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German Pages 248 Year 2022
R ECHT UND PHILOSOPHIE Band 11
Gesinnung und Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie Von
Yuzhou Huang
Duncker & Humblot · Berlin
YUZHOU HUANG
Gesinnung und Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie
Recht und Philosophie Herausgegeben von Prof. Dr. Eberhard Eichenhofer, Jena Prof. Dr. Stephan Kirste, Salzburg Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Michael Pawlik, Freiburg Prof. Hans-Christoph Schmidt am Busch, Braunschweig Prof. Dr. Klaus Vieweg, Jena Prof. Dr. Benno Zabel, Bonn
Band 11
Gesinnung und Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie Von
Yuzhou Huang
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Br. hat diese Arbeit im Jahr 2020 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
D 25 Alle Rechte vorbehalten © 2022 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz: TextFormA(r)t, Daniela Weiland, Göttingen Druck: CPI buchbücher.de GmbH, Birkach Printed in Germany ISSN 2509-4432 ISBN 978-3-428-18180-3 (Print) ISBN 978-3-428-58180-1 (E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Meinen Eltern und meiner Frau
Vorwort Das vorliegende Buch stellt die überarbeitete Fassung meiner Arbeit dar, die im Sommersemester 2019/2020 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg i. Brsg. als Dissertation angenommen wurde. Die Anfertigung der Arbeit wurde von Herrn Professor Dr. Dr. hc mult. Michael Pawlik, LL. M. (Cantab.) betreut, dem ich für die freundliche Betreuung zu großem Dank verpflichtet bin. Ich bin immer sehr dankbar und stolz, dass ich einen solchen Doktorvater habe. Dank schulde ich auch Herrn Professor Dr. Matthias Jestaedt, der das Zweitgutachten angefertigt hat. Mein besonderer Dank gilt Professor Xueping Zhu, der mich auf den Weg des Hegel-Studiums gebracht hat. Ebenso möchte ich mich bei Professor Wen Fan für seine kontinuierliche Unterstützung und Ermutigung bedanken. Vielen Dank auch an Herrn Matthias Schaum für die Freundlichkeit und Hilfe, die er uns immer gegeben haben. Ich danke Frau Margot Nostadt für ihre harte Arbeit und werde den Nachmittag, an dem sie mein Manuskript sorgfältig durchgesehen hat, nie vergessen. Ebenso bedanke ich mich bei meinen Kollegen und Kolleginnen Frau I-Ning Liao, Frau Yuanli Li, Frau Xueshuang Zhao, Herrn Peifeng Tang, Herrn Wen-Mao Peng, Herrn Jingye Huang, Herrn Yuan Lyu und Herrn Cheng Xu für die unermüdliche wechselseitige Unterstützung und ich bin mir sicher, dass wir uns immer an diese Tage in Freiburg erinnern werden. Der Chinese Scholarship Council hat die Entstehung der Dissertation und die Drucklegung durch ein großzügiges Doktorandenstipendium (inklusive eines Druckkostenzuschusses) unterstützt. Ich danke den Herausgebern für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Recht und Philosophie“ sowie dem Verlag Duncker & Humblot für die freundliche Zusammenarbeit. Ich widme das Buch meinen Eltern und meiner Frau, die mich bei der Erstellung der Arbeit liebevoll unterstützt haben. University of Chinese Academy of Social Sciences, Peking, im Juli 2021
Yuzhou Huang
Inhaltsverzeichnis Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11
Kapitel 1
Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs 20
A. Meinung und Begriff: Die metaphysische Intention von Hegels Rechtsphilosophie . 20 B. Das moderne Leben und der moderne Begriff der Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 C. Die Selbstbestimmung der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34
Kapitel 2
Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus 40
A. Hegels Kritik am politischen Fanatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 B. Hegels Kritik am religiösen Fanatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 C. Die Überwindung des Fanatismus: die konkrete Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 D. Staat, Religion und öffentliche Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Kapitel 3
Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit 75
A. Der moralische Standpunkt zwischen Subjektivität und Objektivität . . . . . . . . . . . . . 78 B. Kritik an dem leeren Formalismus der Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 C. Gewissen und Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 I. Der Tod des Sokrates: Sokrates als Erfinder der Moralität . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 II. Die Stoiker und der reine Gedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 III. Rechtsphilosophie und Protestantismus: Eigensinn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 IV. Gewissen bei Kant und Fichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 V. Gewissensbegriff beim jungen Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 D. Dialektik des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie: Zweideutigkeit des Gewissens . . 115
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Inhaltsverzeichnis I. Gewissen und Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 II. Das formelle Gewissen und das wahrhafte Gewissen: Meinungen und sittliche Gesinnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129
Kapitel 4
Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft 140
A. Tapferkeit und Ehrlichkeit: Spannungen zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft 142 I. Antike und Moderne: Tapferkeit und Eitelkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 II. Die Debatte des 18. Jahrhunderts: Sparta und der Luxus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 III. Natur und Freiheit: Kant und Schiller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 B. Der Staat und der Markt in der Rechtsphilosophie des jungen Hegel: ein wildes Tier 153 I. Hegels Rechtsphilosophie vor der Jenaer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 II. Hegels Rechtsphilosophie in der frühen Jenaer Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 1. Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts . . . . . . . . . . 157 2. System der Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 a) Die natürliche Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 b) Das Negative, die Freiheit und das Verbrechen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 c) Die Sittlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 172 III. Jenaer Systementwürfe I und Jenaer Systementwürfe III . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 C. Bildung: der absolute Durchgangspunkt subjektiver Substantialität . . . . . . . . . . . . . . 182 D. Bildung und Gesinnungen in der Gesellschaft: Pöbel und Standesehre . . . . . . . . . . . 196
Kapitel 5
Die öffentliche Meinung 204
A. Die Zweideutigkeit der öffentlichen Meinung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 B. Die öffentliche Meinung und die Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 C. Die öffentliche Meinung und die Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244
Einleitung In seinem berühmten Aufsatz „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“ betont Ernst-Wolfgang Böckenförde die Bedeutung der inneren „Bindungskräfte“ für ein politisches Gemeinwesen wie den Staat, indem er darauf hinweist, dass die Religion bis ins neunzehnte Jahrhundert die tiefste Bindungskraft der politischen Ordnung und des staatlichen Lebens war und dass sich, wenn die Sittlichkeit auf innerweltliche, säkulare Weise begründet und aufrechterhalten werden soll, die Frage stellt, aus welcher Quelle das staatliche Gemeinwesen seine Integrationskraft beziehen kann. Inwieweit kann ein Volk, das durch den Staat geeint ist, allein durch die Garantie der individuellen Freiheit überleben, wenn es kein der Freiheit vorausgehendes Band der Einheit gibt? Die befreiten Individuen müssen eine neue Gemeinsamkeit und Homogenität entdecken, damit der Staat nicht in inneren Zerfall gerät1. Dies ist das sogenannte „Legitimitätsdefizit“2 des modernen Staates, und es stellt sich die Frage, ob der institutionalisierte moderne Staat, „der für sich notwendig und ein über das subjektive Meinen und Belieben erhabenes Bestehen ist“3, noch eine subjektive sittliche Wurzel braucht. Mit Rousseau könnte diese Frage auch dahingehend umformuliert werden, ob der moderne Staat noch der Tugend seiner Bürger bedarf. Braucht eine freiheitliche Ordnung eine innere Gesinnung, um aufrechterhalten zu werden? Hegels Rechtsphilosophie ist ein Produkt des Dialogs mit Rousseau, und die Komplexität von Hegels Herangehensweise an die Französische Revolution (und an Rousseau) spiegelt sich tatsächlich in seiner Behandlung von Gesinnung und Sittlichkeit wider. Für Hegel erweist sich die Figur Rousseaus als extrem komplex: Einerseits gründet Rousseau wie Hegel den Geltungsgrund des Rechts auf den Willen und betont die „Verwerfung der Natur“4 durch das Freiheitsgesetz, andererseits vertritt Rousseau ein ganzheitliches Ideal der Identität der Staatsbürger.5 Hegels Generation wuchs im Geist der Französischen Revolution auf, und Rousseau, der geistige Lehrer der Französischen Revolution, hatte natürlich einen grundlegenden Einfluss auf seine 1 Vgl. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation“, in: ders., Recht, Staat, Freiheit. Studien zur Rechtsphilosophie, Staatstheorie und Verfassungsgeschichte, Frankfurt a. M. 1991, S. 42–65. 2 Jean-François Kervégan, „Unsittliche Sittlichkeit? Überlegungen zum BöckenfördeTheorem und seiner kritischen Übernahme bei Habermas und Honneth“, in: Philosophie der Republik, hrsg. v. Pirmin Stekeler-Weithofer u. Benno Zabel, Tübingen 2018, S. 368. 3 Rechtsphilosophie, § 144, S. 293–294. 4 Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 109. 5 Vgl. Michael Pawlik, „Hegels Kritik an der politischen Philosophie Jean-Jaques Rousseaus“, in: Der Staat 38/1(1991), S. 33.
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Einleitung
Generation. Hegels Beurteilung der Französischen Revolution zeigt diese Komplexität, da er immer wieder zwischen revolutionären und konterrevolutionären Positionen zu oszillieren scheint. Dies spiegelt sich auch in Hegels Einschätzung der Französischen Revolution in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte wider: „Solange die Sonne am Firmamente steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der νοῦς die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirklichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.“6
In einer seiner Notizen aus der Berliner Zeit kommentiert Hegel Walter Scotts Äußerung in dessen Schrift Leben Napoleons, Ursache und Zweck der Französischen Revolution sei, dass „[d]er Himmel zur Strafe der Sünden Frankreichs und Europas, und um dem menschlichen Geschlecht eine große Lehre zu geben, […] die Macht und Gewalt solchen Menschen [überließ], die nur die Werkzeuge seiner Rache und seiner geheimen Absichten waren.“7 Hegel spottete über diese Aussage Scotts: Wenn die Sünden Frankreichs und Europas so groß gewesen wären, dass der gerechte Gott tatsächlich die furchtbarsten Strafen hätte verhängen müssen, dann wäre in diesem Fall eine Revolution geradezu unvermeidlich und kein neues Verbrechen, sondern nur eine Züchtigung eines alten. Scott verschleiere mit solchen anmaßenden Phrasen nur seine Unwissenheit. „Ebenso unbekannt scheinen ihm auch die charakteristischen Grundsätze zu sein, die das Wesen der Revolution bezeichnen und [die ihr] ihre fast unermeßliche Macht über die Gemüter geben.“8 Andererseits kritisierte Hegel in Werken wie der Phänomenologie des Geistes und der Rechtsphilosophie die Französische Revolution, weil sie nach seiner Auffassung letztlich in Terrorismus, Fanatismus und in Robespierres von Abstraktion geprägte Tugendpolitik münde. Die Revolution, die alle bestehende Ordnung zerstörte, erzeugte in der Gesinnung „einen Enthusiasmus des Geistes“9, der zwar erhaben, aber zugleich auch erschreckend war. Wie kann man die Schrecken der Französischen Revolution und Rousseaus Tugend gegenüberstellen, und ist Gesinnung in der modernen Welt noch nötig? Für Kant ist „eine Herrschaft über die Gemüter nach Tugendgesetzen“10 abzulehnen, die innere Loyalität des Bürgers ist bedeutungslos und kann als Mittel der Aufrechterhaltung der staatlichen Ordnung aufgegeben werden. Dies besagt auch Kants berühmter Satz von einem „Volk von Teufeln“: 6
Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 529. Berliner Schriften 1818–1831, S. 566. 8 Berliner Schriften 1818–1831, S. 566. 9 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 529. 10 Kant, AA VI, S. 95. 7
Einleitung
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„Nun ist die republikanische Verfassung die einzige, welche dem Recht der Menschen vollkommen angemessen, aber auch die schwerste zu stiften, vielmehr noch zu erhalten ist, dermaßen daß viele behaupten, es müsse ein Staat von Engeln sein, weil Menschen mit ihren selbstsüchtigen Neigungen einer Verfassung von so sublimer Form nicht fähig wären … Das Problem der Staatserrichtung ist, so hart wie es auch klingt, selbst für ein Volk von Teufeln (wenn sie nur Verstand haben) auflösbar und lautet so: ‚Eine Menge von vernünftigen Wesen, die insgesammt allgemeine Gesetze für ihre Erhaltung verlangen, deren jedes aber ingeheim sich davon auszunehmen geneigt ist, so zu ordnen und ihre Verfassung einzurichten, daß, obgleich sie in ihren Privatgesinnungen einander entgegen streben, diese einander doch so aufhalten, daß in ihrem öffentlichen Verhalten der Erfolg eben derselbe ist, als ob sie keine solche böse Gesinnungen hätten.‘“11
Aber das einzelne Mitglied des Volks von Teufeln ist nicht dazu disponiert, „das Böse als Böses zur Triebfeder in seine Maxime aufzunehmen“12, sondern es ist ein kluger Teufel, ein rationaler Nutzenmaximierer, d. h. eine solche Ordnung besteht aus „eine[r] Ansammlung rationaler Egoisten“.13 Für Kant bedarf die Errichtung einer freiheitlichen Ordnung keiner erhabenen Gesinnung, keiner übertriebenen anthropologischen Einschätzung der menschlichen Natur, solange der Staat in der Lage ist, einen Zwang wirksam um- und durchzusetzen, durch den das Individuum stets der Rechtsordnung unterworfen ist und ihm die Möglichkeiten eines gesetzlich verbotenen Verhaltens verwehrt werden. Da Kant die Innerlichkeit der Freiheit zu einem noch nie dagewesenen Grad an Radikalität steigert, ist die Gesinnung seiner Ansicht nach eine Form der Selbstbezüglichkeit. In der moralischen Sphäre zählt nur die Gesinnung, und nur Handlungen, die aus Achtung vor dem moralischen Gesetz entstehen, sind wirklich moralisch gut, so dass es in der moralischen Sphäre niemals ein Element der Heteronomie geben kann. Die moralische Gesinnung ist auch die absolute Subjektivität des Menschen; das Allerhöchste der moralischen Gesinnung kommt darin zum Ausdruck, „daß das Bestehende nichts taugt“14 und jedes rechtliche oder politische System neu konstituiert werden muss. Auf dem Gebiet der juristischen Gesetzgebung gibt es jedoch eine völlig andere Gesinnung als bei der moralischen Gesetzgebung. Im Bereich der juristischen Gesetzgebung sind die Mitbürger dem Willen eines anderen unterworfen, oder besser gesagt, in einem solchen Bereich sind wir nicht Agierende, sondern Reagierende unserer Handlungen,15 und in einem solchen Bereich kann man von uns überhaupt nicht erwarten, dass wir uns auf absolute Autonomie verlassen, um die uns vom juristischen Gesetz auferlegten Pflichten zu erfüllen, sondern nur, dass wir nach einer klugen Berechnung eine vom Gesetz gebilligte Verhaltensweise wählen. Auf diese Weise greifen wir nicht in die Freiheit ein, die andere in ihren gesetzlichen Rechten genießen: 11
Kant, AA VIII, S. 366. Kant, AA VI, S. 37. 13 Michael Pawlik, „Kants Volk von Teufeln und sein Staat“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), Themenschwerpunkt: Recht und Sittlichkeit bei Kant, S. 270. 14 Eduard Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, Tübingen 2005, S. 43. 15 Michael Pawlik, „Kants Volk von Teufeln und sein Staat“, in: Jahrbuch für Recht und Ethik 14 (2006), Themenschwerpunkt: Recht und Sittlichkeit bei Kant, S. 276. 12
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Einleitung „Also ist das allgemeine Rechtsgesetz: handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne, zwar ein Gesetz, welches mir eine Verbindlichkeit auferlegt, aber ganz und gar nicht erwartet, noch weniger fordert, daß ich ganz um dieser Verbindlichkeit willen meine Freiheit auf jene Bedingungen selbst einschränken solle, sondern die Vernunft sagt nur, daß sie in ihrer Idee darauf eingeschränkt sei und von andern auch thätlich eingeschränkt werden dürfe; und dieses sagt sie als ein Postulat, welches gar keines Beweises weiter fähig ist. – Wenn die Absicht nicht ist Tugend zu lehren, sondern nur, was recht sei, vorzutragen, so darf und soll man selbst nicht jenes Rechtsgesetz als Triebfeder der Handlung vorstellig machen.“16
Für Kant gehört also die Gesinnung der Freiheit nur dem homo noumenon, während der homo phaenomenon nur eine Gesinnung der klugen Naturhaftigkeit besitzt. Aber eine Gruppe von Utilitaristen würde keine freiheitliche Ordnung errichten, wie Hegel in seinem Naturrecht-Aufsatz argumentiert, sondern stattdessen einen Polizeistaat im Überwachungsstil, einen unfreien, despotischen Staat. In der Auseinandersetzung mit der Gesinnung Rousseaus geht Hegel einen anderen Weg als Kant. Hegel weist darauf hin, dass es im Gegensatz zu Rousseaus abstrakter, unfreier Tugend eine freie Gesinnung gibt, die Hegel einen „Patriotismus“ nennt. Diese Gesinnung ist nicht mehr „die Indifferenz der Tugenden“17 der antiken Helden, sondern eine konkrete. In einer deutlich auf Platon und die Antike bezogenen Passage der Rechtsphilosophie macht Hegel deutlich, dass der platonische Staat solche „unendliche[n] Rechte der Idee“18 nicht aushalten und auch nicht aufrechterhalten kann. Das bedeutet auch, dass die Sittlichkeit als Handlungssystem ihre Kraft aus der Gesinnung der Individuen schöpfen muss, und erst durch das Handeln des individuellen Selbstbewusstseins wird die Institution verwirklicht, dass der Staat „sich zum Wissen bringt und vollführt in der Sitte unmittelbarem Dasein an dem einzelnen Selbstbewußtsein, an dessen Wissen und Tätigkeit [er] seine vermittelte Wirklichkeit hat, so wie dieses durch seine Gesinnung, ihn als seine Substanz, Zweck und Produkt seiner Tätigkeit zu wissen, in ihm seine Freiheit hat“.19 Hegels Rechtsphilosophie sucht also eine institutionelle Garantie der freien Subjektivität zu geben, die die Subjektivität braucht, um sich einerseits in der Wirklichkeit des Staates zu fühlen und andererseits einer übermäßigen Abstraktion zu widerstehen. Hegel weist darauf hin, dass wir beide Extreme vermeiden sollten und dass das Individuum „als denkende Intelligenz jene Substanz [die Freiheit des Selbstbewusstseins] als ihr eigenes Wesen [weiß]“20, so dass seine Überzeugung und Gesinnung nicht mehr nur Akzidens sind, sondern sich auf die Ebene der Wahrheit, der subjektiven Substantialität verlagern. Als objektiver Geist geht die Substanz aus „den zu gemeinsamen Praktiken verschränkten Handlungs 16
Kant, AA VI, S. 231. GW 5, S. 329. 18 Rechtsphilosophie, § 185 Zusatz, S. 343. 19 Hom, S. 172. 20 Enzyklopädie III, § 514, S. 317. 17
Einleitung
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beiträgen vieler Einzelner“21 hervor, aber die Sittlichkeit ist zugleich „als etwas, das vielmehr schlechthin ist“22 „das Wirken dieser gemeinschaftlichen Vernunft“23 mit eigener Dynamik. Die Herausforderung, die Hegels Rechtsphilosophie im Umgang mit dem Verhältnis von Sittlichkeit und Gesinnung zu bewältigen hat, wurzelt im gesamten Kontext der politischen Philosophie. Nach der klassischen politischen Philosophie entspricht die Ordnung eines politischen Gemeinwesens der Ordnung der Seelen seiner Mitglieder, und es besteht eine so enge Verbindung zwischen dem Gemeinwesen eines Stadtstaates und den Seelen der Individuen, dass es in einem Stadtstaat, dessen Mitglieder moralisch verdorben sind, niemals Gerechtigkeit geben kann; in einem solchen politischen Gemeinwesen ist es das Anliegen des Gesetzgebers, jeden Bürger durch das Gesetz zu einem Leben in Gerechtigkeit zu führen. Letztlich sind in diesem Gemeinwesen, mit den Worten Hegels, der Bürger und das Volk vollkommen eins: „[E]s findet kein Protestiren hier statt; jeder weiß sich unmittelbar als allgemeines; d. h. er thut auf seine Besonderheit Verzicht, ohne sie als solche, als dieses Selbst, als das Wesen zu wissen.“24
In der Identität einer politischen Gemeinschaft, in der alle Mitglieder ein homogenes, unreflektiertes Leben führen, kann von einem sogenannten „Legitimationsdefizit“ keine Rede sein. Doch seit Hobbes ist die Forderung „Exeundum est e statu naturae“ zum unausweichlichen Weg der Rechtsphilosophie geworden; die Freiheit als Prinzip der Legitimität hat sich allmählich als Grundprinzip aller rechtsphilosophischen Konstruktionen etabliert, und die individuelle Subjektivität des Willens und des Denkens selbst ist seit der Umkehrung der natürlichen Teleologie damit abgeschlossen. Das heißt, ich habe nicht mehr eine „sittliche Gesinnung“, „unverrückt in dem fest zu beharren, was das Rechte ist, und sich alles Bewegens, Rüttelns und Zurückführens desselben zu enthalten“25, sondern ich versuche, es zu erfragen, zu erklären und zu argumentieren, so dass es für mich nicht mehr gilt, nur weil es existiert. Ich kann einer Ordnung zustimmen und mich mit ihr auf der Grundlage meiner Überzeugungen und Gesinnung vereinen, aber gleichzeitig kann ich mich auch von ihr trennen und von ihr Abstand halten. Von hier aus erschließt sich die Grundfrage der modernen Rechtsphilosophie: Wie ist das Verhältnis zwischen dem einzelnen Individuum und den Institutionen, mit denen es lebt? Für Hegel ist dies eine doppelte Herausforderung: Einerseits 21
Michael Pawlik, „Das Strafrecht der Gesellschaft. Sozialphilosophische und sozialtheoretische Grundlage von Günther Jakobs’ Strafrechtsdenken“, in: Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer Kommentar zum Werken von Günter Jakobs, hrsg. v. Urs Kindhäuser, Claus Kreß, Michael Pawlik u. Carl-Friedrich Stuckenberg, Tübingen 2017, S. 218. 22 Enzyklopädie III, § 514, S. 317. 23 Michael Pawlik, Normbestätigung und Identitätsbalance. Über die Legitimation staatlichen Strafens, Baden-Baden 2017, S. 70. 24 GW 8, S. 262. 25 Phänomenologie des Geistes, S. 322.
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Einleitung
neigt die moderne politische Philosophie dazu, die Bedeutung der Subjektivität zu überhöhen, indem sie die gemeinschaftliche Ordnung im Sinne einer Gesellschaftsvertragstheorie konstruiert. Aber da der Vertrag nur ein Ausdruck der Gemeinsamkeit des subjektiven Willens ist, „als eine aus der Willkür entstandene Übereinkunft und über eine zufällige Sache“26, belässt der Kontraktualismus die politische Ordnung auf der Ebene des Willkürlichen und Zufälligen. Der Staat wird auf „das System der Atomistik“27 und „den äußeren Staat“28 reduziert; andererseits gibt es angesichts der modernen Entzweiung oft eine reaktionäre Tendenz im modernen Denken, die sich nostalgisch nach der Einfachheit und Schlichtheit der Antike sehnt, die Rückkehr zu einem substantiellen Leben fordert und damit die Entwurzelung „des Recht des subjektiven Willens“29, die Aufhebung der Trennung zwischen Sollen und Sein verlangt. Diese beiden beschränkten Standpunkte stellen auch ein unlösbares Dilemma für das moderne Denken dar, und Hegel argumentiert, dass sowohl die exzessive Subjektivität der Moderne als auch der außerordentliche Enthusiasmus der klassischen Polis-Sittlichkeit aufgehoben werden müssen. Einerseits zeigt sich in der Phänomenologie des Geistes und der Rechtsphilosophie Hegels Kritik an der modernen Rechtsphilosophie der Subjektivität, der Unbestimmtheit des Standpunktes der Moralität, des Gewissens und der Subjektivität: Eine moralische Position, die sich völlig in die Innerlichkeit zurückzieht, führt entweder zu Schwäche und narzisstischer Handlungsenthaltung oder zu einem Abstieg in das Böse und die Heuchelei. Dies hat viele dazu veranlasst, zu argumentieren, dass Hegels Rechtsphilosophie unmoralisch sei. Rudolf Haym argumentiert, dass die Moralität in Hegels rechtsphilosophischem System nur eine „accidentelle Geltung“ habe. Dieses System fördere eine institutionelle Einheit, die ohne subjektive Gesinnung für sich selbst funktioniere: „[D]as Moralische legitimirt sich nur erst dadurch, daß es dem Staate tributär wird, nur durch das Verzichten auf seine unendliche Autonomie und auf die Endgültigkeit des Selbst entscheidens.“30
Ein solches Bild von Hegel ist jedoch eindeutig eine bewusste Fehlinterpretation. Hegel wollte nicht, wie Rudolf Haym suggeriert, den Standpunkt der Moralität und der subjektiven Freiheit einfach negieren; er stellt klar, dass die Sittlichkeit als Idee der Freiheit fungiert, „welche in der subjektiven Gesinnung und durch das Handeln des Willens ihre Wirklichkeit hat und fortdauernd als das Werk der Individuen hervorgebracht wird“31. Das bedeutet, dass die Sittlichkeit gerade der Gegenstand der Fürsorge jedes Einzelnen ist, dass sie durch die subjektive Gesinnung jedes 26
Enzyklopädie III, § 495, S. 308. Enzyklopädie III, § 523, S. 321. 28 Rechtsphilosophie, § 183, S. 340. 29 Rechtsphilosophie, § 33, S. 87. 30 Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857, S. 326. 31 Hom, S. 290. 27
Einleitung
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Einzelnen geformt, erhalten und entwickelt wird, dass sie immer unser lebendiges Werk, Ausdruck unserer Freiheit ist. Andererseits zeigt Hegel durch seine Kritik an Platon (und Rousseau), dass die wahrhafte Unendlichkeit als „eine interne Differenzierung des vernünftigen Willens“ zu verstehen ist, dass also die Freiheit des objektiven Geistes „das stufenweise Gewußt-und-Gewollt-Werden eines Ganzen in seinen eigenen ‚inneren‘ Differenzen“32 ist. Nach Hegels Auffassung fehlt dem Staat Platons ein Moment der inneren Differenz, d. h. es gibt bei Platon keinen Prozess der Differenzierung der Idee selbst: „Wir finden bei ihm keine philosophische Konstruktion, welche zuerst die Idee an und für sich, alsdann in ihr selbst die Notwendigkeit ihrer Realisation und diese selbst aufzeigt.“33
Differenz und Entzweiung der Idee sind genau das, worin ihre Macht liegt, und gerade weil die Idee fähig ist, sich zu differenzieren, die Entzweiung auszuhalten, manifestiert sich die Idee als Idee. Die Sittlichkeit konstituiert sich in Handlungssystemen als Institutionen, die für das Individuum selbst vorbestimmt und objektiv sind; sie entstehen aus den Sinnansprüchen und dem normativen Verständnis des Individuums, aber einmal geformt, nehmen sie eine Eigendynamik an. Sie haben immer eine rahmende Funktion für das Verhalten des Individuums und vermitteln, in Michael Pawliks Worten, dem einzelnen Subjekt „die Maßstäbe seiner Selbstund Weltdeutung, seiner Wertorientierungen und seiner Loyalitätsmuster“.34 So muss auch die sittliche Gesinnung als subjektive Substantialität mit der Objektivität von Institutionen in Einklang gebracht werden: „Die einseitigen Extreme, in welchen die Wirklichkeit der Freiheit gefaßt wird, sind die Gesinnung und der Mechanismus des Staates; die wahrhafte Wirklichkeit der Freiheit aber ist dessen Organismus.“35
Eduard Gans erläutert: „Der moralische Standpunkt reicht zu einem Gebäude der Subjektivität nicht hin. Die Sittlichkeit ist aber dieses Gebäude, sie ist das, worin die Moralität sich äußert, wenn sie eine objektive Gestalt gewinnt.“36
Das vorliegende Buch versucht, Gesinnung und Sittlichkeit in Hegels Rechtsphilosophie im Kontext von Hegels Theorie der öffentlichen Meinung zu untersuchen. Ich versuche zu zeigen, dass Hegel eine Rechtsphilosophie der freien Gesinnung artikuliert, die eine Abkehr von der klassischen Tugend und dem modernen utili 32 Ludwig Siep, „Endlichkeit und Unendlichkeit des objektiven Geistes“, in: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken, hrsg. v. Francesca Menegoni u. Luca Illetterati, Stuttgart 2004, S. 159. 33 Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 108–109. 34 Michael Pawlik, „Das Strafrecht der Gesellschaft. Sozialphilosophische und sozialtheoretische Grundlage von Günther Jakobs’ Strafrechtsdenken“, in: Strafrecht und Gesellschaft. Ein kritischer Kommentar zum Werken von Günter Jakobs, hrsg. v. Urs Kindhäuser, Claus Kreß, Michael Pawlik u. Carl-Friedrich Stuckenberg, Tübingen 2017, S. 217. 35 Hom, S. 326. 36 Eduard Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, Tübingen 2005, S. 137.
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Einleitung
taristischen Denken ist, wodurch Hegel uns eine Lehre der konkreten Sittlichkeit offenbart. Im Folgenden gebe ich einen Überblick über die Kapitelgliederung der vorliegenden Arbeit: Im ersten Kapitel erkläre ich die Beziehung zwischen Meinung und Begriff aus der Perspektive der metaphysischen Intention von Hegels Rechtsphilosophie. Ich versuche darauf hinzuweisen, dass Hegel den Relativismus und Nihilismus, der mit subjektiver Meinung einhergeht, ablehnt und dass die Grundlage seiner Philosophie die Sache selbst ist. Deshalb muss die bloße Meinung in die Philosophie der Wissenschaft überführt werden. Aber der Übergang von dieser Meinung zur Wissenschaft ist ein Prozess der Selbstwiderlegung der Meinung, das heißt, die Wissenschaft selbst ist das Ergebnis einer Arbeit der Meinung an sich selbst. Daher verwirft Hegel die Meinung nicht einfach von einem absolut undifferenzierten Standpunkt aus; der Geist zeigt sich vielmehr selbst als ein Prozess, der es wagen will, sich selbst zu negieren. Das bedeutet, dass in Hegels Philosophie Gewissen, subjektive Freiheit, Meinungsfreiheit als Teil des Prozesses der Selbstbestimmung der Freiheit nicht vollständig negiert werden; sie sind Teil der vernünftigen Freiheit des Lebens in der modernen Welt. In den nächsten drei Kapiteln (Kapitel 2 bis 4) werde ich versuchen, das Verhältnis zwischen den drei wichtigen Themen der Rechtsphilosophie und der öffentlichen Meinung darzustellen, um Hegels Theorie der öffentlichen Meinung zu rekonstruieren. Erst nach diesen drei Diskussionskapiteln lässt sich die Quelle der beiden Elemente in der öffentlichen Meinung – vernünftige Dinge und zufällige Meinungen – identifizieren. Die Wahl dieser drei Themen ist nicht so willkürlich wie es scheint. Hegels Freiheitstheorie beginnt mit einer rein unbestimmten Freiheit, die auch die eigentliche Quelle des Fanatismus bildet, so dass das zweite Kapitel zu zeigen versucht, wie Hegel durch eine Kritik des Fanatismus zu einer Unterscheidung und Bestimmung der Institution gelangt. Die Aufgabe des dritten Kapitels besteht darin, zu zeigen, dass diese Unterscheidung und Bestimmung – der Übergang von subjektiver Moralität und Gewissen zur Sittlichkeit – selbst eine freie Selbstbestimmung ist. Sittlichkeit ist also keine äußere Einschränkung der Subjektivität; Sittlichkeit als Sache selbst ist vielmehr objektiv gewordene Subjektivität oder die Objektivität-Subjektivität. In der Diskussion über die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft im vierten Kapitel soll ferner im Rahmen der Struktur von Hegels Rechtsphilosophie erläutert werden, wie die bürgerliche Gesellschaft als „Meinungssystem“ produziert wird und wie die Meinung durch Bildung zur sittlichen Gesinnung wird. In diesen drei Diskussionskapiteln ist es wichtig, die Kanalisierung der Gesinnung von abstrakter, formaler Gesinnung zu institutioneller, sittlicher Gesinnung zu betrachten, und so lässt sich durch diese Diskussion auch die Schwankung zwischen diesen beiden Formen von Gesinnung und ihr Verhältnis zu Gewissheit und Wahrheit in der modernen Welt demonstrieren. Im fünften Kapitel werde ich die Ausarbeitung der öffentlichen Meinung in Hegels Rechtsphilosophie erläutern. Zunächst möchte ich erklären, warum die öf-
Einleitung
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fentliche Meinung ernst genommen und verachtet werden sollte. Zweitens möchte ich mit Blick auf Hegels Diskussion der Demokratie darauf hinweisen, dass seine Demokratiekritik nicht auf die Abschaffung der öffentlichen Meinung hinausläuft, sondern dass Hegel durch seine Kritik an der antiken Demokratie und der modernen liberalen Demokratie eine freie öffentliche Meinung verteidigt hat; am Ende werde ich darauf hinweisen, in welchem Sinne die moderne öffentliche Meinung eine Dimension der sozialen Gerechtigkeit ist.
Kapitel 1
Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs Dass man das Denken oder den Begriff der öffentlichen Meinung bei einem Philosophen wie Hegel untersucht, bedarf als solches einer Begründung. In einer Notiz aus der Berliner Zeit schrieb Hegel: „[D]eröffentlichen Meinung [ist] die öffentliche Vernunft (la raison publicique) entgegensetzt.“1 Die Unterscheidung zwischen Meinung und Wissenschaft, Seichtigkeit und Wahrheit ist eine primäre Bestimmung von Hegels Philosophie. Daher wäre zunächst zu bestimmen, wie Hegel Begriff und Phänomen der ‚Meinung‘ in den Blick nimmt und was sie in seiner Rechtsphilosophie bedeutet. Wir müssen klären, inwiefern die Meinung in der Hegelschen Philosophie eine katalytische Rolle spielt, wenn es darum geht, die Sache selbst zu erreichen, und wie das „Reich der Meinung“ in der modernen Welt in Hegels Philosophie der Freiheit sowohl negiert als auch bewahrt oder, anders gesagt, aufgehoben wird.
A. Meinung und Begriff: Die metaphysische Intention von Hegels Rechtsphilosophie Wie Rolf-Peter Horstmann betont, muss die Interpretation von Hegels Philosophie auf den philosophischen Charakteristika basieren, die sich aus jenen begrifflichen und logischen Werkzeugen ergeben, die er bei der Interpretation sozialer und politischer Phänomene einsetzt. Diese Begriffe und logischen Werkzeuge bilden auch die Grundlage der Legitimität von Hegels Rechtsphilosophie.2 Um Hegels Rechtsphilosophie wirklich zu verstehen, müssen wir seine metaphysischen Absichten erklären, sonst wird Hegels Rechtsphilosophie zu einer gängigen politischen Theorie neben anderen. Für einen Philosophen wie Hegel scheint es das einzige Ziel der Philosophie zu sein, das Absolute, die ganze Bedeutung der Welt zu verfolgen oder, wie Frederick Beiser es ausdrückt: „[O]ne basic, straightforward and indisputable fact about Hegel’s philosophy“ ist, dass „its aim is to know the absolute, the infinite or the unconditioned.“3 Für Hegel ist das Absolute ein philosophisches Ziel, aber das Ziel 1
Berliner Schriften, S. 565. Rolf-Peter Horstmann, „What is Hegel’s legacy and what should we do with it“, in: European Journal of Philosophy 7/2 (1999), S. 283. 3 F. C. Beiser, „Hegel, A Non-Metaphysician? A Polemic Review of H. T. Engelhardt and Terry Pinkard, eds. Hegel Reconsidered“, in: Bulletin of the Hegel Society of Great Britain 32 (Autumn / Winter 1995), S. 3. 2
A. Meinung und Begriff
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wird durch immanente Kritik der Meinung erreicht. In diesem Sinne können wir uns Phänomenologie des Geistes als Ablehnung der Meinung oder als die Arbeit der Selbstwiderlegung der Meinung vorstellen, um den Bedürfnissen der Philosophie gerecht zu werden. In der Phänomenologie zerlegt Hegel ständig jede Takefor-granted-Position des Bewusstseins durch immanente Kritik und beweist, dass Bewusstsein und Meinung ihre Selbstkonzepte nicht verwirklichen können: Das Ansich des Gegenstands ist nichts anderes als eine Art Fürsich des Bewusstseins. Daher muss das Bewusstsein das etablierte Maß aufgeben und muss sich entsprechend der Erfahrung, die das Bewusstsein gewonnen hat, eine neue Konzeption und ein neues Maß des Gegenstands aneignen. Dieser Prozess kann als ein Prozess um Gewissheit und Wahrheit bezeichnet werden. Das Ziel der Phänomenologie ist es, von der Gewissheit zur Wahrheit aufzusteigen, so dass die Phänomenologie auch als Transformationsprozess des natürlichen Bewusstseins und der Meinung selbst betrachtet werden kann, „Wahre Gedanken und wissenschaftliche Einsicht ist nur in der Arbeit des Begriffs zu gewinnen.“4 Daher kann man sagen, dass Phänomenologie ein Prozess der Bildung von Meinungen ist. In diesem Prozess gibt die Meinung ihre eigene unmittelbare Gewissheit auf und öffnet sich selbst den Weg der Wahrheit. Hegel spricht vom „Standpunkt des Bewußtseins, von gegenständlichen Dingen im Gegensatze gegen sich selbst und von sich selbst im Gegensatze gegen sie zu wissen“5, d. h. der Standpunkt des Bewusstseins ist immer unmittelbar, beruht immer auf dem vorhandenen Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt. Und die ganze Phänomenologie ist ein fortgesetzter Selbstverleugnungsprozess des Bewusstseins: Jede Gewissheit des Bewusstseins oder jede Form der Unmittelbarkeit wird in Verzweiflung verfallen und zerfallen, und durch diesen Prozess wird das Wesentliche des Begriffs offenbart. Der Zeitprozess des Bewusstseins wird in eine rein logische Abfolge des Denkens umgewandelt; so ist für den Geist selbst „dieser Weg zur Wissenschaft selbst schon Wissenschaft“6, die Phänomene des Geistes, das erscheinende Wissen, sind der Prozess des Geistes selbst. Die Phänomenologie ist nicht eine äußerliche Systematisierung der Erfahrung des Bewusstseins, sondern die dialektische Bewegung der Phänomenologie ist der Prozess der Selbsterzeugung des Geistes. Die dialektische Bewegung der Phänomenologie ist der Prozess, in dem das Bewusstsein ständig tief in sich selbst hineingeht, seine eigenen Grenzen aufzeigt und schließlich in einen Widerspruch gerät und sich auflöst – also die Umkehrung des Bewusstseins als des Prozesses, in dem wir nur „das reine Zusehen“7 tun müssen. Im Stadium des Bewusstseins stehen Bewusstsein und Gegenstand einander äußerlich gegenüber, und der Prozess des Zusammenbruchs dieser Äußerlichkeit ist auch der Selbsterzeugungsprozess des Selbstbewusstseins. Das Selbstbewusstsein überträgt die Äußerlichkeit dieser Opposition auf sich selbst, aber Selbstbewusst 4
Phänomenologie des Geistes, S. 65. Phänomenologie des Geistes, S. 30. 6 Phänomenologie des Geistes, S. 80. 7 Phänomenologie des Geistes. S. 77. 5
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Kap. 1: Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs
sein bedeutet nur, die Realität in sich selbst zurückzuziehen, sie abstrakt zu leugnen und die wahre Einheit der Innerlichkeit und Äußerlichkeit nicht zu erkennen. Nur die Vernunft versucht, die Vernunft in der Äußerlichkeit zu erkennen. Aber diese Art von Vernunft ist immer noch nur subjektive Vernunft. Die Vernunft verfolgt immer noch die unmittelbare Einheit mit der Welt im Rahmen der subjektiven Vernunft. Erst im Geist kann die subjektive Vernunft zur objektiven Vernunft aufsteigen; die Vernünftigkeit der Welt rührt nicht daher, dass sie der subjektiven Vernunft entspricht, sondern daher, dass die Vernunft in der Welt, die Welt selbst im Einklang mit dem Begriff ist. Am Ende, im Stadium des „Geistes“, gibt das urteilende und handelnde Bewusstsein die Festigkeit seines Gewissens auf, vergibt die Heuchelei und das Böse und versöhnt sich mit dem Geist. Das Bewusstsein schafft dann nicht mehr Gewissheit an sich, sondern hat „in seiner vollkommenen Entäußerung und Gegenteile die Gewißheit seiner selbst“8, d. h. in der Religion wird Gott nicht mehr als Jenseits gesehen, sondern manifestiert sich als Inkarnation in der heiligen Gemeinschaft. In der Religion werden Gott, Logos und unendliche Vernunft immer noch als Gegenstand und Anderes des Bewusstseins betrachtet. Gottes Inkarnation ist Gottes fremdes Anderssein für den Menschen. Gott ist „die Handlung einer fremden Genugtuung“9, die das Bewusstsein „nicht ebenso erfaßt und begreift oder nicht in seinem Tun als solchem findet“.10 So ist das religiöse Bewusstsein in ein absolutes Wissen übergegangen. Nach Hegels Ansicht zeigt sich in der Religion schon der Entschluss, die meinige und vorgefasste Meinung aufzugeben und über das Sein frei zu denken. Im absoluten Wissen nimmt das Bewusstsein nicht mehr den Standpunkt des Bewusstseins ein, das Sein wird nicht mehr als das Gegenteil von Bewusstsein betrachtet. Die absolute Vernunft, die allgemeine Vernunft oder der allgemeine Begriff sind dem Sein und Denken innerlich. Sein zeigt die logische Form oder Struktur der Begrifflichkeit des Denkens, und das Denken versteht das Sein durch eben dieselbe kategorische Struktur. Das Ziel der Phänomenologie ist es daher, Bewusstsein auf den Begriff zu bringen; „er ist die bewußte Einsicht in die Unwahrheit des erscheinenden Wissens, dem dasjenige das Reellste ist, was in Wahrheit vielmehr nur der nicht realisierte Begriff ist“.11 Daher ist die Phänomenologie auch ein Prozess der Überwindung der Meinung, der Prozess des ständigen Zerfalls der dogmatischen Voraussetzungen des Bewusstseins, d. h. reines Denken ohne Voraussetzung: „Das Bewußtsein, als der erscheinende Geist, welcher sich auf seinem Wege von seiner Unmittelbarkeit und äußerlichen Konkretion befreit, wird zum reinen Wissen, das sich jene reinen Wesenheiten selbst, wie sie an und für sich sind, zum Gegenstand gibt. Sie sind die reinen Gedanken, der sein Wesen denkende Geist. Ihre Selbstbewegung ist ihr geistiges Leben und ist das, wodurch sich die Wissenschaft konstituiert und dessen Darstellung sie ist.“12 8
Phänomenologie des Geistes, S. 494. Phänomenologie des Geistes, S. 573. 10 Phänomenologie des Geistes, S. 573. 11 Phänomenologie des Geistes, S. 72. 12 Wissenschaft der Logik I, S. 17. 9
A. Meinung und Begriff
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Das Denken kann also nach Hegels Auffassung nicht auf subjektives Denken beschränkt werden. Jeder Versuch, das Denken dem Sein gegenüberzustellen, ist dogmatisch. Denn diese gegensätzliche Position ist die Position des Bewusstseins, die selbst eine Position ist, die ihre Voraussetzungen nicht geprüft hat. Dies führt dazu, dass das formelle Denken selbst nicht über sich hinaus in den Gegenstand gehen kann, weil der gegebene Gegenstand immer vollständig von ihm getrennt ist; das subjektive Denken selbst kann also die Gegebenheit seines Inhalts und seiner Methode und die Grenze zwischen ihm und dem Gegenstand nicht aufheben. Wenn das Verhältnis von Denken und Sein als ein äußerliches gedacht wird – egal ob Denken als Werkzeug oder Medium angesehen wird –, sind wir nicht in der Lage, die Sache selbst zu erkennen, sondern bleiben auf dem Gebiet der Meinung. Herbert Schnädelbach zufolge ist Hegels „Grundintuition“ dabei die folgende: „Dadurch, dass die subjektive Vernunft um ihre Endlichkeit weiß, hat sie ‚an sich‘ oder in Wahrheit schon die Perspektive des Absoluten eingenommen, denn nur, weil sie schon über den Begriff des Unendlichen verfügt, kann sie sich selbst als endlich verstehen.“13 Die Philosophie selbst erfordert eine Selbstbestimmung; ihren Gegenstand und ihre Methode muss sie selbst bestimmen, denn jede begrenzte und begrenzende Voraussetzung des Inhalts und der Methode des Denkens muss zunächst als Meinung eliminiert werden: „In other words, the method of dialectic cannot be anticipated or predicted; it can only be discovered as we follow the movement from the category of being to that of becoming, determinate being, and so on.“14 Die Philosophie ist eine gründliche Freiheit, sie ist die an und für sich freie Wissenschaft:15 Philosophie ist verantwortlich für die Definition dessen, was Philosophie ist. Sie muss von allen Dogmen getrennt werden. Durch negative Freiheit muss sie sich zunächst von allen ungeprüften Meinungen, von einer bestimmten Methode und jedem Inhalt abtrennen. Auf der anderen Seite muss die Philosophie die positive Freiheit haben, alles selbst zu bestimmen, was sie durch ihre eigene Arbeit erklären will.16 Die Wissenschaft selbst ist der Prozess des voraussetzungsfreien Denkens, und alles, was wir tun müssen, ist geduldig in den Prozess einzutreten und beginnend mit dem Sein der Unmittelbarkeit und Unbestimmtheit dem ganzen Prozess zuzusehen. Zu Beginn der Wissenschaft ist jede Voraussetzung über das Ganze, jeder Maßstab der Wahrheit oder sogar die dialektische Methode selbst dogmatisch; die Geduld des Begriffs besteht darin, sich vollständig in den Fortschritt der Sache selbst zu vertiefen, sich vom Begriff leiten zu lassen. Denn da „der objektive Begriff der Dinge die Sache selbst ausmacht, so können wir aus jenem Tun nicht heraus sein, nicht über demselben stehen, und ebensowenig können wir über die Natur der Dinge hinaus“.17 Das heißt, die Geduld des Begriffs ist nichts anderes als der Prozess der Selbstbestimmung der allgemeinen Vernunft, 13
Herbert Schnädelbach, Vernunft, Stuttgart 2007, S. 104. Stephen Houlgate, the Opening of Hegel’s Logic, West Lafayette 2006, S. 35. 15 Vgl. Wissenschaft der Logik I, S. 23. 16 Vgl. R. D. Winfield, Hegel’s Phenomenology of Spirit: a critical Rethinking in Seventeen Lectures, Lanham 2013, S. 20. 17 Wissenschaft der Logik I, S. 25. 14
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Kap. 1: Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs
die dem Denken und Sein immanent ist; sie ist der Prozess, sich zu etablieren und sich selbst zu erfassen. Die Ungeduld der Meinung versuchte, den Prozess der Vermittlung zu überspringen, überschritt von Anfang an die Beschränkungen und Vermittlungen und zielte direkt auf das Absolute. Es fehlte völlig ein Prozess des „Zu-sich-selbst-Kommens“ und man versuchte, ohne Vermittlungen zum Absoluten zu gelangen. Aber ein solches Absolutes muss abstrakt und leer sein: „Die Ungeduld, die über das Bestimmte, es heiße Anfang, Objekt, Endliches, oder in welcher Form es sonst genommen werde, nur hinaus und unmittelbar sich im Absoluten befinden will, hat als Erkenntnis nichts vor sich als das leere Negative, das abstrakte Unendliche, – oder ein gemeintes Absolutes, das ein gemeintes ist, weil es nicht gesetzt, nicht erfaßt; erfassen läßt es sich nur durch die Vermittlung des Erkennens, von der das Allgemeine und Unmittelbare ein Moment, die Wahrheit selbst aber nur im ausgebreiteten Verlauf und im Ende ist.“18
Hegel wies darauf hin, dass das, was ein nur Gemeintes oder das Unaussprechliche ist, „in Wahrheit nur etwas Trübes, Gärendes ist, das erst, wenn es zu Worte zu kommen vermag, Klarheit gewinnt.“19 Es ist also nicht nur nicht vortrefflich, sondern auch eine aus Eitelkeit gehegte Meinung und absolut unbegründet. Ungeduld verleitet oft zu dem Versuch einer Übersicht über die Wissenschaft als Ganzes, aber Wissenschaft beginnt nicht mit einem Kreis, sie verwandelt sich in einen Kreis, und alles, was wir zuerst haben, ist die Unmittelbarkeit des reinen Seins. In dieser Hinsicht ist die Geduld der Wissenschaft der Prozess der Selbstbildung innerhalb der Wissenschaft selbst. Dabei muss jede unmittelbare Einsicht, jede ungeprüfte Voraussetzung diesem gründlichen Selbstzweifel ausgesetzt werden, um sie zu suspendieren und sich von Voraussetzungen, Vorurteilen und Take-forgranted-Meinungen zu befreien. Die Wissenschaft wird auf diese Weise, wie Hegel sagt, ihre eigene Notwendigkeit erlangen, „denn der wahrhafte Übergang vom Allgemeinen zum Besonderen und zu dem an und für sich bestimmten Ganzen […] ist allein die Vermittlung der Wissenschaft selbst.“20 Rüdiger Bubner drückt es folgendermaßen aus: „Die Bewegung des deutschen Idealismus gelangt zu ihrer wahren Größe erst, wenn sich die Einheit des Ganzen begründen läßt.“21 Hegels Plan ist nicht, das Subjekt im Sinne Kants zu erweitern, sondern die subjektive Vernunft zu vertiefen, die Vernunft in der Welt selbst, d. h. die Begrifflichkeit und Vollkommenheit der Welt, die als die tiefere Vernunft die Subjektivität einschließen soll, zu entdecken: „Die Vernünftigkeit, welche die Sachen an ihnen selber zu erkennen geben, bezeugt sich in deren Relevanz für die Allheit gleicher Subjekte. Die Forderung, daß die Sache in sich vernünftig oder daß ihre Vernunft an ihr selbst ablesbar sein muß, wehrt die Gefahr einer 18
Wissenschaft der Logik II, S. 571. Enzyklopädie III, § 462 Zusatz, S. 280. 20 Wissenschaft der Logik II, S. 571. 21 Rüdiger Bubner, Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung Deutscher Idealismus, Stuttgart 2004, S. 13. 19
A. Meinung und Begriff
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Subjektivierung ab, welcher die Wahrheit auch dann anheimfiele, wenn man sie in der bloßen Erweiterung der Subjektivität zur Intersubjektivität suchen wollte […].“22
Durch die Wiederherstellung der Vollkommenheit der Welt kann die Trennung zwischen Subjekt und Objekt überwunden werden. Nach Hegels Ansicht hat die moderne Subjektphilosophie letztlich nur die Vernunft des Subjekts bewiesen, man muss aber darüber nachdenken, ob die Welt selbst vernünftig ist: „Dagegen ist die wahre Objektivität des Denkens diese, daß die Gedanken nicht bloß unsere Gedanken, sondern zugleich das Ansich der Dinge und des Gegenständlichen überhaupt sind.“23 Denken und Begriff konstituieren den objektiven und wahren Inhalt des Seins, stellen die Vollkommenheit des Seins dar, sind die eigene Bestimmung des Seins selbst; Denken und Begriff sind kein bloß meiniges Verständnis des Seins des Subjekts, sondern die Selbsterzeugung und Selbstvollendung des Seins mithilfe des Denkens und Begriffs. Das Denken und der Begriff sind die ideelle Seite des Seins. Das heißt, unsere subjektive Vernunft ist vernünftig, weil die Welt selbst oder das Sein vernünftig ist, und subjektive Vernunft beruht auf dem Begriff, d. h. der Vernünftigkeit und Verständigkeit der Welt: „[E]s sei Vernunft in der Welt, worunter wir verstehen, die Vernunft sei die Seele der Welt, wohne ihr inne, sei ihr Immanentes, ihre eigenste, innerste Natur, ihr Allgemeines. “24 Die Beziehung zwischen Denken und Sein ist also nicht mehr die Beziehung zwischen äußerlicher Subjektivität und Objektivität, sondern die Beziehung zwischen Begriff und Begriff selbst; der Begriff ist die Sache selbst: „Indem ich denke, gebe ich meine subjektive Besonderheit auf, vertiefe ich mich in die Sache, lasse das Denken für sich gewähren, und ich denke schlecht, indem ich von dem Meinigen etwas hinzutue.“25 Im reinen Denken als objektivem Gedanken wird das Denken nicht mehr einen äußeren Gegenstand, die Methode und Grenze des Denkens voraussetzen, nicht mehr sich nach äußeren Inhalten sehnen, um die leere Form zu füllen, sondern sich nur mit sich selbst konfrontieren. Der einzige Gegenstand, mit dem sich das Denken konfrontieren wird, ist das Denken selbst; das Denken legt Grund für sich selbst, das Denken denkt sich selbst, bestimmt sich selbst, vermittelt mit sich selbst, es braucht an keine Äußerlichkeit zu appellieren. Die Wissenschaft der Logik ist also dadurch eine an und für sich freie Wissenschaft geworden, und diese Freiheit der Wissenschaft hat uns fordert von uns, alle Gefühle, Empfindungen, eitlen Überzeugung und die Ungeduld des Meinens aufzugeben, denn nur auf diese Weise können wir über die Meinung hinaus in das Reich des Denkens und der Vernunft eintreten: „[S]o wird das Philosophieren wenigstens von Hochmut freizusprechen sein, indem das Denken dem Inhalte nach insofern nur wahrhaft ist, als es in die Sache vertieft ist und der Form nach nicht ein besonderes Sein oder Tun des Subjekts, sondern eben dies ist, daß das
22 Michael Theunissen, Selbstverwirklichung und Allgemeinheit, Berlin und New York 1982, S. 27. 23 Enzyklopädie I, § 41 Zu, S. 116. 24 Enzyklopädie I, § 24 Zu, S. 82. 25 Enzyklopädie I, § 24 Zu, S. 84.
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Kap. 1: Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs Bewußtsein sich als abstraktes Ich, als von aller Partikularität sonstiger Eigenschaften, Zustände usf. befreites verhält und nur das Allgemeine tut, in welchem es mit allen Individuen identisch ist. – Wenn Aristoteles dazu auffordert, sich eines solchen Verhaltens würdig zu halten, so besteht die Würdigkeit, die sich das Bewußtsein gibt, eben darin, das besondere Meinen und Dafürhalten fahrenzulassen und die Sache in sich walten zu lassen.“26
B. Das moderne Leben und der moderne Begriff der Meinung Im Kontext dieser metaphysischen Absicht steht auch Hegels Unterscheidung von „Ungeduld der Meinung“ und „Geduld des Begriffs“. In der begleitenden Anmerkung zu § 62 der Rechtsphilosophie spricht Hegel über die lange Zeit, die es dauert, bis der Geist sich zur Selbsterkenntnis entwickelt und sich dabei der „Ungeduld der Meinung“ widersetzt. In der Phänomenologie des Geistes beschreibt Hegel die Ungeduld der Zeit: Eine neue Zeit ist gekommen, aber „die erste Erscheinung der neuen Welt [ist] nur erst das in seine Einfachheit verhüllte Ganze“. „ Es [das Bewusstsein] vermißt an der neu erscheinenden Gestalt die Ausarbeitung und Besonderung des Inhalts.“27 Diese Zeit des Unbehagens lässt die Menschen entweder zur Stabilität der Vergangenheit zurückkehren, oder sie geben die Verständlichkeit der Wissenschaft auf, um eine Art esoterisches Wissen zu verfolgen, denn die Menschen sind bemüht, das Absolute unmittelbar zu erfassen. Hegel betont die Geduld des Begriffs, „de[n] Ernst, de[n] Schmerz, die Geduld und Arbeit des Negativen“.28 Der Weg des Bewusstseins zur Wissenschaft kann nicht „wie aus der Pistole mit dem absoluten Wissen unmittelbar an[fangen]“29, sondern muss den Umweg der Vermittlung und den Schmerz der Entzweiung erfahren; nur auf diese Weise kann das Bewusstsein das Jenseits der Wissenschaft überwinden und in den reinen Begriff der Wissenschaft selbst eintreten. In diesem Sinne ist die Natur der Wissenschaft Geduld: „Das Ziel ist die Einsicht des Geistes in das, was das Wissen ist. Die Geduld verlangt das Unmögliche, nämlich die Erreichung des Ziels ohne die Mittel. Einesteils ist die Länge dieses Wegs zu ertragen, denn jedes Moment ist notwendig; – andernteils ist bei jedem sich zu verweilen, denn jedes ist selbst eine individuelle ganze Gestalt und wird nur absolut betrachtet, insofern seine Bestimmtheit als Ganzes oder Konkretes oder das Ganze in der Eigentümlichkeit dieser Bestimmung betrachtet wird.– Weil die Substanz des Individuums, weil sogar der Weltgeist die Geduld gehabt, diese Formen in der langen Ausdehnung der Zeit zu durchgehen und die ungeheure Arbeit der Weltgeschichte, in welcher er in jeder den ganzen Gehalt seiner, dessen sie fähig ist, herausgestaltete, zu übernehmen, und weil er durch keine geringere das Bewußtsein über sich erreichen konnte, so kann zwar der Sache nach das Individuum nicht mit weniger seine Substanz begreifen […].“30 26
Enzyklopädie I, § 23 Anm., S. 80. Phänomenologie des Geistes, S. 19. 28 Phänomenologie des Geistes, S. 24. 29 Phänomenologie des Geistes, S. 31. 30 Phänomenologie des Geistes, S. 33–34. 27
B. Das moderne Leben und der moderne Begriff der Meinung
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Sowohl die Ungeduld der Meinung als auch die Geduld des Begriffs sind also immer in Hegels Verständnis der bestimmten geschichtlichen Tatsache der modernen Welt, der öffentlichen Meinung, verwurzelt. Im ersten Teil des Faust verflucht Faust die vormoderne Langsamkeit: „Fluch sei der Hoffnung! Fluch dem Glauben! Und Fluch vor allen der Geduld!“31 Geduld ist der größte Feind des modernen Menschen, wie der Teufel sagt; moderne Menschen sind ungeduldig auf der Jagd nach der Befriedigung ihrer Eigeninteressen: „Ihm hat das Schicksal einen Geist gegeben / Der ungebändigt immer vorwärtsdringt / Und dessen übereiltes Streben / Der Erde Freuden überspringt.“ Das hervorstechendste Merkmal der Moderne ist nach Goethes Ansicht das Streben nach Geschwindigkeit, das an sich bösartig und barbarisch ist und die Destruktivität des Teufels verkörpert, den Goethe „Velozifer“ nennt. Die modernen Menschen leiden an Eilkrankheit, wie Goethe es in seinen Maximen und Reflexionen ausdrückte: „Übereilung und Dünkel jedoch sind gefährliche Dämonen, die den Fähigsten unzulänglich machen, alle Wirkung zum Stocken bringen, freie Fortschritte lähmen. Dies gilt von weltlichen Dingen, besonders auch von Wissenschaften.“32 In einem Brief an den preußischen Beamten Georg Nicolovius Ende 1825 beklagte Goethe, dass die Mittelmäßigkeit der modernen Welt nur eine universelle Massenkultur schaffen könne, die keine ernsthafte Elitekultur sei. Die moderne Beschleunigungskultur hat zu einem Mangel an ernsthafter Verantwortung in der modernen Welt geführt, und die öffentliche Meinung in der modernen Welt ist nichts anderes als eine Akkumulation der Meinungen von Dilettanten: „Für das größte Unheil unserer Zeit, die nichts reif werden läßt, muß ich halten, daß man im nächsten Augenblick den vorhergehenden verspeist, den Tag im Tage vertut, und so immer aus der Hand in den Mund lebt, ohne irgend etwas vor sich zu bringen. Haben wir doch schon Blätter für sämtliche Tageszeiten, ein guter Kopf könnte wohl noch Eins und das Andere interpolieren. Dadurch wird alles, was ein jeder tut, treibt, dichtet, ja was er vorhat, ins Öffentliche geschleppt. Niemand darf sich freuen oder leiden, als zum Zeitvertreib der übrigen; und so springt’s von Haus zu Haus, von Stadt zu Stadt, von Reich zu Reich und zuletzt von Weltteil zu Weltteil, alles veloziferisch.“33
Manfred Osten zufolge ist die Moderne ein Zeitalter der Erinnerungsplünderung, ohne die Ewigkeit des Wertes. Die industrielle Produktion zwingt die Menschen zu endloser Arbeit und Hektik, während sie die Menschen dazu treibt, den flüchtigen, aber unendlichen Bedürfnissen nachzujagen, nach schnellerer Bewegung von Geld, Handel und Werten zu suchen. Die politische Revolution ist eine Illusion des abstrakten Gleichheitsprinzips: Die Menschen versuchen, den Status quo schnell zu ändern, gewalttätige Subversion und totale Zerstörung herbeizuführen. Die Welt selbst ist zu einem starren Objekt geworden, das durch das Subjekt sichtbar gemacht und kontrolliert werden muss; dieses Objekt muss man kennen und mit immer schnellerer, effizienterer Technologie transformieren, und 31
Wolfgang von Goethe, Goethes Werke, Bd., München 1976, S. Wolfgang von Goethe, Goethes Werke, Bd. 12, München 1963, S. 424. 33 Wolfgang von Goethe, Goethes Werke, Bd. 4, München 1976, S. 159. 32
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Kap. 1: Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs
das Streben nach schnellerer Technologie ist seinerseits endlos. Im sozialen Aufbau müssen, weil die Vernunft zur instrumentellen Vernunft herabgesetzt worden ist, alle gesellschaftlichen Beziehungen einer schnellen Risikoeinschätzung und -berechnung unterzogen werden, und alle Traditionen werden durch die Prüfung der Rationalität, der instrumentellen Vernunft zerstört: Moderne Menschen leben in beschleunigten Zeiten, und „[a]lles Ständische und Stehende verdampft“. Deshalb schrieb Goethe: „Die gegenwärtige Welt ist nicht wert, daß wir etwas für sie tun; denn die bestehende kann in dem Augenblick abscheiden. Für die vergangene und künftige müssen wir arbeiten: für jene, daß wir ihr Verdienst anerkennen, für diese, daß wir ihren Wert zu erhöhen suchen.“34 Die Geschichte ist bei Hegel ein Prozess der Entwicklung der dialektischen Vernünftigkeit des Seins selbst, d. h. in der Geschichte erweitern, vertiefen und verfeinern die Menschen fortwährend ihr Bewusstsein über das Sein und sich selbst, und in diesem Prozess gestaltet der Mensch ständig sein Selbstverständnis und seine soziale Welt um. Ein solcher Prozess ist nach Hegels Auffassung nicht der menschlichen Manipulation unterworfen, aber die Richtung der Geschichte ist nicht wie das Schicksal völlig vorbestimmt, sondern im menschlichen Leben und Handeln manifestiert sich die Vernünftigkeit der Geschichte und des Seins. Stephen Houlgate erläutert: „For Hegel, therefore, history is the sphere in which human beings live and act in certain ways, but through their individual and communal actions unintentionally deepen humanity’s understanding of itself in a progressive, rational, dialectical manner.“35 Das Bewusstsein und das Selbstverständnis der Menschheit liegt einerseits in der Erkenntnis, dass die Menschen frei sind, andererseits darin, in der Perspektive der Freiheit die Welt zu verstehen, in der sich die Menschen befinden. Einerseits argumentiert Hegel, dass in der modernen Welt das von der Geschichte erreichte Selbstverständnis, die Gestaltung der Vorstellung, die sie darstellt – vernünftige Selbstbestimmung und reine Autonomie, die durch Kants und Fichtes Philosophie grundlegend offenbart wurde – „das höhere Prinzip des Geistes“36 ist; die Reformation, die Aufklärung, die Französische Revolution und die Geburt der bürgerlichen Gesellschaft sind die Errungenschaften der modernen Welt, die Hegel unter dem Titel der Subjektivität zusammenfasst. Sowohl in seiner ersten Rechtsphilosophie als auch im Naturrechtsaufsatz und in der Rechtsphilosophie lobt Hegel Kant und Fichtes Philosophie, weil sie das Prinzip der Subjektivität und den höheren Standpunkt der modernen Welt erreichen. Der Fortschritt der modernen Welt, das Prinzip der Subjektivität, ist jedoch andererseits nach Hegels Ansicht ein Problem an sich: „Das Prinzip der Unabhängigkeit der Vernunft, ihrer absoluten Selbstständigkeit in sich, ist von nun an als allgemeines Prinzip der Philosophie wie als eines der Vorurteile der Zeit anzusehen.“37 34
Wolfgang von Goethe, Goethes Werke, Bd. 12, 1963, S. 378. Stephen Houlgate, „Introduction: An Overview of Hegel’s Aesthetics“, in: Hegel and the Arts, hrsg. v. Stephen Houlgate, Evanston, Illinois: Northwestern University Press, 2007, S. xiv. 36 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 514. 37 Enzyklopädie I, § 60 Anm., S. 146. 35
B. Das moderne Leben und der moderne Begriff der Meinung
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Hegel nannte seine Zeit eine zerrissene in Differenzschrift, und die Aufgabe der Philosophie sei es, „gegen die Zerrüttung des Zeitalters den Menschen aus sich wiederherzustellen und die Totalität, welche die Zeit zerrissen hat, zu erhalten“.38 In der Rechtsphilosophie argumentiert Hegel, dass seine Zeit wie diejenige des Sokrates „eine hohle geist- und haltungslose Existenz“39 verfolge und an ihrer Unbestimmtheit leide. In der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Logik gibt Hegel selbst zu, dass er von den turbulenten Zeiten bedrängt werde und neidisch auf den Frieden sei, den Platon besaß: „So aber mußte der Verfasser, indem er es im Angesicht der Größe der Aufgabe betrachtet, sich mit dem begnügen, was es hat werden mögen, unter den Umständen einer äußerlichen Notwendigkeit, der unabwendbaren Zerstreuung durch die Größe und Vielseitigkeit der Zeitinteressen, sogar unter dem Zweifel, ob der laute Lärm des Tages und die betäubende Geschwätzigkeit der Einbildung, die auf denselben sich zu beschränken eitel ist, noch Raum für die Teilnahme an der leidenschaftslosen Stille der nur denkenden Erkenntnis offen lasse.“40
Wie Hegel in seinem Naturrechtsaufsatz hervorhebt, entsprechen der empirische Zustand und die wissenschaftlichen, ideellen Spiegelungen der Welt einander, und die Entfremdung der Welt, die verzweifelte Entzweiung und das Menschenbild in der Bildung der Zeit verstärken sich gegenseitig; letztlich ist die Philosophie der Reflexion nichts anderes als eine Reflexion der zerbrochenen Wirklichkeit. Die Welt der Umkehrung ist ebenfalls das Werk einer umgekehrten, „unkontrolliert arbeitende[n] Reflexion“41, und die Umkehrung der Reflexion und die Umkehrung der Welt bedingen einander. Wie in Hegels Differenzschrift angegeben, besteht eine intrinsische Beziehung zwischen dem Zustand der Philosophie, der von abstraktem Verstand beherrscht wird, und dem Zustand der Entzweiung. Der gegenwärtige Atheismus der sittlichen Welt ist kein isoliertes Phänomen in der Geschichte, sondern eine allgemeine Form, und wann immer der Standard der Gerechtigkeit gebrochen wird und die Welt ihre überlieferte und gegebene Stabilität verliert, wird die Objektivität von Wahrheit und Begriff zum Zweifeln einladen, werden Relativismus und ungezügelte Meinung auf die Kanzel der öffentlichen Meinung steigen. In Glauben und Wissen weist Hegel darauf hin, dass die absolute Position der modernen Philosophie darin besteht, Mensch und Menschheit seien nicht fähig, Gott zu erkennen. Nach Hegels Ansicht hat sich seit Descartes ein Gegensatz zwischen subjektiver Erkenntnis und objektiver Realität manifestiert, und dieser Gegensatz bedeutet, dass die Menschen von der Ordnung des Seins getrennt sind, dass das Denken als das innere Konzept des Menschen angesehen wird und die Welt als ein verordnetes, chaotisches Äußeres. Daher besteht der grundlegende Ausgangspunkt des Descartes und der ganzen Tradition der modernen Philosophie darin, 38
Jenaer Schriften, S. 121. Rechtsphilosophie, § 138 Zudatz, S. 260. 40 Wissenschaft der Logik I, S. 33–34. 41 Rüdiger Bubner, „Hegels politische Anthropologie“, in: ders., Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 74. 39
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Kap. 1: Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs
zu versuchen, die Ordnung und Normativität der Welt wiederherzustellen, indem man auf Subjektivität zurückgreift, sei es durch den psychologischen Mechanismus des Menschen oder durch die allgemeine Struktur der transzendentalen Form der Subjektivität. Da das Selbst oder das transzendentale Subjekt als Quelle der Ordnung und Normativität angesehen wird, fällt es nicht in Zeit und Endlichkeit, so dass es von allen äußeren empirischen Erscheinung getrennt werden muss. Es ist notwendig, eine formelle Selbstidentität aufrechtzuerhalten, nur dann hat das Subjekt Gewissheit und Ewigkeit. Sein wird als Objekt der Subjektivität betrachtet, die keine Art von göttlicher Vernunft in sich enthält, sondern eine vorübergehende, zufällige und ungeordnete materielle Sammlung ist, die vom Bewusstsein beherrscht werden soll. Entsprechendes gilt auf dem Gebiet der menschlichen Lebenspraxis: Weil die Vernunft in der Aufrechterhaltung der Selbstidentität des Subjekts liegt, haben die bestehende Welt und alle ihre Lebensformen keine gültige Grundlage für sich selbst, sondern werden als unvernünftige Schicksale beurteilt. Die absolute Spontaneität der Vernunft stellt das Wesen der Dinge dar, so dass die Vernünftigkeit aller Dinge auf den unendlichen Gipfel des Subjekts zurückgeführt werden muss. Dadurch werden alle rechtlichen, sittlichen und objektiven Geltungen außer Kraft gesetzt, das Absolute wird ins Jenseits verschoben, und das bedeutet die absolute Zerstörung und den Tod der Philosophie: „[…] das Ewige aber nur jenseits haben kann, so daß dieses für das Erkennen leer ist und dieser unendliche leere Raum des Wissens nur mit der Subjektivität des Sehnens und Ahnens erfüllt werden kann; und was sonst für den Tod der Philosophie galt, daß die Vernunft auf ihr Sein im Absoluten Verzicht tun sollte, sich schlechthin daraus ausschlösse und nur negativ dagegen verhielte, wurde nunmehr der höchste Punkt der Philosophie, und das Nichtsein der Aufklärung ist durch das Bewußtwerden über dasselbe zum System geworden.“42
Zugleich kann in der subjektiven Reflexionsphilosophie von Kant, Jakobi und Fichte Religion nur als eine positive Religion und nicht als „ideale“ Ansicht von Religion betrachtet werden, d. h. die Religion wird nicht mehr als der ganze Sinn und Zweck des Seins angesehen. Daher wird die ganze Bedeutung Gottes, der Wahrheit und der Welt auch als „ein absolutes Jenseits in der Vernunftlosigkeit des Glaubens“43 gedeutet, und das Absolute und die Ewigkeit haben sich in eine Sphäre jenseits der Vernunft verlagert. Die formelle Vernunft als Begriff und Unendlichkeit und der endliche und empirische Inhalt stehen einander gegenüber und gleiten schließlich unweigerlich in Richtung Hedonismus. Die Philosophie wurde so wieder zur Magd des Glaubens, die das Absolute und die Wahrheit aufgab, und nach Hegels Ansicht ist die Philosophie der subjektiven Vernunft nicht nur nicht in der Lage, ihr vernünftiges Engagement zu verwirklichen, sondern sie tendiert auch zur Meinung, zur Rechtfertigung und Legitimierung der Vulgarität des empirischen Lebens. 42 43
Jenaer Schriften, S. 289. Jenaer Schriften, S. 317.
B. Das moderne Leben und der moderne Begriff der Meinung
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Hegels Diagnose und Überwindung der modernen Welt dreht sich gerade um die subjektive Philosophie, die selbst ein unangemessenes Selbstverständnis des Menschen ist, dessen Unangemessenheit wiederum aus einem unangemessenen Verständnis des Begriffs selbst stammt. Wie Pini Ifergan betont, ist der junge Hegel der Meinung, dass dieses Gefühl von Bruch und Entfremdung die Grundbotschaft des Menschenbildes ist, das die Bildung der Zeit, insbesondere die Philosophie, und vor allem Kants kritische Philosophie, durchdringt.44 In einem Brief an Schelling aus dem Jahr 1795 präsentierte sich der junge Hegel gleichsam als Bannerträger Kants, in dem er erklärte, dass er „von Kants Philosophie und ihrer Vollendung eine deutsche Revolution erwartet“. In den späten 1790er Jahren änderte sich jedoch, beeinflusst von Schillers und Hölderlins Kritik an Kant, Hegels Haltung gegenüber Kants Philosophie, und der Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt, Freiheit und Natur in Kants Moralphilosophie wurde von Hegel als unüberwindbares Sollen angesehen. In der Differenzschrift betrachtet Hegel den Dualismus von Kants und Fichtes Philosophie als Reflexion der Entzweiung der Zeit. Hegel erklärt, die Quelle des Bedürfnisses nach Philosophie liege in der Entzweiung: „Wenn die Macht der Vereinigung aus dem Leben der Menschen verschwindet und die Gegensätze ihre lebendige Beziehung und Wechselwirkung verloren haben und Selbständigkeit gewinnen, entsteht das Bedürfnis der Philosophie.“45 Zwar hat Fichtes Philosophie das Prinzip des Idealismus zum Ausdruck gebracht hat, das besagt, die Welt sei das Produkt der intellektuellen Freiheit. Aber Fichtes Ich muss, um über sich selbst zu reflektieren, ein Nicht-Ich außer dem Ich setzen. Diese Äußerlichkeit von Ich und Nicht-Ich hat dazu geführt, dass das Ich in keiner Weise zum Absoluten zurückkehren wird. So wird der Gegensatz zwischen Ich und Nicht-Ich auf Dauer gestellt. Das Ich im Angesicht des Nicht-Ich ist dazu bestimmt, ein Bestreben und unendlicher Prozess zu sein, die Trennung zwischen Subjekt und Objekt ist zu einem Kantischen Sollen geworden. Einerseits sind Kants moralische Gesetze leer, oder anders gesagt, Kants Betonung der Objektivität ist für Hegel nichts anderes als subjektive Gültigkeit, bezieht sich nicht auf die Objektivität der Welt selbst. Das heißt: Kant definiert, was die Welt nach Maßgabe einer transzendentalen Subjektstruktur sein sollte; ob in kognitiven oder praktischen Aktivitäten – die Äußerlichkeit der Welt ist voreingestellt, der Verstand strukturiert nur äußerlich die Welt, so dass das Subjekt nur die innere formelle Bestimmung des Subjekts anstelle der Vernunft in der Welt erreichen kann. Aufgrund der Hohlheit und Abstraktion dieser Philosophie und ihres Beharrens auf inhaltsloser Selbstidentität hat sie sich zwangsläufig in die willkürliche und sinnliche Existenz zurückgeflüchtet, „an derselben das Feste und Einige zu haben vermeinend“.46 In Fichtes Moralphilosophie verkommt das Gewissen, indem es an seiner eigenen Gewissheit festhält, zu einer selbstgerechten
44
Vgl. Pini Ifergan, Hegel’s Discovery of the Philosophy of Spirit, New York 2014, S. 5. Jenaer Schriften, S. 22. 46 Wissenschaft der Logik I, S. 39. 45
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Kap. 1: Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs
Überzeugung und Einbildung. Das Gewissen fällt wie Kants moralische Position entweder einem handlungsunfähigen Narzissmus oder der Heuchelei und dem Bösen anheim. Hegel widerholte diese Kritik an Kant und Fichte im Naturrechtsaufsatz, in der Phänomenologie und in der Rechtsphilosophie. Andererseits konzipieren sowohl Kant als auch Fichte in der politischen Philosophie, weil Subjektivität, Freiheit und Natur, Begriff und Wirklichkeit einander gegenüberstehen, Recht und Staat auf bloß negative Weise, d. h. beide haben in der politischen Philosophie eine Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität angenommen. Das Gesetz betrifft immer nur externe Handlungen und das Recht erfordert nur ein rechtmäßiges Handeln, unabhängig vom inneren Beweggrund der Bürger. Kant sagt in der Rechtslehre: „Handle äußerlich so, daß der freie Gebrauch deiner Willkür mit der Freiheit von jedermann nach einem allgemeinen Gesetze zusammen bestehen könne.“47 So hat das Gesetz selbst nichts mit der Moralität zu tun, und das Gesetz selbst kümmert sich nicht um moralische Besserung, wie Kant es in der Schrift Zum ewigen Frieden ausdrückte; eine gute Rechtsordnung kann auch durch den „berechnende[n] Egoismus allein auf ihren Eigennutz kalkulierender Teufel“48 geschaffen werden und das Gesetz befasst sich nur mit dem Mechanismus der Natur: „um den Widerstreit ihrer unfriedlichen Gesinnungen in einem Volk so zu richten, daß sie sich unter Zwangsgesetze zu begeben einander selbst nöthigen und so den Friedenszustand, in welchem Gesetze Kraft haben, herbeiführen müssen.“49 Kants Rechtsverständnis überschreitet also nicht dasjenige von Hobbes oder Locke; seine Vision des Staates ist nichts anderes als ein formaler, externer Zwangsrahmen, dessen Zweck lediglich darin besteht, das uneingeschränkte Streben nach Eigentum durch alle zu garantieren; der Staat bietet nichts anderes als die äußere Sicherheit im Prozess der persönlichen Zufriedenheit. Fichtes politische Philosophie beschränkte, wie die Kants, den Bereich der menschlichen Autonomie auf den Bereich der Moralität und fasste das Gesetz somit völlig instrumentell auf. Das Fundament der moralischen Autonomie liegt nach Ansicht Fichtes im Kampf zwischen Pflicht und Neigung, wie Fichte es im System der Sittenlehre ausdrückt: „In Beziehung auf den Hang sonach, der mich in die Reihe der Natur-Causalität herabzieht, äussert sich der Trieb als ein solcher, der mir Achtung einflösst, der mich zur Selbstachtung auffordert, der mir eine Würde bestimmt, die über alle Natur erhaben ist.“50 Der Gegensatz zwischen Natur und Freiheit führt zu einer Tyrannei des Begriffs und des Verstandes. Der Verstand beherrscht die Natur auf die härteste Art und Weise, so dass Freiheit nur in negativen Formen möglich ist. In Fichtes staatlicher Vision unterliegt jeder Schritt jedes Mitglieds, jedes Toben 47
Kant, AA VI, S. 231. Vittorio Hösle, „Eine unsittliche Sittlichkeit – Hegels Kritik an der indischen Kultur“, in: Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, hg. v. Wolfgang Kuhlmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 140. 49 Kant, AA VIII, S. 366. 50 Fichte, Sämtliche Werke, Bd. 4, Zur Rechts-und Sittenlehre II, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845, S. 142. 48
B. Das moderne Leben und der moderne Begriff der Meinung
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des Lebens dem harten Gesetz und der Überwachung der Polizei; das Gesetz hat nichts mit den inneren Gefühlen des Menschen, mit „Treu und Glauben“ im Inneren der Gemeinschaft zu tun, sondern ist nur ein „System einer solchen Äußerlichkeit“ und durch „mechanische Notwendigkeit wirkende[ ] Veranstaltung“.51 Wenn Fichte behauptet, dass man seine moralische Aufgabe in einer moralischen Gemeinschaft erfüllen könne, ist damit die Vorstellung verbunden, dass diese moralische Gemeinschaft kein Rechtszustand ist. Ein Rechtszustand ist nur ein Mittel zur Gründung einer vollkommenen Gemeinschaft; der rechtliche Staat ist keine Verwirklichung der Freiheit, gehört nicht unter die absoluten Zwecke des Menschen, sondern sein Zweck ist die Selbstbeseitigung: „[E]s ist der Zweck aller Regierung, die Regierung überflüssig zu machen.“52 Hegel glaubt, dass die Philosophie in einer so gespaltenen Situation nicht stehenbleiben kann; die Philosophie als Wissenschaft muss uns einen Weg zum Absoluten und zum vollständigen, erfüllten Leben weisen. Als Hegel erklärte, dass die wahre Philosophie die sittliche Welt zu Gott führen müsse, um die an und für sich geltende Wahrheit und die Gesetze jenseits subjektiver Meinungen und Gefühle zu verherrlichen, befürwortete er keinen mechanischen Zustand, in dem jeder sorgfältig dem Zwang des Gesetzes untergeordnet ist. Eine solche Form des Staats- und Gemeinschaftslebens scheint ihm nichts anderes zu sein als ein abstrakter Verstandesstaat. Die Aufgabe der Philosophie ist es, zu verstehen und begreifen, was ist, oder anders gesagt, „das Sein im Horizont des Geschehens der Zeit zu denken“.53 Das Sein selbst zeigt die vernünftige Form des Begriffs, während der Begriff selbst die Begrifflichkeit des Seins und der Welt zeigt – was bedeutet, dass die Menschen in der sittlichen Welt nicht nur durch ihr Handeln die Vernünftigkeit des Seins und der Sittlichkeit denken und begreifen, sondern auch die Darstellung dieser Vernünftigkeit sind. Die Vernünftigkeit betrifft nicht nur die unabhängige Anordnung und unabhängige Planung des Lebens, sondern auch den Kern und die Prinzipien, um die sich die Welt dreht: „Vernunft ist grundsätzlich nicht etwas einzelnes, sondern überpersönlich, dem einzelnen gegenüber objektiv, und nur durch seine Teilnahme an dieser Objektivität der Vernunft, die sich in der Gemeinschaft der Sprache, Sitten, Arbeit, Wissenschaften usw. gestaltet, kann der einzelne Mensch subjektiv vernünftig sein.“54 In § 132 der Rechtsphilosophie weist Hegel auf den Meinungscharakter der subjektiven Philosophie hin: „Wegen ihrer formellen Bestimmung ist die Einsicht ebensowohl fähig, wahr, als bloße Meinung und Irrtum zu sein.“55 Wenn der subjektive Wille dem Begriff der Freiheit entspricht, dann gelangt die Gewissheit des subjektiven Willens auch zur Wahrheit, aber wenn der subjektive Wille selbst nur formal und abstrakt ist, dann ist er, auch 51
Vgl. Jenaer Schriften, S. 471–472. Fichte, Sämtliche Werke, Bd. 6, Zur Politik und Moral, hg. v. Immanuel Hermann Fichte, Berlin 1845, S. 306. 53 Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 48. 54 Klaus Rothe, Selbstsein und bürgerliche Gesellschaft, Bonn 1976, S. 52. 55 Rechtsphilosophie, S. 245. 52
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wenn er absolute Gewissheit über sich selbst hat, nur eine einzelne Meinung und eine einfache Überzeugung. In diesem Sinne kritisiert Hegel in seiner Vorrede der Rechtsphilosophie die seichten Fassungen der subjektiven Philosophie von Fries, der Burschenschaft und der Romantiker, die wie die Sophisten der modernen Welt seien. Nach Hegels Ansicht bestand Platons Aufgabe darin, sich den Sophisten der griechischen Aufklärung entgegenzustellen, die subjektiven Meinungen und Überzeugungen der Sophisten zu widerlegen, die Objektivität des Begriffs und der Wahrheit wiederherzustellen und die Natur der griechischen Sittlichkeit anhand der Korruptionssymptome der griechischen poetischen Sittlichkeit zu erfassen. Die Aufgabe der Philosophie unserer Zeit ist es also, „in dem Scheine des Zeitlichen und Vorübergehenden die Substanz, die immanent, und das Ewige, das gegenwärtig ist, zu erkennen“.56 Die Aufgabe der Philosophie ist es, dem Selbstverständnis der Menschen, das die Geschichte selbst zeigt – dem vernünftigen Inhalt der Freiheit des Menschen – eine vernünftige Form zu verleihen, die Vernünftigkeit der Welt in Form der Vernünftigkeit des Begriffs zu zeigen, anders gesagt, „das Politische für das freie Denken zu rechtfertigen“57, anstatt irgendeiner externen empirischen Autorität, subjektiven Gefühlen oder dem einseitigen Gewissen zu erliegen. Wenn wir die Skulptur des Phidias betrachten, sagen wir, dass Schönheit so sein muss, und in der sittlichen Welt sagen wir, dass Freiheit so sein muss, ohne Manier und Besonderheit. Rüdiger Bubner formuliert es so: „Die Welt, in der wir leben, soll nicht die Welt der Träume sein, wo der eine dieses, ein anderer jenes erhofft, und zwar nach Standpunkten und biologischen Stationen durchaus wechselnd. Die Welt, in der wir leben, muß von einem Charakter der Ordnung getragen sein, wie nur das Recht ihn schafft. Es hängt aber alles davon ab, daß diese Lebenswelt ihre Existenz der Vernunft verdankt und nicht dem Zufall, der Hegemonie von Herrschaft oder bloß dem Herkommen, d. h. der äußeren Genese.“58
C. Die Selbstbestimmung der Freiheit Was die wahre Absicht von Hegels Rechtsphilosophie angeht, gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Interpretationen. Ernst Tugendhat erklärte einmal, dass es in Hegels Rechtsphilosophie nicht um Begriffe, sondern um moralische Verzerrungen gehe59; diese Bemerkung charakterisiert den ersten der beiden Interpretationspfade. In der Tat scheint Hegel in der Diskussion über politische Gesinnung und sittliche Gesinnung in der Rechtsphilosophie eine Tendenz gezeigt zu haben, Meinungen und Reflexion vollständig zu negieren, und in § 268 stellt 56
Rechtsphilosophie, S. 25. Rüdiger Bubner, „Hegels politische Anthropologie“, in: ders., Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 80. 58 Rüdiger Bubner, Polis und Staat, Frankfurt a. M. 2002, S. 165. 59 Vgl. Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung, Frankfurt a. M. 1979, S. 349. 57
C. Die Selbstbestimmung der Freiheit
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er klar, dass „bloß subjektive Gewißheit […] nicht aus der Wahrheit hervor[geht] und […] nur Meinung [ist]“60; diese sittliche Gesinnung ist völlige Selbstvergessenheit, Gewohnheit und Vertrauen. Dies erweckt den Eindruck, dass das Recht des Selbstbewusstseins angesichts des an und für sich Allgemeinen vollständig erloschen sei und dass Hegels Streben nach dem Ganzen und Absoluten ihn zurück zu der teleologischen Ordnung der alten Welt geführt habe, so als ob Hegels gesamtes philosophisches System sich ebenfalls in die alte Metaphysik zurückgezogen hätte. Wie Daniel Dahlstrom betont, müssen selbst diejenigen, die Hegel zu verteidigen versuchen, zugeben, dass Hegels Position einseitig und problematisch ist.61 Manfred Riedel schlägt dagegen eine andere Interpretation vor. Wenn wir Manfred Riedels Beschreibung der politischen Philosophie des jungen Hegel akzeptieren, wendet sich der frühe Jenaer Hegel zunächst unter Rückgriff auf ein romantisches, an das griechische Vorbild angelehntes politisches Ideal gegen den Aufbau des modernen Naturrechts. Aber mit Hegels Rezeption von Fichtes Philosophie wurde die Schellingsche Naturauffassung in der Jenaer Zeit nach und nach durch einen Blick auf die Natur ersetzt, der Hobbes, Rousseau, Kant und Fichte nähersteht; und mit dieser Inversion der Teleologie der Natur wurde das politische Ideal des Griechentums ersetzt durch einen Modernismus, der Individualität beinhaltete, und Hegel verwandelte das Naturrecht in eine sogenannte „philosophische Rechtswissenschaft“. Mit anderen Worten: Hegels politisches Ideal ist nicht mehr durch eine absolute Sittlichkeit definiert, in der die höchste Mission des Menschen darin besteht, seine eigene Vollkommenheit und Tugend zu erreichen und eine unreflektierte und indifferente natürliche Sittlichkeit zu haben. Riedels Skizze von Hegels Rechtsphilosophie scheint Hegel jedoch wieder zu Kants und Fichtes subjektiver Philosophie zurückzuführen; zum Beispiel argumentiert Riedel, dass Hegels sogenannte Zweideutigkeit des Naturrechts, das heißt, ob die Natur selbst natürlich ist oder die Sache selbst, klar in Richtung der Positionen Rousseaus, Kants und Fichtes deutet. Dies schafft die Schwierigkeit, dass Hegel entweder zur alten Metaphysik zurückkehren müsste, weil er sonst nicht in der Lage wäre, sein Bekenntnis zum Absoluten zu erfüllen, oder aber zu Kants und Fichtes Position zurückkehren und den Gegensatz zwischen den Gesetzen der Freiheit und den Gesetzen der Natur betonen müsste. Die beiden Tendenzen der modernen Welt, die dem Dilemma der oben erwähnten Hegel-Interpretation entsprechen, werden in der Rechtsphilosophie dargelegt. Die eine dieser beiden Tendenzen ist die subjektive Position: Das abstrakte Gute und das Gewissen betrachten sich als Geltungsdimensionen einer Objektivität, die die Objektivität der sittlichen Welt vollständig auflöst. Die andere Tendenz ist die Reaktion auf Subjektivität, weil Subjektivität „Qual der Leerheit und Ne-
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Rechtsphilosophie, § 268, S. 413. Daniel Dahlstrom, „The Dialectic of Conscience and the Necessity of Morality in Hegel’s Philosophy of Right “, in: ders., Philosophical Legacies: Essays on the Thought of Kant, Hegel and their Contemporaries, Washington D. C. 2008, S. 152.
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Kap. 1: Ungeduld des Meinens und Geduld des Begriffs
gativität“62 verursacht; dann sind die Menschen bereit, zu einer autoritären Ordnung des Lebens zurückzukehren, geben das Urteil des Gewissens völlig auf und denken, dass die vergangene Lebensform eine erstrebenswerte Art von Stabilität aufweise. Diese beiden Tendenzen oder Entscheidungen lassen sich also der transzendentalen Philosophie und der Metaphysik zuordnen. Wir haben oben die grundlegende Intention von Hegels Philosophie dargelegt, das heißt, Hegels Philosophie ist eine völlig voraussetzungslose, sich selbst bestimmende Philosophie, und von daher ist Hegels Philosophie eine postkantische Philosophie. Hegel wird nicht zu einer metaphysischen Position zurückkehren, die er in der Enzyklopädie kritisiert; Hegels Philosophie ist auch nicht transzendentale Philosophie, obwohl Hegel bis zu einem gewissen Grad Kants Engagement für eine Selbstkritik der Vernunft beerbt hat. Der Grund für diese doppelte Distanzierung ist der, dass die alte Metaphysik wie auch die transzendentale Philosophie nach der sogenannten „epistemologischen Wende“ aus Hegels Sicht Formen des Fundamentalismus sind und es sich um philosophische Erzählungen handelt, die sich von einer Gegebenheit aus entfalten. In der Metaphysik ist die Gegebenheit oft eine Unmittelbarkeit oder ein erstes Prinzip, das über alle Voraussetzungen und Meinungen hinausgeht. In der transzendentalen Philosophie sind es Struktur und Bedingungen der Kognition, die als unmittelbar gegeben betrachtet werden, und die kognitive Struktur bestimmt, was verstanden werden kann. Das Problem mit der Metaphysik ist, dass es viele verschiedene Ansprüche auf jenes erste Prinzip gibt und wir nicht entscheiden können, welcher Anspruch gerechtfertigt ist. Denn wenn wir versuchen, dem ersten Prinzip Priorität einzuräumen, dann verliert das erste Prinzip selbst seine Priorität und für das Argument und die Grundlage des ersten Prinzips selbst muss auf das Prinzip des ersten Prinzips zurückgegriffen werden. Das Problem der transzendentalen Philosophie liegt in einer unendlichen Selbstregression, und der Prozess der Etablierung kognitiver Struktur und Bedingungen ist der Prozess der Anwendung der Kognition selbst, so dass das Objekt, das wir untersuchen – kognitive Strukturen und Bedingungen – selbst durch Kognition eingeschränkt ist, und zugleich können wir die Kognition der Kognition nicht kritisieren. Wie Richard Dien Winfield es ausdrückt, besteht das Dilemma des Fundamentalismus darin, dass wir entweder ein privilegiertes, ultimatives Seiendes, ein erstes Prinzip als gegeben annehmen müssen, oder aber die kognitive Struktur, die die Objektivität bestimmt. Im normativen Bereich der rechtsphilosophischen Diskussion muss bei der Unterscheidung zwischen „normativ“ und „nicht normativ“ zunächst eine normative Geltungsgrundlage angegeben werden, damit der normative Maßstab hergestellt werden kann, und erst dann können wir ein normatives System aufstellen. Dieses fundamentalistische Dilemma kann auch als Dilemma zwischen Meinungen bezeichnet werden, und beide sind dogmatisch: einmal der Versuch, unmittelbar auf dem Standpunkt des Absoluten zu stehen, die Vermittlung zu ignorieren, oder aber die Entzweiung von Subjekt und Objekt vorauszusetzen, wobei 62
Rechtsphilosophie, § 141 Zu, S. 290.
C. Die Selbstbestimmung der Freiheit
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die Gültigkeit der Subjektstruktur vorausgesetzt wird. Hegel glaubt, dass wir, um über die Meinung hinauszugehen, zur Geduld des Begriffs zurückkehren, d. h. uns in den Selbstvermittlungs- und Selbsterfüllungsprozess des Begriffs vertiefen müssen. Hegel hat in der Phänomenologie deutlich gemacht, dass „ein Mißtrauen in dies Mißtrauen gesetzt und besorgt werden soll“63und dass wir die Voraussetzung der Äußerlichkeit des Gegenstands sowie die Voraussetzung des Inhalt und der Methode im Gesichtspunkt des Bewusstseins demontieren sollten: Wir denken ohne Voraussetzung, orientieren uns am Denken, und so richtet das Denken seine eigene Bestimmung ein, und die Struktur der Kategorien, die sich durch das Denken selbst offenbart, ist zugleich die Struktur des Seins. Nach Hegels Auffassung wird seine Rechtsphilosophie streng nach der Methode der Logik durchgeführt, Hegels sogenannte Logik ist die Wissenschaft, in der der Begriff, das Denken nach strenger Notwendigkeit sich selbst entwickelt, und die Wissenschaft hat den Standpunkt der Meinung oder des Bewusstseins zu überwinden. Das bedeutet: Die in der Rechtsphilosophie verankerte Normativität ist die absolute Freiheit des Willens und des Willensbegriffs, der keine äußere, gegebene normative Quelle benötigt, und der Wille baut alle Bereiche des praktischen Lebens im Prozess der Selbstbestimmung auf und etabliert eine freie, vernünftige und vollendete Lebensweise. Hegels Bezugnahme auf das Griechentum beruht auf einer tieferen Erkenntnis der geschichtlichen Wirklichkeit: Die moderne Welt wird nicht mehr als das Gegenteil der griechischen Schönheit des Glücks angesehen, sondern ist selbst ein Moment der dialektischen Entwicklung der Freiheit, kann sogar als Entscheidungsmoment bezeichnet werden, insofern Hegels von „diese[r] eigene[n] Arbeit der Vernunft der Sache“64 spricht; es handelt sich hier um einen immanenten Entwicklungsprozess und ein Resultat der „höheren Dialektik des Begriffs“.65 Der Wandel in Hegels philosophischem Ansatz besteht darin, dass er nicht mehr, wie Schelling und wie er selbst in seiner frühen Jenaer Zeit, zuerst ein Absolutes voraussetzt, das Bewusstsein und Gegenstand, Subjekte und Objekte vereint, und dann das Absolute selbst die Teilung wieder in sich zurücknimmt, was nichts anderes ist als das „Hinunterwerfen desselben [Unterschiedenen und Bestimmten] in den Abgrund des Leeren“, sondern vielmehr das freie Denken „von sich ausgeht“66; es unterliegt von Anfang an nicht mehr irgendwelchen Gegebenheiten, schafft selbst seine eigenen Bestimmungen, sein eigenes freies Reich und seine eigene geistige Welt. Am Beispiel von Platon und Hegel weist Michael Forster darauf hin, dass der Unterschied zwischen klassischer und moderner politischer Philosophie darin liegt, dass die moderne politische Philosophie Freiheit als Grundlage, Zweck und Grenze des Staates begründet. Der Kern des Problems liegt nach Hegels Ansicht 63
Phänomenologie des Geistes, S. 69. Rechtsphilosophie, § 31 Anm., S. 85. 65 Rechtsphilosophie, § 31 Anm., S. 84. 66 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 14. 64
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eher darin, den wahren Begriff der Freiheit, den vernünftigen, sich selbst bestimmenden Willen zu erwerben: „Die philosophische Betrachtung hat es nur mit dem Inwendigen von allem diesem, dem gedachten Begriffe zu tun.“67 In der Rechtsphilosophie unterscheidet Hegel zwischen abstraktem Recht und Moralität, eine Unterscheidung, die, wie Paul Franco betont, eher Kants und Fichtes politischer Philosophie entspricht.68 Das abstrakte Recht hat die Allgemeinheit des Rechts, aber es gibt keine Subjektivität, so dass in diesem Bereich das Recht völlig als eine Sammlung äußerer Rechtsverbote betrachtet wird; Moralität ist für sich Wille, aber im moralischen Willen ist die Objektivität völlig zerfallen, immer auf eine negative, abstrakte Weise, um sich Freiheit vorzustellen. Die Freiheit ist entweder durch fremde Objekte gebunden, ihre Grundlage wird in eine Art Abhängigkeit vom Vorgegebenen gelegt, oder sie ist abstrakt, um allem Vorgeschriebenen zu entkommen. Da die moderne subjektive Philosophie Denken und Begriff nur als subjektives Denken und abstrakten Begriff verstehen kann, kann dementsprechend die moderne Theorie des Naturrechts Freiheit nur als subjektive Freiheit verstehen, in deren Horizont die Möglichkeit der Selbstbestimmung in der Gemeinschaft völlig unbegreiflich bleiben muss. Rousseau diskutierte diese Freiheit aus der Perspektive des klassischen Republikanismus: Nach Rousseaus Ansicht liegt die wahre Freiheit in den staatsbürgerlichen Freiheiten der Teilnahme am „öffentlichen Dienst“. Aber er erblickte dieses Ideal der gemeinschaftlichen Freiheit in der alten Polis, insbesondere in Sparta, was Rousseau auch daran hinderte, einen konkreten Begriff der Freiheit zu entwickeln; es fehlt an einer Vermittlung zwischen allgemeinem Willen und einzelnem Willen, der allgemeine Wille übertritt nur negativ den einzelnen Willen – mit anderen Worten, er wird den individuellen Willen nur auslöschen. Hobbes und Locke glauben, dass Freiheit nichts anderes ist als ein uneingeschränktes Streben nach Erfüllung der Begierde; Kant und Fichte folgen Rousseau dahingehend, dass Freiheit in der Selbstbestimmung liegt, aber sie sind abweichend der Auffassung, dass diese Selbstbestimmung nichts anderes ist als den Elementen der Natur zu entkommen, so dass der Gegensatz zwischen Freiheit und Natur festgeschrieben wird. Die Elemente der Unfreiheit bleiben in einer anderen Dimension erhalten: Ihr Freiheitsbegriff ist immer abstrakt, und sie verfehlen damit die wahre geistige Natur der Freiheit und des Menschen. Hegel versucht, den Begriff der Freiheit der Selbstbestimmung von Grund auf umzusetzen. Wenn Freiheit die wahre Unendlichkeit verwirklichen soll, dann muss die Bestimmung als die Bestimmung der Freiheit selbst, als „ihre seinige und ideelle“69 verstanden werden. Daher ist jede Station in der Selbstbestimmung der Freiheit Dasein der Freiheit, jede Art von Bestimmung als Einschränkung ist 67
Rechtsphilosophie, § 258 Anm., S. 400. Vgl. Paul Franco, Hegel’s Philosophy of Freedom, New Haven and London 1999, S. 194. Siehe auch Joachim Ritter, „Moralität und Sittlichkeit: Zu Hegels Auseinandersetzung mit der Kantischen Ethik“, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, Bd. 2, hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 1975, S. 218. 69 Rechtsphilosophie, § 7, S. 54. 68
C. Die Selbstbestimmung der Freiheit
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ein Moment des Prozesses der Selbstvermittlung der Freiheit, sich zu etablieren, sich zu bestimmen. In diesem Prozess vertieft sich der Begriff der Freiheit weiter im Selbst und entwickelt fortwährend seine eigene Bestimmung. Dieser Prozess ist völlig innerlich. Einerseits entgeht die Freiheit nicht der einseitigen Bestimmung, denn diese Momente „ent[halten] immer eine wesentliche Bestimmung in sich: [sie sind] daher nicht wegzuwerfen“.70 Im Negativen kann die Freiheit in sich selbst bleiben, in unendlicher Zerrissenheit kann der Begriff wahre Tiefe erlangen, allen soliden Gegensatz auflösen, in Zeit und Geschichte sich mit sich selbst versöhnen. Daher ist die Sittlichkeit als die Idee der Freiheit nur dann wirklich und konkret, wenn sie unendliche Freiheit der Persönlichkeit, der Moralität und des Gewissens enthält, und die Wahrheit der Freiheit wird durch die Gewissheit des Denkens und Handelns eines jeden Einzelnen verwirklicht, bis schließlich „die Wahrheit dieser Gewißheit sowie diese Gewißheit der Wahrheit gleich geworden ist.“71 Der Begriff ist zugleich die innerlichste Natur der Welt, und der Begriff der Freiheit ist auch die innerste Natur allen menschlichen Willens und des Seins; durch unser Bewusstsein und Handeln als freie Wesen, durch den Eigensinn dieses edlen Gewissens, durch die Trennung des Begriffs selbst ist die Welt für uns kein fremdes Anderssein mehr. Als „positive[r] Inhalt und Resultat“72 etabliert, ist die Welt unser freies Zuhause, sind Sittlichkeit und Staat wird nicht mehr von Gott verlassen, dem Zufall und der Willkür unterworfen, sondern die Verwirklichung der Freiheit. Durch die Geduld des Begriffs etablierte Hegel einerseits subjektive Freiheit, ohne, wie Riedel behauptet, zur Philosophie der Subjektivität zurückkehren zu müssen, und andererseits stellte dieser Begriff der Freiheit, ohne auf die alte Metaphysik zurückzugreifen, die Vollständigkeit und Vernünftigkeit der Welt durch sich selbst wieder her.
70
Rechtsphilosophie, § 5 Zu, S. 51. Wissenschaft der Logik I, S. 43. 72 Rechtsphilosophie, § 31 Anm., S. 84. 71
Kapitel 2
Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus Der Begriff des Fanatismus lässt sich auf die Debatte zwischen Martin Luther und den Täufern zurückführen. Luther initiierte die protestantische Reformation, aber die Bewegung spaltete sich bald. Diejenigen Gegner, die behaupteten, sie hätten die Botschaft Gottes unmittelbar empfangen und seien von Gott beauftragt worden, mit Gewalt gegen alle bestehenden Ordnungen vorzugehen und einen Cäsaropapismus zu etablieren, bezeichnete Luther als „Schwärmer“. Melanchthon übersetzt Schwärmer als fanati, fanatiques oder phantastiques, ein Wort, das einerseits von dem griechischen phantasma abstammt und eine Illusion bezeichnet; andererseits kann es auf das lateinische fanum (Tempel, Heiligtümer) zurückgeführt werden, ein Begriff, der sich auf die Anhänger apokalyptischer Lehren oder den Klerus beziehen kann, die sich in einem Zustand des Wahnsinns und der Selbstverletzung befinden. So nimmt der Begriff Fanatismus im Prozess der Anwendung bald eine sehr gefährliche Bedeutung an; Fanatismus wird als eine psychische Störung bzw. als irrationale, direkte und mystische Offenbarung gesehen. Zugleich ist der Fanatismus selbst eine extrem subjektive Form. Nach Luthers Ansicht lehnen Fanatiker die biblischen Texte und alle Formen der Religion ab; sie versuchen, unmittelbar mit Gott zu kommunizieren und so den Glauben, der ganz mit der Vorstellungskraft, dem Eindruck und den Gefühlen der Fanatiker in eins fällt, vollständig zu subjektivieren: Der Heilige Geist brauche keine Vermittlung. Luther hingegen glaubte, dass der Glaube selbst durch das Wort gehen muss und dass jeder Versuch, auf eine mystische Erfahrung zurückzugreifen, indem man sich der Objektivität des Glaubens verweigert, ein Fanatismus sei: „Nun sind sie so toll, daß sie voneinander scheiden den Glauben und das Ding, daran der Glaube haftet und gebunden ist, ob es gleich äußerlich ist; Ja, es soll und muß äußerlich sein, daß man’s mit Sinnen fassen und begreifen und dadurch in’s Herz bringen könne; Denn das ganze Evangelium ein äußerliche, mündliche Predigt ist. Summa, was Gott in uns thuet und wirket, will er durch solch äußerliche Ordnungen wirken.“1 Im Zeitalter der Aufklärung erhielt der Fanatismus anhaltende Aufmerksamkeit, aber die Denker der Aufklärung interessierten sich insbesondere für die Unterscheidung zwischen Fanatismus, Leidenschaft und Enthusiasmus. In Shaftesburys Brief über Enthusiasmus von 1707 beispielsweise unterschied er zwischen „inspiration“ und „enthusiasm“: „For inspiration is a real feeling of the Divine Presence 1 Martin Luther, kleiner und großer Katechismus, nach den ältesten Ausgaben und kritisch bearbeitet von Johann Konrad Irimischer, Erlangen 1832, S. 133.
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and enthusiasm a false one.“2 Erstere ist eine edle, göttliche, mächtige Leidenschaft in der Menschheit, derer Helden, Staatsmänner, Dichter und sogar Philosophen bedürfen, während Letzterer durch Schmerz, Katastrophe und übermäßige Liebe verursacht wird und sich als ein mürrisches Temperament außerhalb der Kontrolle der Macht und als eine niedere Leidenschaft manifestiert. David Hume unterscheidet in seiner Schrift Of Superstition and Enthusiasm Aberglaube und Enthusiasmus klar aufgrund ihrer emotionalen Form als „two species of false religion“.3 Hume schreibt den Fanatismus traditionell dem Enthusiasmus zu und bezeichnet Fanatismus als eine Manifestation des Enthusiasmus, der sich aus „prosperous success, from luxuriant health, form strong spirits, or from a bold and condident disposition“4 herleite. Der Aberglaube beruht auf der natürlichen Schwäche, auf Angst und Melancholie, während der Enthusiasmus aus Hoffnung und Einbildung entsteht. Das entspricht dem Verhältnis von Katholizismus und Protestantismus: Katholiken sind an die Willkür des Gottvaters und die Rituale der katholischen Religionsausübung gebunden, während Protestanten als „enthusiasts have been free from the yoke of ecclesiastics, and have expressed great independence in their devotion; with a contempt of forms, ceremonies, and traditions“.5 Voltaire übernahm Shaftesburys Unterscheidung zwischen Inspiration / Leidenschaft und Fanatismus und machte den Fanatismus zum Gegenstand all seiner Arbeit. Er beschreibt Fanatismus so: „Le fanatisme est à la superstition ce que le transport est à la fièvre, ce que la rage est à la colère. Celui qui a des extases, des visions, qui prend des songes pour des réalités, et ses imaginations pour des prophéties, est un fanatique novice qui donne de grandes espérances; il pourra bientôt tuer pour l’amour de Dieu.“6 Auch wenn der Begriff Fanatismus vor allem bei Protestanten verwendet wurde, zeigen nach Voltaires Auffassung sowohl Katholiken als auch Protestanten eine Tendenz, fanatisch zu sein. Voltaire beschuldigte die Katholiken, den Calas-Skandal und das Massaker der Bartolomäusnacht verursacht zu haben, und er bezog sich immer wieder auf die Verfolgung von Katholiken durch irische Protestanten. Wenn das Wort Fanatismus zuerst benutzt wurde, um die Träumer unter den Protestanten zu widerlegen, benutzt Voltaire den Begriff nun, um die Katholiken der Ermordung von Protestanten zu beschuldigen, und nach Voltaires Ansicht kann keine Religion völlig frei von religiösem Fanatismus sein. Hinsichtlich der Beziehung zwischen Aberglauben und Leidenschaft ist Humes Ausarbeitung weit weniger tiefgreifend als Voltaires Einsicht. Hume schrieb Fanatismus nur der Leidenschaft zu, so dass abergläubische Religionen vom religiösen Fanatismus ausgeschlossen wurden. Auf diese Weise kann Hume die Form des 2 Third Earl of Shaftsbury, Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times, hrsg. v. Lawrence Klein, Cambridge 2003, S. 27. 3 David Hume, Political Writings, Cambridge 1994, S. 46. 4 Ebd. 5 David Hume, Political Writings, Cambridge 1994, S. 48. 6 Voltaire, Dictionnaire Philosophique, tome cinquième, in: ders., Œuvres de Voltaire, Paris 1827, S. 33.
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Fanatismus nicht erklären: Wegen der Verheißung der Glückseligkeit im Himmel können die feigen und ängstlichen Massen leicht von Betrügern angestachelt und ausgebeutet werden und dann fanatische Dinge tun. Voltaire verweist auch auf eine Art von „fanatiques de sang-froid“7, die so ruhig und sogar kaltblütig, fanatisch und selbstzerstörerisch seien, dass, so Voltaire, „il semble qu’ils pourraient écouter la raison“. Die moderne Verkörperung dieses kaltblütigen Fanatismus ist eine rationale und technische Bürokratie, oder, in Kafkas Worten, „ein eigentümlicher Apparat“8, der der wahrhaft gefährlichste Fanatismus ist. Hat die Aufklärung also wirklich den Fanatismus überwunden? Kann man in der Welt nach der Aufklärung noch Spuren des Fanatismus finden? Isaiah Berlin schreibt in seinem sehr interessanten Bericht über Joseph de Maistre und die Jakobiner: „Dem Temperament nach ähnelte er seinen Feinden, den Jakobinern; wie sie war er von dem, was er glaubte, ganz und gar überzeugt; was er hasste, das hasste er gründlich und war in allen Dingen ein jusqu’au boustiste. Charakteristisch für die Extremisten von 1792 war die Entschiedenheit, mit der sie die alte Ordnung ablehnten: sie verurteilten nicht nur ihre Fehler, sondern auch ihre Vorzüge; nach ihrem Wunsch sollte nichts davon bestehen bleiben, sie wollten das schlechte System vollständig zerrütten, um etwas ganz Neues zu bauen, ohne Konzessionen, ohne die geringste Anleihe bei der Welt, auf deren Ruinen die neue Ordnung errichtet werden sollte. De Maistre stand zu dieser Haltung in einem klaren Gegensatz. Er attackierte den Rationalismus des 18. Jahrhunderts mit der gleichen Intoleranz und Leidenschaft, mit der gleichen Kraft und Begeisterung, die die großen Revolutionäre selbst bewiesen hatten. Er verstand sie besser als die Gemäßigten, und er hegte eine gewisse sympathetische Anerkennung für einige ihrer Qualitäten; aber was ihnen als glückselige Vision erschien, war für ihn ein Albtraum. Er wollte den ‚Gottesstaat der Philosophen des 18. Jahrhunderts‘ dem Erdboden gleichmachen, und dabei sollte kein Stein auf dem anderen bleiben.“9
Nach Ansicht Isaiah Berlins sind Joseph de Maistre und Voltaire zwei Extreme, und obwohl sie gegensätzliche Standpunkte vertreten, stimmen beide in bestimmten Eigenschaften überein: „Weder Voltaire noch seinem Feind [de Maistre] kann man Weichheit, Unklarheit, intellektuelle oder emotionale Nachgiebigkeit gegen sich selbst vorwerfen, und sie dulden diese Eigenschaften auch bei anderen nicht. Sie repräsentieren das nüchterne Licht gegen die flackernde Flamme, und unerbittlich stehen sie gegen alles Wirre, Neblige, Schwärmerische, Impressionistische […]. Sie sind rücksichtslos verknappende, nüchterne Schriftsteller. Voller Verachtung und Boshaftigkeit, herzlos und zuweilen wahrhaft zynisch.“10 Sowohl die Aufklärung als auch die Gegenaufklärung waren in ihren Extremen fanatisch, und auch wenn Voltaire sein Leben lang gegen Fanatismus gekämpft hat, war die 7
Voltaire, Dictionnaire Philosophique, tome cinquième, in: ders., Œuvres de Voltaire, Paris 1827. S. 34. 8 Franz Kafka, In der Strafkolonie, Leipzig 1919, S. 5. 9 Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität, Berlin 2009, S. 186–187. 10 Isaiah Berlin, Das krumme Holz der Humanität, Berlin 2009, S. 258.
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Art und Weise, wie er sich dem Fanatismus widersetzte, ihrerseits fanatisch. In seiner Reflexion über die Französische Revolution argumentierte Edmund Burke, dass seiner Ansicht nach die philosophes der Aufklärung und die Revolutionäre Fanatiker seien, die die Sitte und Institutionen der Gesellschaft aufgegeben hätten und dachten, sie könnten eine perfekte Gesellschaft nach abstrakten Gleichheitsprinzipien schaffen, was Burke als „philosophischen Fanatismus“ (philosophical fanatics)11 bezeichnete. Dieser Fanatismus versuche, die politische Metaphysik der bedingungslosen Gleichheit und der Menschenrechte zu verbreiten. Burke argumentiert, dass dieser philosophische Fanatismus gefährlicher sei als religiöser Fanatismus: „These philosophers are fanaticks; independent of any interest, which if it operated alone would make them much more tractable, they are carried with such an headlong rage towards every desperate trial, that they would sacrifice the whole human race to the slightest of their experiments […]. Nothing can be conceived more hard than the heart of a thorough-bred metaphysician. It comes nearer to the cold malignity of a wicked spirit than to the frailty and passion of a man. It is like that of the principle of Evil himself, incorporeal, pure, unmixed, dephlegmated, defecated evil.“12
Burke wies bereits darauf hin, dass Fanatismus selbst die reine, von allen Beschränkungen befreite Gesinnung und Leidenschaft ist. Bei Herder sind Philosophie und Schwärmerei gleichbedeutend, sie sind „zwo Schwestern“ und Voltaire selbst ist ein Vertreter des kalten Fanatismus: „War’s ein Philosoph, der unser Jahrhundert das Zeitalter der Philosophie nannte, so verstand er dadurch vielleicht das Jahrhundert kalter Schwärmerei und schwärmender Kälte […]. Der Schwärmer will der größte Philosoph seyn, und der größte Philosoph ist der größte Schwärmer.“13 Aus Isaiah Berlins Beobachtungen können wir die Schlussfolgerung ziehen, dass die Aufklärung ihr Versprechen der Bekämpfung des Fanatismus letztlich nicht erfüllt, und wir sprechen dabei nicht von den irrationalen Katastrophen des letzten Jahrhunderts, sondern auch von der gegenwärtigen Nachkriegszeit, in der die Menschheit zahlreiche neue Formen des Fanatismus geschaffen hat. Das moderne Leben ist von Narzissmus und Nihilismus in den Massenmedien, irrationalen Fans der Popkultur und des Sportwettbewerbs und einem fieberhaften Streben nach technologischer Innovation mitgeprägt. Auf der anderen Seite brachte der freie marktwirtschaftliche Verkehr des Kapitals in einer so oberflächlichen Welt, in einer postliberalen Welt oder in einer World on Fire nicht nur keinen Frieden und Wohlstand, sondern führte zu populistischen Bewegungen auf der ganzen Welt, weil der Reichtum in der Hand von wenigen war. In einem solchen Zeitalter
11 Edmund Burke, Reflections on the Revolution in France, New Haven and London 2003, S. 125. 12 Edmund Burke, „A Letter to a Noble Lord “, in: ders., Further Reflections on the Revolution in France, ed. By Daniel E. Ritchie, Indianapolis 1992, S. 314. 13 Herder, „Philosophei und Schwärmerei, zwo Schwestern“, Herders Sämtliche Werke, Bd. 9, Berlin 1893, S. 502.
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der Empörung hat der Fanatismus der populistischen Bewegung viele Spielarten von politischem Establishment gestürzt und die Politik ist zu einem frenetischen Kampf des Radikalismus geworden. Gleichzeitig steht die Glaubwürdigkeit der traditionellen Medien am Rande des Bankrotts, die öffentliche Meinung hat sich in Richtung einer fragmentierten und verzerrten Form bewegt; sie ist keine rationale Diskussion öffentlicher Angelegenheiten mehr, sondern ein Aufeinanderprallen extremer Streitposition, eine Vetokratie, wie Francis Fukuyama diesen Zustand genannt hat.14 Einerseits verstärkt das anonyme Netzwerk des Internets wie der Ring des Gyges die hässliche Seite des menschlichen Verhaltens, andererseits wird die öffentliche Meinung mit der präzisen Analyse der Big-Data-Politik zu einem von Menschen handhabbaren Objekt der Manipulation und demokratische Politik degeneriert zunehmend zur bloßen Wahlkampfpolitik. Zudem war auch unsere Zeit nicht immun gegen religiösen Fanatismus und Extremismus; wir leben in einer Welt voller wahlloser terroristischer Aktivitäten gegen Zivilisten, es existieren Parallelgesellschaften innerhalb der entwickelten Gesellschaften, die ständig die Grundlagen säkularer Staaten erschüttern, und wir müssen uns sogar fragen, ob Europa seine Identität verliert. Mark Lilla drückt es so aus: „[W]e had assumed that this was no longer possible, that human beings had learned to separate religious questions from political ones, that fanaticism was dead. We were wrong.“15 Wie können wir den Fanatismus in der Öffentlichkeit zähmen? Seyla Benhabib sagte einmal über Hannah Arendt: „Hannah Arendt’s understanding of modern society, and of the cultural, economic, and political changes initiated by modernity, are much more complex, rich, and nuanced than the simple Verfallsgeschichte model, the history of the decline of the public space from the Greek polis to conditions of modern mass society […]. [She] was no philosopher of antimodernity. Hannah Arendt was a reluctant modernist, but a modernist none theless.“16 Diese Einschätzung ließe sich in vieler Hinsicht auf Hegel übertragen. Für Hegel ist die Modernität selbst ein notwendiger Prozess der Geschichte und des menschlichen Selbstverständnisses, so dass die moderne Welt selbst das Ergebnis des Verständnisses des Geistes von sich selbst und des Verständnisses der Welt der Freiheit ist. Hegel erkannte aber auch die Grenzen und die Einseitigkeit der Modernität deutlich, und die Kritik Hegels an der modernen Welt ist seine Kritik am modernen Fanatismus. Wie Isaiah Berlin sah Hegel, dass die Art und Weise, wie die Moderne den Fanatismus zu Fall brachte, selbst ein Fanatismus war und dass die Moderne lediglich ein einseitiges Prinzip durch ein anderes einseitiges Prinzip ersetzte. Wir können zunächst Hegels Fanatismus-Begriff erarbeiten und Hegels Diagnose des Fanatismus extrahieren. Fanatismus ist ein wichtiges Thema von Hegels Philosophie, ein Moment in der Geschichte der Erfahrung des Bewusst 14 Vgl. Francis Fukuyama, „American Political Decay or Renewal? The Meaning of the 2016 Election“, in: Foreign Affairs 95 (2016), 58–68. 15 Mark Lilla, The Stillborn God: Religion, Politics, and the Modern West, New York 2007, S. 3. 16 Seyla Benhabib, The Reluctant Modernism of Hannah Arendt, Lanham 2003, S. 132–133.
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seins, die in der Phänomenologie beschrieben wird. Wir können den Schatten dieses Fanatismus im Kampf um Leben und Tod in der Dialektik von Herrschaft und Knechtschaft, in Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels und den schönen Seelen der Romantiker sehen.
A. Hegels Kritik am politischen Fanatismus In Die Gesetze des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels stellt Hegel das Bild der modernen Revolutionäre dar: Sie wollen nicht mehr die eigene Lust des Individuums, sondern streben nach der „Ernsthaftigkeit eines hohen Zwecks“ und nach „Hervorbringung des Wohls der Menschheit“17, so dass ihrem Handlungsmotiv Notwendigkeit zukommt: „Es [das Selbstbewusstsein] weiß, unmittelbar das Allgemeine oder das Gesetz in sich zu haben, welches um dieser Bestimmung willen, daß es unmittelbar in dem Fürsichsein des Bewußtseins ist, das Gesetz des Herzens heißt.“18 Das Gesetz des Herzens versteht sich nicht nur als individuell, sondern auch als allgemein und notwendig, so dass die Wirklichkeit nach den Gesetzen des Herzens umgestaltet werden muss, und bevor eine solche Umgestaltung verwirklicht wird, ist jene Wirklichkeit nichts anderes als eine äußere, zwanghafte Weltordnung, die mit den Gesetzen des Herzens kollidiert: „Diese dem Gesetze des Herzens widersprechende Notwendigkeit sowie das durch sie vorhandene Leiden aufzuheben, darauf ist also diese Individualität gerichtet.“19 Daher will das Gesetz des Herzens in erster Reihe seine eigene Befriedigung; das eigene Gesetz der Herzens soll nach außen in die Welt drängen: „Wo der Inhalt der allgemeinen Notwendigkeit aber nicht mit dem Herzen übereinstimmt, ist sie auch ihrem Inhalte nach nichts an sich und muß dem Gesetze des Herzens weichen.“20 Der Grundgedanke des Gesetzes des Herzens ist, dass „ sein besonderer Inhalt soll als solcher für allgemein gelten.“21 Das heißt, die Welt muss den Gesetzen des Herzens gehorchen, und die Wirklichkeit muss mit den Gesetzen des Herzens übereinstimmen. Doch nachdem das Gesetz des Herzens seinen eigenen Plan verwirklichte, stellte es fest, dass das Verwirklichte nicht mehr das Gesetz seines Herzens ist, nicht mehr seine Individualität, sondern eine allgemeine Ordnung. Diese Ordnung ist nicht mehr für das Herz, ist nicht mehr seine eigene Ordnung, sondern hat nichts damit zu tun, das heißt, das Gesetz des Herzens selbst ist nur für sich: „Was also dieser Gestalt des Selbstbewußtseins aus ihrer Erfahrung als das Wahre hervorgeht, widerspricht dem, was sie für sich ist.“22 Wenn das Gesetz des Herzens sein eigenes Gesetz in der Welt verwirklichen soll, muss es eine Beziehung zu anderen haben, 17
Phänomenologie des Geistes, S. 276. Phänomenologie des Geistes, S. 275. 19 Phänomenologie des Geistes, S. 226. 20 Phänomenologie des Geistes, S. 277. 21 Phänomenologie des Geistes, S. 278. 22 Phänomenologie des Geistes, S. 278. 18
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es muss die Absichten anderer berücksichtigen und sein Verhalten entsprechend der bestehenden Ordnung anpassen. So sind nicht nur die Ordnung, sondern auch die Herzen anderer gegen ihn (den Träger oder Urheber dieses Gesetzes); die Gesetze der Herzen anderer und die Gesetze seines eigenen Herzens können inkonsistent sein, und andere werden die bestehende Gesellschaftsordnung nutzen, um sich ihr zu widersetzen. So findet sich das Gesetz des Herzens in einer entfremdeten Welt wieder, es und andere Herzen verfallen einem „Wahnsinn im allgemeinen“23; jedes Herz sieht im anderen Herzen nur eine böse Motivation, und so wird das Gesetz des Herzens zu einem Eigendünkel, der auf fanatische Weise gegen „die allgemeine Ordnung“ ist, die „von fanatischen Priestern, schwelgenden Despoten und für ihre Erniedrigung hinabwärts durch Erniedrigen und Unterdrücken sich entschädigenden Dienern derselben“24 erfunden worden ist. „Das Herzklopfen für das Wohl der Menschheit geht darum in das Toben des verrückten Eigendünkels über, in die Wut des Bewußtseins, gegen seine Zerstörung sich zu erhalten.“25 Der berühmteste Bericht Hegels über Fanatismus ist zweifellos die Analyse des Terrorismus nach dem Prinzip der absoluten Freiheit der Französischen Revolution. Wenn in Das Gesetz des Herzens und der Wahnsinn des Eigendünkels das Gesetz des Herzens versucht, die Individualität als das Gesetz der Welt zu tarnen, und daher hofft, die Einheit der Allgemeinheit und Individualität unmittelbar zu erreichen, dann ist die absolute Freiheit der allgemeine Wille, der versucht, diese Einheit zu erreichen, indem alle Unterschiede, Einschränkungen und Grenzen vernichtet werden. Es geht darum, ein abstraktes Prinzip der Gleichheit und Freiheit ohne Einschränkungen zur Geltung zu bringen, alle gesellschaftlichen Hierarchien, Gewaltenteilung und politische Institutionen zu beseitigen und sich unmittelbar an der Selbstgesetzgebung ohne jede gesetzgebende Organisation zu beteiligen. In der Phänomenologie weist Hegel darauf hin, dass das Grundmodell der Bewusstseinsgestaltung der absoluten Freiheit darin besteht, dass das Bewusstsein seine eigene Gewissheit zum „allgemeinen Subjekt“26 erhebt, anders gesagt, dass „sein wissender Begriff das Wesen aller Wirklichkeit“27 ist, d. h. in der Sicht des Bewusstseins sollen der Gegenstand und die Welt nur das Bewusstsein selbst bestätigen, das Bewusstsein selbst als „absolute Freiheit“ ist gänzlich frei und unabhängig. Die Welt selbst ist nichts anderes als die eigene Gewissheit, dass „Wesen und Wirklichkeit das Wissen der Bewußtseins von sich ist“.28 Hegel sieht absolute Freiheit als „abstraktes Selbstbewusstsein“, und wir wissen, dass das Selbstbewusstsein davon geprägt ist, dass das Bewusstsein nur seine eigene Gewissheit als Wahrheit betrachtet und vollständig zu sich selbst zurückkehrt, um die wahre Natur seiner selbst und des Gegenstandes zu finden. Das bedeutet, dass 23
Phänomenologie des Geistes, S. 280. Phänomenologie des Geistes, S. 281. 25 Phänomenologie des Geistes, S. 278. 26 Phänomenologie des Geistes, S. 432. 27 Phänomenologie des Geistes, S. 432. 28 Phänomenologie des Geistes, S. 432. 24
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absolute Freiheit die Unterschiede, Gegenstände und Besonderheiten vollständig überwinden und das Gegenteil jeder abstrakten Allgemeinheit ausschließen muss: „Das Bewußtsein fängt seine Bewegung nicht an ihm an als an einem Fremden, von dem aus es erst in sich zurückkehrte, sondern der Gegenstand ist ihm das Bewußtsein selbst; der Gegensatz besteht also allein in dem Unterschiede des einzelnen und allgemeinen Bewußtseins; aber das einzelne ist sich unmittelbar selbst dasjenige, was nur den Schein des Gegensatzes hatte, es ist allgemeines Bewußtsein und Willen.“29
Da es keinen wirklichen Gegensatz zwischen Gegenstand und Bewusstsein gibt, ist die absolute Freiheit nicht mehr an eine bestimmte gesellschaftliche und staatliche Ordnung gebunden, und alle Unterschiede und Besonderheiten werden als etwas betrachtet, das überwunden und vermieden werden muss; absolute Freiheit ist daher kein positives Werk, sondern kann nur Tod sein, der durch Terror und ständige Zerstörung herbeigeführt wird. In der Analyse der Rechtsphilosophie analysiert Hegel die Französische Revolution im Rahmen der abstrakten Freiheit erneut. Hegel nennt diese abstrakte Freiheit „schrankenlose Unendlichkeit“, d. h. die Unendlichkeit ist nur noch ein abstraktes und endliches Hinausgehen, so dass die Unendlichkeit in diesem Sinne ein Sollen ist – schlechte Unendlichkeit, die die Endlichkeit nicht wirklich negieren kann: „Diese schlechte Unendlichkeit ist an sich dasselbe, was das perennierende Sollen; sie ist zwar die Negation des Endlichen, aber sie vermag sich nicht in Wahrheit davon zu befreien; dies tritt an ihr selbst wieder hervor als ihr Anderes, weil dies Unendliche nur ist als in Beziehung auf das ihm andere Endliche.“30
Die abstrakte Freiheit bedeutet die Flucht aus allen Bestimmungen und Einschränkungen, eine abstrakte, reine Sich-Selbst-Beziehung und Selbstgewissheit. Diese völlig unbestimmte, leere Freiheit hat sich zu einem „Fanatismus der Zertrümmerung aller bestehenden gesellschaftlichen Ordnung“31 erhoben, gerade weil sie durch die Negation und Zerstörung der von ihr selbst aufgeschlossenen Bestimmungen und Inhalte als einer Schranke ihre eigene Gewissheit erlangen kann. Wie wiederholt gezeigt worden ist,32 liegt auf Hegels Kritik an den Gesetzen des Herzens und der absoluten Freiheit der Schatten Rousseaus. Einerseits ist Rousseau, wie seine Zeitgenossen, vorsichtig mit religiösem Fanatismus; in Émile sagt Rousseau: „[D]er Fanatismus wagt es, es [das Gewissen] nachzuahmen und das Verbrechen in seinem Namen zu diktieren.“33 In Rousseuas Genfer Manuskripten heißt es sogar, wenn der Fanatismus nicht durch Philosophie und Gesetz einge 29
Phänomenologie des Geistes, S. 433–434. Wissenschaft der Logik I, S. 155. 31 Rechtsphilosophie, § 5 Anm., S. 50. 32 Vgl. Michael Pawlik, „Hegels Kritik der Rousseauschen Politischen Philosophie“, in: Der Staat 38/1 (1999), S. 33; Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 2000, S. 152. 33 Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, hrsg., eingeleitet. u. übers. v. Martin Rang, Stuttgart 1980, S. 594. 30
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schränkt werde, werde er die Erde und die Menschheit in eine blutgetränkte Hölle stürzen. Aber zur gleichen Zeit sah Rousseau eine andere Möglichkeit des Fanatismus und verband ihn mit Erhabenheit, und in einer langen Fußnote im Glaubens bekenntnis des savoyischen Vikars schreibt Rousseau, „daß der Fanatismus, obgleich blutrünstig und grausam, dennoch eine große und starke Leidenschaft ist, die des Menschen Herz erhebt, ihn den Tod verachten läßt, ihm eine ungeheure Tatkraft gibt, und den es nur besser zu lenken gilt, um ihm die erhabensten Tugenden abzugewinnen“.34 Rousseau glaubt einerseits, dass die Auswirkungen des Fanatismus tatsächlich bedeutend geringer sind als die der Philosophen der Aufklärung, dass das Christentum die modernen Staaten stärker und stabiler und die Moderne milder gemacht habe und dass der Atheismus der Aufklärung fanatischer sei: „Indem sie alles umwerfen, zerstören und mit Füßen treten, was die Menschen achten, nehmen sie den Leidenden den letzten Trost in ihrem Elend und den Reichen und Mächtigen den einzigen Zügel ihrer Leidenschaften; sie reißen aus dem Grund des Herzens die Gewissensbisse über das Verbrechen und die Hoffnung der Tugend und rühmen sich noch, die Wohltäter des Menschengeschlechts zu sein.“35
Um die Tugend des Bürgers zu bilden, sei ein gewisses Maß an Fanatismus notwendig; dieser Fanatismus könne die Menschen von ihren engen persönlichen Interessen befreien und sie motivieren, aufrichtig für die Sache der Gemeinschaft zu sterben. In den Genfer Manuskripten bemerkt Rousseau, wenn Menschen in eine politische Gesellschaft einträten, werde die Gemeinschaft durch die Religion unterstützt; ohne Religion würde ein Volk nicht lange existieren. Die Religion sei wichtig, um die Bürger zum Gehorsam gegenüber dem Staat anzuhalten; ohne die Überzeugung, dass sie für die Gemeinschaft sterben werden, werden die Bürger ihrer Verantwortung ausweichen, zu Feiglingen werden und den Tod fürchten. Rousseau unterscheidet zwischen la religion de l’homme und celle du citoyen. Letztere Religion der Bürger ist eine griechisch-römische Form der Religion, in der religiöse Zeremonien vom Staat selbst durchgeführt werden, deren Zweck es ist, den Geist der Bürger zu kultivieren, die sich an das Gesetz halten, öffentliche Verpflichtungen übernehmen und sich dem Staat widmen. Die Religion der Bürger kann den patriotischen Fanatismus ihrer Bürger inspirieren, aber gleichzeitig hat sie auch einen ausschließenden, intoleranten und brutalen Charakter; in ihrem Horizont ist es ein heiliger Akt, jeden zu töten, der unseren Gott und unsere Gesetze nicht anerkennt. Es ist erwähnenswert, dass dieser patriotische Fanatismus auch im Mittelpunkt des Streits zwischen Rousseau und Voltaire steht, der im Dict ionnaire philosophique den Begriff Fanatismus aus der Encyclopédie übernimmt, aber den patriotischen Fanatismus ablehnt, den Alexandre Deleyre befürwortet. Voltaire achtet mehr auf die gesellschaftliche Ordnung und Stabilität als Deleyre; Rousseau hingegen glaubt wie Deleyre, dass ein bürgerlich-patriotischer Fanatis 34
Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, hrsg., eingeleitet. u. übers. v. Martin Rang, Stuttgart 1980, S. 636. 35 Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, hrsg., eingeleitet. u. übers. v. Martin Rang, Stuttgart 1980, S. 635–636.
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mus notwendig ist, um die Lebendigkeit und Einheit der politischen Gemeinschaft zu erhalten. Voltaire hoffte, dass das Menschengeschlecht vom gewalttätigen Glaubenskonflikt auf friedlichem Wege befreit würde, während Rousseau befürchtete, dass ein Dogma, das nur noch die Verfolgung von Interessen anerkenne, die Leidenschaft zersetzen und eine Schwächung der Menschheit herbeiführen werde. Hegel wird seit langem vorgeworfen, den Staat zu vergöttlichen. Die Wurzel dieses Vorwurfs liegt in der Auffassung, Hegels philosophischer Plan habe darin bestanden, die Metaphysik wiederherzustellen, die Kant zertrümmert hatte, und als Ergebnis dieses philosophischen Versuchs habe Hegel den modernen liberalen und demokratischen Rechtsstaat abgelehnt, habe in der Rechtsphilosophie den Staat unter Rückgriff auf aristotelische Formulierungen als „absoluten unbewegten Selbstzweck“36 bezeichnet sowie den Begriff des Staates und die Freiheit der Individualität im Sinne der Vertragstheorie der modernen Gesellschaft ausdrücklich abgelehnt. Obwohl heute nur noch wenige Menschen Karl Poppers Vorwürfe unterstützen, besagt die grundlegende Beschreibung von Hegels Rechtsphilosophie, dass er citoyen, Politik und das Ganze klar über bourgeois, Gesellschaft und das Partikulare stellt und dass Hegels politische Philosophie sich dafür einsetzt, die Grenzen des modernen Wirtschaftslebens zu überschreiten und die Vollständigkeit der Politik wiederherzustellen. Laurence Dickey schreibt in diesem Sinne: „[W]e know that Hegel equated the human, the self-conscious, the absolute, the organic, and the substantive with the ‚political‘.“37 Wir glauben, dass der Hegel der Jenaer Zeit weitgehend einem solchen patriotischen Fanatismus im Rousseau-Stil entspricht. In seinem Naturrechtsaufsatz erklärte Hegel, dass die absolute Sittlichkeit ein Volk sei, „das Einssein mit welchem [absolutem Sittlichen] der Einzelne im Negativen, durch die Gefahr des Todes allein, auf eine unzweideutige Art erweist“38 und dass die im Krieg gezeigte Tapferkeit eine absolute Form der Tugend sei. Die absolute Sittlichkeit ordnet das System der politischen Ökonomie und den ihm entsprechenden Stand der Unfreien dem politischen, militärischen, öffentlichen Leben und dem ihm entsprechenden Stand der Freien unter. Für Hegel erlangt nur in diesem Stand der Freien, der nicht auf das Vernichten einzelner Bestimmtheiten, sondern auf den Tod geht39, die absolute Sittlichkeit als das Ganze den „göttliche[n] Selbstgenuß“40, und dem Individuum als Organ der absoluten Sittlichkeit kommt durch Tapferkeit und Tod der Leib und der Geist der absoluten Sittlichkeit zu.41 Im Manuskript System der Sittlichkeit wird Hegels Ideal des bürgerlichen Republikanismus fortgeführt: Natürliche und absolute Sittlichkeit werden streng unterschieden; die natürliche Sittlichkeit werde von der Befriedigung der Bedürfnisse geleitet, die Aufgabe der absoluten Sittlichkeit bestehe hingegen darin, „die Leer 36
Rechtsphilosophie, § 258, S. 399. Laurence Dickey, Hegel: Religion, Economics, and the Politics of Spirit 1770–1807, Cambridge 1987, S. 241. 38 Jenaer Schriften, S. 481. 39 Vgl. Jenaer Schriften, S. 489. 40 Jenaer Schriften, S. 489. 41 Vgl. Jenaer Schriften, S. 490. 37
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heit der Bestimmtheiten“42 eintreten zu lassen; dementsprechend müsse der Stand der relativen Sittlichkeit, der sich der Befriedigung der Bedürfnisse widmet, auch dem militärischen Stand mit seiner Tugend der Tapferkeit untergeordnet werden. Das moderne System der bürgerlichen Gesellschaft „bildet so für sich in einem grossen Volk ein ungeheureres System von Gemeinschafftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit; ein sich bewegendes Leben des Toten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und herbewegt, und als ein wildes Thier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf“.43 Im System der Sittlichkeit erklärt Hegel immer noch in einem Spinoza-Ton: „Die Sittlichkeit muß mit völliger Vernichtung der Besonderheit und relativen Identität, deren das Naturverhältniß allein fähig, absolute Identität der Intelligenz seyn; oder die absolute Identität der Natur muß in die Einheit des absoluten Begriffs aufgenommen, und in der Form dieser Einheit vorhanden sein […]. In der Sittlichkeit ist also das Individuum auf eine ewige Weise; sein empirisches Seyn und Thun ist ein schlechthin allgemeines; denn es ist nicht das individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm.“44
Die relative Sittlichkeit oder die vorpolitischen Lebensformen müssen vollständig in der absoluten Sittlichkeit aufgelöst werden. Selbst in der Philosophie des Geistes des Manuskripts Jenaer System III finden sich – ungeachtet der Veränderungen in Hegels Denken – solche Formulierungen: „Der allgemeine Willen ist der Willen als Aller und Jeder, aber als Willen ist er schlechthin nur dieses Selbst, – das Thun des Allgemeinen ist ein Eins; der allgemeine Willen hat sich in dieses Eins zusammen zu nehmen. – Er hat sich zuerst aus dem Willen der Einzelnen zu constituiren als allgemeiner, so daß jener das Princip und Element scheint, aber umgekehrt ist er das Erste und das Wesen, und die einzelnen haben sich durch Negation ihrer, Entäusserung und Bildung, zu allgemeinen zu machen, er ist früher als sie, er ist absolut da für sie […].“45
Auch in der Randnotiz wiederholt Hegel das aristotelische Diktum: „[D]as Ganze ist der Natur [nach] eher als die Theile.“46 Hegels obige Ideen unterscheiden sich nicht wesentlich von Rousseaus politischem Fanatismus oder klassischem bürgerlichen Republikanismus. Rousseau erklärt in Émile: „Der bürgerliche Mensch ist nur eine Bruchzahl, die von ihrem Nenner abhängig ist und deren Wert in ihrer Beziehung zum Ganzen besteht, das heißt dem gesellschaftlichen Ganzen. Die guten gesellschaftlichen Einrichtungen sind diejenigen, die es am besten verstehen, dem Menschen seine Natur zu nehmen, ihm seine absolute Existenz zu entziehen und ihm dafür eine relative zu geben und das Ich auf die Einheit der Gemeinschaft zu übertragen, so daß jeder einzelne sich nicht mehr als Eines, sondern als Teil der Einheit fühlt, der noch im Ganzen empfindungsfähig ist.“47 42
GW 5, Schriften und Entwürfe (1799–1808), S. 329. GW 6, Jenaer Systementwürfe I, S. 324. 44 GW 5, Schriften und Entwürfe (1799–1808), S. 325. 45 GW 8, Jenaer Systementwürfe III (1805/1806), S. 256–257. 46 GW 8, Jenaer Systementwürfe III (1805/1806), S. 257. 47 Émile, S. 112. 43
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Der Prozess des Eintritts der Bürger in die Gemeinschaft ist ein Prozess der Transformation der Selbstdefinition oder Identität – was bedeutet, dass die menschliche Natur verändert werden muss, wie Ulrich Weiß erläutert: „Entgegen dem Vorurteil, Rousseaus Philosophie des Menschen und der Kultur erschöpfe sich in dem Programm ‚Zurück zur Natur‘, ist die Ursprungsinstanz Natur bei Rousseau prinzipiell ambivalent und problematisch. Natur ist nicht, wie im klassischen Verständnis, Fülle des Seins, volle und ganze, in sich perfekte Wirklichkeit. Sie ist vielmehr Mangelnatur.“48 Das heißt, die Natur selbst ist nicht perfekt, sondern unvollkommen und bedarf der Vollendung oder Vervollständigung. Sowohl Rousseau als auch Hegel zufolge dürfen citoyen und bourgeois nicht gleichgesetzt werden. Beide Denker wollen politische Freiheit auf eine Gemeinschaft gründen; die grundlegendste Selbstidentität einer Person wird durch das öffentliche Leben der Gemeinschaft hergestellt, eine politische Gemeinschaft ist keineswegs eine Konvergenz von Eigeninteressen im Stil von Hobbes oder Locke. Aber nach Hegels Ansicht ist Rousseaus republikanisches Ideal ein wirklicher politischer Fanatismus, weil Rousseaus Ideal des bürgerlichen Republikanismus alle Bereiche von privatem und besonderem Interesse vollständig auflöst. Das System der Bedürfnisse in der modernen Welt scheint Rousseau die Quelle der Heuchelei und des Bösen zu sein, und die Leidenschaft für Eitelkeit und Luxus hält moderne Menschen miteinander in Konkurrenz; die Arbeitsteilung zwingt alle, in Abhängigkeit von anderen zu leben. Daher kann für Rousseau der wirkliche freie Mensch nur ein Bürger im Sinne des klassischen Stadtstaates sein, und die Geschichte des Menschen ist eine Verfallsgeschichte des klassischen göttlichen Stadtstaats. Doch in dieser Verstrickung zwischen citoyen und bourgeois hat Hegel eine andere Richtung eingeschlagen. Im Manuskript System der Sittlichkeit erklärt er: „[I]n der realen absoluten Totalität der Sittlichkeit müssen diese drey Formen derselben ebenso real seyn; jede muß sich für sich selbst organisiren ein Individuum seyn, und Gestalt annehmen.“49 Mit anderen Worten, Hegel hat zunächst die Realität der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt. Im Jenaer Systementwurf III bezeichnet Hegel die Entzweiung der modernen Welt als eine notwendige Spaltung der modernen Wirklichkeit: „Diese Einheit der Individualität und des Allgemeinen ist nun auf die doppelte Weise da – Extreme des Allgemeinen, das selbst Individualität ist, Regierung – ist nicht ein Abstractum -des Staats-, Individualität, welche das Allgemeine als solches zum Zweck hat – und das andre Extrem derselben, welche das Einzelne zum Zweck hat- Beyde Individualitäten als dieselben, – derselbe sorgt für sich und seine Familie, arbeitet, schließt Verträge, u.s.f. und ebenso arbeitet er auch für das Allgemeine, hat dieses zum Zwecke- nach jener Seite heißt er bougeois, nach dieser citoyen.“50
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Ulrich Weiß, „Rousseau zwischen Modernität und Klassizität: Überlegung zur Konstitution des Politischen im ‚contrat social‘“, in: Der Staat 31/1 (1992), S. 13. 49 GW 5, Schriften und Entwürfe (1799–1808), S. 333. 50 GW 8, Jenaer Systementwürfe III (1805/1806), S. 261.
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
Für Rousseau sind die beiden Leben von citoyen und bourgeois unvereinbar; der eine ist frei, der andere ist unfrei. Hegel zufolge verkennt Rousseaus Auffassung offenkundig die komplizierte Wirklichkeit des modernen Lebens. Die moderne Welt kann bei Hegel ein Prozess sein, in dem sich Ideen manifestieren und realisieren können; die bürgerliche Gesellschaft, das System der Bedürfnisse oder der äußere Staat selbst ist ein Moment der Vermittlung der Sittlichkeit selbst. Das Recht, die Besonderheit zu verwirklichen, zählt ebenfalls zu den „unendlichen Rechte[n] der Idee“51, und das System der Arbeitsteilung und der Bedürfnisse als System der Bildung ist trotz der von Rousseau kritisierten Entfremdungsfaktoren auch ein Moment der Befreiung, genau wie Manfred Riedel darauf hinweist, dass in Hegels ursprünglicher politischer Philosophie die kriegerische Praxis, die Bereitschaft zum Tode, die Bereitschaft, im Krieg für das Vaterland zu sterben, einen höheren Rang einnimmt als die Arbeit; die Tapferkeit zielt also nicht auf ein Produkt, so dass sie nicht wie der Stand der Arbeit ein „Versenktsein in die Einzelheit des Seienden“52 ist. In seiner reifen Zeit hingegen betrachtete Hegel die Arbeit als eine Bildungsphase des Bewusstseins – factio perfectio facientis est.53 Der tapfere Herr ohne jegliche Beziehung zu Arbeit und Produkten muss aufgrund des Mangels an solcher ‚Bildung durch Arbeit‘ seine Herrschaft verlieren. So stehen Politik und Sittlichkeit zu Gesellschaft und Wirtschaft nicht in einer völlig gegensätzlichen Beziehung, wie Rousseau es sich vorgestellt hat. Jean-François Kervégan schreibt: „Sans la réalité que la modernité a conférée à l’existence abstraite du bourgeois, l’idée fort ancienne de la citoyenneté demeure elle-même une abstraction.“54 Am Ende, in der Rechtsphilosophie, hat Hegel, obwohl er immer noch glaubte, dass nur in der politischen Gemeinschaft der Mensch die höchste Bestätigung der Freiheit erfahren kann, auch das System der bürgerlichen Gesellschaft, die moderne Welt, in seine Sittlichkeit aufgenommen. Daher zeigt die gesamte Struktur von Hegels Rechtsphilosophie eine der Identität der Identität und der Nichtidentität. Die bürgerliche Gesellschaft als Schlachtfeld privater Interessen, als ein Bereich, in dem die Menschen einander als Mittel betrachten, wird als das Andere des Staates in den Staat aufgenommen, so dass der Staat auch als konkrete Freiheit der Wirklichkeit realisiert wird. Er schließt die Befriedigung besonderer Inte ressen nicht aus. Jeder lebt für sein Eigeninteresse, aber auch für die allgemeine Gemeinschaft. Wenn, wie bei Platon, das Prinzip der subjektiven Freiheit und Besonderheit aus der Polis vertrieben wird, dann fehlt diesem so edlen Ideal ein Widerspruch und eine Teilung; es ist daher überholt und im Wesentlichen begrifflich unzureichend. In seiner Anmerkung zu § 324 der Rechtsphilosophie zitiert Hegel jedoch erneut seine berühmten Sätze aus dem Naturrechtsaufsatz, denen zufolge der Krieg 51
Rechtsphilosophie, § 185 Zusatz, S. 343. Manfred Riedel, Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 30. 53 Manfred Riedel, Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 31. 54 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 175. 52
A. Hegels Kritik am politischen Fanatismus
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„die sittliche Gesundheit der Völker in ihrer Indifferenz gegen die Bestimmtheiten und gegen das Angewöhnen und Festwerden derselben [der endlichen Bestimmtheiten] [ebenso] erhält, als die Bewegung der Winde die Seen vor der Fäulnis bewahrt, in welche sie eine dauernde Stille, wie die Völker ein dauernder oder gar ein ewiger Frieden, versetzen würde.“55
Es scheint also, dass Hegel immer noch an einem patriotischen Fanatismus festhält, was bedeutet, dass angesichts der Idealität der Souveränität alle besondere Existenz des Individuums, „das Interesse und das Recht der Einzelnen als ein verschwindendes Moment gesetzt ist“.56 „Dies Verhältnis und die Anerkennung desselben ist daher ihre substantielle Pflicht – die Pflicht, durch Gefahr und Aufopferung ihres Eigentums und Lebens, ohnehin ihres Meinens und alles dessen, was von selbst in dem Umfange des Lebens begriffen ist, diese substantielle Individualität, die Unabhängigkeit und Souveränität des Staats zu erhalten.“57
Es stimmt, dass Hegel sich gegen die Vermischung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat ausspricht, so dass die Sicherheit der bürgerlichen Gesellschaft gegenüber dem Staat in den Hintergrund treten kann. Wir müssen jedoch sehen, dass sich der Patriotismus, den Hegel damals betonte, deutlich von dem Rousseaus und dem der Jenaer Zeit unterscheidet. Während der Jenaer Zeit beruhte Hegels Patriotismus ganz auf der Tapferkeit des Stands der Freien, so dass die frühen Schriften mit dem gefüllt wurden, was Jean Hypollite „la conception héroïque de la liberté “58 genannt hat. Aber eine solche Idee wurde in der Rechtsphilosophie an den Rand gedrängt, während die Darstellung der absoluten Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz mit einer Darstellung der sittlichen Bedeutung des Krieges beginnt. Noch entscheidender ist, dass nach Hegels Auffassung jede Art von sittlicher Gesinnung von der institutionellen Substanz abhängen muss: Die Liebe muss von der Institution der Familie abhängen und zu einer sittlichen Liebe werden, und die entsprechende politische Gesinnung, der Patriotismus, muss ebenfalls vom Staat, den Einrichtungen der Freiheit abhängen; sie „ist nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen“.59 Patriotismus in diesem Sinne ist eine Gewohnheit, die in „dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse“60 der modernen Bürger etabliert ist und nicht auf dem Schlachtfeld; eine Gewohnheit, die von der modernen freien institutionellen Lebenswelt geprägt ist, die sich ein moderner freier Bürger in Gestalt der freien bürgerlichen Sitte und der Bildung des öffentlichen Geistes angeeignet hat. Ein solcher Patriotismus, so Jean-François Kervégan, sei „une disposition modeste à la concitoyenneté, un civisme paisible dont l’exercise continu vient consolider 55
Jenaer Schriften, S. 481; Rechtsphilosophie, § 324 Anm., S. 493. Rechtsphilosophie, § 324, S. 491. 57 Rechtsphilosophie, § 324, S. 491. 58 Jean Hyppolite, Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel, Paris 1983, S. 94. 59 Rechtsphilosophie, § 268, S. 413. 60 Rechtsphilosophie, § 268 Anm., S. 413. 56
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
le système des institutions politique et l’irriguer de représentations appropriées“.61 Aber die patriotische Tugend, die Rousseau und die Jakobiner propagierten, hat keine solche institutionelle Grundlage. Ohne ein freies politisches und gesellschaftliches System ist diese Tugend nur noch eine Selbstbeziehung und verwandelt sich schließlich in ihr Gegenteil, das Böse. Thomas Petersen weist darauf hin, dass es in der absoluten Freiheit „keine institutionellen Stützen [gibt], welche die Tugend und die Gesinnung der Bürger entlasten oder diese gar hervorbringen könnten“.62 Hegel schreibt in den Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte über die moralische Politik des Rousseau und des Jakobinismus: „Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich. Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche Formen, und ihre Strafe ist ebenso nur einfach – der Tod.“63 Indem sie das geistlose und unvernünftige Ancien Régime stürzte, das Individuum vom Streben nach Nützlichkeit befreite und es zur reinen Freiheit erhob, erzeugte die Französische Revolution einen erhabenen „Enthusiasmus“: „Solange die Sonne am Firmament steht und die Planeten um sie herumkreisen, war das nicht gesehen worden, daß der Mensch sich auf den Kopf, d. i. auf den Gedanken stellt und die Wirklichkeit nach diesem erbaut. Anaxagoras hatte zuerst gesagt, daß der nous die Welt regiert; nun aber erst ist der Mensch dazu gekommen, zu erkennen, daß der Gedanke die geistige Wirklichkeit regieren solle. Es war dieses somit ein herrlicher Sonnenaufgang. Alle denkenden Wesen haben diese Epoche mitgefeiert. Eine erhabene Rührung hat in jener Zeit geherrscht, ein Enthusiasmus des Geistes hat die Welt durchschauert, als sei es zur wirk lichen Versöhnung des Göttlichen mit der Welt nun erst gekommen.“64
Shaftesbury, Hume, Rousseau und Kant unterscheiden alle zwischen Enthusiasmus und Fanatismus, aber nur Hegel erkannte, dass das Wesen des Fanatismus eine abstrakte Begeisterung war. Hegel war sich der Beziehung zwischen der Französischen Revolution und der Philosophie sehr wohl bewusst und er feierte auch die freie Welt, die durch die Französische Revolution geschaffen wurde. Aber für ihn muss der Fanatismus dieser Philosophie nun zu einem wahren Denken der Freiheit erhoben werden, also muss die abstrakte Begeisterung aufgegeben und in eine konkrete Philosophie verwandelt werden: „Man muß sich also nicht dagegen erklären, wenn gesagt wird, daß die Revolution von der Philosophie ihre erste Anregung erhalten habe. Aber diese Philosophie ist nur erst abstraktes Denken, nicht konkretes Begreifen der absoluten Wahrheit, was ein unermeßlicher Unterschied ist.“65
61 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 347. 62 Petersen, Subjektivität und Politik, Frankfurt a. M. 1992, S. 50. 63 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 533. 64 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 529. 65 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 528.
B. Hegels Kritik am religiösen Fanatismus
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B. Hegels Kritik am religiösen Fanatismus Fanatismus ist auch ein wichtiges Thema von Kants Philosophie. In seinem vorkritischen Aufsatz Versuch über die Krankheiten des Kopfes betrachtete Kant einerseits den Fanatismus als Krankheit, als Wahnsinn und Kontrollverlust, der durch ungeordnete Wahnvorstellungen verursacht wird, die beseitigt und verhindert werden müssen, um Schaden von öffentlichen Dienstleistungen abzuwenden. Und andererseits unterscheidet Kant, wie Shaftesbury, zwischen Leidenschaft und Fanatismus. Kant verbindet, wie viele seiner Zeitgenossen, Fanatismus mit Mohammed und dem Islam; aber auch abseits davon bedrohe der Fanatismus wie eine Krankheit, die jederzeit ausbrechen könne, den richtigen Gebrauch der Vernunft: „Dieser zweideutige Anschein von Phantasterei in an sich guten, moralischen Empfindungen ist der Enthusiasmus, und es ist niemals ohne denselben in der Welt etwas Großes ausgerichtet worden. Ganz anders ist es mit dem Fanatiker (Visionär, Schwärmer) bewandt. Dieser ist eigentlich ein Verrückter von einer vermeinten unmittelbaren Eingebung und einer großen Vertraulichkeit mit den Mächten des Himmels. Die menschliche Natur kennt kein gefährlicheres Blendwerk. […] Die Schwärmerei führt den Begeisterten auf das Äußerste, den Mahomet auf den Fürstenthron und den Johann von Leyden aufs Blutgerüst.“66
Wir wissen, dass es in Kants Philosophie vor allem um Grenzen geht: Wie wird die Vernunft geleitet, sich selbstkritisch zu erkennen? Kant bezeichnet jeden Versuch, über die empirische Erfahrung hinauszugehen, um unmittelbaren Zugang zu Gott oder anderem Übersinnlichen zu gewinnen, als Schwärmerei. Aus diesem Grund verbindet Kant den Begriff des Fanatismus mit der Mystik, Spinoza, dem Neoplatonismus und sogar mit Locke, die alle versuchen, über die Sinnlichkeit hinaus die Substanz unmittelbar anzuschauen: „Schwärmerei, welche ein Wahn ist, über alle Gränze der Sinnlichkeit hinaus etwas sehen, d. i. nach Grundsätzen träumen (mit Vernunft rasen), zu wollen.“67 Die Träume eines Geistersehers aus der vorkritischen Zeit können als eine Kritik an diesem Fanatismus angesehen werden, und in der im Jahr 1796 erschienenen Arbeit Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in der Philosophie vergleicht Kant den Arabe mit den Städtern; Ersterer hält sich selbst für vornehm, legt aber in Wirklichkeit eine eitle und faule Haltung an den Tag. Er bemüht sich nicht wirklich um harte philosophische Arbeit des Begriffs, sondern hört nur eifrig auf die innere Inspiration des unmittelbaren Wissens, „bei der man nicht arbeiten, das Orakel in sich selbst anhören und genießen darf“68, und sehnt sich nach „ein[em] Übersprung (salto mortale) von Begriffen zum Undenkbaren“.69 Kant denkt, dass diese Haltung gefährlich ist; sie läuft Gefahr, sich in der schwärmerischen Vision zu verlieren, die zum Tod der Philosophie führen kann. Sie sieht sich als die geheimnisvolle, ausschließliche transzendente Wahrheit, ihr Wahrheitsanspruch ist der edelste und reinste, und sie 66
Kant, AA II, S. 267. Kant, AA V, S. 275. 68 Kant, AA VIII, S. 390. 69 Kant, AA VIII, S. 398. 67
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
behauptet daher, allen überlegen zu sein. In der Kritik der praktischen Vernunft sagt Kant: „Mahomets Paradies, oder die Theosophen und Mystiker schmelzende Vereinigung mit der Gottheit, so wie jedem sein Sinn steht, würden der Vernunft ihre Ungeheuer aufdringen, und es wäre eben so gut, gar keine zu haben, als sie auf solche Weise allen Träumereien preiszugeben.“70 In Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft diskutiert Kant Fanatismus aus der Sicht der Praxis und der Religion. Nach Kants Ansicht ist die wahre Religion ein rein vernünftiges System, und in dieser Hinsicht argumentiert Kant: „[W]enn dieses zutrifft, so wird man sagen können, daß zwischen Vernunft und Schrift nicht bloß Verträglichkeit, sondern auch Einigkeit anzutreffen sei“71 und dass Vernunft und Religion die dieselbe Wahrheit teilen, nämlich die mensch liche Freiheit, die auf der Herrschaft des moralischen Gesetz beruhe: „[D]agegen ist der schwärmerische Religionswahn der moralische Tod der Vernunft, ohne die doch gar keine Religion, als welche wie alle Moralität überhaupt auf Grundsätze gründet werden muß, statt finden kann.“72 Praktische Fanatiker und theoretische Fanatiker missachten die Grenze zwischen Sinnlichkeit und Vernunft, und wenn sie versuchen, die Grenzen der Sinnlichkeit zu überschreiten, sind die praktische Fanatiker eher wie die Hedonisten; einerseits glauben sie fälschlicherweise, dass ihre subjektiven Gefühle aus Gott sind, und lassen sich von einem sinnlichen Gefühl vollständig beherrschen, so dass sie das Handeln ganz aufgegeben haben, was wir mit Kants Diskussion über das Erhabene in der dritten Kritik in Verbindung setzen können. Kant spricht in der dritten Kritik im Zuge der Exposition des Erhabenen über das Ungeheure. Wenn man es bei der gegebenen Anschauung mit dem Schönen und Erhabenen zu tun hat, stimmt die Einbildungskraft mit dem Vermögen der Begriffe des Verstands oder der Vernunft zusammen, aber das Ungeheure bewirkt, dass die Einbildungskraft völlig die Kontrolle verliert und angesichts dieses Ungeheuren in eine völlig irreguläre Situation gerät. „Ungeheuer ist ein Gegenstand, wenn er durch seine Größe den Zweck, der den Begriff desselben ausmacht, vernichtet.“73 Das heißt, im Vergleich zu Gott ist der Mensch absolut klein, so dass der Mensch Gott absolut unangemessen ist; Gott ist zu einem Abgrund geworden, der die Menschen verschlingt. Dann kann das Subjekt nicht durch eine gewisse Subreption unsere eigene Bestimmung, die Idee der Menschheit in unserem Subjekte beweisen. Diese Religion des Ungeheuers ist die völlige Entzweiung zwischen Gott und Mensch; die Menschen haben vor Gott ihre menschliche Würde und Freiheit völlig aufgegeben. In Das Ende aller Dinge sagt Kant, das Ungeheuer, das von den orienta lischen Mystikern, im spinozistischen Pantheismus und im Emanationssystem des Neuplatonismus verehrt werde, sei ein „Abgrund der Gottheit“: 70
Kant, AA V, S. 120–121. Kant, AA VI, S. 12–13. 72 Kant, AA VI, S. 175. 73 Kant, AA V, S. 253. 71
B. Hegels Kritik am religiösen Fanatismus
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„was sie will, nicht versteht, sondern lieber schwärmt, als sich, wie es einem intellctuellen Bewohner einer Sinnenwelt geziemt, innerhalb den Gränzen dieser eingeschränkt zu halten. Daher kommt das Ungeheuer von System des Laokiun von dem höchsten Gut, das im Nichts bestehen soll: d. i. im Bewußtsein, sich in den Abgrund der Gottheit durch das Zusammenfließen mit derselben und also durch Vernichtung seiner Persönlichkeit verschlungen zu fühlen.“74
Wie den theoretischen Fanatismus sieht Kant diesen praktischen religiösen Fanatismus ebenfalls im Islam realisiert. Nach Kants Auffassung besteht die Gemeinsamkeit zwischen der Unendlichkeit der moralischen Idee und dem Gefühl des Erhabenen darin, die Sinnlichkeit völlig zu negieren, um das philosophische Bild vom Menschen von der sinnlichen Neigung zu befreien und die intellektuelle Persönlichkeit darzustellen – eine „bloß negative Darstellung“.75 In diesem Sinne betrachtet Kant das Bildverbot als das erhabenste Gebot der Juden und des Mohammedanismus, das auch die Quelle des Enthusiasmus und Stolzes der beiden Religion sei: „Vielleicht giebt es keine erhabenere Stelle im Gesetzbuche der Juden, als das Gebot: du sollst dir kein Bildniß machen, noch irgend ein Gleichniß, weder dessen, was im Himmel, noch auf der Erden, noch unter der Erden ist u. s. w. Dieses Gebot allein kann den Enthusiasm erklären, den das jüdische Volk in seiner gesitteten Epoche für seine Religion fühlte, wenn es sich mit andern Völkern verglich, oder denjenigen Stolz, den der Mohammedanism einflößt.“76
Judentum und Islam sind die Religion der Erhabenheit. Gott ist bei beiden Religionen ein Absolut-Großes und absolute Gewalt, die über die sinnliche Anschauung hinausgeht. Gott ist einerseits die Gewalt, die auf die Sinnlichkeit und Endlichkeit ausgeübt wird; so lehnt Gott jede Nähe der Gläubigen vollständig ab, Gott und Mensch stehen einander in absoluter Spaltung gegenüber. Andererseits sind die Gläubigen von Gott aufgeregt und begeistert, haben einen unendlichen Enthusiasmus für Gott. Aber Judentum und Islam sind erhabener als das Christentum, das heißt, die Erhabenheit des Judentums und des Islam ist grenzenlos, eine Art Ungeheuer. Nach Kants Ansicht ist im Vergleich zu diesem göttlichen Ungeheuer der Mensch absolut klein. Kant sieht auch eine Spaltung in der Religion der Erhabenheit: Einerseits ist Gott wegen seiner unendlichen Erhabenheit dem Menschen ewig fremd, und die einzige Bedeutung des Menschen als endlichen Wesens ist es, für Gott zu sterben, denn in dieser Angelegenheit scheint der Islam so rein zu sein wie das Christentum; andererseits können die Menschen im Diesseits nur von einem strengen Scharia-Gesetz beherrscht werden, das sich einem sinnlichen Leben hingibt, so dass die Vorstellung des Islam vom Himmel durch und durch erotisch ist und die Verheißung des Himmels völlig geistloses und irrationales Geschlecht ist. Gott kann sich nur durch unvernünftigen Fanatismus 74
Kant, AA VIII, S. 335. Kant, AA VIII, S. 274. 76 Kant, AA V, S. 274. 75
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ausdrücken: „If Islam is anything for Kant, it is the triumph of revelation over reason, of sublimity over accountability, of psychology over theology, of imagination over morality; on the battlefield of Kant’s Islam, reason has had to give ground to the ‚monsters‘ of Mohammed’s fantasies. Just as Schwärmerei is the death of all philosophy, ungrounded, non-rational, unchecked revelation is the death of all (true) religion.“77 In den Vorlesungen über Philosophie der Religion nennt Hegel das Judentum eine „erhabene Religion“. Hegels Aussage stammt direkt von Kant, und das Gleiche gilt für Hegels Aussagen über den Islam. Hegel lobt den Islam für seine „schönste Reinheit und Erhabenheit“.78 Hegel unterscheidet nicht sorgfältig zwischen dem Erhabenen und dem Ungeheuren in Kants Sinne, und Kants Begriff der Erhabenheit war bei Hegel ein Sollen, schlechte Unendlichkeit und abstrakte Allgemeinheit.79 Die Erhabenheit der Religion bedeutet auch, dass die endliche, sinnliche Natur nicht fähig ist, Gott angemessen darzustellen. Im griechischen Heidentum haben die Götter teil an der menschlichen Natur und ihren verschiedenen Tugenden, während im Judentum und Islam alle geistlichen Kräfte im göttlichen Einen konzentriert sind, so dass die Natur nichts, etwas zu Vernichtendes ist: „[B]oth are religions of ‚the one and only‘ that has no positive relation to its creation and for whom his creation has no subsistency. he is the ‚always other‘ for whom all finitude is ‚nothing‘.“80 In dem Manuskript Der Geist des Christentums und sein Schicksal weist Hegel darauf hin, dass der Ursprung der jüdischen Glaubenserfahrung aus einer großen Flut stammte, die die ursprüngliche Harmonie zwischen Mensch und Natur völlig zerstörte, weil der jüdische Gott die Natur als Werkzeug betrachtete und daher die Natur nicht mehr die Göttlichkeit hatte, die ihr die Griechen gegeben hatten. Dies führte zur Entwicklung einer radikal entzweiten religiösen Form des Geistes im Judentum. Zweitens bedeutet die Religion der Erhabenheit (d. h. das Judentum und der Islam), dass Gott absolute Macht hat und die endliche Welt vollständig durch Gottes Macht geschaffen ist und keine Unabhängigkeit hat. Für die erhabene Religion ist nur dieser einzige Gott heilig und Gottes Subjektivität als reines Denken hat keine wahrnehmbare Äußerlichkeit. Die Welt wird als die Schöpfung Gottes betrachtet, aber sie ist absolut außerhalb Gottes; Gott und die Welt sind immer in einer negativen Beziehung. Die Welt als Schöpfung ist nur als eine Akzidenz mit Gott verbunden, und in dieser Hinsicht ist die Schöpfung nicht Gottes wahre Selbstdarstellung. Mit anderen Worten: Der Islam hat die Welt vollständig in Gott zurückgezogen. Wie Hegel in Enzyklopädie hervorhebt, glauben die Eleaten, Spinoza und der Islam gleichermaßen, dass nur Gott als dem Einen Wahrheit zukommt. Als Monotheismus ist diese Religion also ein Akosmismus, 77
Ian Almond, History of Islam in German Thought, New York / London 2010, S. 36. Enzyklopädie III, § 573 Anm., S. 386. 79 Vgl. Wissenschaft der Logik. 80 Gerit Steunebrink, „A Religion after Christianity? Hegel’s Interpretation of Islam between Judaism and Christianity“, in: Hegel’s Philosophy of Historical Religions, hg. v. Bart Labuschagne und Tiomo Slootweg, Leiden / London 2012, S. 214. 78
B. Hegels Kritik am religiösen Fanatismus
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d. h. das Andere ist noch nicht wirklich gesetzt. In den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte erklärt Hegel diesen Akosmismus so: „Die Verehrung des Einen ist der einzige Endzweck des Mohammedanismus, und die Subjektivität hat nur diese Verehrung als Inhalt der Tätigkeit, sowie die Absicht, dem Einen die Weltlichkeit zu unterwerfen. Dieser Eine hat nun zwar die Bestimmung des Geistes, doch weil die Subjektivität sich in den Gegenstand aufgehen läßt, fällt aus diesem Einen alle konkrete Bestimmung fort, und sie selbst wird weder für sich geistig frei, noch ist ihr Gegenstand selber konkret.“81
Klaus Vieweg schreibt: „Falls jedoch in dieser Indifferenz, Ununterschiedenheit, Ungeteiltheit das Ausschließliche der Freiheit bestehen soll, so haben wir eine Substantialität ohne Subjektivität, eine Positivität ohne immanente Negativität, ein Göttliches ohne die Ur- Teilung, ein bewegungsloses, nicht-wollendes und nichttätiges Absolutes. In solcherart Freiheit des Verstandes, der Freiheit der Leere liege der Grund für jeglichen Fanatismus und Fundamentalismus.“82 In der Philosophie der Geschichte und der Philosophie der Religion betrachtet Hegel den Islam als ein typisches Beispiel dieses Fanatismus, und der Gott des Islam repräsentiert diesen abstrakten Begriff des Absoluten. In den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte nennt Hegel den Islam „die Revolution des Orients“.83 Hegel hat die in der Französischen Revolution zum Ausdruck gebrachte Bewusstseinsgestalt
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Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, S. 429. Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 61. 83 Die Philosophen der Aufklärung sahen Fanatismus auf unterschiedliche Weise, und sie sahen die Zeichen des Fanatismus im Islam. In dem Essay „Of he Standard of Taste“ prangerte Hume den Koran als „wild and absurd“ an, und seiner Ansicht nach lobten die Propheten des Islam „instances of treachery, inhumanity, cruelty, revenge. Bigotry, as are such untterly incompatible with civilized society. No steady rule of right seems there to be attended to; and every action is blamed or praised, so far only as it is beneficial or hurtful to the true believers.“ Im selben Artikel wies Hume auch darauf hin, dass Katholizismus wie auch Islam verwerf liche Formen religiöser Bigotterie seien; wie die meisten seiner Zeitgenossen betrachtete Hume den Islam als eine „false religion“, die religiösen Fanatismus predige. Und in Le Fanatisme ou Mahomet le Prophète von 1745 porträtiert Voltaire den Propheten Mohammed als einen finsteren Bösewicht, der die Kindlichkeit seines eigenen Volkes nutzt, um Aberglauben und Fanatismus zu verbreiten. Obwohl Voltaire eher darauf abzielt, mithilfe des Islam den Katholizismus oder Religion überhaupt zu ironisieren, ist die Verwendung Mohammeds bei der Verschleierung dieser Absicht auch ein Zeichen dafür, dass der Islam nach seiner Vorstellung immer eine fanatische Religion ist, die auf Täuschung und gewaltsamer Eroberung beruhte, und daher niedriger als der Konfuzianismus, der nicht auf Offenbarung, Lügen und Gewalt beruht. Nach Voltaires Ansicht basiert der Konfuzianismus auf der Vernunft und nur auf der Vernunft. Später hatte Voltaire eine positivere Einschätzung des Islam, und in Essai sur les mœurs et l’esprit des nations begann Voltaire Mohammed von der späteren Entwicklung des Islam zu unterscheiden, und obwohl er Mohammed immer noch als Sprecher des Bösen sah, glaubte er, dass sich der Islam als Ganzes im Vergleich zum Christentum langsam in Richtung Toleranz bewegt habe: Jesus war gut, das Christentum hat sich zu einer Religion der Intoleranz entwickelt, und Mohammed ist ein Prophet des Bösen, aber der Islam wird toleranter. Die einzige Ausnahme scheint Rousseau zu sein, der dem Islam freundlicher gesonnen zu sein scheint als seine Zeitgenossen. 82
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immer mit dem Islam verknüpft, der, wie Alberto Toscano betont, das Äquivalent der Französischen Revolution als ein europäisches geschichtliches und politisches Phänomen des Geistes ist.84 Hegel erläutert in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion von 1824: „In der mohammedanischen Lehre ist bloß die Furcht Gottes; Gott ist zu verehren, der Eine; in dieser Abstraktion ist stehenzubleiben; deshalb ist die mohammedanische Religion Formalismus, der vollkommene Formalismus, der nichts gegen sich gestalten läßt. Oder in der Französischen Revolution ist die Freiheit und Gleichheit ausgesprochen, so daß alles Geistige, Gesetze, Talente, Lebensverhältnisse vor diesem Abstraktum verschwinden mußten, so daß die Ordnung, die Verfassung, von anderwärts kommen mußte, mit Gewalt gegen diese Abstraktion auftreten; denn die, welche sie festhalten, können nicht zugeben, daß ein Bestimmtes aufkomme, da es Besonderung, Unterschied, gegen dies Abstraktum ist.“85
Die deutsche Theorie der Französischen Revolution war genau diese Art von Reflexionsphilosophie. Daher sagte Hegel in seinen Vorlesungen über Philosophie der Religion im Jahr 1827, dass es eine Ähnlichkeit zwischen Reflexionsphilo sophie, Aufklärung und Islam gebe: „Die Reflexion, die wir gesehen haben, steht mit der mohammedanischen Religion auf einer Stufe, daß Gott keinen Inhalt habe, nicht konkret sei.“86 Hegel erläutert: „Nämlich das, was als das Wahre gilt, ist die leere Einheit, ein Anderes gegen das Erkennen. Dies Leere ist eine Negation gegen das Subjekt, welches sich als konkret weiß. […] Die weitere Konsequenz ist, daß nicht nur die Objektivität Gottes so jenseits ist, so negiert ist, sondern daß alle anderen objektiven Bestimmungen, alle an und für sich geltenden Bestimmungen für sich verschwinden, welche in der Welt als Recht, sittlich usf. gesetzt werden. Indem das Subjekt sich auf die Spitze seiner Unendlichkeit zurückzieht, so ist das Gute, Rechte usf. nur in ihm enthalten; es macht dies alles zu seiner subjektiven Bestimmung, es ist sein Gedanke. Die Erfüllung dieses Guten wird dann aus der natürlichen Willkür, Zufälligkeit, Leidenschaft usf. genommen. Dies Subjekt ist dann das Bewußtsein, daß die Objektivität in ihm selbst eingeschlossen ist, und hat das Bewußtsein, daß diese kein Bestehen hat; es ist nur das Prinzip der Identität, was ihm gilt; dies Subjekt ist das abstrakte, es kann erfüllt werden mit was für Inhalt es sei, es hat die Fähigkeit, jeden Inhalt, der dem Menschen so ins Herz gepflanzt ist, zu subsumieren.“87
Im Islam gilt, „daß die Subjektivität […] nicht für sich ist, daher sich nicht affirmative Partikularität erteilt, sondern die Bestimmung hat, sich in die Einheit Gottes, des Unendlichen, zu versenken. Das Subjekt hat so keinen partikulären Zweck, keinen absoluten Zweck, nur sich 84
Alberto Toscano, Fanaticism: on the Uses of an Idea, London / New York 2010, S. 151. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3, Die vollendete Religion, in Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1984, S. 149. 86 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3, Die vollendete Religion, in Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1984, S. 173. 87 Ebd., S. 171. 85
B. Hegels Kritik am religiösen Fanatismus
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zu wollen für dies eine, nur für dies zu sein, nur sich zum Zwecke zu machen die Ehre des einen Gottes. Diese andere Form ist Religion; es ist darin ein affirmatives Verhältnis zu seinem Wesen, welches dieser Eine ist; das Subjekt gibt sich darin auf.“88
In dieser Hinsicht wendet die Reflexionsphilosophie alles zum Subjekt zurück, während der Islam alles an Gott zurückgibt, was letztlich dazu führt, dass die konkrete objektive Wirklichkeit der Sittlichkeit entleert wird. So hat Hegel die islamische Religion „die Religion der Aufklärung, der Reflexion, des abstrakten Denkens“89 genannt. Oder wie Heinrich Heine es in Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland ausdrückte: „Wenn aber Immanuel Kant, dieser große Zerstörer im Reiche der Gedanken, an Terrorismus den Maximilian Robespierre übertraf […]“.90 Im Islam, der die Religion der Erhabenheit ist, sind Angst, Gehorsam und sogar das Sterben des Menschen für Gott die primäre Pflicht der Gläubigen: „[D]as höchste Verdienst aber ist, für den Glauben zu sterben, und wer in der Schlacht dafür umkommt, ist des Paradieses gewiss. Im Kampf zu sterben ist der Himmel.“91 Kant hebt in seiner Interpretation des Gefühls des Erhabenen hervor, durch die Negation der endlichen Sinnlichkeit habe das Gefühl des Erhabenen die Idee Gottes inspiriert, und Hegel weist ebenfalls darauf hin, dass Gottesfurcht nicht zu einem absoluten Gefühl der Abhängigkeit führt, sondern Enthusiasmus weckt: „[…] welche [Revolution des Orients] alle Partikularität und Abhängigkeit zerschlug und das Gemüt vollkommen aufklärte und reinigte, indem sie nur den abstrakt Einen zum absoluten Gegenstande und ebenso das reine subjektive Bewußtsein, das Wissen nur dieses Einen zum einzigen Zwecke der Wirklichkeit – das Verhältnislose zum Verhältnis der Existenz – machte.“92
Wie Selbstbewusstsein die Anerkennung von Anderen und die Bestätigung ihrer Gewissheit durch die absolute Negativität erfordert, so gilt es auch die Gottesfurcht als absolute Negativität den Enthusiasmus für Gott zu bestätigen: „Diese Furcht des Herrn ist das Gegenteil vom Bewußtsein meiner Macht, das Gegenteil vom Bewußtsein; es verschwindet darin das Bewußtsein aller eigenen Kraft, alles besondere Interesse; es wird aufgegeben in dieser Furcht des Herrn alles, was der irdischen Natur angehört, alles, was vergänglich, was zufällig ist. Es ist so die absolute Negativität; es ist die Erhebung in den reinen Gedanken, der alles andere aufgibt, nur diesen reinen Gedanken vor sich hat, dies Freie bleibt, nur dieses will. Diese Furcht des Herrn, heißt es dann, ist der Weisheit Anfang […]. Die Furcht des Herrn ist diese absolute Negativität, die das eine wesentliche Moment der Freiheit ist; es ist nicht diese schlechte Furcht, die für etwas fürchtet; es ist die 88
Ebd. G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3, Die vollendete Religion, in Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1984, S. 173. 90 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, in: ders., Sämtliche Werke, Bd. 5, Über Deutschland. Erster Theil, Hamburg 1868, S. 188. 91 Vorlesungen über Philosophie der Geschichte, S. 430. 92 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 428–429. 89
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus Furcht, die alles schwinden läßt, alles aufgibt. Es ist die Anschauung der reinen absoluten Macht, die absolute Abstraktion von allem Besonderen, das Aufgeben alles Besonderen.“93
Hegel glaubt daher, dass dieses Gefühl der Abhängigkeit keineswegs die Art von Abhängigkeit von Gott ist, von der Schleiermacher spricht, sondern: „Sie ist damit gar nicht das, was man ‚Gefühl der Abhängigkeit‘ usf. nennt. Im Gegenteil, diese Furcht des Herrn hebt alle Abhängigkeit auf. Der Mensch ist vom Besonderen abhängig; der freie Mensch ist frei von aller Abhängigkeit; die Furcht des Herrn ist so die Befreiung von allen besonderen Interessen. Wenn ausgesprochen wird, daß die Seligkeit der Zweck des Individuums sei, so ist dies sich zum Zweck Setzen, dies ist damit nicht Abhängigkeit, sondern das ist dies Befreitsein, die Befreiung von aller Abhängigkeit. Die Furcht des Herrn ist diese Negation der eigenen Negativität, das Aufheben aller Abhängigkeit. Aus dieser und in dieser Furcht des Herrn entspringt dann das Affirmative; eben diese unendliche, in sich zurückgehende Negativität ist die reine Affirmation.“94
Nach Hegels Ansicht ist der Islam nicht auf „ein besonderes Volk“ beschränkt; der Islam hat also nicht die Art von Besonderheit, wie sie das Judentum hat; vielmehr ist der Islam auf der gleichen Ebene wie das Christentum: „[E]s ist hier keine Beschränkung auf ein besonderes Volk, der Mensch verhält sich als reines abstraktes Selbstbewußtsein zu diesem Einen. Es ist die Bestimmung der mohammedanischen Religion. An ihr hat das Christentum seinen Gegensatz, weil sie auf gleicher Sphäre mit der christlichen Religion steht. Sie ist auch geistige Religion, wie die jüdische, aber nur im abstrakten wissenden Geiste ist dieser Gott für das Selbstbewußtsein und steht mit dem christlichen Gott insofern auf einer Stufe, daß keine Partikularität beibehalten ist. Unter allem Volke, wer Gott fürchtet, ist ihm angenehm, und der Mensch hat nur insofern Wert, als er seine Wahrheit setzt in das Wissen, daß dies der Eine, das Wesen sei. Der Unterschied des Subjekts von Stand, Rang usf. ist da aufgehoben; es kann ein Rang, es können Sklaven sein – dies ist aber nur als akzidentell.“95
Hegel weist dann aber auf den größten Unterschied zwischen Christentum (oder, nach Hegels Verständnis: der germanischen Welt) und dem Islam hin: „Der Gegensatz ist dieser, daß im Christentum die Geistigkeit konkret in sich entwickelt ist als Dreieinigkeit, als Geist gewußt wird, und daß die Geschichte des Menschen, das Verhältnis zu dem Einen, ebenso eine konkrete Geschichte ist.“96 So wie die Französische Revolution es versäumte, der Freiheit konkrete wirkliche Bedingungen zu geben, indem sie ihre abstrakten und leeren Forderungen der Freiheit aufrechterhielt, und ihr Enthusiasmus schnell zu revolutionärem Terrorismus und Fanatismus verfiel, verwandelte sich der Enthusiasmus des Islam schnell in Fanatismus, und zwar aus dem gleichen Grund: 93
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 2, Die bestimmte Religion, in Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1985, S. 344. 94 Ebd. 95 G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3, Die vollendete Religion, in Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1984, S. 172. 96 Ebd.
C. Die Überwindung des Fanatismus: die konkrete Freiheit
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„[…] aber der mohammedanische war zugleich aller Erhabenheit fähig, und diese Erhabenheit ist frei von allen kleinlichen Interessen und mit allen Tugenden der Großmut und Tapferkeit verbunden. La religion et la terreur war hier das Prinzip, wie bei Robespierre la liberté et la terreur.“97
Nach Hegels Ansicht waren die Französische Revolution und der Islam gleichermaßen von einem abstrakten Prinzip beherrscht: „Die Abstraktion beherrschte die Mohammedaner: ihr Ziel war, den abstrakten Dienst geltend zu machen, und danach haben sie mit der größten Begeisterung gestrebt. Diese Begeisterung war Fanatismus, d. i. eine Begeisterung für ein Abstraktes, für einen abstrakten Gedanken, der negierend sich zum Bestehenden verhält. Der Fanatismus ist wesentlich nur dadurch, daß er verwüstend, zerstörend gegen das Konkrete sich verhält.“98
Der Gott des Islam ist ein vollkommen erhabenes Anderes, so rein, dass er zu einer abstrakten Allgemeinheit wird, die nicht in der Welt liegt und somit dem Willen des Menschen äußerlich Befehle erteilt, was nach Hegels Ansicht ebenfalls ein Aspekt der Unfreiheit des Islam ist. Kants Ungeheuer, die schrankenlose Unendlichkeit abstrakter Freiheit und das Eine des Islam sind allesamt dasselbe.
C. Die Überwindung des Fanatismus: die konkrete Freiheit Hegels negative Definition des Begriffs des Fanatismus deutet auf eine positive Überwindung des Fanatismus hin. Hegel erklärt, dass die Dreieinigkeit im Christentum konkret sei, denn „das absolute Wesen, welches als ein wirkliches Selbstbewußtsein da ist, scheint von seiner ewigen Einfachheit herabgestiegen zu sein, aber in der Tat hat es damit erst sein höchstes Wesen erreicht“.99 In der Beziehung zwischen Mensch und Gott ist Gott einerseits nicht mehr ein ewiges Jenseits, nicht mehr nur ein Sollen, und der Mensch ist nicht mehr nur ein moralisches Sein. Der Mensch muss dann das Göttliche erkennen und daran teilnehmen; indem er seine eigene Einfachheit aufgibt, also im Tod Gottes, hat Gott seine Liebe zum Menschen, seine Göttlichkeit und Menschlichkeit gezeigt: „Indeed, it is the point at which he reveals that divinity consists not in superhuman majesty and power, but in living a finite human life of love. In Christ, therefore, we see that human ‚frailty‘ (Gebrechlichkeit) does not cut us off from God, as Adam and Eve feared, but is precisely what enables us to manifest divine love most fully.“100 Das Absolute geht über Heteronomie und das Bedingte hinaus, aber als Substanz an und für sich muss es auch mit der begrenzten Welt identisch sein: Die Besonderheit und 97
Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 431. Ebd. 99 Phänomenologie des Geistes, S. 533. 100 Stephen Houlgate, „Religion, Morality and Forgiveness in Hegel’s Philosophy“, in: Philosophy und Religion in German Idealism, hg. v. William Desmond, Ernst-Otto Onnasch und Paul Cruysberghs, S. 93. 98
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
das Andere werden im Prozess der Selbstbeziehung und der Selbsterkenntnis zur konkreten Allgemeinheit erhoben. Das Absolute ist in erster Linie als das Trans zendente, dann wird es als das innerliche Transzendente eigentlich wirklich, so dass der abstrakte Gegensatz zwischen Innerlichkeit und Transzendenz überwunden wird. Michael Theunissen schreibt: „Das Substanz-Akzidens-Verhältnis erscheint als das strikte Gegenteil einer dialogischen Beziehung gleichrangiger Partner. Um so interessanter ist, daß Hegel die Teilnahme des Produkts am Produzieren hier gerade gegen die Ungleichheitsrelation von Herr und Knecht ins Feld führt. Sie allein und kein anderes Verhältnis erlaubt die Freiheit des Menschen von Herrschaft.“101
Wir haben in Hegels Vergleich von Reflexionsphilosophie und Islam gesehen, dass Hegels Absicht nicht darin bestand, das Subjekt auf die Substanz oder die Substanz auf das Subjekt zu reduzieren, sondern das Jenseits der Beziehung zwischen den beiden zu beseitigen. Die Wurzel der abstrakten Freiheit und des Fanatismus ist das Jenseits des Subjekts und der Substanz. Nach Hegels Ansicht kann sich die Philosophie der Reflexion nur selbst erfassen, so dass das Absolute sich selbst nur ein Jenseits vorspiegelt, das ewig nicht zu erreichen ist, einen bloßen Gegenstand des Glaubens, eine Leere und Abstraktion ohne innere Negativität. Durch das Jenseits des Absoluten ist auch die menschliche Welt selbst zu einer Art Meinung und bedeutungsloser Akkumulation geworden. Reflexionsphilosophie kann sich nur selbst erfassen; ihre Vernunft liegt nur in der Wirksamkeit eines Subjekts, die Welt selbst spielt keine Rolle. Die Vernunft der Welt wird durch das Subjekt konstruiert: Das Subjekt ordnet die chaotische Mannigfaltigkeit der Welt zu einem geordneten Ganzen, daher ist das praktische Leben der modernen Welt voll von allerlei fanatischen Ideen, mit denen versucht wird, eine subjektive Vernunft äußerlich in die Welt zu treiben und das Gesetz des Herzens als die Notwendigkeit der Welt zu sehen. Die Welt hat keine objektive Geltung, sondern muss meinem Urteil, meinen Überzeugungen gehorchen. Hegel geht nicht ins andere Extrem des Dualismus. Er versucht nicht, den Gegenstand der Übersinnlichkeit zu erkennen; seiner Ansicht nach ist die Unendlichkeit, die sich von der Endlichkeit ablöst, eine schrankenlose Unendlichkeit, und wenn sie nicht auch endlich ist, ist eine solche Allgemeinheit nur abstrakte Allgemeinheit. Hegels Ziel ist die wahre Unendlichkeit; diese Unendlichkeit liegt in der endlichen Welt, und die Welt präsentiert sich als ein vernünftiger Gesamtprozess. Der Begriff selbst zeigt sich als ein konkreter Prozess, der Unterschiede enthält. Das Ganze des Seins zeigt sich daher als ein konkretes Ganzes, in dem Denken und Sein, Form und Inhalt vereint sind. Hegel hat in der Phänomenologie betont: „Das Werk, zu welchem die sich Bewußtsein gebende Freiheit sich machen könnte, würde darin bestehen, daß sie als allgemeine Substanz sich zum Gegenstande und bleibenden Sein machte.“102 Wenn 101 Micheal Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, S. 20. 102 Phänomenologie des Geistes, S. 434.
C. Die Überwindung des Fanatismus: die konkrete Freiheit
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die absolute Freiheit der abstrakten Negativität entkommen soll, muss sie sich einschränken, muss sie ihre eigene Freiheit in dieser Welt verwirklichen, die Freiheit der Wirklichkeit, die konkrete Freiheit in dieser Welt erlangen. Und die konkrete Freiheit liegt in der Freiheit, die durch die Institutionen erreicht wird. Hegel erklärt in der Enzyklopädie, es sei „für den höchsten Endzweck der Wissenschaft anzusehen […], durch die Erkenntnis dieser Übereinstimmung die Versöhnung der selbstbewußten Vernunft mit der seienden Vernunft, mit der Wirklichkeit hervorzubringen“.103 Hegel versucht zu beweisen, dass die Welt, die Wirklichkeit nicht von Gott verlassen worden ist, sondern von der Idee durchdrungen ist. Die Idee kann nicht nur ein leeres Sollen sein und eine subjektive Vorstellung, denn eine solche kann sich in der Welt nicht verwirklichen: „Diese [die philosophische Wissenschaft] hat es nur mit der Idee zu tun, welche nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein, und damit mit einer Wirklichkeit, an welcher jene Gegenstände, Einrichtungen, Zustände usf. nur die oberflächliche Außenseite sind.“104 Als Ergebnis besteht das Ziel der Rechtsphilosophie oder philosophischen Rechtswissenschaft darin, zu erforschen, wie die Idee eine freie Welt für sich selbst, eine vernünftige institutionelle Lebensform für sich selbst schaffen kann. Der Prozess der Gestaltung der Welt durch die Idee, der Prozess der Teilnahme der Idee an der Wirklichkeit ist zugleich der Prozess der Selbstverwirklichung der Idee: „Ihr [der philosophischen Rechtswissenschaft] methodischer Neuansatz besteht jedoch darin, daß sie aus einem normativen Rechtsprinzip kein System übergeschichtlicher Rechtsnormen ableitet, sondern den Weg zur Idee als dialektisch-widersprüchlichen Gang der geschichtlichen Gestaltung von Institutionen und diesen Umweg als notwendige Erkenntnisbedingung der Dialektik des logischen Begriffs selbst begreift.“105 Die endliche Welt, besonders die vom objektiven Geist beschriebene Welt, ist für Hegel „in der Form der Realität als einer von ihm hervorzubringenden und hervorgebrachten Welt, in welcher die Freiheit als vorhandene Notwendigkeit ist“.106 Auf der einen Seite schafft das Subjekt verschiedene Institutionen, um sein eigenes Eigentum, Gefühl und Gemeinschaftsbedürfnis zu gewährleisten und zu erfüllen; diese Institutionen selbst sind dem Subjekt nicht fremd, das Subjekt betont mit diesen Institutionen seine eigenen besonderen Rechte. Auf der anderen Seite sind diese Institutionen selbst die vorhandene Vernunft; die Vernunft ist also in der Welt und die Institutionen sind die Bedingungen, unter denen das Subjekt seine Freiheit betätigen kann. Das Subjekt nimmt nur an der Praxis dieser Institutionen teil, nur im Netzwerk dieses Systems kann seinem Handeln Vernunft und Bedeutung gegeben werden. Diese Institutionen sind zugleich eng verbunden mit dem Prozess der Bildung von Subjekten, indem sie die menschliche Natur und zufällige Neigung in geistige und sittliche Beziehungen erheben, d. h. durch die Institutionen wird ein lebendiges 103
Enzyklopädie I, § 6, S. 47. Enzyklopädie I, § 6 Anm., S. 49. 105 Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 42. 106 Enzyklopädie III, § 385, S. 32. 104
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
Subjekt von der Gesellschaft konstruiert. Die Wirklichkeit ist nicht beschämend, sondern wird durch die Vernunft vermittelt; sie ist die Manifestation der Vernunft, und die wahre Freiheit liegt in der Freiheit der Welt: „Der göttliche Geist muß das Weltliche immanent durchdringen, so ist die Weisheit konkret darin und seine Berechtigung an ihm selbst bestimmt.“107 Die Überwindung des Fanatismus besteht darin, die Begeisterung für die Ab straktion in wirkliche Institutionen der Freiheit zu verwandeln. Das Dasein der Freiheit ist nicht eine Einschränkung der Freiheit, sondern gerade ein notwendiger Moment und der Prozess der Bildung der Freiheit. Die wahre Freiheit ist nicht mit der abstrakten Gesinnung verbunden; solange diese Gesinnung bloß subjektive Gesinnung bleibt und nicht zur Institution vertieft wird, ist sie ein Fanatismus: „Theils ist also die Gesinnung das Unthätige, Unwirkliche, so lange sie in der Form der Gesinnung bleibt (Politische Quäker) Wird sie thätig und bleibt das Abstrakte, so wird sie Willkür. – (Fanatismus der französischen Revolution)“108
Aber durch die Erkenntnis und den Willen der Vernunft nimmt jeder Einzelne selbständig an allgemeinen Institutionen der Freiheit teil und bildet sich auch zu einem vernünftigen Selbst, lebt ein freies und vernünftiges Leben, und die Wurzel des Fanatismus, die Begeisterung für die Abstraktion, liegt in der Jenseitigkeit Gottes: „Indem der Verstand das Unendliche nur als Negatives und damit als ein Jenseits faßt, meint er dem Unendlichen um so mehr Ehre anzutun, je mehr er es von sich weg in die Weite hinausschiebt und als ein Fremdes von sich entfernt. Im freien Willen hat das wahrhaft Unendliche Wirklichkeit und Gegenwart, – er selbst ist diese in sich gegenwärtige Idee.“109
D. Staat, Religion und öffentliche Meinung In Hegels reifem philosophischem System betrachtete er die Philosophie als einen begrifflichen Ausdruck der Wahrheit. An diesem Punkt teilt alles Philosophieren die gleiche Vernunft, und folglich ist das, was das Philosophieren denkt und präsentiert, ein und dieselbe philosophische Wissenschaft. Meinung hingegen ist eine Besonderheit; sie muss aus dem Bereich der Wissenschaft völlig ausgeschlossen werden, so dass Hegel Wissenschaft und öffentliche Meinung als disjunkte, voneinander getrennte Bereiche kennzeichnet. Der Bereich der Wissenschaft lässt keine Äußerung privater Meinung zu. Das wissenschaftliche Feld schließt allerdings die Religion ebenfalls nicht ein. Hegel hat Religion immer als eine Vorstellung der Wahrheit verstanden, aber Religion hat gleichwohl nicht die Macht, sich in die Wissenschaft einzumischen. In Form einer langen Fußnote über Galilei beklagte sich Hegel vehement über solche Einmischung der Kirche in die 107
Enzyklopädie III, § 552, S. 359. Hom, S. 327. 109 Rechtsphilosophie, § 22 Anm., S. 74. 108
D. Staat, Religion und öffentliche Meinung
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Wissenschaft. Wenn der Bereich der Wissenschaft eine Art Republik des Geistes ist und die Religion in das säkulare Leben eintreten muss, müssen die Gläubigen innerhalb des Staates religiöse Rituale in der Gemeinschaft der Gläubigen praktizieren, um die gleichen religiösen Ansichten zu bewahren, und sogar ein homogenes religiöses Leben führen; aber als religiöse Sekte müssen sie sich zugleich dem Problem stellen, mit anderen in einem Staat zusammenzuleben: „Sie muß nun allerdings ihre Stelle im Staat haben und ihre Tempel, sie muß eine Kirche sein. Sie ist eine wesentliche Weise des Geistes. Die Religion bedarf unmittelbar auch einer Äußerung, sie hat einen Kultus, eine Lehre u. dgl. Es müssen Arbeiten abgebrochen werden, die sich auf das andere bürgerliche Leben beziehen.“110
Das religiöse Gewissen der Gläubigen, ihre eigenen Ansichten und die entsprechende Lebensweise nehmen Einfluss auf die öffentliche Meinung und werden ein Teil von ihr: „Hinwiederum ist die Lehre der Kirche nicht bloß ein Inneres des Gewissens, sondern als Lehre vielmehr Äußerung, und Äußerung zugleich über einen Inhalt, der mit den sittlichen Grundsätzen und Staatsgesetzen aufs innigste zusammenhangt oder sie unmittelbar selbst betrifft.“111 Die Gläubigen können nicht vollständig in ihrem eigenen inneren Zustand bleiben, und ihre Prinzipien müssen mit dem Prinzip der allgemeinen Wirklichkeit des Staates in Einklang gebracht werden. In seinen theologischen Jugendschriften lehnte Hegel die Privatreligion im modernen Sinne ab, wollte aber stattdessen eine öffentliche Religion wiederherstellen, die mit der Polis als ganzer verbunden ist. In der Praxis der öffentlichen Religion kommen der Geist und die Freiheit eines Volks zum Ausdruck, und diese öffentliche Religion ist grundsätzlich in die politische Praxis des Stadtstaates integriert. Im reifen Hegelschen System wurde der Gedanke einer solchen von der Tradition geerbten religiösen Praxis aufgegeben, auch wenn Religion immer noch eine höhere Stellung einnahm. Hegel argumentiert, dass in der Öffentlichkeit des modernen Staates die Religion als Subjektivität respektiert werden muss; das religiöse Gewissen „steht in dem Rechte der subjektiven Freiheit des Selbstbewußtseins – der Sphäre der Innerlichkeit“112, so dass die freie Meinungsäußerung des religiösen Glaubens, die es jedem erlaubt, das religiöse Leben zu führen, das er oder sie wünscht, auch Ausdruck der Stärke und Tiefe des modernen Staates ist. In der öffentlichen Meinung werden selbst religiöse Diskurse, Lebensweisen und sogar religiöse Konfessionen, die sich weigern, den Verpflichtungen des Staates nachzukommen, wie die Quäker und Wiedertäufer, aufgrund des Selbstvertrauens des Prinzips des Staates geduldet – Hegel teilt diese Auffassung, auch wenn er der Meinung ist, dass es keinen Rechtsanspruch auf diese Toleranz geben kann.113 110
Bl, S. 220. Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 423. 112 Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 422. 113 Hermann Lübbe, „Zur Dialektik des Gewissens nach Hegel“, in: Heidelberger Hegel-Tage 1962: Vorträge und Dokumente, hg. v. Hans-Georg Gadamer, Hamburg 2016, S. 261. 111
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
Hegel unterscheidet aber auch die wahre Religion und die formelle Religion, wobei die wahre Religion „ohne solche negative und polemische Richtung gegen den Staat ist, ihn vielmehr anerkennt und bestätigt“.114 Die religiöse Gesinnung erkennt den Staat als die Institution der öffentlichen Freiheit an, die sich vom Individuum als „das Subjektive und in sich Unbestimmte oder als das besonders Bestimmte unterscheidet“115, d. h. es gibt einen Unterschied zwischen religiöser Gesinnung und Sittlichkeit. Was die formelle Religion betrifft, so sind ihre Gläubigen in der Öffentlichkeit nur abstrakt auf der Grundlage ihrer eigenen religiösen Positionen vertreten, während sie sich weigern, das objektive Gute eines Gemeinschaftslebens anzuerkennen. Daher bleibt diese formelle Religion sozusagen in der Gewissheit bzw. in ihrer Glaubensüberzeugung stehen; sie befürwortet nur ein abstraktes Gutes: „Von denen, die den Herrn suchen und in ihrer ungebildeten Meinung alles unmittelbar zu haben sich versichern, statt sich die Arbeit aufzulegen, ihre Subjektivität zur Erkenntnis der Wahrheit und zum Wissen des objektiven Rechts und der Pflicht zu erheben, kann nur Zertrümmerung aller sittlichen Verhältnisse, Albernheit und Abscheulichkeit ausgehen.“116
Hegel verglich die formelle Religion mit der Erkenntnis, die nur im Wesen bleibt, aber „nur immer beim Wesen bleib[t] und von diesem Abstraktum nicht zum Dasein fortgeh[t]“.117 Aus Hegels Bestimmungen der Wesenslogik können wir sehen, dass das einfache Wesen immer noch in einer Innerlichkeit, „einfache Beziehung auf sich selbst, reine Identität“118 bleibt. Das Wesen ist also eine reine Reflexion in sich selbst, so dass es stets in sich selbst bleibt und keine Bestimmung erlangt. Das Wesen ist Wirklichkeit erst, nachdem es bestimmt wurde, nachdem das innere Wesen und die äußere Erscheinung vereint wurde. In dieser Hinsicht gibt es keinen Unterschied zwischen der inneren und abstrakten religiösen Gesinnung und der moralischen Subjektivität, die im Moralitätskapitel diskutiert wird; sie ist ebenfalls eine subjektive Meinung: „Hierher gehört nur die Bemerkung, daß nach einer Seite der Staat gegen das Meinen – eben insofern es nur Meinung, ein subjektiver Inhalt ist und darum, es spreize sich noch so hoch auf, keine wahre Kraft und Gewalt in sich hat –, ebenso wie die Maler, die sich auf ihrer Palette an die drei Grundfarben halten, gegen die Schulweisheit von den sieben Grundfarben, eine unendliche Gleichgültigkeit ausüben kann.“119
Hegel betonte, dass eine Meinung, wenn sie in die öffentliche Meinung involviert ist, selbst in den Staat als vernünftiges Wissen involviert ist; denn in dieser vernünftigen Struktur des Staats wurde die eigene Subjektivität durch die konkrete Institution der Freiheit gebildet. Die Vernünftigkeit der konkreten freien Institution gibt dieser subjektiven Freiheit den wirklichen Inhalt. Die Teilnahme an 114
Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 420. Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 297. 116 Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 419. 117 Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 418. 118 Wissenschaft der Logik II, S. 36. 119 Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 427. 115
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der öffentlichen Meinung bedeutet nicht nur, dass die religiöse Gesinnung in der Tat den Staat anerkennt, sondern auch, dass sie infolge solcher Anerkennung und Partizipation davon Abstand nimmt, sich auf äußere, unorganische Weise gegen den Staat zu positionieren: „Das Wahre aber gegen dieses in die Subjektivität des Fühlens und Vorstellens sich einhüllende Wahre ist der ungeheure Überschritt des Innern in das Äußere, der Einbildung der Vernunft in die Realität, woran die ganze Weltgeschichte gearbeitet und durch welche Arbeit die gebildete Menschheit die Wirklichkeit und das Bewußtsein des vernünftigen Daseins, der Staatseinrichtungen und der Gesetze gewonnen hat.“120
Hegel glaubt nicht, dass Religion das Höchste im menschlichen Leben ist, noch glaubt er, dass Religion der höchste Ausdruck von Freiheit und „die höchste Form des Selbstbewußtseins des Geistes“121 ist. Die Idee der Freiheit liegt im wirklichen Recht und in staatlichen Institutionen: „Die Religiosität wurde bezeichnet als das Bewußtsein des Absoluten. In diesem Bewußtsein liegt die höchste Freiheit, das Individuum ist hier bei seinem Wesen, es ist zu seiner wahrhaften Substantialität zurückgekehrt. Aber jene Erhebung ist nur eine Erhebung im Gemüt, in der Subjektivität. Der Staat ist nun selbst dieser Geist, aber ein sich in der Wirklichkeit entfaltender, nicht bloß ein subjektiver; er ist so das Heraustreten aus dem bloß Innerlichen, aus der Subjektivität. Zu diesem Heraustreten gehört Unterschied, und so dann müssen diese Unterschiede auf ihre Allgemeinheit zurückgeführt werden, d. h. sie müssen als Gesetz ausgesprochen sein.“122
Hegel weigert sich mithin aus zwei Gründen, den Staat auf Religion zu gründen. Zum einen müssen seiner Ansicht nach Staat und Kirche unterschieden werden; die Einheit von Staat und Kirche ist die Praxis des orientalischen Despotismus, in der es keinen Staat in Hegels Sinne gibt, d. h. „die selbstbewußte, des Geistes allein würdige Gestaltung in Recht, freier Sittlichkeit und organischer Entwicklung“.123 Was die Beziehung zwischen Staat und Kirche angeht, betrachtet Hegel die Mitglieder der Kirche in erster Linie als Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft; in der islamischen Welt hingegen verschlang der undifferenzierte Universalismus alle gesellschaftlichen Medien. Die konkrete Freiheit der germanischen Welt ist der größte Gegensatz zum Islam. Dieser Gegensatz spiegelt sich in der Trennung des Staats von der Kirche wider, wie Ludwig Siep betont: „Auch die wechselseitige Unabhängigkeit von Staat und Kirche gehört zur Freiheitsidee des europäischen Christentums – anders als im Islam, der in Hegels Sicht nach seiner Blüte im 11.–13. Jahrhundert wieder zur ‚orientalischen‘ Theokratie ohne persönliche Rechte und selbstständige Gruppen zurückgekehrt ist. “124 Hegel betont die Ebene des Denkens und Wissen in der Struktur des modernen Staats, d. h. der 120
Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 419. Walter Jaeschke, Die Religionsphilosophie Hegels, Darmstadt 1983, S. 113. 122 Bl, S. 216–217. 123 Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 428. 124 Ludwig Siep, Hegel und Europa, Paderborn 2003, S. 14. 121
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
moderne Staat baut auf einer allgemeinen Vernunft auf, die Institution und die Gesetze eines Staats als Organismus müssen klar und stabil sein und dürfen nicht zufälligen Meinungen und Gefühle unterworfen sein: „Es ist der Begriff der Freiheit, das Vernünftige, Allgemeine, welches das Wesen des Staats ausmacht. Das Einzelne für sich hat nur Recht und Gültigkeit, inwiefern es dem an und für sich Allgemeinen angemessen ist. Es ist also nicht die Willkür des Einzelnen, die hier das Entscheidende ist […]. Für sich ist das Einzelne nur ein Leeres, Formelles, und wenn es sich für sich seinen Inhalt gibt, so ist es Willkür. Das Inhaltsbestimmende ist die Idee in ihrer Entwicklung, und diese ist unabhängig von dem Meinen und der Willkür des Einzelnen. Wenn dieses Einzelne anders meinte als das Substantielle, Allgemeine, so hat dieses dasselbe wider seinen besondern Willen und gegen seine Meinung zu seiner Pflicht anzuhalten. – Das Wesen des Staats ist somit durchaus über die Willkür erhoben. Der Einzelne bildet sich zum Staate, insofern er sich seiner Besonderheit begibt und sich zu einem Allgemeinen, Vernünftig-Wissenden und -Wollenden macht. “125
Die religiöse Gesinnung ist wegen ihrer Subjektivität und Zufälligkeit unbestimmt; der Staat und die Sittlichkeit hingegen sind die seiende Vernunft, Wahrheit und Wirklichkeit: „Der Staat ist selbst die Offenbarung Gottes in der Gegenwart und in der Wirklichkeit. Seine Grundsätze sind die Wahrheit. In der Religion hat die Wahrheit die Form des Geschichtlichen und der Empfindung.“126 Zugleich besteht die Gefahr, dass der Staat, der die Grundlage des gemeinschaftlichen Lebens ist, aufgelöst wird, weil die religiöse Gesinnung an der Beziehung zu Gott festhalten kann. Wenn Gläubige auf dieser Innerlichkeit bestehen, entwickeln sie eine Tendenz zum Fanatismus; d. h. sie tendieren zur Ablehnung der endlichen Sphäre des Lebens und zur Anbetung des einzigen Einen: „Wollte diese Totalität [die Religion] alle Beziehungen des Staates ergreifen, so wäre sie Fanatismus; sie wollte in jedem Besonderen das Ganze haben und könnte es nicht anders als durch Zerstörung des Besonderen, denn der Fanatismus ist nur das, die besonderen Unterschiede nicht gewähren zu lassen. Wenn man sich so ausdrückt, ‚den Frommen sei kein Gesetz gegeben‘, so ist dies weiter nichts als der Ausspruch jenes Fanatismus.“127
Nach Hegels Ansicht ist diese Anbetung nur ein abstrakter Gedanke, ihre Beziehung zu Gott ist eine Art einsamer Gehorsam, so dass solche Religion die Lebensweise und Meinung anderer nicht tolerieren kann. Sie kann sich in das Leben eines Staates der gemeinschaftlichen Freiheit nicht eingliedern, denn was sie erlebt hat, ist nichts anderes als Nichts und eine negative Handlung. Diese Form der Religion trennt Mensch und Gott, Endlichkeit und Unendlichkeit völlig, und ihr Fanatismus lässt jede wirkliche politische Ordnung zusammenbrechen. Hegel weist darauf hin, dass die Religionen der Erhabenheit – das Judentum und seine allgemeine Fassung, der Islam – diesen Fanatismus zeigen.
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Bl, S. 213. Bl, S. 223. 127 Rechtsphilosophie, § 270 Zusatz, S. 430. 126
D. Staat, Religion und öffentliche Meinung
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Was die ‚Judenfrage‘ betrifft (also das Verhältnis der jüdischen Religionsgemeinschaft zum bürgerlichen Staat), so ist Hegel der Meinung, dass sie ebenfalls aus einer doppelten Perspektive betrachtet werden muss: Einerseits genießen Juden wie alle Menschen unendliche Personalität, die die Bürgerrechte der Juden als gleichberechtigte Subjekte in der bürgerlichen Gesellschaft garantiert, aber nach Hegels Auffassung sollten sie ihre Isolation im Staatsleben aufgeben. Ob in den theologischen Schriften der Jugend oder in der reifen Philosophie der Religion, das Judentum entwickelte sich zu einer absolut entzweiten religiösen Form: Juden lehnten Gemeinschaft und Liebe ab, gehorchten einem fremden Gott, lebten in Isolation, verletzten und massakrierten sogar andere und konnten letztlich keine Freiheit erhalten. Auf der anderen Seite muss der Staat auch Bedingungen für die Integration der Juden schaffen, und wenn der Staat den Juden erlaubte, in einem Zustand der Trennung zu bleiben, dann wäre dies dem „ausschließenden Staate“ zu Recht als Schuld vorzuwerfen.128Subjektive Überzeugungen und Meinungen werden durch vernünftige staatliche Institutionen zur politischen Gesinnung der Anerkennung des objektiven und freien Systems erhoben. Diese Art von politischer Gesinnung vertraut in das vernünftige Staatssystem, erkennt an, dass die subjektive Freiheit des Individuums nur im objektiven Staatssystem verwirklicht werden kann, und erkennt, dass der Staat nichts anderes ist als die Wirklichkeit der Freiheit. Die wahre Religion muss auch eine freie Religion sein, und wenn eine Religion auf der Ebene der Natürlichkeit bleibt, „Rechte der Vernunft und des Selbstbewußtseins“129 nicht anerkennt und die Menschheit zu einem niedrigeren Status degradiert als manche Tiere (wie es bei den Indern und Ägyptern geschehen sei), dann ist diese Form der Religion völlig ungeeignet, der Freiheit der Menschen Ausdruck zu geben. Die Gesellschaft, der diese Religion innewohnt, scheint sich die Freiheit noch nicht angeeignet zu haben: „Ganze Weltteile, Afrika und der Orient, haben diese Idee nie gehabt und haben sie noch nicht; die Griechen und Römer, Platon und Aristoteles, auch die Stoiker haben sie nicht gehabt; sie wußten im Gegenteil nur, daß der Mensch durch Geburt (als atheniensischer, spartanischer usf. Bürger) oder Charakterstärke, Bildung, durch Philosophie (der Weise ist auch als Sklave und in Ketten frei) wirklich frei sei. Diese Idee ist durch das Christentum in die Welt gekommen, nach welchem das Individuum als solches einen unendlichen Wert hat, indem es Gegenstand und Zweck der Liebe Gottes, dazu bestimmt ist, zu Gott als Geist sein absolutes Verhältnis, diesen Geist in sich wohnen zu haben, d. i. daß der Mensch an sich zur höchsten Freiheit bestimmt ist.“130
Aber das Christentum kann sich in ein „Verhältnis der Unfreiheit“131 verwandeln, kann sich von einer freien Religion zu einer unfreien Religion entwickeln, und die katholische Kirche bewahrt aufgrund der natürlichen Elemente ihrer Rituale dieses 128
Rechtsphilosophie, § 270 Zusatz, S. 421. Rechtsphilosophie, § 270 Zusatz, S. 416. 130 Enzyklopädie III, § 482 Anm., S. 301–302. 131 Enzyklopädie III, § 552 Anm., S. 356. 129
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
Element des Fanatismus, der Unfreiheit der Religion. Domenico Losurdos ausgezeichnete Forschung zeigt den Zusammenhang zwischen katholischem Glauben und Liberalismus auf: Die katholische Kirche bildet ein festes, geschlossenes Privileg gegen den Staat, in dem die katholische Kirche mit den Berner und Engländer Oligarchen, den Aristokraten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und des polnischen Wahlreiches im Einklang steht.132 In dieser Hinsicht ist die katholische Kirche sogar abstrakt mit dem privaten Charakter der bürgerlichen Gesellschaft verflochten. Durch die kirchliche Bildung kann sich die katholische Kirche gegen die öffentliche Bildung stellen und den Widerstand gegen den Staat im Bildungswesen kultivieren. Aufgrund der autoritären Elemente der Lehre nimmt der Beichtvater eine absolut willkürliche Haltung gegenüber den Gläubigen ein, die dem Beichtvater nur absolut gehorchen können, ohne einen eigenen, autonomen Willen zur Geltung zu bringen. Der Zölibat der katholischen Priester impliziert Hegel zufolge eine feindselige Haltung gegenüber der Beziehung und der Arbeit des Eigentums und der bürgerlichen Gesellschaft; aber die Familie und die bürgerliche Gesellschaft sind die notwendige Daseinsformen des freien Willens, der menschlichen Gefühlsbedürfnisse und besonderer Interessen, und diese weltliche Bestimmungen sind zum vernünftigen System der Bestimmung des Willens geworden. Hegel glaubt, dass die Kirche als Korporation angesehen werden kann, dass „die religiöse Gemeinschaftlichkeit von Individuen sich zu einer Gemeinde, einer Korporation erhebt“.133 Insofern eine Korporation die Vermittlung zwischen privaten Interessen und Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft ist, partizipiert die Kirche an der „élaboration de cette culture de l’universel“.134 Auch die Kirche erhebt die atomisierten Menschen und ihre subjektiven Meinungen zur Sittlichkeit, so dass es nicht nur eine private Entscheidung, sondern eine sittlich-politische Pflicht ist, Mitglied der Kirche zu werden. Der Staat „ist als die Ordnung der konkreten Freiheit nicht autark und selbsttragend, er ruht in der Sitte und Gesittung der Bürger, die ihn als diesen anerkennt und trägt; diese aber hat ihre Quelle und Kraft in der Religion und dem durch die Religion geformten Gewissen“.135 Ludwig Siep hat gezeigt, dass die Bedeutung der religiösen Gemeinde im Staat darin besteht, eine Leidenschaft für die Wahrheit zu schaffen: „Die Gemeinde kann die wahre Leidenschaft dem Staate zugute kommen lassen.“136 Für Hegel liegt die wahre Gesinnung und Leidenschaft in „den rechtlichen, moralischen und sittlichen Pflichten“.137 Die religiöse Gemeinde ist die Manifestation des Göttlichen, und der Staat ist ebenfalls die Anwesenheit des Göttlichen in der Welt; daher muss die wahre Religion als wahre Gesinnung und Leidenschaft diesen weltlichen Gott anerkennen. 132
Vgl. Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt a. M. 2000. Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 422. 134 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 357. 135 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel“, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 132. 136 Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott, Tübingen 2015, S. 173. 137 Enzyklopädie III, § 474 Anm., S. 297. 133
D. Staat, Religion und öffentliche Meinung
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Im Gegensatz dazu ist die unfreie Religion keine Privatangelegenheit; sie verkörpert die Ablehnung der öffentlichen Lebensweise eines vernünftigen Staates, und was die unfreie Religion ausdrückt, ist nicht bloß eine abweichende Meinung, die in der Öffentlichkeit toleriert werden kann, vielmehr drückt sie bestimmte Grundsätze aus, „wonach die staatliche Ordnung aufzuheben und z. B. durch eine religiöse zu ersetzen sei oder wonach andere Glaubensrichtungen oder ihre Angehörigen bekämpft werden müssen“.138 Der Versuch einer unfreien Religion, der Gemeinschaft religiöse Glaubens bekenntnisse aufzuzwingen und eine Form des Cäsaropapismus in einer säkularen oder Parallelgesellschaft zu etablieren, ist gleichbedeutend mit der Weigerung, anderen die freie Anerkennung der Persönlichkeit zu gewähren, mit der Weigerung, an einer öffentlichen Tätigkeit teilzunehmen, oder mit dem Versuch, den Raum der öffentlichen Meinung zu untergraben und der Besonderheit der Bekenntnis gemeinschaft Vorrang vor der Allgemeinheit zu geben. Es ist sehr gefährlich, eine unfreie Religion in einem vernünftigen Staat zu bewahren und sie nicht zu ändern: „Es ist nur für eine Torheit neuerer Zeit zu achten, ein System verdorbener Sittlichkeit, deren Staatsverfassung und Gesetzgebung ohne Veränderung der Religion umzuändern, eine Revolution ohne eine Reformation gemacht zu haben, zu meinen, mit der alten Religion und ihren Heiligkeiten könne eine ihr entgegengesetzte Staatsverfassung Ruhe und Harmonie in sich haben und durch äußere Garantien […] den Gesetzen Stabilität verschafft werden.“139
Der Grund, warum die Französische Revolution eine Revolution ohne Reformation ist, ist der, dass die Revolution zwar das ‚positive‘ Ancien Régime beseitigte, aber versuchte, die Einheit der Allgemeinheit und Einzelheit abstrakt, ohne die Vermittlung der staatlichen Institutionen zu erreichen, was sich letztlich als fruchtlos herausstellte. Die unfreie Religion ist mit einem freien Staat unvereinbar: „Solchem Prinzip und dieser Entwicklung der Unfreiheit des Geistes im Religiösen entspricht nur eine Gesetzgebung und Verfassung der rechtlichen und sittlichen Unfreiheit und ein Zustand der Unrechtlichkeit und Unsittlichkeit im wirklichen Staate.“140 So gesehen lehnt Hegel es trotz seiner Weigerung, den Staat auf Religion zu gründen, ab, Religion und Staat vollständig zu trennen, und seiner Ansicht nach muss Religion ein gewisses Maß an Freiheit und Öffentlichkeit bewahren, sonst könnte sie leicht zur Herausbildung einer geschlossenen Parallelgesellschaft führen. Der Übergang von einer formellen Religion zu einer wahren Religion ist nichts anderes als die Erkenntnis derselben Wahrheit, die von Religion und Staat zum Ausdruck gebracht wird, nämlich dass der Staat die freie Einheit der Subjektivität und Objektivität ist. Als Institution im gesellschaftlichen Leben kann die Kirche den Staat nicht bloß als äußeres Instrument betrachten, das den Meinungen der bürgerlichen Gesellschaft dienlich ist; es scheint zwar, als diente 138
Gerhard Fiolka, in: Marcel Alexander Niggli / Hans Wiprächtiger (Hg.), Basler Kommentar zum StGB, Band 2, 2003, Art. 261 Rn. 15. 139 Enzyklopädie III, § 552 Anm., S. 360–361. 140 Enzyklopädie III, § 552 Anm., S. 357.
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Kap. 2: Die Diagnose und die Kritik des Fanatismus
das Staatsleben nur dem Schutz der Sicherheit seines individuellen Lebens, und solange es geschützt ist, könne es in seiner eigenen Meinung verharren. Aber ein vernünftiges Staatssystem, als ein Werk der ganzen Weltgeschichte, ist die Wirklichkeit der Freiheit. Einerseits erkennt der Staat aufgrund der Trennung von modernem Staat und bürgerlicher Gesellschaft die Gesellschaft als einen Bereich der Entzweiung an, als ein „System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“141, und andererseits weigert er sich, den Staat auf Subjektivität zu gründen. Es ist notwendig, zwischen subjektiver Religion und Sittlichkeit als Grund zu unterscheiden: „Das Feld der Religion […] ist die Innerlichkeit“142, der Staat kann nicht in sie eindringen, aber Religion darf nicht mit dem sittlichen und politischen Leben der Freiheit des staatlichen Lebens verwechselt werden, sonst wird sie eine fanatische, tyrannische Religion. Das Resultat eines theokratischen Staates, der auf eine formelle Religion und eine unfreie Religion gegründet wäre, würde nur Fanatismus sein: „Staatseinrichtung und gesetzliche Ordnung werden als der Unendlichkeit des religiösen Gemüts unangemessene Schranke in ihrer Verbindlichkeit entleert; da aber im wirklichen Leben gleichwohl gehandelt und entschieden werden muß, geschieht dies allein aus der subjektiven Vorstellung, d. h. im persönlichen Meinen und Dafürhalten, die indes mit dem Anspruch absoluter, weil religiöser Gewißheit auftritt.“143 Diese unfreie Religion klammert sich an ihre eigenen inneren Gesinnungen und Ansichten und versucht, das politische System durch eine religiöse Ordnung zu ersetzen, die, wie das formelle Gewissen, die subjektive Meinung und Willkür an die Spitze der Sittlichkeit erhebt, sich an ihre eigene Gewissheit und nicht an die Wahrheit klammert und daher letztlich zu einer bösartigen Gesinnung führt, die nichts mit der allgemeinen Sittlichkeit zu tun hat. Ein moderner Staat ist die Sache selbst, in der die Subjektivität Wurzeln schlägt. Die religiöse Ehrfurcht als abstrakte Subjektivität und Willkür kann nicht von dieser Grundlage getrennt werden; sie darf auch nicht als Geltung der Sache selbst angesehen werden, sonst bliebe sie ganz dem Zufall überlassen: „Damit hängt ebenso zusammen, wenn die Frömmigkeit das Gewissen, die Innerlichkeit, entscheiden läßt und nicht von Gründen bestimmt wird. Diese Innerlichkeit entwickelt sich nicht zu Gründen und gibt sich keine Rechenschaft. Soll also die Frömmigkeit als Wirklichkeit des Staates gelten, so sind alle Gesetze über den Haufen geworfen, und das subjektive Gefühl ist das gesetzgebende […]. Gerade daß im Staate alles fest und gesichert ist, ist die Schanze gegen die Willkür und die positive Meinung. Die Religion als solche darf also nicht das Regierende sein.“144
141
Rechtsphilosophie, § 184, S. 340. Rechtsphilosophie, § 270 Zusatz, S. 430. 143 Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel“, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 128. 144 Rechtsphilosophie, § 270 Zusatz, S. 431. 142
Kapitel 3
Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit In unserer Diskussion des Fanatismus haben wir gezeigt, dass wirkliche und konkrete Freiheit nur in Institution verwirklicht werden kann. Hegel sagte in seinen Vorlesungen über Rechtsphilosophie von 1819–1820: „Den Geist in der Einrichtung der Welt zu finden, Versöhnung des Geistes mit der Welt, ist unser gottesdienstliches Werk.“1 Was bedeutet die Institution für Hegel? Wir müssen das zweite Problem lösen, das sich mit dem Begriff der Freiheit verbindet: Was bedeutet die Institution als Unterscheidungsmoment der Freiheit? Mit anderen Worten, was ist die Natur der menschlichen Beziehung, die in Institutionen gebildet wird? Dieter Henrich glaubt, dass Hegels Theorie der Institution eine Art „starke Institutionalismus“ ist, d. h. Hegels Rechtsphilosophie lehrt uns, dass „sich die Freiheit des einzelnen Willens nur in einer Ordnung verwirklichen kann, die als objektive selbst die Form des vernünftigen Willens hat und die insofern den einzelnen Willen ganz in sich einbegreift und unter ihre eigenen Bedingungen, wie immer ohne Entfremdung, subsumiert. Der einzelne Wille, den Hegel den ‚subjektiven‘ nennt, ist in die Ordnung der Institutionen ganz eingebunden und überhaupt nur insofern gerechtfertigt, als diese selbst es sind. Darum kann auch sein Recht, das sich in seiner Institutionalisierung erfüllt, niemals noch als ein Recht gegen die Institution als solche verstanden werden.“2
Deshalb hält Henrich es für notwendig, Hegels starken Institutionalismus zu einem moderaten Institutionalismus zu modifizieren, der „es erlaubt und verlangt, Rechte der Individuen gegenüber den Institutionen ihrer eigenen Verwirklichung ohne Widerspruch und als eine ausgezeichnete Wirklichkeit auch noch der Institution selbst zu definieren“3; der Begriff des Staates kann „den subjektiven Rechtsansprüchen keinen eigenständigen und vom Recht des Staates abhebbaren Rechtsanspruch lassen“.4 Henrichs Diagnose eines starken Institutionalismus in 1
Bl, S. 53. Dieter Henrich, „Einleitung des Herausgebers: Vernunft in Verwirklichung“, in: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1983, S. 31. 3 Dieter Henrich, „Einleitung des Herausgebers: Vernunft in Verwirklichung“, in: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1983. S. 33. 4 Dieter Henrich, „Einleitung des Herausgebers: Vernunft in Verwirklichung“, in: Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hg. v. Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1983, S. 35. 2
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Hegels Rechtsphilosophie hält diese Rechtsphilosophie nicht für eine Art mora lische Verzerrung (wie Ernst Tugendhat), aber sie sieht immer noch Moralität und subjektiven Willen in einem Gegensatz zu Institution, Recht der Welt und Sittlichkeit, stellt also beide gegenüber. Mit anderen Worten: Obwohl Institution die Bedingung für die Verwirklichung subjektiver Rechte ist, wird die Bedingung für eine solche Verwirklichung weitgehend durch die Aufnahme und Einbeziehung subjektiver Rechte in die Institution realisiert, und die Institution selbst ist eine gewisse Einschränkung der subjektiven Rechte. Ist Hegels Institutionalismus eine Einschränkung subjektiver Rechte? Wenn es eine so starke institutionelle Einschränkung gibt, kann Hegels Rechtsphilosophie dann ihr Versprechen erfüllen? Hegel betont, dass das Ziel der Rechtsphilosophie darin bestehe, den Begriff des freien Willens zu erreichen: „Die Zwecktätigkeit aber dieses Willens ist, seinen Begriff, die Freiheit, in der äußerlich objektiven Seite zu realisieren, daß sie als eine durch jenen bestimmte Welt sei, so daß er in ihr bei sich selbst, mit sich selbst zusammengeschlossen, der Begriff hiermit zur Idee vollendet sei.“5 Die Idee der Freiheit bedeutet auch, dass die Institution und die Welt, die selbst durch die Freiheit geschaffen wurden, selbst in Freiheit sind. Wenn Hegels Rechtsphilosophie darin besteht, sich als begreifendes Denken der Freiheit zu zeigen, dann muss sie die Trennung zwischen Subjektivität und Objektivität und zwischen Begriff und Welt überwinden, denn für Hegel ist die philosophische Rechtswissenschaft eine Darstellung des Reiches, das der Geist für sich selbst erzeugt, „da dieser nicht ein Seiendes, unmittelbar Vollendetes, sondern vielmehr das Sichselbsthervorbringende, die reine Tätigkeit, Aufheben der an sich von ihm selbst gemachten Voraussetzung des Gegensatzes vom Subjektiven und Objektiven ist.“6 Der Geist für sich bestimmt sich selbst, produziert sich selbst und formt die Welt nach dem Begriff des Geistes, so dass die Welt keine Welt mehr ist, die dem Geist nicht entspricht. Daher gilt für Hegel: „Die Schranke ist also nicht in Gott und im Geiste, sondern sie wird vom Geiste nur gesetzt, um aufgehoben zu werden. Nur momentan kann der Geist in einer Endlichkeit zu bleiben scheinen; durch seine Idealität ist er über dieselbe erhaben, weiß er von der Schranke, daß sie keine feste Schranke ist. Daher geht er über dieselbe hinaus, befreit sich von ihr, und diese Befreiung ist nicht, wie der Verstand meint, eine niemals vollendete, eine ins Unendliche immer nur erstrebte, sondern der Geist entreißt sich diesem Progreß ins Unendliche, befreit sich absolut von der Schranke, von seinem Anderen, und kommt somit zum absoluten Fürsichsein, macht sich wahrhaft unendlich.“7
Allerdings müssen wir jetzt erklären, wie Hegel diese institutionelle Schranke des Verstandes überwindet, um die Identität zwischen der moralischen Gewissheit und der sittlichen Wahrheit zu erreichen.
5
Enzyklopädie III, § 484, S. 303. Enzyklopädie III, § § 443 Zu, S. 237–238. 7 Enzyklopädie III, § 386 Zusatz, S. 37. 6
Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
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Hegels Rechtsphilosophie geht von der für Kants und Fichtes praktische Philosophie grundlegenden Unterscheidung zwischen Legalität und Moralität aus.8 Die Einführung des moralischen Standpunkts bedeutet auch, dass Freiheit nicht mehr als Freiheit der äußeren Legalität verstanden wird, sondern als innere Selbst bestimmung. Hegel behauptet, die Philosophie des Rechts sei eine Ergründung aller Aspekte der Entwicklung des Freiheitsbegriffs. Wenn sich im abstrakten Recht Freiheit auch durch den Besitz äußerer Gegenstände ausdrückt, d. h. Freiheit sich auch als „das Ansichsein und die Form der Unmittelbarkeit“9 darstellt, so ist Freiheit keine Selbstbestimmung. Die Freiheit der Person wird auf eine äußerliche Weise realisiert; entweder hängt sie von einem unfreien, äußerlichen Objekt (Eigentum) ab, durch das sie sich erweisen muss, oder sie bedarf einer unfreien oder zufälligen Weise (eines Vertrags), um sich zu verwirklichen. Das heißt, das abstrakte Recht hängt bei der Realisierung der Freiheit immer von einer äußeren Sache ab, so dass der Begriff des freien Willens seinem Dasein, seine Form seinem Inhalt nicht entspricht. Das Unrecht offenbart die Zufälligkeit des abstrakten Rechts und zeigt, dass Freiheit von dieser Einschränkung und Äußerlichkeit befreit werden muss: Nach innen gedreht, wandte sich an den inneren Beweggrund und unterscheidet Allgemeinheit und Besonderheit im Inneren des Subjekts: „Im moralischen Standpunkt ist sie so überwunden, daß diese Zufälligkeit selbst als in sich reflektiert und mit sich identisch die unendliche in sich seiende Zufälligkeit des Willens, eine Subjektivität ist.“10 Mit anderen Worten, Freiheit braucht keine äußeren Dinge mehr, um sich zu bestätigen, und Freiheit wird in der „für sich unendliche[n] Subjektivität der Freiheit“11 ausgemacht. Deshalb muss die Freiheit jetzt auf diese höhere Grundlage des moralischen Standpunkts gesetzt werden, d. h. auf den höheren Boden der Freiheit, was bedeutet, dass subjektive Freiheit unveräußerlich ist: „Nur im Willen, als subjektivem, kann die Freiheit oder der an sich seiende Wille wirklich sein.“12 Zugleich hat aber nach Hegels Ansicht die praktische Vernunft der Moralität einen inneren strukturellen Defekt, der bewirkt, dass sie nicht in der Lage ist, ihr Versprechen zu erfüllen. Erst wenn sie in eine andere Dimension, nämlich die Sittlichkeit, erhoben wird, kann ihre innere Wahrheit wirklich offenbart werden: „Pour satisfaire à l’exigence qu’elle a justement fomulée (l’autodétermination de la raison), il faut substituer à la raison subjective, à laquelle Kant se tient, une rationalité subjective et objective à la fois, qui déploie la vérité dont la première est porteuse en révélant les conditions objectives de son effectivité.“13 Die Sittlichkeit ist sowohl subjektiv als auch objektiv. Das Selbstbewusstsein nimmt die 8
Joachim Ritter, „Moralität und Sittlichkeit. Zu Hegels Auseinandersetzung mit der kantischen Ethik“, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. 2, hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 1975, S. 217. 9 Rechtsphilosophie, § 104, S. 198. 10 Rechtsphilosophie, § 104 Anm., S. 199. 11 Rechtsphilosophie, § 104, S. 198. 12 Rechtsphilosophie, § 106, S. 204. 13 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 329.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Sittlichkeit als die „substantiellen Bestimmungen“14 und weiß gleichzeitig, dass sie die Grundlage seines Willens ist: „Das Sittliche ist also eben sowohl das Ansichsein – objektiv – als [auch] Fürsichsein oder subjektiv. Es wird von dem Subjektiven gewußt als das Objektive, aber es ist das sein Eigenes. Worin es lebt (Fisch im Wasser – Lunge und die Luft).“15
Hegel verwendet die Begriffe Gewissheit und Wahrheit in der Phänomenologie des Geistes, um die Standpunkte der Moralität und Sittlichkeit zu unterscheiden. Das moralische Subjekt bestimmt selbst für sich das subjektive Recht, die mora lische Gewissheit zeigt aber durch eine innere Dialektik immer wieder ihre eigene Begrenzung und Einseitigkeit. Das heißt, wenn das Subjekt in reiner Innerlichkeit bleibt und erwartet, dass dieses Recht in einer Weise verwirklicht wird, was bedeutet, „die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen“16, dann erweist sich das Ansich, das erreicht werden kann, letztlich nur als das Fürsich, und diese einseitige Verabsolutierung des moralischen Standpunkts ist die Tragödie der modernen Welt. Die Sittlichkeit hingegen bedeutet die sittliche Wirklichkeit, in der das Recht der Freiheit verwirklicht wird, „indem die Gewißheit ihrer Freiheit in solcher Objektivität ihre Wahrheit hat und sie im Sittlichen ihr eigenes Wesen, ihr innere Allgemeinheit wirklich besitzen“.17
A. Der moralische Standpunkt zwischen Subjektivität und Objektivität Hegels erste Definition von dem moralischen Standpunkt ist die Unterscheidung zwischen Handlung und Tat, d. h. Handlung ist immer das eigene, vom Subjekt selbst Gemachte, und das Meinige, das er oder sie selbst anerkannt hat; „seine [des subjektiven Willens] tätliche Äußerung mit dieser Freiheit ist Handlung“18, und dies ist „das Recht des subjektiven Willens“.19 Daher ist der moralische Standpunkt zunächst eine innerliche Perspektive des Subjekts und sucht nicht mehr die Bestätigung der Freiheit in Verbindung mit äußeren Objekten. Gleichzeitig muss diese subjektive Bestimmung offenbart werden, sie muss sich als äußeres und objektives Handeln oder Ausdruck manifestieren: „Die Handlung ist die klarste Enthüllung des Individuums, seiner Gesinnung sowohl als auch seiner Zwecke; was der Mensch im innersten Grunde ist, bringt sich erst durch sein Handeln zur Wirklichkeit, und das Handeln, um seines geistigen Ursprungs willen, gewinnt auch im geistigen Ausdruck, in der Rede allein seine größte Klarheit und Bestimmtheit. “20 14
Rechtsphilosophie, § 148, S. 296. Rin. S. 85. 16 Rechtsphilosophie, § 139, S. 261. 17 Rechtsphilosophie, § 153, S. 303. 18 Enzyklopädie III, § 503, S. 312. 19 Rechtsphilosophie, S. 205. 20 Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 285. 15
A. Der moralische Standpunkt zwischen Subjektivität und Objektivität
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Daher weist Hegel zu Beginn seiner Erläuterung des moralischen Standpunkts darauf hin, dass das Individuum immer in einer Spannung zwischen Subjektivität und Objektivität sei. Einerseits gilt: „Indem der Mensch nach seiner Selbstbestimmung beurteilt sein will, ist er in dieser Beziehung frei, wie die äußeren Bestimmungen sich auch verhalten mögen.“21 Der moralische Standpunkt bezieht sich auf einen inneren Aspekt eines Subjekts, in den nicht eingebrochen werden kann. In diesem Sinne betont Hegels Rede vom Recht des subjektiven Willens, dass in diesem Stadium das Subjekt der Bedeutungsgeber für die Handlung ist; ohne die Bedeutung des Subjekts sind alle äußeren Dinge für das Subjekt immer noch bedeutungslos. Wir denken auch an Hegels Unterscheidung zwischen Naturgesetz und Freiheitsgesetz.22 Für Hegel zeigt das Freiheitsgesetz als „die Welt des Geistes aus ihm selbst hervorgebracht“23 die absolute Unterscheidung zwischen Freiheit und Natur. Im Vergleich zum abstrakten Recht unterstreicht der moralische Standpunkt diese Unterscheidung. Wenn Menschen auf der moralischen Tribüne stehen, als Menschen mit subjektivem Willen und Meinungsfreiheit, bedeutet dies auch, dass die Menschen sich der Herrschaft einer Art allgemeiner Gewalt, eines natürlichen und unreifen Zustandes entledigen können: „Der ungebildete Mensch läßt sich von der Gewalt der Stärke und von Naturbestimmtheiten alles auferlegen, die Kinder haben keinen moralischen Willen“24 – in diesen unreflektierten und unbewussten Zuständen sind die Menschen entweder gezwungen, ihre Meinung aufzugeben, oder sie erkennen nie, dass sie Meinungen haben können: „Im Rechte ist der Mensch Subjekt, Gesez ist überhaupt, bei dem Recht wird erinnert an die eigenthümliche Innerlichkeit des Menschen, an den Willen.“25 Der Mensch existiert jedoch als Wesen der Freiheit, d. h. der Mensch kann sich dafür entscheiden, dem gegebenen Zustand zu gehorchen oder sich seiner zu entledigen: „entweder insofern zu sein, als dieses mit ihr nur zusammengeflossen wäre, sie so, wie sie [die Welt] ist, in sich hineingehen lassen und gegen sie sich nur als formelles Bewußtsein verhalten hätte, – oder aber Welt des Individuums so zu sein, wie das Vorhandene von ihm verkehrt worden ist […] daß es entweder den Strom der einfließenden Wirklichkeit an ihm gewähren läßt oder daß es ihn abbricht und verkehrt.“26
Dies bedeutet auch, dass ein Mensch Abstand zu diesem gegebenen Zustand halten und versuchen kann zu fragen, ob dieser gegebene Zustand seinem eigenen Willen entspricht und ob es sich um seinen eigenen Wunschzustand handelt. Er hofft, diesen Zustand nach seinem eigenen subjektiven Willen zu bewerten, und diese Bewertung wird am besten nach den von ihm selbst gesetzten Standards durchgeführt. Gleichzeitig hat das moralische Subjekt auch das Recht, durch das Streben nach seinem Wohl „in der Handlung seine Befriedigung zu finden“.27 21
Rechtsphilosophie, § 107 Anm., S. 205. Vgl. Str. S. 919. 23 Rechtsphilosophie, § 4, S. 46. 24 Rechtsphilosophie, § 107 Zusatz, S. 206. 25 Str. S. 919. 26 Phänomenologie des Geistes, S. 232. 27 Rechtsphilosophie, § 121 Zusatz, S. 229. 22
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Diese Zufriedenheit hat „subjektiven Wert, Interesse für mich“28, daher bin ich bereit, dafür aktiv zu werden. In Hegels Worten verfolgt der Mensch eigentlich das Recht, seine Meinung zu äußern; er folgt „Bedürfnissen, Neigungen, Leidenschaften, Meinungen, Einfällen usf.“.29 Die Befriedigung der Subjektivität stellt sich auf natürliche Weise, nämlich „an ihrem natürlichen subjektiven Dasein“30ein. Daher hofft das moralische Subjekt, eine allgemeine Glückseligkeit zu verfolgen; es erhofft eine dauerhafte maximale Befriedigung seiner Begierde und eine dauerhafte Anerkennung seiner subjektiven Meinungen. Hegel weist besonders darauf hin, dass diese subjektive Befriedigung die Anerkennung der Ehre und des Ruhms eines Menschen einschließt. Als Subjekt wird ein Mensch umso mehr respektiert, je mehr seine subjektiven Bedürfnisse und Meinungen erfüllt werden. Nach Hegels Ansicht sind der Besitz dieser Meinungen und die Begierde nach Befriedigung „nicht zufällig, sondern vernunftgemäß“.31 In der Dialektik des Einen und Vielen in der Wissenschaft der Logik versuchte Hegel darzulegen, dass das Seiende nur für sich, um seiner selbst willen zu einer individuellen Sache werden kann. Wir können sagen, dass dies Hegels Verteidigung des Individualismus in der Ontologie ist. Aber gleichzeitig ist in der Beziehung zwischen Einem und Vielem jedes Eins für sich, und sie alle halten Abstand voneinander, um sich selbst zu beweisen. Diese Repulsion ist jedoch bereits eine Art Verbindung; „das gegenseitige Abhalten und Fliehen ist nicht die Befreiung von dem, was abgehalten und geflohen, das Ausschließende steht mit dem noch in Verbindung, was von ihm ausgeschlossen wird“.32 Repulsion und Attraktion sind nur zwei Aspekte von demselben, und sowohl innerhalb als auch zwischen allen Seienden gibt es solche Bewegungen für sich und für andere. Das nennt Hegel die „allgemeine Ironie der Welt“33 – je mehr das Fürsichsein sein eigenes unabhängiges Selbstsein bestätigen will, desto mehr wird es sich selbst verlieren. Nur wenn es mit den anderen verwandt ist und nur wenn es die Vielen gibt, kann das Eins sich selbst halten: „Die Selbständigkeit, auf die Spitze des fürsichseienden Eins getrieben, ist die abstrakte, formelle Selbständigkeit, die sich selbst zerstört, der höchste, hartnäckigste Irrtum, der sich für die höchste Wahrheit nimmt […]. Sie ist so das negative Verhalten gegen sich selbst, welches, indem es sein eigenes Sein gewinnen will, dasselbe zerstört, und dies sein Tun ist nur die Manifestation der Nichtigkeit dieses Tuns. Die Versöhnung ist die Anerkennung dessen, gegen welches das negative Verhalten geht, vielmehr als seines Wesens, und ist nur als Ablassen von der Negativität seines Fürsichseins, statt an ihm festzuhalten.“34
28
Rechtsphilosophie, § 122, S. 229. Rechtsphilosophie, § 123, S. 230. 30 Rechtsphilosophie, § 123, S. 230. 31 Rechtsphilosophie, § 123 Zusatz, S. 232. 32 Wissenschaft der Logik I, S. 196. 33 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 460. 34 Wissenschaft der Logik I, S. 192–193. 29
A. Der moralische Standpunkt zwischen Subjektivität und Objektivität
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Das Recht des subjektiven Willens des Subjekts auf das, was für ihn das Gute ist, hängt tatsächlich vom Willen anderer ab: „Die Ausführung meines Zwecks hat daher diese Identität meines und anderer Willen in sich, – sie hat eine positive Beziehung auf den Willen anderer.“35 In der folgenden Erläuterung hob Hegel die Bedeutung des Handelns hervor. Sowohl die moralische Weltanschauung als auch das Gewissen als schöne Seele stehen vor einem Dilemma des Handelns. Der Hauptgrund liegt in der Innerlichkeit ihrer moralischen Standpunkte. Sie alle glauben, dass Handeln ein Makel für ihre Reinheit und Selbstidentität ist. Hegel betont jedoch: „Was das Subjekt ist, ist die Reihe seiner Handlungen. Sind diese eine Reihe wertloser Produktionen, so ist die Subjektivität des Wollens ebenso eine wertlose; ist dagegen die Reihe seiner Taten substantieller Natur, so ist es auch der innere Wille des Individuums.“36
Da man „seine Lust befriedigen, seiner Leidenschaft Genüge tun“37 will, sollte man sich um eine wirkliche Sprache oder ein wirkliches Handeln bemühen, die oder das für andere hörbar oder sichtbar ist. Zu Letzterem betonte Hegel: „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.“38 Nach der wirklichen Ausführung des Handelns fällt das Handeln in den Bereich der Beurteilung durch andere. Die Beurteilung wird auf jeden Fall ihrerseits durch Sprache und Handeln ausgedrückt werden. Sprache und Handeln sind Ausdruck, Enthüllung und Manifestation meines subjektiven Willens: „Die Tat setzt eine Veränderung an diesem vorliegenden Dasein, und der Wille hat Schuld überhaupt daran, insofern in dem veränderten Dasein das abstrakte Prädikat des Meinigen liegt.“39 Nur so können all diese Worte und Handlungen mehr als bedeutungslose Klänge oder Körper bewegungen sein und können als Handeln bezeichnet werden: „Seine tätliche Äußerung mit dieser Freiheit ist Handlung, in deren Äußerlichkeit er nur dasjenige als das seinige anerkennt und sich zurechnen läßt, was er davon in sich selbst gewußt und gewollt hat.“40 Was den Einzelnen betrifft, so wird mein Streben für sich als mein Gutes und meine Meinung angesehen, aber diese Art von Gutem und von Meinung hängt von der Interpretation anderer ab. Sobald diese Stellungnahme meinerseits abgegeben ist, muss sie der Bewertung anderer unterzogen werden, und dadurch wird sie etwas Sichtbares füreinander. Die Bewertungsskala kann nicht von mir allein festgelegt werden, sondern hängt von einem gemeinsamen Interpretationsmodus ab, der auf einem gemeinsamen Leben basiert. Ich bringe meine eigene Meinung 35
Rechtsphilosophie, § 112, S. 210. Rechtsphilosophie, § 124, S. 233. 37 Rechtsphilosophie, § 121 Zusatz, S. 229. 38 Rechtsphilosophie, § 124 Anm., S. 233. 39 Rechtsphilosophie, § 115, S. 215. 40 Enzyklopädie III, § 503, S. 312. 36
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
zum Guten zum Ausdruck, aber ich muss sie in einer gemeinsamen Form zum Ausdruck bringen, d. h. in einer gemeinsamen und verständlichen Sprache. Nur so kann meine Meinung wirklich als Meinung dargestellt werden. Obwohl die Sprache auch Gefahr läuft, Selbstgespräch zu sein, ist sie in der Regel nur eine ständige Wiederholung und Bestätigung ihrer eigenen Gewissheit. Das Recht des Wissens selbst bedarf einer Dimension der Objektivität, und dies ist „das Recht der Objektivität“41 im Gegensatz zum Recht des subjektiven Willens, d. h. meine Meinung und mein Zweck als meine Behauptung einer bestimmten Lebensweise muss durch das Recht der Objektivität begrenzt werden: „Wer in dieser Wirklichkeit handeln will, hat sich eben damit ihren Gesetzen unterworfen und das Recht der Objektivität anerkannt.“42 Nach Hegels Ansicht liegt der Grund, warum eine Handlung zurechenbar ist, nicht nur in dem Recht des subjektiven Willens, sondern auch in dem Verständnis des Subjekts für sein eigenes Handeln, das auf einem gemeinsamen kognitiven Modell beruht, nach dem das Verständnis des Subjekts und die Beschreibung seines eigenen Handeln wirklich angemessen sein kann. Einerseits kann dieses Modell nicht nur die Meinungen des Subjekts und seine eigene Reflexion über das Gute rechtfertigen, sondern auch sein Sinnverständnis kann Angemessenheit erlangen. Andererseits kann diese Meinung auch überprüft werden, wenn das Verständnis eines Individuums von einem Handeln offensichtlich nicht den Erwartungen, Werten und moralischen Standards der Gesellschaft als Ganzes sowie der Rolle des Subjekts im gesellschaftlichen Leben und den moralischen Maßstäben entspricht, die diese soziale Rolle selbst mit sich bringt; dann wird diese Meinung des Subjekts und dieser Glaube an die Selbstgewissheit des Guten unter Umständen widerlegt. Hegel betont: „Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjekts, aber durch seine subjektive Bestimmung zugleich formell, und das Recht des Vernünftigen als des Objektiven an das Subjekt bleibt dagegen fest stehen.“43
Das Wesen des moralischen Standpunkts und der subjektiven Freiheit liegt darin, dass das Subjekt definiert, was für es selbst gut ist, und der Wille definiert, was es ist – dass das Subjekt also eine Beziehung zu sich selbst hat, anstatt irgendwelche Befehle anzunehmen, die ihm auferlegt werden. Daher ist die Moralität eine höhere Grundlage für die Verwirklichung der Freiheit als das abstrakte Recht. Doch nur in einer durch das Recht der Objektivität geschaffenen Struktur der gegenseitigen Anerkennung kann die subjektive Freiheit wirklich etabliert werden. Wie kann ich sonst gewiss sein, dass das Gute, das ich für mich selbst erkenne, das wirkliche Gute ist? In der allgemeinen Öffentlichkeit möchte jedes Subjekt seine Meinung äußern, aber wenn die Subjekte nur als Atome existieren, die ihre eigenen Worte sprechen und ihre eigene Besonderheit zeigen, dann bleiben sie in einer reinen Innerlichkeit. In der allgemeinen Öffentlichkeit zeigt meine ab 41
Rechtsphilosophie, § 132 Anm., S. 246. Rechtsphilosophie, § 132 Anm., S. 246. 43 Rechtsphilosophie, § 132 Anm., S. 245. 42
B. Kritik an dem leeren Formalismus der Moralität
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solute Hartnäckigkeit endlich, dass sie eine Art tautologische Wiederholung und daher bedeutungslos ist. Wie Michael Quante bemerkt hat, ist die gesamte Sphäre der Moralität durchdrungen „von einem begrifflichen Gegensatz, der aus dem unaufgelösten Unterschied entspringt, der konstitutiv ist für die Moralität selbst“.44 Diese Trennung zwischen Subjektivität und Objektivität erzwingt die Aufhebung des moralischen Standpunktes.
B. Kritik an dem leeren Formalismus der Moralität Bevor Hegel sich der Diskussion des Gewissens zuwendet, basierte seine Beschreibung des moralischen Standpunkts auf der Diskussion des Guten, aber nach Hegels Ansicht kann nur das Gute und das Gewissen eigentlich die Moralsphäre ausmachen.45 Hegel weist darauf hin, dass in der Beziehung zwischen Subjekt und Gutem „das Gute für denselben [den subjektiven Willen] das Substantielle sein, daß er dasselbe [das Gute] zum Zwecke machen und vollbringen soll, – wie das Gute seinerseits nur im subjektiven Willen die Vermittlung hat, durch welche es in Wirklichkeit tritt“.46 Das Gute ohne subjektiven Willen ist „nur eine Abstraktion ohne Realität“.47 In dieser Hinsicht liege „das höchste Recht des Subjekts“ darin, „daß das, was [es] als gültig anerkennen soll, von ihm als gut eingesehen werde“.48 Das Gute, das durch subjektiven Willen anerkannt und verfolgt wird, muss vom subjektiven Willen als „gut“ erkannt und ihm als Überzeugung gewiss sein. Das Gute hat damit die höchste Ebene des subjektiven Willens erreicht. Seine Allgemeinheit kann durch Denken eingesehen werden, und diese Allgemeinheit selbst kann nur durch Denken hergestellt werden. Das individuelle Urteil über das Gute ist jedoch subjektiv und liegt immer noch im Wesentlichen auf dem Gebiet der Moralität, aber dieses Feld selbst ist immer noch Erschütterungen ausgesetzt: Der Eigensinn des Subjekts soll zwar mit der objektiven Vernünftigkeit vereinbar sein, aber das Subjekt kann nur formell und einseitig sein und bleibt auf der Ebene der Meinungen und es Irrtums; das isolierte moralische Verlangen hat keine wirkliche Objektivität: „Was ich für die Befriedigung meiner Überzeugung von dem Guten, Erlaubten oder Unerlaubten einer Handlung und damit von ihrer Zurechnungsfähigkeit in dieser Rücksicht fordere, tut aber dem Rechte der Objektivität keinen Eintrag.“49
In Herbert Schnädelbachs Worten ist das Gute höher als die „bloß an der eigenen Individualität orientierte Allgemeinheit“50 des Wohls: „Die Objektivität des Guten, die es vom Wohl abhebt, ist die durch Recht ermöglichte Intersubjektivität 44
Michael Quante, Hegels Begriff der Handlung, Stuttgart-Bad Cannstatt 1993, S. 63. Vgl. Rin, S. 61. 46 Rechtsphilosophie, § 131, S. 244. 47 Rechtsphilosophie, § 131 Zu, S. 245. 48 Rechtsphilosophie, § 132, S. 245. 49 Rechtsphilosophie, § 131 Anm., S. 246. 50 Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 238. 45
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
des Wohls; Intersubjektivität ist aber auch Subjektivität.“51 So erscheint das Gute aus subjektiver Perspektive, „ohne doch den Kreis der Subjektivität zu verlassen“. Aufgrund dieser Perspektive der Subjektivität reicht das Gute nicht aus, um einen festen Inhalt der Pflicht zu gewährleisten. Nach Allen Woods Analyse52 basiert Hegels Analyse der Leerheit des moralischen Standpunkts jedoch auf der Ungewissheit zweier Elemente des Guten, nämlich des Rechts und des Wohls. Der erste Aspekt ist die Ungewissheit des Rechts: Aufgrund der Subjektivität des Guten ist dieses Recht immer noch das Recht der subjektiven Einsicht des Guten vom moralischen Standpunkt aus, und die Einsicht hat entweder eine vernünftige Komponente oder ist nur eine unmittelbare Selbstüberzeugung der Pflicht, also die Überzeugung, dass er oder sie das Wirklichste erfasst hat; sie ist jedoch bloß formell und kann zufällig sein. Daher sollte diese Art der Einsicht in die Einsicht dessen umgewandelt werden, was mit dem Recht und dem gültigen Recht im Einklang steht. Das Recht der Menschen, eine selbständige Existenz zu haben und über das Gute zu entscheiden, muss durch das objektive Recht des substantiellen Willens des sitt lichen Lebens vermittelt werden, sonst verfallen die Menschen in den Formalismus der Subjektivität. Zweitens: Da sowohl Recht als auch Wohl „beide bedingt und beschränkt “53 sind und „Endlichkeit und Zufälligkeit“54 aufweisen, ist das Verhältnis zwischen den beiden ungewiss. Was das Wohl betrifft, so ist das Wohl unter den Guten das allgemeine Wohl, aber unter solchen Umständen ist es für uns schwierig zu entscheiden, wessen Wohl höher ist als das der anderen. Zugleich ist das allgemeine Wohl selbst immer noch nur eine „formelle Allgemeinheit“.55 Was in der Allgemeinheit dieser Theorie der Glückseligkeit eine Rolle spielt, ist nach wie vor das Prioritätsprinzip, das durch die Besonderheit des Individuums angesichts verschiedener Wünsche gesetzt wird. Daher gilt: „Die Wahrheit aber dieser formellen […] Allgemeinheit ist die sich selbst bestimmende Allgemeinheit, der Wille, die Freiheit.“56 Hegel hat die Diskussion über das Gute von Recht und Wohl auf „die höhere Sphäre des Unbedingten“57 umgestellt, welche die Sphäre der Pflicht ist. Die Haltung des jungen Hegel gegenüber Kant durchlief einen offensichtlichen Veränderungsprozess, der auch den Wandel von Hegels Philosophie und Bildung in der Zeit nach Kant erkennen lässt. Während der Zeit des Tübinger Theologischen Seminars lernte er einerseits Kants Philosophie durch seine Kommilitonen und Freunde wie Hölderlin kennen. In seinen theologischen Jugendschriften sprach er über Gott, Unsterblichkeit, das Erfordernis der praktischen Vernunft, das höchste Gute usw. Er versuchte auch, die Positivität der Religion durch Kants moralische Gesetze zu überwinden und konzipierte Jesus als Lehrer der moralischen Gesetze 51
Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 239. Vgl. Allen Wood, „Hegel’s Critique of Morality“, in: G. W. F. Hegel – Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Ludwig Siep, Berlin 2005, S. 162–163. 53 Rechtsphilosophie, § 135, S. 252. 54 Rechtsphilosophie, § 128, S. 241. 55 Rechtsphilosophie, § 20, S. 71. 56 Rechtsphilosophie, § 21, S. 71–72. 57 Rechtsphilosophie, § 135, S. 252. 52
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Kants, um die Äußerlichkeit der Gesetze zu überwinden. Doch Hegel entdeckte bald die Spaltung, die in Kants Moralgesetz impliziert war. Da das Selbst als Grundlage der Willensbestimmung postuliert wird, hebt das Sittengesetz die Äußerlichkeit nur ideell auf und fixiert die beiden Dimensionen von Innerlichkeit und Äußerlichkeit vollständig. Darüber hinaus ist der Gegensatz auch innerhalb des Subjekts wirksam; die Moralität hat ständig mit Sinnlichkeit, Neigung und Trieben zu kämpfen. Daher ist das moralische Unterfangen ein nie endender Krieg, und das Subjekt ist ständig im Sollen gefangen. Dean Moyar erklärt, dass der subjektive Idealismus Kants und Fichtes immer eine unbegründete „Positivität“ beinhalte, „da sie das vernünftige Individuum zur letzten Grundlage ihres Idealismus gemacht hatten“.58 Daher glaubt Hegel, dass die Moralität selbst in einem tieferen Fundament verwurzelt sein muss, in der Sache selbst, also dem Volksgeist. Nach Hegels Ansicht hängt die Kultivierung der privaten Moralität von der Privatreligion, der Erziehung der Ältesten, den eigenen Anstrengungen und den Umweltbedingungen ab, und die Kultivierung des Volksgeistes hängt von der Volksreligion und der politischen Situation ab. Daher schlägt Hegel vor, die Moralität durch die Liebe aufzuheben. Dabei ist Liebe keine solipsistische Behauptung, sondern nur in einem wirklichen Anderen kann eine Liebesbeziehung wirklich hergestellt werden. Ich kann eine solche konkrete Liebesbeziehung nicht nach meiner eigenen Setzung herstellen, denn dann spiele ich nur mein eigenes Liebesspiel. Deshalb muss ich ein plurales Selbst werden, und ich und die abstrakte Vernunft müssen in einem Ganzen und einer Sache selbst verwurzelt sein. Bis zu einem gewissen Grad können wir sagen, dass die Liebe das Absolute ist, das Subjekt und Objekt einschließt, und es ist ein konkreter Begriff Gottes. In der Liebe ist das Andere kein Gegenstand, der aufgegeben und beseitigt werden soll, sondern ein unverzichtbarer Teil, der aufgehoben und wirklich in mein Leben integriert werden muss: „Die praktische Tätigkeit vernichtet das Objekt und ist ganz subjektiv – nur in der Liebe allein ist man eins mit dem Objekt, es beherrscht nicht und wird nicht beherrscht. Diese Liebe, von der Einbildungskraft zum Wesen gemacht, ist die Gottheit.“59 Entsprechend ist Jesus nicht mehr ein Lehrer, der Moralität lehrt, sondern benutzt die Liebe, um die heteronome jüdische Moralität und ihre Gesetze zu ersetzen. Die Liebe sucht nicht mehr die selbst auferlegte Moralität, noch sucht sie ein isoliertes Selbst; sie beherrscht nicht und wird nicht beherrscht: „Wie die Tugend das Komplement des Gehorsams gegen die Gesetze ist, so ist die Liebe das Komplement der Tugenden; alle Einseitigkeiten, alle Ausschließungen, alle Schranken der Tugenden sind durch sie aufgehoben, es gibt keine tugendhaften Sünden oder sündigen Tugenden mehr, denn sie ist die lebendige Beziehung der Wesen selbst; in ihr sind alle Trennungen, alle beschränkten Verhältnisse verschwunden, so hören auch die Beschränkungen der Tugenden auf.“60 58
Dean Moyar, „Die Verwirklichung meiner Autorität: Hegels komplementäre Modelle von Individuen und Institutionen“, in: Hegels Erbe, hg. v. Christoph Halbig, Michael Quante und Ludwig Siep, Frankfurt a. M. 2004, S. 209. 59 Frühe Schriften, S. 242. 60 Frühe Schriften, S. 362.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
In den Anfängen der Jenaer Zeit begann Hegel, die Leerheit der Moralität mittels des Begriffs der Sittlichkeit zu kritisieren. In der Differenzschrift kritisierte Hegel an Kants und Fichtes Philosophie den absoluten Gegensatz zwischen Freiheit und Natur, „den absoluten Gegensatz des reinen und des Naturtriebs“61 – d. h. den Gegensatz zwischen reinem Trieb, „der auf absolutes Selbstbestimmen, zur Tätigkeit um der Tätigkeit willen geht“62 und dem Naturtrieb, der „ein System von Beschränkungen“63 darstelle. Daher sei der Staat, den Kant und Fichte sich vorstellen können, ein Staat, der auf Verstand basiert, während Hegel verlangt, eine vernünftige, vollkommene Organisation und die wahre Unendlichkeit einer Gemeinschaft der Schönheit zu verwirklichen. In Glauben und Wissen schlägt Hegel erstmals die Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit vor und kritisiert Fichtes Formalismus weiter. Er glaubt, dass der Formalismus und die Leerheit der Moralität dazu führen, dass sie zur Anwendung in konkreten und komplexen Situationen ungeeignet ist. Das gute Gewissen setzt entweder eine moralische Pflicht nach seinem eigenen Willen oder Trieb um, was zum Bösen und zur Heuchelei führt, oder es weigert sich überhaupt zu handeln und verfällt in Unentschlossenheit und Schwäche. Die wahre Sittlichkeit, die sich Hegel vorstellt, ist „nämlich eine wahre Identität des Allgemeinen und Besonderen, der Materie und der Form“64, in der die Moralität aufgehoben wird, während in der Sittlichkeit die Subjektivität selbst in ihrer Zerstörung bewahrt und gerettet wird. Hegel wiederholte aber auch seine Kritik an Kant und Fichte in Differenz, Glauben und Wissen und im Naturrechtsaufsatz. Die durch den Formalismus erreichte Unendlichkeit ist abstrakt und unendlich in der Form, die absolut vom Erfahrungsinhalt getrennt ist: „Sie [die Unendlichkeit] ist das negativ Absolute, die Abstraktion der Form, welche, indem sie reine Identität, unmittelbar reine Nichtidentität oder absolute Entgegensetzung; indem sie reine Idealität, ebenso unmittelbar reine Realität; indem sie das Unendliche, das Absolutendliche; indem sie das Unbestimmte, die absolute Bestimmtheit ist.“65
Hegel kritisierte Kants kategorischen Imperativ in dieser Hinsicht. Seiner Ansicht nach ist Kants kategorischer Imperativ selbst nur eine Tautologie. Kant verlangt, alle empirischen Inhalte auszuschließen, um die Absolutheit des Gesetzes festzustellen, im Wesentlichen gehe es aber darum, einen Inhalt und eine Bestimmtheit aus der Erfahrung zu erhalten und ihn dann als Gesetz der praktischen Vernunft zu etablieren. In der Tat könne jede Art von Bestimmung aus praktischer Vernunft getroffen und dann als Gesetz deklariert werden. Anhand von Kants Depositum-Beispiel weist Hegel darauf hin, dass der Prüfstandard von Kants Gesetz in der Tat nicht gültig sei: Es gibt kein Despositum, und es gibt keinen Widerspruch darin. Er weist ferner darauf hin, dass es hinsichtlich der beiden gegensätzlichen Bestimmungen des Eigentums und Nichteigentums zu keinem Widerspruch führe, 61
Jenaer Schriften, S. 87. Jenaer Schriften, S. 75. 63 Ebd. 64 Jenaer Schriften, S. 426. 65 Jenaer Schriften, S. 454. 62
B. Kritik an dem leeren Formalismus der Moralität
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eine der beiden Bestimmungen als Inhalt des Gesetzes der praktischen Vernunft zu wählen. Infolgedessen ist er der Ansicht, dass das grundlegende Problem nicht in der Form von Gesetzen liegt, sondern in dem, was der Gesetzgeber als Inhalt von Gesetzen wählt, wenn vor der Gesetzgebung einander widersprechende Bestimmungen existieren. Demnach hält er die von Kant genannten formalen Anforderungen an die praktische Gesetzgebung für überflüssig. Das heißt, Kant hat durch die Gesetzgebung der praktischen Vernunft nur die begrenzte Bedingung zu einer einheitlichen Form erhoben, wodurch die begrenzte Bestimmung (wie das Eigentum) absolut und bedingungslos wird.66 Für Hegel ist dies nur eine „Vermischung der absoluten Form aber mit der bedingten Materie“67, die auch das Geheimnis der Gesetzgebung der praktischen Vernunft darstelle. Kant verleiht der Endlichkeit des Inhalts die Unendlichkeit der Form, aber er hebt nicht die Endlichkeit des Inhalts selbst auf, so dass Kants Standpunkt immer noch unsittlich ist und nicht die wahre Sittlichkeit erreicht. In der Phänomenologie des Geistes kritisiert Hegel Kants Moraltheorie erneut in den Kapiteln „Vernunft“ und „Geist“. Hegels Kritik an Kants Moraltheorie in der Phänomenologie des Geistes unterscheidet sich inhaltlich nicht grundlegend von der bisherigen. Interessant ist nur, warum Hegel den gleichen Inhalt zweimal behandelt, nämlich in der Untersuchung der modernen theoretischen und der praktischen Vernunft. Hegel weist darauf hin, dass die Vernunft immer die Vernunft ist, die von der Individualität nach außen drängt: „Die sittliche Substanz ist zum selbstlosen Prädikate herabgesunken, dessen lebendige Subjekte die Individuen sind, die ihre Allgemeinheit durch sich selbst zu erfüllen und für ihre Bestimmung aus sich zu sorgen haben.“68 Die praktische Vernunft betrachtet die Realität und die Welt zunächst als ein Hindernis und als gegebene Positivität, die das Ideal der Individualität unterdrückt; die Individualität muss ihr entgegenstehen. Dann betrachtet sie (zweitens) die Welt als die Welt der Individualität selbst. Daher drücken sich Individuen in der Welt aus und erreichen eine Einheit mit der Wirklichkeit durch das Werk. Die Werke selbst sind jedoch durch Zweck, Mittel und Wirklichkeit begrenzt. Die Realität kann sich den Handlungen der Individualität widersetzen. Werke selbst sind „etwas Vergängliches“ und „verschwindend“.69 Deshalb versucht die Individualität, sich zur Sache selbst zu erheben: „Auf diese Weise reflektiert sich also das Bewußtsein in sich aus seinem vergänglichen Werke und behauptet seinen Begriff und Gewißheit als das Seiende und Bleibende gegen die Erfahrung von der Zufälligkeit des Tuns.“70 Wie auch immer – das ehrliche Bewusstsein hat sich 66
Vgl. Robert Stern, „On Hegel’s Critique of Kant’s Ethics: Beyond the Empty Formalism Objection“, in: Hegel’s Philosophy of Right, hg. v. Thom Brooks, West Sussex 2012, S. 73–99. Robert Stern argumentiert, dass Hegels Ansicht eine Art Intuitionismus sei, d. h. Hegel glaube nicht, dass wir das ultimative und allgemein gültige moralische Gesetz ein für alle Mal finden, sei es nun Kants formelles Gesetz oder ein utilitaristischer Reduktionismus. 67 Jenaer Schriften, S. 464. 68 Phänomenologie des Geistes, S. 268. 69 Phänomenologie des Geistes, S. 301. 70 Phänomenologie des Geistes, S. 303–304.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
jedenfalls als gegenseitiger Betrug erwiesen. Die Sache selbst kann jeder Aktion als Prädikat hinzugefügt werden, was in jedem Moment jeder Handlung Geltung verleiht. Die sogenannte Sache selbst ist eigentlich eine Art Selbstdarstellung: „Aber in der Tat war ihr Herbeieilen, um zu helfen, selbst nichts anderes, als daß sie ihr Tun, nicht die Sache selbst, sehen und zeigen wollten.“71 Das Bewusstsein erkannte so, dass die Sache selbst „ein Wesen [ist], dessen Sein das Tun des einzelnen Individuums und aller Individuen, und dessen Tun unmittelbar für andere oder eine Sache ist und nur Sache ist als Tun Aller und Jeder.“72 Das Bewusstsein hat sich vom Eigeninteresse am geistigen Tierreich zu einem breiteren moralischen Werk fortentwickelt. An der gesetzgebenden Vernunft und der gesetzprüfenden Vernunft kritisiert Hegel die Unmittelbarkeit und formelle Selbstidentität der moralischen Gesetze. Nach der Kantischen Auffassung hatte entweder Moralität unmittelbare, selbstverständliche und gegebene Inhalte, so dass sie keine Bedingungen und Einschränkungen berücksichtigen mussten, oder man musste davon ausgehen, dass Gesetze vollständig von jedem Inhalt getrennt werden könnten und nur eine prozedurale Operation und Tests erforderlich seien, um die Legitimität sicherzustellen. Nach Hegels Auffassung bleiben beide Standpunkte im Sollen stehen: „Dies Gesetz hat hiermit ebensowenig einen allgemeinen Inhalt als das erste, das betrachtet wurde, und drückt nicht, wie es als absolutes Sittengesetz sollte, etwas aus, das an und für sich ist. Oder solche Gesetze bleiben nur beim Sollen stehen, haben aber keine Wirklichkeit; sie sind nicht Gesetze, sondern nur Gebote.“73
Jean Hyppolite hat dies so ausgedrückt: „Dans les deux cas, la conscience individuelle s’est montrée dans son comportement négatif à l’égard de la substance éthique. La substance y est apparue seulement sous la forme d’un vouloir (légiférer immédiatement) et d’un savoir (examiner par soi-même la loi) de cet individu particulier; elle n’y est que comme le devoir-être d’un commandement sans réalité effective, ou comme le savoir de l’universalité formelle.“74 Die Vernunft muss zugeben, dass die Welt selbst ein Gegenstand ist, den sie anerkennen und respektieren muss. Sie kann nicht immer außerhalb der Welt stehen und die Welt mit ihrer eigenen Perspektive und Konzeption betrachten. Dies ist der Zweck des Geist-Kapitels der Phänomenologie: Lasst das Bewusstsein auf der Welt basieren und in der Welt verwurzelt sein, statt auf dem Selbst zu basieren und die Welt ihrer Vision anzupassen. Ich versuche nicht, nach ihrer Herkunft und ihren effektiven Bedingungen zu fragen, denn in diesem Fall würde ich mich über die Sittlichkeit stellen, als ob sie meine Zustimmung einholen müsste: „Sie sind. Wenn ich nach ihrer Entstehung frage und sie auf den Punkt ihres Ursprungs einenge, so bin ich darüber hinausgegangen; denn ich bin nunmehr das Allgemeine, sie aber 71
Phänomenologie des Geistes, S. 308. Phänomenologie des Geistes, S. 310. 73 Phänomenologie des Geistes, S. 315. 74 Jean Hyppolite, Genèse et Structure de la Phénoménologie de l’Esprit de Hegel, Paris 1946, S. 308. 72
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das Bedingte und Beschränkte. Wenn sie sich meiner Einsicht legitimieren sollen, so habe ich schon ihr zuwankendes Ansichsein bewegt und betrachte sie als etwas, das vielleicht wahr, vielleicht auch nicht wahr für mich sei. Die sittliche Gesinnung besteht eben darin, unverrückt in dem fest zu beharren, was das Rechte ist, und sich alles Bewegens, Rüttelns und Zurückführens desselben zu enthalten.“75
Das heißt, das Selbst sollte sich der Vernunft in der Welt anpassen und sich in der Welt verwurzeln. Von nun an ist es nicht mehr das Individuum, das außerhalb der Welt steht, sondern der Geist als Subjekt, und die Menschen sind nur die Verkörperung des Geistes. Objektive Vernunft ist die Quelle und Geltung subjektiver Vernunft: „So ist sie [die sittliche Substanz] das Wesen des Selbstbewußtseins; dieses aber ist ihre Wirklichkeit und Dasein, ihr Selbst und Willen.“76 Der Mensch sollte sich in die sittliche Welt einfügen, denn sie ist die Bedingung und Grundlage für die Existenz und das Leben der Menschen. Sie sollten das Recht aufgeben, die Welt zu prüfen und sich wirklich in die Sache selbst und die geistige Welt zu versetzen: „Diese Vernunft, die er [der Geist] hat, endlich als eine solche von ihm angeschaut, die Vernunft ist, oder die Vernunft, die in ihm wirklich und die seine Welt ist, so ist er in seiner Wahrheit; er ist der Geist, er ist das wirkliche sittliche Wesen.“77 Richard D. Winfield schreibt über das Geist-Kapitel: „The activities of others therefore do not operate as something external to the self-realization of the individual in the lawful reality of the community. Instead, they themselves are part and parcel of the realization of the individual, which is necessarily connected to the reality of the whole.“78 Wenn die Individualität nach der Darstellung des Vernunft-Kapitels im Grunde versucht, die äußere Realität durch ihr eigenes Handeln zu überwinden, ist die Beziehung zwischen Individualität und Realität immer eine Art Sollen. Daher hat, wie Ludwig Siep schreibt, das moralische Gesetz der Vernunft derzeit nur die Möglichkeit der Verwirklichung79, um die Terminologie der Rechtsphilosophie zu verwenden, denn zu dieser Zeit ist die Beziehung zwischen dem Recht des subjektiven Willens und dem Recht der Welt lediglich die einer zufälligen Entsprechung. Im Geist stellt sich das Individuum in die Gemeinschaft, so dass sein Handeln eine allgemeine Bedeutung gewinnt. Die allgemeine Bedeutung verwirklicht sich ihrerseits durch das Handeln des Individuums, wie Hegel sagt: „Diese [Gestalten des Geistes] unterscheiden sich aber von den vorhergehenden dadurch, daß sie die realen Geister sind, eigentliche Wirklichkeiten, und statt Gestalten nur des Bewußtseins, Gestalten einer Welt.“80 Daher ist im Geist-Kapitel die Moralität immer noch der Geist, nicht das individuelle Handeln einzelner 75
Phänomenologie des Geistes, S. 322. Phänomenologie des Geistes, S. 323. 77 Phänomenologie des Geistes, S. 326. 78 Richard Dien Winfield, Hegel’s Phenomenology of Spirit: A Critical Rethinking in Seventeen Lectures, Lanham 2013, S. 218. 79 Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 2014, S. 206. 80 Phänomenologie des Geistes, S. 326. 76
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
moralischer Subjekte. Das heißt, im Geist werden moralische Subjekte als Mitglieder einer allgemeinen Gemeinschaft betrachtet, die miteinander verbunden sind, und Moralität wird als allgemeines Festhalten moralischer Gemeinschaften an der Pflicht betrachtet. Dies, so Hegel, ist eine „moralische Weltanschauung“. Horstmann zufolge wird Kants Moralität von Hegel als ein bestimmtes Weltbild angesehen: Hegel hat in dem Standpunkt der modernen praktischen Philosophie ein tieferes metaphysisches und geistiges Bild gesehen, dessen zentraler Gedanke darin besteht, das Selbst vom ganzen Sein zu trennen und so den objektiven, ewigen Logos durch die Selbstgesetzgebung zu ersetzen.81 Und diese geistige Behauptung läuft darauf hinaus, dass „die Moralität die eigentliche Wirklichkeit darstellt“.82 Wenn in der Vernunft die Moralität außerhalb der Welt ist und die Welt äußerlich bestimmt, ist sie immer in der Spaltung zwischen Begriff und Wirklichkeit gefangen. Dann kann der Geist als eine Untersuchung verschiedener Weltformen betrachtet werden, gleich ob die Gemeinschaft, die sich um das moralische Bewusstsein gebildet hat, die eigentliche Wirklichkeit darstellt oder zu einer Gemeinschaft des Bösen und der Heuchelei verkommt, die sich selbst genießt. Hegel versucht nun zu zeigen, dass Moralität keine eigentliche Wirklichkeit aufweist. Das moralische Selbstbewusstsein betrachtet die Pflicht als absolutes Wesen und widersetzt sich damit der natürlichen Welt und der reinen Pflicht. „So notwendig die Erfahrung von der Disharmonie beider Seiten ist“83, so sehr ist andererseits die Pflicht allein das Wesentliche. Daher kann die Verwirklichung der Moralität nur als ein Postulat betrachtet werden, aber „Fordern drückt aus, daß etwas seiend gedacht wird, das noch nicht wirklich ist“84 und in einen unendlichen Zeitprozess jenseits des endlichen Bewusstseins gestellt oder Gott überlassen wird: „Die Vollendung ist darum nicht wirklich zu erreichen, sondern nur als eine absolute Aufgabe zu denken, d. h. als eine solche, welche schlechthin Aufgabe bleibt.“85 Daher schafft nach Hegels Ansicht der moralische Standpunkt der reinen Pflicht die Möglichkeit wirklicher moralischer Handlungen ab: Weil die moralische Vollkommenheit nur jenseits der Welt liegen kann, können die Menschen nicht wirklich ein moralisches Leben in der Welt führen und können sich nicht durch Moralität in der wirklichen Welt verwurzeln. Der moralische Standpunkt stellt einen Gegensatz her zwischen der Wesentlichkeit der Pflicht und der damit verbundenen Äußerlichkeit der Glückseligkeit und ihrer Notwendigkeit, zwischen der reinen Pflicht und der bestimmten Pflicht, zwischen der Jenseitigkeit der Vollkommenheit und der geforderten innerweltlichen Verwirklichung der Moralität. Das moralische Bewusstsein kann das wahre Absolute, das eine solche Spaltung 81
Rolf-Peter Horstmann, „Kant und der Standpunkt der Sittlichkeit. Zur Destruktion der Kantischen Philosophie durch Hegel“, in: Sonderheft der Revue Internationale de Philosophie 4 (1999), S. 557–572. 82 Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 2014, S. 206. 83 Phänomenologie des Geistes, S. 444. 84 Phänomenologie des Geistes, S. 445. 85 Phänomenologie des Geistes, S. 447.
C. Gewissen und Sittlichkeit
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überwinden würde, nicht erreichen: „Es verhält sich also nur denkend, nicht begreifend. Daher ist ihm der Gegenstand seines wirklichen Bewußtseins noch nicht durchsichtig; es ist nicht der absolute Begriff, der allein das Anderssein als solches oder sein absolutes Gegenteil als sich selbst erfaßt.“86
C. Gewissen und Sittlichkeit Nachdem er darauf hingewiesen hat, dass die Leerheit des moralischen Gesetz es unmöglich macht, zu bestimmen, welche moralische Pflicht die eigentliche moralische Pflicht ist, schlägt Hegel eine andere Form des moralischen Standpunkts, das Gewissen vor. In der Phänomenologie des Geistes hat sich das Gewissen als letztes Moment des seiner selbst gewissen Geistes bereits der Reinheit der Pflicht um ihrer selbst willen entledigt und sich aus dem Widerspruch zwischen Moralität und Natur, Vernunft und Sinnlichkeit, reiner Pflicht und Wirklichkeit gelöst, den die moralische Weltanschauung nicht überwinden kann. Sie hat die Antinomie beseitigt, die darin liegt, dass das moralische Bewusstsein die Vorherrschaft der reinen Pflicht erkennt, aber diese Pflicht in Wirklichkeit nicht verwirklichen kann: „Es [das Gewissen] entsagt allen diesen Stellungen und Verstellungen der moralischen Weltanschauung, indem es dem Bewußtsein entsagt, das die Pflicht und die Wirklichkeit als widersprechend faßt.“87 Das Gewissen erzeugt nicht mehr die Verstellung moralischer Weltanschauung, weil es weiß, wie man unter bestimmten Umständen bestimmte Maßnahmen trifft; es ermöglicht, wie Allen Wood sagt, eine Art situation ethics. Daher sind natürliche und sinnliche Faktoren in der Perspektive des Gewissens kein Hindernis für das moralische Handeln. In ähnlicher Weise gründet das Gewissen sein moralisches Handeln nicht mehr auf ein äußeres jenseitiges Wesen wie in der moralischen Weltanschauung. Die Grundlage der Pflicht liegt in der Gewissheit des Gewissens selbst: „Von Pflicht ist also nach wie vor die Rede. Moralisches Bewußtsein Kantischer Prägung und Gewissen unterscheiden sich dadurch, daß jenem die Pflicht als ein Ansich gilt, während dieses die Pflicht zu seiner Überzeugung, zu einem Fürsich macht.“88 Oder in Hegels Worten: „Denn die Sache selbst ist, daß die reine Pflicht in der leeren Abstraktion des reinen Denkens besteht und ihre Realität und Inhalt nur an einer bestimmten Wirklichkeit hat, einer Wirklichkeit, welche Wirklichkeit des Bewußtseins selbst und desselben nicht als eines Gedankendings, sondern als eines Einzelnen ist. Das Gewissen hat für sich selbst seine Wahrheit an der unmittelbaren Gewißheit seiner selbst.“89
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Phänomenologie des Geistes, S. 451. Phänomenologie des Geistes, S. 468. 88 Albert Reuter, Dialektik und Gewissen: Studien zu Hegel, Diss. Universität Freiburg i. Br. 1977, S. 93. 89 Phänomenologie des Geistes, S. 468. 87
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Von hier ausgehend können wir uns nun Hegels Gewissensinterpretation vergegenwärtigen. Sie ist in zwei Ansätze unterteilt. Der eine besteht darin, das Gewissen als Moment im System der wirklichen Bestimmung des freien Willens aus der Perspektive der Logik zu betrachten. Der andere besteht darin, zu erläutern, wie sich das Gewissen als moderne subjektive Freiheit aus verschiedenen geschichtlichen Gemeinschaften in geschichtlicher Perspektive entwickelt hat. Wir überprüfen zuerst die Geschichte der moralischen Gewissensphilosophie, dann können wir die Bedeutung des Gewissens in Hegels praktischer Philosophie und seiner Diagnose der Krise der Zeit erkennen. Hegels moralische Gewissensbeschreibung konzentriert sich auf bestimmte Figuren, die in der Geschichte erscheinen, oder in Allen Speights Worten, sie ist eine „surprisingly punctate“ Beschreibung.90 Diese historischen Figuren erschienen in einer Zeit, in der die bestehende sittliche Ordnung und Tradition zusammenbrach (Hegel glaubte, dass das in seiner Zeit auch der Fall war). Das Problem des Gewissens wird also virulent „in Zeiten, wo die Wirklichkeit eine hohle geist- und haltungslose Existenz ist“91, in einer Welt, die das Gewissen nicht mehr befriedigen kann und „alles, was wir als Recht oder als Pflicht anerkennen, vom Gedanken als ein Nichtiges, Beschränktes und durchaus nicht Absolutes kann aufgewiesen werden.“92 Diese historischen Figuren verkörpern gemeinsam einen negativen Aspekt des Gewissens. Während, wie im GeistKapitel der Phänomenologie des Geistes dargelegt wird, das sittliche Bewusstsein nach allgemeingültigen Normen handelt und das moralische Bewusstsein zumindest einem allgemeine, wenn auch formellen Gesetz folgt, stellt das Gewissen sein negatives Verhältnis zu allen Instanzen mit allgemeiner Bindungskraft dar und sagt uns, dass es nur nach seinen individuellen Standards handelt. Daher besteht „das Zeugnis des Geistes“ dieser großen Figuren in der geistigen Übergangsphase darin, sich in Richtung Selbstbewußtsein zu bewegen, ins eigene Innere zurückzukehren, die Äußerlichkeit zu negieren – Hegels sogenannte „Verflüchtigung“ – und dann zu entscheiden und wieder das Gute nach sich selbst aufzubauen.
I. Der Tod des Sokrates: Sokrates als Erfinder der Moralität Nach Hegels Ansicht ist die Anerkennung subjektiver Freiheit der grundlegendste Unterschied zwischen Altertum und moderner Zeit: „Das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.“93 Für Hegel ist die subjektive Freiheit die Wurzel der griechischen sittlichen Tragödie. Als „Erfinder der Moralität“ lebte Sokrates 90 Allen Speight, „Hegel on Conscience and the History of moral Philosophy“, in: Hegel: New Directions, hg. v. Katerina Deligiorgi Chesham 2006, S. 21. 91 Rechtsphilosophie, § 138 Zusatz, S. 260. 92 Rechtsphilosophie, § 138 Zusatz, S. 260. 93 Rechtsphilosophie, § 124 Anm., S. 233.
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in einer Zeit, in der die Gerechtigkeit verloren ging, eine Zeit des Verderbens der athenischen Demokratie. Die Autorität der traditionellen Poesie konnte den Sinn des griechischen Lebens nicht mehr gewährleisten, also „verflüchtigte [Sokrates] das Daseiende und floh in sich zurück, um dort das Rechte und Gute zu suchen“.94 Nach Hegels Ansicht ist Sokrates’ eigener „Dämon“ der drastische Wandel, den das griechische sittliche Leben nicht bewältigen kann: „Mangel an innerer Subjektivität“.95 Die Griechen als ein gebildetes Volk haben bereits begonnen, sich von der Natur zu lösen: „Das so gebildete Individuum gewinnt zugleich Distanz zu den Forderungen der Gemeinschaft, den Sitten, Gesetzen und Befehlen der Herrschenden.“96 Aber die meisten Menschen bleiben immer noch in dieser Art von unbewusstem Leben. Die Menschen folgen verschiedenen Tugendauffassungen und haben noch nie ein reflektierendes Leben geführt. Sokrates sah die Krise, die dem traditionellen Leben innewohnte: Es beruht nur auf der Autorität und Tradition der Dichter, traditionellen Bräuchen und Sitten, aber nicht auf Vernunft und Philosophie: „Alle Athener waren in die Mysterien eingeweiht, und nur Sokrates ließ sich nicht initiieren, weil er wohl wußte, daß Wissenschaft und Kunst nicht aus den Mysterien hervorgehen und niemals im Geheimnis die Weisheit liegt. Die wahre Wissenschaft ist vielmehr auf dem offenen Felde des Bewußtseins.“97 Sokrates stellte fest, dass unter den Athenern der General nicht wusste, was Tapferkeit war, die Priester nicht wussten, was Frömmigkeit war, und weder Oligarchen noch Demokraten und Tyrannen wussten, was Gerechtigkeit war. Diese traditionelle und natürliche Lebenseinstellung wurde von einer universellen Wertkrise begleitet, und die Meinungen begannen, in die sittliche Gemeinschaft einzudringen. Das Zeichen dieser Krise war die Aufklärung der Sophisten und ihr Relativismus. Daher versuchte er, seine Landsleute zu einem Leben zu führen, das wirklich dem Begriff der Tugend entspricht, was bedeutet, dass er seine Landsleute anleiten wollte, die Definition, die Natur oder den Begriff jeder Tugend zu verfolgen. Nur dieses wirkliche philosophische Leben ist wirklich edel, und Sokrates’ ganze Tätigkeit kann auch als Verteidigung der Philosophie als Lebensweise angesehen werden. Er treibt seine Landsleute dazu, sich selbst zu kennen und nichts mehr zu akzeptieren, was nicht durch Gedanken und Vernunft anerkannt ist. Sokrates stellt als weltgeschichtliche Figur den Beginn der Geschichte der Freiheit, den Auftritt von Subjektivität und Moralität dar. Seine gesamte philosophische Tätigkeit kann als eine erzieherische Umwandlung der Seele betrachtet werden, die seine Gesprächspartner anleiten soll, d. h. jeder von ihnen ist verpflichtet, seine eigene Vernunft bewusst zu nutzen, um über die Meinungen zwischen Sein und Nichtsein – Voraussetzungen, Vorurteile und Situationen – hinauszugehen und den einzigen und ewigen unveränderlichen Begriff zu erfassen, denn nur wenn wir die Wahrheit erfassen, können wir das Gute erfassen: 94
Rechtsphilosophie, § 138 Zusatz, S. 260. Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen, Frankfurt a. M. 1996, S. 93. 96 Ludwig Siep, Hegel und Europa, Paderborn 2003, S. 10. 97 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 292–293. 95
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit „[…] eine Entscheidung, welche die Menschen, noch nicht die Tiefe des Selbstbewußtseins erfassend und aus der Gediegenheit der substantiellen Einheit zu diesem Fürsichsein gekommen, noch nicht innerhalb des menschlichen Seins zu sehen die Stärke hatten. – Im Dämon des Sokrates können wir den Anfang sehen, daß der sich vorher nur jenseits seiner selbst versetzende Wille sich in sich verlegte und sich innerhalb seiner erkannte – der Anfang der sich wissenden und damit wahrhaften Freiheit.“98
Und bei dieser Selbsterkenntnis geht es nicht um die „partikulären Fähigkeiten, Charakter, Neigungen und Schwächen des Individuums, sondern die Bedeutung der Erkenntnis des Wahrhaften des Menschen wie des Wahrhaften an und für sich, – des Wesens selbst als Geistes.“99 Durch diese Art der Erkenntnis, nämlich die Freiheit des Menschen und des Geistes zu erkennen, kann der Mensch sein eigener Meister über alle Grenzen hinweg sein. Er erkennt, dass er nicht mehr den traditionellen Gesetzen, Mythen und Gewohnheiten der Polis unterworfen ist: „In der Freiheit des Wissens, für sich, was recht, was gut sei, zu bestimmen, die wir bei Sokrates hervortreten sehen, ist dann außer diesem Allgemeinen enthalten, daß der Mensch auch für sich in Ansehung des Partikulären, was er zu tun hat, das Entscheidende ist, das Subjekt sich zum Entscheidenden macht.“100 Der Auftritt von Sokrates ist jedoch eine Art „Verderben“ der griechischen Sittlichkeit. Die griechische Sittlichkeit kann den Auftritt von Sokrates und seine repräsentativen Prinzipien nicht ertragen. Aristophanes bezichtigt Sokrates in Wolken, ein Naturphilosoph zu sein, und weist auf die Gefahr hin, die Sokrates’ philosophische Aktivitäten für Polis darstellen. Obwohl Xenophon versuchte, Sokrates zu helfen, auf diesen Vorwurf zu reagieren – „Sokrates habe nicht über die Natur geforscht wie die Sophisten“101 –, und Platon Sokrates’ philosophische Erziehung des Alkibiades in Symposium verteidigte und zu zeigen versuchte, dass Sokrates nicht die Katastrophe in Athen verursacht habe, ist es doch unbestreitbar, dass Sokrates und die Sophisten beide versuchten, Gerechtigkeit und Recht auf die Natur zu gründen. Die von den ihnen jeweils gefundenen Grundlagen sind jedoch unterschiedlich. In dieser Hinsicht bedeutet die Aufklärung der Sophisten auch das Entstehen subjektiver Meinungen. Nach Hegels Ansicht werden solche subjektiven Meinungen von Platon eliminiert.102 Daher drückt Aristophanes nur das gemeinsame Anliegen der Athener aus. Die Wege und Prinzipien von Sokrates stellen für ein Volk wie das athenische, dessen Gewissen noch nicht erschienen ist, etwas dar, das zum Zerfall des Stadtstaates führen wird: „Nach den athenischen Gesetzen, d. h. nach dem Geiste des absoluten Staats, war dieses beides, was Sokrates tat, zerstörend für diesen Geist.“103 Sokrates’ Prinzip wird in seiner Zeit notwendig erscheinen, aber dieses Prinzip wird nicht von seiner Zeit geteilt. 98
Rechtsphilosophie, § 279 Anm., S. 448. Enzyklopädie III, § 377, S. 9. 100 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 492. 101 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 499. 102 Vgl. Rechtsphilosophie, § 279 Anm., S. 448. 103 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, S. 507. 99
C. Gewissen und Sittlichkeit
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Was also auf Sokrates wartet, ist die Strafe, die ihm der Stadtstaat als Schicksal auferlegt hat. Nach Hegels Ansicht haben die Athener durchaus recht, wenn sie das von Sokrates vertretene Prinzip in einer feindseligen Beziehung zu ihrer Lebensform sehen. Sokrates’ Gewissensforderung wird von seinen Landsleuten nicht anerkannt werden. Hegel weist sogar darauf hin, dass selbst moderne Menschen mit Gewissen diese Art von Gewissensgericht nicht anerkennen werden. Die von Sokrates vertretene Moralität, subjektive Reflexion und Meinungsfreiheit, „diese Reflexion des Willens in sich und seine für sich seiende Identität“104, erschien als Verderben der griechischen Polis, aber dieses höhere Prinzip ist zugleich notwendig: „Sie hatten recht, und er auch.“105 Das weitere Werk der Weltgeschichte besteht darin, dieses Prinzip zu verbreiten. Der Konflikt zwischen den beiden ist die notwendige Tragödie im Sittlichen: der Konflikt zwischen der unmittelbaren sittlichen Substanz und dem höheren Prinzip, der Subjektivität, das die innere Harmonie des griechischen Volks zerstörte und schließlich zum Zerfall dieses Volkes führte. Daher ist der Tod des Sokrates, eines Heros, der notwendig in der Weltgeschichte auftauchte und die neuen Prinzipien erkannte und aussprach, der die bestehende Ordnung zerstörte und schließlich durch die bestehende Ordnung zerstört wurde, eine Tragödie von weltgeschichtlicher Bedeutung.
II. Die Stoiker und der reine Gedanke In der Rechtsphilosophie und in den Vorlesungen der Geschichte der Philosophie bezieht Hegel die Stoiker auf Sokrates und erklärt, dass sie sich beide aus dem Sittlichen zurückzogen und es nicht mehr als den letzten Maßstab von Recht und Unrecht, Gut und Böse betrachteten. Was das Gute war, bestimmten sie nur nach ihrer eigenen Innerlichkeit und nach sich selbst: „In Athen war durch Sitte das Rechtliche, Sittliche bestimmt; dieses hat seit Sokrates aufgehört, ein Letztes zu sein. Bei den Stoikern fällt alle äußere Bestimmung weg; das Entscheidende kann nur als ein Subjektives sein, es entscheidet aus sich als letzter Instanz (Gewissen).“106 In der Phänomenologie des Geistes beschäftigt sich Hegel mit den Stoikern unter dem Titel der „Freiheit des Selbstbewußtseins“. Diese Bewusstseinsgestaltung wird als „Unendlichkeit“ oder „Unendlichkeit des Selbstbewußtseins“107 ausgedrückt. Auf der einen Seite steht das Selbstbewusstsein, „welches sich […] das Wesen ist“108; die Stoiker glauben, „daß der Mensch nur dies zu suchen habe, sich selbst gleich zu bleiben, zu werden, zu erhalten, frei zu sein“.109 Auf der anderen Seite steht nach Maßgabe dieser Bewusstseinsgestalt der Begriff, 104
Rechtsphilosophie, § 105, S. 203. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 514. 106 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 286. 107 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 293. 108 Phänomenologie des Geistes, S. 156. 109 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 282–283. 105
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
mit dem sie die äußere Realität denkt, und die Struktur der Vernunft in den Dingen ist durch den gleichen ewigen Logos gegeben: „Denn nicht als abstraktes Ich, sondern als Ich, welches zugleich die Bedeutung des Ansichseins hat, sich Gegenstand sein oder zum gegenständlichen Wesen sich so verhalten, daß es die Bedeutung des Fürsichseins des Bewußtseins hat, für welches es ist, heißt denken.“110
In diesem Sinne ziehen sich die Stoiker, Sokrates und andere Protagonisten des Gewissens gleichermaßen in ihre eigenen Positionen zurück, um das Wahre und das Gute aus ihrer eigenen Perspektive zu bestimmen: „Sein Prinzip ist, daß das Bewußtsein denkendes Wesen ist und etwas nur Wesenheit für dasselbe hat oder wahr und gut für es ist, als das Bewußtsein sich darin als denkendes Wesen verhält.“111 Als die Stoiker noch einen groben und primitiven Rationalismus vertraten, versuchten sie, die Selbstidentität aufrechtzuerhalten, indem sie alle Inhalte ausschlossen. Das Prinzip der Stoiker war daher eine abstrakte Form ohne Inhalt, die Kants reiner Pflicht ähnelte: „Zugleich liegt das höhere, obwohl negativ formelle Prinzip darin, daß das Gedachte allein als solches Zweck und Gut sei, hiermit in dieser abstrakten Form allein, ohne anderen Inhalt (wie Kants Prinzip der Pflicht) das sei, worauf der Mensch den Halt seines Selbstbewußtseins gründen und befestigen müsse, – in der Form des Denkens, d. h. in sich, in seiner Abstraktion nichts, insofern es irgend Inhalt für sich hat, achten und verfolgen. Die formelle Festigkeit des von allem abstrahierenden Geistes in sich stellt uns keine Entwicklung objektiver Grundsätze auf, sondern ein Subjekt, das sich in dieser Unwandelbarkeit und – nicht stumpfen, sondern gewollten – Gleichgültigkeit erhält […].“112
Dem Selbstbewusstseinskapitel der Phänomenologie zufolge betrachtet sich das Selbstbewusstsein (und nur sich selbst) als Wahrheit, in seiner Perspektive sind alle anderen ihm untergeordnet und bestätigen sein Selbstbewusstsein. Hegel sagt daher über das Selbstbewusstsein: „Es ist als Selbstbewußtsein Bewegung; aber indem es nur sich selbst als sich selbst von sich unterscheidet, so ist ihm der Unterschied unmittelbar als ein Anderssein aufgehoben; der Unterschied ist nicht, und es nur die bewegungslose Tautologie des: Ich bin Ich.“113 Als die Stoiker also behaupteten, dass das Selbstbewusstsein und der Gegenstand im Denken vollkommen identisch seien, bestätigten sie nicht das Sein des anderen Gegenstands, sondern bestätigten sich mit Hilfe des Gegenstands. Das Selbstbewusstsein ist frei, weil es nicht von einem anderen abhängt, d. h. das Bewusstsein weiß, dass es die Wahrheit ist. In der Dialektik der Herrschaft und Knechtschaft muss der Herr die Dinge konsumieren und genießen, um sein eigenes Leben zu erhalten und seine Wahrheit gegenüber dem Knecht zu bestätigen. Der Knecht bestätigt sein reines Fürsichsein durch Arbeit. Obwohl der Stoizismus die Dinge nicht zerstört und transformiert, überwindet er nicht den Gegensatz zwi 110
Phänomenologie des Geistes, S. 156. Phänomenologie des Geistes, S. 157. 112 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 293. 113 Phänomenologie des Geistes, S. 138. 111
C. Gewissen und Sittlichkeit
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schen Selbst und Gegenstand. Obwohl er die Identität zwischen sich selbst und dem Sein erkennt, ist sie immer noch eine Art „Selbstbewusstsein“, weil der Stoiker glaubt, dass die Wahrheit der wahren Natur seiner selbst und des Gegenstandes immer noch in ihm selbst ist. Ihm ist die Erfahrung vor dem Selbstbewusstsein entgangen, die auch das Ziel von Begierde und Arbeit ist: Die vielfache sich in sich unterscheidende Ausbreitung, Vereinzelung und Verwicklung des Lebens ist der Gegenstand, gegen welchen die Begierde und die Arbeit tätig ist. Dies vielfache Tun hat sich nun in die einfache Unterscheidung zusammengezogen, welche in der reinen-Bewegung des Denkens ist […] in aller Abhängigkeit seines einzelnen Daseins frei zu sein und die Leblosigkeit sich zu erhalten, welche sich beständig aus der Bewegung des Daseins, aus dem Wirken wie aus dem Leiden, in die einfache Wesenheit des Gedankens zurückzieht.114 Dieser Rückzug ist eine „innere Freiheit“, „vom Äußerlichen, dem Zufalle Preisgegebenen muß man jedoch sogleich abbrechen“.115 Ob er ein Herr oder ein Sklave, Aurelius oder Epiktet ist, er kann diese Gedankenfreiheit genießen. Diese innere Freiheit ist jedoch nur abstrakt, weil sie von allem getrennt ist und „von der Selbständigkeit der Dinge weg in sich zurückgegangen ist“.116 Sie will ihren „reinen Gedanken“117 nur durch das Andere beweisen, so dass sie keinen wirklichen Inhalt hat: „Allein so wie er [der Begriff] hier als Abstraktion von der Mannigfaltigkeit der Dinge sich abtrennt, hat er keinen Inhalt an ihm selbst, sondern einen gegebenen. Das Bewußtsein vertilgt den Inhalt wohl als ein fremdes Sein, indem es ihn denkt.“118 Daher ist diese Art von Freiheit nicht die wirkliche, „nicht die lebendige Freiheit selbst“.119 Ob im Bereich des Handelns oder im Bereich des Denkens, der Stoizismus nichts anderes als „das inhaltlose Denken“.120 Wie Hegel wiederholt betont hat, ist die abstrakte Vernunft der Stoiker selbst eine Reflexion des Rechtszustands, ein Zeichen des im Privatleben versunkenen römischen Volkes, ein Zeichen des Zusammenbruchs der gesamten öffentlichen Sittlichkeit und des Umstandes, dass die gesamte römische Gesellschaft den Standard der Wahrheit verliert. Als „allgemeine Form des Weltgeistes [ist sie nur denkbar] in der Zeit einer allgemeinen Furcht und Knechtschaft, aber auch einer allgemeinen Bildung“.121 In der Darstellung des Rechtszustands in der Phänomenologie des Geistes weist Hegel darauf hin, dass die Persönlichkeit, die sich der sittlichen Substanz entledigt hat, nichts anderes sei als das Selbstbewusstsein des Stoizismus: „Es ist absolut für sich dadurch, daß es sein Wesen nicht an irgendein Dasein knüpft, sondern jedes Dasein aufgeben [will] und sein Wesen allein in die Einheit 114
Phänomenologie des Geistes, S. 157. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 285. 116 Phänomenologie des Geistes, S. 158. 117 Ebd. 118 Ebd. 119 Ebd. 120 Ebd. 121 Phänomenologie des Geistes, S. 157–158. 115
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
des reinen Denkens setzt.“122 Das stoische Gewissen sei daher nur eine Art privates und formales Gewissen: „Zu diesem Konkreteren als abstrakte Sittlichkeit einmal und das andere Mal als in mir, der ein Gewissen hat, ist das stoische Prinzip noch nicht gekommen.“123 Obwohl das stoische Gewissen einerseits ein „wahrhaftes Prinzip“ sei, bleibe es zugleich „abstrakt“124, weil es nur „die Bestimmung der abstrakten Freiheit, der abstrakten Unabhängigkeit“125 sei und nicht als objektive Sittlichkeit, als „ein Zustand vernünftiger Verfassung, ein gebildeter, gesetzlicher Zustand “126 und als vernünftige Objektivität in Erscheinung trete. Aufgrund seines Standpunkts des Selbst-Bewusstseins hält der Stoiker sich fest an seiner eigenen Gewißheit, verflüssigt alle besonderen Bestimmungen und negiert alles, indem er in seine eigenen Gedanken zurückgeht. Die Sittlichkeit hat sich nicht als notwendiges System der Freiheit herausgebildet. Das Grundprinzip der subjektiven Freiheit „hat […] noch nicht seine konkrete Gestalt“.127 In der wirklichen Einheit der subjektiven und objektiven Freiheit kann die Gewissensfreiheit bewahrt werden, ohne zu einem abstrakten Gedanken zurückzukehren – nämlich verwirklicht als konkrete institutionalisierte Freiheit. Oder in Hegels Worten: „Im konkreten Prinzip des Vernünftigen ist der Zustand der Welt, meines Gewissens nicht gleichgültig.“128
III. Rechtsphilosophie und Protestantismus: Eigensinn In der Schrift Über eine Anklage wegen öffentlicher Verunglimpfung der katholischen Religion aus der Berliner Zeit behauptete Hegel, er sei als lutherischer Christ geboren, sei zum Lutheraner ausgebildet worden und sei heute Professor an einer protestantischen Universität.129 In einem bekannten Brief an den Erweckungs theologen Friedrich August Gotttreu Tholuck hat Hegel behauptet: „Ich bin ein Lutheraner und durch Philosophie ebenso ganz im Luthertum befestigt.“130 Tatsächlich ist Hegels Haltung gegenüber dem Katholizismus nicht sehr freundlich. Seine Kritik an der positiven Religion in seinen Jugendschriften bezog sich deutlich auf den Katholizismus. Selbst in der Reifezeit seiner Philosophie der Religion betrachtete Hegel den Katholizismus als eine Religion mit offensichtlicher naturalistischer Tendenz und kritisierte besonders heftig die eucharistische Lehre im Katholizismus. Nicht überzeugend ist (aus unserer Sicht) die Auffassung, dass Hegels Philosophie lediglich eine Verteidigung des Protestantismus sei. Schließlich behauptet Hegel wiederholt, dass Philosophie in der Neuzeit nicht mehr die Magd 122
Phänomenologie des Geistes, S. 356. Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 295. 124 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 294. 125 Ebd. 126 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie II, S. 295. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Vgl. Berliner Schriften, S. 68. 130 Briefe von und an Hegel, hg. v. Johannes Hoffmeister, Bd. 4, S. 29. 123
C. Gewissen und Sittlichkeit
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der Theologie sein sollte. Hegels Philosophie ist Philosophie, nicht protestantische Philosophie, „the highest witness is for him: philosophical thinking“.131 Hegels Philosophie der Religion widmet sich der Entdeckung der Vernünftigkeit in der Religion selbst und wie Freiheit ihren geeignetsten Ausdruck in bestimmten religiösen Formen der Geschichte finden kann. In den Vorlesungen über Geschichte der Philosophie erklärt Hegel zu Luthers Reformation: „Aus dem Jenseitigen wurde so der Mensch zur Präsenz des Geistes gerufen, und die Erde und ihre Körper, menschliche Tugenden und Sittlichkeit, das eigene Herz und das eigene Gewissen fingen an, ihm etwas zu gelten.“132 Deshalb zeigt das protestantische Prinzip nach Hegels Ansicht das gleiche Prinzip, „de[n] weiterhin gereifte[n] Geist im Begriffe zu fassen“133; das ist die Vernünftigkeit im Protestantismus, und dieses Prinzip ist das Prinzip der subjektiven Freiheit: „Diese subjektive oder moralische Freiheit ist es vornehmlich, welche im europäischen Sinne Freiheit heißt. Vermögen des Rechts derselben muß der Mensch eine Kenntnis vom Unterschiede des Guten und Bösen überhaupt eigens besitzen; die sittlichen wie die religiösen Bestimmungen sollen nicht nur als äußerliche Gesetze und Vorschriften einer Autorität den Anspruch an ihn machen von ihm befolgt zu werden, sondern in seinem Herzen, Gesinnung, Gewissen, Einsicht usf. ihre Zustimmung, Anerkennung oder selbst Begründung haben.“134
Der Begriff der Freiheit entstand in den antiken griechischen Stadtstaaten, in denen sich das Individuum herausbildete und sich nach und nach von dem unbewussten Sittlichen distanzierte. Das Selbstbewusstsein begann aus dem Mysterium herauszutreten und fand schließlich kulturellen Ausdruck im Christentum. Politisch wurde es in der verfassungsmäßigen Regierung moderner Staaten realisiert: individuelle Autonomie, subjektive Freiheit und das Recht, Tradition, Sitte und Autorität kritisch zu prüfen. Erst nach einer solchen Selbstbestimmungsprüfung und endgültigen Zustimmung kann die Normativität neu festgelegt werden. In der Rechtsphilosophie nennt Hegel dieses Prinzip der subjektiven Freiheit „Eigensinn“. In den Werken des jungen Hegels ist der Begriff des Eigensinns im Grunde negativ und die Wurzel des Eigensinnes ist gerade ein unfreier Zustand des politischen und religiösen Lebens. Verglichen mit dem griechischen Volksleben der Freiheit und Schönheit hat die positive Religion das lebendige religiöse Leben in Lehren und Theorien und in ein fremdes Schicksal verwandelt, dessen sich die Menschen nicht entledigen können. Eigensinn ist eine der Manifestationen dieser Entfremdung, Gegensatz und Unglück. Mit Hilfe der Analyse der jüdischen Religion wies Hegel darauf hin, dass Eigensinn eigentlich eine Spaltung ist, hartnäckig in sich selbst bleibt und nicht in der Lage ist, eine Versöhnung mit den Anderen 131 Lu De Vos, „Hegel and Protestantism“, in: Hegel’s philosophy of historical religions, hg. v. Bart Labuschagne und Tiomo Slootweg, Leiden / London 2012, S. 265. 132 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, S. 295. 133 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 27. 134 Enzyklopädie III, § 503 Anm., S. 312–313.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
und der Natur zu erreichen, und dieses „Selbst“-Bewusstsein hat zu Fanatismus geführt. Als Hegel die Unterschiede zwischen der Erziehung von Kindern freier und nicht freier Völker diskutierte, glaubte er, wenn wir die unabhängige Persönlichkeit der Kinder unterdrücken, werden „sie zum Ungehorsam und mürrischen Eigensinn desto mehr geneigt werden, je mehr man ihnen immer zu befehlen hat“.135 Über die Juden schreibt Hegel: „[…] so hartnäckig kämpften sie für ihren Dienst, wenn er angegriffen wurde. Sie stritten für ihn als Verzweifelte […]. Und so, wie das Leben in ihnen mißhandelt, wie in ihnen nichts Unbeherrschtes, nichts Heiliges gelassen war, so wurde ihr Handeln zur unheiligsten Raserei, zum wütendsten Fanatismus. Die Hoffnung der Römer, der Fanatismus werde unter ihrer gemäßigten Herrschaft sich mildern, schlug fehl, er erglühte noch einmal und begrub sich unter seiner Zerstörung.“136
Auch in der Rechtsphilosophie ist die Kritik an diesem Fanatismus nicht reduziert worden (siehe § 270). Hegel bezieht sich manchmal auf den abstrakten Willen, der sich „auf ein Dieses lediglich beschränkt“137 oder auf den rohen Menschen, der „kein Interesse als sein formelles Recht“138 habe und sich am meisten auf sein Recht versteife. Da Hegel die Entzweiung jedoch nicht mehr als ein vollkommen Negatives, sondern auch als ein Positives im Prozess der Selbsterkenntnis des Geistes betrachtet, ist Eigensinn kein grober Zustand mehr, sondern etwas Legitimes; die griechische religiöse und politische Form ist nicht mehr ein ewiges Vorbild: „Das Prinzip der Reformation nun ist gewesen das Moment des Insichseins des Geistes, des Freiseins, des Zusichselbstkommens; eben die Freiheit heißt, in dem bestimmten Inhalt sich zu sich verhalten, – die Lebendigkeit des Geistes, in dem, was als Anderes erscheint, in sich zurückgekehrt zu sein.“139
Luthers Betonung des Gewissens macht deutlich, dass der Grund im Protestantismus im Prinzip der Subjektivität liegt: „Es ist ein großer Eigensinn, der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, – und dieser Eigensinn ist das Charakteristische der neueren Zeit, ohnehin das eigentümliche Prinzip des Protestantismus.“140 Wie Allen Speight betont, betrachtete Hegel nicht die mittelalterliche oder frühchristliche Herkunft von Luthers Gewissensbegriff, sondern konzentrierte sich auf Luthers Appell an das Gewissen in seiner Rede auf dem Reichstag zu Worms.141 135
Frühe Schriften, S. 66. Frühe Schriften, S. 296–297. 137 Rechtsphilosophie, § 7 Zusatz, S. 57. 138 Rechtsphilosophie, § 37 Zusatz, S. 96. 139 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, S. 57. 140 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 27. 141 Allen Speight, „Hegel on Conscience and the History of moral Philosophy “, in: Hegel: New Directions, hg. v. Katerina Deligiorgi Chesham 2006, S. 24. 136
C. Gewissen und Sittlichkeit
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Wie Sokrates griff Luther auf das „Zeugnis des Geistes“ zurück. Der Maßstab der Gerechten kommt nicht von der Äußerlichkeit, den Empfindungen und äußeren Dingen, auch nicht aus der Unterwerfung unter die Autorität oder aus den völlig korrumpierten kirchlichen Praktiken und dem Aberglauben: „Alles dieses bindet den Geist unter ein Außersichsein, wodurch sein Begriff im Innersten verkannt und verkehrt und Recht und Gerechtigkeit, Sittlichkeit und Gewissen, Zurechnungsfähigkeit und Pflicht in ihrer Wurzel verdorben sind.“142 Wenn ich handle, stütze ich mich auf die innere und subjektive Gewissheit, die Gewissheit der ewigen, an und für sich bestehenden Wahrheit Gottes. Im Mittelalter wurde das private Gewissen völlig verleugnet. Die Menschen waren der Herrschaft der Äußerlichkeit unterworfen, die die Innerlichkeit der Menschen dominierte. Daher gab es kein wirkliches moralisches Selbsturteil und kein unabhängiges Selbstsein als Subjekt. Mit anderen Worten, die Menschen kehrten nicht zu sich selbst zurück und konnten nicht von der Äußerlichkeit getrennt werden. Die Menschen konnten nicht durch ihre eigenen Gedanken ein vollkommen allgemeines Gesetz aufstellen, um das Maß von Gut und Böse zu bestimmen: „Die Kirche war keine geistige Gewalt mehr, sondern eine geistliche, und die Weltlichkeit hatte zu ihr ein geistloses, willenloses und einsichtsloses Verhältnis. Als Folge davon erblicken wir überall Lasterhaftigkeit, Gewissenlosigkeit, Schamlosigkeit, eine Zerrissenheit, deren weitläufiges Bild die ganze Geschichte der Zeit gibt.“143
Aufgrund dieser Äußerlichkeit kann in diesem Zustand dem Menschen sein eigenes Handeln nicht zugerechnet werden und er befindet sich in einem Zustand der Selbstlosigkeit. Hegel nannte diese Existenz „Naturwesen“, „die unmittelbare natürliche Existenz“ und „die Existenz nur als die seinige“144, und dieser natürliche Zustand der Selbstlosigkeit zeichnet sich nicht zuletzt dadurch aus, dass Menschenrechte und moralische Prinzipien geleugnet werden. Aber „Luther hat diese Autorität verworfen und an ihre Stelle die Bibel und das Zeugnis des menschlichen Geistes gesetzt. Daß nun die Bibel selbst die Grundlage der christlichen Kirche geworden ist, ist von der größten Wichtigkeit: jeder soll sich nun selbst daraus belehren, jeder sein Gewissen daraus bestimmen können. Dies ist die ungeheure Veränderung im Prinzip: die ganze Tradition und das Gebäude der Kirche wird problematisch und das Prinzip der Autorität der Kirche umgestoßen.“145 Hegel wies darauf hin, dass in der vorherigen Zeit die Errettung der Menschen von Priestern vermittelt werden müsse, aber jetzt erkennen die Menschen, dass „das Religiöse im Geist des Menschen seine Stelle haben muß und in seinem Geiste der ganze Prozeß der Heilsordnung durchgemacht werden muß, daß seine Heiligung seine eigene Sache ist und er dadurch in Verhältnis tritt zu seinem Gewissen und unmittelbar zu Gott, ohne jene Vermittlung der Priester, die die eigentliche Heilsordnung in ihren Händen haben.“146 142
Enzyklopädie III, § 552 Anm., S. 357. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 458. 144 Rechtsphilosophie, § 57, S. 122–123. 145 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 497–498. 146 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie III, S. 49. 143
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
So wie sich Sokrates und der Stoizismus den religiösen und sittlichen Lebensformen ihrer jeweiligen Zeit widersetzten, verlangte auch Luther, diese Äußerlichkeit zu überwinden und zu sich selbst zurückzukehren. Er wollte sein eigener Herr sein und das Gute und das Wahre bestimmen, das ist das sogenannte „Prinzip des Nordens“.
IV. Gewissen bei Kant und Fichte Der Begriff des Gewissens ist auch ein wichtiger Teil von Kants Moralphilosophie, und Kants Gewissenstheorie hat sich mehrfach verändert. In der vorkritischen Zeit konzentrierte sich Kant vor allem auf Christian Wolffs Gewissenstheorie. Für Wolff ist das Gewissen als moralisches Gefühl ein unmittelbares Urteil über das individuelle Handeln, und das moralische Prinzip ist kein Urteil über das Gute oder Böse im individuellen Handeln, sondern eine Reflexion über das Urteil des Gewissens, um das Gute oder das Böse des Gewissensurteils zu bestimmen und so zwischen dem richtigen und dem falschen Gewissen zu unterscheiden. Bei Kant heißt es: „Ob eine Handlung recht oder unrecht sei, darüber urteilt der Verstand, nicht das Gewissen.“147 In der Metaphysik der Sitten und in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft etablierte Kant das berühmte Gerichtsmodell. Kant unterscheidet Gewissen von der Urteilskraft: Die Urteilskraft ist seiner Meinung nach für die Prüfung des individuellen Handelns zuständig, und das Gewissen ist die Instanz, die für die Prüfung dieser Prüfung zuständig ist. So gibt es innerhalb des Gerichts drei verschiedene Fähigkeiten, zum einen die Fähigkeit des Urteils des Verstandes, zu beurteilen, ob eine Maxime dem universellen Gesetz entspricht, und in diesem Fall hat der Verstand zu prüfen, ob die subjektive Maxime, die ich angenommen habe, zu einem objektiven universellen Gesetzen werden könnte: „Es wäre hier leicht zu zeigen, wie sie mit diesem Compasse in der Hand in allen vorkommenden Fällen sehr gut Bescheid wisse, zu unterscheiden, was gut, was böse, pflichtmäßig, oder pflichtwidrig sei.“148 Und diese Prüfung der Entsprechung soll eine Art Universalisierungstest durchführen. Die zweite Fähigkeit ist die Fähigkeit der Urteilskraft, ein bestimmtes Handeln als universelles Gesetz oder Maxime einzustufen: „Ob nun eine uns in der Sinnlichkeit mögliche Handlung der Fall sei, der unter der Regel stehe, oder nicht, dazu gehört praktische Urtheilskraft, wodurch dasjenige, was in der Regel allgemein (in abstracto) gesagt wurde, auf eine Handlung in concreto angewandt wird.“149 Gewissen hingegen ist die Fähigkeit, zu überprüfen, ob die Ausführung der ersten beiden Fähigkeiten richtig ist. Das Hauptproblem ist, dass das Gewissen bei Kant ganz formell und innerlich ist, ein 147
Kant, AA VI, S. 186. Kant, AA IV, S. 404. 149 Kant, AA V, S. 67. 148
C. Gewissen und Sittlichkeit
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Selbstbezug, wie Kant es ausdrückt: „Man könnte das Gewissen auch so definiren: es ist die sich selbst richtende moralische Urteilskraft.“150 Gewissen ist immer nur ein innerliches Gericht, das jede objektive, äußerliche Autorität ablehnt. In Kants Nachlass, wo Kant versucht, den Grund des Gewissens mit Gott zu verbinden, verinnerlicht er auch Gott: „Unterschied der unbedingten und bedingten Pflicht der practischen Vernunft. Jener ihr Urheber ist Gott. – Gott ist also keine ausser mir befindliche Substanz sondern blos ein moralisch Verhältnis in Mir […] Der marternde Vorwurf des Gewissens ist die Stimme Gottes in der praktischen Vernunft.“151
Wie manche Kommentatoren betont haben, richtet sich Hegels Diskussion des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes gegen Fichte und die Romantiker. Hegels Diskussion des Begriffs Ironie in der Rechtsphilosophie bestätigt diesen Punkt. Fichte versuchte, die reine Form von Kants Moralphilosophie zu überwinden. Zunächst einmal wird das Gewissen im Kantischen Sinne nach Ansicht Fichtes nur im Voraus eine Überprüfung vornehmen, aber dieser Universalisierungstest kann die Allgemeinheit der Handlungsmaxime selbst nicht garantieren. Fichte hofft, den Selbstbezug des Gewissens in einen Objektbezug zu verwandeln, d. h. das Gewissen muss den bestimmten Pflichtinhalt des Objekts beinhalten, nicht nur die Selbstprüfung der praktischen Vernunft innerhalb des Subjekts. Fichte diskutierte das Gewissen, um die Realität und Anwendbarkeit des Prinzip der Sittlichkeit zu deduzieren, d. h. er versuchte zu prüfen, wie die moralischen Prinzipien auf bestimmte Handlungen angewendet werden können, oder er versuchte, wie er selbst es formulierte, die Übereinstimmung zwischen „es ist geschehen“ und „was geschehen sollte“152 zu erreichen. Fichte versuchte somit auch, Gewissheit und Wahrheit im Begriff des Gewissens zusammenzuführen. Nach Fichtes Ansicht fehlt Kants Gewissensbegriff ein absoluter Ausgangspunkt, und dieser ist für Fichte die sogenannte Überzeugung. Fichte versuchte, den Begriff der Überzeugung zu nutzen, um den Gemütszustand bei der mora lischen Entscheidung zu beschreiben, der eine Art Bestätigung für das gegenwärtige bestimmte Handeln ist und aus einem höheren Gefühl der Übereinstimmung herrührt. Fichte hält Kants Versäumnis, die Gewissenstheorie nicht mithilfe der reflektierenden Urteilskraft zu entwickeln, für einen Fehler. Nach Kants Ansicht geht die reflektierende Urteilsraft von einzelnen Objekten aus, um nach allgemeinen Prinzipien zu suchen. Wenn einzelne Objekte mit allgemeinen Prinzipien übereinstimmen, präsentieren uns Objekte ein ästhetisches Gefühl. Wir können auch „sehen“, dass es eine bestimmte allgemeine Ordnung innerhalb von Objekten gibt. Fichte hingegen glaubt, dass sich das Gewissen zwischen bestimmten Einzelobjekten und allgemeinen Prinzipien bewegt, und schlägt eine Brücke der reflektieren-
150
Kant, AA VI, S. 186. Kant, AA XXI, S. 149. 152 Fichte, SW 4, S. 58. 151
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
den Urteilskraft zwischen den beiden. Im System der Sittenlehre definierte Fichte das Gewissen auf zwei Arten: Erstens ist das Gewissen „das Bewusstseyn unserer höheren Natur und absoluten Freiheit“153; zweitens ist das Gewissen „das unmittelbare Bewusstseyn unserer bestimmten Pflicht“.154 Fichtes erste Definition des Gewissens weist auf die Vernunft und die absolute Freiheit hin, die die Menschen im Allgemeinen haben, während seine zweite Definition darauf hinweist, dass das Gewissen unter bestimmten Umständen bestimmte Pflichten erfüllt. Mit anderen Worten, die absolute Freiheit bildet das eine Extrem oder den einen Pol, während die bestimmte moralische Entscheidung den anderen bildet, und das Moment der Kommunikation zwischen beiden besteht in der reflektierenden Urteilskraft. Wenn die besondere Wahl des Subjekts und die absolute Freiheit sich einander annähern, wird das Subjekt ein Gefühl der Übereinstimmung haben. Das Ergebnis dieses Gefühls ist Fichtes sogenannte Überzeugung. Doch was ist die letzte Grundlage für diese ‚Überzeugung‘ als Gefühl der Koordinierung zwischen besonderer Entscheidung der Pflicht und absoluter Freiheit, das auf dem unmittelbaren Gefühl und der reflektierenden Urteilskraft beruhen soll? Wo findet sich ein schlechthin gültiger Urteilsstandard? Nach Ansicht Fichtes kann diese Art von Urteilsstandard nur vom Subjekt selbst kommen. In System der Sittenlehre betont Fichte: „Das Kriterium der Richtigkeit unserer Ueberzeugung ist, wie wir gesehen haben, ein inneres. Ein äusseres, objectives, giebt es nicht, noch kann es sein solches geben, da ja das Ich gerade hier, wo es als moralisch betrachtet wird, ganz selbstständig und von allem, was ausser ihm liegt, unabhängig seyn soll.“155
Mit anderen Worten, der Kern von Fichtes Gewissensbegriff ist immer noch Innerlichkeit. Er schlägt vor, die reflektierende Urteilskraft zu benutzen, um die beiden Extreme der Subjektivität und Objektivität in Verbindung zu bringen, aber am Ende wird das Gewissen der reinen Überzeugung überlassen, und die letzte Grundlage für die Beurteilung dieser Überzeugung ist „ein Gefühl der Wahrheit und Gewissheit“.156 Mit diesem Gefühl haben Gewissheit und Wahrheit einen Konsens erreicht, und dieses Gefühl fungiert „als das gesuchte absolute Kriterium der Richtigkeit unserer Ueberzeugung von Pflicht“.157 Fichte stärkt das Gewissen als reine Form und Abstraktion weiter, statt jene Subjektivität zu überwinden, die durch Kants innere Stimme Gottes ins Spiel gekommen war. Daher ist das Gewissen bei Fichte zur Instanz einer Überzeugungsethik geworden, der es an einem Grund der Objektivität mangelt und die von sich selbst völlig überzeugt ist. „Handle nach deinem Gewissen“ ist letztlich ein leerer 153
Fichte, SW 4, S. 147. Fichte, SW 4, S. 173. 155 Fichte, SW 4, S. 170. 156 Fichte, SW 4, S. 167. 157 Fichte, SW 4, S. 167. 154
C. Gewissen und Sittlichkeit
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Slogan, der mit sich selbst im Einklang bleibt, ohne einen wirklichen vernünftigen Grund zu geben: „Aber tatsächlich gibt es keinen vernünftigen Grund dafür, unbedingt nach der Durchsichtigkeit der eigenen Intentionen zu streben und unbedingt konsistent im Urteilen, Wollen und Handeln zu sein. Jedenfalls handelt es sich bei den entsprechenden Normen oder Werturteilen nicht um soleche, die moralisch begründet sind.“158
V. Gewissensbegriff beim jungen Hegel Wie wir in Hegels Rückblick auf die Geschichte der Moralphilosophie des Gewissens sehen können, ist das Gewissen immer mit der Trennung von Subjektivität und Objektivität, Gewissheit und Wahrheit konfrontiert, und das Bewusstsein einer solchen Trennung ist eine harte Arbeit für Hegels gedankliche Entwicklung. In den Fragmenten über Volksreligion und Christentum (1793–1794) glaubte Hegel, dass der Grund, warum ein Mensch taub gegen die Stimme der Pflicht und des Gewissens ist, in der Positivität der Religion liegt, die nur eine Ansammlung von religiösem Wissen und Lehren ist und es nicht jedem erlaubt, selbst ein emotionales Leben zu führen. Wenn jemand mit diesem Wissen und diesen Lehren konfrontiert ist, kann er nur passiv gehorchen. In Hegels Kopf ist reines Gewissen die Prämisse eines freien und schönen Lebens. Aber zu dieser Zeit ist Hegels positive Religion das ganze Christentum, nicht nur der Katholizismus. Deshalb verurteilte Hegel die katholische Gewissenszensur als Übertretung. Religiöse Reformatoren und Luther traten zu dieser Zeit jedoch nicht als Heroen des Gewissens auf. Im Gegenteil, Hegel glaubte, er sei weit entfernt „von der Idee der Verehrung Gottes in Geist und Wahrheit“159, weil der Protestantismus dem Katholizismus gefolgt sei und eine Kirchenpolizei etabliert habe. Diese Kirchengewalt war keine „Stütze der Gewissensfreiheit“160, sondern beruhte nur auf Privatgesetzen einer geschlossenen Gemeinschaft. Deshalb heißt es über Luther: „Er benahm den Geistlichen die Macht, durch Gewalt und über die Beutel zu herrschen, aber er wollte es noch über die Meinungen.“161 Schon zu dieser Zeit hat Hegel die Bedeutung des Gewissens in Kollisionsfällen der moralischen Pflicht bemerkt. Und erst in dieser Zeit, in einer etwas widersprüchlichen Situation, glaubt Hegel, dass Gewissen existiere entweder „nur durch den Rat rechtschaffener und erfahrener Männer“ oder „durch die Überzeugung, daß Pflicht und Tugend der höchste Grundsatz“ sei. Hier liegt natürlich eine Mischung verschiedener Gedanken des jungen Hegel vor.
158 Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung: Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1998, S. 267. 159 Frühe Schriften, S. 63. 160 Ebd. 161 Ebd.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
In der Frankfurter Zeit erschien Hegels bedeutendste Gewissensdarstellung in Der Geist des Christentums und sein Schicksal. In der Einleitung zu „Das Negative, oder die Freyheit, oder das Verbrechen“ im System der Sittlichkeit vergleicht Hegel das Gewissen mit der Gerechtigkeit der Rache, um den Unterschied zwischen der ideellen, reinen Negation der Negation und der absoluten Negation zu klären. Hegel weist darauf hin, dass die Gerechtigkeit der Rache die reale Gegenwirkung oder Umkehrung des Verbrechens sei und das Gewissen nur „die ideelle unmittelbare“ oder „diese ideale Umkehrung“.162 „Diese ideale Umkehrung ist das Gewissen, und nur etwas inneres, nicht inneres und äusseres zugleich; etwas subjectives nicht objectives zugleich; unmittelbar hat der Verbrecher, was er scheinbar äusserlich und als ein ihm fremdes verletzt, darin ebenso sich selbst ideell verletzt und aufgehoben; insofern ist die äussere That zugleich eine innere; das Verbrechen an dem Fremden begangen, eben so an ihm selbst begangen. Aber das Bewußtseyn dieser seiner eignen Vernichtung, ist ein subjectives, inneres; oder das böse Gewissen.“163
Herbert Schnädelbach, Henry Harris und Steffen Schild haben sich mit der Verbindung zwischen Hegels Gewissensbegriff und Nietzsche und Freud beschäftigt.164 Es scheint, dass Hegel und Nietzsche, wie viele andere, das Gewissen eher als eine Folter des Geistes und als einen Ort des Schuldgefühls betrachten. Auch wenn Hegel Nietzsche zustimmen mag, dass das Gewissen eine späte Frucht ist, sind ihre Einstellungen zu dieser Frucht ganz unterschiedlich. Tatsächlich liegt Hegels Schwerpunkt auf der Subjektivität und Idealität des Gewissens. Im System der Sittlichkeit entspricht das Gewissen der negativen Aufhebung. In dieser Negation wird die Bestimmung nur ideell aufgehoben. Ebenso ist das Gewissen als Verbrechensbewusstsein subjektiv und innerlich. Die Verurteilung von Verbrechen durch das Gewissen ist nur eine innerliche Gegenwirkung im Verbrecher. Die Realität von Verbrechen und Gewissen ist immer noch eine fixierte Entgegensetzung. Wie Hegel sagt, hat das Gewissen „sich selbst ideell verletzt und aufgehoben“, hebt aber das Verbrechen nicht objektiv auf. Daher ist diese Aufhebung „insofern unvollständig und muß sich auch äusserlich als rächende Gerechtigkeit darstellen“.165 Wie in Der Geist des Christentums und sein Schicksal kann das böse Gewissen das Verbrechen nicht aufheben. Der Trieb des Gewissens wird sich fortgesetzt angreifen und sich innerlich verdammen. Wann immer das Gewissen gewinnt, wird die Angst wiederauftauchen. Nur im Kampf um Tod und Leben, worin das Leben sich als „die Indifferenz und Totalität“166 darstellen kann, kann das böse Gewissen die Realität des Verbrechens wirklich aufheben: „The criminal, Hegel asserts,
162
GW 5, Schriften und Entwürfen (1799–1808), S. 312. GW 5, Schriften und Entwürfen (1799–1808), S. 313. 164 Vgl. Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 95; Henry Harris, Hegels Development: Night Thoughts (Jena 1801–1806), Oxford 1983, S. 195; Steffen Schmidt, Hegels System der Sittlichkeit, Berlin 2007, S. 203. 165 GW 5, Schriften und Entwürfen (1799–1808), S. 313. 166 Ebd. 163
C. Gewissen und Sittlichkeit
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engages in a life-and-death struggle with the individual she has confronted, for only through this struggle can she overcome the self-alienation she suffers in the wake of her criminal deed. This externalization of remorse and compunction as a life-and-death struggle is the actualization – or as Hegel calls it, the objectification – of the criminal act’s ideal inversion. “167 In Glauben und Wissen legt Hegel dar, dass der Weltgeist in der Philosophie Kants, Jakobis und Fichtes sein großes Prinzip, das Prinzip des Nordens, erkannt habe, es ist der protestantische Standpunkt in der Religion, d. h. die Subjektivität, in der „Schönheit und Wahrheit in Gefühlen und Gesinnungen, in Liebe und Verstand sich darstellt“.168 Hegel glaubt, dass der Verstand, weil er die absolute Bedeutung der Religion nicht versteht, das Objekt des Glaubens als Ding erkennen wird, so dass der Verstand in der Innerlichkeit des Gewissens eingeschlossen ist und so zu einer subjektiven Schönheit wird, die in der Innerlichkeit bestehen bleibt und die Notwendigkeit der Objektivierung ablehnt: „Zwar muß auch das Innere äußerlich werden, die Absicht in der Handlung Wirklichkeit erlangen, die unmittelbare religiöse Empfindung sich in äußerer Bewegung ausdrücken und der die Objektivität der Erkenntnis fliehende Glaube sich in Gedanken, Begriffen und Worten objektiv werden; aber das Objektive scheidet der Verstand genau von dem Subjektiven, und es wird dasjenige, was keinen Wert hat und nichts ist, so wie der Kampf der subjektiven Schönheit gerade dahin gehen muß, sich gegen die Notwendigkeit gehörig zu verwahren, nach welcher das Subjektive objektiv wird.“169
Hegel glaubt, dass Gewissen und subjektive Schönheit wirklich zum Ausdruck gebracht werden müssen, damit andere sie einsehen können, und Subjektivität muss als Objektivität ausgedrückt werden. Das Absolute und die Wahrheit dürfen nicht nur Sehnsucht sein, sondern müssen in der Welt verwirklicht werden. Wahrheit und Bedeutung müssen der Wirklichkeit menschlichen Handelns und der menschlichen Existenz inhärent sein, sie dürfen nicht nur als ewige subjektive Sehnsucht nach dem Jenseits existieren: „Die Absicht bleibt unbefleckt von ihrer Objektivität als Handlung, und die Tat sowie der Genuß wird sich nicht durch den Verstand zu einem Etwas gegen die wahre Identität des Inneren und Äußeren erheben; die höchste Erkenntnis würde die sein, welches dieser Leib sei, in dem das Individuum nicht ein einzelnes wäre und das Sehnen zur vollkommenen Anschauung und zum seligen Genüsse gelangte.“170
167
Pini Ifergan, Hegel’s Discovery of the Philosophy of Spirit, New York 2014, S. 86. Jenaer Schriften, S. 289. 169 Jenaer Schriften, S. 290. 170 Jenaer Schriften, S. 291. 168
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
D. Dialektik des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes Hegel erläutert die Dialektik des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes. Er weist deutlich darauf hin, dass dieses Kapitel auf Fichte und die Romantiker (Jacobi, Novalis, Friedrich Schlegel, Hölderlin), besonders auf Jacobis Romane Allwill und Woldemar anspielt.171 Das Gewissen verlegt die Verwirklichung der Moralität nicht wie das moralische Bewusstsein ins Jenseits, sondern glaubt, dass „das Wirkliche zugleich reines Wissen und reine Pflicht ist.“172 Das heißt, das Gewissen hebt die Trennung von Ansich und Selbst auf, und der kategorische Imperativ als Normierungsinstanz der Willensbildung ist fortgefallen.173 Das Gewissen glaubt, dass es die moralische Pflicht durch moralisches Handeln wirklich erfüllen kann, und ist gewiss, dass es die Einheit von Pflicht und Sein verwirklichen kann: „Es selbst ist sich das in seiner Zufälligkeit Vollgültige, das seine unmittelbare Einzelheit als das reine Wissen und Handeln, als die wahre Wirklichkeit und Harmonie weiß.“174 Vor dem Gewissen löse sich daher die Antinomie der moralischen Weltanschauung auf: „Das Gewissen ist dagegen das Bewußtsein darüber, daß, wenn das moralische Bewußtsein die reine Pflicht als das Wesen seines Handelns aussagt, dieser reine Zweck eine Verstellung der Sache ist; denn die Sache selbst ist, daß die reine Pflicht in der leeren Abstraktion des reinen Denkens besteht und ihre Realität und Inhalt nur an einer bestimmten Wirklichkeit hat, einer Wirklichkeit, welche Wirklichkeit des Bewußtseins selbst und desselben nicht als eines Gedankendings, sondern als eines Einzelnen ist. Das Gewissen hat für sich selbst seine Wahrheit an der unmittelbaren Gewißheit seiner selbst. Diese unmittelbare konkrete Gewißheit seiner selbst ist das Wesen.“175
Das Gewissen als die unmittelbare Gewissheit seiner selbst beruht jedoch ganz auf seiner eigenen Überzeugung. Die Gewissheit des Gewissens liegt in der Überzeugung, dass die Selbstüberzeugung unmittelbar absolut und allgemein, d. h. die Pflicht ist. Diese Pflicht ist „nicht mehr das dem Selbst gegenübertretende Allgemeine“176, d. h. „es ist jetzt das Gesetz, das um des Selbsts willen, nicht um dessen willen das Selbst ist“.177 Wenn im Geist-Kapitel das sittliche Bewusstsein nach 171
Emanuel Hirsch, „Die Beisetzung der Romantiker in Hegels Phänomenologie“, in: Materialien zu Hegels „Phänomenologie des Geistes“, hg. v. Hans Friedrich Fulda und Dieter Henrich, Frankfurt a. M. 1973, S. 245–275. Vgl. Allen Speight, Hegel, Literature and the Problem of Agency, Cambridge 2001, S. 94–121. Gustav Falke ist der Meinung, dass die Suche nach einer eindeutigen Abbildung jedes Hegelschen Gedankenschrittes auf den Woldemar etwas zu weit getrieben worden sei. Vgl. ders., Begriffene Geschichte: Das historische Substrat und die systematische Anordnung der Bewusstseinsgestalten in Hegels Phänomenologie des Geistes, Berlin 1996, S. 319. 172 Phänomenologie des Geistes, S. 465. 173 Vgl. Wolfgang Kersting, Die Ethik in Hegels Phänomenologie des Geistes, Diss. Technische Universität Hannover 1974, S. 244. 174 Ebd. 175 Phänomenologie des Geistes, S. 468. 176 Phänomenologie des Geistes, S. 469. 177 Ebd.
D. Dialektik des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes
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den allgemeingültigen inhaltlich bestimmten Normen handelt und das moralische Bewusstsein immerhin ein allgemeines, wenn auch formelles Gesetz anerkennt, dann wird das Gewissen alles allgemein Verbindliche negieren und nach Maßgabe seiner Einzelheit handeln178: „Moralisches Bewußtsein Kantischer Prägung und Gewissen unterscheiden sich dadurch, daß jenem die Pflicht als ein Ansich gilt, während dieses die Pflicht zu seiner Überzeugung, zu einem Fürsich macht.“179 Das heißt, das Gewissen wird jetzt zu einem sich völlig selbst bestätigenden moralischen Bewusstsein, was besagt, dass es und seine eigene Gewissheit die absolute Autorität haben, als „seiner unmittelbar als der absoluten Wahrheit und des Seins gewisse Geist“.180 Die Pflicht ist im Gewissen als allgemein gewiss. Daher muss das Gewissen dafür sorgen, dass jeder die gleichen Überzeugungen hat wie es selbst. Das bedeutet auch, dass das Gewissen nicht einfach als Selbstüberzeugung betrachtet werden kann, sondern „das Moment des Anerkanntwerdens von den anderen“181 haben muss. Aufgrund der allgemeinen Anerkennung eines jeden individuellen Selbst haben individuelle Handlungen allgemeine Bedeutung. Einerseits sind Handlungen, die auf Gewissen beruhen, Handlungen, die wirklich vom Individuum auf der Grundlage seiner Überzeugung ausgeführt werden. Andererseits werden solche Handlungen vom Gewissen als allgemein angesehen. Denn jedes Individuum, die ein Gewissen besitzt, wird diese Überzeugung haben und so handeln: „Die seiende Wirklichkeit des Gewissens aber ist eine solche, welche Selbst ist, d. h. das seiner bewußte Dasein, das geistige Element des Anerkanntwerdens.“182 Und das bringt auch ein Problem mit sich. Das Gewissen versucht, die Unterscheidung zwischen dem Ansich und dem Selbst zu beseitigen, aber es bringt alles in seine eigene Gewissheit und alle Inhalte unterliegen diesem absoluten Subjekt: „Im Gewissen aber erst ist sie Subjekt, das alle Momente des Bewußtseins an ihm gesetzt hat.“183 Das Gewissen müsse jedoch unter „eine[r] absolute[n] Vielheit der Umstände“184 handeln. Das Gewissen selbst kann solche Umstände nicht zur Gänze erfassen. Das Gewissen als Überzeugungsethik kann die Allgemeinheit seiner Überzeugungen nicht garantieren. Daher wird das Gewissen zu einer Art selbstgerechter moralischer Anstrengung, die die Allgemeinheit der Überzeugung gerade nicht garantiert. Insoweit es sich aber um die Überzeugung des Selbst handelt, ist das Handeln pflichtmäßig: „und sein unvollständiges Wissen, weil es sein Wissen ist, gilt ihm als hinreichendes vollkommenes Wissen“.185 Das Gewissen verlangt nur 178
Vgl. Albert Reuter, Dialektik und Gewissen, Dissertation der Universität Freiburg im Breisgau, S. 97. 179 Albert Reuter, Dialektik und Gewissen, Dissertation der Universität Freiburg im Breisgau, S. 93. 180 Phänomenologie des Geistes, S. 465. 181 Phänomenologie des Geistes, S. 470. 182 Ebd. 183 Phänomenologie des Geistes, S. 471. 184 Phänomenologie des Geistes, S. 472. 185 Ebd.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
von dem Selbst, aufrichtig überzeugt zu sein, dass sein Handeln mit der Pflicht im Einklang steht, nicht die Handlung selbst muss wirklich pflichtmäßig sein. Auf der anderen Seite kann das Gewissen, wenn es unter zahlreichen Pflichten auswählt und unterscheidet, nur von sich aus auf der Grundlage der reinen Überzeugung seine Bestimmungen vornehmen, aber „[d]iese reine Überzeugung ist als solche so leer als die reine Pflicht, rein in dem Sinne, daß nichts in ihr, kein bestimmter Inhalt Pflicht ist“.186 Das vom Gewissen beseelte Subjekt handelt also letztlich nach Trieben und Neigungen. Seine Entscheidung hat keine vernünftige Grundlage, sondern ist nur die zufällige Willkür seines Individuums und die Zufälligkeit der unbewussten natürlichen Existenz. Denn „[d]iese Erkenntnis [des Gewissens] ist ein intuitiver Akt: Das Gewissen weiß unmittelbar und ohne ein Prüfen und Abwägen einzelner Pflichten, was zu tun geboten ist.“187 Das Gewissen ist auf diese Weise eine abstrakte Form wie die moralische Weltanschauung; es kann jeden beliebigen Inhalt rechtfertigen. Hegel hat wiederholt betont, es sei gerade das Wesen des Gewissens, das „Berechnen und Erwägen abzuschneiden und ohne solche Grunde aus sich zu entscheiden“.188 Die sogenannte Handlung aus Gewissen ist nur willkürlich: „Hier hat sie zugleich die wesentliche Form des Fürsichseins, und diese Form der individuellen Überzeugung ist nichts anderes als das Bewußtsein von der Leerheit der reinen Pflicht und davon, daß sie nur Moment, daß seine Substantialität ein Prädikat ist, welches sein Subjekt an dem Individuum hat, dessen Willkür ihr den Inhalt gibt, jeden an diese Form knüpfen und seine Gewissenhaftigkeit an ihn heften kann.“189
Dies zeigt, dass das Gewissen grundsätzlich ein geschlossenes Selbst ist, es glaubt, dass seine Gewissheit Wahrheit hat: „Er [der Geist] erhält sich eben dadurch darin, daß, was Positives in der Handlung ist, sowohl der Inhalt als die Form der Pflicht und das Wissen von ihr ist, dem Selbst, der Gewißheit seiner angehört; was aber dem Selbst als eigenes Ansich gegenübertreten will, als nichts Wahres, nur als Aufgehobenes, nur als Moment gilt. Es gilt daher nicht das allgemeine Wissen überhaupt, sondern seine Kenntnis von den Umständen.“190
Die einzelne Bestimmung des Gewissens ist pflichtmäßig, und alle Inhalte richten sich nach dem Gewissen. Die Gewissheit des Gewissens selbst ist allgemein, „die Selbstheit Aller“191, gerade weil das Gewissen glaubt, dass es von allen Menschen anerkannt wird. Nach Hegels Ansicht wird das Gewissen nach Erfüllung seiner Pflicht jedoch „nicht notwendig anerkannt“.192 Hat das Gewissen seine Pflicht erfüllt, so ist es in den Bereich der Objektivität eingetreten und sein Handeln ist zum sichtbaren Objekt aller und zu einem weiteren Objekt der Bewertung und 186
Ebd. Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 2014, S. 211–212. 188 Phänomenologie des Geistes, S. 476. 189 Phänomenologie des Geistes, S. 473. 190 Phänomenologie des Geistes, S. 476. 191 Ebd. 192 Phänomenologie des Geistes, S. 477. 187
D. Dialektik des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes
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Interpretation des Selbst geworden. In diesem Fall gilt, dass „das Bewußtsein, für welches die Handlung ist, sich in vollkommener Ungewißheit über den handelnden, seiner selbst gewissen Geist befindet“.193 Das heißt, das Gewissen muss sich einem Anderen stellen, das sich seinem Selbst widersetzt und sich derzeit nicht von ihm auflösen lässt. Dieses Andere beseitigt die absolute Gewissheit, die ursprünglich vom Gewissen beansprucht wurde, und setzt sie zu einer subjektiven Meinung herab, die überprüft werden muss: „[E]s ist ein solches, wodurch nur das Selbst eines anderen ausgedrückt ist, nicht ihr eigenes; sie wissen sich nicht nur frei davon, sondern müssen es in ihrem eigenen Bewußtsein auflösen, durch Urteilen und Erklären zunichte machen, um ihr Selbst zu erhalten.“194 Andere können nicht erkennen, ob ich wirklich aus Gewissen handle. Deshalb muss ich einen Weg suchen, mein inneres Gewissen äußerlich darzustellen, und dieser Weg ist die Sprache. Wolfgang Kersting erläutert: „Moralisches Verhalten schrumpft dann zusammen auf den erfolgreichen Gebrauch der Überzeugungstechnik, auf Schauspielerei und Rhetorik.“195 Das Gewissen beharrt einerseits auf seiner eigenen Gewissheit, und andererseits beteuert es die Allgemeinheit seines Handelns durch das Aussprechen seiner Überzeugungen: „Der Inhalt der Sprache des Gewissens ist das sich als Wesen wissende Selbst. Dies allein spricht sie aus, und dieses Aussprechen ist die wahre Wirklichkeit des Tuns und das Gelten der Handlung. Das Bewußtsein spricht seine Überzeugung aus; diese Überzeugung ist es, worin allein die Handlung Pflicht ist; sie gilt auch allein dadurch als Pflicht, daß die Überzeugung ausgesprochen wird.“196
Aber ein solches öffentliches Aussprechen verleiht der Handlung keine wirkliche Allgemeinheit. Das Gewissen versichert lediglich mit sprachlichen Mitteln, dass es nach dem Gewissen handelt: „Das Aussprechen dieser Versicherung hebt an sich selbst die Form seiner Besonderheit auf; es anerkennt darin die notwendige Allgemeinheit des Selbsts.“197 Die Sprache zeigt also einen Bezug auf Allgemeinheit an. Sprache ist nicht nur die meinige, sondern auch für andere verständlich; sie können ihrerseits durch Zuhören verstehen. In Hegels Worten heißt das, die Sprache ist „das Dasein des Geistes“198, „das für andere seiende Selbstbewußtsein“.199 Die Sprache des Gewissens ist jedoch nur eine Art Selbstgespräch, und das Zuhören anderer ist nur eine Art Selbsthören. Es handelt sich um einen leeren Monolog; das Gewissen benutzt nur die Sprache, um die Abgeschlossenheit und Innerlichkeit 193
Ebd. Phänomenologie des Geistes, S. 478. 195 Vgl. Wolfgang Kersting, Die Ethik in Hegels Phänomenologie des Geistes, Diss. Technische Universität Hannover 1974, S. 251. 196 Phänomenologie des Geistes, S. 479. 197 Phänomenologie des Geistes, S. 480. 198 Phänomenologie des Geistes, S. 478. 199 Ebd. 194
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
des Selbst zu verschleiern: „Es vernimmt ebenso sich, als es von den anderen vernommen wird, und das Vernehmen ist eben das zum Selbst gewordene Dasein.“200 Anders als im geistigen Tierreich versucht in diesem Fall jede Individualität, die Werke anderer zu leugnen, bildet aber eine Gewissensgemeinschaft. Das Gewissen schätzt das Handeln des anderen aus Gewissen, lobt die Reinheit und Erhabenheit des anderen, das Gewissen verabsolutiert sich zu einer moralischen Genialität und einer Göttlichkeit. Infolgedessen hat sich das Gewissen völlig in sich selbst zurückgezogen und ist zu einem „absoluten Selbstbewußtsein“201 geworden, einer Bewusstseinsgestalt, die die Welt völlig auflöst und in der „das Bewußtsein versinkt“.202 Zu diesem Bewusstsein gehören Attribute der Vollkommenheit und Göttlichkeit, und die Welt ist zu dem geworden, was sie erschaffen hat, nämlich nur ein Echo, das in sich selbst reflektiert wird; das ist die schöne Seele. Hegel spricht in der Vorrede der Phänomenologie von dem „Standpunkt des Bewußtseins, von gegenständlichen Dingen im Gegensatze gegen sich selbst und von sich selbst im Gegensatze gegen sie zu wissen“.203 Als das absolute Selbstbewusstsein ist die schöne Seele eigentlich die Anschauung des Ich = Ich: „Alles Leben und alle geistige Wesenheit ist in dies Selbst zurückgegangen und hat seine Verschiedenheit von dem Ich-Selbst verloren.“204 In der Enzyklopädie heißt es über das Selbstbewusstsein: „Der Ausdruck vom Selbstbewußtsein ist Ich = Ich; – abstrakte Freiheit, reine Idealität. – So ist es ohne Realität, denn es selbst, das Gegenstand seiner ist, ist nicht ein solcher, da kein Unterschied desselben und seiner vorhanden ist.“205 Und das bedeutet auch, dass die schöne Seele als „abstrakte Freiheit“ die Welt nicht wirklich aufhebt, sondern nur negativ aus der Welt entkommt. Wenn es mit irgendetwas in der Welt in Berührung kommt, wird seine eigene Unendlichkeit zerstört werden. Daher zieht es sich von allen Handlungen und Beziehungen mit anderen zurück. Es ist eine Art Narzissmus. Hegel sagte in seinen Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1819–20: „Die Reflexion, die immer wissen will, ob man da und dort vortrefflich handle, führt zur Weichlichkeit und zum Eigendünkel.“206 Der schönen Seele fehlt der Mut, sich zu entäußern. Sie bleibt in einer schwachen und leeren Subjektivität und fürchtet, dass, sobald sie handelt, ihre Reinheit getrübt und der Ruhm ihrer Integrität bei den Menschen zerstört wird. Eine solche Seele ist zu zerbrechlich, um die Folter praktischer Handlungen zu ertragen. Sie hat eine schwache Stimme, aber sie will auch gar nicht von anderen gehört werden, weil sie anderen keine Chance geben will, ihre moralische Genialität in Frage zu stellen. Daher hallt die Stimme nur in sich selbst wider. Diese Art der Selbstisolation wird jedoch zu ihrem Verlust ihrer selbst führen. Sie muss jetzt erkennen, 200
Phänomenologie des Geistes, S. 479. Phänomenologie des Geistes, S. 483. 202 Ebd. 203 Phänomenologie des Geistes, S. 30. 204 Phänomenologie des Geistes, S. 483. 205 Enzyklopädie III, § 425, S. 213. 206 Bl, S. 119. 201
D. Dialektik des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes
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dass ihr Schicksal letztlich verheerend sein wird, wenn sie nicht aus sich selbst herausgeht und sich selbst in die Wirklichkeit umsetzt. Sie ist zu einer unglücklichen schönen Seele geworden; sie „verglimmt […] in sich und schwindet als ein gestaltloser Dunst, der sich in Luft auflöst.“207 Das absolute Selbstbewusstsein ist auch das handelnde Gewissen. Weil es „ebenso schlechthin in sich reflektiert“208, versteht es sich als moralische Autorität und besteht darauf, „die leere Pflicht mit einem bestimmten Inhalte aus sich selbst [anzufüllen]“209; daher ist der Gegensatz zwischen dem individuellen Gewissen und der allgemeinen moralischen Ordnung unaufhebbar. Das Gewissen als das Selbst gibt dem Handeln den Inhalt, aber der widerspricht der allgemeinen Pflicht, was zur „Ungleichheit seines Insichseins mit dem Allgemeinen“ führt. Daher betrachtet das Gewissen das beurteilende Bewusstsein, das auf der allgemeinen Pflicht und Gesetzen besteht, als das Böse. Es behauptet, dass es nach der Pflicht handele, aber in Wirklichkeit ist es die sinnliche Individualität, die sein Handeln beherrscht, also handelt es sich um Heuchelei. Hegel weist jedoch darauf hin, dass das beurteilende Bewusstsein seinerseits einseitig sei. Wenn das beurteilende Gewissen das handelnde beurteilt, bezieht es sich nur „auf sein Gesetz“210; und „seine Sprache sagt sein Tun als die anerkannte Pflicht aus“.211 Daher hat es im Vergleich zum handelnden Gewissen „nichts vor dem anderen voraus“.212 Hegel sagt: „Das Bewußtsein des Allgemeinen verhält sich nicht als Wirkliches und Handelndes gegen das erste […]. Es bleibt in der Allgemeinheit des Gedankens, verhält sich als auffassendes, und seine erste Handlung ist nur das Urteil.“213 Deshalb hat das beurteilende Bewusstsein nicht wirklich gehandelt: „Es hat gut sich in der Reinheit bewahren, denn es handelt nicht.“214 Darin zeigt sich die Gleichheit zwischen ihm und dem handelnden Gewissen, das nur eine heuchlerische tatlose Reden ist. Das beurteilende Gewissen glaubt, dass das handelnde Gewissen von einer eigennützigen Triebfeder motiviert sei. Es zeigt, dass es nur ein moralischer Kammerdiener ist, der sich nur auf die Besonderheit und Individualität des Handelns konzentriert. Es entzweit das ganze Handeln, ohne zu erkennen, dass „[t]oute action réelle doit être envisagée comme un tout concret […] c’est-à-dire qu’elle est particulière en se reliant à telle individualité donnée, mais qu’elle est aussi universelle, au sens de l’universel concret, dans sa portée et sa signification générale. L’action humaine est toujours passion en même temps qu’action.“215
207
Phänomenologie des Geistes, S. 484. Ebd. 209 Ebd. 210 Phänomenologie des Geistes, S. 487. 211 Phänomenologie des Geistes, S. 486. 212 Phänomenologie des Geistes, S. 487. 213 Ebd. 214 Ebd. 215 Jean Hyppolite, Genèse et structure de la „Phénoménologie de l’esprit“ de Hegel. Paris 1946, S. 504. 208
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Das handelnde Gewissen, das die Gleichheit zwischen sich selbst und dem beurteilenden Gewissen anerkennt, gibt dem beurteilenden Gewissen recht und gibt sein eigene Fürsichsein auf, aber das beurteilende Gewissen isoliert sich gleichwohl vollständig und lebt rein in seiner schönen Seele, ohne zu wissen, dass das handelnde Gewissen dieses abgesonderte Fürsichsein und seine Selbstgerechtigkeit durch sein Bekenntnis aufgegeben hat und in den Geist und das Allgemeine eingetreten ist: „Es ist diese absolut flüssige Kontinuität des reinen Wissens, die sich verweigert, ihre Mitteilung mit ihm zu setzen – mit ihm, der schon in seinem Bekenntnisse dem abgesonderten Fürsichsein entsagte und sich als aufgehobene Besonderheit und hierdurch als die Kontinuität mit dem Anderen, als Allgemeines setzt.“216
Das beurteilende Bewusstsein hält an seiner eigenen Gewissheit und seinem Standpunkt fest, es ist Fürsichsein, das sich weigert zu kommunizieren und so in einen tiefen Widerspruch gerät. Hegel erläutert in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion: „Das Böse ist erst innerhalb des Kreises der Entzweiung vorhanden; es ist das Bewußtsein des Fürmichseins gegen eine äußere Natur, aber auch gegen das Objektive, das in sich allgemein ist, in dem Sinne des Begriffs, des vernünftigen Willens. Erst durch diese Trennung bin ich für mich, und darin liegt das Böse. ‚Bösesein‘ heißt abstrakt, mich vereinzeln, die Vereinzelung, die sich abtrennt vom Allgemeinen – dies ist das Vernünftige, die Gesetze, die Bestimmungen des Geistes.“217
Es ist das größte Böse, sich um seiner selbst willen und für sich selbst vollständig von anderen zu isolieren. Das beurteilende Bewusstsein gibt schließlich sein abgesondertes Fürsichsein auf, das harte Herz ist gebrochen und zur Allgemeinheit erhoben. Indem das beurteilende Bewusstsein die Gleichheit zwischen ihm und dem handelnden anerkennt, denkt es nicht mehr, dass es dem handelnden Bewusstsein überlegen ist, und nimmt den Standpunkt der Beurteilung gegenüber dem handelnden Bewusstsein nicht mehr ein. Insofern geben schließlich beide den Standpunkt des moralischen Solipsismus auf und überwinden ihre Einseitigkeit; es kommt zu einem „gegenseitige[n] Anerkennen, welches der absolute Geist ist“.218 Jean Hyppolite bezeichnet das als „une rémission des péchés qui fait apparaître dans cet échange réciproque l’esprit absolu“.219 Das handelnde Gewissen stellt die individuelle Entscheidung und Wirklichkeit des Geistes dar, das allgemeine Bewusstsein die Allgemeinheit und den Begriff des Geistes: „[…] und wie jenes [das handelnde Gewissen] die Macht des Geistes über seine Wirklichkeit darstellt, so dies [das beurteilende Gewissen] die Macht über seinen bestimmten Begriff“.220 Oder in Jean Hyppolites Worten: „L’esprit absolu n’est ni l’esprit infini abstrait qui 216
Phänomenologie des Geistes, S. 490–491. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, S. 138. 218 Phänomenologie des Geistes, S. 493. 219 Jean Hyppolite, Genèse et structure de la „Phénoménologie de l’esprit“ de Hegel. Paris 1946, S. 505. 220 Phänomenologie des Geistes, S. 492. 217
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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s’oppose à l’esprit fini, ni l’esprit fini qui persiste dans sa finitude et reste toujours en deçà de son Autre; il est l’unité et l’opposition de ces deux Moi.“221 In der Phänomenologie des Geistes geht Hegel nicht wie in der späteren Rechtsphilosophie vom Gewissen zu einem sittlichen und vermittelten System der Freiheit über. Hegel entwickelt diese konkreten Formen der Versöhnung zu diesem Zeitpunkt nicht.222 Das moralische Bewusstsein siedelt das Wesen des moralischen Lebens im Jenseits an, und dies führt dazu, dass die Menschen nicht in der Lage sind, ein wahres und wirkliches moralisches Leben in der Wirklichkeit zu führen. Die Menschen spüren die unendliche Zerrissenheit zwischen ihnen und Gott für immer. Der Grund, weswegen Hegel vom moralischen Bewusstsein zum religiösen Bewusstsein übergeht, ist der, dass Hegel zeigen will, dass Menschen nicht nur moralische Wesen sind, sondern an der Heiligkeit selbst teilhaben und sie erkennen können: „Aber in den Herzen, Gemütern ist es nun fest, daß es sich nicht um eine moralische Lehre handelt, überhaupt nicht um Denken und Wollen des Subjekts in sich und aus sich, sondern das Interesse ist ein unendliches Verhältnis zu Gott, ein Verhältnis zum gegenwärtigen Gott, die Gewißheit des Reiches Gottes, und eine Befriedigung nicht in der Moralität, Sittlichkeit, Gewissen, sondern eine solche Befriedigung, außerhalb deren nichts Höheres ist – das Verhältnis zu Gott selbst.“223
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie: Zweideutigkeit des Gewissens Dean Moyar zufolge liegt das Hauptproblem der modernen Freiheit darin, wie man die Beziehung zwischen der Autorität des Gewissens und dem vernünftigen oder objektiven sittlichen Inhalt des Guten versteht.224 Wenn das Gewissen nur eine Reflexion auf eine gegebene vernünftige Ordnung ist, dann scheint es, als wäre das Gewissen entleert und lediglich etwas Formelles. Wenn das Gewissen jedoch von sich selbst ausgeht, dann kann ein objektiver Inhalt nicht garantiert werden. Wir versuchen jedoch zu zeigen, dass für Hegel die wirkliche Subjektivität in der Sache selbst liegt und nicht im Gegensatz zur Sache selbst. Sittlichkeit stellt also keine Gewissensbeschränkung dar, sondern ist die Verwirklichung und das Resultat des Gewissens selbst. Die ganze Sittlichkeit enthält sowohl Subjektivität als auch Objektivität, und Gewissen ist nur der subjektive Aspekt. Wenn eine vernünftige Ordnung als Maß der Subjektivität fehlt, dann wird dieses Gewissen, selbst wenn es edel ist, zu Bösem und Terror führen. 221 Jean Hyppolite, Genèse et structure de la „Phénoménologie de l’esprit“ de Hegel. Paris 1946, S. 505. 222 Ludwig Siep, Der Weg der Phänomenologie des Geistes, Frankfurt a. M. 2014, S. 214. 223 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, Hamburg 1984, S. 245. 224 Vgl. Dean Moyar, Hegel’s Conscience, Oxford 2011, S. 12.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Wir können die gesamte Hegelsche Rechtsphilosophie als eine Darstellung der vernünftigen Elemente des menschlichen Lebens und des Fortgangs dieser Elemente betrachten. Dieser Prozess ist auch ein Prozess der Bildung des Willens. Im abstrakten Recht ist der Wille als Persönlichkeitsform des Rechts dem Ding zugewandt, während unter dem Titel der Moralität das Verhältnis zwischen Subjekt und Handlung als Daseinsform der Freiheit diskutiert wird. Hegel glaubt, dass „der moralische Standpunkt der Standpunkt des Verhältnisses und des Sollens oder der Forderung“225 ist, und die Wurzel dieses Standpunkts liegt in der Subjektivität des Willens. Aufgrund dieser Subjektivität war der moralische Standpunkt immer ungewiss. Die Wurzel dieser Ungewissheit liegt in der Tatsache, dass sich der Wille von der Natur befreit hat. Daher ist er eine „die reine Unruhe und Tätigkeit“.226 Und daher hat er auch zwei Möglichkeiten: moralisch oder unmoralisch, frei oder unfrei zu sein. Mit anderen Worten: Entweder kann der Wille seine Gewissheit mit dem Begriff des Willens in Übereinstimmung bringen, das heißt, er kann das Gute wollen, oder er kann in seiner Gewissheit bleiben, das heißt, er kann sich für das Böse entscheiden. Darüber hinaus weist Hegel darauf hin, dass diese subjektive Gewissheit die Wahrheit des Willens erreichen soll, indem sie das Gute nicht nur in subjektiver Gewissheit feststellt, sondern es auch wirklich realisiert. Sie kann nicht bei der subjektiven Selbsteinschätzung stehen bleiben, denn das wahre Gute ist keine Selbsteinkapselung der schönen Seele. Für Meinungen bedeutet dies auch, dass sie stets in zweierlei Gestalt auftreten können. Erstens kann eine Meinung mit dem Begriff identisch sein, d. h. diese Meinung ist nicht mehr „meinige“ oder „zufällige“ Meinung, sondern „der Begriff der Sache selbst“227; sie hat die subjektive und objektive Einheit erreicht, d. h. die Sittlichkeit. Und diese Daseinsweise der Meinung heißt bei Hegel „das wahre Gewissen“ oder „die sittliche (politische) Gesinnung“. Er nennt sie auch „die in Wahrheit stehende Gewißheit“228, und spricht von der politischen Gesinnung als dem zur Gewohnheit gewordenen Wollen: „[Sie] ist nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in welchem die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist, so wie sie durch das ihnen gemäße Handeln ihre Betätigung erhält. – Diese Gesinnung ist überhaupt das Zutrauen (das zu mehr oder weniger gebildeter Einsicht übergehen kann), das Bewußtsein, daß mein substantielles und besonderes Interesse im Interesse und Zwecke eines Anderen (hier des Staats) als im Verhältnis zu mir als Einzelnem bewahrt und enthalten ist, womit eben dieser unmittelbar kein anderer für mich ist und Ich in diesem Bewußtsein frei bin.“229
Die andere, zweite Möglichkeit ist, dass die Meinung als das angesehen wird, „das für sich den Anfang machen und aus subjektiven Vorstellungen und Gedanken hervorgehen könne“230; die politische Gesinnung wird in diesem Fall mit der 225
Rechtsphilosophie, § 108, S. 206. Rechtsphilosophie, § 108 Zusatz, S. 207. 227 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 17. 228 Rechtsphilosophie, § 268, S. 413. 229 Ebd. 230 Rechtsphilosophie, § 268 Zusatz, S. 414. 226
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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Meinung verwechselt und dies ist das formelle Gewissen, „für sich die unendliche Gewißheit seiner selbst“.231 Der Staat kann dieses Gewissen „in seiner eigentümlichen Form, d. i. als subjektives Wissen nicht anerkennen“.232
I. Gewissen und Sittlichkeit Anhand der Darstellung des Gewissens in der Phänomenologie des Geistes haben wir bereits gezeigt, dass das grundlegende Merkmal des Gewissens darin besteht, dass das Gewissen nicht mehr die Pflicht als Ansich betrachtet, sondern als seine eigene Überzeugung und seine Gewissheit, d. h. das Gewissen erkennt nicht mehr ein allgemeines und formelles Gesetz wie die moralische Weltanschauung an, hat aber die Gewissheit, dass sein eigenes individuelles Handeln dem Gesetz der Pflicht entspricht. Am Ende ist die Erfahrung, die das Bewusstsein in der Gewissheit des Gewissens selbst gewonnen hat, dass das Gewissen entweder zu einem Narzissmus wird, der jede Beschränkung des Inhalts ausschließt (schöne Seele und beurteilendes Bewusstsein), oder zu einer bloßen Überzeugungsethik, die alle Entscheidungen auf ihre unmittelbare und natürliche Neigung stützt (handelndes Gewissen). Daher zwingt die Erfahrung des Gewissens das Gewissen, letztlich seine Innerlichkeit und Selbstgewissheit, seinen abgesonderten moralischen Standpunkt aufzugeben, aus der geschlossenen Subjektivität herauszugehen, in dem Anderen bei sich selbst zu sein, Versöhnung zu erreichen und gegenseitige Anerkennung zu verwirklichen. In der Phänomenologie des Geistes führt die Erfahrung des mora lischen Solipsismus zur Verzweiflung; der Standpunkt des handelnden und beurteilenden Gewissens ist „das reine Wissen seiner selbst“233, er ist ohne Con-Scientia oder Mit-Wissen zu erreichen. Die Dialektik des Gewissens oder, wie Karl-Heinz Ilting es genannt hat, die „Phänomenologie der verabsolutierten Subjektivität“234 in der Rechtsphilosophie lässt erkennen, dass Hegel glaubt, das moderne Subjekt müsse das, was ihm das Gute ist, für sich selbst bestimmen. Das Subjekt unterliegt nicht mehr der Kultur, den Werten und der sozialen Rolle, die ihm gegeben sind. Für den modernen Menschen ist es wirklich wichtig, dass das Gute die Prüfung seiner Subjektivität durchläuft und von ihm beurteilt wird: „Diese Subjektivität, als die abstrakte Selbstbestimmung und reine Gewißheit nur ihrer selbst, verflüchtigt ebenso alle Bestimmtheit des Rechts, der Pflicht und des Daseins in sich, als sie die urteilende Macht ist, für einen Inhalt nur aus sich zu bestimmen, was gut ist, und zugleich die Macht, welcher das zuerst nur vorgestellte und sein sollende Gute eine Wirklichkeit verdankt.“235
231
Rechtsphilosophie, § 137 Anm., S. 255. Ebd. 233 Phänomenologie des Geistes, S. 493. 234 Vgl. Hegel, Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831 Bd. 2, hg. v. Karl-Heinz Ilting, Stuttgart-Bad Cannstatt 1974, S. 498. 235 Rechtsphilosophie, § 138, S. 259. 232
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Daher enthält Hegels Begriff des Gewissens zwei Aspekte von Bedeutung, nämlich einerseits die sittliche Wirklichkeit zu verflüssigen und andererseits der Sittlichkeit Fülle und Wirklichkeit zu verleihen. Nach Hegels Auffassung ist Gewissen ein unverzichtbares Moment im modernen Leben, und zwar als „die absolute Gewißheit ihrer selbst in sich, das Besonderheit Setzende, das Bestimmende und Entscheidende“.236 In diesem Sinne gilt für Hegel: „Gediegenes, substantielles Handeln erfordert Selbstvergessenheit in Ansehung seiner Besonderheit.“237 In § 26 der Rechtsphilosophie weist er darauf hin, dass der objektive Wille „ohne die unendliche Form des Selbstbewußtseins“ ein kindlicher, sittlicher, aber auch sklavischer, abergläubischer Wille sei.238 Der objektive Wille ist ein Wille, der „sich noch nicht als frei weiß und deswegen ein willenloser Wille ist. Objektiv ist in diesem Sinne ein jeder Wille, der durch fremde Autorität geleitet handelt und noch nicht die unendliche Rückkehr in sich vollendet hat.“239 Der kindliche und sklavische Zustand ist weder gut noch böse, sondern unschuldig: „Die Kinder sind nicht böse, auch auf viele Völker und Individuen scheint jene Bestimmung nicht zu passen. Die Kinder sind vielmehr unschuldig, und zwar, weil sie keinen Willen haben, noch keiner Zurechnung fähig sind […]. Was den Zustand des Kindes anbetrifft, so ist er allerdings ein Zustand der Unschuld, weder gut noch böse; der Mensch soll aber nicht wie ein Kind sein, er soll in diesem Sinne nicht unschuldig sein; an dem, was er tut, daran soll er schuld sein. Daß der Zustand des Kindes auch einen Willen hat, gehört dem Empirischen an, aber es ist noch nicht das, was man unter ‚Mensch‘ versteht, denn dieser hat die Einsicht, ist gebildeter, wollender Mensch; bei jenem Zustand soll der Mensch nicht stehenbleiben.“240
Der Mensch in diesem ‚kindlichen‘ Zustand ist ein natürlicher Mensch, der vollständig durch den natürlichen Instinkt und die Umgebung bestimmt ist, und es fehlt ihm an der Fähigkeit der Erkenntnis und Selbstbestimmung. Hegels Interpretation des Sündenfalls in seiner Philosophie der Religion zeigt, dass ein solcher natür licher Mensch kein moralisches Wesen und gewissermaßen noch gar ein wahrhafter Mensch ist: „Nur durchs Erkennen, denn nur durch Wissen und Bewußtsein ist der Mensch, und sein Wille ist nicht das Bewußtlose, ist nicht ein Instinkt.“241 Nur wenn wir aus diesem Zustand herauskommen und ein moralisches Wesen mit der Fähigkeit der Erkenntnis, der Freiheit und der Zurechnung werden, können wir wahre Menschen werden. Diese Fähigkeiten ermöglichen es dem Menschen, das Gute und Böse wirklich zu erkennen. Mit freiem Willen und Vernunft können die Menschen Verantwortung für alle ihre Handlungen übernehmen: „Der Mensch, als im unmittelbaren und ungebildeten Zustande, ist daher in einer Lage, in der er nicht sein soll und von der er sich befreien muß.“242 236
Rechtsphilosophie, § 136, S. 254. Bl, S. 119. 238 Rechtsphilosophie, § 26, S. 76–77. 239 Rechtsphilosophie, § 26 Zusatz, S. 78. 240 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, S. 135. 241 Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, S. 39. 242 Rechtsphilosophie, § 18 Zu., S. 69. 237
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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Wir haben die Erfahrung des moralischen Bewusstseins in der Phänomenologie des Geistes diskutiert und darauf hingewiesen, dass diese Erfahrung das moralische Bewusstsein seine unmittelbare Gewissheit verlieren lässt und es dazu drängt, seine eigenen Meinungen und seine Subjektivität zu überwinden. Seine abstrakte und formelle Autonomie ist notwendigerweise einseitig und gerät unweigerlich in den Abgrund der Heuchelei und des Bösen. Alle seine moralischen Versicherungen sind nur eine bestimmte Art von moralischer Meinung, eine Selbstvergötterung und narzisstische Selbsteinschätzung; sie müssen daher mit einer höheren Allgemeinheit verbunden werden. Wie auch immer dies geschieht – jedenfalls kehrt die Erfahrung des Bewusstseins nicht von dieser Selbstgewissheit zum Anfang des Geistes zurück, der unmittelbare und substantielle Sittlichkeit ohne Reflexion über die Gesetze des Lebens ist. Jenes Leben hat gezeigt, dass es zwar eine Harmonie zwischen dem Selbstbewusstsein und dem objektiven Geist, der allgemeinen Gemeinschaft und ihren Gesetzen gibt; dies ist aber kein Rechtszustand, der äußerlich auf Legalität aufbaut, sondern alle Menschen sind durch ein geistiges Band gebunden. Die Griechen definieren sich nach der gemeinschaftlichen Rolle, in der sich jeder Mensch befindet. Der Sinn ihres Lebens wird durch die Gesetze und Sitte der Gemeinschaft definiert. Die wichtigste Tugend im praktischen Leben ist es, die eigene Endlichkeit aufzugeben und alles für das Ganze zu geben. Christoph Menke erläutert: „Zu einer solchen Einheit sind allgemeine Substanz und individuelles Fürsichsein in der traditionellen Sittlichkeit der griechischen Polis verbunden: In ihr gibt es die allgemeine Substanz nur als die Verwirklichung des individuellen Fürsichseins und das individuelle Fürsichsein nur als die Verwirklichung der allgemeinen Substanz.“243 Hegel steht in diesem Punkt im Einklang mit der Tradition, die Hobbes in der Neuzeit eröffnet hat. Er denkt, dass diese Eintracht in natürlichen Gesellschaften immer noch die Eintracht der Tiere ist.244 In dieser Gemeinschaft leben die Menschen nur nach den Naturgesetzen und es gibt keine Trennung zwischen Natur und Geist. Die Gesetze der Polis selbst verpflichten jeden mit unendlicher Geltung. Daher ist in dieser Lebensform, ob für Männer oder Frauen, die Wahrheit selbst unmittelbar Selbstgewissheit. Aufgrund seiner Einseitigkeit ist allerdings dieses Leben dem historischen Verfall preisgegeben. Daher ist das Gewissen in der modernen Sittlichkeit, oder wie Rüdiger Bubner schreibt, „die Sittlichkeit für die moderne Zeit“245, ein „Heiligtum“246 und „ein hoher Standpunkt, ein Standpunkt der modernen Welt, welche erst zu diesem Bewußtsein, zu diesem Untergange in sich gekommen ist“.247 Hegels philosophische Absicht liegt nicht in der Wiederherstellung der substantiellen klassischen Sittlichkeit der Polis. Aufgrund ihrer unmittelbaren Identität kann diese Sittlichkeit 243
Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen, Frankfurt a. M. 1996, S. 47. Vgl. Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 67. 245 Rüdiger Bubner, „Hegels politische Anthropologie“, in: Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 78. 246 Rechtsphilosophie, § 137 Anm., S. 255. 247 Rechtsphilosophie, § 136 Zusatz, S. 254. 244
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
das moderne Prinzip der Subjektivität nicht in sich tragen, was unweigerlich zum tragischen Zerfall führt. Für das moderne Subjekt, das einer Welt gegenübersteht, von der Hegel glaubt, dass sie die Gerechtigkeit und das Gute verloren hat, erkennt er die klassische Sittlichkeit nicht mehr an und sehnt sich nach einer anderen Welt, die er in seinem Herzen für besser hält: „In Epochen, wo das, was als das Rechte und Gute in der Wirklichkeit und Sitte gilt, den besseren Willen nicht befriedigen kann; wenn die vorhandene Welt der Freiheit ihm ungetreu geworden, findet er sich in den geltenden Pflichten nicht mehr und muß die in der Wirklichkeit verlorene Harmonie nur in der ideellen Innerlichkeit zu gewinnen suchen.“248
In diesem Sinne ist die Gewissensfreiheit nicht nur der Standpunkt des Sokrates, der Stoiker und Luthers, sondern auch „die negative oder die Freiheit des Verstan des“249 im historischen Extremfall. Sie versucht, sich aller Bestimmungen zu entledigen und von ihnen zu abstrahieren, und diese abstrakte Selbstgewissheit stellt sich in der Französischen Revolution dar. Wenn der Wille versucht, jede Heteronomie auszuschließen und die Selbstgesetzgebung als endgültige Grundlage der Moralität festzulegen, stellt sich der Wille völlig gegen die Welt. Die Menschen sind völlig von der Welt entfremdet, in der sie leben. Alle moralischen und praktisch-philosophischen Denkbewegungen, die auf Subjektivität im Sinne von Selbstgewissheit beruhen, haben zu dieser Folge geführt: Wenn die Menschen die Selbstidentität in der Welt bewahren wollen, müssen sie den Preis dafür zahlen, die Welt zu verlieren250, denn die bestehende Welt und überhaupt alle Lebensformen können ihre Geltungsgrundlage nicht in sich selbst verwurzeln und werden notwendig von der Vernunft als unvernünftig beurteilt. In der Reflexionsphilosophie Kants und Fichtes erblickt Hegel auch das „allgemeine System des Zwangs“251, das durch das Absolutwerden bzw. die Verabsolutierung des Subjektivitätsprinzips verursacht wurde. Die Trennung zwischen dem Inneren und dem Äußeren, dem Selbst und der Welt führte zur Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit, Legalität und Moralität. Die Welt der Institutionen und die geschichtliche Lebensbeziehung zwischen den Menschen wurden auf eine bloße Zwangsbeziehung reduziert, die nicht die Zustimmung des inneren Willens hatte und der Lebendigkeit entgegengesetzt war. Genau das meinte Napoleon, als er sagte, das Schicksal des modernen Menschen sei die Herrschaft von Politik und Recht. Das Schicksal der Moderne besteht also in dieser Aporie zwischen „Ichverlust durch affirmativen Weltbezug“ und der „Identitätsstiftung um den Preis der Entsagung“252 gegenüber der bestehenden Welt. 248
Rechtsphilosophie, § 138 Anm., S. 259. Rechtsphilosophie, § 5 Anm., S. 50. 250 Vgl. Rüdiger Bubner, „Moralität und Sittlichkeit-die Herkunft eines Gegensatzes“, in: Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, hg. v. Wolfgang Kuhlmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 70. 251 Jenaer Schriften, S. 472. 252 Rüdiger Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1996, S. 132. 249
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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Hegel weist auch darauf hin, dass das Gewissen deshalb den Rang eines Heiligtum annimmt, weil es sich als die „Einheit des subjektiven Wissens und dessen, was an und für sich ist“253 präsentiert. Das Gewissen hat diesen Rang „jedoch nicht bereits aus seinem Vorhandensein“254, vielmehr muss das Gewissen eines bestimmten Individuums der Idee des Gewissens entsprechen, und erst dann ist das, was das Gewissen für gut hält oder ausgibt, wirklich gut. Hegel zeichnet zwei Arten von Gewissen aus, nämlich das formelle Gewissen und das wahre Gewissen. Das Gewissen als das moralische Bewusstsein enthält zunächst diese Zweideutigkeit: Sein besonderer Inhalt hat die Bestimmung, dem an sich seienden, allgemeineren Willen adäquat zu sein, er muss der Objektivität des Begriffs des freien Willens genügen. Steht das Formelle des für sich seienden, subjektiven Willens dem freien Willen entgegen, dann verbleibt „die Übereinstimmung oder objektive Adäquation […] als bloße Forderung: B soll A angemessen sein. Der besondere Inhalt, die Besonderheit schlechthin, enthält die Möglichkeit, der Allgemeinheit zu entsprechen oder nicht.“255 Nach Hegels Ansicht ist das formelle Gewissen nichts anderes als „subjektive Meinung“, d. h. wenn die Subjektivität von dem wahrhaften Gewissen, dem an und für sich gültigen vernünftigen Inhalt und der Sittlichkeit getrennt wird, ist das Gute, das sie für sich bestimmt, eigentlich nur das Fürsich, das „zu einer Form und Schein“256 herabsinken kann. Daher hat Hegels Gewissensdiskussion immer mit seiner Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit zu tun. Hegel wies in der Einleitung der Rechtsphilosophie darauf hin, dass „die praktischen Prinzipien dieser Philosophie [der Kantischen Philosophie] sich durchaus auf diesen Begriff [der Moralität] beschränken, den Standpunkt der Sittlichkeit sogar unmöglich machen, ja selbst sie ausdrücklich zernichten und empören.“257 Wiederholt hat sich in der Geschichte gezeigt, dass Hegels Begriff der Sittlichkeit anfällig für Absolutismus und Nationalismus ist, und dieser Zweifel prägte leider auch das Hegel-Bild in der Geschichte der Philosophie. Bereits Eduard Gans hat darauf hingewiesen: „Das Wort Sittlichkeit ist unglücklich gewählt.“258 Selbst wenn Hegels Verteidiger in dieser Frage bloß unabsichtlich in die Falle seiner Kritiker gehen, wird nicht immer hinreichend deutlich, dass der Begriff der Sittlichkeit als solcher ein Bekenntnis zur Freiheit enthält. Ludwig Siep hat darauf hingewiesen, dass Kant ein großer Philosoph der europäischen Friedensordnung sei, während Hegel bisher der bedeutendste Philosoph der europäischen Kulturgeschichte sei.259 Wenn Kant die Autonomie der Freiheit auf der Grundlage moralischen Selbstbestimmung durch die absolute Unterschei 253
Rechtsphilosophie, § 137 Anm., S. 255. Ernst-Wolfgang Böckenförde, „Bemerkungen zum Verhältnis von Staat und Religion bei Hegel“, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, Frankfurt a. M. 1991, S. 135. 255 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 158. 256 Rechtsphilosophie, § 137 Anm., S. 256. 257 Rechtsphilosophie, § 33 Anm., S. 88. 258 Eduard Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, Tübingen 2005, S. 137. 259 Ludwig Siep, Hegel und Europa, Paderborn 2003, S. 6. 254
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
dung zwischen Natur und Freiheit grundlegend etablierte und so die entscheidenden Merkmale der westlichen Kultur nach der Aufklärung klarstellte, dann kann man sagen, dass Hegels Philosophie der Geschichte, als Manifestation des Fortschritts des Freiheitsbewusstseins, gerade darin besteht, „Europa“ durch die Teilung in das östliche Reich, das griechische Reich, das römische Reich und das germanische Reich zu definieren. Wenn Kant sich auf die moderne Errungenschaft freier Subjektivität konzentriert, konzentriert sich Hegel weiter auf die möglichen Bedingungen dieser freien Subjektivität, d. h. auf die Verkörperung und Objektivierung dieser freien Subjektivität und der Selbstbestimmung des Willens. Nach Hegels Ansicht ist Freiheit weltlich-konkret, und diese weltliche Freiheitsordnung unterscheidet „Europa“ von allen östlichen Kulturen und übertrifft sie. Hegel will diese „konkrete Freiheit“ der modernen europäischen Kultur einfach mit dem Begriff der Sittlichkeit beschreiben. In seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion von 1827 formuliert Hegel seinen Glauben, dass weder die Reflexionsphilosophie der Aufklärung noch die Theokratie des Orients konkrete Freiheit zu denken oder zu verkörpern vermögen: „Die Reflexion, die wir gesehen haben, steht mit der mohammedanischen Religion auf einer Stufe, daß Gott keinen Inhalt habe, nicht konkret sei.“260 Diese Religion und ihre Lebensordnung betrachten Gott als das absolut Transzendente und als schrankenlose Unendlichkeit. Daher hat die Heiligkeit selbst eine äußere und entgegengesetzte Natur zur Wirklichkeit. Nach Hegels Ansicht beruhen die Handlungen von Individuen im Lichte des protestantischen Gewissens nicht mehr auf solchen Lehren absoluter Transzendenz: „Sofern aber die menschlichen Subjekte nach Hegel sehr wohl aufgefordert sind, diese Revolution auch in der Welt zu verwirklichen, enthüllt sich zugleich die Unwahrheit der Alternative, welche die Freiheit des Menschen und die Transzendenz Gottes auseinanderreißt.“261 So werden Heiligkeit und Wirklichkeit versöhnt, und Freiheit wird zu konkreter Freiheit. In der Welt hat sich ein grundlegender Wandel getan: „Aber durch das Sicheinführen des göttlichen Geistes in die Wirklichkeit, die Befreiung der Wirklichkeit zu ihm wird das, was in der Welt Heiligkeit sein soll, durch die Sittlichkeit verdrängt. Statt des Gelübdes der Keuschheit gilt nun erst die Ehe als das Sittliche, und damit als das Höchste in dieser Seite des Menschen die Familie; statt des Gelübdes der Armut (dem, sich in Widerspruch verwickelnd, das Verdienst des Wegschenkens der Habe an die Armen, d. i. die Bereicherung derselben entspricht) gilt die Tätigkeit des Selbsterwerbs durch Verstand und Fleiß und die Rechtschaffenheit in diesem Verkehr und Gebrauch des Vermögens, die Sittlichkeit in der bürgerlichen Gesellschaft; statt des Gelübdes des Gehorsams gilt der Gehorsam gegen das Gesetz und die gesetzlichen Staatseinrichtungen, welcher selbst die wahrhafte Freiheit ist, weil der Staat die eigene, die sich verwirklichende Vernunft ist; die Sittlichkeit im Staate.“262 260
G. W. F. Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, Teil 3: Die vollendete Religion, in Vorlesungen. Ausgewählte Nachschriften und Manuskripte, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1984, S. 173. 261 Michael Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologisch-politischer Traktat, Berlin 1970, S. 11. 262 Enzyklopädie III, § 552, S. 358–359.
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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Nach Hegels Ansicht verursacht das protestantische Gewissen einen Wandel der Normativität und führt zu einer Neubewertung der Bedeutung des weltlichen Lebens; es ist „kein unglückliches Bewußtsein, dessen letzter Todeskampf Revolution war; der Staat selbst ist eine göttliche Einrichtung, der den Schnitt zwischen Jenseits und Diesseits heilt.“263 Das Gewissen drückt nichts anderes aus als Freiheit, die durch die Versöhnung des göttlichen Geistes und des weltlichen Lebens in der Sittlichkeit verwirklicht wurde: „So wird zuletzt das Prinzip des religiösen und des sittlichen Gewissens ein und dasselbe in dem protestantischen Gewissen, – der freie Geist in seiner Vernünftigkeit und Wahrheit sich wissend.“264 Daher glaubt Hegel, dass der Begriff der Sittlichkeit des modernen Staats das Ergebnis dieser Gewissensfreiheit ist. Die Familie, die bürgerliche Gesellschaft und der Staat in der modernen Welt haben durch diese Gewissensfreiheit ihre Bedeutung wiedererlangt. Daher muss Sittlichkeit auch auf dem Grundprinzip dieser Freiheit beruhen: „Solange nicht die wahrhafte Religion in der Welt hervortritt und in den Staaten herrschend wird, so lange ist nicht das wahrhafte Prinzip des Staates in die Wirklichkeit gekommen. So lange aber konnte dies Prinzip auch nicht in den Gedanken kommen, von diesem nicht die wahrhafte Idee des Staates erfaßt werden, – der substantiellen Sittlichkeit, mit welcher die Freiheit des für sich seienden Selbstbewußtseins identisch ist. Nur in dem Prinzipe des sein Wesen wissenden, des an sich absolut freien und in der Tätigkeit seines Befreiens seine Wirklichkeit habenden Geistes ist die absolute Möglichkeit und Notwendigkeit vorhanden, daß Staatsmacht, Religion und die Prinzipien der Philosophie in eins zusammenfallen, die Versöhnung der Wirklichkeit überhaupt mit dem Geiste, des Staats mit dem religiösen Gewissen, ingleichen dem philosophischen Wissen sich vollbringt.“265
Mit anderen Worten, das wahrhafte Gewissen, Staat und Philosophie drücken dieselbe Wahrheit aus, nämlich die Idee der Freiheit und die wirkliche Freiheit. Als freies Wesen haben die Menschen eine „geistige Welt als zweite Natur“ hervorgebracht. Diese Welt kann nicht die Überzeugung einer oder eines Einzelnen sein, ein Sollen ohne Wirklichkeit; in der Sittlichkeit ist vielmehr Hegel zufolge „das absolute Sollen ebensosehr Sein“ und „erreichtes Diesseits“.266 Die rechtlichen und moralischen Behauptungen des Individuums müssen in einen größeren sittlichen Rahmen eingebettet werden, die Gewissheit als der Standpunkt des Verstandes, der Reflexion, der Relation, des Sollens, der Forderung, der Erscheinung des Willens267 muss sich zur Wahrheit und Wirklichkeit der Freiheit erheben: „Weder Rechtsperson noch moralische Innerlichkeit erfüllen dem Subjekt seine prinzipiellen Ansprüche auf gelebte und in der objektiven Welt genossene Freiheit, die
263
Lewis White Beck, „Reformation, Revolution und Restauration in Hegels politischer Philosophie“, in: Praktische Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel und Riccardo Pozzo, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 517. 264 Enzyklopädie III, § 552, S. 365. 265 Enzyklopädie III, § 552, S. 364. 266 Enzyklopädie III, § 514, S. 318. 267 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, Müchen 2012, S. 157.
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
nur im Staat und in keiner anderen Rechtssphäre sich verwirklicht.“268 Norberto Bobbio erläutert: „Die Rationalisierungsprozeß des Staates ist nun also so weit vorgeschritten, daß die Rationalität des Staats für Hegel keine Forderung mehr ist, sondern eine Wirklichkeit, kein Ideal mehr, sondern ein historisches Ereignis.“269 Der individuelle Wille, die Autonomie und das Gewissen müssen in die Freiheitsbewegung einer größeren Gemeinschaft, den sittlichen Wert und die geschichtliche Wirklichkeit integriert werden: „Die Sittlichkeit ist die Integration der beiden ersten Standpunkte, des einen durch den andern. Die Eitelkeit der subjektiven Gewißheit und die abstrakte Allgemeinheit sind jetzt verschwunden. Sittlich ist also zuerst die Idee der Freiheit, aber so, daß diese Freiheit lebendig ist. Das Gute ist hier nicht in ein Jenseits, in eine moralische Weltordnung versetzt, sondern es ist wirklich und gegenwärtig.“270
Für Hegel ist Sittlichkeit „die Einheit und Wahrheit dieser beiden abstrakten Momente“ des abstrakten Rechts und der Moralität und „die Vollendung des objektiven Geistes“.271 Das abstrakte Recht und die Moralität „für sich können nicht existieren, sie müssen eine solche Grundlage haben, Es kann weder einen Zustand des abstrakten Rechts noch einen Zustand des moralischen Standpunkts geben. Der sittliche Zustand liegt immer zu Grunde. Wenn der einen oder der andere Standpunkt vorherrscht, so war es nur ein Übergewicht eines dieser beiden auf der Grundlage.“272 Wie Jean-François Kervégan betont, besteht Hegels Begriff der Sittlichkeit darin, dem abstrakten Recht und der Moralität eine vernünftige Wirklichkeit zu geben, d. h. auf dem Gebiet der Sittlichkeit ist die Normativität von Recht und Moralität für das Subjekt wirklich: „L’éthique, chez Hegel, ne désigne plus un domaine ou un type de normativité, mais le champ institutionnel à l’intérieur duquel la normativité (juridique et morale) devient effective pour des sujets qui n’accèdent à la subjectivité concrète qu’en tant qu’ils inscrivent leur agir (ou leurs projets d’action) dans ce cadre institutionnel indisponible, qui est pour eux comme une seconde nature.“273 Das Gewissenskapitel in der Phänomenologie des Geistes beinhaltet eine Kritik an Fichte und den Romantikern, d. h. am subjektiven Standpunkt und der Gewissheit für sich selbst. Hegel hat wiederholt auf die Verstellung, die Leere, das Böse und die Heuchelei hingewiesen, die durch das moralische Bewusstsein, die schöne Seele und das handelnde Gewissen verursacht werden. Er ist jedoch nicht zu der „unmittelbaren Wahrheit“274 zurückgekehrt, sondern hat die Moralität in der Sitt 268
Rüdiger Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1996, S. 163. 269 Norberto Bobbio, „Hegel und die Naturrechtslehre“, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie Bd. 2, hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt a. M. 1975, S. 95. 270 Bl, S. 122. 271 Enzyklopädie III, § 513, S. 317. 272 Rin, S. 85. 273 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 320. 274 Phänomenologie des Geistes, S. 326.
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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lichkeit als „Idee der Freiheit“275 aufgehoben: „Was Hegel an Moralität kritisiert, ist die Unfähigkeit der Gewissens- und Überzeugungsethik, aus dem unbestimmt Allgemeinen (Gesetzmäßigkeit überhaupt, die Gemeinschaft aller vernünftigen Wesen, das Gewissen als reines Entschließen etc.) bestimmte Pflichten abzuleiten. Das muß zur Relativierung aller Pflichten als unvollkommener Realisierung des allgemeinen Guten oder als willkürliche Setzungen des Subjekts führen. Ohne bestimmte Pflichten ist aber nur das Mißtrauen des status naturalis oder die absolute Willkürherrschaft der Tyrannis denkbar.“276 Die Sittlichkeit ist „der zur vorhandenen Welt und zur Natur des Selbstbewußtseins gewordene Begriff der Freiheit“.277 In dieser Hinsicht ist Hegels Sittlichkeit kein Verlust des Selbstbewusstseins und der Meinung. Im Gegenteil hat die Sittlichkeit als das lebendige Gute „durch dessen [das Selbstbewusstsein] seine Wirklichkeit“. Mit anderen Worten, der sittliche Standpunkt besteht nicht darin, das Rechtliche und Moralische gleichsam zu verschlingen, sondern ist das Gebiet, in dem Recht und Moralität ihren Inhalt und ihre Wirklichkeit erlangen können: „So haben beide Momente für sich keine Wirklichkeit. Denn nur das Unendliche, das in sich bestimmte, die Idee ist wirklich. Das Recht ist nur wirklich als Zweig eines Ganzen, als sich anrankende Pflanze eines an und für sich festen Baumes.“278
Nach den Worten von Robert Pippin sind der rechtliche und moralische Standpunkt jeweils unvollständig (incomplete).279 Klaus Vieweg erläutert das Verhältnis zwischen Sittlichkeit, abstraktem Recht und Moralität auf der Grundlage der Struktur der Logik. Als logische Bestimmung des abstrakten Begriffs und Urteils müssen das abstrakte Recht und die Moralität auf die tiefere Grundlage des Schlusses im Prozess der Selbstbestimmung zurückkehren und dann in der Sittlichkeit aufgehoben werden: Das Urteil in allen seinen Formen ist nicht durch sich selbst begründbar, es verlangt nach einer Legitimation, die nur der Schluss liefern kann. Das Schließen enthält wesentlich die Negation der Bestimmtheit des formellen Rechts und der Moralität, der logischen Formen des Begriffs und des Urteils, die Aufhebung von personaler und moralischer Freiheit, so dass dieses Zusammen-Schließen nicht mit etwas Anderem, sondern mit dem aufgehobenen Anderen (aufgehobenes abstraktes Recht und aufgehobene Moralität in den drei Dimensionen des Aufhebens) erfolgt, daher mit sich selbst.“280 Die Sittlichkeit ist nicht nur ein kollektiver Begriff, sondern „die Idee der Freiheit“. Die Sittlichkeit schließt daher moralische Subjektivität an sich ein. Ohne moralische Subjektivität gibt es keine Sittlichkeit. 275
Rechtsphilosophie, § 142, S. 292. Ludwig Siep, Was heißt „Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit“ in Hegels Rechtsphilosophie? in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 237. 277 Ebd. 278 Vorlesungen über Rechtsphilosophie 1818–1831, Bd. 3, S. 479. 279 Robert Pippin, „Hegel on the Rationality and Priority of Ethical Life “, in: Neue Hefte für Philosophie 35 (1995), S. 97. 280 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 234–235. 276
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Allerdings scheint Hegel manchmal zu viel Wert auf den objektiven Aspekt der Sittlichkeit zu legen: „Hegel sometimes goes too far in the objective direction because he is more worried about people taking the subjective conditions of freedom to be sufficient conditions than he is about people blindly adhering to objectively valid norms.“281 Adriaan Peperzak schreibt: „Der moralische Gesichtspunkt ist das formelle und leere, aber notwendige Moment der Ethik.“282 Man kann sogar sagen, dass es, wenn es keinen moralischen Standpunkt und kein formelles Gewissen gibt, kein Gutes oder Böses, keine Moralität, keine Verantwortung und kein wahrhaftes und sittliches Gewissen geben wird.283 In Hegels Heidelberger Vorlesungen über Rechtsphilosophie heißt es: „Das moralische Bewußtsein gibt sich auch selbst nicht für philosophisch aus, und es erkennt selbst an, daß es bloß subjektiv ist. Wenn vom moralischen Standpunkt als dem Formalismus des abstrakten Guten gesprochen wird, so muß man diesen Standpunkt nicht mit dem vernünftigen Erkennen verwechseln […]. Die Moralität ist immer nur ein Moment des Ganzen […]. Die reine Gewißheit seiner in sich selbst ist das Abstrakte, in sich Unterschiedslose. Die konsequente Vollendung dieses Standpunkts ist das Verkümmern des Geistes in sich.“284
Wenn wir Hegels Absicht nicht verstehen, dann werden wir denken, dass „[d]ie Philosophie der Sittlichkeit […] Hegels affirmativen Standpunkt [fixiert]. Sie bildet darum auch für Hegel selber den eigentlichen Anfang. Abstraktes Recht und Moralität sind demgegenüber Adressaten der Kritik.“285 Es wäre also in den Worten Robert Pippins so, „as if Hegel was insufficiently attentive to the modern claims of individual natural right and indeed supposedly believed that individuals themselves are best understood as mere properties, or as contingent, secondary, ultimately unimportant manifestations of what is truly real, which is a supra-individual ‚ethical substance.‘“286 Was Hegel betont, ist, dass der Zweck des abstrakten Rechts und des moralischen Standpunkts in der Sittlichkeit als dem Selbstzweck liegt, der durch freien Willen verwirklicht wird. Die an und für sich seiende Sittlichkeit ist die Einheit des unmittelbaren und an sich seienden abstrakten Rechts und des moralischen Standpunkts als reflektierenden und für sich seienden Willens, die beide in der Sittlichkeit als dem Abstrakten aufgehoben werden müssen. Dies bestimmt auch die Reihenfolge, in der die Rechtsphilosophie den logischen Begriff des freien Willens klarstellt: 281
Dean Moyar, Hegel’s Conscience, Oxford 2011, S. 15. Adriaan Peperzak, „Hegels Pflichten- und Tugendlehre“, in: G. W. F. Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, hg. v. Ludwig Siep, Berlin 2005, S. 187. 283 Vgl. Daniel Dahlstrom, „The Dialectic of Conscience and the Necessity of Morality in Hegel’s Philosophy of Right“, in: Philosophical Legacies: Essays on the Thought of Kant, Hegel and their Contemporaries, Washington D. C. 2008, S. 160. 284 Bl, S. 120. 285 Michael Theunissen, „Die verdrängte Intersubjektivität in Hegels Philosophie des Rechts“, in: Hegels Philosophie des Rechts, hg. v. Dieter Henrich und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1982, S. 321. 286 Robert Pippin, „Hegel’s practical Philosophy: The Realization of Freedom “, in: The Cambridge Companion to German Idealism, hg. v. Karl Ameriks, Cambridge 2000, S. 181. 282
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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„Aus diesem Gange unserer Betrachtung folgt jedoch nicht im mindesten, daß wir die Sittlichkeit zu etwas der Zeit nach Späterem als das Recht und die Moralität machen oder die Familie und die bürgerliche Gesellschaft für etwas dem Staate in der Wirklichkeit Vorangehendes erklären wollten. Vielmehr wissen wir sehr wohl, daß die Sittlichkeit die Grundlage des Rechtes und der Moralität ist, sowie daß die Familie und die bürgerliche Gesellschaft mit ihren wohlgeordneten Unterschieden schon das Vorhandensein des Staates voraussetzen. In der philosophischen Entwicklung des Sittlichen können wir jedoch nicht mit dem Staate beginnen, da in diesem jenes sich zu seiner konkretesten Form entfaltet, der Anfang dagegen notwendigerweise etwas Abstraktes ist. Aus diesem Grunde muß auch das Moralische vor dem Sittlichen betrachtet werden, obgleich jenes gewissermaßen nur als eine Krankheit an diesem sich hervortut.“287
Die moderne Sittlichkeit als die Idee der Freiheit ist keine rein natürliche und unmittelbare Bestimmung. Wenn die Individuen nicht nach dem Standard der Gerechtigkeit fragen können, dann ist dieses Leben selbst unmoralisch und niedrig. Und weil Menschen nur als selbstbestimmte Seiende wirklich lebendig sind, erleidet der Mensch seinen geistigen Tod, wenn er sich nur an eine gegebene Lebensordnung anpasst und „der Gegensatz von subjektivem Bewußtsein und geistiger Tätigkeit verschwunden ist“.288 Es gehört zum Wesen des Menschen, dass er von der Natürlichkeit abweichen kann. Daher ist es die „Subjektivität, welche den Boden der Existenz für den Freiheitsbegriff ausmacht“.289 Da die Sittlichkeit dem Gesetz des Geistes der Freiheit unterliegt, stellt sie die Bedingung der Freiheit dar. Nach Hegels Meinung verwirklicht der moralische Standpunkt nicht vollständig und wirklich die Freiheit, d. h. der moralische Standpunkt und die Subjektivität sind „noch im Unterschiede [von] diesem ihrem Begriff“.290 Nur in der Sittlichkeit kann der Begriff der Freiheit wahrhaft verwirklicht werden und zum wahrhaften Begriff der Subjektivität gelangen: „Der moralische Standpunkt reicht zu einem Gebäude der Subjektivität nicht hin. Die Sittlichkeit ist aber dieses Gebäude, sie ist das, worin die Moralität sich äußert, wenn sie eine objektive Gestalt gewinnt.“291 „Die Alten wußten nichts vom Gewissen“292, deshalb ist das antike Leben eigentlich „eine unsittliche Sittlichkeit“; „sie haben keine Sittlichkeit, weil sie keine Innerlichkeit haben – und d. h. weil sie keine Moralität haben“.293 Herbert Schnädel bach wählt die Formulierung, dass die Sittlichkeit „Einheit von Sustantialität und Subjektivität“294 sei. In dieser Hinsicht besteht der grundlegende Unterschied zwischen dem sittlichen und dem moralischen Standpunkt darin, ob sie Freiheit abstrakt oder konkret verstehen. So wie Hegel in der Rechtsphilosophie die Ver 287
Enzyklopädie III, § 408 Zusatz, S. 171. Rechtsphilosophie, § 151 Zusatz, S. 302. 289 Rechtsphilosophie, § 152 Anm., S. 303. 290 Ebd. 291 Eduard Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, Tübingen 2005, S. 137. 292 Rechtsphilosophie, § 151 Bemerkung, S. 302. 293 Vittorio Hösle, „Eine unsittliche Sittlichkeit – Hegels Kritik an der indischen Kultur“, in: Moralität und Sittlichkeit. Das Problem Hegels und die Diskursethik, Frankfurt a. M. 1986, S. 159. 294 Herbert Schnädelbach, Hegels Praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 247. 288
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
wendung der Begriffe Subjektivität und Objektivität differenzieren wollte, hat auch die Sittlichkeit unterschiedliche Bedeutungen. Der sittliche Wille ist „der in sein Objekt oder Zustand versenkte Wille“295, den er mit dem kindlichen, sklavischen und abergläubischen Willen gleichsetzt. Obwohl Sittlichkeit für das Subjekt „ein Verhältnis [ist], das unmittelbar noch identischer als selbst Glaube und Zutrauen ist“296, besteht nach Ansicht Hegels der Unterschied zwischen wahrer Sittlichkeit und einer natürlichen Sittlichkeit darin, dass das Subjekt in der wahren Sittlichkeit „sein Selbstgefühl“297 haben kann und die Identität dieser Sittlichkeit „die wirkliche Lebendigkeit des Selbstbewußtseins“298 ist. Daher handelt es sich nicht um das unreflektierte Sittliche. Letzteres ist eigentlich das unsittliche Sittliche.299 Ersteres hingegen ist eine institutionalisierte Freiheit, die die besonderen Rechte einschließt. Aus der Perspektive des Selbstbewusstseins setzt die Sittlichkeit selbst als Freiheit eine Dimension der Unterscheidung voraus, und es gibt eine reflektierte Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Sittlichkeit als Substanz. Das Selbstbewusstsein versteht entweder die Beziehung zwischen sich selbst und der Substanz als Glauben und Überzeugung – Glauben und Überzeugung sind also keine verhältnislose Identität mehr – oder als die weitergehende Reflexion, ob die Gemeinschaft meine Interessen, Meinungen zum Ausdruck bringt. Darüber hinaus erfasst das Selbstbewusstsein die Beziehung zwischen Subjekt und Sittlichkeit aus der Perspektive der Allgemeinheit des Denkens, denn nach Hegels Ansicht gehört die Erkenntnis der Identität der Sittlichkeit „dem denkenden Begriffe an.“300 Sittlichkeit ist daher keine unmittelbare und natürliche Identität, sondern vernünftige und begriffliche Identität. Das heißt, in der Sittlichkeit sind die Meinungen aller als subjektive Freiheit erhalten geblieben. Im allgemeinen Leben dieser Sittlichkeit kann jeder sich selbst wiedererkennen: „Was als gültige Regelung dem Handelnden gegenübertritt, ist dessen eigenen Regelung, die Organisation seines vernünftigen Wollens, die Verwirklichungsform der von ihm beanspruchten Freiheit. So verschwindet der Anschein von Fremdheit, der den staatlichen Institutionen solange eignet, wie es uns nicht gelingt, sie auf uns zu beziehen.“301
Das heißt, wir vertrauen sittlichen Einheiten nicht blind, sondern haben eine reflektierende Haltung ihnen gegenüber. Die Gesetze und Institutionen der sittlichen Substanz sollten durch freien Willen und Reflexion bestätigt und anerkannt werden, das heißt, „daß ohne die Akzeptanz der Beteiligten kein Gesetz die Chance echter Befolgung hat“.302 Das bedeutet auch, dass die Sittlichkeit selbst als „ver 295
Rechtsphilosophie, § 26, S. 76–77. Rechtsphilosophie, § 147, S. 295. 297 Ebd. 298 Ebd. 299 Ebd. 300 Rechtsphilosophie, § 147 Anm., S. 296. 301 Rüdiger Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1996, S. 160. 302 Rüdiger Bubner, „Hegels politische Anthropologie“, in: ders., Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 81. 296
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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nünftiger Inhalt“ auch eine „Form der Vernünftigkeit“ zeigen muss, d. h. sie muss durch Vernunft erfasst und durch das Denken als wirklich vernünftig anerkannt werden: „Daß Recht und Sittlichkeit, und die wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen, sich durch den Gedanken erfaßt, durch Gedanken sich die Form der Vernünftigkeit, nämlich Allgemeinheit und Bestimmtheit gibt, dies [ist] das Gesetz“.303 Diese Art von Gesetz ist jedoch keine Fessel, kein Fremdes: „Das Selbstbewußtsein hat das Substantielle zu seiner Grundlage, es weiß jenes als ein Wesentliches seines eigenen Willens, nicht als ein Joch.“304 Klaus Vieweg schreibt: „In diesen nicht auf Willkür oder Meinung, sondern auf Wissen fundierten Formen der Objektivität kann der Wollende und Handelnde bei sich selbst sein, die Subjekte konstituieren diese als ‚ihre Heimat, als ihr Eigenes, nicht als ein Joch‘, sondern als das von ihnen selbst gegebene Gesetz.“305 Die Sittlichkeit ist die objektive Vernunft, die sich in der geistigen Welt manifestiert, ist eine normative Substanz, in der der Widerspruch von Wesen und Existenz, Sein und Sollen überwunden wird. Das Sein der Sittlichkeit selbst ist das normative Sollen; der Dualismus von Denken und Sein, Subjekt und Objekt, Unterschiede und Widersprüche werden im Selbstverhältnis der absoluten Vernunft versöhnt: „The conviction that we can synthetic a priori knowlege, and that this knowledge discovers something that is independent of our mind, is of particular importance for practical philosophy, it grounds the position called ‚moral realism‘: albeit the moral law is neither a physical nor a mental nor a social fact, it is nevertheless; it belongs to an ideal sphere of being that partly determines the structures of real (physical, mental, social) being.“306 Die Sittlichkeit als die Idee der Freiheit ist der Selbstvollzug und die Selbstverwirklichung der praktischen Wahrheit: „Überhaupt ist dies die höchste Selbständigkeit des Menschen, sich als schlechthin bestimmt durch die absolute Idee zu wissen.“307
II. Das formelle Gewissen und das wahrhafte Gewissen: Meinungen und sittliche Gesinnung Hegel betont, dass die Sittlichkeit die „an und für sich seiende Grundlage und [der] bewegende[ ] Zweck“308 des Selbstbewusstseins sei, was dem moralischen Standpunkt der „für sich seienden Identität“309 entgegenstehe; die Sittlichkeit ist „der an und für sich seiende Wille als das Objektive, Kreis der Notwendigkeit, dessen Momente die sittlichen Mächte sind, welche das Leben der Individuen regieren und in diesen als ihren Akzidenzen ihre Vorstellung, erscheinende Gestalt 303
Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 20. Rin, S. 85. 305 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 230. 306 Vittorio Hösle, Objective Idealism, Ethics, and Politics, Notre Dame 1998, vii. 307 Enzyklopädie I, § 158 Zusatz, S. 304. 308 Rechtsphilosophie, § 142, S. 292. 309 Rechtsphilosophie, § 105, S. 203. 304
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
und Wirklichkeit haben“.310 Wir können sehen, dass Hegel hier wieder Spinozas Terminologie von Substanz und Akzidens benutzt, um die Beziehung zwischen Individuen und sittlicher Substanz zu beschreiben. Es ist jedoch offensichtlich, dass Hegel sich während der Jenaer Zeit nicht auf Aristoteles’ politische Philosophie und Spinozas metaphysische Position zurückgezogen hat, denn er betont, dass die Sittlichkeit die Idee der Freiheit sei – also keine natürlich gegebene Gestalt mehr, keine unwirkliche, die moderne Moralität und ihr Feld der Verwirklichung, nämlich die bürgerliche Gesellschaft ausschließende absolute Natur der Sittlichkeit. Subjektive Freiheit und formelle Moralität stehen nicht mehr im Gegensatz zu Gesetzen und den sittlichen Mächten als Wirklichkeit der Freiheit; sie sind nicht mehr „das Subjektive und in sich Unbestimmte“.311 Der Gegensatz zwischen Form und Inhalt im moralischen Standpunkt wird in die Sittlichkeit aufgehoben, die reiche Inhalte liefert und die Gewissensethik in die Ethik der Institution verwandelt. In dieser Sittlichkeit stellt die Institution nicht mehr ein Hindernis dar, das die Menschen überwinden müssen, um ihre Identität zu bewahren, sondern ist gerade die lebendige Wirklichkeit der menschlichen Freiheit, eine freie Gewohnheit oder ein Lebensstil, der von der Freiheit durchdrungen ist. Daher sagt Hegel in Enzyklopädie: „Weil die Substanz die absolute Einheit der Einzelheit und der Allgemeinheit der Freiheit ist, so ist die Wirklichkeit und Tätigkeit jedes Einzelnen, für sich zu sein und zu sorgen, bedingt sowohl durch das vorausgesetzte Ganze, in dessen Zusammenhang allein vorhanden, als auch ein Übergehen in ein allgemeines Produkt.“312
Deshalb ist das sittliche Verhältnis „also überhaupt diese Identität des besonderen Willens und des Allgemeinen“313, das selbst ein Prozess der Bildung ist, in dem die Individuen zum Allgemeinen gebildet werden und zu sittlicher Gesinnung gelangen: „Das Individuum ist zuerst natürlicher Wille und insofern dem Allgemeinen nicht unmittelbar gemäß. Es muß erst dazu gebildet werden.“314 Ein sittliches Leben zu führen bedeutet, Freiheit zu einer Notwendigkeit und Gewohnheit des individuellen Lebens zu machen und Freiheit und Geist kontinuierlich die Seele bereichern und durchdringen zu lassen: „Die Individuen erlangen ihr Recht, indem sie auf solche Weise zu ihrem Wesen gelangen. Sie erhielten damit, wie man es genannt, ihre Bestimmung. Jedes Individuum, ist so der Repräsentant der Substanz. Indem das Sittliche so an den Individuen wirklich ist, so ist es ihre Seele überhaupt, die allgemeine Weise ihrer Wirklichkeit. Sitte und Gesetz scheinen hier als identisch. Die Freiheit ist zur Notwendigkeit geworden, zur zweiten Natur. Es ist der erscheinende Geist, welcher da ist.“315
310
Rechtsphilosophie, § 145, S. 294. Rechtsphilosophie, § 148, S. 297. 312 Enzyklopädie III, § 515, S. 318. 313 Bl, S. 124. 314 Ebd. 315 Ebd. 311
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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Daher ist die Sittlichkeit die Einheit von Subjektivität und Objektivität: „Im Sittlichen sind Gedanken, Gesinnungen, das freie Selbstbewusstsein als die subjektive Komponente, mit den selbstgegebenen Gesetzen und selbstkonstituierten Institutionen, der objektiven Seite, synthetisiert, mind and world as ethical life.“316 Die Sittlichkeit ist ein lebendiges Gutes und ein Begriff der Freiheit, die zur Welt geworden ist. Im Bereich der Sittlichkeit spielt die Objektivität sittlicher Organisationen eine entscheidende Rolle. Diese Organisationen müssen jedoch auch ihre Kraft aus der Gesinnung des Einzelnen schöpfen. Durch sittliche Gesinnung können die besonderen Individuen mit dem Allgemeinen in Verbindung gebracht werden. Durch die Handlungen des individuellen Selbstbewusstseins können diese Institutionen verwirklicht werden, insbesondere der Staat: „Der Staat ist die Wirklichkeit des sittlichen Geistes, als der offenbare, sich selbst deutliche allgemeine Wille, welcher sich zum Wissen bringt und vollführt, in der Sitte unmittelbares Dasein, an dem einzelnen Selbstbewußtsein, an dessen Wissen und Tätigkeit, seine vermittelte Wirklichkeit hat, so wie dieses [Selbstbewußtsein] durch seine Gesinnung – ihn als seine Substanz, Zweck und Produkt seiner Tätigkeit zu wissen – in ihm seine Freiheit hat.“317 Daher sind die sittliche Gesinnung und die Objektivität der Institution zwei Aspekte der Freiheit: „Die einseitigen Extreme in welchen die Wirklichkeit der Freiheit gefaßt wird., sind die Gesinnung und der Mechanismus des Staates; die wahrhafte Wirklichkeit der Freiheit aber ist dessen Organismus.“318
Diese Institutionen haben die Anforderungen individueller, extremer Autonomie überwunden. Für das Individuum hat sich Sittlichkeit zwar bereits als die bestehende Allgemeinheit erwiesen, aber für Individuum ist dies keine natürliche Sittlichkeit, und nur durch individuelles Bewusstsein und Handeln kann die Institution schließlich dem Einzelnen als objektives Resultat gezeigt werden; oder mit anderen Worten, die Institution ist ein wirkliches Resultat der Freiheit des Selbstbewusstseins: „Das Sittliche ist subjektive Gesinnung, aber des an sich seienden Rechts; – daß diese Idee die Wahrheit des Freiheitsbegriffes ist […] daß das Recht und das moralische Selbstbewußtsein an ihnen selbst sich zeigen, darein als in ihr Resultat zurückzugehen.“319
Daher hat jede Institution auch die ihr entsprechende sittliche Gesinnung: die Liebe in der Familie, die Standesehre in der bürgerlichen Gesellschaft, den Patriotismus im Staat. Und entsprechend existiert zu jeder Institution auch eine von der Sittlichkeit abgekoppelte Gesinnung: zufällige sexuelle Leidenschaft, böswillige Gesinnung des Pöbels und instrumentale und individualistische Staatskonzeption. „Daß Gesinnung zugleich den höchsten Werth habe, und doch zugleich dem
316
Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 231. Wan, S. 172. 318 Hom, S. 326. 319 Rechtsphilosophie, § 141 Anm., S. 287. 317
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Irrthum unterworfen, also willkürlich ist, ist ein offenbarer Widerspruch.“320 Hegel zeigt uns, dass, wenn eine subjektive Gesinnung in einer extrem subjektiven, formellen romantischen Innerlichkeit, einer Gesinnung der Verhöhnung und Schamlosigkeit des Pöbels, einem abstrakten, formellen guten Gewissen befangen bleibt, diese subjektiven Ichs, anstatt sich selbst zu verwirklichen, ihre eigene Leere und ihren Mangel an Inhalt entlarven: „Das abstrakte Gute verflüchtigt sich zu einem vollkommen Kraftlosen, in das ich allen Inhalt bringen kann, und die Subjektivität des Geistes wird nicht minder gehaltlos, indem ihr die objektive Bedeutung abgeht.“321 Während Hegel in der Rechtsphilosophie versucht, das formelle Gewissen dieser Leere zu überführen, versucht dieses Gewissen seinerseits, die Welt nach seinem eigenen Sollen zu konzipieren. Aber dieser Standpunkt bleibt im Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Sein der Welt und dem selbstkonzipierten Sollen inkonsequent. Denn einerseits soll die Welt im Einklang mit den besonderen Prinzipien und Normen des Gewissens sein, und andererseits erweist sich das daraus hervorgehende Handeln letztlich als zufällig und willkürlich: „Das Selbstbewußtsein in der Eitelkeit aller sonst geltenden Bestimmungen und in der reinen Innerlichkeit des Willens ist ebensosehr die Möglichkeit, das an und für sich Allgemeine, als die Willkür, die eigene Besonderheit über das Allgemeine zum Prinzipe zu machen und sie durch Handeln zu realisieren – böse zu sein.“322
Die Phänomenologie des Geistes hat offenbart, dass Selbstbehauptung des Gewissens und tatsächliches Handeln, Selbst und Ansich in ein Verhältnis der Inkonsistenz geraten; das Gewissen ist nur eine Verkleidung subjektiver Selbstgerechtigkeit, und so ist es eine andere Art von Heuchelei, verursacht durch den höchsten Höhepunkt der Subjektivität: „Indem das Selbstbewußtsein an seinem Zwecke eine positive Seite, deren er notwendig hat, weil er dem Vorsatze des konkreten wirklichen Handelns angehört, herauszubringen weiß, so vermag es um solcher, als einer Pflicht und vortrefflichen Absicht willen, die Handlung, deren negativer wesentlicher Inhalt zugleich in ihm, als in sich Reflektierten, somit des Allgemeinen des Willens sich Bewußten, in der Vergleichung mit diesem steht, für andere und sich selbst als gut zu behaupten, – [für] andere, so ist es die Heuchelei, [für] sich selbst, so ist es die noch höhere Spitze der sich als das Absolute behauptenden Subjektivität.“323
Weil alles Sittliche, alle Pflicht und alles Gute auf mir, auf meiner Überzeugung und meiner reinen Selbstgewissheit basieren sollen, werde ich auf diesem Wege jede Objektivität abschaffen, zu einem vollendeten Nihilismus gelangen und die Grenze zwischen Gute und Böse vollends verwischen. In den Vorlesungen über Religionsphilosophie sagt Hegel: „Aller objektive Inhalt, Gesetz, Wahrheit, Pflicht, verschwindet für mich, ich anerkenne nichts, nichts Objektives, keine Wahrheit; Gott, das Unendliche ist mir ein Jenseits, abge 320
Hey, S. 28. Rechtsphilosophie, § 141 Zusatz, S. 290. 322 Rechtsphilosophie, § 139, S. 260–261. 323 Rechtsphilosophie, § 140, S. 265. 321
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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halten von mir. Ich allein bin das Positive, und kein Inhalt gilt an und für sich, er hat keine Affirmation mehr an sich selbst, sondern nur insofern ich ihn setze; das Wahre und das Gute ist nur mein Überzeugtsein, und dazu, daß etwas gut ist, gehört nur dies mein Überzeugtsein, diese meine Anerkennung.“324
Eine solche Überzeugung ist jedoch nur eine subjektive Meinung. Die Philosophie sollte den Begriff und die absolute Notwendigkeit der Sache selbst, in Hegels Worten „de[n] göttliche[n] Wille[n]“325, „den Begriff des Willens“326 erfassen und ihn völlig vernünftig verstehen und erklären. Daher ist die Rechtsphilosophie eine Wissenschaft des Rechts und der philosophischen Rechtswissenschaft. Daher lehnt sie Relativismus und Nihilismus ab, die der modernen Welt eigen sind, den sogenannten Atheismus in der sittlichen Welt. Deshalb auch lehnt Hegel das formelle Gewissen ab: „Was Recht und Pflicht ist, ist als das an und für sich Vernünftige der Willensbestimmungen wesentlich weder das besondere Eigentum eines Individuums noch in der Form von Empfindung oder sonst einem einzelnen, d. i. sinnlichen Wissen, sondern wesentlich von allgemeinen, gedachten Bestimmungen, d. i. in der Form von Gesetzen und Grundsätzen. Das Gewissen ist daher diesem Urteil unterworfen, ob es wahrhaft ist oder nicht, und seine Berufung nur auf sein Selbst ist unmittelbar dem entgegen, was es sein will, die Regel einer vernünftigen, an und für sich gültigen allgemeinen Handlungsweise.“327
In den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie sagt Hegel: „Wahre Bildung ist nicht, auf sich sosehr seine Aufmerksamkeit richten, sich mit sich als Individuum beschäftigen – Eitelkeit; sondern sich vergessen, in die Sache, das Allgemeine vertiefen – Selbstvergessenheit.“328 Das formelle Gewissen muss seine eigensinnige und formelle Konzeption des Gutes aufgeben, der zufolge es einen grundlegenden Unterschied zwischen Sollen und Sein gibt. Denn auch wenn die Welt immer unvollkommen ist, besteht die Vollkommenheit unserer Handlungen immer im „Perennieren der Annäherung“.329 Wie Hegel in seiner Kritik an Savigny bemerkt, ist die Unvollkommenheit eines Gesetzbuches kein Grund, das Gesetzbuch abzuschaffen, ihm nicht zur Geltung in der Wirklichkeit zu verhelfen. In ähnlicher Weise setzt die Unvollkommenheit der Welt unser Recht auf ein wirkliches Leben in der Welt nicht außer Kraft. Die Welt ist der Ort, das Gute zu verwirklichen. Denn: „Schlechtes Wetter ist immer besser als gar kein Wetter.“330 Daher müssen Moralität und Gewissen auf der Sittlichkeit, der Idee der Freiheit, dem lebendigen Guten und der bestehenden Welt basieren. Moralität und Gewissen müssen anerkennen, dass sie auf einer Reihe objektiver Verhältnisse beruhen. Daher müssen sie die formelle und abstrakte Vorstellung aufgeben, sich aus sich selbst schrankenlos zu bestimmen. Sie müssen das Recht der Welt und die Vernünftigkeit 324
Vorlesungen über die Philosophie der Religion I, S. 181–182. Kiel, S. 132. 326 Kiel, S. 135. 327 Rechtsphilosophie, § 137, S. 255. 328 Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I, S. 230–231. 329 Rechtsphilosophie, § 216 Anm., S. 369. 330 Bl, S. 172. 325
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
in der Welt anerkennen, sie als Leitfaden für all ihr Handeln verwenden, von ihnen her an und für sich seiende Vernünftigkeit gewinnen und eine solche Vernünftigkeit in der Welt als sittlicher Welt durch ihre eigenen Handlungen verwirklichen: „Dieses ist der an und für sich seiende Begriff, und die Welt ist so selbst die Idee. Das unbefriedigte Streben verschwindet, wenn wir erkennen, daß der Endzweck der Welt ebenso vollbracht ist, als er sich ewig vollbringt. Dies ist überhaupt die Stellung des Mannes, während die Jugend meint, die Welt liege schlechthin im argen und es müsse aus derselben erst ein ganz anderes gemacht werden. Das religiöse Bewußtsein betrachtet dagegen die Welt als durch die göttliche Vorsehung regiert und somit als dem entsprechend, was sie sein soll. Diese Übereinstimmung von Sein und Sollen ist indes nicht eine erstarrte und prozeßlose; denn das Gute, der Endzweck der Welt, ist nur, indem es sich stets hervorbringt […].“331
Hegels sogenanntes wahrhaftes Gewissen bedeutet jedoch, dass ein Individuum aus sich herausgehen muss, um eine institutionelle und sittliche Gesinnung zu erlangen: „Das wahrhafte Gewissen ist diese Gewißheit meiner, daß ich der Setzende bin, aber so daß ich vernichte meine Partikularität, daß das Ewige die Gesetze geben. Das ist der Begriff des Gewissens; das Setzende ist so das ewige Sein, in dem ich mich davon unterscheide, erkenne ich dies ewige Sein an.“332
Daher bezeichnet Hegel in seiner Rechtsphilosophie die politische Gesinnung als „subjektive Substantialität“333, die „in Wahrheit stehende Gewißheit“334 sei. Sie ist „nur Resultat der im Staate bestehenden Institutionen, als in welchem die Vernünftigkeit wirklich vorhanden ist, so wie sie durch das ihnen gemäße Handeln ihre Betätigung erhält“.335 Das formelle Gewissen als „bloß subjektive Gewißheit geht nicht aus der Wahrheit hervor und ist nur Meinung“.336 Daher betont Hegel, dass politische Gesinnung „das innere Wollen der Gesetze ist, nicht nur Sitte, sondern die Gesinnung, daß die Gesetze und die Verfassung überhaupt das Feste seien und daß es die höchste Pflicht der Individuen sei, ihre besonderen Willen ihnen zu unterwerfen. Es können vielerlei Meinungen und Ansichten über Gesetze, Verfassung, Regierung sein, aber die Gesinnung muß die sein, daß alle diese Meinungen gegen das Substantielle des Staats untergeordnet und aufzugeben sind. “337
Nach Hegels Ansicht ist die Idee „l’unité du concept subjectif et de l’objectivité, ou plutôt le procès d’adéquation qui les produit, les oppose, les enchaîne et les unifie“.338 Die Sittlichkeit als die notwendige Bedingung der Objektivierung 331
Enzyklopädie I, § 234 Zusatz, S. 387. Kiel, S. 133. 333 Rechtsphilosophie, § 267, S. 412. 334 Rechtsphilosophie, § 268, S. 413. 335 Ebd. 336 Ebd. 337 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 531. 338 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 344. 332
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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der Freiheit ist nicht nur eine materielle Institution. Die Institutionen müssen auch die Bestätigung und das Vertrauen des Individuums erhalten; Sittlichkeit ist das lebendige Gute, in dem das Setzen mit dem Sein identisch ist, und dies ist das wahrhafte Gewissen: „Dies Sein und Setzen sind die zwei Bestimmungen, auf die es hier ankommt.“339 Der Einzelne weiß, dass die wohlgeordnete Freiheit die Garantie seiner Freiheit und seiner Interessen ist und die Möglichkeitsbedingungen für die Verwirklichung seiner Freiheit bietet: „Die Gesinnung der Individuen ist das Wissen der Substanz und der Identität aller ihrer Interessen mit dem Ganzen; und daß die anderen Einzelnen gegenseitig sich nicht nur in dieser Identität wissen und wirklich sind, ist das Vertrauen, – die wahrhafte, sittliche Gesinnung.“340
Die sittliche Gesinnung oder das wahrhafte Gewissen glaubt nicht, dass es „für sich den Anfang machen und aus subjektiven Vorstellungen und Gedanken hervorgehen könne“341, das entsprechende formelle Gewissen entbehrt „ihres [der Gesinnung] wahrhaften Grundes, der objektiven Realität“342, ist also nur eine Meinung. Die subjektiven Meinungen, die das formelle Gewissen hervorbringt, tendieren dazu, sich abstrakt vorzustellen, wie ein Staat beschaffen sein sollte. Daher steht das formelle Gewissen immer außerhalb des Staats und betrachtet den Staat als ein Anderes. Die wahre sittliche Gesinnung besteht darin, sich in den Staat, diese Sache selbst zu vertiefen. Von da an ist „dieser unmittelbar kein anderer für mich“.343 Hegel sieht in der klassischen und modernen Zeit zwei extreme Formen der Gesinnung: „Platon in seiner Republik setzt alles auf die Regierung und macht die Gesinnung zum Prinzip, weshalb er denn das Hauptgewicht auf die Erziehung legt. Ganz dem entgegengesetzt ist die moderne Theorie, welche alles dem individuellen Willen anheimstellt. Dabei ist aber keine Garantie, daß dieser Wille auch die rechte Gesinnung habe, bei der der Staat bestehen kann.“344
Einerseits stellt sich Hegel gegen die moderne politische Theorie. Im Naturrechtsaufsatz weist er darauf hin, dass Bildung der Prozess der Aufhebung der Subjektivität sei; das Wesentliche am Bildungsprozess ist, „daß [das Kind], an der Brust der allgemeinen Sittlichkeit getränkt, in ihrer absoluten Anschauung zuerst als eines fremden Wesens lebt, sie immer mehr begreift und so in den allgemeinen Geist übergeht.“345Daher muss das Allgemeine in den Herzen und Handlungsweisen der Menschen reflektiert werden. Das System der Sittlichkeit muss entsprechende bürgerliche Tugenden kultivieren, das Individuum hat „selbst nur Objektivität, Wahrheit und Sittlichkeit, als es ein Glied desselben [des Staates] 339
Kiel, S. 133. Enzyklopädie III, § 515, S. 318–319. 341 Rechtsphilosophie, § 268 Anm., S. 414. 342 Ebd. 343 Ebd. 344 Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 531. 345 Jenaer Schriften, S. 507. 340
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
ist“346, und nur so kann es wirklich ein allgemeines Leben führen. Daher besteht die wirkliche sittliche Erziehung darin, das Individuum zum Bürger eines wohleingerichteten Volkes zu machen.347 Andererseits glaubt Hegel aber auch, dass die subjektive Gesinnung „die in einer gegliederten Organisation gesetzlich bestimmte Wirksamkeit“348 nicht ersetzen kann, und zwar weil „die Tugend der Häupter des Staats unzureichend“ ist. Darüber hinaus gibt es in der modernen Prosa der Welt „keinen Platz mehr für Helden“349: „Die Zeit des Götz und Franz von Sickingen ist die interessante Epoche, in welcher das Rittertum mit der adeligen Selbständigkeit seiner Individuen durch eine neuentstehende objektive Ordnung und Gesetzlichkeit ihren Untergang findet.“350 Wie Domenico Losurdo betont, ist „die moderne Welt von der Gegenwärtigkeit und Zentralität der politischen Institutionen, von der Objektivität der Rechtsnorm gekennzeichnet: es gibt also keinen Platz mehr für Helden.“351 Die Zeit der Tugend und Helden ist auch eine Zeit der „Willkür des Individuums“352; in der modernen Zeit wird, was „allgemein Angelegenheit des Staates war, in solchen Verfassungen mehr der Willkür […] überlassen.“353 In diesem Sinne betont Hegel, dass eines der Hauptmerkmale der modernen Welt darin bestehe, dass die wirkliche staatliche Institution jede subjektive Willkür ersetzt habe, ohne zu versuchen, über die Welt hinauszugehen, um ein Sollen zu erfüllen oder die Zukunft zu finden: „Im Staat wird der allgemeine Wille wirklich, das Allgemeine hat Dasein als absoluter Zweck. Hier ist keine Sehnsucht, kein Jenseits, keine Zukunft, der Zweck ist wirklich, hat Gegenwart. Das Innere, welches unmittelbar äußerlich ist, so daß die Innerlichkeit als Äußerlichkeit ist und umgekehrt, ist die Identität.“354
Wie wir jedoch in unserer Diskussion über Fanatismus gezeigt haben, ist der Kern der absoluten Sittlichkeit im Naturrechtsaufsatz immer noch die heldenhafte Tapferkeit. In der Rechtsphilosophie ist eine solche Tugend jedoch zu einem Ausnahmezustand geworden, denn sie stammt aus einer Epoche, in der „die Sittlichkeit nicht zu diesem freien System einer selbständigen Entwicklung und Objektivität gediehen war“.355 Aufgrund der Unzulänglichkeit der antiken Staaten war eine solche Tugend notwendig, um den Staat zu ergänzen, aber moderne Kriege sind abstrakter, daher geht es nicht mehr um „die Aufgelegtheit zu außerordentlichen Aufopferungen und Handlungen“, sondern um „die Gesinnung, welche in dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse das Gemeinwesen für die substan 346
Rechtsphilosophie, § 258 Anm., S. 399. Vgl. Jenaer Schriften, S. 508, Rechtsphilosophie, S. 303. 348 Rechtsphilosophie, § 273 Anm., S. 438. 349 Domenico Losurdo, „Moralisches Motiv und Primat der Politik bei Hegel“, in: Praktische Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel und Riccardo Pozzo, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 526. 350 Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 257. 351 Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt a. M. 2000, S. 293. 352 Rin, S. 90. 353 Ebd. 354 Wan, S. 172. 355 Rechtsphilosophie, § 150 Anm., S. 299. 347
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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tielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist“.356 Daher sagt Hegel: „Jetzt ist es die Zeit der Rechtschaffenheit.“357 Rechtschaffenheit ist eine nicht reflektierende sittliche Gesinnung, eine Gesinnung, die aus dem Respekt vor dem Gesetz hervorgeht, und ihre Quelle ist die stabile Verfassung und das Gesetz. Zugleich ist sie eine sittliche Gewohnheit und eine Form von Vertrauen. Diese sittliche Gewohnheit ist „die Gewohnheit desselben [des Sittlichen] als eine zweite Natur, die an die Stelle des ersten bloß natürlichen Willens gesetzt [ist]“358; sie steht daher ebenfalls auf dem Standpunkt des Geistes. Das bedeutet auch, dass sie den Standpunkt der Moralität und des formellen Gewissens überwunden hat: „Ebenso ist auf dem Standpunkt der Moralität das Selbstbewußtsein noch nicht geistiges Bewußtsein.“359 Das heißt, es geht nur von sich selbst aus, „es ist dabei nur um den Wert des Subjekts in sich selbst zu tun“360; dieser Standpunkt „verschwindet“ nun im Standpunkt der Sittlichkeit und des Geistes, wird also in ihm aufgehoben: „Die sittliche Substantialität ist auf diese Weise zu ihrem Rechte und dieses zu seinem Gelten gekommen, daß in ihr nämlich die Eigenwilligkeit und das eigene Gewissen des Einzelnen, das für sich wäre und einen Gegensatz gegen sie machte, verschwunden [ist], indem der sittliche Charakter das unbewegte, aber in seinen Bestimmungen zur wirklichen Vernünftigkeit aufgeschlossene Allgemeine als seinen bewegenden Zweck weiß und seine Würde sowie alles Bestehen der besonderen Zwecke in ihm gegründet erkennt und wirklich darin hat.“361
Was das formelle Gewissen betrifft, so impliziert es aufgrund seiner subjektiven Freiheit und seines moralischen Standpunktes auch eine Unterscheidung von Innerlichkeit und Äußerlichkeit, Sollen und Sein. Unabhängig von politischen oder sozialen Angelegenheiten muss jede Meinungsfreiheit die innere Zustimmung zum Ausdruck bringen wollen, und entsprechend dieser Zustimmung werden alle dem Subjekt auferlegten Verpflichtungen von außen überprüft. Die Wirksamkeit der Verpflichtungen wird vom Gewissen genehmigt, und es hat das Recht, sie nach Maßgabe seiner inneren Zustimmung abzulehnen. Auf diese Weise besteht der moralische Standpunkt tatsächlich darin, die Pflicht vollständig zu verinnerlichen. Die Pflicht kann nur die Pflicht sein, die vom Subjekt selbst festgelegt wird, und dieser Prozess der Verinnerlichung ist auch der Prozess der Aushöhlung der Pflicht, denn wenn ich den absoluten Ausgangspunkt der Pflicht festlege, betrachte ich jeden Faktor oder Inhalt, der außerhalb meiner selbst liegt, als Einschränkung meiner Autonomie und Selbstbestätigung: „Der Pflicht selbst, insofern sie im moralischen Selbstbewußtsein das Wesentliche oder Allgemeine desselben ist, wie es sich innerhalb seiner auf sich nur bezieht, bleibt damit nur die abstrakte Allgemeinheit, [sie] hat die inhaltslose Identität oder das abstrakte Positive, das Bestimmungslose zu ihrer Bestimmung.“362 356
Rechtsphilosophie, § 268 Anm., S. 413. Rin, S. 90. 358 Rechtsphilosophie, § 151, S. 301. 359 Rechtsphilosophie, § 151 Zu., S. 302. 360 Ebd. 361 Rechtsphilosophie, § 152, S. 302–303. 362 Rechtsphilosophie, § 135, S. 252. 357
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Kap. 3: Moralität und Sittlichkeit: Gewissheit und Wahrheit
Weil die sittlichen Gesetze und Mächte auch Ausdruck der Freiheit sind, liegt aus sittlicher Sicht der Unterschied zwischen der sittlichen Pflicht und der moralischen Pflicht jedoch darin, dass die sittliche Pflicht als die allgemeine Handlungsweise und das lebendige Gute nicht mehr am Gegensatz zwischen Selbst und Pflicht festhält. Die Pflichten werden nicht mehr aus sich selbst abgeleitet, sondern sind fest in sittlichen Institutionen verankert, die vom Geist durchdrungen sind, so dass Pflichten keine Einschränkung mehr sind, sondern eine wahre Befreiung: „Das Individuum hat aber in der Pflicht vielmehr seine Befreiung, teils von der Abhängigkeit, in der es in dem bloßen Naturtriebe steht, sowie von der Gedrücktheit, in der es als subjektive Besonderheit in den moralischen Reflexionen des Sollens und Mögens ist, teils von der unbestimmten Subjektivität, die nicht zum Dasein und der objektiven Bestimmtheit des Handelns kommt und in sich und als eine Unwirklichkeit bleibt. In der Pflicht befreit das Individuum sich zur substantiellen Freiheit.“363
Die sogenannte sittliche Gesinnung und das wahre Gewissen sind nichts anderes als die bewusste Erkenntnis, dass die sittlichen Institutionen die notwendigen Bedingungen sind, unter denen sich die Freiheit oder die Idee des Guten konkretisiert. Daher kann es nur in sittlichen Institutionen wirklich eine Meinungsfreiheit geben. Die Freiheit besteht bei Hegel nicht in der inhaltlosen, innerlichen Übereinstimmung mit sich selbst, sondern „in der nächsten Gegenwart des Lebens in und mit den bestehenden Institutionen“.364 Die Freiheit bedeutet auch nicht die Befreiung des Subjekts im Sinne einer Ablösung des bloßen Inneren vom Welt lichen und Objektiven, sondern „eine Einheit des Subjekts mit der Welt“.365 Einerseits kann die Vernünftigkeit des Staates nicht auf den zufälligen und besonderen Meinungen des Einzelnen beruhen. Der Staat ist keine bürgerliche Gesellschaft oder Gemeinschaft der Meinung; „Willkür, Meinung und beliebige, ausdrückliche Einwilligung“366 als Prinzipien der gesellschaftlichen Konstruktion müssen im politischen Bereich eingeschränkt werden. Oder mit Hegels Worten: Der Staat ist „das an und für sich Vernünftige“.367 Wie Ludwig Siep betont, kann das Gewissen in der Sittlichkeit immer noch Fragen zur „praktischen Wahrheit“ stellen, jedoch ist die Antwort auf diese Frage nicht von der Willkür abhängig, sondern von den „Strukturen von Gemeinwesen“, die „für Hegel kosmische und logische Entsprechung“368 haben. Das politische Prinzip ist höher als die Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft. Für Hegel ist ein bewusstes allgemeines Leben die höchste Pflicht des Einzelnen – wie wir bereits betont haben, ist diese Pflicht keine zwingende äußerliche Pflicht, denn diese Lebensweise des Staates selbst ist eine vollständige 363
Rechtsphilosophie, § 149, S. 297–298. Zhi-Hue Wang, Freiheit und Sittlichkeit, Würzburg 2004, S. 189. 365 Vgl. H. Heimsoeth, „Politik und Moral in Hegels Geschichtsphilosophie“, in: ders., Studien zur Philosophiegeschichte, Köln 1961, S. 295. 366 Rechtsphilosophie, § 258 Anm., S. 400. 367 Rechtsphilosophie, § 258, S. 399. 368 Ludwig Siep, „Was heißt: ‚Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit‘ in Hegels Rechtsphilosophie?“, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 238. 364
E. Dialektik des Gewissens in der Rechtsphilosophie
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Manifestation der Freiheit. Andererseits muss die Vernünftigkeit des Staats „einer ausgebildeten Vernunft“369 entsprechen. Daher ist das Prinzip der Beurteilung der Vernünftigkeit des Staates, ob er „das Prinzip der freien Subjektivität in sich zu ertragen verm[ag]“.370 Die Entstehung eines Feldes der öffentlichen Meinung, das in der bürgerlichen Gesellschaft verkörpert wird, hat das Zutrauen und die Gesinnung der Bürger gegenüber dem Staat kultiviert – eine wahre politische Gesinnung, eine wahre und organische freie Meinung, durch welche die Meinungsfreiheit der Bürger zu ihrem Rechte gekommen ist. Mit anderen Worten, seine Meinung erkennt den Staat als öffentliche Freiheit an, seine politische Gesinnung als das wahrhafte Gewissen erkennt das vernünftige Wesen des Staates in angemessener Weise an, statt zu versuchen, über es hinauszugehen. Homeyers Mitschriften zufolge hat Hegel die sittliche Gesinnung auch allgemeine Gesinnung genannt, und Hegel wies sogar darauf hin, dass diese allgemeine Gesinnung aus einer inneren Notwendigkeit resultiert, „seine innere Nothwendigkeit nemlich, die Unterscheidung des Staats in seine konkreten Stände und abstrakte der Willkür hiermit entnommenen Geschäfte, so daß aus diesen durch die bestimmten Arbeiten und Interessen das allgemeine Gesinnung resultirt.“371
Insofern hat Hegel die Hervorbringung sittlicher Gesinnung und die Säulen der öffentlichen Freiheit eindeutig mit der bürgerlichen Gesellschaft verknüpft. Wie das formelle Gewissen zum sittlichen Bewusstsein aufsteigen kann und wie sich eine öffentliche Meinung bilden kann, die das ewige Prinzip der materiellen Gerechtigkeit enthält, hängt von der konkreten Konstitution der bürgerlichen Gesellschaft ab. Daher werden wir uns im folgenden Kapitel dem Moment der Entzweiung in der Sittlichkeit zuwenden und sehen, wie Meinungen durch Bildung zur subjektiven Substantialität aufsteigen können.
369
Rechtsphilosophie, § 273 Zusatz, S. 440. Ebd. 371 Hom, S. 326. 370
Kapitel 4
Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft Wir haben anhand der Dialektik des Gewissens eine Kraft der öffentlichen Meinung demonstriert, und jetzt werden wir uns einer anderen zuwenden, nämlich der bürgerlichen Gesellschaft. Die Theorie der bürgerlichen Gesellschaft ist einer der umstrittensten Teile von Hegels Rechtsphilosophie, wird aber in der Regel auch als der innovativste Teil betrachtet. Hegel weist deutlich auf den Zusammenhang zwischen Moralität und bürgerlicher Gesellschaft hin: „Die Moralität hat ihre eigentümliche Stelle in dieser Sphäre [der bürgerlichen Gesellschaft].“1 Auf der Ebene der Moralität erhalten die Menschen den Status eines Subjekts, und nach dem Übergang von der Moralität zur Sittlichkeit gelangt das Subjekt wirklich zu einer vollständigen Lebenswelt. Zugleich ist nach Hegels logischer Bestimmung das Subjekt die bestimmende Kraft der Substantialität, so dass die Substantialität keine Beschränkung, sondern der verwirklichte Zustand des Subjekts ist.2 Das heißt, die Bestimmung des Subjekts kann von derjenigen der Substantialität nicht getrennt werden. Das Subjekt hat sich durch Selbstbestimmung eine reale Sphäre der Freiheit geschaffen. Die Daseinsform des freien Willens wird als die wirkliche gegenseitige Einwirkung von Subjekten aufeinander dargestellt. Zugleich erlangt sie nur in der Einheit und in der Objektivität wirklich ihre institutionelle und vernünftige Garantie. Das heißt, auf der einen Seite muss die innere moralische Entscheidung des Subjekts zu diesem Zeitpunkt eine äußere Realität haben. Sein moralisches Urteil muss einen echten Einfluss auf andere haben. Seine Ansichten über Gut und Böse, sein Streben nach Wohl und das Gewissensurteil müssen in der Wirklichkeit in Worte und Taten umgesetzt werden. Umgekehrt gilt das auch für die anderen Subjekte. Die Sittlichkeit hat durch das Handeln des Selbstbewusstseins ihre Wirklichkeit. Aus diesem Grund stellt die Wirklichkeit der Sittlichkeit zugleich die Weltlichkeit der Freiheit dar. Entsprechend hat die Sittlichkeit auch das Wesen der Öffentlichkeit verändert und eine Veränderung der öffentlichen Meinung bewirkt: Die Öffentlichkeit gehört nicht mehr unmittelbar zur politischen Sphäre, und die öffentliche Meinung ist „moins le sentiment du populus saisi en son identité que le jugement, souvent mal fondé mais toujours critique et par là nécessaire, que porte sur les institutions politiques la société civile en sa diversité“.3 Die öffentliche Meinung ist auch 1
Rechtsphilosophie, § 207, S. 359. Vgl. Miguel Giusti, Hegels Kritik der modernen Welt, Würzburg 1987, S. 242. 3 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 292. 2
Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
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zu einer Spannungszone zwischen dem Staat und der bürgerlichen Gesellschaft geworden. Die Wurzel dieser Spannung liegt in der Trennung der bürgerlichen Gesellschaft vom Staat. Die bürgerliche Gesellschaft bildet den Ausgangspunkt und die Triebkraft für die öffentliche Meinung, d. h. das Prinzip der subjektiven Freiheit. Aufgrund ihrer eigenen Triebkraft und des Trends der Entpolitisierung bedroht die bürgerliche Gesellschaft jedoch auch ständig den politischen und sittlichen Charakter der öffentlichen Meinung: „Die Vorstellung, welche die in jenen Kreisen schon vorhandenen Gemeinwesen, wo sie ins Politische, d. i. in den Standpunkt der höchsten konkreten Allgemeinheit eintreten, wieder in eine Menge von Individuen auflöst, hält eben damit das bürgerliche und das politische Leben voneinander getrennt und stellt dieses sozusagen in die Luft, da seine Basis nur die abstrakte Einzelheit der Willkür und Meinung, somit das Zufällige, nicht eine an und für sich feste und berechtigte Grundlage sein wurde.“4
Das politische Prinzip wird auf die Selbstbehauptung der bürgerlichen Gesellschaft reduziert. Um die öffentliche Meinung daran zu hindern, zu unorganischer Meinung zu verfallen, muss Hegel einen Weg finden, wie die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft organisch in den Staat integriert werden können, um sicherzustellen, dass politische Prinzipien und der Staat sich selbst bestätigen können, ohne das Prinzip der subjektiven Freiheit vollständig zu verschlingen und die Absolutsetzung des Staates zu bewirken. Wenn der Staat die Rechte der Subjektivität und der Meinungen nicht anerkennt, werden die Grenzen zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft verwischt. Daher sucht Hegel die Identität in der Differenz von Staat und bürgerlicher Gesellschaft. Wie Manfred Riedel betont, ist Hegel weder mit der Platon-Aristoteles-Tradition zufrieden noch mit der modernen Naturrechtstheorie. Beide sind fehlerhaft, insofern in ihnen die bürgerliche Gesellschaft und der Staat als identisch gelten. Hegel geht, „unter dem Eindruck der geschichtlichen Erfahrung der Französischen Revolution, davon aus, daß ihre Entzweiung als Prinzip der Differenz anzuerkennen und theoretisch zur Geltung zu bringen sei“.5 Daher können wir sagen, dass es eine Traditionslinie gibt, die aus Lockes civil society stammt und sich durch die schottische Moralphilosophie zur Nationalökonomie entwickelte, und eine andere, die auf die Encyclopédie und die Französische Revolution zurückgeht. Diese beiden Traditionen bilden den ideologischen Hintergrund von Hegels Rechtsphilosophie. Wir können sagen, dass Hegels Denkweg darin besteht, kontinuierlich auf dieses Problem zu reagieren und es weiter zu bearbeiten, und wir werden diesen Weg aus der Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft enemfalls wieder beschreiten. Wir werden versuchen herauszufinden, wie Hegel einen anderen Weg aus der Verabsolutierung des Staates und der Reduktion des Staates auf die bürgerliche Gesellschaft gefunden hat, einerseits um politische Autonomie zu gewährleisten und andererseits um die moderne geschichtliche Wirklichkeit anzuerkennen und auf sie zu antworten. 4 5
Rechtsphilosophie, § 303, S. 474. Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 117.
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
A. Tapferkeit und Ehrlichkeit: Spannungen zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft I. Antike und Moderne: Tapferkeit und Eitelkeit Die bürgerliche Gesellschaft in Hegels Sinne ist das Produkt der modernen Welt. Ihre Wurzel liegt in der Entstehung der subjektiven Freiheit und des moralischen Standpunkts. Sie ist das Resultat der Befreiung des Menschen von der natürlichen Sittlichkeit, einer Befreiung, in welcher der Mensch das Gute und das Wohl unabhängig bestimmt. Selbst in kritischem Ton wies Hegel in Glauben und Wissen darauf hin, dass die Wurzel der subjektiven Philosophie in der veränderten empirischen Wirklichkeit liege: „Da der feste Standpunkt, den die allmächtige Zeit und ihre Kultur für die Philosophie fixiert haben, eine mit Sinnlichkeit affizierte Vernunft ist, so ist das, worauf solche Philosophie ausgehen kann, nicht, Gott zu erkennen, sondern, was man heißt, den Menschen.“6 Der traditionelle Begriff societas civilis entspringt der Tradition der klassischen politischen Philosophie, in der die Trennung zwischen dem Staat und der Gesellschaft nicht existiert: „Denn nach ihrer theoretischen Auffassung von der politisch geordneten Menschenwelt enthält der Staat die Gesellschaft weder in sich, noch setzt er sie zu einem Bestehen voraus, sondern er ist ‚Gesellschaft‘, aber ‚bürgerliche‘, ‚politische Gesellschaft‘“.7 In Platons Politeia muss sich die Politik vor familiärer Endlichkeit schützen. Diese ist ein unpolitisches Feld, das Platon zu beseitigen versuchte und das seine ‚Wächterklasse‘ ganz aufgeben muss, denn in Platons Idealstaat ist das Individuum mit der politischen Gemeinschaft unmittelbar identisch. Indem er Sokrates vom kleinen Buchstaben der Gerechtigkeit zum großen wechseln lässt8, weist Platon darauf hin, dass Politik die grundlegendste Lebensweise sei und Politik die Qualität der menschlichen Seele bestimme. Aristoteles macht in der Politik deutlich, dass gerade die Familie der Ort der gesamten wirtschaftlichen Tätigkeit sei und dass der oikos eine weniger wichtige Sphäre im Leben der Bürger sei; ihr stehen jene praktischen Aktivitäten der Bürger gegenüber, die auf die Bürgergemeinschaft ausgerichtet sind. Der Mensch ist von Natur aus ein politisches Wesen, was bedeutet, dass die politische Praxis das Wesen des Menschen ausmachen. Nur durch die Politik können die Menschen ihre Potentialität verwirklichen und ihre Ziele erreichen. Politik selbst ist keine Ergänzung zu menschlichem Sein oder einer äußeren biologischen Lebensbestimmung, sondern Politik ist die ontologische Bestimmung des Menschen: „Sie kann hier vorläufig als die Lebensführung des Menschen definiert werden, in der seine ihm zuerst als Anlage und Möglichkeit gegebene Natur lebendig zu ihrer Verwirklichung kommt.“9 Die Polis existiert von Natur aus, aber sie entstammt nicht der biologischen Natur. Die Polis stellt sich 6
Jenaer Schriften, S. 299. Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 145. 8 Platon, Republik, 367e–369c. 9 Zhi-Hue Wang, Freiheit und Sittlichkeit, Würzburg 2004, S. 22. 7
A. Tapferkeit und Ehrlichkeit
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als die Vollendung der menschlichen Praxis dar, die man als eine „Handlungsgemeinschaft“ bezeichnen kann: „Der Leitgedanke besagt, daß die Einzelpraxis strukturell unvollständig sei, solange sie nicht Handlungsgemeinschaft aus sich hervorgehen lasse.“10 Die Familien und Dörfer als Teile haben keinen unabhängigen Status, wenn sie der politischen Substanz gegenüberstehen. Nur in der politischen Gemeinschaft kann der Mensch die ihm innewohnende Mangelhaftigkeit beheben und die Selbstgenügsamkeit erreichen; die Polis als die autarke Lebensform rückt ihn dem göttlichen Leben näher. Für Platon und Aristoteles ist politeia die Grundlage des menschlichen Seins, und ihre Bedeutung liegt darin, dass der Mensch durch Bildung die Sphäre jenseits der natürlichen Dinge, d. h. Vernunft und Logos, erreichen kann. Von Natur aus leben alle Wesen nach der allgemeinen Bedeutung, und nur die Menschen können diese Bedeutung in Frage stellen; die Gestaltung dieser Bedeutung des Seins, die ethische Tugend des Bürgers, kann nur durch die vollkommenste politische Verfassung verwirklicht werden. Der Staat ist auch eine Akademie der Wahrheit, wie Rousseau in Émile sagte: „Wollt ihr euch eine Vorstellung von der öffentlichen Erziehung machen? Lest Platos ‚Staat‘. Das ist keineswegs eine politische Arbeit, so wie jene denken, die die Bücher nach ihren Titeln beurteilen. Es ist die schönste Abhandlung über die Erziehung, die je geschrieben wurde.“11 Die überlegenste politische Tugend der Bürger liegt in ihrer Tapferkeit im Krieg: „Im eigentlichen Sinn wird also tapfer genannt, wer vor dem edlen Tod furchtlos ist, und in allen Situationen, in denen unmittelbar der Tod droht; derart sind insbesondere die Situationen im Krieg.“12 Durch die Tapferkeit wird die Polis als die höchste Bedeutung des Menschsein hervorgehoben: Indem der Mensch sein begrenztes und zufälliges Leben opfert, kann sich die Polis als der Selbstzweck aller verwirklichen. Sich für die politische Gemeinschaft aufzuopfern, ist die natürlichste Lebensweise und die höchste Ehre für die Bürger. Klaus Rothe erläutert, die politische Tugend konstituiere sich „gegen die natürliche Einzelheit der Begierden und Bedürfnisse des Einzelnen und schließt dessen Privatheit aus sich aus, denn in ihrem Vollzug und in der Übung ihrer Tüchtigkeit wird gerade auf die je besondere, individuelle Natur, die im Ökonomischen und im Privatleben zu ihrer Entfaltung kommt, verzichtet“.13 Der Gegensatz zwischen politischen und unpolitischen Bereichen bleibt zwar in der modernen Naturrechtstheorie im Prinzip erhalten, wird aber durch die Rede vom Naturzustand und der politischen Gesellschaft terminologisch verändert, indem eine Teilung durch eine andere ersetzt wird. Philosophisch bedeutet eine solche Transformation, die Priorität des Seins zu beseitigen. Die Welt selbst wird nicht mehr als teleologische Ordnung des Seins betrachtet. In der alten Ordnung 10
Rüdiger Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1996, S. 60. 11 Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, hrsg., eingeleitet. u. übers. v. Martin Rang, Stuttgart 1980, S. 114. 12 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1115a. 13 Klaus Rothe, Selbstsein und bürgerliche Gesellschaft, Bonn 1973, S. 23.
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
lag die Bedeutung des Menschen in seiner völligen Offenheit gegenüber Gott und dem göttlichen Wesen, und das oberste Ziel des Menschen bestand darin, dem ewigen Logos zu folgen und Vollkommenheit zu erlangen. Charakteristisch für die moderne Welt ist hingegen eine immanente Weltanschauung. In der politischen Philosophie bedeutet diese Transformation die Abschaffung verbindlicher politischer Ziele und der Priorität der Polis-Sittlichkeit. Die politische Gemeinschaft wird nicht mehr als Porträt Gottes betrachtet. Sie hat keinen objektiven Grund und Sinn, sondern ist nur eine Tatsache, die von Menschen konstruiert wird. Als Machiavelli behauptete, er wolle diskutieren, was die eigentliche Politik ist, und nicht, was die Politik sein sollte, war dies nur eine weitere Bestätigung der bereits deutlich sichtbaren Trennung zwischen der Vorstellung und der Realität, dem Subjekt und dem Objekt: Die politische Vernunft wird von einem tüchtigen neuen Monarchen definiert und ausgeübt und ist keine Eigenschaft der Politik als solcher. Die politische Welt unterliegt nicht der Ordnung des Guten oder einer teleologischen Naturordnung, wie sie von antiken Philosophen wie Platon und Aristoteles beschrieben wird, sondern ist ein völlig menschengemachtes „Kunstwerk“. Der Kern von Hobbes’ politischer Philosophie ist es, die Möglichkeit zu schaffen, die Legitimität der Politik in Frage zu stellen und die Natur und den Zweck der Politik selbst zu verleugnen. Die traditionelle politische Philosophie ist „eher ein Traum als eine Wissenschaft“14 und Hobbes rechnet sie zum „Reich der Finsternis“. Hobbes als der Erfinder der politischen Wissenschaft hat den Anspruch gestellt, „die Verhältnisse der menschlichen Handlungen mit der gleichen Gewißheit zu erkennen wie die Größenverhältnisse der Figuren“.15 Die politische Gemeinschaft muss durch eine „analytisch-resolutive“ Methode wie eine Maschine in ihre elementaren Bestandteile zerlegt und in einen „vernichteten“ Zustand zurückgesetzt werden, bevor die politische Ordnung auf der Grundlage der entdeckten Grundbestimmung im Sinne einer creatio ex nihilo wiederhergestellt werden kann. Dieser Zustand setzt keine Ordnung, kein Ganzes als Telos, keinen Frieden voraus, sondern in ihm herrschen Zerrissenheit, Entzweiung und Krieg. Das politische Leben selbst ist nicht mehr die ontologische Bestimmung des Menschen, sondern ein hilfloser Ausweg aus dem Gefangenendilemma und eine kluge Technik, die erfunden wurde, um das Problem des menschlichen Zusammenlebens zu lösen. Wie Rüdiger Bubner bemerkt, ist die immanente Zwangsläufigkeit des modernen Theorieprogramms eine „entschlossene Unterwerfung der Praxis unter Gesichtspunkte theoretischer Gesetzmäßigkeit, die eine überlegene technische Organisation erlaubt“.16 Infolgedessen hat die moderne politische Philosophie die reduktionistische Theorie der menschlichen Natur zur Vollendung gebracht: Das zoon politikon wird still und leise auf den Menschen als Tier des Lebens, der Freiheit und des Eigentums re 14
Thomas Hobbes, Leviathan, hrsg. u. eingeleitet v. I. Fetscher, übers. v. W. Euchner, Frankfurt a. M. 1996 (7. Auflage.), S. 510. 15 Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 14. 16 Rüdiger Bubner, „Moralität und Sittlichkeit – die Herkunft eines Gegensatzes“, in: Moralität und Sittlichkeit-Das Problem Hegels und die Diskursethik, hg. v. Wolfgang Kuhlmann, Frankfurt a. M. 1986, S. 66.
A. Tapferkeit und Ehrlichkeit
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duziert. In diesem Sinne glaubt Rousseau auch, dass Machiavelli ein Freund der Demokratie sei, weil er glaube, dass das Volk das Recht habe, der Unterdrückung und dem Ehrgeiz der Aristokratie zu widerstehen: „Machiavelli hat es in aller Deutlichkeit gezeigt. Unter dem Vorwand, die Könige zu unterweisen, hat er die Völker gründlich belehrt. Der Fürst von Machiavelli ist das Buch der Republikaner.“17 In der traditionellen politischen Philosophie war der θυμός (das Gemüt), obwohl er eine gewisse Gefahr für die Polis darstellte, eine notwendige Bedingung für das höhere Gute oder den Zweck. Sowohl Machiavelli als auch Hobbes sind der Meinung, dass die politische Welt von einer als selbstverständlich aufgefassten Teleologie befreit werden muss. Wir kennen nämlich das höchste Gut (summum bonum) nicht; aber wir wissen, dass die Angst aller Menschen vor dem plötzlichen Tod, der durch den Krieg aller gegen alle verursacht werden kann, das höchste Übel (summum malorum) ist, und die Leidenschaft, die den minimalen Frieden verhindert und die Sicherheit beeinträchtigt, ist Eitelkeit und Irrationalität. Daher wird in der modernen Welt das Verhältnis zwischen Menschen und Politik auf diese Weise neu definiert. Politik gilt als das, was Thomas Paine das „unvermeidliche Übel“ nannte, mit dem die Gesellschaft konfrontiert ist. Sie nimmt nicht mehr die Prioritätsposition der Ontologie ein. Im Ergebnis dieser Transformation transzendiert die Wirtschaft den Horizont der Familie und des oikos. Sie beschränkt sich nicht mehr auf die Aktivitäten von Familienmitgliedern rund um das gemeinsame Eigentum, sondern wird zu einer ideellen Tätigkeit, wie der junge Hegel sagte: abstrakte Arbeit und überschüssiges Eigentum, um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen und eine gemeinsame Währung, Austausch und Handelsbeziehungen zu realisieren.
II. Die Debatte des 18. Jahrhunderts: Sparta und der Luxus Dieser Streit zwischen der klassischen politischen Philosophie und moderner Naturrechtstheorie löste im 18. Jahrhundert eine große Debatte aus. Die tapfere Tugend der antiken Menschen steht hier der Idee gegenüber, dass der moderne Handel ein vollständiges Menschenbild generiert. Rousseau hat immer eine einzigartige Position unter allen Philosophen der Aufklärung eingenommen. Einerseits hat er eingesehen, dass „[d]ie Arbeit […] also eine unerläßliche Verpflichtung für den Menschen [ist], der innerhalb der Gesellschaft lebt“.18 Die Arbeitsteilung ist durch die Einführung des Überflusses und des Luxus in der zivilisierten Gesellschaft verursacht worden: „Die Ausübung der natürlichen Handarbeit, die ein einzelner für sich treiben kann, führt zu der industriellen, zu der viele Hände nötig sind, Die ersteren können von allein lebenden Menschen, von Wilden ausgeübt werden, die anderen jedoch werden nur aus der Gemein 17
Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundlagen des politischen Rechts, übers. v. Erich Wolfgang Skwara, Frankfurt a. M. und Leipzig 1996, S. 78. 18 Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, hrsg., eingeleitet. u. übers. v. Martin Rang, Stuttgart 1980, S. 411.
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
schaft entstehen und machen diese notwendig. Jeder Mensch genügt sich selbst, solange er nur das körperliche Bedürfnis kennt. Erst wenn Überfluß entsteht, wird Teilung und Verteilung der Arbeit unerläßlich, denn während ein Mensch, der für sich allein arbeitet, auch nur den Unterhalt für einen Menschen verdient, so verdienen hundert Menschen durch Zusammenarbeit so viel, daß für den Unterhalt von zweihundert gesorgt wäre.“19
Andererseits glaubte Rousseau nicht wie seine Zeitgenossen, dass die Geschichte ein Prozess kontinuierlichen Fortschritts und die moderne Welt die Vollendung eines solchen Fortschritts sei. Nach Rousseaus Ansicht führt die Notwendigkeit einer stärkeren Verfeinerung, d. h. das Streben nach Luxus, zur Korruption der Moral. Die Menschen sind süchtig nach begrenzten Zwecken und verlieren ihre echte Freiheit. So erklärt Rousseau in Émile, dass „mit dem Geld alle Trugbilder der Meinung entstanden“ und „die an Geld reichen Länder an allem arm sein müssen“.20 Und in seiner Abhandlung über die Wissenschaften und Künste heißt es: „Die antiken Politiker sprachen ohne Unterlaß von den Sitten und der Tugend, die unseren sprechen nur vom Handel und vom Geld.“21 So weigerte sich Rousseau, Politik und die bürgerliche Gesellschaft mit der Verflechtung oder dem Ausgleich persönlicher Interessen gleichzusetzen; das Lebensbild der Aufklärung ist nach Rousseaus Ansicht eine völlige Entfremdung: „Man mußte sich um seines Vorteils willen anders zeigen als man wirklich war. Sein und Scheinen wurden zu zwei völlig verschiedenen Dingen, und aus dieser Unterscheidung erwuchsen der überwältigende Prunk, die täuschende List und alle Laster, die deren Gefolge bilden. Auf der anderen Seite ist der Mensch, der zuvor frei und unabhängig war, nun durch eine Vielheit neuer Bedürfnisse sozusagen der gesamten Natur untertan, und besonders seinen Mitmenschen, deren Sklave er in gewissem Sinne wird, selbst wenn er zu ihrem Herrn wird.“22
Die Philosophen der Aufklärung, so Rousseau, „lächeln verächtlich bei den alten Worten Vaterland und Religion und widmen ihre Talente und ihre Philosophie der Zerstörung und Unterhöhlung alles dessen, was den Menschen heilig ist.“23 Rousseau war der Ansicht, dass die Gemeinschaft einen echten Patriotismus kultivieren müsse, der über den engen Rahmen persönlicher Interessen hinausgehe. In ähnlicher Weise kritisierte Adam Ferguson die Zivilisation in seinem Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, der einen großen Einfluss auf die deutsche Philosophie hatte. Er sah ebenfalls die Spannung zwischen der modernen kommerziellen Zivilisation und der klassischen bürgerlichen Tugend. Charakteris 19
Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, hrsg., eingeleitet. u. übers. v. Martin Rang, Stuttgart 1980, S. 391. 20 Jean-Jacques Rousseau, Émile oder über die Erziehung, hrsg., eingeleitet. u. übers. v. Martin Rang, Stuttgart 1980, S. 400. 21 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft, in: ders., Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übers. und hrsg. von Kurt Weigand, Hamburg 1971, S. 35. 22 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, hrsg. u. übers. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1998, S. 88. 23 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft, in: ders., Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übers. und hrsg. von Kurt Weigand, Hamburg 1971, S. 35.
A. Tapferkeit und Ehrlichkeit
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tisch für die sogenannte zivilisierte Zeit ist der Verlust öffentlicher Tugend, in der die Menschen ihre eigene Perfektion als Bürger nicht mehr verfolgen und sich auf die trivialen Fragen des Komforts und des Eigeninteresses konzentrieren. In einer solchen Zeit werde „[d]ie Sorge um das bloße Vermögen […] schon als Weisheit angesehen. Rückzug von öffentlichen Angelegenheiten und wirkliche Gleichgültigkeit gegenüber den Menschen werden als Mäßigung und Tugend gerühmt.“24 Wenn die Zivilisation ihre Tugend verliert, dann bedeutet Zivilisation nur Korruption, während Luxus, als eine Art geistige Korruption und Schwäche, die Männlichkeit der Bürgersoldaten bedroht: „Wenn das Nachlassen öffentlicher Gefahren und Unruhen, das Muße zum Betreiben kommerzieller Künste gewährt, sich in einer Weise fortentwickelt oder steigert, daß nationale Kraftanstrengungen außer Gebrauch kommen, wenn das Individuum nicht mehr zur Einheit mit seinem Vaterland aufgerufen ist, sondern es ihm freigestellt ist, seinen privaten Vorteil zu verfolgen, dann kann es leicht verweichlicht, käuflich und sinnlich werden. Dies geschieht nicht etwa, weil Vergnügen und Gewinn verlockender geworden sind, sondern weil die Berufung zur Beschäftigung mit anderen Dingen geringer geworden ist, vor allem auch deshalb, weil das Individuum mehr Ermunterung erfährt, seinen persönlichen Vorteil ins Auge zu fassen und seine Sonderinteressen wahrzunehmen.“25
Auf der anderen Seite behaupteten Mandeville, Hume und Adam Smith einhellig, dass Luxus nicht nur harmlos sei, sondern auch die Stärke des Staates fördern könne, indem er die Verfeinerung der Technologie und der wirtschaftlichen Entwicklung fördere. Luxus sei sogar vorteilhaft für Tugend und Zivilisation. Hume weigerte sich zunächst, das Wort Luxus als abfälligen Begriff zu betrachten. In Humes Schrift On Refinement in the Arts heißt es, dass gerade wegen des Strebens nach Luxus Industrie und Handwerk verfeinert wurden, so dass eine gewisse fortgeschrittene Kultur erreicht werden kann. Nur in dieser fortgeschrittenen Kultur kann der menschliche Geist perfektioniert werden: „Thus industry, knowledge, and humanity, are linked together, by an indissoluble chain, and are found, from experience as well as reason, to be peculiar to the more polished, and, what are commonly denominated, the more luxurious ages.“26
Der Unterschied zwischen diesen Autoren und Rousseau ist am deutlichsten in ihrer Sicht auf Sparta. Rousseau, der einen Lacedemonisme aigu vertritt,27 hat Sparta seit seiner Abhandlung über die Wissenschaften und Künste als einen seiner beiden utopischen Archetypen betrachtet und nennt es eine „Republik von Halbgöttern“.28 Die bürgerliche Tugend, die sich in Sparta zeigt, war schon immer 24
Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1986, S. 442. 25 Adam Ferguson, Versuch über die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1986, S. 432–433. 26 David Hume, Political Essays, Cambridge 1994, S. 107. 27 Vgl. Judith Shklar, Men and Citizens: A Study of Rousseau’s Social Theory, Cambridge 1969, S. 12. 28 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft, in: ders., Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übers. und hrsg. von Kurt Weigand, Hamburg 1971, S. 21.
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
Rousseaus heroisches Idealbild. Rousseau vergleicht Sparta mit dem korrupten Leben moderner Menschen und dem, „was in unseren Landstrichen und unter unseren Augen vor sich gegangen ist“.29 Die wichtigste Tugend ist nach seiner Auffassung die Tapferkeit, die Sparta im Krieg an den Tag legte. Die Tapferkeit besteht darin, dem Luxus zu widerstehen und die Einfachheit der Sitte aufrechtzuerhalten, sich von ganzem Herzen der Gemeinschaft zu widmen und unmittelbar mit der Gemeinschaft identisch zu sein. Die moderne Zivilisation zerstört die unmittelbare und undifferenzierte Beziehung zwischen dem Individuum und dem Allgemeinen. Während sich die Augen des Bürgers auf private Interessen, verschiedene exquisite Darstellungen und Geschmäcker richten, definiert er sich nicht mehr über seine politische Identität als Bürgers, sondern über die soziale Rolle in der Zivilisation: „Während die Annehmlichkeiten des Lebens zunehmen, die Künste sich vervollkommnen, der Luxus sich ausbreitet, wird die echte Tapferkeit entnervt, die militärischen Tugenden verschwinden. Das ist auch das Werk der Wissenschaften und all jener Künste, die man in der Stube hockend ausübt.“30
Auch in seinen späteren Jahren bestand Rousseau in seinen Betrachtungen über die Regierung Polens und über die dort ins Auge gefassten politischen Reformen noch darauf, dass die Polen den erhabensten patriotischen Geist gegenüber dem Vaterland haben müssten, wenn sie wollten, dass das Vaterland nicht erobert werde: „Une seule chose suffît pour la rendre impossible à subjuguer; l’amour de la patrie et de la liberté animé par les vertus qui en sont inséparables.“31 Und Bernard Mandeville argumentiert in seiner Bienenfabel zunächst, dass gewöhnlich die militante Tugend mit der Bequemlichkeit, dem Komfort im Konflikt stehe; davon ausgenommen sei freilich die Ehre des spartanischen Bürgers, dessen Leben bewusst freudlos war: „Sicherlich gab es aber nie eine Nation, deren Ruhm eitler gewesen wäre als der ihrige. Die ganze Herrlichkeit ihres Daseins hatte kaum den Wert einer Theaterdekoration, und das einzige, worauf sie stolz sein konnten, war ihre Bedürfnislosigkeit.“32
Das spartanische Leben, so Mandeville, sei unerträglich. Das echte Glück liege nicht in der Heuchelei wie bei den Spartanern oder Moralisten. Die Menschen sollten das Recht haben, „weltliche und sinnliche Vergnügungen“33 zu verfolgen, die ihnen wirklich gefallen. Hume erläutert in On Commerce, dass die Errungenschaften der alten Stadtstaaten wie Sparta und die Freiheit, Ehre und der Republikanismus, die von seinen Bürgern gezeigt worden seien, bewundernswert seien, aber dies sei ausschließlich auf den Mangel an Kommerz und Luxus zurückzufüh 29 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft, in: ders., Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übers. und hrsg. von Kurt Weigand, Hamburg 1971, S. 27. 30 Jean-Jacques Rousseau, Über Kunst und Wissenschaft, in: ders., Schriften zur Kulturkritik. Eingeleitet, übers. und hrsg. von Kurt Weigand, Hamburg 1971, S. 41. 31 Jean-Jacques Rousseau, Considérations sur le gouvernement de Pologne, Londeres 1782, S. 142. 32 Bernard Mandeville, Die Bienenfabel, Frankfurt a. M. 1998, S. 279. 33 Bernard Mandeville, Die Bienenfabel, Frankfurt a. M. 1998, S. 207.
A. Tapferkeit und Ehrlichkeit
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ren: „In short, no probable reason can be assigned for the great power of the more ancient states above the modem, but their want of commerce and luxury.“34 Heute können wir nicht mehr in die Antike zurückgehen. Die Tugend der antiken Völker „was violent, and contrary to the more natural and usual course of things “.35 Die gegenwärtige Wirklichkeit unterscheide sich von der von Sparta und Rom. Wenn wir den privaten Handel und Luxus abschafften, werde dies nur zu Faulheit und Barbarei führen, was der Stärke des Staats nicht förderlich sei. Nur in einer Gesellschaft mit exquisiterer Geschicklichkeit und wohlhabenderem Handel könne das Volk und könne das Land glücklich sein: „The greatness of a state, and the happiness of its subjects […] are commonly allowed to be inseparable with regard to commerce.“36
III. Natur und Freiheit: Kant und Schiller Aristoteles behauptete, dass die menschliche Begierde durch einen letztend lichen Zweck bestimmt werden müsse, und daher gebe es eine Grenze. Wenn Luxus diese Grenze überschreitet, dann ist das gleichbedeutend damit, nicht nach der richtigen Lebensführung zu leben und die Tugend zu verlieren. Mit der Abschaffung dieser Teleologie durch Hobbes wurde aber auch die Grenze der Begierde selbst abgeschafft. Der einzige Weg, die Begierde loszuwerden, ist der Tod. Eine Sicherheit und Vorhersehbarkeit menschlicher Lebensumstände und Verhaltensweisen kann nur in der materiellen Natur des Menschen festgestellt werden, das heißt, alle Menschen können darauf reduziert werden, Vorteile zu erlangen und Nachteile zu vermeiden. Aus diesem Grund sagt Christopher Berry, dass der Luxus einen Prozess der Entmoralisierung in der Modernität durchlaufen habe, und „[c] entral to this de-moralisation is the re-evaluation of mundane life“.37 Diese Umwertung hat auch zur Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft geführt, zu einer Veränderung innerhalb des Staates, die die Alten nicht vorhergesehen haben, zu einem entpolitisierten Feld; und dies ist die Spaltung, mit der die deutsche Philosophie am Ende des 18. Jahrhunderts konfrontiert war: heldenhafte Tapferkeit oder physiologische Begierde? Für das deutsche Denken des 18. Jahrhunderts ist das erste Faktum, dem man sich stellen muss, der beginnende Zerfall des rosigen Optimismus der Aufklärung. Die Vernunft ist zur instrumentalen Vernunft geworden. Sie ist zu einem Werkzeug geworden, um die Begierde der Menschen im Nutzungsprozess zu befriedigen. Die Lebenswelt der Menschen ist völlig entfremdet und materiell geworden. Die Menschen glauben nicht mehr an die Wahrheit, und die Welt ist kein sinnvolles Ganzes mehr: Der edle Zweck der Aufklärung ist zu einer tieferen Sklaverei geworden. 34
David Hume, Political Essays, Cambridge 1994, S. 96. David Hume, Political Essays, Cambridge 1994, S. 97. 36 David Hume, Political Essays, Cambridge 1994, S. 4. 37 Christoph Berry, The Idea of Luxury, Cambridge 1994, S. 114. 35
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
Kants Moralphilosophie kann als systematische Ablehnung der Ethik des Aristoteles angesehen werden, und so wies Kant das aristotelische Lob der Tapferkeit zurück. Moralität geht aus reiner Vernunft, aus dem Denken und seinem Wesen hervor, eher als dass sie eine empirisch-praktische Weisheit (phronesis) wäre. Zugleich ist das Streben nach Ehre und Würde aus Kants Sicht eine Art moralischer Fanatismus, denn Ehre und Würde gehen gerade über die Grenzen moralischer Handlungsmotivation hinaus, d. h. sie überschreiten jene moralische Gesinnung, die allein aus der Vernunft selbst und aus der Achtung für das moralische Gesetz hervorgeht: „Es ist lauter moralische Schwärmerei und Steigerung des Eigendünkels, wozu man die Gemüther durch Aufmunterung zu Handlungen als edler, erhabener und großmüthiger stimmt, dadurch man sie in den Wahn versetzt, als wäre es nicht Pflicht, d. i. Achtung fürs Gesetz, dessen Joch (das gleichwohl, weil es uns Vernunft selbst auferlegt, sanft ist) sie, wenn gleich ungern, tragen müßten, was den Bestimmungsgrund ihrer Handlungen ausmachte, und welches sie immer noch demüthigt, indem sie es befolgen (ihm gehorchen); sondern als ob jene Handlungen nicht aus Pflicht, sondern als baarer Verdienst von ihnen erwartet würden.“38
Auf diese Weise vollendet Kant die Ablehnung der klassischen Tugend, und das sanfte moralische Gesetz ersetzt die klassische kämpferische Tugend. In dieser Hinsicht steht Kant in der Tradition von Hobbes. Die Grundlage von Moralität und Gemeinschaft kann nur innerhalb des Subjekts definiert werden und nicht als ein vorbestimmtes teleologisches Gutes. Kant verteidigt also die moderne Welt. In Was ist Aufklärung verwandelt Kant sogar die Tapferkeit auf dem Schlachtfeld in Tapferkeit, die überlieferten Traditionen und Dogmen in Frage zu stellen: „Sapere aude! Habe Muth dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“39 Das Subjekt dieser Tapferkeit ist für Kant „the brave scholar willing to critique dogma – even one widely shared in a religious, political, or cultural community – not the soldier fighting on behalf of shared communal values“.40 Im Zusammenhang mit Kants Versuch, Phänomen und Noumenon, Kognition und Wille wieder zu verbinden, ist allerdings zu erkennen, dass Kant in gewisser Weise die kriegerische Tapferkeit wieder zulässt: „Auch im allergesittetsten Zustande bleibt diese vorzügliche Hochachtung für den Krieger […]. Selbst der Krieg, wenn er mit Ordnung und Heiligachtung der bürgerlichen Rechte geführt wird, hat etwas Erhabenes an sich und macht zugleich die Denkungsart des Volks, welches ihn auf diese Art führt, nur um desto erhabener, je mehreren Gefahren es ausgesetzt war und sich muthig darunter hat behaupten können: da hingegen ein langer Frieden den bloßen Handelsgeist, mit ihm aber den niedrigen Eigennutz, Feigheit und Weichlichkeit herrschend zu machen und die Denkungsart des Volks zu erniedrigen pflegt.“41
In der Analyse der Erhabenheit in der dritten Kritik weist Kant darauf hin, dass Erhabenheit tatsächlich unsere Idee der Freiheit und die Überwindung der End 38
Kant, AA V, S. 84–85. Kant, AA VIII, S. 35. 40 Nicholas Tampio, Kantian Courage, New York 2012, S. 37. 41 Kant, AA V, S. 262–263. 39
A. Tapferkeit und Ehrlichkeit
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lichkeit durch Subreption anzeigt. Mit anderen Worten, ein Krieg um die Freiheit selbst hat Erhabenheit. Und umgekehrt bewirken das egoistische Leben der Bourgeoise und der langfristige Frieden Korruption. Kant selbst hat jedoch das Problem der menschlichen Vollkommenheit nicht gelöst, und das grundlegende Problem ist, dass Kants Freiheitsbegriff ein reiner Begriff der Freiheit ist. Daher kann dieser Freiheitsbegriff keine Verwirklichung in Geschichte und Gesellschaft finden. Kant schließt die politische Ökonomie von der praktischen Philosophie aus. Nach Kants Ansicht gehört diese Wissenschaft als praktische Wissenschaft und Geschicklichkeitslehre in das Feld der empirischen Erfahrungswelt und der Klugheitslehren und steht somit der autonomen Gesetzgebung des freien Willens entgegen. Wie Laurence Dickey betont, versucht das deutsche Denken angesichts der politischen Ökonomie und der geschichtlichen Wirklichkeit die Integrität des Menschen zu bewahren, ohne in „sozialen Realismus“ zu verfallen. Dem sozialen Realismus zufolge ist es der einzige Zweck des menschlichen Wesens, die materiellen Bedürfnisse des anderen zu befriedigen und Luxusarbeit im größtmöglichen Umfang zu betreiben – die sogenannte Welt der Bildung. Daher reformieren die Vertreter des sozialen Realismus die klassische politische Ökonomie Großbritanniens auf ihre Weise. Unter ihnen war Adam Ferguson am einflussreichsten, und Lessing war einer der vielen Betroffenen. Unter dem Einfluss von Adam Ferguson und Lessing sah auch Schiller die Entzweiung der Modernität durch die Analyse von Kants Philosophie, die als Zeitbewusstsein ausgedrückt wird. Durch den Vergleich der Bildung der Moderne mit den Griechen, wo das Leben als Ganzes harmonisch ist und es eine innere Identität zwischen Individuen und dem Ganzen gibt, hat Schiller eingesehen, dass die Modernität die Menschen zerrissen hat. Die moderne Welt, ob im politischen, wissenschaftlichen oder künstlerischen Bereich, hat ihre Integrität durch die Verselbständigung des Verstandes verloren. Die lebendige Welt ist völlig mechanisiert: „Auseinandergerissen wurden jetzt der Staat und die Kirche, die Gesetze und die Sitten; der Genuß wurde von der Arbeit, das Mittel vom Zweck, die Anstrengung von der Belohnung geschieden. Ewig nur an ein einzelnes kleines Bruchstück des Ganzen gefesselt, bildet sich der Mensch selbst nur als Bruchstück aus.“42
Die Philosophen der Aufklärung denken, sie hätten die Wahrheit besetzt, aber nach Schillers Ansicht ist das Prinzip der Aufklärung einseitig, so dass es, wenn es realisiert wird, entweder in die blutige Französische Revolution oder in die deutsche Gleichgültigkeit führt. Das ideelle Gegenstück zu dieser Entzweiung ist der Dualismus zwischen Vernunft und Natur, so dass moderne Menschen zu den Extremen der Vernunft oder der Natur gedrängt werden: Entweder überwältigt die Natur den vernünftigen Barbar oder die Vernunft den natürlichen Wilden. Wie Deligiorgi schreibt, glaubt Schiller, dass der Misserfolg der Aufklärung in Folgendem liegt: „The key failure lies with the dominant conception of freedom as an 42
Friedrich Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 12, Stuttgart 1860, S. 17.
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
abstract philosophical truth that addresses the intellect only and remains unconnected with, and indeed hostile to, the domain of feelings and emotions.“43 Deshalb ist Schiller der Ansicht, dass die beiden von Kant getrennten Sphären der Natur und der Freiheit wieder vereint werden müssen, um die Integrität des Menschen und der Welt wiederherzustellen, und dass eine Versöhnung zwischen Vernunft und Sinnlichkeit angestrebt werden muss. In Über Anmut und Würde hat Schiller Kant einerseits gelobt, ihm andererseits vorgeworfen, er habe Gefühl und Freude ignoriert. Die Moralität sollte die Einheit der beiden Prinzipien Vernunft und Sinnlichkeit sein. Zugleich teilt Schiller nicht den Standpunkt Rousseaus, der die ganze Moderne als einen Prozess der Verdorbenheit betrachtet hatte, sondern sieht die Entfremdung als ein notwendiges Moment in der Entwicklung der Menschheit an: „Die mannigfaltigen Anlagen im Menschen zu entwickeln, war kein anderes Mittel, als sie einander entgegenzusetzen. Dieser Antagonismus der Kräfte ist das große Instrument der Kultur, aber auch nur das Instrument; denn solange derselbe dauert, ist man erst auf dem Weg zu dieser.“44 Deshalb weist Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen auf den Notstaat und den Naturstaat hin. In diesen beiden Staaten sind die Menschen nach den Gesetzen der Natur organisiert, um zu leben und ihre Bedürfnisse zu befriedigen. Im ersten Fall sind die Menschen nur ungebildete Tiere, während sie im letzteren Fall gebildete Tiere sind. Das moralische Leben ist nicht vollständig von diesem Feld der Natur getrennt, sondern muss von diesem Feld aus beginnen. Die menschliche Freiheit muss auf diesem Gebiet verwirklicht werden, anstatt dieses Feld als das Gegenteil der Freiheit vollständig aufzugeben: „Also hier schon, auf dem gleichgültigen Felde des physischen Lebens, muß der Mensch sein moralisches anfangen; noch in seinem Leiden muß er seine Selbsttätigkeit, noch innerhalb seiner sinnlichen Schranken seine Vernunftfreiheit beginnen. Schon seinen Neigungen muß er das Gesetz seines Willens auflegen; er muß, wenn Sie mir den Ausdruck gestatten wollen, den Krieg gegen die Materie in ihre eigene Grenze spielen, damit er es überhoben sei, auf dem heiligen Boden der Freiheit gegen diesen furchtbaren Feind zu fechten.“45
Schiller zufolge kann die Vereinigung der beiden Lebensarten jedoch durch ästhetische Erziehung erreicht werden: „Mitten in dem furchtbaren Reich der Kräfte und mitten in dem heiligen Reich der Gesetze baut der ästhetische Bildungstrieb unvermerkt an einem dritten, fröhlichen Reich des Spiels und des Scheins, worin er dem Menschen die Fesseln aller Verhältnisse abnimmt und ihn von allem, was Zwang heißt, sowohl im Physischen als im Moralischen entbindet.“46
43
Katerina Deligiorgi, Kant and the Culture of Enlightenment, New York 2005, S. 138. Friedrich Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 12, Stuttgart 1860, S. 21. 45 Friedrich Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 12, Stuttgart 1860, S. 89. 46 Friedrich Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 12, Stuttgart 1860, S. 115. 44
B. Der Staat und der Markt in der Rechtsphilosophie des jungen Hegel
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Schiller hat so zuerst den Anspruch formuliert, dass die Entzweiung durch das politische und gemeinschaftliche Programm überwunden wird. Aber ob es die schöne Seele in Über Anmut und Würde oder das fröhliche Reich des Spiels und des Scheins in Über die ästhetische Erziehung des Menschen ist – dazu gehören nur wenige Menschen, die es schaffen können: „Existiert aber auch ein solcher Staat des schönen Scheins? Und wo ist er zu finden? Dem Bedürfnis nach existiert er in jeder feingestimmten Seele; der Tat nach möchte man ihn wohl nur, wie die reine Kirche und die reine Republik, in einigen wenigen auserlesenen Zirkeln finden, wo nicht die geistlose Nachahmung fremder Sitten, sondern eigene schöne Natur das Betragen lenkt, wo der Mensch durch die verwickeltsten Verhältnisse mit kühner Einfalt und ruhiger Unschuld geht und weder nötig hat, fremde Freiheit zu kränken, um die seinige zu behaupten, noch seine Würde wegzuwerfen, um Anmut zu zeigen.“47
Schiller liefert keine wirkliche und realistische Lösung für die Versöhnung zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft, Freiheit und Natur: „Though this component addresses the socio-political sphere, Schiller, like Kant before him, did not, in the final analysis, intend it to be realized on a broad scale, but only by the few, the ‚select circles‘. Indeed, it may even be that the educational component represents only a utopian idea.“48 All diese Probleme müssen noch von Hegel gelöst werden.
B. Der Staat und der Markt in der Rechtsphilosophie des jungen Hegel: ein wildes Tier Die Jenaer Rechtsphilosophie bildet die Vorgeschichte von Hegels später Rechtsphilosophie. Auch wenn Hegels Rechtsphilosophie erst in den Grundlinien der Philosophie des Rechts von 1821 systematisch, umfassend und konsequent dargelegt wurde, hilft uns das Studium der Jenaer Rechtsphilosophie, das Hauptanliegen von Hegels Rechtsphilosophie zu erfassen. Ohne die vorphänomenologischen Arbeiten zu verstehen, können wir die Bedeutung und den Zweck von Hegels Rechtsphilosophie nicht genauer fassen. Das heißt natürlich nicht, dass wir versuchen, unsere Forschung auf unveröffentlichte obskure Jugendwerke zu stützen, etwa weil wir glauben, dass Hegels Systementwürfe aus der Jenaer Zeit bereits fertig vor uns hintreten. Zudem ist Hegels Wandel in der Rechtsphilosophie in dieser Zeit ebenfalls von großer Bedeutung. Der Prozess von Hegels Selbstpositionierung im Kontext der Entwicklung seines Denkens hat seinen eigenen Wert in der Rechtsphilosophie. Schließlich, so Hyppolite, enthält „la première philosophie du Droit de Hegel“49 den Keim seiner Rechtsphilosophie des Mannesalters.
47 Friedrich Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen,. in: ders., Sämtliche Werke Bd. 12, Stuttgart 1860, S. 118. 48 Pini Ifergan, Hegel’s Discovery of the Philosophy of Spirit, New York 2014, S. 23–24. 49 Vgl. Jean Hyppolite, Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel, Paris 1983, S. 65–66.
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
Hegels Rechtsphilosophie kann als ständiges Anliegen und als Lösung für eine Reihe grundlegender Probleme bezeichnet werden, und das wichtigste dieser Probleme ist, wie die klassische politische Philosophie ausgelegt wird und wie auf dieser Grundlage ein Weg zu finden ist, die moderne Realität anders zu erfassen als die moderne Naturrechtstheorie es tut. Das heißt, Hegel versucht, die Integrität der Menschen unter den neuen geschichtlichen Bedingungen wiederherzustellen. Daher besteht der Ausgangspunkt von Hegels Rechtsphilosophie darin, die beiden Traditionen der politischen Philosophie (und auch die beiden geschichtlichen Realitäten) miteinander zu konfrontieren. Als Angehöriger der Generation, die in der Aufklärung, während der Französischen Revolution und mit Kants Philosophie aufgewachsen ist, ist sich Hegel seit langem dessen bewusst, dass die moralische Subjektivität und das Gewissen des Menschen die Grundlage für die Wirksamkeit aller bestehenden Ordnung sind. Politik und Recht sollten nicht in der Vergangenheit bleiben, sondern sich mit der kontinuierlichen Selbsterkenntnis des Geistes und dem Fortschreiten der Rationalität ändern. Diese Generation deutscher Denker entdeckte jedoch das alte republikanische Ideal durch Rousseaus Kritik an Aufklärung und Moderne wieder.50 Nach Rousseaus Ansicht hat die Rationalität der Aufklärung nicht nur ihr Versprechen nicht erfüllt, sondern den Menschen zu einem zivilisierten Tier reduziert. Je komplizierter menschliche Fähigkeiten werden, desto weiter entwickelt sich die instrumentale Rationalität, und je mehr Menschen sich der Verfolgung begrenzter Wünsche und dem Luxus hingeben, desto unvermeidlicher verlieren sie die vollkommene und edle ethische Tugend. Wie kann dann vermieden werden, dass das moderne Autonomieprinzip, welches bedeutet, dass die Menschen nicht mehr von einem ewigen und allgemeinen Zweck beherrscht werden, zu einem vollständig materialistischen Leben führt? Wie kann jenes Produkt, das als ein Allgemeines privater Interessen durch die materialistische Moderne geschafft wird, – also die bürgerliche Gesellschaft – mit diesem klassischen politischen Ideal kombiniert werden? Als Hegel behauptete, dass die moderne Welt der Atheismus der sittlichen Welt sei, meinte er damit, dass moderne Menschen zwar ein raffiniertes und anständiges Leben führen, aber es keinen Sinn darin gebe. Es gibt keine Metaphysik in der modernen Philosophie, sie gleicht einem sonst mannigfaltig ausgeschmückten Tempel ohne Allerheiligstes.
I. Hegels Rechtsphilosophie vor der Jenaer Zeit Einerseits war Hegels theologische und politische Forschung in die schöne Nostalgie der griechischen Volksreligion eingetaucht, andererseits war sie stark von Kants Philosophie beeinflusst. In Das Leben Jesus verwandelte er Jesus sogar in einen moralischen Lehrer in Kants Sinne. Er versuchte, die pharisäische Tendenz 50
Vgl. Rüdiger Bubner, „Hegels politische Anthropologie“, in: ders., Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 77.
B. Der Staat und der Markt in der Rechtsphilosophie des jungen Hegel
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der positiven Religion und den damit verbundenen unfreien politischen Zustand durch Kants Philosophie zu überwinden. Wie er 1795 in einem Brief an Schelling schrieb, erwartete er eine Revolution in Deutschland durch Kants System und dessen höchste Vollendung. Manfred Riedel betont jedoch: „Als frei gilt ihm der im Sinne der praktischen Vernunft handelnde und glaubende Einzelne und ebenso der antike Republikaner; jener bestimmt sich selbst, wie es sein ‚geistiges, unsterb liches‘ Vernunftwesen verlangt, dieser tut seine Pflicht ‚im Geiste seines Volkes‘“.51 Das heißt, Hegel vermischt zwei völlig unterschiedliche Bilder des Subjekts. Im Zuge der Vertiefung von Hegels Geschichtsverständnis ist Kants Moralität für ihn allmählich zum Gegenstand der Kritik geworden. In Der Geist des Christentums und sein Schicksal schlägt Hegel die Deutung vor, dass Kants moralisches Gesetz aufgrund seiner Leerheit und des formellen Sollens die Unterdrückung der menschlichen Sinnlichkeit und des natürlichen Triebs erfordere. Daher verlagert es im Wesentlichen nur die Positivität aus der Äußerlichkeit in die Innerlichkeit des Menschen. Dadurch bleiben Spaltung und Entgegensetzung erhalten und die Integrität der Menschen kann nicht wiederhergestellt werden. Entsprechend hat sich Jesus nun bei Hegel von einem Morallehrer im Kantischen Sinne zu einem Lehrer gewandelt, der Liebe, Sein, Leben und Versöhnung lehrt. Kants Moralität hebt das Gesetz auf, während die Liebe die Moral aufhebt. Als Jesus sich jedoch dem Schicksal der Juden widersetzte, wurden er und seine Gemeinschaft selbst zu einer schönen Seele, die sich an ihre eigene Reinheit klammerte. Sie betrachtete jede Objektivität als einen Fleck auf sich selbst und versuchte, sie auszuschließen und zu beseitigen. Das Schicksal des Christentums entwickelte sich ebenfalls in Richtung auf einen Fanatismus der Spaltung und Entzweiung. Eine solche Veränderung des Bildes Jesu ist weniger eine Veränderung in Hegels Gedanken in Der Geist des Christentums und sein Schicksal als vielmehr ein tiefes Verständnis des Ursprungs der Positivität des Christentums in Hegels vor-Jenaer Zeit.
II. Hegels Rechtsphilosophie in der frühen Jenaer Zeit In Differenz des Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie glaubt Hegel, dass die Entzweiung die Quelle des Bedürfnisses der Philosophie und das Ziel der Philosophie es sei, die Entzweiung zu überwinden. Hegel weist darauf hin, dass Fichte nur ein einseitiges, subjektives Subjekt-Objekt erreicht habe, so dass Fichte wie Kant Freiheit und Natur einander entgegensetzten. Die Natur ist in Kants und Fichtes System der Philosophie „ein bloß Negatives“52, „ein wesentlich Bestimmtes und Totes“.53 Fichte forderte, die Notwendigkeit der Natur der 51
Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 19. Jenaer Schriften, S. 82. 53 Jenaer Schriften, S. 76. 52
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
Freiheit der Vernunft unterzuordnen. Der Endzweck des Menschen liege daher in „absolute[r] Freiheit, absolute[r] Unabhängigkeit“.54 So steht die Freiheit in Fichtes politischer Philosophie der Bestimmtheit der Natur gegenüber: „Es erhellt hieraus wieder, daß Freiheit hier ein bloß Negatives, nämlich absolute Unbestimmtheit oder, wie oben vom Sich-selbst-Setzen gezeigt worden ist, ein rein ideeller Faktor ist – die Freiheit vom Standpunkte der Reflexion betrachtet.“55
Ein solcher Freiheitsbegriff hat auch zur Herrschaft der Vernunft und des Begriffs und zur Versklavung der Natur in der Fichteschen politischen Philosophie geführt56, in der jede Handlung des Vernunftwesens und jede Regung des Lebens der Herrschaft des Begriffs und der Überwachung der Polizei in Form von Gesetzen unterworfen sind. Ein solcher Polizeistaat ist nichts anderes als eine Maschine: „Das Naturrecht wird, durch den absoluten Gegensatz des reinen und des Naturtriebs, eine Darstellung der vollständigen Herrschaft des Verstandes und Knechtschaft des Lebendigen, – ein Gebäude, an welchem die Vernunft keinen Teil hat und das sie also verwirft, weil sie in der vollkommensten Organisation, die sie sich geben kann, in der Selbstgestaltung zu einem Volk, am ausdrücklichsten sich finden muß. Aber jener Verstandesstaat ist nicht eine Organisation, sondern eine Maschine, das Volk nicht der organische Körper eines gemeinsamen und reichen Lebens, sondern eine atomistische lebensarme Vielheit, deren Elemente absolut entgegengesetzte Substanzen, teils eine Menge von Punkten, den Vernunftwesen, teils mannigfaltig durch Vernunft – d. h. in dieser Form: durch Verstand modifikable Materien sind, – Elemente, deren Einheit ein Begriff, deren Verbindung ein endoses Beherrschen ist […]. Fiat iustitia, pereat mundus […] das Recht muß geschehen, obschon deswegen Vertrauen, Lust und Liebe, alle Potenzen einer echt sittlichen Identität, mit Stumpf und Stiel, wie man sagt, ausgerottet werden würden.“57
Im Gegensatz zu einem solchen Polizeistaat schlägt Hegel „die wahre Unendlichkeit einer schönen Gemeinschaft“58 vor, in der „diese Endlosigkeit des Bestimmens und Beherrschens“ und „die Gesetze durch Sitten“ aufgehoben sind. Aus Hegels Sicht ist eine so schöne Gemeinschaft die Sittlichkeit der griechischen Polis. In Glauben und Wissen führt Hegel erstmals die Unterscheidung zwischen Moralität und Sittlichkeit ein. Seiner Ansicht nach führt der Formalismus der Reflexionsphilosophie zu dem Unterschied zwischen Einem und Vielem, der reinen Form und dem empirischen Inhalt, und der Unterschied selbst wird seinerseits entgegensetzt und fixiert: „Aber da in diesem Formalismus einmal der Geist als Indifferenz absolut gegen das Differente fixiert ist, kann keine wahre Realität des Sittlichen, kein Einssein des Begriffs desselben und seiner Wirklichkeit stattfinden. Das praktisch Ideale, der durch den reinen Willen gesetzte Zweckbegriff ist jene reine Indifferenz und Leerheit, der Inhalt aber das 54
Jenaer Schriften, S. 75. Jenaer Schriften, S. 82. 56 Vgl. Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Hamburg 2014, S. 178. 57 Jenaer Schriften, S. 87. 58 Jenaer Schriften, S. 84. 55
B. Der Staat und der Markt in der Rechtsphilosophie des jungen Hegel
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Besondere der Individualität oder [das] Empirische des Wohlseins, und beide unfähig, in einer sittlichen Totalität eins zu sein.“59
Wie Hegel in Der Geist des Christentums und sein Schicksal und später in der Phänomenologie des Geistes dargelegt hat, können die formellen und leeren moralischen Pflichten auf bestimmte und komplexe Situationen letztlich nicht angewendet werden. Das gute Gewissen setzt entweder eine moralische Pflicht ein, die seiner Willkür oder seinem natürlichen Trieb entspricht, was zum Bösen und zur Heuchelei führt, oder es weigert sich, überhaupt zu handeln, und fällt in Unentschlossenheit und Schwäche. Die wirkliche Sittlichkeit, die sich Hegel vorstellt, ist die Identität des Allgemeinen und Besonderen, der Materie und der Form, in der die Moral aufgehoben wird, während zugleich in ihr die Subjektivität gerade in ihrer Zerstörung bewahrt und gerettet wird. 1. Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts In der Differenzschrift weist Hegel darauf hin, dass durch Schellings Philosophie ein objektives Subjekt-Objekt erreicht wird und die Natur ein Lebendiges und Organisches ist. Unter dem Einfluss von Schellings Identitätsphilosophie definiert Hegel das Absolute als die Identität der Reflexion und Anschauung60, des transzendentalen Bewusstseins und des empirischen Bewusstseins61, um auf diesem Weg zur Einheit der empirischen Anschauung, des Begriffs und der transzendentalen Anschauung zu gelangen. Schellings teleologischer Naturbegriff treibt Hegel dazu, zum klassischen politischen Ideal zurückzukehren und darin die Möglichkeit der Versöhnung zu finden, was ihn auch dazu drängt, einen ganzheitlichen politischen Plan aufzustellen, indem er die beiden modernen Naturrechtstheorien in seiner ersten Rechtsphilosophie Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts kritisierte: „[N]ach seinem Namen, […] [soll das Naturrecht] konstruieren […], wie die sittliche Natur zu ihrem wahrhaften Rechte gelangt.“62 Hegels Auseinandersetzung mit der Theorie des Naturrechts ist jedoch keineswegs zufällig, denn die moderne Theorie des Naturrechts ist genau der begriffliche Spiegel der Realität, den Hegel zu verstehen versucht, oder in Horstmanns Worten: „Andererseits sieht Hegel aber genau, daß das neuzeitliche individualistische Naturrecht nicht ohne fundamentum in re ist, daß also dessen formales Prinzip, eben ein Einzelnes zum Allgemeinen zu machen, die spezifischen Bedingungen, unter denen sich die gesellschaftliche Wirklichkeit der Neuzeit entwickelt hat, adäquat reflektiert.“63 Ludwig Siep betont, Hegels Diagnose der Aufklärung 59
Jenaer Schriften, S. 425. Vgl, Jenaer Schriften, S. 42. 61 Vgl, Jenaer Schriften, S. 53. 62 Jenaer Schriften, S. 505. 63 Rolf-Peter Horstmann, „Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie“, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, hg. v. M. Riedel, Bd. 2, Frankfurt 1975, 276–311. 60
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fasse diese als „eine Kultur der ‚schlechten Unendlichkeit‘“64, und Hegels Ziel war es, die wahre, absolute Unendlichkeit zu erreichen, in der die Momente der Entzweiung, Unendliches und Endliches, Begriff und Realität, Eines und Vieles, Allgemeines und Besonderes eins sein werden. Nichts davon herrscht über das andere, und kein anderes wird beherrscht. Diese Unendlichkeit ist konkret, weil darin die Allgemeinheit nicht als das Gegenteil des Besonderen erscheint, denn was wir bekommen, ist nichts anderes als ein Nicht-Besonderes, eine abstrakte Negation von Endlichem und Besonderem, eine abstrakte Freiheit, ohne die innere Momente der Konkretisierung, einen Parmenides’schen Akosmus.65 Zugleich muss das Besondere in das Allgemeine einbezogen werden; das Besondere betrachtet das Allgemeine nicht als Einschränkung, das Allgemeine und die Substanz sind vielmehr die Verwirklichung des Besonderen. Deshalb müssen wir einerseits die Perspektive der Subjektivität aufgeben bzw. aufheben und die Sache selbst als die Selbstbewegung der Substanz und der absoluten Vernunft darstellen, aber die Selbstbewegung selbst muss auch die Endlichkeit enthalten. Die Endlichkeit muss als die Selbsthervorbringung der Unendlichkeit dargestellt werden, was bedeutet, dass die Freiheit keine negative, abstrakte, unbestimmte Freiheit sein kann, sondern eine positive, konkrete, wirkliche, weltliche Freiheit sein muss. Die Freiheit als das absolute Transzendente ist zugleich der Welt innerlich. Die Grundintention von Hegels Rechtsphilosophie bei der Kritik des modernen Naturrechts in der frühen Jenaer Zeit ist an erster Stelle, die bedingte Position der Subjektivität und der Reflexionsphilosophie zu überwinden und die Freiheit aus der Perspektive des Absoluten zu definieren; und in der späteren Jenaer Zeit fand Hegel, dass das, was er bisher erreicht hatte, immer noch eine abstrakte Unendlichkeit, eine negative Unendlichkeit sei. Der Weg zum Absoluten darf aber nicht nur eine negative Überwindung der Endlichkeit sein, sondern muss auch ein Prozess sein, in dem das Absolute sich in die Endlichkeit vertieft und sich in der Endlichkeit darstellt. Nach Hegels Ansicht sind sowohl die empirischen als auch die formellen wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts mangelhaft und erfüllen nicht die Anforderungen der Wissenschaft: „Den früheren Behandlungsarten des Naturrechts und demjenigen, was für verschiedene Prinzipien desselben angesehen werden müßte, muß daher für das Wesen der Wissenschaft alle Bedeutung abgesprochen werden.“66 Diese Behandlungsarten des empirischen Naturrechts bestehen im Einzelnen darin, eine Bestimmung beiläufig aus der empirischen Anschauung des betroffenen Gegenstandes herauszugreifen und sie in die Form des Begriffs zu erheben, um sie zum Wesen und Zweck des betroffenen Gegenstandes zu machen. Zugleich werden andere Bestimmungen dieser Bestimmung untergeordnet, so dass der Gegenstand eine gewisse Einheit erlangen kann. Mit anderen Worten, der Empirismus entnimmt zunächst einen Aspekt aus der komplexen Gesamtheit 64
Ludwig Siep, „Endlichkeit und Unendlichkeit des objektiven Geistes“, in: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken. hg. v. F. Manegoni und L. Illetterati, Stuttgart 2004, S. 157. 65 Vgl. Enzyklopädie III, § 573 Anm., S. 387. 66 Jenaer Schriften, S. 437.
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der Phänomene und macht ihn zum Wesen oder Zweck des Ganzen. Natürlich ist die so erlangte Einheit definitiv nicht die innerliche und notwendige Einheit des Gegenstandes, sondern nur eine äußere und zufällige Einheit. Bei einer solchen Operation setzt der Empirismus eine wesentliche Bestimmung als Ausgangspunkt der Konstruktion und als sogenannte „Natur und Bestimmung des Menschen“67 voraus, z. B. die Begierde der Selbsterhaltung. Der Mensch wird von seiner Sitte, Geschichte, Kultur und sogar dem Staat abstrahiert. Das Endergebnis ist ein völliges Chaos, d. h. Naturzustand, bellum omnium contra omnes. Die civitas oder auch irgendein anderer Aspekt der menschlichen Existenz kann als dem Einzelnen vorausgehend gedacht werden, und so wird unweigerlich jeweils ein Bild des Menschen in seiner vorgeblich reinen Natürlichkeit konzipiert. Nach Hegels Ansicht sind die Bestimmung des menschlichen Wesens und der Naturzustand lediglich Abstraktionen und Fiktionen, nichts anderes als Tautologien. Der Empirismus hat kein klares Kriterium für die Unterscheidung zwischen Wesen und Nicht-Wesen, sondern geht in dieser Hinsicht ziemlich willkürlich vor. In Hegels eigenen Worten: „Es fehlt nun bei jener Scheidung dem Empirismus fürs erste überhaupt alles Kriterium darüber, wo die Grenze zwischen dem Zufälligen und Notwendigen gehe, was also im Chaos des Naturzustandes oder in der Abstraktion des Menschen bleiben und was weggelassen werden müsse. Die leitende Bestimmung kann hierin nichts anderes sein, als daß soviel darin sei, als man für die Darstellung dessen, was in der Wirklichkeit gefunden wird, braucht; das richtende Prinzip für jenes Apriorische ist das Aposteriorische.“68
Die moderne Naturrechtstheorie hebt die Position des Individuums hervor, aber der Empirismus befasst sich mit diesem Problem nur auf der Ebene der individuellen Begierden und Triebe. Im Formalismus des Naturrechts, also in Kants und Fichtes Idealismus, wurde das Subjekt zur reinen Abstraktion erhoben: „In einer niedrigeren Abstraktion ist die Unendlichkeit zwar auch als Absolutheit des Subjekts in der Glückseligkeitslehre überhaupt und im Naturrecht insbesondere von den Systemen, welche antisozialistisch heißen und das Sein des Einzelnen als das Erste und Höchste setzen, herausgehoben, aber nicht in die reine Abstraktion, welche sie in dem Kantischen oder Fichteschen Idealismus erhalten hat.“69
Hegel wiederholte seine Kritik des Formalismus bei Kant und Fichte in der Differenzschrift und in Glauben und Wissen. Die durch den Formalismus erreichte Unendlichkeit sei eine abstrakte und formelle Unendlichkeit, die von dem empirischen Inhalt getrennt sei: „Sie ist das negativ Absolute, die Abstraktion der Form, welche, indem sie reine Identität, unmittelbar reine Nichtidentität oder absolute Entgegensetzung; indem sie reine Idealität, ebenso unmittelbar reine Realität; indem sie das Unendliche, das Absolutendliche; indem sie das Unbestimmte, die absolute Bestimmtheit ist.“70 67
Jenaer Schriften, S. 444. Jenaer Schriften, S. 445. 69 Jenaer Schriften, S. 454. 70 Ebd. 68
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Hegel kritisierte Kants kategorischen Imperativ in dieser Hinsicht. Seiner Ansicht nach ist Kants kategorischer Imperativ nichts anderes als die Tautologie des Ichs. Kant verlangt, alle empirischen Inhalte auszuschließen, um die Absolutheit des Gesetzes festzustellen. Dadurch entsteht die Entgegensetzung des Ideellen und Reellen, und am Ende können wir nur „eine Identität, welche mit einer Differenz absolut affiziert ist“ erreichen, oder mit anderen Worten, „eine Nichtidentität des Ideellen und Reellen“.71 Das Schicksal dieser Nichtidentität der abstrakten Unendlichkeit ist die Nichtidentität des Handelns und der Worte: „Diese Wissenschaft des Sittlichen […] tut sonach nicht nach ihren Worten […].“72 Was also im Wesentlichen geschieht, ist nur, dass man einen Inhalt aus der Erfahrung herausgreift und ihn dann als Gesetz der praktischen Vernunft formuliert. In der Tat kann auf diese Weise jedwede Bestimmung von der praktischen Vernunft benutzt und dann als das Gesetz deklariert werden: „Diese Inhalte können nur gewonnen werden in Abhängigkeit von und unter Rückgriff auf die Affekte und natürlichen Strebungen, von denen die praktische Vernunft gerade frei sein will.“73 Zugleich übt Hegel Kritik an Fichtes politischer Philosophie, und zwar eine Kritik, die sich auf die Trennung von Legalität und Moralität bei Fichte konzentriert: Die äußerlichen Gesetze berücksichtigen nicht die Motivation und beinhalten Äußerlichkeit und Zwang, während das moralische Gesetz um seiner selbst willen befolgt werden soll und nur die Freiheit und Innerlichkeit betrifft. Ein moralisch wünschenswertes Handeln ist gesetzlich nicht erforderlich. Niemand kann sicher sein, dass andere (oder auch nur er oder sie selbst) „Treu und Glauben“ in diesem System der Äußerlichkeit bewahren können, wenn sie handeln: „Indem hiermit diese Äußerlichkeit des Einsseins schlechthin fixiert und als etwas absolutes Ansichseiendes gesetzt ist, so ist die Innerlichkeit, die Wiederaufbauung des verlorenen Treu und Glaubens, das Einssein der allgemeinen und der individuellen Freiheit und die Sittlichkeit unmöglich gemacht.“74 Fichte hat deshalb ein Polizei- und Rechtssystem von oben nach unten etabliert. Der Staat als Dritter setzt alle Zwänge durch, um sicherzustellen, dass jeder in seinem eigentlichen Anwendungsbereich handelt und nicht in die Felder anderer eingreift. So ist der Gegensatz zwischen dem individuellen Willen und dem allgemeinen Willen vorgegeben und festgeschrieben; im Sinne einer „mit mechanischer Notwendigkeit wirkenden Veranstaltung“75 werden die Aktivitäten aller durch den allgemeinen Willen gezwungen und beherrscht: „eine Aufgabe, welcher die Entgegensetzung des einzelnen Willens gegen den allgemeinen Willen vorausgesetzt ist“.76 Fichtes Plan dafür ist es, die Macht auf die gegensätzlichen Parteien zu verteilen, so dass Regierung 71
Jenaer Schriften, S. 456. Ebd. 73 Ludwig Siep, „Endlichkeit und Unendlichkeit des objektiven Geistes“, in: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken, hg. v. F. Manegoni und L. Illetterati, Stuttgart 2004, S. 157. 74 Jenaer Schriften, S. 471. 75 Jenaer Schriften, S. 471. 76 Jenaer Schriften, S. 472. 72
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und Regierte wechselseitig Zwang aufeinander ausüben, aber dieses äußerliche Zwangssystem, so Hegel, wird schließlich vollständig scheitern. In dieser Hinsicht ist der Staat in Fichtes Sinne eher auf der Grundlage von Gewalt als auf Vernunft aufgebaut und steht nicht wirklich auf der Grundlage der Freiheit, denn insoweit Menschen hier wie natürliche Dinge gezwungen werden, handelt es sich nicht um wahre Freiheit, sondern nur um eine äußere, erzwungene Freiheit: „In dem Begriff des Zwangs selbst wird unmittelbar etwas Äußeres für die Freiheit gesetzt; aber eine Freiheit, für welche etwas wahrhaft Äußeres, Fremdes wäre, ist keine Freiheit; ihr Wesen und ihre formelle Definition ist gerade, daß nichts absolut Äußeres ist.“77
Der Staat ist nur eine Maschine, die aus vielen Menschen konstituiert bzw. von ihnen kooptiert wird, um die Sicherheit zu schützen und persönliche Interessen zu verfolgen. Freiheit ist keine Wahl zwischen +A oder -A (dies wäre nur empirische Freiheit), sondern das Nichtabhängigsein von einem Anderen, anders gesagt, „daß das Subjekt als solches zu allen seinen (bewußten) Bestimmungen ein Verhältnis der ‚Indifferenz‘, nämlich der schlechthinnigen Unentschiedenheit hat“78, so dass es unmöglich ist, das Absolute, das sich auf sich selbst bezieht und das für sich über diese Entgegensetzung hinaus ist, wirksam zu zwingen: „So ist die absolute Freiheit ebenso über diesen Gegensatz wie über jeden und jede Äußerlichkeit erhaben und schlechthin alles Zwangs unfähig, und der Zwang hat gar keine Realität.“79 Freie Menschen würden lieber sterben, als gezwungen zu werden und Befehlen zu gehorchen: „Dies negativ Absolute, die reine Freiheit, ist in ihrer Erscheinung der Tod, und durch die Fähigkeit des Todes erweist sich das Subjekt als frei und schlechthin über allen Zwang erhaben. Er ist die absolute Bezwingung.“80 Der Zwang hat dazu geführt, den Staat als einen Markt des Rechtshandels zu konzipieren. Das Verhältnis zwischen Freiheit und Tod ist von großer Bedeutung für die absolute Sittlichkeit, die Hegel konstruieren will, und die Tapferkeit des Todes ist „konstitutiv für praktische Rationalität“.81 Nur durch den Tod können sich die Freien von der Verbundenheit mit der Familie und der bürgerlichen Gesellschaft befreien und die unreflektierte Ichidentität in Frage stellen. Hegel geht in diesem Zusammenhang auch auf das Verhältnis zwischen dem System der politischen Ökonomie und dem Staat ein. Im Tod sieht Hegel die Möglichkeit, die Unendlichkeit zu erreichen, und nach Hegels Ansicht manifestiert sich Freiheit in der Überwindung des Todes als Einssein des Subjektiven und Objektiven: „In dem Bezwingen [des Todes] ist also dadurch Freiheit, daß es rein auf die Aufhebung einer Bestimmtheit, sowohl insofern sie positiv als insofern sie negativ, subjektiv 77
Jenaer Schriften, S. 476. Andreas Wildt, Anerkennung und Autonomie: Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1998, S. 314. 79 Jenaer Schriften, S. 477. 80 Jenaer Schriften, S. 479. 81 Andreas Wildt, Anerkennung und Autonomie: Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte- Rezeption, Stuttgart 1998, S. 316. 78
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und objektiv gesetzt ist, nicht bloß einer Seite derselben geht und also an sich betrachtet sich rein negativ hält.“82 Aber die reine Freiheit und die Tapferkeit, die der Tod zeigt, ist nur ein negatives Hinaus. Die absolute Sittlichkeit unterscheidet sich von jeder vorstellbaren Instrumentalisierung der Gemeinschaft. Sie ist also nicht nur eine Garantie für individuelle Freiheit und Sicherheit, sondern an und für sich, und zwar in der Weise, „daß die absolute sittliche Totalität nichts anderes als ein Volk ist“.83 Wie Ludwig Siep erläutert, kann das Naturrecht „weder auf die gesetzlose Freiheit des Naturzustandes noch auf ein naturabhängiges reines Freiheitsbewußtsein gegründet werden, sondern muß von vornherein die Einheit von Natürlichem und Sittlichem, Naturstand und Majestät, Einzelheit und Volk im Auge haben.“84 Die Politik als die absolute Sittlichkeit ist kein Willkürliches. Kein Individuum ist in seiner Beziehung zur politischen Gemeinschaft unabhängig von der politischen Sittlichkeit, und die absolute Sittlichkeit als Ganzes ist unmittelbar die Sittlichkeit des Individuums: „Da nämlich die reale absolute Sittlichkeit die Unendlichkeit oder den absoluten Begriff, die reine Einzelheit schlechthin und in seiner höchsten Abstraktion in sich vereinigt begreift, so ist sie unmittelbar Sittlichkeit des Einzelnen, und umgekehrt das Wesen der Sittlichkeit des Einzelnen ist schlechthin die reale und darum allgemeine absolute Sittlichkeit; die Sittlichkeit des Einzelnen ist ein Pulsschlag des ganzen Systems und selbst das ganze System.“85
Hegel betont hier erneut die Unterscheidung zwischen Moral und Sittlichkeit. Der Grund, warum die moderne Naturrechtstheorie Moralität anstelle von Sittlichkeit annimmt, ist, dass die moderne Naturrechtstheorie auf individueller Moralität basiert. Hegel lehnt Hobbes’, Kants und Fichtes Standpunkt des Individualismus im Naturrechtsaufsatz klar ab und vertritt eine Position, die Spinozas Lehre von der unendlichen Substanz und Aristoteles’ Politik miteinander vermischt86; die moderne Naturrechtstheorie wird als Abstraktion und „Naturunrecht“87 angesehen. Daher betrachtet Hegel die Erziehung als „das erscheinende fortgehende Aufheben des Negativen oder Subjektiven“88; in dieser Erziehung ist „ein Bemühen um eigentümliche und abgesonderte Sittlichkeit“ zu erkennen, aber „das Bestreben um eine eigentümliche positive Sittlichkeit [ist] etwas Vergebliches und an sich selbst Unmögliches“.89 Den Raum für den Einzelnen, in dem er unabhängige Urteile über Gut und Böse nach seinem moralischen Willen fällt, möchte Hegel also beseitigen. 82
Ebd. Jenaer Schriften, S. 481. 84 Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Hamburg 2014, S. 178. 85 Jenaer Schriften, S. 504. 86 Vgl. Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 91–92; Andreas Wildt, Anerkennung und Autonomie: Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner FichteRezeption, Stuttgart 1998 S. 312; Ludwig Siep, Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 162. 87 Jenaer Schriften, S. 506. 88 Jenaer Schriften, S. 507. 89 Jenaer Schriften, S. 508. 83
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Individuelle Meinungen und Einzigartigkeit werden völlig abgelehnt und sind absolut in der absoluten Sittlichkeit aufgelöst, die den Maßstab der Tugend und des praktischen Lebens bereits gesetzt hat: „Obwohl sie als Tugendlehre Sittlichkeit des einzelnen sein muß, erscheint die ‚absolute‘ Sittlichkeit an ihm, der das schlechthin Negative ist, unter der Form der Negation; nicht nur die reflexive Moralität der modernen Subjektivität, sondern auch die dem Zusammenhang des sittlichen Ganzen eingefügten und sich äußerlich bewährenden Tugenden des einzelnen […] sind ‚negative Sittlichkeit‘.“90 Die Absolutheit der sittlichen Gemeinschaft spiegelt sich am deutlichsten im Krieg wider, der die Bestätigung der absoluten und reinen Freiheit darstellt. In Jean Hyppolites Worten heißt es: „La manifestation sensible de la liberté pure, c’est la mort dans laquelle tout ce qui est déterminé, et donc est négation, est à son tour nié […]. La vertu éthique fondamentale, celle qui fait l’homme libre, c’est donc le courage, et l’aristocratie qu’envisage Hegel est celle des hommes libres, à la fois capable de penser le tout, et de sacrifier complètement leur vie pour leur peuple. […] leur véritable sens est au contraire la domination de l’élément naturel qui devient toujours envahissant et empêche l’homme de s’élever à la liberté.“91
Mit anderen Worten, die eigentliche Wirkung des Krieges besteht darin, den Geist des Gemeinschaftslebens zu zeigen. Nach Hegels Ansicht muss das politische Leben absoluten Vorrang vor dem privaten Wirtschaftsleben haben: „Da dieses System der Realität ganz in der Negativität und in der Unendlichkeit ist, so folgt für sein Verhältnis zu der positiven Totalität, daß es von derselben ganz negativ behandelt werden und seiner Herrschaft unterworfen bleiben muß; was seiner Natur nach negativ ist, muß negativ bleiben und darf nicht etwas Festes werden.“92
Der Krieger gewinnt absolute Priorität wegen seiner Bereitschaft oder Fähigkeit zum Tod. Die Praxis der Politik ist absolut höher als die Arbeit des Privatlebens, die Tapferkeit stellt sich als die Tugend der Indifferenz dar. Als Ergebnis dieses Systementwurfs gibt es entsprechend zwei Stände, nämlich einen Stand des Freien und einen Stand des Nicht-Freien, und zwei Gesinnungen, nämlich Tapferkeit und Rechtschaffenheit. Der Stand des Freien betrachtet die Tapferkeit als seine Tugend und wagt, sein Leben für die Gemeinschaft zu riskieren, während die Rechtschaffenheit als Tugend des Nicht-Freien ganz in den Zwecken, Bedürfnissen und Inte ressen des Privatlebens aufgeht. Der Stand der Nicht-Freien ist der Stand, „welcher in der Differenz des Bedürfnisses und der Arbeit und im Rechte und der Gerechtigkeit des Besitzes und Eigentumes ist, dessen Arbeit auf die Einzelheit geht und also die Gefahr des Todes nicht in sich schließt“.93
90
Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 21–22. Jean Hyppolite, Introduction à la philosophie de l’histoire de Hegel, Paris 1983, S. 95–96. 92 Jenaer Schriften, S. 482–483. 93 Jenaer Schriften, S. 489–490. 91
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Hegel versucht nicht, das System der politischen Ökonomie vollständig zu destruieren, und wie Horstmann betont, geht es Hegel zufolge vielmehr darum, „diesen Bereich als die Sphäre der Realität zu akzeptieren, deren Berechtigung im Hegelschen Begriff der Sittlichkeit als die Sphäre der Realität durch das Zugeständnis ihrer Notwendigkeit selbst angelegt ist“.94 Hegels Anliegen ist es, die klassische Polis-Sittlichkeit und die moderne Welt zu vereinen, dabei aber nicht gänzlich zur traditionellen politischen Philosophie zurückzukehren. Das Problem ist jedoch, dass die lebendige Einheit der Sittlichkeit nur in dem Stand der Freien erreicht werden kann, so dass „die Möglichkeit des Übergangs […] den Freien vorbehalten [bleibt], während der Stand der Unfreien, infolge der Abständigkeit seiner Arbeiten vom Begriff, in der Einzelheit verharrt“.95 Dadurch entsteht das Problem, dass wahre Freiheit und Gleichgültigkeit, wie in Schillers Reich des Spiels und des Scheins, nur wenigen Menschen gehören und das Element der Nichtfreiheit innerhalb des Staates erhalten bleibt. Dieser Gegensatz zwischen Freiheit und Nichtfreiheit zeigt, dass Hegels Programm immer noch das einer abstrakten Unendlichkeit ist, denn Freiheit ist nur ein völlig Negatives, kein Positives, und das weltliche Leben, das der Freiheit als undifferenzierte Freiheit entgegensteht, kann in das Absolute nicht aufgenommen werden. Die Freiheit ist nur die Fähigkeit des Todes, nicht die Fähigkeit des Lebens. 2. System der Sittlichkeit System der Sittlichkeit kann als Hegels systematische Darstellung der absoluten Sittlichkeit der Jenaer Zeit angesehen werden, oder man kann sagen, dass der Beginn von System der Sittlichkeit das Ende des Naturrechtsaufsatzes ist. Beide Texte bilden thematisch ein Kontinuum.96 Riedel betont zudem die wichtigen Veränderungen in Hegels Denken zwischen System der Sittlichkeit und der Philosophie des Geistes in Jenaer Systementwürfe III.97 In System der Sittlichkeit verwendet Hegel noch die griechische Polis als Vorbild, um die absolute Sittlichkeit zu konstruieren, während Hegel in der Philosophie des Geistes in Jenaer Systementwürfe III die moderne Individualität einbezieht. Im System der Sittlichkeit erklärt Hegel noch in einem Spinoza-Ton: „In der Sittlichkeit ist also das Individuum auf eine ewige Weise; sein empirisches Seyn und Thun ist ein schlechthin allgemeines; denn er ist nicht das individuelle, welches handelt, sondern der allgemeine absolute Geist in ihm. Die Ansicht der Philosophie von der Welt und der Nothwendigkeit, nach welcher alle Dinge in Gott sind, und keine Einzelnkeit ist, 94 Rolf-Peter Horstmann, „Über die Rolle der bürgerlichen Gesellschaft in Hegels politischer Philosophie“, in: Materialien zu Hegels Rechtsphilosophie, hg. v. M. Riedel, Bd. 2, Frankfurt 1975, S. 276–311. 95 Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 98–99. 96 Vgl. Laurence Dickey, Hegel: Religion, Economics, and the Politics of Spirit 1770–1807, Cambridge 1987, S. 234. 97 Vgl. Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 106–111.
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ist für das empirische Bewußtseyn vollkommen realisirt, indem jede Einzelnheit des Handelns oder Denkens oder Seyn ihr Wesen und Bedeutung ganz allein im Ganzen hat […].“98
Die relative Sittlichkeit oder die vorpolitische Lebensführung müssen vollständig in die absolute Sittlichkeit aufgelöst werden. Allerdings gibt es nach wie vor erhebliche Unterschiede in den Methoden zwischen Naturrechtsaufsatz und System der Sittlichkeit. Im Naturrechtsaufsatz ist die Totalität der Sittlichkeit als die organische Natur nur eine gegebene Voraussetzung und keine innerliche Entwicklung aus der unorganischen Natur. Hegel zeigt nicht, wie das Streben der Bourgeoisie nach ihren wirtschaftlichen Eigeninteressen zu einem politischen öffentlichen Leben führt. In System der Sittlichkeit versucht Hegel, die Entwicklung von der niedrigsten Ebene der natürlichen Sittlichkeit durch die Negativität hindurch zur absoluten Sittlichkeit darzulegen. a) Die natürliche Sittlichkeit Zu Beginn von System der Sittlichkeit teilt Hegel die natürliche Sittlichkeit in zwei Potenzen ein. Die erste Potenz ist die Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung. Das heißt, in dieser Phase sind Gedanke oder Begriff noch der Anschauung, dem Besonderen oder der Begierde unterworfen. Das Ziel dieser Potenz liegt darin, das Ideelle und das Allgemeine durch Arbeit und Bildung hervorzubringen, und daher nennt Hegel diese Potenz „die eigentliche Natur“.99 Nach Hegels Ansicht ist die Sittlichkeit in diesen beiden Potenzen jedoch eine Art „Trieb“, es geht also um Triebe und deren Befriedigung. Hegel unterscheidet nicht wie in der Reifenzeit die Familie von der bürgerlichen Gesellschaft und trennt die bürgerliche Gesellschaft von der unmittelbaren Substantialität der Familie, sondern ordnet die bürgerliche Gesellschaft der Indifferenz oder Totalität der natürlichen Totalität, also der Familie unter. Dies zeigt auch, dass Hegels Diskussion in diesem Teil immer noch vom oikos-Begriff der aristotelischen Politik geleitet wird.100 Es ist jedoch offensichtlich, dass Aristoteles’ klassische Hauswirtschaft mit der geschichtlichen Wirklichkeit in Hegels Zeit nicht mehr übereinstimmen konnte. Aristoteles zufolge ist der oikos völlig von der bürgerlichen Praxis getrennt. oikos ist die individuelle Arbeit des Sklaven für den Herrn. Daher ist diese Sphäre nicht mit der Totalität der Polis verbunden – auch wenn für Aristoteles um der Autarkie willen sowohl Ökonomie und Politik zur Gemeinschaft der Polis gehörten. Die Bürger müssen etwa auch ihre Muße durch die Ökonomie erhalten, um die ethische Tugend zu perfektionieren. Aber die Ökonomie ist gleichwohl keine wirkliche Praxis, weil die wirkliche Praxis nur in der politischen Gemeinschaft vollzogen werden kann. Die Tugend, der sich die Erhaltung der Polis-Sittlichkeit verdankt, ist zwar nicht auf ein Produkt ausgerichtet, aber für Hegel ist die ökonomische Aktivität selbst 98
GW 5, S. 325. GW 5, S. 281. 100 Vgl. Herbert Schnädelbach, Hegels praktische Philosophie, Frankfurt a. M. 2000, S. 92. 99
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eine zunehmend abstraktere, ideellere, d. h. gesellschaftlichere Aktivität, die nicht auf einen so engen Familienbereich beschränkt werden kann. Hegel geht von der Analyse des einfachsten und unmittelbarsten praktischen Gefühls aus, nämlich dem Bedürfnis nach Essen und Trinken, das als ein ganz einzelnes und besonderes Gefühl „ganz der Natur angehört“.101 „Das Aufgehobensein des ganz absolut identischen, bewußtlosen“102 stellt die ursprüngliche Trennung zwischen Mensch und Natur dar, und diese Trennung wird schließlich durch Sättigung aufgehoben. Darüber hinaus geht es um die kontinuierliche Vermittlung der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung, das heißt darum, die kompliziertere und ideellere Begierde durch Arbeit, Besitz und Werkzeuge zu befriedigen. Aus diesem Grund sagt Hegel, dass die natürliche Sittlichkeit die „Enthüllung“, „ein Auftreten des allgemeinen gegen das Besondere“103 sei. Da die Arbeit eine „Abstraktion“ ist, die vom Genuss getrennt ist, wird die Begierde nicht mehr einfach befriedigt, sondern „gehemmt und aufgeschoben“.104 Dadurch, dass, wie Steffen Schmidt es formuliert, „zwischen Bedürfnis und Befriedigung nicht nur eine zeitliche Differenz fällt, sondern eine aktive Arbeit vollbracht werden muß, in der von der gewünschten Befriedigung vorübergehend abgesehen wird, die Befriedigung also vorerst verschoben wird, beginnt eigentlich erst dasjenige, was als spezifisch menschlich anzusehen und insofern auch der Kennzeichnung als ‚sittlich‘ fähig [ist].“105 In der Arbeit wird das Objekt nicht mehr unmittelbar vernichtet, sondern besitzt, geformt und erhalten. Nach dem Prozess der kontinuierlichen Idealisierung des Objekts der Arbeit ist die Arbeit in der von der Anschauung dominierten natürlichen Sittlichkeit auch gegen die organischen Pflanzen, die Tiere, die sich denkenden Subjekte und ihre Intelligenz gerichtet. Und durch Kinder, Werkzeuge und Sprache als die Werkzeuge der Vernunft kann die Vernunft sich verkörpern, denn Kinder sind gerade „eine reale absolute Identität“ und die „absolute Mitte“106, in der die einfache Liebe der Eltern verwirklicht werden kann. Das Werkzeug ist eine allgemeinere Mitte: „Die Subjectivität der Arbeit ist im Werkzeug zu einem allgemeinen erhoben; Jeder kann es nachmachen, und ebenso arbeiten; es ist insofern die beständige Regel der Arbeit.“107 Allerdings wird erst in der Rede die „ideelle vernünftige Mitte“ erreicht: Die Sprache ist die Vermittlung zwischen vernünftigen Menschen, die durch Arbeit gebildet werden, und ist das Merkmal, das Menschen von Tieren unterscheidet. Die zweite Potenz der natürlichen Sittlichkeit ist die Subsumtion der Anschauung unter den Begriff. Auf dieser Ebene werden die abstrakte, allgemeine Arbeit und der Besitz untersucht, und die Abstraktion und Verallgemeinerung von Arbeit und Besitz selbst führt auch zur Abstraktion und Verallgemeinerung der Arbeit, 101
GW 5, S. 283. GW 5, S. 282. 103 GW 5, S. 281. 104 GW 5, S. 284. 105 Steffen Schild, Hegels System der Sittlichkeit, Berlin 2007, S. 177. 106 GW 5, S. 290. 107 GW 5, S. 292. 102
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der Bedürfnisse und der Objekte des Besitzes. Durch die Arbeitsteilung ist die Arbeit selbst mechanisiert oder sogar stumpf geworden; sie ist jetzt „ein einzelnes Arbeiten“.108 Das Produkt der Arbeit selbst ist seinerseits zu einer „reinen Quantität“109 geworden. Als Ergebnis dieser Wandlung werden die Bedürfnisse jetzt durch die Arbeit anderer befriedigt und das Produkt überschreitet die Quantität, die für das ursprüngliche, natürliche Maß an Befriedigung erforderlich ist. Daher zielt die Arbeit nicht mehr auf das praktische Gefühl ab; sie ist nicht mehr die eigene Arbeit, um den eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden, sondern ist zu einer allgemeinen und abstrakten Beziehung geworden: „So hat dieser Besitz seine Bedeutung auf das praktische Gefühl des Subjects verlohren, ist nicht mehr Bedürfniß für dasselbe sondern Überfluß; seine Beziehung auf den Gebrauch ist deßwegen eine allgemeine; und diese Allgemeinheit in ihrer Realität gedacht, – auf den Gebrauch anderer. Weil es für sich in Beziehung auf das Subject eine Abstraction des Bedürfnisses überhaupt ist, so ist sie eine allgemeine Möglichkeit des Gebrauchs, nicht des bestimmten, den sie ausdrückt, denn dieser ist vom Subject abgetrennt.“110
Die überflüssigen Produkte müssen von unterschiedlichen Menschen gebraucht und genossen werden, wodurch das Problem der Anerkennung des Besitzes anderer entsteht, und damit das Eigentumsrecht. Das Besitzverhältnis muss zu einem Eigentumsrechtsverhältnis werden: „Es ist ein Verhältniß des Subjects zu seiner überflüssigen Arbeiten gesetzt, die in dieser beziehung auf dasselbe ideell, keine real Beziehung auf den Genuß hat, zugleich aber diese Beziehung herausgetretten als ein allgemeines, oder als eine reale Abstraction, oder unendliches, der Besitz im Recht als Eigenthum.“111
Zuvor war Besitz kein Rechtsverhältnis. Harris erläutert: „Instead of being a man who possesses things that are useful to him, the agent must be a person who owns property.“112 In den gesellschaftlichen Beziehungen entstehen Eigentumsverhältnisse: „Recht an Eigenthum ist Recht an Recht.“113 Es ist jedoch lächerlich, alles als Recht zu betrachten. Das Recht selbst ist nur „die Form dieser Abstraktion“, „etwas ganz formelles“114, nicht an und für sich absolut, sondern „bloß eine Abstraction und ein Gedankending“.115 Aber diese ideelle Beziehung sollte in einer „realen Verwechselung“116 realisiert werden, d. h. nur durch Tausch kann die Differenz zwischen Bedürfnissen und Befriedigung beseitigt werden. Der Tausch ist jedoch durch empirische Umstände bedingt und insofern ungewiss. Daher ist es 108
GW 5, S. 297. GW 5, S. 297. 110 GW 5, S. 298. 111 GW 5, S. 298. 112 H. S. Harris, „Hegel’s System of Ethical Life: An Interpretation“, in: System of Ethical Life (1802/3) and First Philosophy of Spirit, New York 1979, S. 37. 113 GW 5, S. 298. 114 Ebd. 115 Ebd. 116 GW 5, S. 301. 109
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notwendig, „die empirischen Zufälligkeiten“ des Tausches zu beseitigen und das „Innere der Intelligenzen“ hervortreten zu lassen: „Es bleibt die Natur und Form des Tausches, aber er wird in die Quantität und Allgemeinheit aufgenommen.“117 Das „Innere der Intelligenzen“ oder die Notwendigkeit des Vertrages ist es, was die Zufälligkeit des Tauschs und der gegenseitigen Leistung überwunden hat. Auch wenn die Leistung tatsächlich nicht erbracht wird, ist das Recht bereits auf die andere Partei übertragen worden. Der Vertrag ist jedoch ein ideeller Übergang, also muss er absolute Realität haben oder, in Hegels Worten, „die Idealität oder Allgemeinheit […] muß also existiren.“118 Hegel weist jedoch darauf hin, dass die Realität über die Potenz des Vertrags hinausgeht: „[A]ber die Realität selbst liegt über der Sphäre dieser formellen Potenz.“119 Die Totalität der beiden Potenzen, die Hegel als relative Identität bezeichnete, ist in drei Potenzen unterteilt. Hegel führt zuerst Geld und Handel ein. Geld als „der Überfluß in die Indifferenz“ ist „allgemeines, und Möglichkeit aller Bedürfnisse“.120 Der Wert von Arbeitsprodukten spiegelt sich im Geld wider. Gleichzeitig ist Geld die Vermittlung des Handels, der Handel kann mithilfe des Geldes ausgeführt werden. Geld und Handel bilden die statische und dynamische Seite des Werts. Zuvor galt das Individuum nur als Eigentümer des Eigentums, aber jetzt ist das Individuum als „die Indifferenz aller Bestimmtheiten“ und „Totalität“, als „im Ganzen für sich seyendes“ anzusehen. Dies ist die Person, die mit dem Leben identisch ist, und die Menschen werden aufgrund ihrer Persönlichkeit als allgemein und gleich anerkannt, statt aufgrund irgendeiner Besonderheit, z. B. Geschlecht, Alter, Besitz von Eigentum, usw. Hegel weist aber auch darauf hin, dass die Anerkennung selbst immer noch abstrakt und formell sei, weil jeder „in absoluter Differenz gegen andere“121 seine eigene Bestimmtheit habe und nicht indifferent sei wie der abstrakte Gedanke der Person. Dadurch entsteht auch die Möglichkeit der Nichtanerkennung und der Nichtfreiheit in der Anerkennung und Freiheit der Person, und das ist das Verhältnis der Herrschaft und Knechtschaft: „Dieses Verhältniß, das das indifferente und freye, das mächtige ist, gegen das differente, ist das Verhältniß der Herrschaft und Knechtschaft.“122 Die abstrakte Allgemeinheit, die die Person erreicht, ist völlig ideell und hat daher keine Realität: „Die Gleichheit ist nichts anders als die Abstraction, und der formelle Gedanke des Lebens, der ersten Potenz; der bloß ideell und ohne Realität ist; in der Realität hingegen ist die Ungleichheit des Lebens gesetzt, und damit das Verhältniß [der Herrschaft] und Knechtschaft; denn in der Realität ist die Gestalt und Individualität und Erscheinung, also Verschiedenheit der Potenzen oder der Macht; oder die relative Identität, nach welcher das eine Individuum indifferent, das andre different gesetzt ist.“123 117
GW 5, S. 302. GW 5, S. 302–303. 119 GW 5, S. 303. 120 GW 5, S. 304. 121 GW 5, S. 305. 122 GW 5, S. 305. 123 Ebd. 118
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Hegel glaubt, dass die Macht hier im Vergleich zu sittlicher Herrschaft und Gehorsam nur „ein besonderes“124 ist; die Knechte gehorchen nur gegen „einzelnes und besonderes“125, während in der Sittlichkeit das Herrschende „ein absolut Allgemeines“126 ist: „[D]ort [ist] die Individualität nur das äussere und Form, und hier das Wesen des Verhältnisses […].“127 Der Grund dafür ist, dass in der natürlichen Sittlichkeit das Verhältnis zwischen Herr und Knecht durch Besitz des Überflusses und durch die Ungleichheit im Eigentum verursacht wird: „Der Herr ist im Besitz eines Überflusses des physischen Nothwendigen überhaupt, und der andere im Mangel desselben.“128 Hegel weist darauf hin, dass das Verhältnis der Herrschaft und Knechtschaft „indifferentiirt seyn [muss]“129, und wie von den meisten Kommentatoren hervorgehoben, stellt die Familie tatsächlich die Indifferenz des Verhältnisses der Herrschaft und Knechtschaft und die Totalität der natürlichen Sittlichkeit dar: „In ihr [die Familie] ist die Totalität der Natur, und alles bisherige vereinigt, die ganze bisherige Besonderheit ist in ihr ins allgemeine versetzt.“130 Die Familie gehe über den Bereich des Rechts hinaus: „Es fällt also auch aller Vertrag, über Eigenthum, Dienstleistung und dergleichen hinweg; denn alles diß gründet sich auf die Voraussetzung eigener Persönlichkeit.“131 Die Eigentumsrechte in der Familie sind von ganz anderer Gestalt: Alle Familienmitglieder nehmen an der gemeinsamen Nutzung des gemeinsamen Eigentums teil. Begriffe wie Tausch und Vertrag aus dem Bereich des Rechts gelten nicht innerhalb der Familie. b) Das Negative, die Freiheit und das Verbrechen Wie zu Beginn dieses Kapitels dargestellt, gilt in der natürlichen Sittlichkeit: „Das bisherige hat die Einzelnheit zum Princip; es ist das Absolute unter den Begriff subsumirt, und alle Potenzen drücken Bestimmtheiten aus, und die Indifferenzen sind formell, Allgemeinheit, der Besonderheit entgegengesetzt; oder die Besonderheit nur in Beziehung auf niedrigere Besonderheiten indifferentiirt; und diese Indifferenyen selbst wieder Besonderheiten. Es ist also schlechthin keine absolut, jede kann aufgehoben werden […].“132
Daher ist das, was die natürliche Sittlichkeit erreicht hat, noch die endliche und besondere Bestimmtheit, die zur absoluten transformiert werden muss, und zwar durch „Aufnahme der Bestimmtheiten in die absolute Allgemeinheit“.133 Nach 124
GW 5, S. 306. Ebd. 126 Ebd. 127 Ebd. 128 Ebd. 129 Ebd. 130 GW 5, S. 307. 131 Ebd. 132 GW 5, S. 309–310. 133 GW 5, S. 310. 125
170
Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
Ansicht von Hegel muss das Auftreten der absoluten Sittlichkeit dialektisch durch das Moment der Negativität erfolgen. Durch dieses Moment wird „die selbstzufriedene Besonderheit“134 der natürlichen Sittlichkeit angegriffen und erschüttert, indem sich ihre eigene Endlichkeit und Besonderheit zeigt, so dass die menschliche Freiheit wirklich ausdrückt werden kann: „In this act of negating, of crime, of defying the existing social order, the individual’s freedom is fully expressed – even if negatively – for the first time.“135 Ist die Freiheit, die diese Negation hervorbringt, jedoch das Positive und Absolute, oder ist sie nur ein fixierter Gegensatz zwischen Allgemeinem und Besonderem? Hegel unterscheidet zwei Aufhebungen, nämlich die absolute Aufhebung und die negative Aufhebung. In ersterer wird „das negative […] nicht fixirt, ist nicht im Gegensatze, und so ist es im Absoluten; die absolute Sittlichkeit erhebt sich über die Bestimmtheit, dadurch daß es sie aufhebt, aber so daß es sie in einem Höhern mit ihrem Entgegengesetzten vereinigt, also nicht in Wahrheit es bestehen läßt, und nur mit negativer Bedeutung setzt; sondern durch die vollkommne Identität mit seinem Gegentheil seine Form, oder Idealität aufhebt, gerade ihm das Negative nimmt, und es absolut positiv oder reell macht.“136
Über die zweite, negative Aufhebungsform heißt es: „Ganz anders ist die negative Aufhebung; sie ist selbst Aufhebung gegen Aufhebung, Entgegensetzung gegen die Entgegensetzung, aber so daß die Idealität, die Form gleichfalls in ihr besteht, aber in umgekehrtem Sinne, nehmlich daß sie das ideelle Bestimmtseyn der Einzelnheit festhält, und es so als ein negatives bestimmt; also seine Einzelnheit und sein Entgegengesetztseyn bestehen läßt, den Gegensatz nicht aufhebt, sondern die reale Form in die ideelle umwandelt.“137
Im Gegensatz zur negativen Aufhebung hebt die absolute Aufhebung die Entgegensetzung auf und nimmt sie in die absolute Sittlichkeit auf, und zwar nicht mehr nur als ideelle Negation, so dass der Gegensatz zwischen dem Ideellen und dem Reellen fixiert ist. Die absolute Aufhebung entspricht der absoluten Sittlichkeit und die negative Aufhebung dem zweiten Teil von System der Sittlichkeit, wie Hegel sagte: „Itzt ist die Form als Negatives das Wesen; das reelle wird gesetzt als ein ideelles; es ist durch die reine Freiheit bestimmt.“138 Hegel weist weiter darauf hin, dass im zweiten Moment von System der Sittlichkeit die Bestimmtheit nur ideell aufgehoben wurde, aber die Realität bestehen blieb: „Da die Aufhebung der Bestimmtheit nur formell ist, so bleibt sie bestehen, sie ist ideell gesetzt, aber sie bleibt in ihrer realen Bestimmtheit; und das Leben ist in ihr nur verletzt, nicht höher gehoben worden […].“139
134
Rosenzweig, Hegel und der Staat, Frankfurt a. M. 2010, S. 165. Pifi Ifergan, Hegel’s Discovery of Spirit, New York 2015, S. 84. 136 GW 5, S. 310. 137 Ebd. 138 Ebd. 139 GW 5, S. 312. 135
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Entsprechend sind die Negationen der drei Potenzen, die im Rahmen der natürlichen Sittlichkeit diskutiert werden, diesem Kapitel zufolge gegen die Arbeit, das Eigentum und das Leben gerichtet. Die Negation der ersten Potenz ist Zerstörung und Verwüstung, die von der abstrakten, allgemeinen, zwecklosen Wut getrieben ist. Hegel beschreibt hier eine Art barbarische reine Freiheit und einen Fanatismus der Zerstörung um der Zerstörung willen, die Negation der Indifferenz, Unbestimmtheit und der reinen Abstraktion gegen Bestimmtheit und Bildung. Diese Art der Negation zielt überhaupt nicht auf irgendein Eigentum ab, sie ist „Vernichtung für sich, ohne daß sie auf etwas anderes bezogen ist, einen bestimmten Mangel voraussetzt“.140 Sie plündert oder zerstört sogar das Eigentum. Daher ist die Negation der zweiten Potenz, also Diebstahl und Raub, gegen die Anerkennung des Eigentums und das Verhältnis zwischen dem Eigentümer und dem Eigentum gerichtet, so dass sie zugleich die Anerkennung der Persönlichkeit verletzt: „[…] und was an ihm aufgehoben wird, ist nicht die Minderung seines Besitzes, denn diese geht dasselbe nicht als subject an, sondern die Vernichtung seiner als Indifferenz durch und in diesem einzelnen Act; da nun die Indifferenz der Bestimmtheiten die Person ist, und diese hier verletzt wird, so ist Minderung des Eigenthums eine persönliche Verletzung […].“141
Was von Diebstahl und Beraubung verletzt ist, ist jedoch immer noch ein Teil der Person, nicht die Totalität der Person. Erst in der Negation der dritten Potenz richtet sich die Negation gegen das Leben und die ganze Persönlichkeit. Hegel unterscheidet danach, ob die Gefahr für beide Seiten die gleiche ist. Er hält Mord für „eine rohe Totalität“142, denn in diesem Verhältnis kann die andere Seite überhaupt keine Gefahr vorhersehen, während Rache „die formale Indifferenz“ und eine Umkehrung des Mordes ist. Rache ist jedoch „die werdende Negation“143; der Rächende muss die symmetrische Gleichheit der Stärke vermeiden oder eine List anwenden, damit die Rache gelingt. Deshalb fehlt der Rache ebenfalls „die Gleichheit der Gefahr“.144 „[D]ie Totalität des Verhältnisses“ und „die Mitte“145 hingegen ist der Kampf. Im Kampf manifestiert sich „nemlich negativ die Aufhebung der Übermacht und Bewußtlosigkeit des einen, und die Gleichheit der Gefahr für beyde“.146 Mit anderen Worten, das Verhältnis ist „schwankend“147 und „ganz zweifelhaft“.148 Beide Seiten mögen den Vorteil haben, so dass der Kampf „ein Gottesurteil“149 ist. Der Mord tötete nur ein Mitglied der Familie, die Rache wird zwischen den Familien ausgeführt, das heißt, es ist die Ehre der Familie, die verletzt worden ist. Die Thematisierung der Ehre überschreitet bereits die Beson 140
GW 5, S. 313. GW 5, S. 316. 142 GW 5, S. 320. 143 Ebd. 144 GW 5, S. 321. 145 Ebd. 146 Ebd. 147 GW 5, S. 319. 148 GW 5, S. 322. 149 GW 5, S. 321. 141
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
derheit der natürlichen Sittlichkeit; „durch die Ehre wird das Einzelne zu einem Ganzen“, und durch den Kampf um die Ehre wird die absolute Freiheit erreicht: „So ist im Kampfe als der absoluten Differenz und gegenseitigen Negation die Indifferenz zu erhalten, und der Streit zu schlichten allein durch den Tod; in welchem das Bezwingen absolut ist, und ebendurch das Absolutseyn der Negation schlechthin sein Gegentheil, die Freyheit behauptet ist.“150
Wie Rosenzweig betont, basiert der Staat von System der Sittlichkeit immer noch auf dem Krieg: „Und Krieg, Wehrverfassung, Vorhandensein oder Nichtvorhandensein kriegerischer Tugenden bestimmen überhaupt den Grundriß dieses Staatsgebäudes.“151 Nach Hegels Ansicht wird der Weg von der natürlichen Sittlichkeit zur absoluten Sittlichkeit durch den Krieg eröffnet. Nur durch Krieg werden die „Bedürfnisse und die Befriedigung der Bedürfnisse“, die in der natürlichen Sittlichkeit gebunden sind, negiert, und ein wirklich freies Leben kann etabliert werden. Obwohl Hegel zwischen der absoluten Aufhebung und der negativen Aufhebung unterscheidet, ist es offensichtlich, dass die Freiheit, von der er spricht, zu dieser Zeit immer noch die „absolute Freiheit“ ist, d. h. es ist deutlich, „daß er zu dieser Zeit das Negative noch vorwiegend mit dem ‚Nichts‘, der-tendenziell-puren Vernichtung gleichsetzte“.152 Die natürliche Sittlichkeit kann nicht in der absoluten Sittlichkeit negiert und zugleich bewahrt werden. Sie ist nicht Teil der absoluten Sittlichkeit selbst. c) Die Sittlichkeit Hegel erklärt, dass keine der bisher genannten Potenzen den Standpunkt der absoluten Sittlichkeit erreichen konnte: „Aber die absolute Natur ist in keinem in Geistesgestalt, und darum auch nicht als Sittlichkeit vorhanden; weder die Familie noch viel weniger die untergeordneten Potenzen, am wenigsten das Negative ist sittlich.“153 Die Sittlichkeit durchdringt das Individuum wie Äther und wird zum untrennbaren Wesen des Individuums. Daher erreicht das Individuum in der absoluten Sittlichkeit, auf die es Hegel hinauswill, unmittelbar die Identität mit der Allgemeinheit: „Die Sittlichkeit ist hienach bestimmt, daß das lebendige Individuum, als Leben dem absoluten Begriffe gleich sey, daß sein empirisches Bewußseyn eins sey mit dem absoluten und das absolute Bewußtseyn selbst empirisches Bewußtseyn; eine von sich unterscheidbare Anschauung; aber so daß diese Unterscheidung durchaus etwas oberflächliches, und ideelles ist, und das Subjectseyn in der Realität und der Unterscheidung nichts ist.“154
150
GW 5, S. 318–319. Rosenzweig, Hegel und der Staat, Frankfurt a. M. 2010, S. 165. 152 Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 97. 153 GW 5, S. 324. 154 GW 5, S. 324. 151
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Daher schaut das Individuum sich in jedem als sich selbst an, gelangt so zur „höchsten Subjectobjectivität“155 und verwirklicht das Einssein des Volkes, des Geistes und des Absoluten. Hegel konzipiert die absolute Sittlichkeit auch auf der Grundlage des griechischen Ideals der Einheit von Schönheit und Freiheit: „Sie ist absolute Wahrheit, denn die Unwahrheit ist nur in dem fixiren einer Bestimmtheit; In dem ewigen des Volkes aber ist alle Einzelnheit aufgehoben; sie ist die absolute Bildung, denn im ewigen ist die reale empirische Vernichtung aller Bestimmtheiten und der Wechsel aller; sie ist die absolute Uneigennützigkeit; denn im ewigen ist nichts eigenes; sie ist und jede ihrer Bewegungen die höchste Schönheit und Freyheit, dann das reellseyn und die Gestaltung des ewigen ist seine Schönheit; sie ist ohne Leiden und seelig; denn in ihr ist alle Differenz und aller Schmerz aufgehoben; sie ist das göttliche, absolut, reell, existirend, seyend, unter keiner Hülle, noch so daß es erst in die Idealität der Göttlichkeit herauszuheben, und erst aus der Erscheinung und der empirischen Anschauung herauszuziehen wäre, sondern sie ist unmittelbar absolute Anschauung.“156
In Hegels Darstellung der „Sittlichkeit des einzelnen“157 oder der Tugend wird der absolute Stand und die ihm zugehörige Tapferkeit über andere Tugenden gestellt. Er lobt die Tapferkeit als „die Indifferenz aller Tugenden“ und „Tugend an sich“.158 Die Tapferkeit zeichnet sich durch absolute Freiheit von jeder Abhängigkeit und Bestimmtheit aus, und Hegels Ideal des klassischen bürgerlichen Republikanismus bedeutet auch, dass das freie politische Leben nicht in der Selbsterhaltung oder dem Eigentumsschutz liegt, sondern in einem edlen Bewusstsein und in der Bereitschaft, sein Leben und sein Eigentum zu opfern, um Anerkennung seiner Unabhängigkeit zu erlangen.159 Daher schreibt Hegel, die Tätigkeit der absoluten Sittlichkeit gehe „nicht auf ein Product, sondern zerschlägt es unmittelbar, und macht die Leerheit des Bestimmtheiten eintreten“.160 Der Krieger erhält die Sittlichkeit, indem er es wagt, sich für das Volk in die Gefahr des Todes zu begeben. Die Arbeit des Politikers und Kriegers ist „ohne Zweck, ohne Bedürfniß, und ohne Beziehung auf die praktische Empfindung, ohne subjectivität; so wenig als sie auf Besitz und Erwerb Beziehung hat, sondern mit ihr selbst hört ihr Zweck auf, und ihr Product.“161 Manfred Riedel erläutert: „Damit schließt sich Hegel der traditionellen Lehre vom Vorrang der Praxis an, deren Zweck reine Bewegung (κίνησις) und Tätigkeit (ἔνέργεια) und nicht die Bestimmtheit eines Produktes (ἔργον) ist.“162 Bei der Unterscheidung zwischen Praxis und Poiesis hob Aristoteles hervor, dass sich die Struktur der Praxis von derjenigen der Poiesis unterscheide: „Die Praxis hat kein objektives Ergebnis außer sich zum Ziel, und es lassen sich folglich am 155
GW 5, S. 326. GW 5, S. 328–329. 157 GW 5, S. 328. 158 GW 5, S. 329. 159 Vgl. Paul Franco, Hegel’s Philosophy of Freedom, New Haven / London 1999, S. 71. 160 GW 5, S. 329. 161 GW 5, S. 330–331. 162 Manfred Riedel, zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 24. 156
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Ende ihres Vollzugs keine objektiven Produkte angeben; sie ist selber, als das AmWerk-Sein (ἔνέργεια), ‚Ziel schlechthin‘. Da die Praxis kein solches Ziel, das wie im Fall der Poiesis losgelöst von ihrem Vollzug objektiv bestimmbar ist, außer sich hat, verfügt sie über keinen objektiven Maßstab, der zur Festlegung ihrer Regeln fähig ist. Sie muß vielmehr ihre Regeln allein aus sich gewinnen und deren Festlegung allein für sich verantworten.“163 Die Praxis ist ein ewiges Werden. Deshalb vertieft sich der absolute Stand, der an einer solchen Tugend wie der Tapferkeit ausgerichtet ist, nicht in die Arbeit, denn seine Tätigkeit ist allgemein, während die Arbeit, in der es um die Erfüllung von Bedürfnissen geht, einzeln, partikulär und auf das Einzelne gerichtet ist. Daher braucht allerdings der absolute Stand auch den anderen Stand, der ihm Produkte und Genuss bietet. Und das Entsprechende gilt für den Stand der Bourgeoisie im Hinblick auf die Rechtschaffenheit als Tugend. Für diesen Stand ist das Allgemeine und das Absolute der Sittlichkeit „ein Gedanke“164, „etwas schlechthin ideelles gedachtes“165 – was der Uneigennützigkeit und Aufopferung Grenzen setzt. Dieser Stand ist kein Stand des Freien: „Er ist weder einer Tugend noch der Tapferkeit fähig; denn jene ist eine freye Individualität; die Rechtschaffenheit ist in der Allgemeinheit ihres Standes ohne Individualität, und in der Besonderheit ihrer Verhältnisse, ohne Freyheit.“166
Dieser Stand ist in die Arbeit des Bedürfnisses, den Besitz, den Erwerb und das Eigentum, in Besitz und Besonderheit vertieft, charakteristisch für ihn ist „eine allgemeine Abhängigkeit wegen der Befriedigung des physischen Bedürfnisses“.167 In seiner Darstellung der „allgemeine[n] Regierung“ behandelt Hegel dieses System der Bedürfnisse. Hegel weist darauf hin, dass im modernen Marktwirtschaftssystem „keiner […] für die Totalität seines Bedürfnisses für sich selbst [ist]“.168 Die Arbeit eines jeden und die Befriedigung seiner Bedürfnisse hängen alle vom ganzen System der Bedürfnisse ab. Für den Einzelnen ist dieses System „eine wenig erkennbare, unsichtbare, unberechenbare Macht“.169 Seine Arbeit und die Befriedigung seiner Bedürfnisse müssen von einem solchen bewusstlosen und blinden Schicksal abhängen, durch dessen beständig auf- und niedersteigende Wogen der Einzelne zu unendlichem und grenzenlosem Genuss angeregt wird. Und mit diesem Streben nach Not und Genuss ist auch die Ungleichheit des Reichtums entstanden, das heißt „[d]iese Ungleichheit des Reichthums ist an und für sich nothwendig“.170 Daher ist der hohe Reichtum mit der tiefsten Armut verbunden, was zum Verschwinden sittlicher Gesinnung und zum Zerfall der göttlichen Sittlichkeit geführt hat: 163
Zhi-Hue Wang, Freiheit und Sittlichkeit, Würzburg 2004, S. 27. GW 5, S. 331. 165 GW 5, S. 336. 166 GW 5, S. 338. 167 GW 5, S. 336–337. 168 GW 5, S. 350. 169 Ebd. 170 GW 5, S. 353. 164
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„Der erste Charakter des Stands des Erwerbs, daß er einer organischen absoluten Anschauung, und der Achtung für ein obzwar ausser ihm gesetztes Göttliches, fähig ist, fällt weg; und die Bestialität der Verachtung alles hohen tritt ein; das weisheitslose, rein allgemeine, die Masse des Reichthums ist das Ansich; und das absolute Band des Volks, das sittliche ist verschwunden, und das Volk aufgelöst.“171
Daher weist Hegel darauf hin, dass die Aufgabe der Regierung darin bestehe, „dieser Ungleichheit, und ihrer und der allgemeinen Zerstörung […] aufs höchste entgegenzuarbeiten“.172 Die Regierung muss die bestehenden Schwankungen durch verschiedene Methoden balancieren. Sie muss entweder hohe Gewinne erschweren, die Reichen zwingen, keinen unendlichen Reichtum anzuhäufen, und überhaupt den Trieb der Reichen nach Mehrung ihres Reichtums ausrotten, oder sie muss den Einzelnen durch geeignete Formen von Gemeinschaftsbildung aus der Isolierung herausführen und sich auf verschiedene Weise um alle Stände kümmern. Bei allen diesen Bemühungen ist Hegel immer noch völlig unfähig, einen Begriff der Arbeit zu konzipieren, der als die Mitte zwischen Subjekt und Objekt, Ich und Nicht-Ich gedacht wird. Indem er Tapferkeit, Krieg und Praxis über Rechtschaffenheit, Markt und Arbeit stellt, vermag er die geschichtliche Wirklichkeit seiner Zeit nicht wirklich in Gedanken zu fassen. Die Verwandtschaft zwischen dem Naturrechtsaufsatz und System der Sittlichkeit besteht darin, dass beide die befreiende Wirkung von Arbeit und Gesellschaft auf den Menschen nicht erkennen. Für den Hegel der frühen Jenaer Zeit erhebt, auch wenn die Wechselwirkung zwischen Arbeit und Gesellschaft die menschliche Vernunft entwickeln und erweitern kann, diese Art von Vernunft, die sich an der Befriedigung von Dingen und Begierde orientiert, die Menschen höchstens vom Niveau der Tiere auf das Niveau gesellschaftlicher Tiere, nicht aber auf dasjenige geistiger Wesen. Dies ist auch der Grund, warum Hegel das System der Arbeit und der Bedürfnisse in die natürliche Sittlichkeit einbezieht. Die Indifferenz dieses Systems ist die Familie, weil „for Hegel the difference between man’s presocial and social conditions is one of degree, not kind“.173 Die Menschen erfüllen ihre Begierde einfach auf eine gesellschaftliche Weise. Hegel folgt Schillers Unterscheidung zwischen dem Notstaat und dem Naturstaat. Nach Schillers Ansicht ist der Mensch in ersterem Fall ein ungebildetes Tier, während er in letzterem ein gebildetes Tier ist. Ob im Notstaat oder im Naturstaat – der Mensch ist kein wirkliches moralisches Wesen und die Moralität dient lediglich physiologischen Bedürfnissen. Aufgrund dieser Natürlichkeit der Gesellschaft selbst kann sie dem Menschen nicht dabei helfen, sich von der Natur zu lösen. Gerade wegen dieser Position setzt Hegel die Sittlichkeit als Ganzes immer noch mit der reinen Freiheit gleich, die von jeder konkreten Daseinsform losgelöst ist. Im Naturrechtsaufsatz liefert Hegel nur Tapferkeit als Antwort auf die Frage nach einer Ethik jenseits der natürlichen Sittlichkeit, und das System 171
GW 5, S. 354. GW 5, S. 354. 173 Laurence Dickey, Hegel: Religion, Economics, and the Politics of Spirit 1770–1807, Cambridge 1987, S. 237. 172
176
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der Sittlichkeit ist Hegels detaillierte Erläuterung dieser Antwort. Das Szenario, das sich Hegel derzeit vorstellen kann, ist also noch „die paradoxe Lösung“.174
III. Jenaer Systementwürfe I und Jenaer Systementwürfe III Ein Wandel in den Grundlagen des Hegelschen Denkens vollzieht sich nun in den Jenaer Vorlesungen von 1803/04 und 1805/06. Die offensichtlichste Veränderung ist, dass der Begriff des Bewusstseins die Schellingsche Terminologie aus dem System der Sittlichkeit ersetzt und Hegels Philosophie des Geistes sich in die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins verwandelt. Das bedeutet auch, dass Hegel keine absolute sittliche Natur mehr voraussetzt und die Potenzen vor der absoluten Sittlichkeit als unsittlich eingestuft werden, so dass die Potenz nur durch die Vernichtung der Differenzen der Natur zur höchsten Subjektivität- Objektivität gelangen kann. Und das bedeutet auch, dass nur der Stand des Freien zur absoluten Sittlichkeit übergehen und das Recht haben kann, diesen göttlichen Selbstgenuss zu teilen. In System der Sittlichkeit heißt es: „Indem das Volk die lebendige Differenz, und alle natürliche Differenz vernichtet ist, schaut das Individuum sich in jedem als sich selbst an.“175 Aufgrund des terminologischen Übergangs zum Begriff des Bewusstseins kann Hegel nun jede Potenz als die Erfahrung der Selbstverwirklichung des Geistes oder die Bewusstseinsgestaltungen als die Phänomene und das Selbstbewusstsein des Geistes beschreiben. Das bedeutet auch, dass die Momente der Differenz in der Sittlichkeit nicht vollständig als das Negative vernichtet, sondern als Stationen auf dem Weg der Selbstentfaltung des Geistes in diesen selbst aufgenommen werden. Der Geist selbst muss sein eigenes Entzweiungsmoment tolerieren, statt die Differenz wie bisher einfach zu beseitigen und hinter sich zu lassen. Jenaer Systementwürfe I kann als Beginn eines solchen Wandels angesehen werden. In der Philosophie des Geistes von Jenaer Systementwürfe I beschreibt Hegel zunächst theoretisch, wie das Bewusstsein sich von der Natur loslöste und schließlich durch Zeichen, Gedächtnis, Namen und Sprache zum „Absolutseyn“ gelangte.176 Zugleich beschreibt er auch den Entstehungsprozess des praktischen Bewusstseins aus der praktischen Perspektive. Ausgehend vom „thierische[n] Bewußtseyn“177, d. h. der unmittelbarsten Begierde, hat das praktische Bewusstsein schließlich durch die Arbeit „seine bleibende Existenz“178 im Werkzeug: „Das Werkzeug ist die existirende vernünftige Mitte existirende Allgemeinheit des praktischen Processes […]. Es ist das worin das Arbeiten sein Bleiben hat, was von der arbei 174 Ludwig Siep, „Der Freiheitsbegriff der praktischen Philosophie Hegels in Jena“, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt a. M. 1992, S. 165. 175 GW 5, S. 325. 176 GW 6, S. 296. 177 GW 6, S. 299. 178 GW 6, S. 300.
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tenden und bearbeiteten allein übrig bleibt, und worin ihre Zufälligkeit sich verewigt; es pflanzt sich in Traditionen fort, indem sowohl das begehrende, als das begehrte nur als Individuen bestehen, und untergehen.“179
In der Familie ist die Einheit von Theorie und Praxis, Mensch und Natur realisiert, die Familie ist auch die höchste Potenz des natürlichen Bewusstseins. Nach Hegels Ansicht ist die von der Familie erreichte Totalität des natürlichen Bewusstseins jedoch noch unvollständig, geprägt von der Besonderheit und Einzelheit der Natur. Daher wird der Übergang vom natürlichen Bewusstsein zum absoluten Bewusstsein immer noch durch den Kampf um Leben und Tod verwirklicht. Nur durch diesen Kampf kann das Bewusstsein von dieser Natürlichkeit gereinigt werden: „Es ist absolut nothwendig daß die Totalität zu der das Bewußtseyn in der Familie gelangt ist, sich in einer andern solchen Totalität des Bewußtseyns als sich selbst erkennt.“180 Über den Kampf heißt es: „Indem ich auf seinen Tod gehe, setze ich mich selbst dem Tode aus, wage ich mein eignes Leben; ich begehe den Widerspruch die Einzelnheit meines Seyns, und meines Besitzes behaupten zu wollen; und diese Behauptung geht in ihr Gegentheil über, daß ich diesen ganzen Besitz, und die Möglichkeit alles Besitzes und Genusses, das Leben selbst aufopere.“181
Daher versucht diese Negation immer noch, alle natürlichen Besonderheiten und Individualitäten zu vernichten. Nur wenn man es wagt, diese aufzugeben, kann der Einzelne eine wahre allgemeine Anerkennung erlangen und seine Indifferenz beweisen. Hegel bekräftigt hier noch einmal die Priorität von Praxis und Tapferkeit, die er bereits im Naturrechtsaufsatz und in System der Sittlichkeit proklamiert hatte. Hegel glaubt immer noch, dass Menschen, wenn sie wirklich Menschen werden wollen, aus dem gesellschaftlichen Sein heraustreten und zu einem politischen Lebewesen werden müssen. Die Politik ist der wahrhaft freie, geistige und unabhängige Aspekt des Menschen. In der Darstellung des absoluten Geistes brauchen wir uns nicht zu wundern, dass der absolute Geist als einzigartige Sub stanz präsentiert wird: „Der absolute Geist eines Volkes ist das absolut allgemeine Element, der Äther, der alle einzelnen Bewußtseyn in sich verschlungen, die absolute einfache lebendige, einzige Substanz.“182 In dieser absoluten Substanz „[sind] die Einzelnen […] nicht mehr.“183 In der Randbemerkung wird Hegels Ideal des griechischen bürgerlichen Republikanismus sehr deutlich dargestellt: „keine Komposition, kein Vertrag, kein stillschweigender oder ausgesprochener Urvertrag; der einzelne einen Theil seiner Freyheit aufgeben, sondern ganz, seine einzelne Freyheit ist nur sein Eigensinn sein Tod.“184 179
Ebd. GW 6, S. 307. 181 GW 6, S. 310. 182 GW 6, S. 315. 183 GW 6, S. 314. 184 GW 6, S. 315. 180
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Dies führt auch dazu, dass Hegel in Jenaer Systementwürfe I, obwohl er das System der Arbeit und der Bedürfnisse nicht mehr der Familie unterordnet, seine negative Darstellung aus dem System der Sittlichkeit wiederholt und das System der Arbeit und der Bedürfnisse immer noch als „ein wildes Thier“ und „ein ungeheures System“185 beschreibt. Das System der politischen Ökonomie macht die Bedürfnisse der Menschen abstrakter und allgemeiner, und dann wird die Arbeit einseitiger und mechanischer. Die Arbeitsteilung führt dazu, dass sich die Arbeiter von den lebendigen Verhältnissen trennen. Durch die Verbesserung der Effizienz der Arbeit wird die Arbeit selbst „umso todter, sie wird zur Maschinenarbeit, die Geschicklichkeit des einzelnen umso unendlich beschränkter, und das Bewußtseyn der Fabrikarbeiter wird zur letzten Stumpfheit herabgesetzt.“186 Der Gegensatz zwischen Tapferkeit und Arbeit ist immer noch extrem scharf. Die eigentliche Freiheit ist immer noch der unmittelbare Genuss und die Zerstörung des Arbeitsobjekts, während den Arbeitern in der Arbeit nur eine negative Bedeutung zukommen kann. Das Werk ist nur eine Entbehrung des Bewusstseins selbst, und das Bewusstsein kann daraus keine wirkliche allgemeine Bedeutung erlangen. Das bedeutet auch, daß das Prinzip der Subjektivität der Moderne dem Griechentum nach wie vor unterlegen ist. Um der Freiheit willen muss diese unorganische Natur im Staatsleben immer noch durch Krieg negiert werden. In der Philosophie des Geistes von Jenaer Systementwürfe III diskutiert Hegel zunächst den Entstehungsprozess des theoretischen und praktischen Selbstbewusstseins aus dem Horizont des Geistes. Wie in Jenaer Systementwürfe I beschreibt Hegel, wie die unmittelbarste Anschauung und das Sein sich verallgemeinern und durch Selbstvermittlung zu sich selbst zurückkehren können. Der Geist „[kehrt] aus dieser Unmittelbarkeit heraus, in sich zurück, [ist] für sich; er setzt sich frey von dieser Unmittelbarkeit, erstens sich entfernt davon, er ist wie das Thier, die Zeit, die für sich ist, und ebenso Freyheit der Zeit; diß reine Subject, das frey ist von seinem Inhalt; aber auch über diesen Herr, wie Raum und Zeit nicht sind, die das selbstlose sind; er geht von diesem Seyn [aus], und setzt dasselbe in sich als ein nichtseyendes, als ein aufgehobnes überhaupt.“187
Durch die Momente von Einbildungskraft, Bild, Gedächtnis, Zeichen, Sprache usw. wird der Geist schließlich zu einem allgemeinen Ich und zu der Intelligenz, die sich von allem Inhalt befreit: „Die Intelligenz hat auf diese Weise nicht einen andern Gegenstand mehr zu ihrem Inhalte, sondern sie hat sich erfaßt, und ist sich der Gegenstand.“188 Der Geist ist der Wille, der von einem unmittelbaren Trieb ausgehend den Prozess der Verallgemeinerung und Abstraktion der Arbeit und der Werkzeuge durchläuft: „Die blosse Befriedigung der Begierde ist reines Vernichten des Gegenstandes. Die Arbeit selbst als solche ist nicht nur Thätigkeit, (Säure); sondern in sich reflectirte, Hervorbrin 185
GW 6, S. 324. Ebd. 187 GW 8, S. 186. 188 GW 8, S. 200–201. 186
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gen […] darum das Werkzeug, Mittel vortrefflicher als der Zweck der Begierde, der einzelner ist; es umfaßt alle jene Einzelnheiten.“189
Wie in Jenaer Systementwürfe I betrachtet Hegel die Familie immer noch als die höchste Einheit dieses Teils, aber Familie und Liebe sind nur „das Element der Sittlichkeit, noch nicht sie selbst, es ist nur die Ahndung derselben.“190 Die Familie ist eine natürliche und unvollständige Einheit, während die Mitglieder der Familie noch ungebildet sind. Hegel weist noch einmal darauf hin, dass diese Naturwüchsigkeit nur durch den Kampf um Leben und Tod überwunden werden kann. Während es unter den Familienmitgliedern eine gegenseitige geistige Anerkennung gibt, steht die Familie als Ganzes anderen gleichartigen Einheiten gegenüber und befindet sich in einer gespannten und antagonistischen Beziehung zu ihnen. Die Beziehung zwischen Familienmitgliedern zum gemeinsamen Familiengut manifestiert sich insofern als Ausschluss und Negation anderer. Hegel nennt diesen Zustand „Naturzustand“.191 Hegel ist der Ansicht, dass der Naturzustand aufgehoben werden muss: exeundum e statu naturae192, denn im Naturzustand gibt es nur Besitz, kein Eigentum im Rechtssinne, und Besitz kann nur durch Anerkennung in Eigentum umgewandelt werden: „Die Besitzergreifung ist die sinnliche Bemächtigung, und sie hat durch das Anerkennen zur rechtlichen zu werden. Sie ist rechtliche nicht darum, weil sie ist.“193 Durch die Anerkennung werden die sinnliche Unmittelbarkeit und Einzelheit aufgehoben: „In dem Anerkennen hört das Selbst auf diß einzelne zu seyn; es ist rechtlich im Anerkennen, d. h. nicht mehr in seinem unmittelbaren Daseyn.“194 Hegel glaubt jedoch nach wie vor, dass eine solche Anerkennung nur durch den Kampf um Anerkennung verwirklicht werden kann, und nur durch Kampf um Leben und Tod kann man aus dem Naturzustand herauskommen. Im Naturzustand stehen die beiden Parteien des Kampfes in einem wechselseitigen Ausschlussverhältnis hinsichtlich des Besitzes; sie stehen einander gegenüber und sind unabhängig voneinander. Die ausgeschlossene Partei versucht, ihr eigenes Dasein wiederherzustellen, indem sie in den Besitz der anderen Partei eingreift und damit ihr Fürsichsein bestätigt. Die verletzte Partei erkennt auch, dass der Angriff gegen ihr Dasein, gegen ihr Fürsichsein gerichtet ist: „Er geht darauf, nicht mehr sein Daseyn herzustellen, sondern sein Wissen von sich, d. h. anerkannt zu werden.“195 Beide Seiten versuchen, ihr Fürsichsein zu bestätigen, so dass beide Seiten sich der Gefahr des Todes aussetzen müssen, um ihr Fürsichsein zu bestätigen, um Anerkennung zu erlangen: „Die Bewegung ist der Kampf auf Leben und Tod. Aus diesem geht jede [so] hervor, daß es das andre als reines Selbst gesehen – und es ist ein Wissen des Willens; und daß der Willen 189
GW 8, S. 205–206. GW 8, S. 210. 191 Vgl. GW 8, S. 213–214. 192 Vgl. GW 8, S. 214. 193 GW 8, S. 216. 194 GW 8, S. 215. 195 GW 8, S. 220. 190
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eines jeden wissender ist, d. h. in sich vollkommen in seine reine Einheit reflectirter […]. Dieser wissende Willen ist nun allgemeiner. Er ist das Anerkanntseyn.“196
Infolgedessen sind Individuum und Subjekt nicht mehr das beschränkte Sein, sondern werden allgemein als freie „Person“ anerkannt. Doch Hegels Darstellung des Kampfes um Leben und Tod ist hier offensichtlich anders als früher. Der Kampf um Leben und Tod führt nicht zu einer absoluten Sittlichkeit der Freiheit, sondern zum formellen Recht. Hegel stellt die organische Sittlichkeit als Totalität nicht mehr einfach der natürlichen Sittlichkeit gegenüber, sondern konstruiert ein Verhältnis der dialektischen Aufhebung zwischen ihnen. Daher ist Tapferkeit nicht mehr der entscheidende Faktor in der Konstruktion der Sittlichkeit, noch ist sie die Tugend an sich, die die Komponenten der Individualität vollständig vernichtet und so die unmittelbare Identität zwischen dem Individuum und dem Ganzen realisiert. Hegel diskutiert dann den unorganischen Teil der Sittlichkeit im wirklichen Geist. Der wirkliche Geist enthält die zweite Potenz der natürlichen Sittlichkeit aus dem System der Sittlichkeit, d. h. die Subsumtion des Begriffs unter die Anschauung, und dem entspricht seine Diskussion des Systems der Bedürfnisse in der allgemeinen Regierung. Der Inhalt bezieht sich hauptsächlich auf das abstrakte Recht und die bürgerliche Gesellschaft, wie sie in den Grundlinien dargestellt werden. Aus dieser Reihenfolge können wir sehen, dass Hegel versucht, die moderne Gesellschaft zu beschreiben, die auf der abstrakten gleichen Person basiert. Nach Hegels Ansicht ist das Hauptmerkmal der modernen Gesellschaft die Abstraktion, und jeder beschäftigt sich als abstrakter Mensch mit abstrakter Arbeit: „Es hat keine concrete Arbeit, sondern seine Krafft besteht im Analysiren, in der Abstraction, – in der Zerlegung des Concreten in viele abstracte Seiten.“197 Hegel analysiert auch die bürgerliche Gesellschaft entsprechend. Seiner Ansicht nach ist die moderne Gesellschaft mit der ständigen Verfeinerung und Vervielfältigung der Bedürfnisse zu einer Gesellschaft der Bildung geworden, in der die Menschen ständig wechselnde Meinungen, Geschmäcker und Moden verfolgen. Eine solche abstrakte Gesellschaft lässt die Menschen aber auch mechanischer, stumpfer werden und ihren Geist verlieren. Die Beherrschung notwendiger Arbeitsfähigkeiten kann das Überleben einer Person nicht sicherstellen. Ein Marktsystem voller Zufälligkeit wird eine ganze Klasse verschlingen. Die Kluft zwischen Arm und Reich führe zu der „höchste[n] Zerrissenheit des Willens, innre[r] Empörung und Haß“.198 Hegel sagt jedoch zum Anfang des wirklichen Geistes: „Der Geist kann wohl in eine Abstraction sich setzen, sich analysiren, und einer Existenz geben.“199 Rüdiger Bubner erläutert: „Die moderne Hervorhebung des Subjektivitätsprinzips verdankt sich bereits einer Abstraktion, welche die politischen Lebensformen auf 196
GW 8, S. 221. GW 8, S. 225. 198 GW 8, S. 244. 199 GW 8, S. 223. 197
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gelöst hat, von deren Unerläßlichkeit die Antike zu Recht überzeugt war.“200 Aber Hegel betrachtet diese Abstraktion als eine notwendige Stufe der Selbstverwirklichung des Geistes, so dass diese Abstraktion und Entfremdung des Menschen nicht mehr als eine Negation angesehen werden kann, die vom Staat im Zuge der Aufhebung vollständig vernichtet wird. Das Ideal des Griechentums wird jetzt durch ein Institutionalisierungsprogramm ersetzt. Der Staat sollte Auswege und neue Kanäle des Verkaufs in anderen Ländern suchen, wenn nötig unter Achtung der Gewerbefreiheit in den Markt eingreifen, und „das Eingreifen muß so unsichtbar als möglich sein“.201 Um die gesellschaftlichen Spannungen und Zerrissenheit zu lindern, sind Armensteuern und Anstalten erforderlich. In dem Abschnitt über die „Constitution“, die der Sittlichkeit entspricht, ist der Wandel von Hegels Position deutlicher zu erkennen. Hegel besteht immer noch darauf, dass die Sittlichkeit höher als das Individuum sein muss: „Der Geist ist die Natur der Individuen, ihre unmittelbare Substanz, und deren Bewegung und Nothwendigkeit.“202 Er folgt hier Rousseau und nennt die Gemeinschaft den allgemeinen Willen, der absolut höher sei als der Einzelne. Die Grundlage dieser Geltung ist jedoch nicht unbewusst und natürlich, sondern bewusst. Die Beziehung zwischen dem Individuum und der Gemeinschaft ist vernünftig und kognitiv. Die Gemeinschaft ist ein allgemeiner Wille, was bedeutet, dass ihre Geltung auf dem freien Willen beruht und der allgemeine Wille selbst die Entäußerung des individuellen Willens ist: „Der allgemeine Willen ist der Willen als Aller und Jeder, aber als Willen ist er schlechthin nur dieses Selbst, – das Thun des Allgemeinen ist ein Eins; der allgemeine Willen hat sich in dieses Eins zusammen zu nehmen. – Er hat sich zuerst aus dem Willen der Einzelnen zu constituiren als allgemeiner, so daß jener das Princip und Element scheint, aber umgekehrt ist er das Erste und das Wesen, und die einzelnen haben sich durch Negation ihrer, Entäusserung und Bildung, zum allgemeinen zu machen, er ist früher als sie, er ist absolut da für sie, sie sind gar nicht unmittelbar derselbe.“203
Daher konzipiert Hegel keine unmittelbare Identität zwischen Individuum und Staat mehr. Die Individualität kann ihre eigenen Ziele verfolgen und gleichzeitig ein allgemeines Leben führen. Die Bürger sind nicht mehr vom „wahren und freien Staat“204 isoliert. Das Streben nach besonderen Interessen hindert sie nicht daran, für das Allgemeine zu arbeiten. Hegel beneidet die Griechen um die schöne und glückliche Freiheit, in der Bürger und Volk perfekt identisch gewesen seien: „Das Volk ist zugleich aufgelöst in Bürger, und es ist zugleich das Eine Individuum, die Regierung – es steht nur in Wechselwirkung mit sich; – die Entäusserung der Einzelnheit des Willens ist unmittelbare Erhaltung desselben […]. Es ist das Reich der Sittlichkeit – je 200 Rüdiger Bubner, „Hegels politische Anthropologie“, in: ders., Innovationen des Idealismus, Göttingen 1995, S. 77. 201 GW 8, S. 244. 202 GW 8, S. 254. 203 GW 8, S. 256–257. 204 Vgl. GW 8, S. 257.
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der ist Sitte, unmittelbar eins mit dem Allgemeinen; – es findet kein Protestiren hier statt; jeder weiß sich unmittelbar als allgemeines; d. h. er thut auf seine Besonderheit Verzicht, ohne sie als solche, als dieses Selbst, als das Wesen zu wissen.“205
Er glaubt aber auch, dass „ein tieferer Geist“ „eine höhere Abstraction“ und „ein größerer Gegensatz und Bildung“ notwendig seien; die moderne Welt könne die undifferenzierte Identität von Subjekt und Realität nicht wiederholen.206 In der alten Zeit und der Platonischen Republik „[war] aber das sich selbst absolut Wissen der Einzelnheit, dieses absolute Insichseyn, […] nicht vorhanden – die Platonische Republik – ist wie der Lacedämonische Staat – diß Verschwinden der sich selbst wissenden Individualität.“207 Der Geist kann sich nur in der tiefsten Entzweiung verwirklichen, die Entzweiung ist keineswegs ein Übel für den Geist. Die Philosophie des Geistes von Jenaer Systementwürfe III kann man wirklich Philosophie des Geistes nennen, da sie die Entzweiung und das Selbst nicht mehr absolut ausschließt, um eine reine Freiheit zu verfolgen: „Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet.“208 Daher manifestiert sich das Wesen des modernen Staates in zwei Extremen. Einerseits ist es Einzelnen gestattet, ihre besonderen Zwecke zu verfolgen. Daher sollten in der modernen Welt die eigensinnige Individualität, das Prinzip der subjektiven Freiheit und „das geistige Band“209 der öffentlichen Meinung als „das Wesen des Nordens“ bewahrt werden. Andererseits kann Individualität „das Allgemeine als solches zum Zwecke [haben]“.210 So verwirklicht Hegel die Einheit von Substanz und Subjekt, und der Staat ist zur Wirklichkeit der konkreten Freiheit geworden.
C. Bildung: der absolute Durchgangspunkt subjektiver Substantialität In der Jenaer Rechtsphilosophie vollendet Hegel den Übergang von der natür lichen Sittlichkeit zur absoluten Sittlichkeit und stellt den Zusammenhang zwischen dem System der Bedürfnisse und dem Staat durch den Kampf um Leben und Tod her, während in der Rechtsphilosophie der Kern dieses Übergangs „Bildung“ ist. Der Begriff der Bildung ist ein wichtiger Begriff in Hegels Rechtsphilosophie211, und Hegel hat diesen Schlüssel- und Übergangsbegriff, den sogenannten „abso 205
GW 8, S. 262. Walter Jaeschke, „Early German Idealist Reinterpretation of the quarrel of the Ancients and Moderns“, in: CLIO 12/4 (1983), S. 326. 207 GW 8, S. 263. 208 Phänomenologie des Geistes, S. 36. 209 GW 8, S. 263. 210 GW 8, S. 261. 211 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 90; Allen Wood, Hegel’s ethi cal Thought, Cambridge 1990, S. 300. 206
C. Bildung: der absolute Durchgangspunkt subjektiver Substantialität
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luten Durchgangspunkt“, in die bürgerliche Gesellschaft eingebracht. Für Hegel kann nur durch Bildung das unmittelbare Gefühl und die Anschauung zum allgemeinen Denken und zur Sprache gelangen. Nur durch Bildung vermeidet der Mensch, dass er in zufälligen, subjektiven und willkürlichen, besonderen, heterogenen, individuellen Meinungen befangen bleibt. Wir können die Vollkommenheit des Menschen nicht wie die Romantiker auf die exzentrische Individualität, Ironie und Eitelkeit gründen, sondern müssen uns auf den Weg der Vernunft und der Sache selbst begeben, um zu vernünftigen und philosophischen Einsichten zu gelangen. So kann gesagt werden, dass Bildung die Brücke ist zwischen subjektiver Meinung und objektiver Wahrheit. Der Erfolg oder Misserfolg der Bildung bestimmt, ob die öffentliche Meinung geachtet oder verachtet wird. Allen Wood schreibt über den Zweck der Bildung: „The aim of education, then, even of the recent liberality in education which Hegel praises, should not be to indulge people’s ‚individuality‘, to encourage them to social nonconformity or rebelliousness, but rather to make them into rational citizens of a rational society, who are capable of taking their place beside fellow citizens whom they recognize and respect as equals, and to whom they can articulate the rational principles of the society in universal terms that all can understand and whose validity everyone must rationally acknowledge.“212
Zugleich hat der Begriff der Bildung in Hegels Denken selbst einen Transformationsprozess durchlaufen, der auch mit der Gesamttransformation von Hegels Denken zusammenhängt. Wie Birgit Sandkaulen betonte, kann sich der Begriff der Bildung entweder auf Entfremdung und Spaltung oder auf Versöhnung beziehen.213 Bildung kann im Bereich des Verstandes oder der Vernunft erfolgen. Diese Zweideutigkeit selbst ist der Schlüssel, um Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft zu verstehen, denn gerade diese Zweideutigkeit des Begriffs der Bildung zeigt den Übergangscharakter der bürgerlichen Gesellschaft. Bildung ist auch der Kernbegriff der Romantiker: Friedrich Schlegel bezeichnete die Bildung einst als „das höchste Gut und allein Nützlich“. Und Schiller vergleicht zu Beginn der Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen den gebildeten Menschen mit dem Wilden und dem Barbaren; der Wilde gehorcht völlig der Natur und existiert ohne eigenes Selbst; die einseitige Kantische Vernunft ist hingegen barbarisch, weil in ihr Vernunft und Natur völlig gegeneinanderstehen und die Vernunft die Natur mit ihrem eigenen Verstand beherrscht; aber dieser einseitige Begriff der Vernunft ordnet den Menschen dem vulgären empirischen Leben unter, während es das Ziel der ästhetischen Bildung ist, den Menschen zu einem gebildeten Menschen zu machen: „Der Wilde verachtet die Kunst und erkennt die Natur als seinen unumschränkten Gebieter; der Barbar verspottet und entehrt die Natur, aber, verächtlicher als der Wilde, fährt er häufig 212
Allen Wood, „Hegel on Education “, in: Philosophy as Education, hg. v. Amélie O. Rorty, London 1998, S. 314. 213 Birgit Sandkaulen, „Bildung bei Hegel – Entfremdung oder Versöhnung?“, in: Hegel gegen Hegel, Hegel-Jahrbuch 2014, S. 430–438.
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genug fort, der Sklave seines Sklaven zu sein. Der gebildete Mensch macht die Natur zu seinem Freund und ehrt ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügelt.“214
Was Schiller zu überwinden erwartete, ist die Notwendigkeit des moralischen Gesetzes; er möchte einen Zustand der Harmonie zwischen Vernunft und Sinnlichkeit erreichen, der auch das Ziel der Bildung ist. Nach Schillers Worten ist es auch ein Zustand der Vernunft, ein Zustand des vollkommenen Ganzen, nämlich der Spieltrieb, der die beiden Triebe, den Formtrieb und den sinnlichen Trieb, miteinander vermittelt. Auf diese Weise soll ein einheitlicher Zustand erreicht werden, in den Worten Schillers „die Einheit der Realität mit der Form, der Zufälligkeit mit der Nothwendigkeit, des Leidens mit der Freiheit“215, ohne dass Freiheit und Natur einander beschränken. Aber in Hegels frühen Schriften hat die Bildung offensichtlich eine negative Färbung; an diesem Punkt ist Hegel erheblich beeinflusst von Rousseaus Kritik der Bildung. Ein wichtiges Thema der Rousseauschen Arbeiten ist der Vergleich zwischen dem natürlichen Menschen und dem gebildeten Menschen. Verglichen mit dem selbstischen natürlichen Menschen ist der gebildete und gesellschaftliche Mensch der Meinung unterworfen: „Dies nämlich ist die wirkliche Ursache all dieser Unterschiede: Der Wilde lebt in sich selbst; der gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der anderen zu leben; und er bezieht sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl seiner eigenen Existenz.“216 Hegel betrachtet die Bildung als Manifestation der Reflexionsphilosophie, die die Entzweiung der Zeit widerspiegelt, und in der Differenzschrift spricht er von der „Bildung der Zeit“, die in Philosophie, Religion, Kunst und anderen Aspekten verkörpert und durch eine geteilte, entfremdete Weltanschauung charakterisiert ist: „Je weiter die Bildung gedeiht, je mannigfaltiger die Entwicklung der Äußerungen des Lebens wird, in welche die Entzweiung sich verschlingen kann, desto größer wird die Macht der Entzweiung, desto fester ihre klimatische Heiligkeit, desto fremder dem Ganzen der Bildung und bedeutungsloser die Bestrebungen des Lebens, sich zur Harmonie wiederzugebären.“217
So glaubt Hegel, dass die Bildung der durch Aufklärung herbeigeführte Nihilismus der Metaphysik der Subjektivität sei. In Glauben und Wissen erklärt Hegel, dass Kants, Fichtes und Jacobis philosophisches System eine Art „System der Bildung“ sei. Aufgrund der Entzweiung von Subjekt und Objekt, Natur und Freiheit, Unendlichkeit und Endlichkeit kann das System der Bildung die erstrebte Vereinigung mit der Vernunft nicht erreichen und das Absolute nicht erfassen, sondern verursacht die totale Vulgarisierung der Welt. Die Unendlichkeit ist eine Leere, und die endliche Welt wird vollständig von rechnerischer Vernunft beherrscht: 214
Friedrich Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 12, Stuttgart 1860, S. 12. 215 Friedrich Schiller, Briefe über die Ästhetische Erziehung des Menschen, in: ders., Sämtliche Werke Bd. 12, Stuttgart 1860, S. 54. 216 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, S. 112. 217 Jenaer Schriften, S. 22–23.
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„Nach dem festen Prinzip dieses Systems der Bildung, daß das Endliche an und für sich und absolut und die einzige Realität ist, steht also auf einer Seite das Endliche und Einzelne selbst in der Form der Mannigfaltigkeit, und in diese wird also alles Religiöse, Sittliche und Schöne geworfen, weil es fähig ist, vom Verstande als ein Einzelnes begriffen zu werden, – auf der anderen Seite eben diese absolute Endlichkeit in der Form des Unendlichen, als Begriff der Glückseligkeit. Das Unendliche und Endliche, die nicht in der Idee identisch gesetzt werden sollen, denn jedes ist absolut für sich, stehen auf diese Weise in der Beziehung des Beherrschens gegeneinander, denn im absoluten Gegensatz derselben ist der Begriff das Bestimmende. Aber über diesem absoluten Gegensatz und den relativen Identitäten des Beherrschens und der empirischen Begreiflichkeit steht das Ewige; weil jener absolut ist, so ist diese Sphäre das Nachzuberechnende, Unbegreifliche, Leere, ein unerkennbarer Gott, der jenseits der Grenzpfähle der Vernunft liegt, – eine Sphäre, welche nichts ist für die Anschauung, denn die Anschauung ist hier nur eine sinnliche und beschränkte, ebenso nichts für den Genuß, denn es gibt nur empirische Glückseligkeit, nichts für das Erkennen, denn was Vernunft heißt, ist nichts als Berechnen alles und eines jeden für die Einzelheit und das Setzen aller Idee unter die Endlichkeit.“218
Birgit Sandkaulen resümiert: „Hegel reduziert Bildung auf das entzweiende Unwesen des Verstandes, in dem er die Depravation der Moderne am Werke sieht.“219 Aber wie Gadamer betont, ist für den Hegel der Reifezeit klar, „daß nicht die Entfremdung als solche, sondern die Heimkehr zu sich, die freilich Entfremdung voraussetzt, das Wesen der Bildung ausmacht“.220 Das Ziel des Geistes ist es, sich mit sich selbst zu versöhnen, sich in seinem Anderssein zu erkennen, so dass in der Phänomenologie des Geistes die Bildung nicht mehr nur eine negative Bedeutung hat, vielmehr die Phänomenologie des Geistes selbst als eine Geschichte der Bildung gesehen wird: „Die Reihe seiner Gestaltungen, welche das Bewußtsein auf diesem Wege durchläuft, ist vielmehr die ausführliche Geschichte der Bildung des Bewußtseins selbst zur Wissenschaft.“221 Die Phänomenologie selbst kann als Bildungsroman gesehen werden, außer dass es nicht um einzelne Menschen geht, sondern um Bewusstseinsgestaltungen, die aus jenen Gegensätzen hervorgehen; dieser lange Weg der Bildung ist ebenso „reiche als tiefe Bewegung, durch die der Geist zum Wissen gelangt“.222 Im Geist-Kapitel beschreibt Hegel die Welt von Ludwig XIV. bis zur Französischen Revolution in dem Abschnitt „Der sich entfremdete Geist: Bildung“, der den Zusammenhang zwischen Bildung und Entfremdung erläutert.223 Im Gegensatz zur ersten geistigen Welt, in der das Individuum und die Sittlichkeit unmittelbar identisch und in einer glücklichen Schönheit sind, ist diese Welt eine entzweite und den Geist von sich selbst entfremdende Welt, das heißt zu dieser Zeit kann das Selbst, anders als in der sittlichen Welt, nicht 218
Jenaer Schriften, S. 293–294. Birgit Sandkaulen, „Bildung bei Hegel – Entfremdung oder Versöhnung?“, in: Hegel gegen Hegel, Hegel-Jahrbuch 2014, S. 432. 220 Hans-Georg Gadamer, Wahrheit und Methode I, Tübingen 1990, S. 20. 221 Phänomenologie des Geistes, S. 73. 222 Phänomenologie des Geistes, S. 63. 223 In Jenaer Systementwürfe III weist Hegel darauf hin, dass „die Bildung überhaupt Entäusserung seines unmittelbaren Selbsts“, GW 8, S. 254–255. 219
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wegen seinem unmittelbaren und natürlichen Sein anerkannt werden und dieses unmittelbare Selbst muss von sich selbst entfremdet werden, indem es sich selbst bildet, um eine Allgemeinheit zu erlangen: „nicht jenes unmittelbare Anerkanntsein und Gelten des Selbstbewußtseins, darum weil es ist; sondern daß es gelte, ist durch die entfremdende Vermittlung, sich dem Allgemeinen gemäß gemacht zu haben“.224 Nur wenn er in die Welt der Bildung eintritt, die die moderne Welt ist, kann der Einzelne durch Bildung allgemein sein, allgemein handeln und an politischen und wirtschaftlichen Aktivitäten teilnehmen, andernfalls kann er nicht in die Welt aufgenommen werden; die Welt der Bildung ist also auch eine Welt der Selbstdisziplin. Nun muss sich der Geist in eine Welt der Entgegensetzung und Entzweiung bewegen: „Dieser Geist bildet sich daher nicht nur eine Welt, sondern eine gedoppelte, getrennte und entgegengesetzte aus.“225 Daher sind das Subjekt und die Welt, mit der das Subjekt konfrontiert ist, einander entfremdet, und aufgrund dieser Entzweiung ist die Welt der Entfremdung schließlich in die „reine Bildung“ eingetreten, in der das Gute und das Schlechte, das edelmütige Bewusstsein und das niederträchtige Bewusstsein bis zum Nihilismus relativiert werden: „Er ist diese absolute und allgemeine Verkehrung und Entfremdung der Wirklichkeit und des Gedankens; die reine Bildung. Was in dieser Welt erfahren wird, ist, daß weder die wirklichen Wesen der Macht und des Reichtums noch ihre bestimmten Begriffe, Gut und Schlecht, oder das Bewußtsein des Guten und Schlechten, das edelmütige und niederträchtige, Wahrheit haben; sondern alle diese Momente verkehren sich vielmehr eins im andern, und jedes ist das Gegenteil seiner selbst.“226
Zu dieser Zeit unterscheidet sich Hegels Begriff der Bildung offensichtlich von demjenigen Rousseaus. Die Bildung ist das notwendige Moment im Prozess der Selbstverwirklichung des Geistes, und die Sozialisierung, die der Mensch durch Bildung erreicht, ist nicht nur ein Verlust, wie Hegel sagt: „Wodurch also das Individuum hier Gelten und Wirklichkeit hat, ist die Bildung. Seine wahre ursprüngliche Natur und Substanz ist der Geist der Entfremdung des natürlichen Seins. Diese Entäußerung ist daher ebenso Zweck als Dasein desselben.“227
Das bedeutet auch, dass der Prozess der Selbstbildung für den Geist notwendig ist, um zur Allgemeinheit zu gelangen, und es ist notwendig, dass der Geist aus seinem unmittelbaren natürlichen Sein herauskommt, denn „[d]ie Welt der Bildung ist die Welt der Moderne, in der der Geist erstmals in ein artikuliertes Verhältnis zu sich selbst tritt und ein volles Bewußtsein seiner selbst gewinnt. Dies bedeutet, daß sich diese Welt der bewußt vollzogenen Aufhebung aller natürlichen oder traditionsgebundenen Voraussetzungen verdankt.“228 Die Entfremdung des Geistes selbst ist ein Moment in der Selbstbildung des Geistes: 224
Phänomenologie des Geistes, S. 363–364. Phänomenologie des Geistes, S. 361. 226 Phänomenologie des Geistes, S. 385. 227 Phänomenologie des Geistes, S. 364. 228 Birgit Sandkaulen, „Bildung bei Hegel – Entfremdung oder Versöhnung?“, in: Hegel gegen Hegel, Hegel-Jahrbuch 2014, S. 432. 225
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„In der philosophischen Ansicht des Geistes als solchen wird er selbst als nach seinem Begriffe sich bildend und erziehend betrachtet und seine Äußerung als die Momente seines Sich-zu-sich-selbst-Hervorbringens, seines [Sich-] Zusammenschließens mit sich, wodurch er erst wirklicher Geist ist.“229
In der Rechtsphilosophie ist der Ort der Bildung in der bürgerlichen Gesellschaft, und die bürgerliche Gesellschaft ist das Moment der Selbstbildung des Geistes. In der Phänomenologie des Geistes hat Hegel das Wesen der modernen Marktwirtschaft berührt. Der Reichtum ist auch ein Teil der modernen Welt der Bildung und daher „ebenfalls allgemeines geistiges Wesen“230, d. h. um seinen eigenen Bedürfnissen gerecht zu werden, muss der Mensch auch an diesem allgemeinen System des Reichtums teilnehmen und für die Bedürfnisse und den Genuss aller Menschen arbeiten; daher werden seine eigennützigen Handlungen zu einem Allgemeinen: Der Reichtum ist „ebenso das beständig werdende Resultat der Arbeit und des Tuns Aller, wie es sich wieder in den Genuß Aller auflöst. In dem Genusse wird die Individualität zwar für sich oder als einzelne, aber dieser Genuß selbst ist Resultat des allgemeinen Tuns, so wie er gegenseitig die allgemeine Arbeit und den Genuß aller hervorbringt.“231
In der Rechtsphilosophie weist Hegel darauf hin, dass die bürgerliche Gesellschaft auf zwei Prinzipien beruht, erstens der Verfolgung besonderer Interessen durch besondere Menschen und zweitens der formellen Allgemeinheit der Vermittlung mit anderen. Bildung besteht darin, dass die Privatpersonen, die durch die bürgerliche Gesellschaft, d. h. durch das Allgemeine vermittelt sind, „selbst ihr Wissen, Wollen und Tun auf allgemeine Weise bestimmen und sich zu einem Gliede der Kette dieses Zusammenhangs machen“.232 So ist die bürgerliche Gesellschaft nicht nur ein Mittel des Eigeninteresses, das andere lediglich als Instrument betrachtet, sondern in ihr manifestiert sich eine Gemeinsamkeit und gegenseitige Abhängigkeit, die dazu Anlass gibt, anderen heimlich zu dienen, und in dieser Hinsicht betrachtet Hegel die bürgerliche Gesellschaft als einen äußerlichen Staat, einen Notstaat und Verstandesstaat.233 Hegels Definitionen von Bildung und bürgerlicher Gesellschaft gehen jedoch von zwei Gesichtspunkten aus: Der eine ist, dass die Bildung der bürgerlichen Gesellschaft ein Verderben ist, und der andere, dass die Bildung der bürgerlichen Gesellschaft ihr Selbstzweck ist. Einerseits widersetzt sich Hegel Rousseau und den Kynikern, die glauben, dass die Bildung als solche schon eine Zerstörung des reinen Naturzustandes sei. Rousseau und die Kyniker fordern die Einfachheit, sie nehmen teil an einer geläufigen geschichtlichen Denkfigur, die in jeder Bildung nur „die Vervielfältigung der Bedürfnisse und Genüsse und die dadurch eintretende Verdorbenheit“234 sieht. 229
Enzyklopädie III, § 389, S. 39. Phänomenologie des Geistes, S. 368. 231 Ebd. 232 Rechtsphilosophie, § 187, S. 343. 233 Vgl. Rechtsphilosophie, § 183, S. 340. 234 Wan, S. 114. 230
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Sie zeigen sich als „das entgegensetzte Moment“ der Zivilisationsentwicklung und sind durch ihre Umstände bedingt. Ihr Anspruch ist es, aus „diesem Grad der Bildung“235 in den Naturzustand zurückzukehren; Hegel hingegen hat eine Dialektik des Fortschritts im Sinn: „Es ist notwendig, nicht in dieser Sphäre zu bleiben, aber auch es auszuhalten, daß in sie übergegangen wird. Es ist notwendig, daß die Völker aus dem einfachen Naturzustand in Vervielfältigung der Bedürfnisse übergehen; aber eben über diese Natur, über diesen Naturzustand soll sich der Mensch erheben.“236
Der grundlegende Fehler des Rousseauismus ist, dass er die Geschichte „noch ohne Rücksicht des Moments der Befreiung, die in der Arbeit liegt“237 konzipiert. „Das Wesentliche, der eigentlich höhere Zweck der Arbeit, ist die Bildung, die für den Menschen daraus hervorgeht.“238 Hegel ordnet nun nicht mehr, wie im System der Sittlichkeit, seine Darlegung über die Arbeit und das System der Bedürfnisse der Einheit der Familie in der natürlichen Sittlichkeit unter; die bürgerliche Gesellschaft im modernen Sinne wird vielmehr von der Dimension des oikos befreit. Die Tiere zerstören einfach und unmittelbar Objekte, um ihren Bedürfnissen gerecht zu werden, und die Tiere beschränken sich auch auf eine sehr begrenzte Lebensumgebung und haben einen begrenzten Aktionskreis; ihre Bedürfnisse sind nur instinktive Bedürfnisse, und sie haben kein Motiv, diese Bedürfnisse zu erweitern oder zu verfeinern. Die Art und Weise, wie Tiere ihre Bedürfnisse befriedigen, ist also ganz natürlich. Im Vergleich zu Tieren hat der Mensch ein breiteres Spektrum von Handlungsmöglichkeiten: „Der Mensch hebt sich über den Boden, er ist fähig, auf dem ganzen Erdboden zu wohnen.“239 Eine Begrenzung auf die bloß natürlichen menschlichen Bedürfnisse ist zwar möglich, aber aufgrund ihrer Allgemeinheit, die die Natürlichkeit überschreitet, enden die menschlichen Bedürfnisse nicht in dieser reinen Natürlichkeit. Das einfachste praktische Gefühl ist eine Trennung der Identität vom unbewussten Zustand und die daraus resultierende unmittelbare Vernichtung dieser Trennung und der Genuss der daraus resultierenden Bedürfnisbefriedigung. Der rein unbewusste Zustand der Indifferenz ist ein Zustand der Unbildung, der von Tieren und Babys geteilt wird. Dann aber sind die Menschen sind nicht mehr zufrieden mit der einzelnen, einmaligen, rein unmittelbaren Befriedigung der Begierde, stattdessen hoffen sie, die Arbeit als ein Moment der Befreiung nutzen zu können, um den Bedürfnissen auf differenziertere und raffiniertere Weise gerecht zu werden. In der Rechtsphilosophie weist Hegel sogar darauf hin, dass diese Mittel selbst in „relative Zwecke und abstrakte Bedürfnisse“240 umgewandelt werden. Aufgrund der Befreiung durch Arbeit müssen die Bedürfnisse in die Sphäre der Meinung übersetzt werden, in gesellschaftliche 235
Wan, S. 115. Ebd. 237 Rechtsphilosophie, § 194 Anm., S. 350. 238 Bl, S. 160. 239 Wan, S. 118. 240 Rechtsphilosophie, § 191, S. 349. 236
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Bedürfnisse, auch wenn die Menschen immer noch „unmittelbare oder natürliche Bedürfnisse“ haben; die geistigen Bedürfnisse der Vorstellung werden „als das Allgemeine zum Überwiegenden“.241 Die geistigen Bedürfnisse der Vorstellung sind zudem Ausdruck von Meinungen, die in zwei Richtungen weisen. Zum einen ist dies „die Forderung der Gleichheit mit den anderen“.242 Menschen können es nicht ertragen, dass ihre Meinungen nicht als gleichwertig angesehen werden; sie wollen als gleichberechtigte Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft anerkannt werden. Auf der anderen Seite wollen die Menschen sich hervorheben, d. h. andere übertreffen oder zumindest anders sein als andere, und allein durch die Anpassung an eine homogenisierte Meinung wird diese Begierde nicht befriedigt. Diese verschiedenen Meinungsbedürfnisse zeigen sich als die Sphäre der menschlichen Freiheit, in der die Menschen sich den Meinungen des anderen stellen; in diesem Sinne werden Meinungen auch von den Menschen selbst als eine Notwendigkeit geschaffen, und dieses Lebensfeld ist der Bereich der „allgemeinen Meinung“, der bürgerlichen Gesellschaft. So betrachtet sind die Bedürfnisse der bürgerlichen Gesellschaft als System der Bedürfnisse kein rein materieller Bedarf mehr, sondern eine Meinung: „Es ist zuletzt nicht mehr der Bedarf, sondern die Meinung, die befriedigt werden muß.“243 Infolgedessen hat sich das Feld der bürgerlichen Gesellschaft auch in eine Sphäre der „öffentlichen Meinung“ verwandelt, die ständig unterschiedliche Meinungen vertritt und sie auf unterschiedliche Weise befriedigt. Hegel weist darauf hin, dass die Individuen an „dem allgemeinen, bleibenden Vermögen“244 der bürgerlichen Gesellschaft durch theoretische Bildung und praktische Bildung teilnehmen, um ihre eigene Geschicklichkeit der Arbeit zu entwickeln. Der Vergleich zwischen den Arbeitsfähigkeiten des modernen Menschen und der barbarischen Faulheit zeigt den modernen Grad der Bildung; der Ungeschickte „bringt immer etwas Anderes heraus, als er will, weil er nicht Herr ist über sein eigenes Thun“.245 Wissenschaft und Geschicklichkeit, die aus der Bildung abgeleitet sind, sind der Stolz der Menschheit und zeigen den allgemeinen Aspekt des Menschen. Sie eröffnen der Menschheit einen Zuwachs an Möglichkeiten: „Wenn man den Gebildeten vergleicht mit dem Ungebildeten in Ansehung seiner Tätigkeit, so kann man wohl sagen, jener erlebt in einem Tage mehr als dieser in seinem ganzen Leben.“246 Erst durch die Bedeutung der Arbeit für die subjektive Freiheit, durch die bürgerliche Gesellschaft, durch dieses System der Bedürfnisse und Meinungen und durch „eine wirtschaftsorientierte Gemeinschaftsform“247 wird der Mensch wirk 241
Rechtsphilosophie, § 194, S. 350. Rechtsphilosophie, § 193, S. 350. 243 Rechtsphilosophie, § 190 Zusatz, S. 348. 244 Rechtsphilosophie, § 199, S. 353. 245 Ho, S. 608. 246 Bl, S. 158. 247 Riccardo Pozzo, „‚Bourgeois‘ oder ‚citoyen‘? Zu Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft“, in: Praktische Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel und Riccardo Pozzo, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 587. 242
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lich menschlich: „Es ist also erst hier und auch eigentlich nur hier vom Menschen in diesem Sinne die Rede.“248 Die bürgerliche Gesellschaft selbst ist eine moderne Schöpfung. Hegel bezeichnet sie als ein Feld, „wo der Verstand der subjektiven Zwecke und moralischen Meinungen seine Unzufriedenheit und moralische Verdrießlichkeit ausläßt“.249 Der grundlegende Standpunkt der Moralität ist, dass jedes Subjekt eine unabhängige, selbstische Meinung über sein Wohl und sein Gutes hat, und das Wohl und das Gute sind nur durch seine Zustimmung, Anerkennung und Meinung das wirkliche Wohl und das wirkliche Gute, so dass jeder Mensch als ein Selbstbestimmer seines eigenen Wohls und Guten definiert ist. Wie wir oben in unserer Darstellung der Moralität erklärt haben, bedeutet Moralität, dass die Menschen sich von der Objektivität loslösen und zum Selbstbewusstsein gelangen. Dieses Bewusstsein manifestiert sich in der Tatsache, dass das Subjekt über das Wohl nach seiner eigenen Absicht entscheidet, um seine eigene Befriedigung in der Besonderheit zu erlangen; das Subjekt strebt nach dem Wohl durch den besonderen Inhalt des Zwecks. Das schließt ein, dass sich das Subjekt von der Allgemeinheit der natürlichen Sittlichkeit entfernt hat und rein für sich über das Gute bestimmt, so dass jeder seine Besonderheit verfolgen und seine Meinung nach seinem eigenen Gewissen äußern kann. Das ist der Unterschied zwischen Modernität und Antike. Hegel macht deutlich, dass dieses Recht der subjektiven Freiheit das „Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und [ein wesentliches Moment] der politischen Verfassung“250 ausmacht. Dass die bürgerliche Gesellschaft diese subjektive Meinungsfreiheit und ihr Bewegungsfeld zulässt, ist ein Zeichen für die Unterscheidung zwischen Antike und Moderne: „Das Recht der Besonderheit des Subjekts, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjektiven Freiheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit.“251
Ein wichtiger Leitfaden von Hegels frühen Schriften ist der Gegensatz zwischen den beiden Standpunkten der Sittlichkeit und der Moralität, und er versucht, die Privatisierung und Entfremdung des modernen Lebens durch Rückgriff auf die Polis-Sittlichkeit des Griechentums zu überwinden, was auch dazu führt, dass Hegel zunächst nicht in der Lage ist, eine positivere Haltung gegenüber der bürgerlichen Gesellschaft hinsichtlich der subjektiven Freiheit, des moralischen Standpunkts und ihrer sozialen Wirklichkeit einzunehmen. Hegel hat in der Jenaer Zeit vor allem die absolute Natur der Sittlichkeit und die politisch-militärische Lebensführung bewundert, die dem Stand der Freien entsprach, der gerade die Spaltung der sittlichen Gemeinschaft durch die private Meinung zu überwinden versuchte, und Hegel konzipierte wie Platon das absolute allgemeine Staatsleben. Die Unruhe, die durch diese Art von Meinung verursacht wird ist für ihn 248
Rechtsphilosophie, § 190 Anm., S. 348. Rechtsphilosophie, § 189 Anm., S. 347. 250 Rechtsphilosophie, § 124 Anm., S. 233. 251 Ebd. 249
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zunächst kein Thema. Und wie Allen Wood erläutert, hat sich Hegel mit seiner Studie der bürgerlichen Gesellschaft einer positiveren Haltung gegenüber moralischen Positionen zugewandt: „What is new in the ethical writings after 1816 is Hegel’s awareness that the bourgeois moral attitude represents something unique to modern ethical life that constitutes the essential superiority of modern European culture (the ‚Germanic world‘).“252 Die modernen Staaten verschlingen nicht mehr ganz den Bereich der Meinung, wie es Platons Republik tat, sondern erlauben es jedem, seine Meinungen im Allgemeinen und seine Meinungen über Interessen und Bedürfnisse im Besonderen zum Ausdruck zu bringen. Die Prinzipien des antiken Staates waren zu einfach und bewirkten keine Entzweiung zwischen den beiden Identitäten des Staatsbürgers und des Bourgeois. Am kritischsten ist dabei die Frage des Luxus. Hegel glaubte nicht, wie traditionelle politische Denker, dass Luxus ein Übel war, das ausgerottet werden muss, um die Einfachheit der Sitte zu erhalten. Vielmehr lautet seine Einschätzung: „Das Hervortreten des Luxus ist eine notwendige Erscheinung; er hat das Moment der Befreiung in sich, daß der Mensch sich auf eine allgemeine Weise und überdies nicht zur unmittelbaren Naturnotwendigkeit verhält.“253 Zu diesem Zeitpunkt ist der Hegel, der versucht, die „Tragödie im Sittlichen“ der politischen Ökonomie mittels der absoluten Sittlichkeit zu überwinden, nicht mehr zu erkennen. Hegel schien sich in seiner Jugend zu sagen: „Die Klagen über den Luxus erscheinen so von einer Seite als eine leere, nur moralische Deklamation.“254 Domenico Losurdo erläutert dazu: „Unter den Bedingungen der modernen Welt kann die Verurteilung des Luxus und die Ablehnung der Vervielfältigung der Bedürfnisse eine Sekte von mehr oder weniger tugendhaften bourgeois, von ‚Privatpersonen‘ hervorbringen, nicht aber jenes ‚Leben im und fürs Allgemeine‘, das der reife Hegel weiterhin den christlichen Mönchsgemeinschaften entgegenstellt.“255 Aus der Perspektive der Logik handelt es sich immer noch um ein Niveau des unmittelbaren Seins: „Diese Staaten […] sind überhaupt auf ursprüngliche natürliche Anschauung gebaut, konnten die Entzweiung derselben und die unendliche Reflexion des Selbstbewußtseins in sich nicht aushalten und erlagen dieser Reflexion, wie sie sich hervorzutun anfing, der Gesinnung und dann der Wirklichkeit nach, weil ihrem noch einfachen Prinzip die wahrhaft unendliche Kraft mangelte.“256
Im modernen Staat erzeugt dieser Prozess der Entzweiung „die Erscheinungswelt des Sittlichen“257 und „die entfremdete Sittlichkeit“258, und insofern ist die 252
Allen Wood, Hegel’s ethical Thought, Cambridge 1990, S. 134. Bl, S. 155. 254 Bl, S. 161. 255 Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Moderne, Frankfurt a. M. 2000, S. 240. 256 Rechtsphilosophie, § 185 Anm., S. 341–342. 257 Rechtsphilosophie, § 181, S. 338. 258 Rin, S. 114. 253
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bürgerliche Gesellschaft die Verkörperung der Tiefe und Stärke des modernen Staates. Die bürgerliche Gesellschaft ist nicht mehr wie beim jungen Hegel ein Hindernis, das durch absolute Sittlichkeit überwunden werden sollte, sondern sie ist selbst ein Merkmal der Sittlichkeit. Die Sittlichkeit als das Wesen erscheint notwendig in dieser Sphäre, denn: „Das Wesen muß erscheinen […]. Das Scheinen ist die Bestimmung, wodurch das Wesen nicht sein, sondern Wesen ist.“259 Der Staat basiert nicht mehr auf natürlicher Identität, sondern auf einer allgemeinen vernünftigen Staatsverfassung, und der Bourgeois als Privatperson wird ebenfalls aus seiner Einschließung in das Verhältnis der Familie befreit. Die bürgerliche Gesellschaft als „das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“ gibt „der Besonderheit das Recht, sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen“260, und die Äußerung der Bedürfnisse und Meinungen aller sowie das Streben nach ihrer Erfüllung stellen den Verlust der natürlichen Sittlichkeit dar. Andererseits wehrt sich Hegel auch dagegen, dass „die Bedürfnisse, deren Befriedigung, die Genüsse und Bequemlichkeiten des partikularen Lebens usf.“ als absoluter Zweck der Bildung betrachtet werden: „Der Vernunftzweck ist deswegen weder jene natürliche Sitteneinfalt noch in der Entwicklung der Besonderheit die Genüsse als solche, die durch die Bildung erlangt werden.“261 In der Einleitung der Rechtsphilosophie weist Hegel darauf hin, dass „der absolute Wert der Bildung“ darin liege, die Rohheit und Barbarei der Triebe zu reinigen262, um die Allgemeinheit des Denkens hervorzubringen. Die Bildung erreiche aber nur „die formelle Allgemeinheit“263 und „die Form der Allgemeinheit, die Verständigkeit“.264 „Das Interesse der Idee hierin […] ist der Prozeß, die Einzelheit und Natürlichkeit derselben durch die Naturnotwendigkeit ebenso als durch die Willkür der Bedürfnisse zur formellen Freiheit und formellen Allgemeinheit des Wissens und Wollens zu erheben, die Subjektivität in ihrer Besonderheit zu bilden.“265
Hegel glaubt also, dass die Bildung keine Versöhnung der Idee ist, sondern nur „das Interesse der Idee“266; dies ist nur die Stufe des Verstandes oder „das Scheinen der Vernunft“. „Der Verstand ist die Form, in der die Allgemeinheit hier erscheint. Es ist das die Stufe, wo das Natürliche abgearbeitet wird, die Stufe der Bildung. Es ist insofern das Scheinen der Vernunft, die wir hier betrachten, oft die Vernünftigkeit selbst. Dieser Schein der Vernunft ist der Verstand. “267
259
Enzyklopädie I, § 131, S. 261. Rechtsphilosophie, § 184, S. 340. 261 Rechtsphilosophie, § 187 Anm., S. 344. 262 Rechtsphilosophie, § 20, S. 71. 263 Rechtsphilosophie, § S. 343. 264 Rechtsphilosophie, § 187, S. 344. 265 Rechtsphilosophie, § 187 Anm., S. 343. 266 Ebd. 267 Rin, S. 113. 260
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Auf dem Boden der Vermittlung der bürgerlichen Gesellschaft gibt es auch die „hineinscheinende Vernunft“268, die die Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft nicht erkennen können. Als System der Bedürfnisse zielt die bürgerliche Gesellschaft auf das unendliche Streben nach dem „Comfortablen“ ab, schafft ständig künstliche Bedürfnisse, ein komplettes „System der Meinungen“. Hegel weist jedoch darauf hin, dass die Bildung sich zugleich „als immanentes Moment des Absoluten und ihren unendlichen Wert erweist“269, was bedeutet, dass die bürgerliche Gesellschaft als „die Verfassung im Besonderen“ „die entwickelte und verwirkliche Vernünftigkeit“ sei. Weil die besonderen Interessen und Rechte des Einzelnen befriedigt worden sind, ist dieses Moment der Differenz also ins Absolute aufgenommen und „darum die feste Basis des Staats sowie des Zutrauens und der Gesinnung der Individuen für denselben“270, und wenn die Entzweiung und die formelle Allgemeinheit der Bildung fehlte, würde der Staat gleichsam in der Luft schweben. Durch diese Bestimmung hat Hegel der Bildung eine wichtigere Rolle zugewiesen; sie bietet die Möglichkeit der höheren Befreiung. Die Bildung ist „nämlich der absolute Durchgangspunkt zu der nicht mehr unmittelbaren, natürlichen, sondern geistigen, ebenso zur Gestalt der Allgemeinheit erhobenen unendlich subjektiven Substantialität der Sittlichkeit.“271
Bildung wird also als Vermittlung zwischen einer unmittelbaren, natürlichen Allgemeinheit (Familie) und einer geistigen Allgemeinheit (Staat) dargestellt. Durch Bildung erwirbt das Subjekt endliche subjektive Substantialität, d. h. „politische Gesinnung“, Patriotismus und wahrheitsgemäße Gewissheit. Wie wir in unserer Diskussion über die sittliche Gesinnung gezeigt haben, enthält die sittliche Gesinnung „die Einwurzelung des Besonderen in das Allgemeine unmittelbar“.272 Zwar spielt die Objektivität der Institution eine entscheidende Rolle auf dem Gebiet der Sittlichkeit, aber die zur Gewohnheit gewordene Gesinnung, vernünftiges und gemäßigtes institutionelles Vertrauen und staatsbürgerlicher Geist spielen ihrerseits eine wichtige Rolle in der Verwirklichung der Institution. Die Sittlichkeit als die Idee der Freiheit tritt einerseits in die subjektive Erfahrung des Einzelnen ein und bildet die sittliche Gesinnung, aber die Sittlichkeit selbst als das lebendige Gute ist auch das Resultat des Handelns des Einzelnen. Die Sittlichkeit wird durch das Handeln des Einzelnen ständig verwirklicht: „Nur weil und insofern das selbstständige Extrem der ausgebildeten Subjektivität zugelassen und befördert wird, erfährt der Bestand des Staates die notwendige Stützung.“273
268
Rechtsphilosophie, § 182 Zusatz, S. 340. Rechtsphilosophie, § 187 Anm., S. 345. 270 Rechtsphilosophie, § 265, S. 412. 271 Rechtsphilosophie, § 187 Anm., S. 344–345. 272 Rechtsphilosophie, § 289 Anm., S. 458–459. 273 Rüdiger Bubner, Welche Rationalität bekommt der Gesellschaft?, Frankfurt a. M. 1996, S. 157. 269
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Damit diese Identität zwischen Subjektivität und Objektivität der Sittlichkeit vom Individuum erfahren werden kann, muss der Staat diese subjektive Gesinnung ständig inspirieren. Daher hat Hegel der Bildung eine weitere Rolle zugewiesen, sie dient nämlich dazu, die Besonderheit kontinuierlich zu überwinden. Hegel glaubt, dass der größte Unterschied zwischen einem gebildeten und einem ungebildeten Menschen darin besteht, ob man die Partikularität herauskehrt, ob man Selbstbeschränkung in der Arbeit lernt und seine eigene Willkür überwindet, ob man gelernt hat, auf andere Rücksicht zu nehmen: „Unter gebildeten Menschen kann man zunächst solche verstehen, die alles machen können, was andere tun, und die ihre Partikularität nicht herauskehren, während bei ungebildeten Menschen gerade diese sich zeigt, indem das Benehmen sich nicht nach den allgemeinen Eigenschaften des Gegenstandes richtet […]. Bildung also ist Glättung der Besonderheit, daß sie sich nach der Natur der Sache benimmt.“274
Das Ziel der Rechtsphilosophie ist die Wahrheit der Freiheit, die Wahrheit des Willens. Die Partikularität und die Willkür, „daß man tun könne, was man wolle“275, kann „für gänzlichen Mangel an Bildung des Gedankens genommen werden“276, für eine Haltung, die noch nicht zum Denken der Freiheit aufgestiegen ist: „Ausschließlich ein denkend bestimmter, somit ein gebildeter Wille kann als schlechterdings frei gelten, wohingegen es der Willkür gerade an Denken und Bildung mangelt.“277 Die wahre Freiheit beruht auf der Vernunft, die „für alle Menschen vorhanden“278 sei. Man muss nach dem allgemeinen Gesetz der Vernunft und der Notwendigkeit handeln: „Wenn man fragt: was ist das beste des Menschen? So ist die Antwort: daß er frei sei; aber dies ist von Willkür unterschieden […]. Die Verwirklichung der Freiheit erst ist die Wahrheit. Als System ist dies ein System der Notwendigkeit. Die Freiheit wird darin zur Notwendigkeit und die Notwendigkeit zur Freiheit.“279
An dieser Stelle setzt der sittlich handelnde Mensch auch nicht seine eigene Konzeption als die Sache selbst, sondern folgt immer der „Vernunft der Sache“: „Wenn ich das Vernünftige will, so handle ich nicht als partikulares Individuum, sondern nach den Begriffen der Sittlichkeit überhaupt: in einer sittlichen Handlung mache ich nicht mich selbst, sondern die Sache geltend. Der Mensch aber, indem er etwas Verkehrtes tut, läßt seine Partikularität am meisten hervortreten. Das Vernünftige ist die Landstraße, wo jeder geht, wo niemand sich auszeichnet.“280
274
Rechtsphilosophie, § 187 Zusatz, S. 345. Rechtsphilosophie, § 15 Anm., S. 66. 276 Ebd. 277 Klaus Vieweg, „Wer sich nicht gedacht hat, ist nicht frei – Bildung und Freiheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts“, in: Bildung zur Freiheit, hg. v. Eberhard Eichenhofer und Klaus Vieweg, Würzburg 2010, S. 16. 278 Enzyklopädie I, § 82 Zusatz, S. 177. 279 Rin, S. 12. 280 Rechtsphilosophie, § 15 Zusatz, S. 67. 275
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Daher glaubt Hegel, dass Bildung „durch Zucht, lernen und gewöhnt werden“281 entstehe. Sie widersetzt sich zunächst dem Eigensinn, denn die eigensinnigen Menschen beschränken sich einseitig auf eine Bestimmung, können diese Einseitigkeit und Beschränkung nicht überwinden und die ganze und allgemeine Freiheit nicht einsehen. Die wirkliche Geltung ist Idee, nicht nur meine Einsicht: „Diese Befreiung ist im Subjekt die harte Arbeit gegen die bloße Subjektivität des Benehmens, gegen die Unmittelbarkeit der Begierde sowie gegen die subjektive Eitelkeit der Empfindung und die Willkür des Beliebens […]. Durch diese Arbeit der Bildung ist es aber, daß der subjektive Wille selbst in sich die Objektivität gewinnt, in der er seinerseits allein würdig und fähig ist, die Wirklichkeit der Idee zu sein.“282
In seiner Diskussion über die Erziehung der Kinder betont Hegel, dass der Zweck der Erziehung darin bestehe, „die Kinder aus der natürlichen Unmittelbarkeit, in der sie sich ursprünglich befinden“283, zum Bewusstsein der Unzulänglichkeit ihrer ursprünglichen Natur zu führen, ihnen ein Gefühl der Unbefriedigung mit ihrem natürlichen Sein zu vermitteln und den Trieb in ihnen zu wecken, „der Welt der Erwachsenen, die sie als ein Höheres ahnen, anzugehören, […] groß zu werden“.284 Hegel ist daher der Ansicht, dass die Erziehung durch die Kultivierung des strengen Sinns der Disziplin bei den Kindern und durch die Beachtung der Allgemeinheit der Vernunft erfolgen muss. Das ist die harte Arbeit, die geleistet werden muss, damit die Menschen ihre Gedanken klar zum Ausdruck bringen, ihre Meinung in vernünftiger Sprache organisieren und in einer Gesellschaft vernünftig handeln können. Die beim ungebildeten Menschen erkennbare natürliche Rohheit bezieht sich auf die Unbestimmtheit der Gedanken und Handlungen, das heißt, er gelangt nicht zu einer allgemeinen Denk- und Handlungsweise, sondern denkt und handelt nach seiner Willkür. Das ultimative Ziel der Bildung besteht darin, den subjektiven Willen zum sittlichen Willen zu machen, denn nur in der Wirklichkeit der Idee, der wirklichen Sittlichkeit der Freiheit, kann der subjektive Wille Objektivität erlangen. Die Bildung ist das Mittel, um von der subjektiven Freiheit zur substantiellen und objektiven Freiheit übergehen zu können. Durch die Bildung wird die formelle und subjektive Vernunft in die objektive Vernunft einbezogen, und zufällige und willkürliche Meinungen und Gewissheiten werden schließlich zur wahren sitt lichen Gesinnung, zur Wahrheit der Sache selbst erhoben: „Weiter ist nun aber auch die Subjektivität nicht bloß die, als der Sache gegenüberstehend, schlechte und endliche Subjektivität; sondern dieselbe ist ihrer Wahrheit nach der Sache immanent und als hiermit unendliche Subjektivität die Wahrheit der Sache selbst.“285
281
Rechtsphilosophie, § 132 Bemerkung, S. 249. Rechtsphilosophie, § 187 Anm., S. 345. 283 Rechtsphilosophie, § 175, S. 327. 284 Rechtsphilosophie, § 175 Zu., S. 328. 285 Enzyklopädie I, § 147 Zusatz, S. 291. 282
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D. Bildung und Gesinnungen in der Gesellschaft: Pöbel und Standesehre Hegels Theorie der Sittlichkeit besteht, wie wir bereits gezeigt haben, nicht nur darin, eine Diagnose des Dilemmas der modernen Freiheit anzubieten, sondern, wichtiger noch, das wahre Wesen der Freiheit darzustellen. Hegel will uns nicht mit einer normativen Lehre des Sollens versorgen; die Freiheit befindet sich nicht im Jenseits, sondern ist der Welt innerlich, wir leben wirklich frei. Die Rechtsphilosophie ist nichts anderes als die Darstellung des Wesens der modernen Freiheit, und diese Freiheit stellt sich als weltliche Lebensführung in Institutionen dar. Aber die Wirklichkeit der Freiheit ist nicht die Existenz der Freiheit: „Was wirklich ist, ist vernünftig. Aber nicht alles ist wirklich was existirt, das Schlecht[e] ist ein in sich selbst Gebrochenes und Nichtiges.“286 Die Philosophie stellt das Wesen der Freiheit in Form des Begriffs klar dar, aber alles Gewusste und jede Bewusstseinsgestaltung bleiben in ihrer eigenen Gewissheit und separieren sich vom freien institutionellen Leben. Wir sehen, dass die bürgerliche Gesellschaft als „System der Bildung“ in sich selbst die Möglichkeit zu zwei verschiedenen Tendenzen beinhaltet: Auf der einen Seite gibt die bürgerliche Gesellschaft „der Besonderheit das Recht, sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen“287 und selbständige Lebenskonzeptionen zu verfolgen: „In der bürgerlichen Gesellschaft ist jede selbstständig, ist auf sich gestellt in Rücksicht der Subsistenz. Die Freiheit nach dieser Seite ist das große Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft.“288 Aber auf der anderen Seite ist die bürgerliche Gesellschaft „das System der in ihre Extreme verlorenen Sittlichkeit“.289 Einerseits erweitert die bürgerliche Gesellschaft die Freiheit und hebt die natürliche Unmittelbarkeit der Familie durch die Bildung auf, wodurch Allgemeinheit anstelle von Besonderheit erreicht wird. Aber auf der anderen Seite entwickelt die bürgerliche Gesellschaft auch eine Tendenz der Unfreiheit und Entfremdung. Die Bildung bleibt nämlich auf der Stufe des Verstandes und kann nicht der Durchgangspunkt zur vernünftigen Sittlichkeit und zur subjektiven Substantialität sein. Der Grund dafür ist, dass die Idee in der bürgerlichen Gesellschaft „nur als die relative Totalität und innere Notwendigkeit an dieser Erscheinung ist“.290 Das heißt, die Allgemeinheit der bürgerlichen Gesellschaft ist nur eine formelle Allgemeinheit. Weil jeder seine Bedürfnisse und Meinung befriedigen will, wird er notwendig eine Beziehung zu anderen haben, die ihm jedoch nur ein Mittel sind, und da andere ihn ebenso behandeln, bilden alle eine formelle Allgemeinheit. Die bürgerliche Gesellschaft ist daher eine Einheit von verschiedenen Personen, die auf Gemeinsamkeit beruht: 286
Str. S. 923. Rechtsphilosophie, § 184, S. 340. 288 Gr, S. 605. 289 Rechtsphilosophie, § 184, S. 340. 290 Ebd. 287
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„In der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder sich Zweck, alles andere ist ihm nichts. Aber ohne Beziehung auf andere kann er den Umfang seiner Zwecke nicht erreichen; diese anderen sind daher Mittel zum Zweck des Besonderen. Aber der besondere Zweck gibt sich durch die Beziehung auf andere die Form der Allgemeinheit und befriedigt sich, indem er zugleich das Wohl des anderen mit befriedigt.“291
Aus diesem Grund ist diese Allgemeinheit „nicht die sittliche Identität, ist eben damit nicht als Freiheit, sondern als Notwendigkeit“292; die Beziehungen der bürgerlichen Gesellschaft sind äußere Beziehungen, die der Zufälligkeit unterworfen sind. Auch wenn die Erhebung von den natürlichen Bedürfnissen zu den geistigen Bedürfnissen der Vorstellung eine Manifestation der Freiheit war, stellte sich diese Freiheit noch nicht als Begriff der Vernunft dar. Daher ist hier, wie Hegel schreibt, „das Ganze der Boden der Vermittlung, wo alle Einzelheiten, alle Anlagen, alle Zufälligkeiten der Geburt und des Glücks sich frei machen, wo die Wellen aller Leidenschaften ausströmen, die nur durch die hineinscheinende Vernunft regiert werden.“293 Aufgrund dieser Zufälligkeit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft muss auch die elementare Bedürfnisbefriedigung, auf die jeder angewiesen ist, der an den Lebensformen der bürgerlichen Gesellschaft teilnimmt, diese Zufälligkeit haben. Jeder versucht, sein eigenes Überleben zu bewahren: „Jeder Einzelne hat durch seine Tätigkeit dafür zu sorgen. Aber diese Tätigkeit bleibt immer nur eine Möglichkeit, [ist] nicht eine Wirklichkeit.“294 Dies führt jedoch mit Notwendigkeit zu den Phänomenen der Verdorbenheit und Armut in der bürgerlichen Gesellschaft und zu einem Gegensatz zwischen Arm und Reich. Der Reichtum sammelt sich fortwährend in den Händen einiger weniger Menschen, während die Mehrheit der Armen nicht nur nicht in der Lage ist, an der Verteilung des Reichtums in der Gesellschaft teilzuhaben und ihr Überleben aus eigener Kraft sicherzustellen, sondern auch die Chance auf persönliche Entwicklung verloren hat: „Die Armuth macht aller Vortheile der Gesellschaft verlustig. Der Arme kann seinen Kindern keine Geschicklichkeit, keine Kenntnisse beibringen lassen, er selbst hat vielleicht nur eine Seite einer Fabrikarbeit getrieben, die eingegangen ist und diese Einseitigkeit hindert ihn selbst etwas anderes anzufangen.“295 Die Armen haben nicht die Möglichkeit, Bildung zu erwerben und Fähigkeiten zu erlernen; der Mangel, den sie leiden, erstreckt sich abstrakt auf die Gerechtigkeit, aber auch konkret auf das Gesundheitswesen und sogar auf den Trost der Religion, denn „endlich gehen die Geistlichen auch lieber in die Häuser der Reichen, als in die Hütten der Armen um sie auf dem Todtenbetten zu trösten“.296 Eine solche Beschränkung hindert die Armen daran, ihr Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft real 291
Rechtsphilosophie, § 182 Zusatz, S. 339–340. Rechtsphilosophie, § 186, S. 343. 293 Rechtsphilosophie, § 182 Zusatz, S. 340. 294 Rin, S. 150. 295 Gr, S. 606. 296 Ebd. 292
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wahrzunehmen. Sie können nicht als gleichberechtigte Mitglieder an der Gestaltung der Gesellschaft mitwirken. Oder, wie wir heute sagen, die Armen und ihre Kinder haben die Chancengleichheit verloren. Solche Möglichkeiten sind jedoch eine Voraussetzung für die Teilnahme am allgemeinen Reichtum. Der Verlust der Chancengleichheit führt nicht nur dazu, dass die Armen ihre unorganische Natur verlieren, sondern bewirkt auch ihre moralische Degradation. All dies zeigt, dass die bürgerliche Gesellschaft selbst die Möglichkeit hat, in zwei Richtungen zu gehen. Eine davon ist der Sozialisationsprozess, der durch die gegenseitige Abhängigkeit rationaler Subjekte (im Sinne des Homo oeconomicus) gebildet wird. Das andere ist die Ungleichheit innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und die kontinuierliche Erweiterung und Verfeinerung der ‚Bedürfnisse der Vorstellung‘. Da an diesen Bedürfnissen „Meinung und subjektives Belieben einen großen Anteil haben“, führt gesellschaftlicher Wettbewerb auch zur Entfremdung der Menschen: Entfremdung von der Natur, aber auch Trennung von anderen und der Gesellschaft als ganzer. Daher besteht im Bereich der bürgerlichen Gesellschaft die Möglichkeit einer Inkohärenz zwischen der objektiven Institution und der subjektiven Gesinnung. Die Bildung erreicht nicht unbedingt die subjektive Substantialität, sondern bleibt auf der Ebene des Verstandes und der Entzweiung, was dazu führt, dass einige Menschen in der Gesellschaft die Gesinnung verlieren, die das vernünftige Leben erfordert, und dies führt zur Entstehung des „Pöbels“. Nach Hegels Ansicht zeichnet sich der Pöbel vor allem durch eine populis tische Gesinnung aus, die nicht nur mit Armut zusammenhängt: Der Unterschied zwischen Pöbel und Armen ist, dass der Pöbel nicht nur sein gesamtes Eigentum verliert, sondern auch seine Standesehre: „Die Armut an sich macht keinen zum Pöbel: dieser wird erst bestimmt durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“297 Mit anderen Worten, die Wurzel des Pöbels liegt im „Verluste des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Tätigkeit und Arbeit zu bestehen“.298 Hegel beschreibt nicht nur den Pöbel, der durch Armut verursacht wird, sondern auch einen reichen Pöbel: „Dieser Pöbel muß nicht bloß auf seiten dessen [sein], was man gewöhnlich so nennt, es steht auf der Seite des Reichtums ebensogut die Pöbelhaftigkeit als auf der Seite der Armut[.] Es gibt auch reichen Pöbel.“299 Die böswillige Gesinnung entsteht, weil sowohl der arme Pöbel als auch der reiche von der Vermittlung der bürgerlichen Gesellschaft befreit werden: Der arme Pöbel ist das Resultat dessen, was Polanyi „Entbettung“300 genannt hat: Die bürgerliche Gesellschaft reißt das Individuum aus dem Band der Familie heraus und macht es zu einem „Sohn der bürgerlichen Gesellschaft“301, 297
Rechtsphilosophie, § 244 Zusatz, S. 389. Ebd. 299 Kiel, S. 222. 300 Vgl. Karl Polanyi, The Great Transformation: The political and economic Origins of our Time, Boston 2001. 301 Rechtsphilosophie, § 238, S. 386. 298
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aber sie ist als formelle Allgemeinheit notwendig nicht in der Lage, die Rechte aller zu befriedigen. Infolgedessen ist das Individuum in der zerrissenen Gesellschaft entleert und isoliert, was notwendig zu einer Gesinnung der Empörung gegen die etablierten Institutionen und die bestehenden Rechte führen wird: „Die Armen fühlen sich von allem ausgeschlossen und verhöhnt, und es entsteht notwendig eine innere Empörung.“302 Die Reichen manipulieren andere Menschen und soziale Systeme durch ihr Kapital und ihren Reichtum und betrachten das öffentliche Leben als reine Transaktion: „Der Reiche betrachtet alles als käuflich für sich, weil er sich als die Macht der Besonderheit des Selbstbewußtseins weiß. Der Reichtum kann so zu derselben Verhöhnung und Schamlosigkeit führen, zu der der arme Pöbel geht. Die Gesinnung des Herrn über den Sklaven ist dieselbe wie die des Sklaven […]. Indem der Herr sich als Herr über die Freiheit des Andern weiß, so ist damit das Substantielle der Gesinnung verschwunden.“303
Sowohl Arme als auch Reiche werden durch die bürgerliche Gesellschaft verdorben. Sie zeigen eine Art Gesinnung, die dem formellen Gewissen ähnelt. Sie verurteilen alle geltenden Bestimmungen, Institutionen und staatlichen Ordnungen als Leere und glauben daher, dass sie über die Allgemeinheit hinausgehen. Ein jeder urteilt nach seiner eigenen Gewissheit, so dass er „alle[r] Bestimmtheit des Rechts, der Pflicht und des Daseins“304 die Anerkennung verweigert. Die Persönlichkeit anderer und die vernünftige Gemeinschaftsordnung gelten in der Ansicht des Pöbels nichts (wie wir im Zusammenhang mit der Moralität bereits gezeigt haben), so dass er ins Böse verfällt. Der Pöbel drückt daher eine „Gesinnung der Bösartigkeit“305 aus, d. h. eine antisittliche und antiinstitutionelle Gesinnung, eine subjektive Meinung, die sich weigert, sich in die vernünftige Ordnung zu integrieren. Der arme Pöbel zeigt die „Gesinnung der Arbeitsscheu, Bösartigkeit und der weiteren Laster, die aus solcher Lage und dem Gefühl ihres Unrechts entspringen“306, während der reiche Pöbel die Arroganz des Reichtums und Verachtung für die allgemeine Gültigkeit der Gesetze der freien Gemeinschaft zeigt. Durch die Unterdrückung seitens der Reichen werden die Armen tatsächlich ihrer Freiheit beraubt, ihre Freiheit hat kein Dasein, sie kann nicht wirklich realisiert werden. Deshalb verliert die allgemeine Freiheit selbst die Anerkennung, die sie verdient: „Das Selbstbewußtsein erscheint zu dieser Spitze getrieben, wo es keine Rechte mehr hat, wo die Freiheit kein Dasein hat. Auf diesem Standpunkte, wo das Dasein der Freiheit etwas ganz Zufälliges wird, ist die innere Empörung notwendig. Weil die Freiheit des Einzelnen kein Dasein hat, so verschwindet damit das Anerkennen der allgemeinen Freiheit.“307
302
Bl, S. 195. Bl, S. 196. 304 Rechtsphilosophie, § 138, S. 259. 305 Rechtsphilosophie, § 241 Anm., S. 388. 306 Ebd. 307 Bl, S. 195. 303
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
Im gesellschaftlichen Bereich ist diese Gesinnung der Bösartigkeit entweder eine negative Weigerung, sich an der Öffentlichkeit zu beteiligen, oder ein gewalttätiger Populismus. Der Pöbel ist kein vernünftiger Teilnehmer an der öffentlichen Meinung und dem gesellschaftlichen Leben, sondern weigert sich grundsätzlich, die Vernünftigkeit der Sittlichkeit und der Gesellschaft anzuerkennen, isoliert sich im privaten Bereich und hat eine feindselige Haltung gegenüber allen Aktivitäten. Deshalb ist er voller innerer Empörung gegen die Reichen, die Gesellschaft, die Regierung usw. Er fühlt sich von der Gesellschaft und dem Staat verlassen und vergessen. Der Pöbel zeigt vor allem die Gesinnung, sich von der Gesellschaft zu isolieren; er ist nicht bereit, sich an der Integration der Gesellschaft zu beteiligen. Die gesamte Gesellschaft und die staatlichen Institutionen werden von ihm als Unrecht erfahren. Der Mechanismus der bürgerlichen Gesellschaft selbst muss, so Hegel, notwendig zum Pöbel führen, weil die Vermittlung der bürgerlichen Gesellschaft einen Bruch erzeugt: Es wird immer Dinge geben, die in diesem System der Vermittlung nicht vermittelt werden können, und solche Dinge, die nicht vermittelt werden können, implizieren die Möglichkeit der Anomie in der bürgerlichen Gesellschaft. Wenn die bürgerliche Gesellschaft versucht, solche Faktoren zu überwinden, die nicht in sich selbst vermittelt werden können, führen ihre eigenen dialektischen Bewegungen ständig zu neuen Problemen: Wenn die Subsistenz der Armen gesichert wird, ohne dass sie am System der Arbeit teilnehmen, so wäre dies „gegen das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft und des Gefühls ihrer Individuen von ihrer Selbständigkeit und Ehre“, und der Verlust der Ehre ist die Gesinnung des Pöbels. Wenn die bürgerliche Gesellschaft jedoch allen einen Arbeitsplatz zuweise, werde dies zu einer Steigerung der Produktion und zum Überfluss führen, zu einem „Mangel der verhältnismäßigen selbst produktiven Konsumenten“.308 Hegel schlussfolgert: „Es kommt hierin zum Vorschein, daß bei dem Übermaße des Reichtums die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, d. h. an dem ihr eigentümlichen Vermögen nicht genug besitzt, dem Übermaße der Armut und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.“309
In Frank Rudas Worten ist die Gesinnung der Pöbelhaftigkeit „Atomisierung, Entfremdung, Entbindung, Desintegration“.310 Der arme und reiche Pöbel existiert in Gestalt von Privatpersonen und löst sich von der Öffentlichkeit los; die Existenz dieser Privatpersonen ist nicht in einer Struktur der gegenseitigen Anerkennung integriert, so dass ihre Meinungen und Bedürfnisse der Zufälligkeit überlassen bleiben. Der arme Pöbel arbeitet nicht mehr, um sein eigenes Leben materiell zu erhalten, und er kultiviert daher eine böse Gesinnung der Öffentlichkeit; andererseits strebt der reiche Pöbel unendlich nach Luxus und der Anhäufung von Reichtum. Er versucht, die Tugend der politischen Gemeinschaft durch Geld, Reichtum und Kapital zu manipulieren und zu korrumpieren und die freie Verfassung in eine Oligarchie umzuwandeln. 308
Rechtsphilosophie, § 245, S. 390. Ebd. 310 Frank Ruda, Hegels Pöbel, Konstanz 2011, S. 68. 309
D. Bildung und Gesinnungen in der Gesellschaft
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Für Hegel ist die bürgerliche Gesellschaft jedoch nicht nur ein System der Bedürfnisse, der Verfolgung besonderer Interessen durch isolierte und solipsistische Individuen, sondern auch ein Bereich der Bildung. In diesem Bereich sollten die Menschen als allgemeine Menschen behandelt werden. Daher muss das abstrakte Recht der Person allgemein als das gesetzte Recht anerkannt und verwirklicht werden. Einerseits ist das Recht nicht mehr bloß abstraktes Recht, sondern „das sich objektivierende Recht“311, andererseits muss die bürgerliche Gesellschaft aus Gründen der Solidarität „umfassende Vorsorge“312 anbieten, weil sonst die zerstörerische Marktwirtschaft alle Grundlagen einer freien Gesellschaft zerstört: „Die bürgerliche Gesellschaft als Versammlung Freier muss beides sein, eine Marktund Solidargemeinschaft wie auch eine Leistungs- wie Wohlfahrtsgemeinschaft, eine Verbindung des Solitären und des Solidarischen. Nur in dieser Synthese kann sie gedeihen, d. h. eine Gemeinschaft von Freien darstellen, Freiheit garantieren. Ein sinnvolles Funktionieren der bürgerlichen Gesellschaft impliziert das Solidarisch-Soziale.“313 Hegel betont, dass jeder ein positives Recht auf ein würdevolles Leben habe und von der Korporation und dem Staat verlangen könne, sein Leben zu schützen: „Jeder hat das Recht zu leben, und es soll ihm nicht nur sein Recht geschützt werden, er hat nicht nur dieses negative Recht, sondern er hat auch ein positives Recht. Die Wirklichkeit der Freiheit ist Zweck der bürgerlichen Gesellschaft. Darin, daß der Mensch das Recht zu leben hat, liegt es, daß er das positive, erfüllte Recht hat; die Realität der Freiheit soll wesentlich sein. Das Leben und die Subsistenz der Einzelnen ist deswegen eine allgemeine Angelegenheit.“314
Hegel glaubt, dass in einer Zeit, in der moralische Helden verschwunden sind, die Dilemmata, die in der modernen Gesellschaft auftreten, nicht mehr durch zufällige einzelne Wohltaten aufgelöst werden können, die Menschen sich vielmehr auf die öffentlichen Institutionen verlassen müssen. Gerade wegen der öffentlichen Institutionen sind einzelne Wohltaten willkürlich, unnötig, unwichtig oder gar schädlich: „Das subjektive Helfen muß soviel [wie] möglich[ ] vermindert werden, weil subjektiv helfend man, statt zu nützen, schaden kann.“315 Entsprechend seiner Kritik am Gebot „Liebe deinen Nächsten als dich selbst“ in der Phänomenologie des Geistes ist für Hegel in der modernen Welt die objektive Institution wichtiger; die Wohltat des Einzelnen hat nur einen zufälligen und temporären Wert, denn sie geht nur aus dem einseitigen und willkürlichen Urteil eines Einzelnen hervor: „Das Gute ist nicht eine beliebige Gesinnung, nicht Gesinnung des Gewissens, es ist äußerliches, wirkliches Dasein, und damit es sei, kann der Staat Zwang zu Hilfe nehmen.“316 Die innere Institution der bürgerlichen Gesell 311
Bl, S. 152. Ebd. 313 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 309. 314 Wan, S. 160. 315 Wan, S. 139. 316 Wan, S. 173. 312
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Kap. 4: Öffentliche Meinung und Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft
schaft ist selbst ein Mechanismus der sittlichen Integration. Durch diese Institutionen erscheinen von der Familie getrennte Individuen nicht mehr als atomisierte Privatpersonen, sondern treten in die zweite Familie ein. Das Streben des Einzelnen nach seinen individuellen besonderen Interessen hat auch eine objektive Allgemeinheit: „Das Interesse der Besonderheit soll nicht ein Interesse des selbstsüchtigen Zwecks sein, sondern es soll ein Gesichertes, allgemein[ ] Gültiges werden, es soll Objektivität in sich haben.“317 Angesichts der „gemeinschafts-sprengenden Folgen“318 der Marktwirtschaft muss die bürgerliche Gesellschaft die Einheit und das Allgemeine wieder aufbauen, und dies muss durch die strukturelle Ordnung der Stände verwirklicht werden: „Darunter, daß der Mensch etwas sein müsse, verstehen wir, daß er einem bestimmten Stande angehöre; denn dies etwas will sagen, daß er alsdann etwas Substantielles ist. Ein Mensch ohne Stand ist eine bloße Privatperson und steht nicht in wirklicher Allgemeinheit.“319 Wenn ein Individuum seine Existenz nur auf seine individuellen Bemühungen gründet, vergisst er nach Ansicht Hegels die Sache selbst seiner Existenz. Deshalb wehrt sich Hegel gegen den Gedanken, die Korporation in der Neuzeit abzuschaffen. Seiner Ansicht nach ist es das Ziel des Standes, der Polizei und der Korporation, die Zufälligkeit der individuellen Existenz mit einer Art Allgemeinheit auszustatten, damit die Menschen nicht länger auf der eigennützigen Ebene bleiben: „Jeder wollte nur auf seinen eigenen Beinen stehen. Man sagt, jeder könne frei treiben, was er kann, wie es ihm gefällt. In diesem Gesichtspunkt ist vergessen, daß die Subsistenz, der Erwerb nicht etwas bloß Einzelnes ist, sondern daß sie sich auf das Weitere der Gesellschaft bezieht. So gibt jeder sich der Zufälligkeit hin. Die Vernünftigkeit besteht denn darin, daß diese nicht ein zufälliges bleibe, sondern daß sie fürs erste ein Fortdauerndes sei, und nicht als ein Zufälliges, sondern als ein Festgemachtes.“320
Daher ist die Korporation neben der Familie die zweite Basis des Staates321: „Sodann ist es das Interesse der Sittlichkeit, daß das Individuum nicht bleibt in dieser Sehnsucht, sondern daß dasselbe zugleich die Sorge für ein Gemeinsames übernehme. Es tritt hier das Substantielle, Wahrhafte der Sittlichkeit, die Vereinigung des besonderen und allgemeinen Zwecks hervor.“322 Durch diese Bildung des Standes und der Korporation wird der eigennützige Zweck in das Allgemeine überführt, so dass die subjektiven Meinungen und die Willkür in eine sittliche Gesinnung, Rechtschaffenheit und Standesehre umgewandelt werden, und „diese bewußtlose Notwendigkeit“ in der bürgerlichen Gesellschaft wird in „eine[ ] gewußte[ ] und denkende[ ] Sittlichkeit“323 umgewandelt:
317
Bl, S. 202. Ludwig Siep, Hegel und Europa, Paderborn 2003, S. 14. 319 Rechtsphilosophie, § 207 Zusatz, S. 360. 320 Rin, S. 150–151. 321 Vgl. Rechtsphilosophie, § 201 Zusatz, S. 354. 322 Bl, S. 204. 323 Rechtsphilosophie, § 255 Zusatz, S. 397. 318
D. Bildung und Gesinnungen in der Gesellschaft
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„Das Standessein hat eine Ehre; er hat ein Gelten in der Vorstellung; jeder ist ein Glied des Ganzen, dadurch ist es etwas Wahrhaftes. Freiheit in dieser Sphäre ist zugleich Abhängigkeit, aber durch diese Bildung ist sie wieder frei.“324
Der ungebildete reiche und arme Pöbel ist wurzellos. Die Individuen, die ihm angehören, existieren nur als reine Privatpersonen, aber: „Schlechthin Privatperson kann der Mensch nicht sein.“325 Der arme Pöbel ist nicht in der Lage, seine Subsistenz aktiv sicherzustellen. Er verfügt nicht über die Fähigkeiten und objektiven Qualitäten der Rechtschaffenheit, die von der Korporation gefordert werden. Der Reichtum des Reichen sollte von der Korporation und dem Stand vermittelt sein; Reichtum außerhalb der Korporation und des Standes ist der Reichtum des reichen Pöbels. Der arme wie der reiche Pöbel lösen sich von allem Stand und aller Korporation und überlassen ihr Schicksal der Zufälligkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Nur in der Korporation kann Reichtum stabilisiert werden und von Dauer sein: Die Reichen verfolgen dann nicht mehr die selbstsüchtige Seite des Gewerbes, sondern in der Korporation verliert „der Reichtum in seiner Pflicht gegen seine Genossenschaft den Hochmut und den Neid, den er, und zwar jenen in seinem Besitzer, diesen in den anderen erregen kann“.326 Auch die Armen erhalten unter diesen Umständen die nötige Hilfe, so dass es keine Demütigung und infolgedessen auch keine böse Gesinnung mehr geben wird: „In der Korporation hat das Individuum sein wahrhaftes Bewußtsein; es hat hier eine wahrhafte, edle Gelegenheit, sich Ehre zu erwerben. In der Korporation ist das Verderben des Reichtums beseitigt.“327 Die Korporation hat die böse isolierte Meinung beseitigt, sie in eine sittliche Anerkennung verwandelt, die bürgerliche Gesellschaft von ihrem Naturzustand zu einer vernünftigen allgemeinen Tätigkeit geführt, und „so kehrt das Sittliche als ein Immanentes in die bürgerliche Gesellschaft zurück“.328 Die Korporation und die Polizei bewirken daher gewissermaßen die Rettung der Meinungen, indem die Geschicklichkeit des Einzelnen „zur Vernünftigkeit bestimmt, nämlich von der eigenen Meinung und Zufälligkeit, der eigenen Gefahr wie der Gefahr für andere, befreit, anerkannt, gesichert und zugleich zur bewußten Tätigkeit für einen gemeinsamen Zweck erhoben wird“.329 Die Arbeit von Polizei und Berufsverband besteht darin, subjektive Meinungen zu einer „öffentlichen“ Meinung zu führen, so dass die Meinungsfreiheit eines jeden in der bürgerlichen Gesellschaft erhalten bleibt. Diese Meinungsfreiheit ist genau die Stärke und Tiefe des modernen Staates und zugleich das grundlegendste Recht der modernen Menschen. Es muss jedoch sichergestellt werden, dass diese Meinungsfreiheit ihren „substantiellen Begriff“ nicht zerstört330, d. h. sie muss in einer vernünftigen Ordnung der Meinungsfreiheit sittlich sein und darf nicht zu einer destruktiven Meinung verkommen. 324
Rin, S. 125. Bl, S. 206. 326 Rechtsphilosophie, § 253 Anm., S. 396. 327 Bl, S. 207. 328 Rechtsphilosophie, § 249, S. 393. 329 Rechtsphilosophie, § 254, S. 396. 330 Rechtsphilosophie, § 185, S. 341. 325
Kapitel 5
Die öffentliche Meinung In seinem Brief an d’Alembert über das Schauspiel schreibt Rousseau: „Ich kenne nur drei Mittel, mit deren Hilfe man auf die Sitten eines Volkes Einfluß nehmen kann: die Macht der Gesetze, die Herrschaft der Meinung und die Reizung des Vergnügens.“1 Wie Judith Shklar hervorhebt, ist das grundlegendste dieser drei Mittel die Meinung: „It is opinion alone that directs men’s purposes. Among all the peoples of the world, it is not nature, but opinion, which decides their choice of pleasures. That is why the quality of conduct depends solely upon opinion.“2 Nach Rousseaus Ansicht ist die öffentliche Meinung eine Ansammlung heuchlerischer und verdrehter Gedanken und Ideen, in der man seine Freiheit und Unabhängigkeit völlig verliert und in einen verächtlichen Zustand gerät, in dem man für andere lebt und von den Meinungen anderer abhängig ist. In dieser sogenannten Herrschaft der Meinung geht jeder über seine eigene bloße natürliche Existenz hinaus und bemüht sich darum, die anderen durch eine Vielzahl von Eitelkeiten und durch pompösen Konsum zu übertreffen, indem er sich nach den Gedanken, Meinungen und Erwartungen anderer richtet. Nach Rousseaus Ansicht ist der wahre Ursprung der Ungleichheit nicht das Privateigentum, sondern die Meinung hinter dem öffentlich vorgezeigten, pompösen Eigentum. Die sogenannte amour-propre ist die treibende Kraft hinter dem Streben nach diesem Eigentum, das über die Notwendigkeit des Überlebens hinausgeht: „Schließlich gibt der verzehrende Ehrgeiz, der Eifer, sein Vermögen im Vergleich zu anderen zu mehren – weniger aus einem wirklichen Bedürfnis, als um sich über die anderen zu stellen –, allen Menschen eine finstere Neigung ein, sich gegenseitig zu schaden: eine heimliche Eifersucht, die um so gefährlicher ist.“3
Für Rousseau ist das, was wirklich Korruption verursacht, diese öffentliche Meinung, und Eigentum ist nichts anderes als eine Manifestation dieses korrupten Geschmacks und Vorurteils, denn durch Eigentum kann man am anschaulichsten zeigen, dass man anderen überlegen ist und sich von ihnen unterscheidet. In der menschlichen Natur hat sich etwas verändert; die Menschen haben ihre Aufmerksamkeit auf die Meinung gerichtet und der Begriff des Eigentums ist entstanden: „Da nämlich dieser Begriff des Eigentums von vielen vorangehenden Begriffen 1
Jean-Jacques Rousseau, Schriften, Bd. 1, hg. v. Henning Ritter, München Jahr, S. 354. Judith Shklar, Men and Citizens: a Study of Rousseau’s Social Theory, Cambridge 1969, S. 75. 3 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, hrsg. u. übers. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1998, S. 89. 2
Kap. 5: Die öffentliche Meinung
205
abhängt, die nur nacheinander entstehen konnten, hat er sich im menschlichen Geist nicht auf einmal gebildet.“4 Die amour-propre kann alles in ein Symbol der Unterscheidung, der Distinktion verwandeln und muss in allem eine hierarchische Ordnung schaffen, damit man seine Überlegenheit und Eitelkeit zeigen kann, ohne sich etwa um notwendigen materiellen Genuss zu kümmern.5 Rousseau formulierte es in Politische Ökonomie so: „Hundertmal eher würden sie auf Notwendiges verzichten und lieber noch aus Hunger als vor Scham sterben wollen. Die Erhöhung der Ausgaben wird nur ein neuer Grund sein, sie weiterhin zu tätigen, wenn die Eitelkeit, den eigenen Wohlstand zur Schau zu stellen, sowohl durch den Preis des Gegenstands wie durch die Kosten an Steuern gefördert wird. Solange es Reiche gibt, werden sie sich von den Armen unterscheiden wollen.“6 Die Moderne ist eine Welt des fanatischen Strebens nach Meinung, und die Anhäufung von Reichtum führt zu Extravaganz und einer Ungleichheit, die den öffentlichen Geist untergräbt und zur Spaltung unter den Bürgern führt, wie Rousseau in seinem Brief an Beaumont erläutert: „Wenn endlich alle besonderen Interessen sich aneinander stoßen, wenn die zur Gärung gebrachte Selbstliebe zur Eigenliebe (amour-propre), wenn die allgemeine Meinung die Welt jedem nötig macht und jeder ein geborener Feind des anderen wird und sein Wohl nur in dem Schaden des anderen findet, dann wird das Gewissen von den überspannten Leidenschaften erstickt und bleibt im Munde der Menschen ein bloßes Wort, um sich gegenseitig zu hintergehen.“7
Daher besteht der ganze Zweck der politischen Philosophie Rousseaus darin, über die Unfreiheit der öffentlichen Meinung hinauszugehen und die freien politischen Ideale des Republikanismus wiederherzustellen, in denen jeder Einzelne er selbst ist und nicht von den Meinungen anderer abhängt. Jeder Bürger kann am öffentlichen Dienst teilnehmen und damit eine Position außerhalb der entfremdeten öffentlichen Meinung einnehmen. Hegels Verständnis der Herrschaft der Meinung unterscheidet sich nicht von dem Rousseaus. Schon in der Jenaer Zeit ist sich Hegel der Entfremdung der modernen Gesellschaft bewusst. Ihre Ursachen sind Arbeitsteilung und Abstraktion, Komplexität und Verfeinerung der Bedürfnisse derer, die sich nach der öffentlichen Meinung richten. In der modernen Gesellschaft arbeitet jeder nicht mehr nur für seine eigenen Bedürfnisse, sondern ist von den anderen abhängig, um seine Bedürfnisse zu erfüllen. Und der entscheidende Faktor dieser abstrakten Arbeit ist die Mode, der Geschmack, eben jene Meinung, die die grundlegende treibende Kraft aller produktiven Aktivitäten ist: „[D]ie Bedürfnisse werden dadurch vervielfältigt – 4 Jean-Jacques Rousseau, Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, hrsg. u. übers. v. Philipp Rippel, Stuttgart 1998, S. 74. 5 Vgl. Ethan Putterman, „Die Rolle der öffentlichen Meinung in Rousseaus Eigentumskonzeption“, in: Geschichte des politischen Denkens 20/3 (1999), S. 417–437. 6 Jean-Jacques Rousseau, Politische Ökonomie, Frankfurt a. M. 1977, S. 109. 7 Jean-Jacques Rousseau, Schriften, Bd. 1, hrsg. v. Henning Ritter, München / Wien 1978, S. 510.
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
jedes einzelne ist in mehrere abgetheilt; der Geschmack ist verfeinert; er macht mehr Unterschiede; eine Zubereitung ist gefordert, die das zu brauchende Ding dem leichten Gebrauche immer näher bringe.“8 Hegel und Rousseau formulieren das Problem auf die gleiche Weise: Wie verstehen wir die Spaltung zwischen citoyen und bourgeois und wie entdecken wir die Ganzheit des Geist wieder? Aber wie wir bereits gesagt haben, strebt Hegel im Vergleich zu Rousseaus unreifer politischer Ökonomie und dessen klassischen republikanischen politischen Idealen nicht die unmittelbare Gemeinschaft von Bürgern in der Gemeinschaft einer klassischen Polis an, sondern eine vermittelte Identität, was bedeutet, dass er Rousseaus Herrschaft der Meinung ablehnt. Die Herrschaft der Meinung sollte einen Platz in jener Wirklichkeit der modernen Welt einnehmen, die nicht zuletzt durch die beiden Aspekte der modernen menschlichen Identität, citoyen und bourgeois, und die beiden Dimensionen der modernen Sittlichkeit, Staat und bürgerliche Gesellschaft, und die konkrete Freiheit bestimmt ist: „Hegel […] begreift die von Rousseau im Begriff der Meinung als fremde Macht gefaßte allseitige Interdependenz der Menschen in der entfalteten Arbeitswelt unter Aufnahme der Ergebnisse der Nationalökonomie positiv als die Erscheinung des Allgemeinen in der Sphäre der egoistischen Besonderheit der Bedürfnisse und versteht sie so als die erstmals erreichte konkrete Vermittlung des allgemeinen Willens über alle einzelnen Willen.“9 Aber, wie Hegel es in seinen Vorlesungen zur Rechtsphilosophie von 1817/18 ausdrückte: „[D]ies ist das Moment des Auseinandergehens, aus dem die Sittlichkeit zu sich selbst kommt. Dies ist die Erstarkung der Idee, sich in sich zu unterscheiden und sich dann für sich zu vervollständigen, ganz zu machen. Die absolute Kraft der Idee ist nun, sich in der Sphäre der Differenz zu erhalten, aus dem absoluten Verlust ihres Wesens zu sich zurückzukehren.“10
Das Reich der Meinung und der Notstaat bilden ein notwendiges Moment im konkreten sittlichen Ganzen, und seit dem Auftreten der Prinzipien der individuellen Freiheit und Subjektivität, die durch das Christentum repräsentiert werden, wird jeder als eine unendliche Person anerkannt und hat das Recht, nach seinem Wohl zu streben und seine besondere Meinung auszudrücken; diese Freiheit der Menschen macht auch die Grundlage aller politischen und rechtlichen Legitimität aus. Citoyen und bourgeois stehen nicht mehr gegeneinander, die Freiheit muss ihr eigenes negatives Moment in sich selbst aufnehmen: „L’être hors de soi-même de la totalité ethique est l’instance de négativité grâce à laquelle elle conquiert son chezsoi politique. L’adhésion vivante à l’universel, la confidance apparement immédiate que le citoyen érouve envers l’institution étatique ne s’obtiennent donc pas en réprimant l’égoisme des bourgeois […] mais bien plutôt en prenant appui sur lui.“11 8
GW 8, S. 243. Vgl. Klaus Rothe, Selbstsein und bürgerliche Gesellschaft, Bonn 1976, S. 168. 10 Wan, S. 114. 11 Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 174. 9
A. Die Zweideutigkeit der öffentlichen Meinung
207
Für Hegel ist die öffentliche Meinung ein Symbol der Modernität und der Geschichte, und wenn die Philosophie ihre Erforschung aufgibt, dann hinkt sie weit hinter der Geschichte zurück. Daher müssen der Philosoph und der Zeitungsredakteur (Hegels zwei biographische Identitäten) in der modernen Welt zu einer Einheit finden – jedenfalls für einen Philosophen, der die lebenslange Gewohnheit hat, Zeitungen zu lesen: „Der Zusammenhang der Philosophie mit der Tages publizistik ist indessen bei Hegel, der zeitlebens den realistischen Morgensegen der Zeitungslektüre in Ehren gehalten hat und selber Redakteur einer Zeitung gewesen ist, nicht nur lebensgeschichtlich motiviert; er ist auch systematisch begründet.“12 Die Philosophie der wahren Freiheit muss mit der Bildung der Zeit Schritt halten.
A. Die Zweideutigkeit der öffentlichen Meinung Was Hegel öffentliche Meinung nennt, ist ein Spannungsfeld zwischen der bürgerlichen Gesellschaft und dem politischen Staat, das aus der bürgerlichen Gesellschaft, dieser Schöpfung der modernen Welt, hervorgegangen ist. Dies hat dazu geführt, dass die öffentliche Meinung einerseits „das an und für sich Allgemeine, das Substantielle und Wahre“ und andererseits das „für sich Eigentümliche und Besondere des Meinens der Vielen“ enthält. Eduard Gans erläutert, die öffentliche Meinung sei das, „was das Volk über die politischen Dinge und über die Führung des Staates denkt“.13 Die öffentliche Meinung selbst enthält die zwei Elemente der bürgerlichen Gesellschaft und des politischen Staates und ist ein Urteil der Politik aus der Perspektive der bürgerlichen Gesellschaft. Auf der einen Seite kann die bürgerliche Gesellschaft als die ontologische Voraussetzung und treibende Kraft für das Entstehen der öffentlichen Meinung bezeichnet werden; wir haben bereits darauf hingewiesen, dass das entpolitisierte Feld der bürgerlichen Gesellschaft den Bereich der Meinung geschaffen hat, so dass die Menschen aus dem substantiellen politischen Bereich heraustreten und die Legitimität der Politik an ihren eigenen persönlichen Interessen messen. Auf der anderen Seite, Was Hegel öffentliche Meinung nennt, ist kein bloß privates Feld, es ist eine der grundlegenden Institutionen des modernen Staats, die eine wichtige Rolle bei der politischen Bildung und der politischen Gestaltung spielt. Daher weist die öffentliche Meinung eine Unterscheidung zwischen volonté de tous und volonté générale auf; erstere bringt „die Interessen der heteronom-egoistisch motivierten einzelnen zur Ausgleichung und Abstimmung“ und letztere ist das „an und für sich Vernünftige“.14 Thomas Petersen schreibt: „In der öffentlichen Meinung verbinden sich volonté générale 12
Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1978, S. 148. Eduard Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, hg. v. Johann Braun, Tübingen 2005, S. 232. 14 Michael Pawlik, „Hegels Kritik der Rousseauschen Politischen Philosophie“, in: Der Staat 38/1 (1999), S. 28. 13
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
und die Zufälligkeit und Willkür der volonté particulière“,15 und in Hegels eigenen Worten ist die öffentliche Meinung oder der gesunde Menschenverstand „der durch alle in Gestalt von Vorurteilen hindurchgehende[ ] sittliche[ ] Grund“.16 Daher enthält die öffentliche Meinung einerseits „in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit, den wahrhaften Inhalt und das Resultat der ganzen Verfassung, Gesetzgebung und des allgemeinen Zustandes überhaupt“17, andererseits wird mit ihm „die ganze Zufälligkeit des Meinens, seine Unwissenheit und Verkehrung, falsche Kenntnis und Beurteilung“ wirksam.18 In unserer Diskussion über das Gewissen haben wir zwischen der rein subjek tiven Überzeugung, der bösen Gesinnung und der sittlichen Gesinnung unterschieden: Erstere ist eine unorganische Auffassung, getrennt von Sittlichkeit und Organisation; die „subjektiven Zwecke und Meinungen“19 versuchen die Sittlichkeit an ihren eigenen Maßstäben zu messen und der Welt ein Sollen aufzuzwingen. Die sittliche Gesinnung hingegen beruht auf der Vernunft der Sache und der Notwendigkeit der Sittlichkeit, ist in der Sittlichkeit anerkannte, zur Wahrheit erhobene subjektive Freiheit und Gewissheit, in den Institutionen verwirklichte Freiheit: „Die öffentliche Meinung enthält in sich die Gesinnung des Staates, sie enthält das Wahrhafteste – das Resultat von der ganzen Verfassung.“20 Daher verdient die öffentliche Meinung geachtet zu werden, weil die öffentliche Meinung die „sittliche Macht“ ist. „Die öffentliche Meinung ist das Respektableste, Heiligste, denn darin sind gewußt alle die geistigen Bestimmungen, Kategorien, Maximen, die das Leitende, Regierende im Menschen, im Individuum, wie in einem Volke sind.“21 Gegenstand von Hegels Verachtung ist hingegen „alles Zufällige des Meinens“22, oder in der Formulierung der Rechtsphilosophie: „[…] dieses nach ihrem konkreten Bewußtsein und Äußerung, jenes nach ihrer wesentlichen Grundlage, die, mehr oder weniger getrübt, in jenes Konkrete nur scheint.“23 Eduard Gans unterscheidet in seinen Vorlesungen zwischen der „gute[n] öffentliche[n] Meinung“ und der „schlechte[n] öffentliche[n] Meinung“.24 Wegen dieser Ambiguität sagt Hegel in der Vorlesung von 1818/19: „Die öffentliche Meinung ist insofern eine der am schwersten zu begreifenden Erscheinungen, weil sie die Gegensätze unmittelbar in sich enthält. Die öffentliche Meinung ist so das vollkommen Nichtige und Eitle und zugleich das durchaus Substantielle.“25 15
Thomas Petersen, Subjektivität und Politik, Frankfurt a. M. 1992, S. 165. Rechtsphilosophie, § 317, S. 483–484. 17 Rechtsphilosophie, § 317, S. 483. 18 Rechtsphilosophie, § 317, S. 484. 19 Rechtsphilosophie, § Vorrede, S. 21. 20 Rin, S. 192. 21 Gr, S. 724. 22 Gr, S. 725. 23 Rechtsphilosophie, § 318, S. 485. 24 Eduard Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, hg. v. Johann Braun, Tübingen 2005, S. 232. 25 Bl, S. 272. 16
A. Die Zweideutigkeit der öffentlichen Meinung
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Diese Unterscheidung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Hegels Diskussion über die Grundlagen des modernen Staates. In seinen Vorlesungen über die Philosophie des Rechts von 1817/18 in Heidelberg stellte Hegel fest: „Die Sphäre des Rechts ist nicht der Boden der Natur, ohnehin nicht der äußeren, aber auch nicht der subjektiven Natur des Menschen, insofern sein Wille, von seiner Natur bestimmt, in der Sphäre der natürlichen Bedürfnisse und Triebe ist, sondern die Sphäre des Rechts ist die geistige, und zwar die Sphäre der Freiheit. In dem Reich der Freiheit tritt nun auch zwar die Natur ein, insofern die Idee der Freiheit sich äußert und Existenz gibt, aber die Freiheit bleibt die Grundlage, und die Natur tritt nur als ein Unselbstständiges ein.“26
Nach Hegels Ansicht ist der Begriff des Naturrechts zweideutig und verdient deshalb aufgegeben zu werden; die Zweideutigkeit liegt darin, dass das Wort „Natur“ eine ganz verschiedene Bedeutung haben kann. Nach Hegels Worten kann die Natur als „das Wesen und der Begriff von etwas“ oder „die bewußtlose unmittelbare Natur als solche“ verstanden werden.27 Letzteres Verständnis der Natur, so Hegel, hängt mit der Fiktion eines Naturzustandes zusammen: „Dieser Naturzustand wird dem Zustand der Gesellschaft und insbesondere dem Staat entgegensetzt. Es hat dabei ferner die falsche Vorstellung geherrscht, als ob die Gesellschaft etwas dem Wesen des Geistes nicht an und für sich Gemäßes und Notwendiges, sondern eine Art von künstlichem Übel und Unglück wäre und in ihr die wahrhafte Freiheit beschränkt werde.“28 In Rudolf Ringiers Nachschrift der Berliner Rechtsphilosophie-Vorlesungen von 1819/20 nennt Hegel das Naturrecht „das abstrakte Recht“: „In dieser Betrachtung sieht man den Staat nicht als Verwirklichung des Rechts an, sondern als ein Unglück für das Recht: Ein hartes Schicksal, worin das natürliche Recht des Menschen beschränkt, bevorteilt und gekränkt werde. Das Recht ist so angesehen, so daß jenes abstrakte Recht und der Zustand darin als ein verlorenes Paradies angesehen werden, das aber das Ziel bleiben müsse, das vom Staat wiederherzustellen sei.“29
Hegel schlägt daher vor, das Naturrecht durch etwas zu ersetzen, was er „philosophische Rechtswissenschaft“ oder „die Lehre des objektiven Geistes“ nennt und das Hegels Rechtsphilosophie zufolge auch als die Wissenschaft des Rechts bezeichnet werden könnte. Dort definiert Hegel den Gegenstand dieser Wissenschaft als „die Idee des Rechts, den Begriff des Rechts und dessen Verwirklichung“.30 In den Heidelberger Vorlesungen hingegen verwendet er den Begriff Naturrecht und weist darauf hin, dass „[d]as Naturrecht […] die Vernunftbestimmungen des Rechts und die Verwirklichung dieser seiner Idee zu seinem Gegenstand“ habe.31 In den Berliner Vorlesungen heißt es: „Die Aufgabe der Wissenschaft ist, die Seite des Daseins zu bestimmen, daß das Recht zu seiner Wirklichkeit komme, zunächst 26
Wan, S. 6. Ebd. 28 Wan, S. 6–7. 29 Rin, S. 3. 30 Rechtsphilosophie, § 1, S. 29. 31 Wan, S. 5. 27
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
aber zu erkennen, was das wahrhafte Recht ist.“32 Hegels philosophische Rechtswissenschaft oder Wissenschaft des Rechts entwickelt sich im Medium der Philosophie, der Wahrheit, des Begriffs. Hegel betont: „Die Philosophie als Wissenschaft hat es also nicht mit Meinungen zu tun. Meinung ist nur das Meinige, bei einem anderen kann sie anders sein[.] Die Erkenntnis in der Philosophie ist eine absolute, Erkenntnis des Absoluten.“33 Für Hegel gibt es eine solche absolute Erkenntnis und die Erkenntnis des Absoluten ist die Wahrheit und der Begriff. Nach seiner Auffassung ist der Begriff keineswegs bloß ein formelles Produkt einer zusammenfassenden Induktion noch ist er eine Form oder ein Instrument subjektiver Manipulation, sondern er ist die Sache selbst, die Vernunft in der Welt und die Wahrheit: „Die philosophische Betrachtung hat es nur mit dem Inwendigen von allem diesem, dem gedachten Begriffe zu tun.“34 Wie Klaus Vieweg es ausdrückt, hat die Philosophie Hegel zufolge „das Vernünftige zu ergründen und zu begründen, den ‚Gedanken ihrer Zeit‘ zu formulieren, den ‚sich denkenden Geist der Zeit‘ zu repräsentieren und ihm angemessenen Ausdruck zu geben. Philosophie muss ihre Zeit, ihre Welt in Gedanken fassen, auf den Begriff bringen.“35 Hegel zufolge kann die Vernünftigkeit und der Begriff der Welt nur durch Denken erfasst werden; subjektives Gefühl, Belieben und Willkür gelten ihm als ungeeignet, die Wahrheit auszudrücken, und hier liegt auch die eigentliche Wurzel des Nihilismus: „Daß Recht und Sittlichkeit, und die wirkliche Welt des Rechts und des Sittlichen, sich durch den Gedanken erfaßt, durch Gedanken sich die Form der Vernünftigkeit, nämlich Allgemeinheit und Bestimmtheit gibt, dies, das Gesetz, ist es, was jenes sich das Belieben vorbehaltende Gefühl, jenes das Rechte in die subjektive Überzeugung stellende Gewissen mit Grund als das sich feindseligste ansieht.“36
Hegel widerspricht in diesem Sinne der Seichtigkeit der modernen Welt, d. h. dem Glauben, dass die sittliche Welt eine ‚verbotene Stadt‘ für Wahrheit und Vernunft wäre: „Das geistige Universum soll vielmehr dem Zufall und der Willkür preisgegeben, es soll gottverlassen sein, so daß nach diesem Atheismus der sittlichen Welt das Wahre sich außer ihr befinde und zugleich, weil doch auch Vernunft darin sein soll, das Wahre nur ein Problema sei.“37
Wie Ernst-Wolfgang Böckenförde erläutert, ist es Hegels Auffassung, „daß ebenso wie die (physische) Natur kraft ihrer immanenten Gesetzlichkeit und Harmonie die Vernünftigkeit in sich selbst hat, auch in den Gebilden der sittlichen Welt, wozu auch und gerade der Staat gehört, die Vernunft sich darin zur Geltung 32
Rin, S. 3. Rin, S. 4. 34 Rechtsphilosophie, § 258 Anm., S. 400. 35 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 17. 36 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 20. 37 Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 15–16. 33
A. Die Zweideutigkeit der öffentlichen Meinung
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bringt und behauptet, und das Wahre sich nicht außer, sondern in ihnen befindet“.38 Das heißt, Hegel zufolge liegt die Wurzel des Relativismus in der modernen Welt im Untergang des Wahren zugunsten von subjektiven Gefühlen, Überzeugungen und Meinungen, und so gibt die moderne Welt einerseits von sich aus zu erkennen, dass sie nicht in der Lage ist, die Wahrheit zu erwerben: „daß sie [die Philosophie] gefunden und bewiesen zu haben meinte und versicherte, es gebe keine Erkenntnis der Wahrheit, Gott, das Wesen der Welt und des Geistes sei ein Unbegreifliches, Unfaßbares“.39 Moderne Menschen sind Relativisten und Nihilisten, die im Leben ohne Wahrheit leben, ihr Leben ist aller Bedeutungen beraubt, die kalkulierende Rationalität ist ungewöhnlich entwickelt, aber das Wesen des Lebens schwebt, von seinen Wurzeln getrennt, im Unbestimmten. Moderne Menschen können sich selbst als Grundlage nehmen, alles in eine enge und wohlkalkulierte Ordnung bringen, aber ihnen fehlt ein Endzweck, das Ganze. Der Atheismus der sittlichen Welt ist ein Zustand des totalen Verlusts der Bedeutung des Lebens, der Ohnmacht gegenüber der Wahrheit; die Frage, was Wahrheit sei, bleibt letztlich unbeantwortet. Auf der anderen Seite wird die Wahrheit auf ein „Sollen“ reduziert in dem Sinne, „daß diese Wahrheit nur ein Sollen der Wirklichkeit entgegensetzt“.40 Philosophie kann nicht über ihre Zeit hinausgehen, kann der Welt nicht ein Sollen, eine Meinung, etwas vermeintlich Besseres aufzwingen. Die Philosophie untersucht die Idee, die Vernunft in der Welt; sie bemüht sich, „[d]ie Vernunft als die Rose im Kreuze der Gegenwart zu erkennen“: „Diese hat es nur mit der Idee zu tun, welche nicht so ohnmächtig ist, um nur zu sollen und nicht wirklich zu sein, und damit mit einer Wirklichkeit, an welcher jene Gegenstände, Einrichtungen, Zustände usf. nur die oberflächliche Außenseite sind.“41
Die Vernunft, das Absolute sind nicht jenseits der Zeit, jenseits der Welt, sondern durchdringen die Welt, manifestieren sich als vernünftige, institutionalisierte Lebensführung und als geistige Welt. Wie in der Religion Gott seine Einfachheit aufgibt und in die Welt kommt, so dass die Beziehung zwischen Gott und dem Menschen wirklich versöhnt werden kann und die beiden sich in der Gemeinschaft des Geistes zusammenschließen können, so ist das Ziel der Rechtsphilosophie ebenfalls die Idee, die Wirklichkeit, und insofern ist sie auch ein „gottesdienstliches Werk“: „Der Geist soll sich befriedigen. Hier haben wir dasselbe Interesse wie in der Religion, ein geistiges Leben zu leben. Den Geist in der Einrichtung der Welt zu finden, Versöhnung des Geistes mit der Welt, ist unser gottesdienstliches Werk. Die unendliche Güte des Göttlichen besteht darin, daß es den Individuen sich preisgibt und das Recht der Besonderheit gewähren läßt.“42 38
Ernst-Wolfgang Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt. Von den Anfängen der deutschen Staatsrechtslehre bis zur Höhe des staatsrechtlichen Positivismus, Berlin 1981, S. 133. 39 Enzyklopädie III, „Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin“, S. 402. 40 Bl, S. 47. 41 Enzyklopädie I, § 6 Anm., S. 49. 42 Bl, S. 53.
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
Die Welt des Geistes ist das Reich der Freiheit. Die ganze Philosophie des Rechts ergründet nichts anderes als das System der Freiheit, das durch die Bestimmung der Willensfreiheit gebildet wird. Die Wissenschaft des Rechts ist das Denken der Freiheit, das Denken des Begriffs der freien Wahrheit ihrer Zeit, das Denken der wirklichen Ordnung der Freiheit in der Welt. Wie Vittorio Hösle formuliert, bringt Hegels Rechtsphilosophie als Teil des objektiven Idealismus einen sittlichen Realismus zum Ausdruck. Sie glaubt, dass es eine umfassende normative Wahrheit a priori gibt, und dieses sittliche Wissen oder diese Wahrheit offenbart die ultimative Grundlage für die Verwirklichung unserer Überzeugungen und Handlungen jenseits unserer subjektiven Erkenntnisse: Auch wenn sittliche Gesetze weder physische noch psychologische oder soziale Tatsachen sind, definiert diese primitivere Faktizität gleichwohl grundlegend die reale Struktur der Erfahrung, die von unserem gesunden Menschenverstand verstanden wird.43 Für Hegels Staatswissenschaft gibt es also keinen Gegensatz zwischen der Vernunft und der Wirklichkeit, sondern das Vernünftiges ist in der Wirklichkeit: „Wir machen geltend, daß die Wahrheit substantiell, ebenso innerer Begriff als Wirklichkeit sei; daß sie keine leere Vorstellung, sondern allein das Rechtshabende sei. Es ist irreligiös, wenn man sagt, daß die Wahrheit, das Göttliche nur ein Jenseits des blauen Himmels sei oder nur im innern subjektiven Gedanken liege. Der Natur gibt man zu, daß sie eine göttliche sei, das Denken hingegen sei gottverlassen, der Zufälligkeit überlassen. Die Idee ist vielmehr schlechthin das Allgegenwärtige, ist nicht ein gleichgültiger Zuschauer neben den andern, sondern allbeseelend, ohne das nichts ist, was ist. Die Wirklichkeit ist der Leib, die Idee die belebende Seele; jene fiele in Staub, wenn diese entwiche. Wir erkennen das, was ist, das Wirkliche selbst.“44
Rolf-Peter Horstmann erklärt, dass Hegels Vernunft nicht nur eine epistemologische Bedeutung, sondern auch eine ontologische Bedeutung hat: „Vernunft ist nicht mehr nur der Name für ein in seinen Leistungen genau zu spezifizierendes menschliches Erkenntnisvermögen – dies wäre die epistemologische Konnotation –, dieser Begriff bezeichnet zugleich das, was eigentlich und eminent wirklich ist – dies die ontologische Konnotation.“45 Das Ziel der Rechtsphilosophie oder des philosophischen Rechts ist es, zu ergründen, wie die Idee eine freie Welt und eine vernünftige institutionelle Lebensform für sich selbst schaffen kann. Es geht mithin um den Prozess der Gestaltung der Welt, den Prozess der Teilnahme an der Realität und den Prozess der Selbstverwirklichung der Idee, also die „Selbsterkenntnis der Vernunft“.46 Rüdiger Bubner schreibt: „Die Vernunftarbeit dringt in die objektiven Gegebenheiten ein, 43 Vgl. Vittorio Hösle, Objective Idealism. Ethics and Politics, Notre Dame 1998, Preface, S. vii. 44 Bl, S. 47. 45 Rolf-Peter Horstmann, „Hegels Konzeption von Rationalität – die Verbannung des Verstandes aus dem Reich der Wahrheit“, in: ders., Die Grenzen der Vernunft, Frankfurt a. M. 2004, S. 133–134. 46 Vgl. GW 4, S. 30 f.
A. Die Zweideutigkeit der öffentlichen Meinung
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diagnostiziert sie, fällt Distinktionen, gestaltet um und baut Handlungsräume unterschiedlicher Reichweite und Struktur auf. Diese Handlungsräume dienen ausschließlich der Ermöglichung der Realisierung des Freiheitsanspruchs, den Subjekte erheben.“47 Und in der endlichen Welt, besonders in der vom objektiven Geist beschriebenen Welt, ist für Hegel der objektive Geist eine „von ihm hervorzubringende und hervorgebrachte Welt“.48 Auf der einen Seite verwirklicht das Subjekt durch eine Reihe von Institutionen sein Eigentum, seine Gefühle und seine Gemeinschaftsbedürfnisse; diese Institutionen sind ihm nicht fremd und äußerlich, das Subjekt hebt vielmehr mit diesen Institutionen seine eigenen besonderen Rechte hervor. In seinem Diskurs über die öffentliche Meinung wies Hegel auf die Wichtigkeit und Bedeutung des Prinzips der subjektiven Freiheit in der modernen Welt für die öffentliche Meinung hin; gerade wegen des Eigensinns der modernen Menschen ist die öffentliche Meinung zu einer großen Macht geworden: „Was jetzt gelten soll, gilt nicht mehr durch Gewalt, wenig durch Gewohnheit und Sitte, wohl aber durch Einsicht und Gründe.“49 „Das Prinzip der modernen Welt fordert, daß, was jeder anerkennen soll, sich ihm als ein Berechtigtes zeige.“50
Auf der anderen Seite sind diese Institutionen die vorhandene Vernunft, die Vernunft in der Welt, durch welche die subjektiven Rechte Bestätigung bekommen können. Die Institutionen sind das Feld der Freiheit. In Wissenschaft der Logik stellt Hegel klar: „Es ist gegen diese Flachheit die flache Erinnerung zu machen nötig, daß durch das Anschauen keine Wissenschaft zustandekomme, sondern allein durchs Denken.“51 Und das Leitmotiv der Vorrede der Rechtsphilosophie ist davon geprägt, man solle „Wissen gegen Glauben, Vernunft gegen Meinung verteidigen“.52 Daher hat Hegel immer wieder betont, dass der entscheidende Faktor der Kultur der Freiheit „die Majestät des Wissens, nicht der bloß ungeprüfte Inhalt öffentlicher Meinungsäusserung“53 bleibt. In seiner Kritik an der willkürlichen Freiheit hat Hegel gezeigt, dass der wahre Begriff und die wahre Natur des Willens darin liegen, „nach den Begriffen der Sittlichkeit überhaupt“54 zu handeln. Das heißt, jeder muss sich auf die Grundlage der Wahrheit der Freiheit stützen; dann haben seine Handlungen die Bedeutung wahrer Objektivität, und bloße Meinungen können zur wahren Wissenschaft aufsteigen. Was ich also verwirklicht habe, ist keine objektiv gegebene Ordnung, sondern das Wesen des Begriffs meiner eigenen Freiheit: 47
Rüdiger Bubner, Polis und Staat, Frankfurt a. M. 2002, S. 169. Enzyklopädie III, § 385, S. 32. 49 Rechtsphilosophie, § 316 Zusatz, S. 483. 50 Rechtsphilosophie, § 317 Zusatz, S. 485. 51 Wissenschaft der Logik II, S. 535. 52 Paolo Becchi, „Die Wurzeln der Ethik der Überzeugung“, in: Praktische Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel und Riccardo Pozzo, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 572. 53 Klaus Vieweg, Das Denken der Freiheit, München 2012, S. 448. 54 Rechtsphilosophie, § 15 Zusatz, S. 67. 48
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
„Ein Subjekt hat im Sittlichen sein Wesen, es ist nicht oder Nichtiges, wenn es nicht dies ist. Dies Verhältnis: da ist für das Subjekt dieser Inhalt wesentlich und vom Subjekt als solchem gewußt, und das Verhältnis ist Gegenstand für ihn, der aber nicht ein anderes sein soll, sondern als sein Wesen … Das Sittliche ist der substantielle Inhalt meines Willens, und damit soll ich dem gemäß sein, und somit ist es Pflicht für mich. Ich bin daran gebunden, dann bin ich in der Einheit des Wesens meines Willens.“55
Hegel verurteilt daher die Einzigartigkeit der Meinung in der Berliner Vorlesungen von 1818/19: „Je schlechtere Gedichte jemand macht, um so vortrefflicher erscheinen sie ihm.“56 Jeder normative Inhalt muss aus der allgemeinen Vernunft kommen, und subjektive Meinungen haben nur dann wirkliche Geltung, wenn sie der Vernunft gemäß sind. Die schlechten Meinungen entsprechen nicht dem Begriff und der Wahrheit der Freiheit, so dass sie nur eine falsche Vorstellung von Freiheit hervorbringen, was zu Eitelkeit und Eigendünkel führt: „Indem es dabei um das Bewußtsein der Eigentümlichkeit der Ansicht und Kenntnis zu tun ist, so ist eine Meinung, je schlechter ihr Inhalt ist, desto eigentümlicher; denn das Schlechte ist das in seinem Inhalte ganz Besondere und Eigentümliche, das Vernünftige dagegen das an und für sich Allgemeine, und das Eigentümliche ist das, worauf das Meinen sich etwas einbildet.“57
Hegel wiederholt die Kritik an dem Versuch, den Staat auf Wahrnehmung, Gefühl und Anschauung zu gründen: „So sind die Philosophen darauf gekommen, zu sagen, die unmittelbare Wahrnehmung sei das Wahre; Kein Bauer ist so dumm, der nicht wissen sollte, daß man in der unmittelbaren Anschauung irren kann und daß überhaupt das unmittelbar sich Darbietende ein Vergängliches ist. Mit Ansichten über den Staat geht es eben nicht besser; man hat so das platteste Zeug gehört. Dergleichen Dinge sind allerdings ganz originell, weil es vernünftigen Menschen nicht einfällt, solches Zeug zu schwatzen.“58
Die öffentliche Meinung wird verachtet, weil die individuelle Meinung darin durchdringt. Die Gesinnung selbst ist ein zweideutiger Begriff; die Gesinnung der subjektiven Meinung löst die wirkliche Staatsverfassung auf, während die sittliche Gesinnung den Staat konsolidiert: „Die Gesinnung ist nun aber im Staate ein Wesentliches, welches einerseits durch die Institutionen hervorgebracht wird, andererseits aber auch wankend gemacht werden kann durch böses Räsonnement.“59 „Böses Räsonnement“, das im formellen Gewissen bleibt, wird die Gesinnung hervorbringen, die politische Gemeinschaft aufzulösen: „Es löst sich alles Bestehende in der urteilenden, meinenden Subjektivität auf. Der Staat ist in seiner Auflösung begriffen, wenn die subjektive Meinung das Substantielle wird.“60 Hegel nennt aber auch den Grund, warum die öffentliche Meinung geachtet zu werden verdient: 55
Kiel, S. 152–153. Bl, S. 272. 57 Rechtsphilosophie, § 317, S. 484. 58 Bl, S. 272–273. 59 Bl, S. 274. 60 Bl, S. 275. 56
B. Die öffentliche Meinung und die Demokratie
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Die öffentliche Meinung, „diese geistige, sittliche Macht selbst, enthält den Begriff den der Mensch sich von seiner Würde, seiner Unendlichkeit in sich macht.“61 Das heißt, die öffentliche Meinung bringt das Verständnis, das Wollen und die Erwartung der Freiheit zum Ausdruck und ist daher „das Respektabelste, Heiligste“; eine Gesellschaft ohne öffentliche Meinung ist eine ungerechte Gesellschaft, eine Gesellschaft, in der die Menschen immer noch als Sklaven betrachtet werden, und Gerechtigkeit ist die Vernunft an und für sich.
B. Die öffentliche Meinung und die Demokratie Es besteht kein Zweifel daran, dass Hegel kein Unterstützer der Demokratie ist, und in der Rechtsphilosophie und den politischen Schriften formuliert er wiederholt seine Kritik an der Demokratie, insbesondere an der Wahldemokratie. Die Praxis der modernen Demokratie beruht auf der Ausrichtung der öffentlichen Meinung, und die Legitimität der Herrschaft beruht auf der Zustimmung des Volkes, das heißt, sie muss die Zustimmung des Volkes in Form der öffentlichen Meinung verkörpern. Eine Form der nichtdemokratischen Herrschaft oder Diktatur, der es an einer solchen Bezugnahme auf die öffentliche Meinung mangelt, ist eine Form der Herrschaft, in der die Herrscher ihre eigenen Ansichten als öffentlichen Willen zwangsweise durchsetzen, und die öffentliche Meinung kann man insofern fast mit der Demokratie gleichsetzen, als die Verkörperung der öffentlichen Meinung das wichtigste Abstimmungssystem der Demokratie ist.62 Aber bedeutet die Negation der Demokratie, dass Hegels politische Philosophie insgesamt negativ ist? Wenn auch mit der inzwischen erreichten Klarheit über die Rechtsphilosophie Hegels die Idee, Hegel sei ein Feind der offenen Gesellschaft, allmählich an Überzeugungskraft verloren hat, müssen wir gleichwohl noch den Kontext aufklären, in dem Hegels Demokratiekritik geäußert wurde, und uns vergewissern, welche Bedeutung diese Kritik für seine Theorie der öffentlichen Meinung hat. Wir sehen zuerst, dass sowohl Kant, der das Prinzip der Subjektivität und subjektiven Freiheit in den Vordergrund gerückt hat, wie auch Hegel, der diesen Standpunkt als die „Reflexion des Willens in sich und seine für sich seiende Identität“63 bezeichnet, eindeutig Gegner der Demokratie waren. In seiner Schrift Zum ewigen Frieden unterscheidet Kant zwischen Republikanismus und Demokratie in der Weise, dass der Republikanismus „das Staatsprincip der Absonderung der ausführenden Gewalt (der Regierung) von der gesetzgebenden“, die Demokratie hingegen „Despotism“64 sei. Die Demokratie ist nach Kants Ansicht nichts anderes als ein öffentlicher Wille, der in der Mehrheitsentscheidung vom 61
Gr, S. 724. Vgl. David Lippmann, Public Opinion, eingleitet v. Michael Curtis, New Brunswick u. London 1998, S. 253–255. 63 Rechtsphilosophie, § 105, S. 203. 64 Kant, AA VIII, S. 352. 62
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
Privatwillen manipuliert wird: „weil sie eine executive Gewalt gründet, da alle über und allenfalls auch wider Einen (der also nicht mit einstimmt), mithin Alle, die doch nicht Alle sind, beschließen; welches ein Widerspruch des allgemeinen Willens mit sich selbst und mit der Freiheit ist“.65 Daher sollte der Republikanismus die Form der Repräsentation annehmen, so dass die exekutive Macht nur das Gesetz umsetzt und durchführt, das vom Inhaber der Gesetzgebungsbefugnis gesetzt wurde. Kant schließt daher völlig die Möglichkeit aus, dass die Demokratie zu einer Republik wird, denn die Demokratie ist vom Rechtsstaat weiter entfernt als die beiden anderen klassischen Staatsformen der Autokratie und Aristokratie: „[I]n der Demokratie aber [ist es] unmöglich[,] anders als durch gewaltsame Revolution zu dieser einzigen vollkommen rechtlichen Verfassung zu gelangen.“66 Und wir wissen, dass nach Kants Ansicht die Revolution im Staat absolut rechtswidrig ist, das Verbot der Widersetzlichkeit gegen dem Willen des Gesetzgebers ist „unbedingt“.67 Kant, der Revolutionär der Denkweise, unterstützt im politischen Bereich die progressive Reform, d. h. der Sturz der Demokratie erfolgt nach Kants Ansicht zu Unrecht, auch wenn der Zweck eines solchen Unrechts darin besteht, einen rechtlichen Republikanismus zu gründen. Zugleich räumt Kant selbst in der repräsentativen Republik nicht allen Menschen das Recht ein, gleichberechtigt an der Gesetzgebung teilzunehmen: Er schließt Frauen, Kinder und diejenigen, die kein bestimmtes Eigentum besitzen, aus. Kant weist in der Metaphysik der Sitten darauf hin, dass der Staatsbürger selbständig sein soll, d. h. der Staatsbürger zeichnet sich dadurch aus, „seine Existenz und Erhaltung nicht der Willkür eines Anderen im Volke, sondern seinen eigenen Rechten und Kräften als Glied des gemeinen Wesens verdanken zu können“; es ist nämlich ein wesentliches Kriterium für die „bürgerliche Persönlichkeit, in Rechtsangelegenheiten durch keinen Anderen vorgestellt werden zu dürfen“.68 Obwohl Kant selbst zugesteht, dass die Erfordernisse, unter denen ein Bürger sein eigener Herr sein kann, schwer zu bestimmen seien, aber er schließt jedenfalls den Hausbedienten, den Ladendiener, den Tagelöhner und den Friseur aus dem Kreis der Bürger aus, und dieser Ausschluss richtet sich nach dem „Gebrauch seiner Kräfte den er einem Anderen bewilligt“.69 Diesbezüglich war Hegel fortschrittlicher als Kant; seiner Ansicht nach haben auch Frauen Personalität im bürgerlichen Sinne und natürlich das Recht, sich an öffentlichen Angelegenheiten zu beteiligen. Darüber hinaus übertrug Hegel auch nicht, wie Karl-Heinz Ilting behauptet, dem politischen Stand die alleinige Verantwortung für das Wissen und Wollen des Allgemeinen, während die anderen Stände, die nur mit einem subjektiven und begrenzten Zweck für eine unpolitische bürgerliche Gesellschaft leben, einfach der Regierung vertrauen sollen: „Das politische 65
Ebd. Kant, AA VIII, S. 353. 67 Kant, AA VIII, S. 299. 68 Kant, AA VI, S. 314. 69 Kant, AA VIII, S. 295. 66
B. Die öffentliche Meinung und die Demokratie
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Bewußtsein der Träger der Staatsgewalt, von dem hier die Rede ist, bleibt getrennt von der ‚politischen Gesinnung‘ der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft, die nur im ‚Zutrauen‘ besteht, daß die Inhaber der Staatsgewalt ihr ‚substantielles und besonderes Interesse‘ waren.“70 Hegels eigentliche Auffassung besteht vielmehr darin, dass jeder Bürger in politische Angelegenheiten einbezogen werden sollte. Auch wenn die meisten von ihnen in der Regel nur im Rahmen besonderer Interessen und Zwecke tätig sind, haben sie in solchen Situationen gleichwohl eine politische Gesinnung und verfolgen als politisch zu klassifizierende Intentionen: „The real burden of effecting the end of the state lies with the ordinary citizens, who act in the sphere of particular interests and ends, but do so in a way that is informed by political sentiment.“71 Kant sagte: „Die Freiheit der Feder [ist] das einzige Palladium der Volksrechte“.72 Wir können uns sicherlich eine undemokratische Theorie der öffentlichen Meinung vorstellen, die, wie bereits oben ausgeführt, zeigt, dass sich die Demokratie, wie Kant sie versteht, von der Demokratie in unserem modernen Sinne unterscheidet und dass Demokratie eine direkte oder zumindest partizipative Demokratie für alle ist. Kants Widerstand gegen die Demokratie bedeutet also nicht, dass Kant in Gegnerschaft zur Neuzeit steht, und diese Schlussfolgerung kann bis zu einem gewissen Grad auch auf Hegels Position angewendet werden. Zu Kants und Hegels Zeiten war freilich der Begriff der Demokratie nicht so stark normativ aufgeladen, wie er es heute ist73 – was auch bedeutet, dass unsere Zeit die Demokratie als Maßstab der Normativität für alle politischen Formen betrachtet. Kant und Hegel haben eine solche Erfahrung nicht mit uns geteilt. Bei der Diskussion über die Einteilung der Verfassungen weist Hegel darauf hin, dass der Unterschied zwischen der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie in der Zahl der endgültigen Entscheidungsträger bestehe: ein einzelner Monarch in der Monarchie, ein Rat in der Aristokratie; in einer Demokratie hingegen seien „[a]lle, das Volk, die höchste beschliessende Autorität“.74 Hegel ist daher der Ansicht, dass in der Demokratie „alle einzeln an der Beratung und Beschließung über die allgemeinen Angelegenheiten des Staats Anteil haben sollen, weil diese Alle Mitglieder des Staats und dessen Angelegenheiten die Angelegenheiten aller sind, bei denen sie mit ihrem Wissen und Willen zu sein ein Recht haben“.75
70
Karl-Heinz Ilting, „Hegels Begriff des Staates und die Kritik des jungen Marx“, in: ders., Aufsätze über Hegel, hg. v. Paolo Becci und Hansgeorg Hoppe, Frankfurt a. M. 2006, S. 86. 71 Joseph J. O’ Malley, „Hegel on Political Sentiment“, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 41/1 (1987), S. 81. 72 Kant, AA VIII, S. 304. 73 Vgl. Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 284. 74 Gr, S. 656. 75 Rechtsphilosophie, § 358 Anm., S. 477.
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
Nach Hegels Ansicht hat die Demokratie keinen „vernünftigen Sinn“.76 In Hegels Wiedergabe von Montesquieus Ausführungen über das Verhältnis von Demokratie und Tugend betont Hegel, Montesquieu glaube, dass die Tugend das Prinzip der Demokratie sei. Aber die Gesinnung, so Hegel, hänge von der Institution ab, die „die Entwicklung der Idee innerhalb ihrer selbst“77 ist, d. h. die Institution entfalte sich zu „einer entwickelten Organisation in sich“.78 Die Grundlage der Monarchie, der Aristokratie und der Demokratie sei „die noch ungetrennte substantielle Einheit“.79 Diese Verfassungen sind noch nicht zur modernen Sittlichkeit, zum System der Freiheit als System der bestehenden Institutionen und Gesetze gelangt, und im geschichtlichen Kontext der Moderne, „bei einem ausgebildeteren Zustande der Gesellschaft, und bei der Entwicklung und dem Freiwerden der Mächte der Besonderheit“80, können die Tugend und die mit ihr verbundene Demokratie den konkreten Inhalt des modernen Lebens nicht mehr bewältigen. In modernen Staaten ist die politische Gesinnung der Effekt eines Verfassungssystems, das diese Momente der unpolitischen Sphäre enthält. Ohne diese Quelle kann die sittliche Gesinnung nicht aufrechterhalten werden, und dies hat Hegel zufolge dazu geführt, dass die Tugend nicht nur die sittliche Gesinnung der Demokratie ist, sondern jede Institution des entsprechenden staatsbürgerlichen Geistes bedarf, um ihren Bestand zu sichern. Wenn wir Hegels Kritik an der Demokratie tiefer verstehen wollen, dann müssen wir zunächst zwei verschiedene Ideen von Demokratie unterscheiden, nämlich die klassische Demokratie und die moderne Demokratie, mit denen Hegel auf die politische Praxis der griechischen Polis und die Französische Revolution verweist. Diese politische Praxis unterscheidet sich stark von der liberalen repräsentativen Demokratie, die wir kennen, wie Hegel in den Heidelberger Vorlesungen formuliert: „In der Demokratie ist Besonderheit der Zwecke nicht eintretend, sondern das Ganze des Staates … das Prinzip der Besonderheit ist in der Demokratie nicht enthalten, und wenn es eintritt, so wirkt es vernichtend auf sie; das Prinzip der Besonderheit, wenn es nicht mit dem Allgemeinen versöhnt ist, wirkt zerstörend, und dies ist der Mangel der Demokratie, daß sie dieses Prinzip, welches kommen muß, nicht in sich hat.“81
Das heißt, diese Art von Demokratie nimmt die bürgerliche Gesellschaft nicht in sich auf, das System der Bedürfnisse ist nicht von der Familie getrennt, die wirtschaftliche Tätigkeit wird nicht als Streben nach den eigenen besonderen Interessen und Meinungen verstanden, sondern im Bereich des oikos angesiedelt. Die politische Gemeinschaft fördert nicht den „Trieb nach unendlichem Reichthum“82; eine rein monetäre Tätigkeit hat keinen wirklichen Zweck an sich, so dass sich 76
Ebd. Rechtsphilosophie, § 267, S. 412. 78 Rechtsphilosophie, § 273 Anm., S. 436. 79 Ebd. 80 Rechtsphilosophie, § 273 Anm., S. 438. 81 Wan, S. 194. 82 GW 5, S. 355. 77
B. Die öffentliche Meinung und die Demokratie
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das Wirtschaftsleben in dieser Gemeinschaft noch in einer sehr einfachen Form vollzieht. Die Gemeinschaft muss den Einfluss des wirtschaftlichen Bereichs auf das Gemeinschaftsleben stets unter Kontrolle halten, da das politische Leben der Gemeinschaft auf der sittlichen Tugend der Bürger beruht, insbesondere auf jener Tapferkeit, die darin besteht, alle endlichen Bedürfnisse aufzugeben, um für die Gemeinschaft zu sterben. Daher ist diese Demokratie im Wesentlichen eine ungeteilte Lebensform, d. h. es gibt in ihr keinen Raum für eine unpolitische Existenz. Sie kann ihre eigene Stabilität angesichts der Eingriffe der Wirtschaftstätigkeit nicht aufrechterhalten. Wir sehen, dass die Demokratie, von der Hegel spricht, ebenfalls diese Verfassung ist: ein System „der Teilnahme aller an allen Geschäften“83, in dem alle Menschen die höchste entscheidende Autorität innehaben. Hegel betont, dass der Organismus des modernen Staates „die Entwicklung der Idee zu ihren Unterschieden und zu deren objektiver Wirklichkeit“84 sei, d. h. die verschiedenen Gewalten im modernen Staat müssten organisch aufgeteilt und organisiert werden, aber: „In der Demokratie fallen unmittelbar alle Gewalten zusammen, das Volk ist der oberste Gesetzgeber, der oberste Richter; für die Exekution bedarf es allerdings eines Individuums, z. B. eines Feldherrn, aber es ist ihm die Gewalt nicht bestimmt übertragen, und er kann nicht wissen, wie weit er gehen kann. In dem unsteten Volk stehen keine Gesetze fest.“85
Da die Macht im Namen des Volkes ausgeübt werden muss, lehnt die Demokratie jede Form von Repräsentation und Gewaltenteilung ab. Die Demokratie verlangt von jedem, sich unmittelbar an den Angelegenheiten des Staates zu beteiligen, und jede Entscheidung des Staates erfordert individuelle Rücksichtnahme und die Zustimmung des Einzelnen – anders gesagt, der Staat ist nichts anderes ist als ein nahtloser Ausdruck des Willens von allen. Mit der unendlichen Persönlichkeit subjektiver Freiheit und individueller Unabhängigkeit ist die Demokratie nach der Verbreitung des Christentums in der modernen Welt anachronistisch geworden. Die Moderne ist nicht mehr eine Welt der Tragödie, sondern „eine Welt nach der Tragik“, „die Vergangenheit der Tragik und eine Gegenwart nach der Tragik“.86 Aufgrund der inneren Subjektivität rezipiert das moderne Subjekt nicht mehr einseitig und unreflektiert das unmittelbare Gesetz, sondern hält Distanz zur äußerlichen Wirklichkeit und verhält sich reflexiv gegenüber allen Werten.87 Aus unserer Darstellung von Hegels Rechtsphilosophie der Jenaer Zeit ist ersichtlich geworden, dass Hegel das System der Arbeit und der Bedürfnisse nicht mehr in die natürliche sittliche Einheit der Familie einbrachte; er sah die Bedeutung der Arbeit darin, die Menschen von der Natur zu befreien, und betrachtete das System der bürgerlichen Gesellschaft, dieses Reich der Mei 83
Enzyklopädie III, § 542 Anm., S. 339. Rechtsphilosophie, § 269, S. 414. 85 Wan, S. 196. 86 Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen, Frankfurt a. M. 1996, S. 42. 87 Vgl. Zhi-Hue Wang, Freiheit und Sittlichkeit, Würzburg 2004, S. 70. 84
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
nung, diese Schöpfung der modernen Welt, als Moment der sittlichen Entzweiung. Dieser Wandel geht einher mit einer Anpassung des Verhältnisses von Politik und Gesellschaft: Der politische Staat betrachtet die Besonderheit nicht mehr als etwas, das überwunden werden muss, auch wenn die Politik immer noch die Ansichten dieser Mehrheiten überwinden muss. Andernfalls bliebe die Freiheit einseitig; sie soll aber in einer öffentlichen Sphäre als einem Raum existieren, in dem die subjektive Freiheit verwirklicht wird. Die Öffentlichkeit setzt sich für die Legitimität von Recht und Politik ein, weil nicht länger toleriert wird, dass die Legitimität einer politischen Ordnung sich nur von ihrer Gegebenheit herleitet, und weil sich in der Öffentlichkeit das Grundprinzip der modernen Welt manifestiert. So ist Hegels Kritik an der Demokratie nicht, wie oft behauptet, mit den besonderen Rechten, etwa der Meinungsfreiheit unvereinbar. Hegel verteidigt die öffentliche Meinung gerade durch seine Kritik an dieser besonderen Form der Demokratie, damit subjektive Meinungen nicht von einer ungeteilten Sittlichkeit verschlungen werden, denn: „Pour le citoyen athénien ou spartiate, être libre, ce n’est pas comme pour l’homme moderne être maître de sa personne et de ses opinions, ce n’est pas disposer à son gré de ses biens; c’est être citoyen d’une cité juste, disposant de bonnes lois. La vertu démocratique consiste à prendre en charge le destin de la communauté.“88 Die Bewunderung der alten Demokratie für die Tugend förderte ein Heldentum der Tapferkeit, das zur völligen Unterordnung des Individuums unter die Substantialität führte, und diese Polis-Sittlichkeit ist in der modernen Welt anachronistisch. In der Phänomenologie beschreibt Hegel eine andere Form, in der alle Menschen in die Politik eingebunden sind, die absolute Freiheit und den Terror der Französischen Revolution. In dieser Bewusstseinsgestaltung der absoluten Freiheit „[ist] die Welt […] ihm [dem Menschen oder Bürger] schlechthin sein Wille, und dieser ist allgemeiner Wille. Und zwar ist er nicht der leere Gedanke des Willens, der in stillschweigende oder repräsentierte Einwilligung gesetzt wird, sondern reell allgemeiner Wille, Wille aller Einzelnen als solcher. Denn der Wille ist an sich das Bewußtsein der Persönlichkeit oder eines Jeden, und als dieser wahrhafte wirkliche Wille soll er sein, als selbstbewußtes Wesen aller und jeder Persönlichkeit, so daß jeder immer ungeteilt alles tut und [daß,] was als Tun des Ganzen auftritt, das unmittelbare und bewußte Tun eines Jeden ist.“89
Diese Bewusstseinsgestalt besagt, dass der allgemeine Wille nicht vertreten werden kann, dass der Repräsentant als eine Einschränkung seiner der Allgemeinheit dieses Willens angesehen wird, dass durch die Annahme einer Bestimmung der Wille seine Allgemeinheit völlig verlieren wird, und dass daher die Besonderheit eine Schranke ist, die überwunden werden muss. Deshalb lehnt diese absolute Freiheit die Unterscheidung und Aufteilung der staatlichen Gewalt im politischen Leben ab. Zugleich lehnt sie es ab, „zur seienden Substanz“90 gemacht zu werden, d. h. es wird nicht toleriert, dass das Individuum als „eine bestimmte Persönlich 88
Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationnel: Hegel et l’esprit objectif, Paris 2008, S. 290. 89 Phänomenologie des Geistes, S. 432–433. 90 Phänomenologie des Geistes, S. 435.
B. Die öffentliche Meinung und die Demokratie
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keit“ an der Aktivität der Eigeninteressen teilnehmen darf. Alle Meinungen werden als begrenzt angesehen und müssen ausgelöscht werden, so dass die absolute Freiheit sich als „das abstrakte Selbstbewusstsein“ darstellt. Ihr Anspruch ist, „selbst das Gesetz zu geben und nicht ein einzelnes Werk, sondern das Allgemeine selbst zu vollbringen; denn wobei das Selbst nur repräsentiert und vorgestellt ist, da ist es nicht wirklich; wo es vertreten ist, ist es nicht.“91Diese Bewusstseinsgestalt versucht, jede wirkliche Organisationsstruktur als Einschränkung der Freiheit zu zerstören. Sie postuliert einen undialektischen, unvermittelbaren Widerspruch zwischen ihrem eigenen einsamen Fürsichsein und den einschränkenden Elementen dieser Freiheit; alles andere als ihre Gewissheit, allgemein zu sein, wird abgelehnt und die Freiheit als absolute Freiheit interpretiert – was nichts anderes bedeutet, als dass die Freiheit eine abstrakte Flucht zu sein scheint, statt die Subjekte miteinander zu vermitteln. Wie die antike Demokratie hat auch die demokratische Praxis der Französischen Revolution der Tugend Priorität eingeräumt: „Es herrschen jetzt die Tugend und der Schrecken; denn die subjektive Tugend, die bloß von der Gesinnung aus regiert, bringt die fürchterlichste Tyrannei mit sich. Sie übt ihre Macht ohne gerichtliche Formen, und ihre Strafe ist ebenso nur einfach – der Tod.“92
Dieser Versuch, als „Diktatur der Tugend“93 alle wirklichen Unterschiede und Differenzen durch Tugend zu beseitigen, führt in einen Fanatismus, der blind ist für die moderne geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit. Im modernen Leben muss eine Person eine Vielzahl von sozialen Rollen spielen, er oder sie muss als Eigentümer am wirtschaftlichen Austausch teilnehmen, als Familienmitglied eine Ehe eingehen, als Mitglied seines Standes und seiner Korporation einen bestimmten Bereich des gesellschaftlichen Lebens besetzen, als Staatsbürger ein objektives und freies Leben im politischen Sinne führen. Dies ist die Wirklichkeit des modernen Lebens, und im Gegensatz zu allen Zeiten der Vergangenheit erkennen die Modernen die Freiheit eines jeden Menschen an, an verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens nach eigenem Gutdünken teilzunehmen. Sie versuchen daher, diejenigen Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, die von der Politik getrennt sind, die blindes und arrogantes Handeln sind, zu beseitigen. Durch „die Sphäre der Differenz“94 ist ein Bruch mit der Tradition in dem Sinne geschehen, „daß Begriffe und Inhalte der vormaligen Politik infolge der Differenz von Staat und bürgerlicher Gesellschaft unvernünftig geworden und geschichtlich vergangen sind“.95 Nun muss die politische Philosophie, die die Weisheit der Beschränkung in sich schließt, zwischen der Aufnahme der Unterschiede im wirklichen Leben und ihrer unnötigen Beseitigung wählen, und 91
Ebd. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 533. 93 Lewis White Beck, „Reformation, Revolution und Restauration in Hegels politischer Philosophie“, in: Praktische Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel und Riccardo Pozzo, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 511. 94 Wan, S. 171. 95 Manfred Riedel, Zwischen Tradition und Revolution, Stuttgart 1982, S. 59. 92
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
nach Hegels Ansicht kann jene absolute Freiheit, die „allen Unterschied und alles Bestehen des Unterschiedes in sich vertilgt“96, zu keinem positiven Werke kommen. Die Freiheit muss auf vermittelte Weise verwirklicht werden, was bedeutet, die menschliche Persönlichkeit, Subjektivität und die Unterschiede im Leben auf der Grundlage menschlicher Freiheit zu respektieren; durch diese Momente der subjektiven Freiheit wird die Sittlichkeit konkret und wirklich. Die objektive gesellschaftliche und politische Lebensstruktur als Anderes für den Menschen ist diesem nicht einfach fremd, sondern er muss sie als von ihm ausgehend zu sich selbst zurücknehmen, denn durch die objektive Struktur und Ordnung wird die menschliche Freiheit verwirklicht; diese Sphäre ist daher nicht nur nicht äußerlich, sondern die Selbstdifferenzierung und Entwicklung der Idee. Es ist gerade der Niedergang der ungeteilten Substanz der Demokratie, der das Entstehen einer neuen öffentlichen Meinung auf der Grundlage subjektiver Freiheit vorwegnimmt, und jetzt sehnen sich die Menschen nicht mehr danach, einen Standard, eine unreflektierte Lebensweise zu erfüllen, sondern ihrem eigenen Leben ihren Inhalt zu geben. Auch wenn dieser Inhalt oft zu Ärgernissen, Belastungen und Ungewissheiten führt, sind die Menschen dazu bereit, der natürlichen Gegebenheit zu entkommen und von ihr zu abstrahieren, um sich in eine reine Möglichkeit zu verwandeln; das heißt, ein Mensch wird zu einem bloßen Mensch der Meinung, und gerade durch das Recht, seine Meinung zu äußern und sein eigenes Leben nach Maßgabe der eigenen Meinung zu führen, kann der Mensch zeigen, dass er (oder sie) ein Mensch ist. Hegel selbst kritisiert allerdings die Praxis der modernen liberalen Demokratie, die er in der Enzyklopädie als die „demokratische Weise des Wählens“97 bezeichnet. Hegels berüchtigtster Angriff auf die liberale Demokratie wird in seiner Schrift zur Englischen Reformbill vorgetragen, in der Hegel sich gegen die Reformbill zur Ausweitung des Wahlrechts ausspricht, die seiner Ansicht nach nicht nur der sozialen Wirklichkeit nicht förderlich ist, sondern auch ihre ohnehin bestehende Tendenz zur Atomisierung verschärft. In der Württemberger Schrift heißt es: „Die Bürger erscheinen als isolierte Atome und die Wahlversammlungen als ungeordnete, unorganische Aggregate, das Volk überhaupt in einen Haufen aufgelöst, – eine Gestalt, in welcher das Gemeinwesen, wo es eine Handlung vornimmt, nie sich zeigen sollte; sie ist die seiner unwürdigste und seinem Begriffe, geistige Ordnung zu sein, widersprechendste.“98
Aus diesem Grund weist Hegel Kants Auffassung zurück, dass das Eigentum die Voraussetzung für das Stimmrecht sei, sei das Kriterium ein „Alter von 25 Jahren und eine Vermögenssumme von 200 Fl. aus Liegenschaften“, wie es in Wittenberg festgelegt wurde, oder, wie von der Englischen Reformbill vorgeschlagen, „eine freie Rente von zehn Pfund aus Grundeigentum“. Dergleichen hat nichts zu tun mit dem Begriff des Staates. Das Wahlrecht bringt überhaupt mehr politische Verdorbenheit mit sich als politische Begeisterung der Bürger: 96
Phänomenologie des Geistes, S. 437. Enzyklopädie III, § 544 Anm., S. 343. 98 Nürnberger und Heidelberger Schriften 1808–1817, S. 482. 97
B. Die öffentliche Meinung und die Demokratie
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„Der Erfahrung nach zeigt sich jedoch die Ausübung des Stimmrechts nicht so anziehend, um gewaltige Ansprüche und daraus entstehende Bewegungen zu veranlassen. Es scheint vielmehr bei den Stimmberechtigten eine große Gleichgültigkeit dagegen, des damit verbundenen Interesses der Bestechung ungeachtet, zu herrschen.“99
Hegel wiederholte seine Kritik an diesen „Abstraktionen und [der] atomis tische[n] Vorstellung“ in der Rechtsphilosophie: „Von dem Wählen durch die vielen Einzelnen kann noch bemerkt werden, daß notwendig besonders in großen Staaten die Gleichgültigkeit gegen das Geben seiner Stimme, als die in der Menge eine unbedeutende Wirkung hat, eintritt und die Stimmberechtigten – diese Berechtigung mag ihnen als etwas noch so Hohes angeschlagen und vorgestellt werden – eben zum Stimmgeben nicht erscheinen; – so daß aus solcher Institution vielmehr das Gegenteil ihrer Bestimmung erfolgt und die Wahl in die Gewalt Weniger, einer Partei, somit des besonderen, zufälligen Interesses fällt, die gerade neutralisiert werden sollte.“100
Um diese Gleichgültigkeit zu veranschaulichen, geht Hegel auf bestimmte Beispiele zeitgenössischer Wahlen ein. In Irland verloren mehr als 200.000 Menschen ihr Wahlrecht durch eine Parlamentsakte, ohne dass sie „eine Beschwerde über diesen Verlust ihres Berufs, an den Staats- und Regierungsangelegenheiten teilzunehmen, erhoben hätten“.101 Bei den Wahlen im Vereinigten Königreich und in Frankreich ist die Wahlbeteiligung tendenziell gering; im Vereinigten Königreich neigen die Wähler dazu, die Wahl als eine „wenig wichtige Mühwaltung“102 zu betrachten, und verlangen von den Kandidaten, sie zu bestechen, um ihre Stimmzettel abzugeben. Somit habe das Wahlrecht die Grundlage geschaffen für Korruptionsformen wie „pocket boroughs“, „rotten boroughs“ und dergleichen. Nach Hegels Auffassung erzeugt die liberale Demokratie nicht automatisch eine positive öffentliche Sphäre, sondern in ihr dominiert eine enorme politische Apathie, die wir heute in fast jeder liberalen Demokratie sehen können. In seinem Buch Bowling Alone zeichnet Robert D. Putnam den Mikroprozess der amerikanischen Öffentlichkeit seit dem Zweiten Weltkrieg nach, und seiner Ansicht nach ist der Qualitätsverlust der Demokratie das Ergebnis des Niedergangs des öffentlichen Raums und der zunehmenden Atomisierung des gesellschaftlichen Lebens. Amerikaner, die ein organisiertes bürgerliches Leben führen, sich auf öffentliche Themen konzentrieren und sich leidenschaftlich für den öffentlichen Dienst interessieren, sind verschwunden. Die heutigen Amerikaner scheinen nicht mehr bereit zu sein, ihre Freizeit damit zu verbringen, mit ihren Nachbarn zu plaudern, gemeinsam in Clubs zu gehen, gemeinsame Aktionen zu unternehmen, sondern ziehen es vor, zuhause Fernsehen zu gucken oder alleine zum Bowling zu gehen. Und dieser Rückgang der Öffentlichkeit selbst hat auch zum Verlust der Chancengleichheit geführt: Die Vergrößerung der Kluft zwischen Armen und Reichen hängt damit zusammen, 99
Berliner Schriften 1818–1831, S. 111. Rechtsphilosophie, § 311 Anm., S. 481. 101 Berliner Schriften 1818–1831, S. 111. 102 Berliner Schriften 1818–1831, S. 116. 100
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
dass die bürgerliche Gesellschaft vom Staat abgetrennt worden ist und vollständig von wirtschaftlichen Kräften beherrscht und definiert wird. Bildet sich auf diese Weise eine Art „Anti-Staat“103, wird die bürgerliche Gesellschaft mehr und mehr von ihrem normalen Weg abweichen. Die Polarisierung des wirtschaftlichen Feldes wird unweigerlich zu einer extremeren Gesellschaft führen. Es bildet sich der von Hegel so genannte arme Pöbel und reiche Pöbel heraus, eine Entwicklung, die zum vollständigen Zusammenbruch des sittlichen Lebens führt, und die öffentliche Sphäre wird zu einer unorganischen Meinung, zum Widerstreit der ideologischen Positionen.104 Nach Hegels Ansicht erlaubt es die liberale Demokratie dem Einzelnen, sich als Privatperson unmittelbar und ohne gesellschaftliche Vermittlung im Staat zu beteiligen; dann bilden die Menschen nur „eine unorganische Menge“ und „eine formlose Masse“.105 Weil es keine Vermittlung, gibt, die die Einzelnen in die Öffentlichkeit integriert, wird das Individuum in seinem geschlossenen Feld gehalten. Die liberale Demokratie schafft kein wohlgeordnetes öffentliches Leben, die Privatpersonen beschränken sich auf ihre eigene subjektive Meinung, streben nach Eigeninteressen und Vermögensakkumulation ohne Verantwortung und können das Gefühl der Ehre und des Vertrauens in das öffentliche Leben nicht kultivieren. Die bösartige Gesinnung – d. h. die Gesinnung des Pöbels, der unbegründete Zweifel an anderen, dem gesellschaftlichen Leben und der Politik – wird dadurch ständig angeheizt. In seinen Darlegungen über den Ursprung des Liberalismus weist Domenico Losurdo darauf hin, dass der Liberalismus aus der aristokratischen Freiheit hervorgegangen ist, die selbst das Ergebnis der Eingriffe des Privatrechts in die Politik ist. In diesem Sinne konzentriert sich Hegels Ausarbeitung der Grenzen des äußeren Staates auch auf die Kritik an dem geschichtlichen Standpunkt der Positivität.106 So bauten das Heilige Römische Reich und Großbritannien die Politik auf vertragliche Verhältnisse auf, und in Großbritannien entstand die politische Verfassungsmäßigkeit aus der Magna Charta und der Bill of Rights, in der Hegel die privaten Rechte sah, die die Aristokraten den Monarchen zu akzeptieren zwangen: „[D]ie Magna Charta, Bill of rights, diese wichtigsten Grundlagen der englischen Verfassung, die nachher durch Parlamentsbeschlüsse weiter bestimmt worden sind, sind mit Gewalt abgedrungene Konzessionen oder Gnadengeschenke, Pacta usf., und die Staatsrechte sind bei der privatrechtlichen Form ihres Ursprungs und damit bei der Zufälligkeit ihres Inhalts stehengeblieben.“107
103
Riccardo Pozzo, „‚Bourgeois‘ oder ‚citoyen‘? Zu Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft“, in: Praktische Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel und Riccardo Pozzo, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 594. 104 Vgl. Robert D. Putnam, Bowling Alone: The Collapse and Revival of American Community, New York 2000. 105 Rechtsphilosophie, § 303 Anm., S. 473. 106 Vgl. Domenico Losurdo, Hegel und die Freiheit der Modernen, Frankfurt a. M. 2000, S. 129–201. 107 Berliner Schriften 1818–1831, S. 89.
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Die Geschichte dieser Form des Liberalismus ist eine Gegengeschichte: Die geforderte Freiheit ist nichts anderes als ein Privileg, und ihre Durchsetzung führt oft zur Untergrabung der Freiheit anderer. Aus Sicht des Liberalismus ist Freiheit eine negative Opposition; um der privaten Rechte willen sind seine Vertreter bereit, sich dem Prozess der gesellschaftlichen Vernünftigkeit zu widersetzen: „Der der Krone vorgeworfene Despotismus ist letztlich der von den Sklavenhaltern geforderten Freiheit vorzuziehen, die nur einer kleinen Herrenklasse von Pflanzern zugute kommt.“108 Hegel kommentierte die Magna Charta so: „Die Barone von England nötigten dem Könige die Magna Charta ab, aber die Bürger gewannen durch dieselbe nichts, vielmehr blieben sie in ihrem früheren Zustande.“109 Die Wahlreiche des Deutschen Reiches und Polens waren ebenfalls typische Beispiele für ein politisches System, in dem die Meinung die Politik dominiert. Hegel ist der Ansicht, „daß das Wahlreich […] die schlechteste der Institutionen ist.“110 Es ziehe keine Grenze zwischen „dem für sich Eigentümlichen und Besonderen des Meinens der Vielen“111 und der sittlichen Macht als der Notwendigkeit, und im Ergebnis werde die Privatisierung des Politischen zum Zusammenbruch der politischen Gemeinschaft führen, so Hegel in den Berliner Vorlesungen: „Sobald die alte Einfachheit der Sitten, und somit die Barbarei, aufhörte und das Selbstbewußtsein eintrat, so hat sich gezeigt, daß keine Verfassung hat schlechter sein können als die des deutschen Reichs. Polen bietet dasselbe Schauspiel dar. In Wahlreichen finden Kapitulationen statt; die Wahlkapitulation drückt aus, daß der Kaiser oder die oberste Staatsgewalt sich auf gewisse Bedingungen ergibt. Die Meinung, die Ansicht und die Willkür der Besonderheit ist unmittelbar losgelassen in einem Wahlreich. In jeder Wahlkapitulation haben die Fürsten sich neue Rechte und Vorteile ausbedungen, bis daß am Ende vom Staatsvermögen und von der Staatsgewalt nichts übriggeblieben ist … Solche Parteizerrüttungen müssen bei Thronerleidigungen eintreten, denn die besonderen Meinungen haben dann freies Spiel.“112
In der heutigen politischen Wirklichkeit gibt es keinen solchen politischen Kontext wie das Wahlreich, aber es ist immer noch zu erkennen, dass die gegenwärtige Politik mit persönlicher Präferenz, Meinung und willkürlichem Handeln gleichgesetzt wird. Die Politik wird nicht nur auf eine parteipolitische Position reduziert, sondern auch jede politische Erwägung wird auf eine Transaktion reduziert. Diese Politik schürt den atomisierten Populismus im öffentlichen Leben und vernichtet letztlich alle Grundlagen des Funktionierens eines wirklichen Systems der Freiheit. Zwar kann der moderne Staat die Eigennützigkeit in sich selbst aufheben und somit bewahren, aber das Hauptmotiv der Politik ist nicht Eigeninteresse. Hegel scheint auch noch weitere Dimensionen des Wohlergehens in den modernen Staat integriert zu haben: Der grundlegende Zweck der Öffentlichkeit ist es, eigennützige Motive zum Ausdruck zu bringen und zugleich gebildet und sittlich zu werden; 108
Domenico Losurdo, Freiheit als Privileg, Köln 2010, S. 22. Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 511. 110 Rechtsphilosophie, § 281, S. 453. 111 Rechtsphilosophie, § 316, S. 483. 112 Bl, S. 247. 109
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das Eigennützige muss organisiert, durch politische Vermittlung geäußert und in integrierter Weise ausgedrückt werden. Die Politik der Transaktionen entfaltet eine staatsfeindliche Kraft, und der Staat ist nach liberaler Auffassung keine Verwirklichung, sondern ein Hindernis für die Freiheit; die Gemeinschaft wird lediglich als ein Aggregat der Privatpersonen, als vulgus verstanden. Daher muss diese Art von Politik sich als „Feuer und Zorn“ in der Öffentlichkeit manifestieren: „[U]nd in dieser Beziehung ist es der alleinige Zweck des Staates, daß ein Volk nicht als solches Aggregat zur Existenz, zur Gewalt und Handlung komme. Solcher Zustand eines Volks ist der Zustand der Unrechtlichkeit, Unsittlichkeit, der Unvernunft überhaupt; das Volk wäre in demselben nur als eine unförmliche, wüste, blinde Gewalt, wie die des aufgeregten, elementarischen Meeres, welches selbst jedoch sich nicht zerstört, wie das Volk als geistiges Element tun würde.“113
Und wir wissen, dass das Meer und die Wüste die Bilder sind, die Hegel dem Fanatismus zuordnete. Die Wurzel des Populismus liegt in dieser Gesinnung und im Eigendünkel, der sich von der Institutionsethik abkehrt. Die Freiheit, die im Sinne des Gesellschaftsvertrags verstanden wird, verkommt oft zu einem isolierten individuellen Anspruch, zu einer Heiligung von Privilegien, ohne die höhere Dimension der Freiheit anzuerkennen, d. h. das Leben der Bürger eines Volkes. Das Privatleben basiert in Wahrheit auf dem politischen Leben. Die liberal-demokratische Idee, die den Staat auf ein Aggregat der Privatpersonen reduziert und den Sinn des politischen Lebens zerstreut, ist die politische Gesinnung des Pöbels, die alle Institutionen der Freiheit auflöst: „Wenn jeder Bürger seine Ansprüche in einer den privatrechtlichen Verhältnissen ähnlichen Weise ausdrücken und durchsetzen könnte, dann wäre ein zusammengeordnetes Leben im Staat kaum realisierbar.“114
C. Die öffentliche Meinung und die Gerechtigkeit In Hegels Diskussion der öffentlichen Meinung ist Gerechtigkeit ein zentraler Begriff. Hegel bringt die öffentliche Meinung unmittelbar mit der Gerechtigkeit in Zusammenhang; die öffentliche Meinung enthält „in sich die ewigen substantiellen Prinzipien der Gerechtigkeit“.115 Was bedeutet Gerechtigkeit für Hegel? Hegel verwendet das Wort Gerechtigkeit in der Rechtsphilosophie nur selten, und wenn er es benutzt, benutzt er es in der Regel in der Philosophie des Strafrechts. Hegel nannte seine Lehre des objektiven Geistes eher „Rechtsphilosophie“ als „Gerechtigkeitstheorie“ – ein Ausdruck der Rechtsphilosophie, der im Jahr 1820 noch sehr selten war. Die Gerechtigkeit verlor ihren Kernstatus in Hegels Lehre des objektiven Geistes, wie Jürgen Habermas betont, wegen der „Positivierung des 113
Enzyklopädie III, § 544 Anm., S. 341. Riccardo Pozzo, „‚Bourgeois‘ oder ‚citoyen‘? Zu Hegels Begriff der bürgerlichen Gesellschaft“, in: Praktische Philosophie, hg. v. Karl-Otto Apel und Riccardo Pozzo, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990, S. 597. 115 Rechtsphilosophie, § 317, S. 483. 114
C. Die öffentliche Meinung und die Gerechtigkeit
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Naturrechts“116, die durch die Erklärung der Menschenrechte der Französischen Revolution gefördert wurde. Nunmehr waren Legitimität und Moralität völlig getrennt und die Verwirklichung des Rechts hing nur von äußerem Zwang und nicht vom moralischen Inhalt ab. Kant und Fichte folgten dieser Tradition: Die Geltung des moralischen Gesetzes liege als Gesetz der Freiheit im freien Willen selbst, und das Rechtssystem als äußere Norm sei das unmoralische „allgemeine System des Zwangs“ zwischen den Gewalten.117 Bei Fichte heißt es: „Und dann macht die philosophische Behandlung desselben ein Capitel [das Sittengesetz] der Moral aus, keinesweges aber die philosophische Rechtslehre, die doch wohl eine eigene, für sich bestehende Wissenschaft seyn soll.“118 In seiner Kritik an der Theorie des Aufklärungsstrafrechts schreibt Hegel: „Durch jene oberflächlichen Gesichtspunkte aber wird die objektive Betrachtung der Gerechtigkeit, welche der erste und substantielle Gesichtspunkt bei dem Verbrechen ist, beiseite gestellt.“119 Die Strafrechtstheorie der Aufklärung definiert das Verbrechen aus einer subjektiven und moralischen Perspektive als „ein Übel überhaupt“ und die Strafe als ein „Gegenübel“120, womit verkannt werde, dass durch das Verbrechen „das Recht als Recht“121 verletzt wird. Nach Hegels Auffassung sind diese Straftheorien subjektiv definiert, so dass der Begriff der Bestrafung fehlt. So erklärt Hegel in seiner Anmerkung zu § 99: „Mitleiden, Besserung, Staatszweck, besondere Zwecke der Gesellschaft – erbleichen gegen die Frage: was erfordert die Gerechtigkeit? – Jenes alles gut und schön, aber verschieden. – Gerechtigkeit geht unter, wie Wahrheit, wenn alles nur auf subjektive Weise behandelt; – Willkür, Meinung –“122
Das heißt, die Grundlage der Strafe ist die Wiederherstellung des verletzten Rechts selbst, der Freiheit. Die Gerechtigkeit, von der Hegel hier spricht, ist demzufolge eigentlich gleichbedeutend mit dem Recht selbst: „Es ist um Gerechtigkeit zu tun, d. i. um Vernunft – d. i. daß die Freiheit ihr Dasein erhalte, – nicht sinnliche Triebfedern usf. geehrt werden, Mitleiden, Empfindung ausgeführt werden.“123 Daher sagt Hegel, „daß das Strafen an und für sich gerecht sei“.124 Die Rache ist eine Möglichkeit, die Gerechtigkeit zu verwirklichen; sie ist nur dem Inhalte nach gerecht, aber der Form nach subjektiv, so dass die Verwirklichung der Gerechtigkeit durch Rache zufällig sein muss. Gerechtigkeit muss in einer Form der Gerechtigkeit verwirklicht werden, d. h. die Art und Weise der Verwirklichung der Gerechtigkeit muss die Zufälligkeit, also die subjektive Gestalt der Rache aufhe 116
Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Frankfurt a. M. 1978, S. 92. Vgl. Jenaer Schriften, S. 472. 118 Fichte, Sämtliche Werke, Bd. 3, S. 10. 119 Rechtsphilosophie, § 99 Anm., S. 188. 120 Rechtsphilosophie, § 99 Anm., S. 187. 121 Rechtsphilosophie, § 95, S. 181. 122 Rechtsphilosophie, § 99 Bemerkung, S. 189. 123 Rechtsphilosophie, § 99 Bemerkung, S. 190. 124 Rechtsphilosophie, § 99 Anm., S. 188. 117
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
ben: „Die Forderung, daß dieser Widerspruch, der hier an der Art und Weise des Aufhebens des Unrechts vorhanden ist, aufgelöst sei, die Forderung einer vom subjektiven Interesse und Gestalt sowie von der Zufälligkeit der Macht befreiten, so nicht rächenden, sondern strafenden Gerechtigkeit.“125 Die begriffliche Bestimmtheit des Rechts an sich „gibt nur eine allgemeine Grenze, innerhalb deren noch ein Hin- und Hergehen stattfindet“.126 Aber die Rechtsprechung erfolgt in einer jeweils bestimmten geschichtlichen und gesellschaftlichen Situation, so dass das Recht an sich, das abstrakte Recht und die bürgerliche Gesellschaft, zu der die Justiz gehört, in einem Spannungsverhältnis stehen. Mit anderen Worten, die „formelle Gewißheit“ und „die abstrakte Subjektivität“127 des Richters muss sich den zufälligen Tatsachen und Umständen stellen und eine Entscheidung treffen. Wie kann dieses Urteil „in seiner Existenz gerecht“128 sein? Die Gerechtigkeit macht das abstrakte Recht in konkreten geschichtlichen und gesellschaftlichen Situationen zu einem wirklichen Recht, aber die Entscheidung des Richters hat notwendig eine Dimension der Zufälligkeit: „Die Rechtspflege hat die Bestimmung, nur die abstrakte Seite der Freiheit der Person in der bürgerlichen Gesellschaft zur Notwendigkeit zu betätigen. Aber diese Betätigung beruht zunächst auf der partikulären Subjektivität des Richters, in dem deren selbst notwendige Einheit mit dem Recht-an-sich hier noch nicht vorhanden ist.“129
Aber wie kann vermieden werden, dass diese Zufälligkeit sich als Willkürlichkeit erweist? Die Entscheidung des Richters muss einerseits auf dem Recht beruhen, muss aber andererseits geeignet sein, der Prüfung der öffentlichen Meinung standzuhalten. Sie muss also dem Gerechtigkeitsverständnis des Volkes zu einem gewissen Grad entsprechen und vom Volk akzeptiert werden können, indem sie im Einklang mit den Gerechtigkeitserwartungen der öffentlichen Meinung steht. Die Wurzel der öffentlichen Meinung liegt in der modernen subjektiven Freiheit, die zwei Dimensionen hat: „Was die Freiheit betrifft, so wird dieselbe am nächsten teils im negativen Sinne gegen fremde Willkür und gesetzlose Behandlung, teils im affirmativen Sinne der subjektiven Freiheit genommen; dieser Freiheit aber wird eine große Breite sowohl für die eigene Willkür und Tätigkeit für seine besonderen Zwecke als in betreff des Anspruchs der eigenen Einsicht und der Geschäftigkeit und Teilnahme an allgemeinen Angelegenheiten gegeben.“130
Im affirmativen Sinne hat die öffentliche Meinung, als das subjektive Urteil aller über öffentliche Angelegenheiten, einen gesunden Menschenverstand in Bezug auf Gerechtigkeit erzeugt, und der breite gesellschaftliche Konsens, der durch die 125
Rechtsphilosophie, § 103, S. 197. Rechtsphilosophie, § 214, S. 366. 127 Rechtsphilosophie, § 214 Anm., S. 367. 128 Rechtsphilosophie, § 220, S. 374. 129 Enzyklopädie III, § 532, S. 328. 130 Enzyklopädie III, § 539 Anm., S. 333. 126
C. Die öffentliche Meinung und die Gerechtigkeit
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offene Debatte über öffentliche Themen entstanden ist, hat definiert, was Recht und Unrecht, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit für eine Gesellschaft sind. Die öffentliche Meinung bringt die Prinzipien der Gerechtigkeit in einer Weise zum Ausdruck, dass sie sogar als unbegründete Vorurteile bezeichnet werden können. Subjektive Freiheit erfordert, dass „die Einzelnen als solche ihr eigenes Urteilen, Meinen und Raten über die allgemeinen Angelegenheiten haben und äußern“.131 Und darin findet die subjektive Freiheit ihre Befriedigung. Die politischen Vorteile einer solchen Äußerung liegen darin, dass „die Freiheit der Rede immer weit weniger gefährlich als das Stummsein“132 erschienen ist. Hegel argumentiert, dass Schweigen und Selbstrepression das Ergebnis des Verlusts politischer Freiheit sind, dass der polizeistaatliche Zensurmechanismus zugleich die Menschen zu weiterer Selbstrepression zwingt. Im negativen Sinne sind die in der öffentlichen Meinung enthaltenen Prinzipien der Gerechtigkeit auch der einzige Leitfaden für die Rechtspflege selbst, ein politischer Leitfaden, der richterliche Willkür und andere unrechtmäßige Handlungen verhindert: „Bei einem Richter wird zugleich angenommen, daß er sein Amt albern und schlecht verwalten würde, wenn er nicht ein Interesse, ja das ausschließende Interesse für das Recht, es nicht zum Zwecke und alleinigen Zwecke hätte und wenn er sich des Urteilens enthielte. Dies Erfordernis an den Richter kann man Parteilichkeit für das Recht nennen und weiß diese hier sehr wohl von einer subjektiven Parteilichkeit zu unterscheiden.“133
Nach Hegels Ansicht hängt dieses Verständnis von Gerechtigkeit mit der „Zeit und dem Zustand der bürgerlichen Gesellschaft“134 zusammen und korreliert mit Selbstbewusstsein und der Toleranz einer Gesellschaft: In einer entspannten und stabilen Gesellschaft werden einzigartige Ansichten und Lebensstile eher geduldet. Die gesamte Gesellschaft ist eher geneigt, Strafen bei der Bestrafung von Verbrechen zu mildern. Diese Sicht der Gerechtigkeit wird zwangsläufig im Einklang mit dem Selbstbewusstsein des Volkes in einer Zeit weithin akzeptiert und revidiert, kann aber in einer anderen Zeit und in einem anderen Volk als unerträglich beurteilt werden. Es hängt also grundlegend von einem Volk und seiner historischen Situation ab, wie man die Bedeutung von Mensch und Freiheit versteht. Man sieht also, dass die öffentliche Meinung einerseits der Gerechtigkeit nicht nur die Grenze gezogen und den Diskurs der Gerechtigkeit gestaltet hat, sondern dass die öffentliche Meinung als aktives Feld der politischen Partizipation auch die unrechtlichen Handlungen bekämpfen wird. In diesem Sinne glaubt Hegel, dass die öffentliche Meinung selbst auch ein Medium der politischen Bildung ist: Durch die Teilnahme an der öffentlichen Meinung können die politische Tugend und die Fähigkeiten aller ausgeübt werden, und das Ziel dieser Bildung ist es, das Allgemeine und die Vernunft zu verwirklichen. Wer keine wahre politische Bildung hat, kann 131
Rechtsphilosophie, § 316, S. 483. Rechtsphilosophie, § 317 Zusatz, S. 485. 133 Enzyklopädie III, § 549 Anm., S. 349. 134 Rechtsphilosophie, § 218 Anm., S. 372. 132
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
sich keinen nüchternen Einblick in politische Angelegenheiten verschaffen und ist anfällig für Meinungen: „Der schlechte Pöbel läßt sich leicht überreden.“135 Hegel glaubt daher wie Kant, dass man eine allgemeine politische Wahrheit mit anderen Mitgliedern der politischen Gemeinschaft im Medium der öffentlichen Meinung teilen kann, wenn man von der Vernunft frei und öffentlich Gebrauch macht, um seine Ansichten gegenüber seinen Mitbürgern in klarer und vernünftiger Sprache auszudrücken. In dieser Hinsicht gehören Kant und Hegel zur Tradition des Rationalismus seit der Aufklärung, wie MacIntyre erläutert: „It was central aspiration of the Enlightenment, an aspiration the formulation of which was itself a great achievement, to provide for debate in the public realm standards and methods of rational justification by which alternative courses of action in every sphere of life could be adjudged just or unjust, rational or irrational, enlightened or unenlightened. So, it was hoped, reason would displace authority and tradition. “136 In der öffentlichen Meinung möchte das moderne bürgerliche Subjekt sicherstellen, dass das, was es sagt, von anderen verstanden, geteilt und kritisiert wird; seine Äußerung muss also die Kriterien der Öffentlichkeit, der Begrifflichkeit und der Teilbarkeit erfüllt. Und dieser Standard selbst ist das Ergebnis ständiger politischer Praxis, d. h. es bedarf der freien Kommunikation, der Toleranz gegenüber Kritik, der Rücksicht auf den anderen und der ständigen Introspektion. In seinen Vorlesungen stellt Hegel fest, dass es einen großen Unterschied zwischen privater und öffentlicher Meinungsäußerung gebe; in der öffentlichen Meinung sollen Menschen lernen, „vorzüglich den Eigendünkel aufzugeben und Die Sache gewähren zu lassen“.137 Ein solcher Meinungsaustausch beruhe auf Presse- und Meinungsfreiheit: „Mit der öffentlichen Meinung hängt das zusammen, was man Preßfreiheit nennt.“138 Und die Presse- und Meinungsfreiheit ist ein notwendiger Teil einer gerechten Gesellschaft. Eduard Gans sagt, die Pressefreiheit sei ein „Organ“ der öffentlichen Meinung. Wenn die Menschen die öffentliche Meinung anerkennen, dann sollten sie auch die Presse- und Meinungsfreiheit anerkennen: „Allein durch die Presse wird eine öffentliche Meinung möglich. Sobald ihr dieses Organ fehlt, ist sie unmöglich.“139 In der Enzyklopädie schreibt Hegel: „[S]ie [die Verfassung] ist die existierende Gerechtigkeit als die Wirklichkeit der Freiheit in der Entwicklung aller ihrer vernünftigen Bestimmungen.“140 Der moderne Staat ist eine wohlgeordnete Gemeinschaft der Freiheit, ist „ein Leben gemeinsam mit anderen, eine Praxis des Anerkennens und des Anerkanntwerdens im institutionalisierten Leben“.141 Das 135
Rin, S. 193. Alasdair MacIntyre, Whose Justice? Which Rationality?, Notre Dame 1988, S. 6. 137 Ho, S. 818. 138 Bl, S. 273. 139 Eduard Gans, Naturrecht und Universalrechtsgescichte, hg. v. Johann Braun, Tübingen 2005, S. 234. Wie sein Schüler Marx lobte Gans die revolutionäre Bedeutung der Buchdruckkunst für die Welt. 140 Enzyklopädie III, § 539, S. 332. 141 Robert Pippin, Die Verwirklichung der Freiheit. Der Idealismus als Diskurs der Moderne, Frankfurt / New York 2005, S. 76. 136
C. Die öffentliche Meinung und die Gerechtigkeit
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Maß der Gerechtigkeit liegt in der Anerkennung der Unabhängigkeit jedes Einzelnen, der Anerkennung des Rechts, Meinungen und Überzeugungen im Einklang mit seinem Gewissen auszudrücken. Und durch die wirkliche Institution wird das Recht des Selbstbewusstseins gewährleistet, deswegen ist die Institution nur die Wirklichkeit der Freiheit: „Im wahrhaft vernünftig gegliederten Staat sind alle Gesetze und Einrichtungen nichts als eine Realisation der Freiheit nach deren wesentlichen Bestimmungen. Ist dies der Fall, so findet die einzelne Vernunft in diesen Institutionen nur die Wirklichkeit ihres eigenen Wesens und geht, wenn sie diesen Gesetzen gehorcht, nicht mit dem ihr Fremden, sondern nur mit ihrem Eigenen zusammen.“142
Die Staatsverfassung ist in der Lage, jenen „prickelnden Trieb“, seine Meinung zu sagen und gesagt zu haben143, zu dulden, so wie der Staat die Quäker und die Wiedertäufer tolerieren kann, weil er sich „auf die Macht der Sitten und der inneren Vernünftigkeit seiner Institutionen verlassen“144 kann. Aufgrund „der Vernünftigkeit der Verfassung, der Festigkeit der Regierung“ hat die Meinungsfreiheit ihre Sicherung „in der Unschädlichkeit“.145 Die Duldung, von der Hegel hier spricht, besteht also wesentlich in „Gleichgültigkeit und Verachtung“.146 In dieser sehr heiklen Frage betrachtet Hegel die Presse- und Meinungsfreiheit zu seiner Zeit nicht als ein Recht; er verteidigt sie nicht im positiven Sinne, sondern dadurch, dass er die Meinungs- und Pressefreiheit als subjektive Meinung betrachtet und auf die Ungewissheit der Meinung im negativen Sinne hinweist. Ihr kommt mithin keine Notwendigkeit zu, und es ist auch schwer, die Grenze zwischen Pressefreiheit und Meinungsfreiheit zu ziehen, denn: „Die Hauptschwierigkeit ist […] die, daß das, was man fassen will ein Proteus ist, der in tausend wechselnde Gestalten sich wandelt.“147 Auf diese Weise kritisiert Hegel tatsächlich die Zensur, die weder eine klare Linie zieht noch einfach nutzlos ist. Der Mensch ist frei, ist das denkende Wesen: „Dieser Begriff, die Freiheit, ist wesentlich nur als Denken.“148 Und der Staat als die Verwirklichung der Freiheit kann kein Hindernis für die Freiheit des Denkens sein, wie Gans sagt: „Doch ist diese deswegen gefährlich, so daß sie reprimiert werden oder daß man ihr mit vorsorgenden Gesetzen, mit der Zensur entgegentreten muß? […] Ist die Möglichkeit so gefahrbringend, daß der Staat als Hemmschuh des Gedankens auftreten muß? […] Die Freiheit der Presse aber hat dies zu ihrem Vorteil, daß sie eine Achtung hat vor den Gedanken der Menschen.“149
142
Vorlesungen über die Ästhetik I, S. 136. Rechtsphilosophie, § 319, S. 486. 144 Rechtsphilosophie, § 270 Anm., S. 421. 145 Rechtsphilosophie, § 319, S. 486. 146 Ebd. 147 Ho, S. 824. 148 Enzyklopädie III, § 469, S. 288. 149 Gans, Naturrecht und Universalrechtsgeschichte, hg. v. Johann Braun, Tübingen 2005, S. 233. 143
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Kap. 5: Die öffentliche Meinung
Zugleich wiederholt Hegel seine Kritik an der subjektiven Meinung und Willkür: „Wenn man unter Pressefreiheit das denkt, daß man sagen könne, was man wolle, so ist es ebenso wie, [daß] die Handlungsfreiheit das sei, was einer tun wolle, tun zu können.“150 Solche Meinungen sind ungebildet, roh und oberflächlich. Hegel weist darauf hin, dass das bloße Wort wenig bedeutsam ist: „Das Wort für sich ist schwach, diese Bewegung der Luft oder dieß Stückchen Papier.“151 Aber sobald es zum Ausdruck gebracht wird, wird es in der Vorstellung der Anderen zur Wirksamkeit gelangen, mit anderen kollidieren, und durch meine Worte berühre ich nicht nur die Vorstellung anderer, sondern übe Einfluss auf die Wirklichkeit aus. Daher ist das Reden eine ausgeführte Handlung, geht es darin unmittelbar um die Ehre anderer und sogar um die Realität der Politik: „Die andere Seite ist, daß auf Vorstellungen der wirkliche Zustand, die Verfassung beruht, sprechen ist so nicht bloß sprechen, sondern handeln, indem ich mich an die Vorstellung wende, und diese das Erzeugende einer Wirklichkeit ist, so bin ich das Erhaltende oder Zerstörende.“152
Infolgedessen sind Verletzungen der Ehre anderer, Verleumdung, Schmähung und Angriffe auf die freie Verfassung rechtlich vom Anwendungsbereich der freien Meinungsäußerung ausgenommen. Auch die wissenschaftliche Forschung ist von der öffentlichen Meinung ausgeschlossen. Nach Hegels Auffassung steht die Wissenschaft „nicht auf dem Boden des Meinens und subjektiver Ansichten“153 und unterliegt nicht dem Vorbehalt der Ungewissheit wie die öffentliche Meinung, sondern sie besteht in „dem unzweideutigen, bestimmten und offenen Aussprechen der Bedeutung und des Sinnes“.154 Hegel versucht uns zu zeigen, dass die Wissenschaft nicht innerhalb der Grenzen der Gerechtigkeit der öffentlichen Meinung liegt, dass die Ergründung der Wahrheit nicht von Meinung und Überzeugung abhängt. Wir können zum Beispiel nicht sagen, dass wir ungeachtet der wissenschaftlichen Beweise nicht an den Klimawandel glauben. In unserer Zeit, auf die der Schatten des Relativismus und des Nihilismus fällt, hat die Kombination von Populismus und Antiintellektualismus einen „dogmatischen Skeptizismus“155 hervorgebracht. In der offenen Gesellschaft hat sich die Seele in Richtung einer Schließung bewegt und ihre Ehrfurcht vor den Klassikern und der Wahrheit verloren, und das Wesen der Seele ist roher geworden, ohne Enthusiasmus und Neugier. Dies sind die Herausforderungen, denen sich die Bildung stellen muss. Eine wirklich sinnvolle öffentliche Meinung kann nur Bestand haben, wenn man sich auf die gute Seele verlässt, und die Seichtigkeit ist der Feind aller Wahrheit, Sittlichkeit und politischen Freiheit; denn die Seele der 150
Rin, S. 193. Gr, S. 727. 152 Gr, S. 727. 153 Rechtsphilosophie, § 319 Anm., S. 488. 154 Ebd. 155 Vgl. Allan Bloom, The Closing of the American Mind, New York 1988, S. 43. 151
C. Die öffentliche Meinung und die Gerechtigkeit
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Seichtigkeit wird in der Meinung befangen bleiben und nicht in die Sache selbst eintreten. Die Folge der Seichtigkeit ist reine Zerstörung: „Aber die Seichtigkeit führt von selbst in Rücksicht des Sittlichen, des Rechts und der Pflicht überhaupt, auf diejenigen Grundsätze, welche in dieser Sphäre das Seichte ausmachen, auf die Prinzipien der Sophisten, die wir aus Platon so entschieden kennenlernen, – die Prinzipien, welche das, was Recht ist, auf die subjektiven Zwecke und Meinungen, auf das subjektive Gefühl und die partikuläre Überzeugung stellen, – Prinzipien, aus welchen die Zerstörung ebenso der inneren Sittlichkeit und des rechtschaffenen Gewissens, der Liebe und des Rechts unter den Privatpersonen, als die Zerstörung der öffentlichen Ordnung und der Staatsgesetze folgt.“156
Und das ist Hegels Diagnose unseres Zeitalters der Entzweiung, dieser Zeit der Ungewissheit. Gestatten Sie mir, als Schlussakkord dieser Dissertation aus Hegels Antrittsvorlesung in Berlin zu zitieren. Hegel mahnt uns, der Zeit der Seichtigkeit zu entfliehen: „Zunächst aber darf ich nichts in Anspruch nehmen als dies, daß Sie Vertrauen zu der Wissenschaft, Glauben an die Vernunft, Vertrauen und Glauben zu sich selbst mitbringen. Der Mut der Wahrheit, Glauben an die Macht des Geistes ist die erste Bedingung des philosophischen Studiums; der Mensch soll sich selbst ehren und sich des Höchsten würdig achten. Von der Größe und Macht des Geistes kann er nicht groß genug denken; das verschlossene Wesen des Universums hat keine Kraft in sich, welche dem Mute des Erkennens Widerstand leisten könnte; es muß sich vor ihm auftun und seinen Reichtum und seine Hefen ihm vor Augen legen und zum Genüsse bringen.“157
156
Rechtsphilosophie, Vorrede, S. 21–22. Enzyklopädie III, „Konzept der Rede beim Antritt des philosophischen Lehramtes an der Universität Berlin“, S. 404. 157
Zusammenfassung Die vorliegende Arbeit versucht zu zeigen, dass das Verhältnis von Gesinnung und Sittlichkeit ein Hauptthema ist, das sich durch das Werk von Hegels Rechtsphilosophie zieht. Hegel ist immer auf der Suche nach einer Gesinnung der Freiheit im Einklang mit einer freien Gemeinschaft, einer Gesinnung, die nicht ein Fanatismus ist, der von konkreter Sittlichkeit abstrahiert, sondern eine konkrete Freiheit, die sich verwirklicht, während der Fanatismus die Verwirklichung sittlicher Institutionen ablehnt und von dem verwirklichten diesseitigen Guten losgelöst ist. Auch ist diese Gesinnung der Freiheit kein moralischer Standpunkt, der sich auf Subjektivität fixiert, sondern einer, der deren eigene Besonderheit in der Sittlichkeit sucht und verwirklicht, eine Gewissheit in der Wahrheit – wobei Hegel zwischen dem formellen Gewissen, das eine bloße subjektive Meinung ist, und dem konkreten Gewissen, das subjektiv substantiell ist, unterscheidet. Zugleich ist diese freie Gesinnung keine antike einfache Tugend: Die Idee zeigt sich fähig, die Entzweiung der modernen Welt auszuhalten und sich dadurch zu bereichern und zu erstarken, während der Heroismus der Antike für die moderne Welt nicht nur unnötig und überflüssig, sondern sogar schädlich für die Verwirklichung der Freiheit ist. Und schließlich ist dies der Grund, warum die subjektive Meinung und die Gesinnung in der öffentlichen Meinung zu achten und zu verachten sind. Wenn die Gesinnung von der Sittlichkeit losgelöst ist und so zu einer reinen Meinung verkommt, erweist sie sich als unwahre und falsche Subjektivität; wenn sie hingegen in der Sittlichkeit begründet und von ihr integriert, d. h. als Wahrheit vorgestellt wird, erweist sie sich als wahrer Ausdruck der Freiheit. Nach Hegels Auffassung muss die Freiheit institutionalisiert werden, aber die Institution der Freiheit ist niemals ein äußerer, zwangsweise wirkender Rahmen; eine Ansammlung von Utilitaristen kann keine wahrhaft freie Gemeinschaft konstituieren. Die Freiheit muss durch die Teilnahme jedes wahrhaft frei handelnden Individuums aufrechterhalten werden, das immer die Leidenschaft, die Gesinnung der Freiheit in sie einfließen lässt. Diese Gesinnung muss nüchtern, zurückhaltend und im Dienst der Freiheit sein, damit das sittliche Leben jung bleibt, damit unser Streben nach Freiheit die Erfüllung der Freiheit ist und damit die Wahrheit der Freiheit unsere freie Gesinnung durchdringt.
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Sachverzeichnis Aberglaube / abergläublich 41, 49 f., 101, 118, 128 Abhängigkeit 38, 50 f., 61 f., 97, 173 f., 187, Absolute 20, 23, 24, 26, 30, 31, 35, 36, 37, 59, 64, 69, 85, 86, 90, 92, 107, 132, 157, 158, 159, 161, 164, 169, 170, 173, 184, 193, 210, 211 Absolutismus 121 Abstraktion 12, 31, 60, 62, 63 f., 66, 83, 86, 91, 96 f., 104, 108, 159, 162, 166 f., 171, 178,180 f., 205, 223 Allgemeinheit 38, 46 f., 63 f., 69, 73, 77 f., 83 f., 87, 103, 109, 111, 113 f., 119, 121, 124, 128 ff., 137, 141, 158, 167 ff., 172, 174, 176, 186 ff., 190, 192 f., 195 ff., 199, 202, 210, 220 Anerkennung 42, 53, 61, 69, 71, 73, 80, 82, 92, 99, 109, 117, 133, 167 f., 171, 173, 177, 179, 190, 199, 200, 231, Antike 14, 16, 142, 149, 181, 190, 234 Antinomie der moralischen Weltanschauung 108 Antinomie der reinen Pflicht 91 Arbeit 18, 21, 23, 26, 27, 33, 37, 41, 52, 55, 67, 68 f., 72, 96 ff., 105, 139, 143, 145 ff., 151, 153, 163–168, 171, 173 ff., 178, 180, 184, 187 ff., 194 ff., 198, 200, 203, 219, 234 Arbeitsscheu 199 Arbeitsteilung 51 ff., 145, 167, 178, 205 Aristokratie 145, 216 ff. Armut 174, 197 ff., 200 Atheismus 29, 48, 133, 154, 210, 211 Aufklärung 28, 30, 34, 40, 42 f., 48, 59 ff., 93 f., 122, 145 f., 149 ff., 154, 157, 184, 227, 230, Aufklärungsstrafrecht 227 Äußerlichkeit 21 f., 25, 31, 37, 58, 77, 81, 85, 90, 92, 101, 137, 155, 160 f. Autokratie 216 Autonomie 13, 16, 28, 32, 99, 119, 121, 124, 137, 141
Autonomieprinzip 154 Begeisterung 42, 54, 63, 66, 222 Besitz 77, 80, 163, 166 ff., 171, 173 f., 177, 179 Besonderheit 15, 25, 34, 47, 50, 52, 62 f., 66, 70, 73, 77 f., 81 f., 84, 111, 113 f., 118, 121, 132, 138, 168 ff., 174, 177, 182, 190, 192, 194, 196, 199, 202, 206, 211, 218, 220, 234 Bildung 18, 21, 29, 31, 50, 52 f., 65 f., 71 f., 84, 97, 116, 130, 133, 135, 139, 143, 151,165, 171, 173, 180 ff., 192 ff., 201 ff., 207, 229, 232 Bürgerliche Gesellschaft 18, 28, 50, 51 ff., 69, 71 ff., 122 f., 127, 130 f., 138 ff., 146, 149, 153 f., 161, 165, 180, 183, 187, 188 ff., 196 ff., 217 ff., 221, 224, 228 f. Bürgerlicher Republikanismus / der klassische Republikanismus 38, 50 f., Christentum 48, 57 ff., 62 f., 69, 71, 99, 105 f., 155, 157, 206, 219 Demokratie 19, 93, 145, 215 ff. Demokratische Politik 44 Demokratischer Rechtsstaat 49 Demokratische Herrschaft 215 Demokratische Praxis der Französische Revolution 221 Demokratische Weise des Wählens 222 Despotismus 69, 225 Despotisch 14 Dualismus 31, 64 Dualismus von Denken und Sein 129 Dualismus zwischen Vernunft und Natur 151 Eigentum 32, 53, 65, 72, 77, 86, 133, 144 f., 163, 168, 171, 174 f., 179, 198, 204, 213, 216, 222
Sachverzeichnis Eigentumsrecht / Eigentumsrechtsverhätnis / Eigentumsverhältnis 167, 169 Eigentumssschutz 173 Entzweiung 16 f., 26, 29, 31, 36, 51, 56, 74, 100, 114, 141, 144, 151, 153, 155, 158, 182, 184, 186, 191, 193, 198, 220, 233, 234 Entzweiungsmoment 176 Fanatismus 12, 18, 40–74, 75, 100, 136, 155, 171, 221, 226, 234 Form der Selbstbezüglichkeit 13 Form der Unmittelbarkeit 21 Formalismus 83 f., 86, 126, 156, 159 Freiheit – absolute ~ 46 f., 54, 104, – abstrakte ~ 64, 98, 112, 158, 161 – Autonomie der ~ 121 – Begriff der ~ 38 f. 70, 131 – Daseinsform der ~ 116 – Einseitigkeit der ~ 44 – Gedanken~ 97 – Geschichte der ~ 93 – Gewerbe~ 181 – Gewissens~ 98, 105, 120, 123 – Idee der ~ 39, 76, 124 f., 127, 129 f., 133, 150, 193, 209 – institutionalisierte ~ / in den Institutionen verwirklichte ~ 98, 128, 208 – konkrete ~ 52, 65, 69, 75, 122, 182, 206, 234 – leere Forderung der ~ 62, – negative ~ 23, 158 – Meinungs~ 18, 79, 95, 137 ff., 203, 220, 230 – objektive ~ 98, 195, – Presse~ 230 ff. – Philosophie der ~ 20 – positive ~ 23 – Recht der ~ 78 – Reich der ~ 209, 212 – Selbstbestimmung der ~ 34 – subjektive ~ 16, 18, 38, 52, 67, 71, 77, 81, 82, 92, 98 f., 128, 130, 137, 141 f., 182, 190, 195, 208, 213, 215, 219, 222, 229 – Verwirklichung der ~ 33, 82 – Wirklichkeit der ~ 17, 74, 196, 231
245
– weltliche ~sordnung / Weltlichkeit der ~ 122, 140, – Unendlichkeit abstrakter ~ 63 Gehorsam 48, 61, 70, 85, 122 Geschichte 28 f., 34, 39, 44, 51, 59, 62, 92 f., 99, 101, 105, 121 f., 146, 151, 159, 185, 188, 207, 225 Gesellschaftsvertrag 226 Gesetz – Absolutheit des ~ 86 – Äußerlichkeit der ~ 85, – Freiheits~ 11, 79 – ~ des Herzens 45 ff., 64 – Macht der ~ 204 – moralische ~ / Moral~ 31, 56, 85, 88 f., 91, 184, 227 – Natur~ 79,119 – Rechts~ 14 – sittliche ~ 212 – Zwangs~ 32 Gesinnung 11–18, 32, 34 ff., 43, 53 f., 66, 68 ff., 74, 78, 89, 99 f., 107, 116, 129 ff., 134 ff., 150, 163, 174, 193 ff., 198 ff., 202 f., 208, 214, 217 f., 221, 224, 226, 234 Gewaltenteilung 46, 219 Gewissen – beurteilende ~ 113 f. – böse ~ 106 – Dialektik des ~ 117, 140 – formelle ~ 74, 121, 126, 129, 132 ff., 139,199, 214, 234 – gute ~ 86, 157 – Gewissheit des ~ 91, 108, 117 – handelnde ~ 113 f., 124 – Innerlichkeit des ~ 107 – moralische ~ 92 – religiöse ~ 67 – Selbstbezug des ~ 103 – sittliche ~ 123, 126 – wahre / wahrhafte ~ 116, 121, 123, 129, 134 f., 138 f. Gewissensethik 130 Gewissensfreiheit 98, 105, 120, 123 Gewissensgemeinschaft 112 Gewissensgericht 96 Glück / glücklich 37, 148 f., 181, 185, 197
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Sachverzeichnis
Glückseligkeit / Glückseligkeitstheorie 42, 80, 84, 90, 159, 185 Heiligtum 119 Heuchelei / heuchlerisch 16, 22, 32, 86, 90, 113, 119, 124, 132, 148, 157, 204 Idealismus – objektiver ~ 212 – subjektiver ~ 85 Institution 11, 14 f., 17 f., 43, 46, 53, 65 f., 68, 69 ff., 73, 75 f., 116, 120, 128, 130 f., 134 ff., 138, 193, 196, 198 ff., 208, 212 ff., 218, 223, 225, 226, 231, 234 Intelligenz 14, 50, 166, 168, 178 Islam 55, 57 ff., 69 f. Krieg 49, 52 f., 85, 136, 143 ff., 148, 150 ff., 163, 172, 175, 178 Krieger / k riegerisch 52, 150, 163, 172, 173 Legalität 32, 77, 119, 120, 160 Leidenschaft / leidenschaftlich 40 ff., 48, 51, 55, 60, 72, 81, 131, 145, 197, 205, 223 ff. Materie / materialistisch / materiell 30, 86 f., 135, 139, 149, 152, 156 f., 189, 200, 205 Maxime 13, 102, 208 Moralität 16 ff., 32, 38 f., 56, 76 ff., 83, 85 f., 88, 90, 92, 93,95, 108, 115 f., 120 f., 124 ff., 130, 133, 137, 140, 150, 152, 155 f., 160, 162 f., 190, 199, 227, Naturrecht 35, 38, 156, 157 ff., 162, 209, 227 Naturrechtstheorie 141, 143, 145, 154, 157, 159, 162 Öffentliche Meinung 17 ff., 20, 27, 29, 44, 66 ff., 73, 139 ff., 182 f., 189, 200, 203, 204–234 Öffentlichkeit 44, 67, 73, 82, 140, 200, 220, 223 ff., 230, Pflicht 13, 32, 53, 61, 68, 70, 72, 84, 86, 90 ff., 96, 101,103 ff., 108 ff., 113, 117, 120, 125, 132 ff., 137 f., 150, 155, 157, 199, 203, 214, 233 Postulat 14, 90
Recht – abstrakte Recht 79, 82, 126 – ~des Bewusstseins 35 – ~ der Objektivität 82 f. – ~ der Welt 89 – ~der subjektiven Freiheit 67, 81 f., 89, – ~ des subjektiven Willens 16, 79, 81 f., 89 – ~ des Wissens 82 Rechtsstaat 49 Rechtszustand 33, 97, 119 Reformation 28, 40, 73, 99, 100 Regierung 33, 51, 99, 134, 135, 148, 160, 174 f., 180 f., 198, 215 f., 223, 231 Repräsentation 216, 219 Republikanismus 38, 50 f., 205, 215 f., siehe auch Bürgerlicher ~ Revolution – deutsche ~ 31 – Französische ~ 11 f., 28, 43, 47, 54, 59 f., 62 f., 66, 73, 120, 141, 151, 154, 185, 218, 220 f., 227 – politische ~ 27 – ~ des Orients 59 – Wesen der ~ 12 Selbstbestimmung 18, 23, 28, 34, 37 f., 77, 99, 117 f., 121 f., 125, 140 Sittengesetz 85, 88, 227 Sittlichkeit 11, 14 ff., 33 ff., 39, 49 ff., 53, 61, 68 ff., 72 ff., 77 f., 86 ff., 94, 98 f., 101, 115 f., 119–131, 133–140, 142, 144, 156 f., 160–166, 169–182, 185, 188, 190–196, 200, 202, 206, 208, 210, 213, 218, 220, 222, 232 ff. Staatsverfassung 73, 192, 214, 231 Sollen 16, 31, 47, 58, 63, 65, 85, 88 f., 116, 123, 129, 132 ff., 136 ff., 155, 196, 208, 211 Substantialität 14, 17, 59, 69, 110, 134, 137, 139 f., 165, 182, 193, 196, 198 Teilhabe 197 Tod 30, 45, 47 ff., 52, 54 ff., 63, 92, 95, 106, 127, 143, 145, 149, 161 ff., 172 f., 177, 179 f., 182, 221 Todeskampf 123 Trieb 32, 85 f., 106, 110, 155, 157, 159, 165, 175, 178, 184, 192, 195, 209, 201, 231
Sachverzeichnis Triebfeder 13 f., 113, 227 Tugend / tugendhaft 11 f., 14, 17, 35, 48 ff., 54, 63, 85, 93, 99, 105, 119, 135 f., 143, 145 ff., 154, 163, 165, 172 ff., 180, 191, 200, 218 ff., 229, 234 Unabhängikeit 28, 53, 58, 69, 98, 156, 173, 204, 231 Unfreiheit 38, 63, 71 ff., 196, 205 Verbindlichkeit 14, 74 Verfassung 13, 60, 73, 98, 134, 136 f., 143, 192 f., 200, 208, 214, 216 ff., 225, 230 ff. Vernunft 14 f., 20, 22 ff., 28,30 f., 33 f., 36 f., 55 f., 59, 64 ff., 69 ff., 77, 80, 84 ff., 93, 96 f., 103 f., 118, 120, 122, 129, 139, 142 ff., 149 ff., 155 f., 158, 160 f., 166, 175, 183 ff., 192 ff., 197, 208 ff., 227, 229 ff., 233 Volk 11, 15, 32, 48 ff., 57, 59fn, 62, 67, 93 ff., 97, 136, 145, 149 f., 155 f., 162, 173, 175 ff., 181, 204, 207 f., 215 ff., 219, 222, 226, 228 f. Volkgeist 85
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Volksreligion 85, 105, 154 Volk von Teufeln 12 f. Wille – allgemeine ~ 28, 46, 50, 121, 136, 160, 181, 206, 220, – einzelne ~ 38, 75, 206 – freie ~ 76 f., 92, 118, 121, 126, 128, 140, 151, 181,227 – objektive 118 – sittliche 128, 195 – subjektive ~ 16, 33, 78 f., 81 ff., 89, 121, 195 – substantielle ~ 84 – moralische ~ 38, 79, 162 Willensbestimmung 85, 133 Willkür / willkürlich 14, 16, 18, 31 f., 39, 41, 60, 66, 70, 72, 74, 78, 110, 125, 129, 132, 136, 138 f., 141, 157, 159, 162, 183 f., 192, 194 f., 201 f., 208, 210, 213, 216, 225, 227 ff., 232 Zwang 13, 33, 120, 152, 160 f., 201, 227 Zwangsbeziehung 120 Zwangsgesetz 32