistheoretischer Perspektive ist zu betonen, dass kognitives und normatives Wissen nur eine Komponente von Praktiken darstellt und daher nicht automatisch dazu führt, dass sich Praktiken im Ganzen verändern. Versteht man Praktiken zudem als Konkurrenten um Zeit und andere Ressourcen, so lässt sich zudem die These ableiten, dass ein gesundes, verantwortungsvolles, als authentisch empfundenes und weniger verschwenderisches Kauf- und Ernährungsverhalten vor allem dann gelingt, wenn es bequem in das Geflecht der alltäglichen Praktiken eingebunden werden kann. Für zukünftige Studien würde es sich daher lohnen, Praktiken (nicht nur) im Bereich des Essens und der Ernährung in all ihren Dimensionen stärker in den Blick zu nehmen, anstelle den Fokus primär auf Bedeutungen zu legen, da Letztere immer nur eine Dimension von Praktiken darstellen. Wie die Be-
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deutungsebene mit Temporalität, Materialität und Körperlichkeit als wichtigen Dimensionen sozialer Praktiken (Schmidt 2012) verbunden sind und inwiefern veränderte Deutungen Praktiken als Ganze transformieren, sind Fragen, die nur mit einem solch umfassenden Ansatz zu erforschen sind. Wenn die Alltagspraxis mit vielfältigen und sich widersprechenden moralischen Anforderungen einhergeht, dann sollte vom faktischen Kaufverhalten auch nicht abgeleitet werden, dass sich Menschen in ihrer Rolle als Konsumenten nicht um ethische Fragen kümmern.2 Dies wird plausibel, wenn man unter Konsum nicht nur den Moment des Kaufens, sondern einen umfassenderen Prozess versteht, der auch das Nachdenken über die ethischen Implikationen des eigenen Handelns einschließt (vgl. Wiswede 2000: 24; Campbell 1995). Schließlich müssen Menschen kognitiv und emotional mit den Inkonsistenzen, Ambivalenzen und Widersprüchen zwischen ihren idealen Vorstellungen des ›guten‹ Konsums und ihrem Verhalten umgehen. Dass dies nicht immer leicht ist, zeigen die analysierten Fälle, in denen sich deutliche Spannungen zwischen moralischen Orientierungen und der Alltagspraxis dokumentieren. Statt davon auszugehen, dass Konsumenten objektiv ›ethischer‹ oder ›moralischer‹ geworden sind, erscheint daher die Annahme sinnvoller, dass Konsum ein Thema ist, das in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand ethischer und moralischer Reflexionen geworden ist (vgl. Newholm 2005: 108). Allerdings sollte die These eines verstärkten Nachdenkens über die ethischen Implikationen des Konsums nicht vorschnell bejubelt werden. Reflexivität kann viele mögliche Resultate haben und führt nicht notwendigerweise zu einem – in welcher Hinsicht auch immer – normativ wünschenswerten Konsumverhalten. In den Interviews verhandelten die Beforschten das Verhältnis zwischen Reflexivität und Routine auf höchst unterschiedliche Weise (vgl. Kap. 6.2). So konnte gezeigt werden, dass die reflexive Aufmerksamkeit für bestimmte moralische Probleme im Alltagshandeln oft verloren geht. Reflexivität kann zudem zu einem Bewusstsein für die Hindernisse einer Änderung von erprobten Routinen führen, was oft eine Rechtfertigung und damit Bekräftigung bereits erprobter Handlungsweisen nach sich zieht. Reflexivität kann auch zu einer bewussten Ab2
Eben diesen Schluss suggerieren Fragen wie »Do Consumers Care about Ethics?« (Pelsmacker et al. 2005) oder »Do Consumers Really Care about Corporate Responsibility?« (Boulstridge/Carrigan 2000), mit denen Artikel betitelt sind, die sich mit der Kaufbereitschaft gegenüber ›ethischen‹ Produkten beschäftigen. Nahegelegt wird dann der Schluss, dass Konsumenten, die entsprechende Produkte nicht kaufen, sich offenbar auch nicht um »Ethics« kümmern.
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lehnung der moralischen Imperative führen, die in öffentlichen Debatten als »politisch korrekt« gelten (vgl. auch Halkier 2010: 61-62). In den Fällen, wo Transformationen von konsumtiven Routinen zum Ausdruck gebracht wurden, wurde oft deutlich, dass die Beforschten in diese Veränderungen im Zuge äußerer Veränderungen der Lebenssituationen »hineingerutscht« sind: So kann etwa die Erfahrung, Mutter zu werden, ein neues Nachdenken über Ernährung begünstigen; die Entscheidung eines Familienmitglieds, vegetarisch zu essen, kann dazu führen, dass auch die anderen Familienmitglieder über ihren Fleischkonsum nachdenken, usw. Die Hinwendung zu einer veränderten Konsumpraxis steht damit oft in engem Zusammenhang mit der konkreten Lebenssituation und dem sozialen Umfeld der Akteure. Insgesamt ist zu betonen, dass die empirischen Ergebnisse gegen die Plausibilität theoretischer Perspektiven sprechen, die Konsumenten weitgehend als rationale Akteure konzipieren, und Konsumhandeln als intentional gewolltes und reflexiv steuerbares Handeln verstehen. Schließlich können die genannten Relativierungen der moralischen Ideale letztlich selbst als moralische Haltung aufgefasst werden. Implizit werden so weitere moralische Postulate sichtbar: »Sei nicht zu streng mit Deinen moralischen Anforderungen!« und »Berücksichtige die situativen Umstände!« Offenbar wird damit, dass die hier untersuchten ›gewöhnlichen‹ Konsument relativistische Positionen beziehen, denn dem Abrücken von Idealen zugunsten der praktischen Bewältigbarkeit des Alltags wird ein Wert für sich zugeschrieben. Diese Überlegung lässt sich weiterführen mittels der idealtypischen Unterscheidung zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik, die Max Weber (1992 [1926]) in seiner Rede »Politik als Beruf« einführte. Zunächst erscheint plausibel, dass unter den Befragten eine universelle Gesinnungsethik verpönt ist. Nach Weber fühlen sich Gesinnungsethiker in erster Linie »der Flamme der reinen Gesinnung« (ebd.: 71) verpflichtet; sie verfechten ihre politischen Ideale ohne Rücksicht auf situative Umstände und auf die Konsequenzen ihrer Politik. In den angesprochenen vielfältigen Verknüpfungen zwischen verschiedenen Moralorientierungen sowie der Relativierung der Geltung von Idealen mit Verweis auf situative Umstände zeigt sich eine Ablehnung einer solchen Rigidität. In den aufgezeigten moralischen Idealen sind gesinnungsethische Anklänge durchaus erkennbar, die aber durch Verweise auf individuelle Bedürfnisse und situative Gegebenheiten zugleich relativiert werden: Das Primat des Nichtverschwendens und des Sparens lässt eine Gesinnung erkennen, die mit Bourdieu als (klein-) bürgerlich beschrieben werden könnte (vgl. z.B. (1987: 546). Im Primat der Natürlichkeit und der ökologischen Nachhaltigkeit und des Tierwohls werden hin-
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gegen Anklänge an eine ›grüne‹ bzw. tierethische Gesinnung sichtbar.3 Eine verantwortungsethische Haltung besagt schließlich, dass die schädlichen Wirkungen des Konsumhandelns unabhängig von einer konkreten Gesinnung zu minimieren sind. Weber versteht Verantwortungsethik erstens als eine flexiblere Haltung, insofern sie die Abwägung unterschiedlicher Implikationen jeglichen Handelns voraussetzt. Zweitens ist das Konzept relational, es geht also immer um Verantwortung gegenüber jemandem. Zu einem guten Teil sind diese Kriterien erfüllt, denn zum einen wird die Alltagspraxis als mit vielfältigen Sinnstrukturen behaftet erlebt, die stets auch ethische Dimensionen aufweist. Die meisten Befragten folgen nicht bedingungslos einer Gesinnung, sondern wägen verschiedene moralische Imperative gegeneinander ab. Auch Objekte der Verantwortungsübernahme sind erkennbar, etwa in der Sorge um andere Familienmitglieder. Schließlich kann auch das eigene Selbst Objekt der Verantwortung sein, wie sich besonders in der Vorstellung der »Sorge um sich« zeigte (vgl. Kap. 5.2.3). Die hier untersuchten ›gewöhnlichen‹ Konsumenten sind damit eher als Verantwortungsethiker denn als Gesinnungsethiker zu bezeichnen. Allerdings ist Weber nicht so zu lesen, dass Verantwortungsethik mit einem beliebigen und am eigenen Vorteil orientierten Handeln gleichgesetzt werden kann, da der verantwortungsethisch handelnde Politiker stets für die Folgen seines Tuns gegenüber seiner Wählerschaft einsteht (Weber 1992 [1926]: 70-71). Übertragen auf den Gegenstand der Konsummoral hieße das, dass unterschieden werden müsste zwischen tatsächlichen ethischen Abwägungen – z.B. zwischen einer Sorge um die Essbedürfnisse von Familienmitgliedern und Umweltschutzerwägungen – und reinen Rechtfertigungen der eigenen Bequemlichkeit. In diesem Sinne lässt sich nun auch ein zentraler Unterschied zwischen als ›ethische Konsumenten‹ bezeichneten Gruppen und ›gewöhnlichen‹ Konsumenten benennen: Erstere vertreten ein moralisches Ideal mit größerer Vehemenz und fordern ein mit diesem Ideal kongruentes Handeln in stärkerem Maße ein. Letztere stellen dagegen eher mehrere moralische Ideale nebeneinander und vertreten die Haltung, dass immer situativ und mit Rücksicht auf alltägliche Praktikabilität beurteilt werden muss, welches Handeln ›richtig‹ ist.
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In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass auch eine Haltung, die ganz offensichtlich die Übernahme von Verantwortung für schützenswerte Objekte (z.B. Tiere) impliziert, zu einer Gesinnung werden kann, wenn sie radikal verfolgt wird.
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8.3 K ONSUMMORAL IM K ONTEXT SOZIALER U NGLEICHHEIT Ich habe im Zuge der Entwicklung meiner Forschungsperspektive auf die enge Verflechtung von Praxis und Moral hingewiesen. Daraus resultiert auch eine Distanzierung gegenüber Ansätzen, die Moralsoziologie ausschließlich als »Soziologie ihrer kommunikativen Erscheinungsformen im Alltagsleben« (Bergmann/Luckmann 1999) verstehen und sich gegen die Annahme aussprechen, dass Moral auch »als innere Realität zu verstehen ist« (ebd.). Eva Barlösius geht in ihrer Studie der Essmoral davon aus, dass Moral in »kommunikativen Interaktionen konstruiert und tradiert« (2004: 48) wird, und betont, dass es nach wie vor kollektiv geteilte moralische Normen gebe, während der Verbindlichkeitsgrad der praktischen Umsetzung oft gering sei. Dies komme in Hinblick auf Essmoral etwa darin zum Ausdruck, dass sich kaum jemand von der Aufforderung distanziert, man möge sich gesund ernähren. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie deuten dagegen darauf hin, dass dies ein etwas zu harmonisches Bild ist. Zwar ist sicherlich richtig, dass allein aufgrund des Streitpotentials von Moral (vgl. Luhmann 2008 [1990]: 260) eine Tendenz besteht, in der Kommunikation eine affirmative Haltung zu gesellschaftlich breit anerkannten Moralappellen einzunehmen. Bei genauerem Hinsehen wird in den Interviews jedoch deutlich, dass Akteure oft auch die Bedeutung bestimmter moralischer Ansprüche relativieren und andere Moralvorstellungen als die ›eigentlich‹ relevanten dagegensetzen.4 Eine umfassendere Perspektive auf die normativen Verhandlungen des ›guten‹ Konsums sollte daher in Betracht ziehen, dass Akteure zwar oft breit geteilte Vorstellungen affirmativ anerkennen, um ihre Zugehörigkeit zu einer Moralgemeinschaft zu signalisieren (Barlösius 2004: 46), darüber hinaus aber auch Abgrenzungen und Distanzierungen gegenüber breit geteilten Moralvorstellungen zum Ausdruck bringen, insbesondere dann, wenn es darum geht, den eigenen Lebensstil als ›gut‹ zu positionieren. Die hier entwickelte Perspektive rückt daher in Einklang mit anderen Autoren (vgl. Wilk 2001: 246) die Möglichkeit gesellschaftlicher Uneinigkeit und Konfliktlinien über den ›richtigen‹ Konsum stärker in den Vordergrund, da immer die Gefahr besteht, dass ethische Selbstverpflichtungen zu Moralisierungen gegenüber anderen verallgemeinert werden (Varul 2004: 24). In der Kommunikation mögen diese oft weitgehend latent bleiben oder über die Medien stellvertretend ausgetragen werden (Beetz 2009).
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In der Literatur ist mehrfach aufgezeigt worden, dass sich regelmäßig ein Teil der Beforschten von moralischen Ansprüchen distanziert, die in Bezug auf ihre Konsummuster an sie herangetragen werden (z.B. Halkier 2010: 61-62; Newholm 2005: 123).
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Direkte Moralisierungen werden oft vermieden, moralische Abgrenzungen gegen andere werden oft nur gegenüber Gleichgesinnten – gewissermaßen »hinter vorgehaltener Hand« – vorgebracht. Gerade daran zeigt sich jedoch auch, dass Moral bedeutsam ist, um Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und Abgrenzungen von anderen zu etablieren. Im Sinne von Gerhard Schulzes Milieubegriff (2005 [1992]: 174) formen sich Milieus immer auch über Lebensphilosophien und Bekenntnisse zu grundlegenden Wertvorstellungen (ebd.: 112). Aus diesem Grund sollte nicht unterschätzt werden, welche soziale Schließungs- und Teilungskraft Moralvorstellungen entwickeln können, zu denen auch Ideen über den ›richtigen‹ Konsum von Lebensmitteln gehören, inklusive der Fragen, wo und welche Lebensmittel man einkauft, wie man kochen und wie das Essen eingenommen werden sollte. Interviews stellen dabei eine geeignete Methode dar, um moralische Grenzziehungen zu erheben (Lamont 1992), gerade weil die Äußerung von Haltungen und Einstellungen nicht nur eine strategische Darstellung der eigenen Person gegenüber dem Interviewer ist, sondern immer auch den Charakter von Selbstbeweisen hat (Varul 2004: 247). Aus dieser Perspektive war mein Interesse herauszuheben, welche sinnhaften Wechselwirkungen zwischen Konsummoral und sozialer Distinktion im Kontext vertikaler sozialer Ungleichheiten zu beobachten sind. Bei der Analyse des Materials stellte sich heraus, dass die Interviewpartner sich selbst größtenteils der Mittelschicht zurechnen und auch auf Basis objektiver Kriterien zugeordnet werden können. Aussagekräftig war ferner, dass sie sich von statushöheren und statusniedrigeren Gruppen mittels moralischer Referenzen abgrenzen. Stets wurden Elemente des eigenen Konsumverhaltens als ›richtig‹ und Elemente des anderen Gruppen zugeschriebenen Konsum als ›falsch‹ gekennzeichnet. Dabei zeigte sich, dass bei der Thematisierung des Konsums von Lebensmitteln insbesondere moralische Grenzziehungen zum Tragen kamen, wogegen ästhetisch-kulturelle und sozioökonomische Grenzziehungen eine weniger markante Rolle spielten. Zudem konnten spezifische Sinnmuster festgestellt werden, je nachdem, ob statushöhere oder statusniedrigere Gruppen adressiert werden. Die Ergebnisse sprechen dafür, die Abgrenzungen als Teil des Versuchs der Mittelschichten zu interpretieren, sich selbst in einem sozialen Raum zu verorten und die eigenen Werte gegenüber anderen Gruppen zu behaupten. Gegenüber den Gruppen am unteren gesellschaftlichen Rand geht es darum, die eigene »Respektabilität« zu betonen. Gegenüber den Gruppen an der Spitze der sozialen Hierarchie geht es dagegen um eine Distanzierung von einem elitären und distinktiven Habitus. Darüber hinaus wurde eine Empörung darüber sichtbar, dass die Eliten die Leistungen und Werte der Menschen in der Mitte der Gesellschaft nicht ausreichend anerkennen, die hart arbeiten, Verantwortung für
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die Familie übernehmen und – auch beim Einkauf von Lebensmitteln – mit ihrem Geld gut wirtschaften, um »über die Runden zu kommen«. Die Mittelschicht, der sich die meisten Befragten selbst zurechnen, wird somit als die eigentliche Wahrerin von Rechtschaffenheit und moralischer Integrität dargestellt. Die Ergebnisse verdeutlichen somit, dass es einen Kern von Vorstellungen über den ›richtigen‹ Lebensmittelkonsum gibt, deren Beachtung als Teil eines respektablen Lebensstils gesehen wird und über den sich die Zugehörigkeit zur gesellschaftlichen Mitte (mit-)definiert. Im Material dokumentieren sich dabei weniger »feine Unterschiede« im Sinn von Bourdieus Abgrenzungen gegenüber Klassenfraktionen, die der eigenen ökonomisch nahestehen, aber einen anderen Habitus aufweisen, sondern eher »grobe Unterschiede«, die sich auf umfassendere gesellschaftliche Hierarchien beziehen. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob es neben moralischen Grenzziehungen gegenüber statusniedrigeren und statushöheren Gruppen auch klassenspezifische Konsummoralitäten gibt, ob sich also die sinngenetisch rekonstruierten konsummoralischen Dispositionen an klassenspezifische Erfahrungsräume rückbinden lassen. Diese Frage konnte jedoch nicht eindeutig beantwortet werden. Im Rahmen der Methodologie der dokumentarischen Methode hätte die Beantwortung der Erstellung einer soziogenetischen Typologie bedurft, im Zuge derer die sinnhaften moralischen Orientierungen auf spezifische Erfahrungsräume – z.B. den einer Klassenlage – zurückzuführen sind. Während des Forschungsprozesses wurden die vorliegenden Fälle immer wieder in Hinblick auf die Frage betrachtet, ob und wie sich moralische Orientierungen beim Konsum von Lebensmitteln auf Erfahrungen zurückführen lassen, die mit sozialen Kategorien wie Klassenlage, Haushaltsformen, Geschlecht oder Alter zusammenhängen. Eine eindeutige Rückbindung konnte jedoch für keine dieser Kategorien gefunden werden. Zwar deutete sich in vielen Fällen an, dass bestimmte Sinnorientierungen mit bestimmten sozialen Kategorien in Beziehung standen. Eine eindeutige Systematik konnte aber nicht ausgemacht werden: So zeigte sich zum Beispiel, dass bei der Betrachtung aller Fälle im Sample die sinnhafte Orientierung an der Übernahme »konsumtiver Verantwortung im gesellschaftlichen Kontext« quer zu jeglichen Kriterien sozialer Ungleichheit liegt. Plausibel erscheint daher, dass das Phänomen der Konsummoral nicht deutlich durch eine der genannten Dimensionen bestimmt ist. Denkbar ist dagegen eine Überlagerung verschiedener Dimensionen (z.B. Klasse, Alter, Geschlecht, Haushaltstypen; aber auch: Religion, Stadt-Land-Unterschiede), die jeweils einen Einfluss auf Konsummoral haben. Eine solche Überlagerung führt dazu, dass der Einfluss jeder einzelnen soziogenetisch bedeutsamen Dimension empirisch schwierig zu bestimmen ist, da der Einfluss jeder einzelnen Dimension zunächst unklar erscheint. Hat man im
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Fallvergleich sinngenetische Unterschiede herausgearbeitet und führt diesen auf eine Dimension (z.B. Klassenlage) zurück, kann es immer noch sein, dass der aufgezeigte Unterschied auf einer Erfahrungsdimension beruht, die der Forscher momentan nicht im Blick hat (z.B. Religion). Soziogenetische Typen sollten daher nicht vorschnell auf Basis weniger Fälle gebildet werden. Die soziogenetische Analyse erfordert vielmehr eine besondere Sampling-Strategie: Um eine theoretisch interessierende Dimension systematisch in all ihren Ausprägungen zu analysieren, werden immer wieder neue Fälle herangezogen, die neue Vergleichshorizonte eröffnen. Eine aufgefundene Typik wird so nach und nach spezifiziert, indem ihre Relation zu anderen Dimensionen herausgearbeitet wird (Bohnsack 2007: 246-250). Arnd-Michael Nohl hat darüber hinaus darauf hingewiesen, dass es Forschungsgebiete gibt, in denen sich divergierende Sinnorientierungen nicht entlang etablierter soziologischer Kategorien auffinden lassen (Nohl 2011: 11). In noch relativ unerforschten Gegenstandsbereichen wie dem hier vorliegenden besteht das Problem, dass zu Beginn der Forschung nicht ausreichend klar ist, welche der theoretisch interessanten Dimensionen sich tatsächlich als soziogenetisch relevant erweisen wird. Vor solch einem Hintergrund erscheint es riskant, das Sampling zu Beginn des Forschungsprozesses auf eine Dimension auszurichten, die sich möglicherweise im Laufe der Forschung als für die Strukturierung des interessierenden Phänomens wenig zentral erweist. Daher war es für die Konzeption der vorliegenden Studie zunächst angebracht, eine Sampling-Strategie zu wählen, die sich eignet, um die konsummoralischen Sinnorientierungen ›gewöhnlicher‹ Konsumenten breit abzudecken. Über diese methodologischen Überlegungen hinaus lassen sich theoretische Argumente anführen. Möglicherweise lässt sich eine klassenspezifische Konsummoral im substantiellen Sinn schlicht nicht auffinden, da sowohl Konsumverhalten als auch persönliche Ethik Bereiche sind, die vergleichsweise wenig normativ reguliert sind. Konsum ist in liberalen Gesellschaften ein Bereich, in dem Menschen als autonom entscheidende Individuen verstanden werden (Barnett et al. 2005b: 20; Bauman 1988: 7-8). Darüber hinaus ist Andrew Sayers Argument anzuführen, dass moralische Urteile weniger als ästhetische Urteile an soziale Positionen gebunden sind und oft unabhängig von sozialen Teilungen variieren (2005a: 951). Sayer zufolge betrifft Moral Fragen des menschlichen Umgangs miteinander. Da Moral so bedeutsam für den zwischenmenschlichen Umgang ist, sind moralische Ansichten stark in persönlichen Reflexionen verankert, die jedem Menschen zugänglich sind, unabhängig von seinem sozialen Hintergrund (Sayer 2005b: 47). Somit muss neben methodischen Schwierigkeiten auch in Betracht gezogen werden, dass es sich bei Konsummoral um ein gesellschaftliches Phänomen handelt, das mittels der üblichen soziologischen Kategorien
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nicht ursächlich erklärbar ist. Angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint es sinnvoll, Klasse als anfechtbare Relation (Skeggs 2005: 976) zu begreifen. In diesem Sinne sind die beobachteten Grenzziehungen selbst als Teil der stetigen Neuverhandlung der sozialen Kategorie »Klasse« zu begreifen. Gerade weil es offenbar so schwierig ist, klassenspezifische Moralvorstellungen beim Konsum von Lebensmitteln nachzuzeichnen, erstaunt es, wie deutlich entsprechende stereotype Zuschreibungen sichtbar wurden. Ein Klassendiskurs ist in dem Sinne weiter präsent, dass die Befragten ihren eigenen Lebensmittelkonsum im Kontext sozialer Ungleichheit diskutieren und den Konsum statushöherer und statusniedrigerer Gruppen moralisieren. Da moralische Grenzziehungen oft von denjenigen vorgenommen werden, die sich in ihrem sozialen Status unsicher fühlen, kann dieses Ergebnis als Indikator eines zunehmenden Angstklimas gedeutet werden. In Zeiten der ökonomischen Krise Europas und der Transformation des Sozialstaats in Deutschland erscheint diese Diagnose durchaus plausibel.
Anhang
A: BEISPIELINTERPRETATION 1. Thematischer Verlauf zum Interview mit Frau Meine (Auszug) Zeit 0:00 0:57
1:42 2:21 2:56
4:17 4:45 5:21
6:28 6:51
Thema Interviewer erläutert Ablauf des Interviews und Erzählaufforderung Aus Münster, dort mit Bruder und Vater zusammengelebt, war hauptverantwortlich für das Einkaufen, aber nicht mit eigenem Geld. Nach Umzug nach Siegen mit Freund zusammen gezogen, »Rolle der Einkäuferin« übernommen. Kein Haushaltsplan, kein Großeinkauf, sondern alle 2 Tage wird gekauft »was man braucht«. Einkauf hat sich mit Umzug geändert, mehr frisches Obst und Gemüse, damit werden schnelle Gerichte gekocht. Kaufe immer das Gleiche ein: Nudeln, Hackfleisch, Tomaten für Mittags, Gemüse für Abends, Gemüseeintopf. Keine Süßigkeiten, Wasser. Am Wochenende Orangensaft, Schinken, Käse für das Frühstück. Unter der Woche Frühstück in der Praxis. Freund kauft Tiefkühlessen, Kochen und Essen oft getrennt. Ausgaben für Essen pro Woche ca. 30-40 Euro. Durch Großeinkauf könnte man sparen, schaffe ich aber nicht. Einkaufsorte: Meist Lidl, liegt auf dem Arbeitsweg; ab und zu Kleinigkeiten im Dornseifer, ist zu teuer. Bio würde ich gern kaufen, ist aber zu teuer. Achte darauf, wo Gemüse herkommt. I fordert auf, mehr über das Zusammenleben mit Bruder und Vater zu erzählen Viel Fertiggerichte (»so n Mist«); nach der Arbeit keine Lust mehr zu kochen, habe mir jeden Abend Spaghetti gemacht, Vater und Bruder
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9:35 10:17
aßen Fertiggerichte; jeder für sich. »War mir egal«. Maggi-FixPackungen benutzt, mache ich jetzt nicht mehr. Es gab mehr Süßigkeiten, Einkauf im Edeka, lag auf dem Weg. Die Familie hatte nicht so viel Geld. I fragt nach Ablauf einer konkreten Situation, als jeder für sich gegessen hat 19:30 von der Arbeit gekommen, Vater hatte Fertigsuppe gekocht, Frau Meine kocht Spaghetti, Freund kam zu spät, sie hat alleine gegessen, Freund kam um 23 Uhr. Habe oft alleine oben im Zimmer vorm Fernseher gegessen.
2. Transkriptauszug (Z. 41-71) Interviewer: …und dich auch einfach vielleicht bitten noch mal mehr drüber zu erzählen also (.) ähm: vielleicht kannst du- du hattest ganz an- angefangen zu zu erwähnen die die Situation in Münster /mhm/ also du mit deinem Bruder und dem Vater zusammen gewohnt hast vielleicht kannst du da einfach noch mal genauer schildern wie das dort (.) /ja/ aussah Frau Meine: Da hatten wir sehr viel Fertiggerichte /mhm/ also das waren dann auch so von so Ravioli sag ich mal bis über ähm (.) ja Tiefkühlfertigsachen (.) weil ich da halt auch noch in der Ausbildung war /mhm/ ähm und äh dann abends eben auch keine Lust mehr- also da hatte ich ne andere Arbeitszeit als hier keine Lust mehr hatte auch noch irgendwie was zu machen äh (.) da ähm hab ich für mich meistens Spaghetti gemacht eigentlich wirklich jeden Abend /mhm/ (.) äh und ja mein Bruder und mein Vater haben dann sich irgendwie so n (.) ja so n Mist dann da halt gemacht also (.) ja was ich grad auch schon sagte was jetzt ja auch noch gekauft wird aber was ich jetzt halt nich mehr esse /mhm/ ähm das war halt so ich hab so für uns eingekauft (.) aber gekocht hat fast jeder so für sich dann /mhm mhm/ ähm nur da wie gesagt hatten wir halt mal n paar Äpfel oder so da aber da war mir das dann auch egal da war ich noch nich so ähm- (.) hab ich das halt noch nich so bewusst gemacht (.) und äh da hab ich auch immer eigentlich vom Arbeitsweg schnell mal angehalten ähm was eingekauft vielleicht hat mein Vater vorher angerufen ob ich das und das mitbringen könnte /mhm/ (.) und ähm (.) da äh (2) ja war das halt auch (2) eher so immer nur so mal alle zwei Tage und dann aber wirklich viel nur so Fertigsachen oder auch diese wenn man mal Aufläufe gemacht hat hier diese diese Maggifixpackungen /ja/ das mach ich halt
A NHANG | 301
heute auch gar nich mehr /okay okay/ also das haben wir auch gar nich hier das mach ich dann halt immer irgendwie selber /okay/ (2) würd mich jetzt auch nich als gute Köchin bezeichnen aber (.) irgendwie (.) iss mir das dann lieber wenn man weiß was da drin iss 3. Formulierende Interpretation Thema: Tiefkühlkost vs. Frisch kochen, Zusatzstoffe 41-55 I bittet Frau Meine, mehr über die Gestaltung des Essens zu der Zeit zu erzählen, als sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder zusammengelebt hat. Damals gab es sehr viele Fertiggerichte, zum Beispiel Ravioli oder Tiefkühlfertiggerichte. Frau M war damals in der Ausbildung und hatte abends keine Lust mehr, etwas Aufwändiges zu kochen. Sie hat für sich in dieser Zeit jeden Abend Spaghetti gekocht, während ihr Vater und Bruder sich Fertiggerichte (»so n Mist«) warmgemacht haben. 55-71 Frau Meine hat damals für sich selbst, ihren Bruder und ihren Vater eingekauft, aber jeder hat sich selbst Essen gemacht. Die Familie hatte »halt mal n paar Äpfel« vorrätig, doch insgesamt hat sie damals nicht so bewusst eingekauft und gegessen. Sie hat auf dem Weg nach Hause von der Arbeit »schnell« eingekauft, manchmal hat ihr Vater sie gebeten, etwas mitzubringen. Oft gab es jedoch Fertiggerichte oder Gerichte, die mit fertigen Gewürzmischungen zubereitet wurden. Diese Dinge kauft Frau Meine heute nicht mehr ein und isst sie auch nicht mehr. Sie glaubt nicht, dass sie eine gute Köchin ist, aber ihr ist es in jedem Fall lieber, wenn sie weiß, welche Inhaltsstoffe in dem Essen sind, das sie zu sich nimmt. 4. Reflektierende Interpretation 41-71 Immanente beschreibungsfördernde Nachfrage (41-46) und Beschreibung mit Hintergrundkonstruktionen im Modus der Argumentation (49-52; 59-60; 67; 70-71) und im Modus der Bewertung (54) In der Passage steht das Einkaufs- und Essverhalten in den letzten Jahren des gemeinsamen Haushalts mit ihrem Vater und ihrem Bruder im Vordergrund. Frau Meine betrachtet die damalige Situation retrospektiv mit Bezug auf den Vergleichshorizont ihrer heutigen Perspektive. An den argumentativen und bewertenden Einwürfen wird deutlich, dass sie sich von der damaligen Art und Weise des Einkaufens, Essens und der Ernährung distanziert. Der Beschreibung
30 2 | G ESUNDHEIT , G ENUSS UND GUTES G EWISSEN
lässt sich entnehmen, dass diese Aktivitäten damals für Frau Meine vergleichsweise unbedeutend waren. Dies äußert sich erstens darin, dass sie (und auch ihre Familie) nur wenig Zeit und Mühe in die Besorgung und Zubereitung von Essen investiert hat (»sehr viele Fertiggerichte«, »schnell mal angehalten ähm was eingekauft«). Zweitens hat sie der Frage, was sie isst, keine Bedeutung zugemessen (»da war mir das dann auch egal«): Dem Hinweis, dass es »halt mal n paar Äpfel« gab, lässt sich entnehmen, dass sie in den Äpfeln letztlich das einzige üblicherweise im Haus vorrätige Lebensmittel sieht, das für eine gesunde Ernährung steht, woraus auch hervorgeht, dass Frau Meine die damalige Ernährung insgesamt als schlecht und ungesund bewertet. Drittens zeigt sich, dass ein abwechslungsreicher Speiseplan nicht wichtig war (»da hab ich für mich meistens Spaghetti gemacht eigentlich wirklich jeden Abend«). Zudem wurden das Kochen und das Essen offenbar nicht als soziales Ritual gestaltet (»gekocht hat fast jeder für sich«). Gegenüber dieser damaligen Gestaltung des Essens grenzt sie sich aus heutiger Perspektive ab: Es wird deutlich, dass ihr gegenüber der damaligen Situation heute wichtig ist, sich insgesamt besser zu ernähren, wobei deutlich wird, dass Frau Meine davon ausgeht, dass ein reflexiver Umgang mit Ernährung dazu der Schlüssel ist (»hab ich das halt noch nicht so bewusst gemacht«). Mit dem Verzicht auf Fertigprodukte und dem Kochen mit frischen Zutaten verbindet Frau Meine eine größere Transparenz darüber, was man zu sich nimmt (»wenn man weiß was da drin ist«), wobei hier offenbleibt, ob es um die ernährungsphysiologische Zusammensetzung des Essens geht oder um im Essen möglicherweise enthaltene Zusatzstoffe.
Geschl.
M
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W
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M
M
Nr.
1*
2
3
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41-45
36-40
46-50
41-45
41-45
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36-40
61-65
56-60
26-30
26-30
Alter
Fachabitur
Abitur
Hauptschule
Abitur
Hauptschule
Abitur
Abitur
Realschule
Fachabitur
Realschule
Hauptschule
Abitur
Abitur
Allg.Bildung
Familie Paarhaushalt
freigestellter Betriebsratsvorsitzender
Alleinlebend
Familie
Ingenieur
Hausmeister
Kauffrau
Familie
Arbeiter in der Metallbranche
Alleinlebend
Kunstvermittlerin Familie
Alleinlebend
Sekretärin (im Ruhestand)
Pädagogin
Familie
Paarhaushalt
Familie
Paarhaushalt
Alleinlebend
Haushaltsform
Bankkaufmann
Versicherungsvertreterin (im Ruhestand) Bankfachwirt (im Ruhestand)
Sozialpädagogin
Erwerbslos
(letzter) Beruf**
mittel bis gehoben gehobener Wohlstand
gehoben
keine Angabe prekärer Wohlstand relativer Wohlstand relative Armut mittel bis gehoben
gehoben
keine Angabe relativer Wohlstand
gehoben
Einkommenslage*** mittel bis gehoben
Herr Kropp
Herr Schneider
Herr Grube
Frau Amann
Herr Martens
Frau Kurz
Frau Lüdeke
Frau Tiedemann
Herr Lehmann
Herr Remmert
Frau Bergmann
Frau Steinhoff
Herr Dürnberger
Pseudonym
A NHANG | 303
B: LISTE DER INTERVIEWPARTNER
46-50
W
W
W
M
M
W
W
W
W
W
M
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14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
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51-55
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46-50
61-65
26-30
46-50
56-60
36-40
56-60
36-40
Alter
Geschl.
Nr.
Realschule
Realschule
Realschule
Realschule
Realschule
Abitur
Hauptschule
Abitur
Abitur
Abitur
Abitur
Abitur
Allg.Bildung
Familie
Paarhaushalt
Polizeibeamter (im Ruhestand) Hausfrau
Familie
Hausfrau
Alleinlebend
Paarhaushalt
Krankenschwester (im Ruhestand) Kosmetikerin
Paarhaushalt
****
Familie
Familie
Paarhaushalt
Familie
Familie
Haushaltsform
Arzthelferin
Hausfrau
Erwerbslos
Lehrer
Lehrerin
Lehrerin
Hausfrau
(letzter) Beruf**
Frau HenningLöw
gehobener Wohlstand
Frau Meine Frau Coskun Frau Bluhm
mittel bis gehoben prekärer Wohlstand prekärer Wohlstand
Herr Greiner Frau Schröder
relativer Wohlstand prekärer Wohlstand
Frau SchulteMenzel
Frau Müller
prekärer Wohlstand
gehoben
Herr Lochner
relative Armut
Herr Staudt
Frau Kamps
gehobener Wohlstand
gehoben
Frau Claus
Pseudonym
keine Angabe
Einkommenslage***
30 4 | G ESUNDHEIT , G ENUSS UND GUTES G EWISSEN
A NHANG | 30 5
*Die dunkelgrau markierten Fälle wurden für ausführliche Falldarstellungen ausgewählt, die hellgrau markierten Fälle wurden für weitere Darstellungen in der Arbeit herangezogen. Die übrigen Fälle wurden zwar interpretativ ausgewertet, allerdings nicht zur Illustration der Ergebnisse herangezogen. ** Um die Anonymität der Interviewpartner zu wahren, wurden die Berufsbezeichnungen teilweise leicht abstrahiert oder verfremdet. *** Die Einkommenslage wurde berechnet, in dem das monatliche Nettoäquivalenzeinkommen des jeweiligen Haushalts in Bezug zum Bevölkerungsdurchschnitt gesetzt wurde. »Relative Armut« bezeichnet ein Einkommen, das unter 50 Prozent des Bevölkerungsdurchschnitts liegt. Die weiteren Kategorien sind: »Prekärer Wohlstand« (50%-75%), »Untere bis mittlere Einkommenslage« (75%-100%), »Mittlere bis gehobene Einkommenslage« (100%-125%), »gehobene Einkommenslage« (125%-150%), »relativer Wohlstand« (150%-200%) und »gehobener Wohlstand« (>200%) (vgl. Statistisches Bundesamt; GESISZUMA; WZB Berlin 2008: 164). **** Lebt zusammen mit ihrem erwachsenen Sohn.
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Thomas Tripold Die Kontinuität romantischer Ideen Zu den Überzeugungen gegenkultureller Bewegungen. Eine Ideengeschichte 2012, 362 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1996-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de