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German Pages 316 Year 2018
Nicola Tams Geschriebene Freundschaft
Edition Moderne Postmoderne
Meinen Freunden
Nicola Tams (Dr.), geb. 1985, lehrt Kultur- und Sozialphilosophie an verschiednen Universitäten. Ihr Forschungsschwerpunkt siedelt sich zwischen Philosophie, Literaturwissenschaft, Kulturkritik und Ästhetik an. Zudem schreibt und übersetzt sie literarische Texte.
Nicola Tams
Geschriebene Freundschaft Zu den Briefen Derridas
Dissertation zur Erlangung des Doktorgrads der Philosophie der Albert-LudwigsUniversität Freiburg.
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Inhalt Siglenverzeichnis | 9 Einleitung. Überlegungen zum Zusammenhang von Theorie und Praxis der Freundschaft | 11
Die Archive | 17 Voraussetzungen zur Lektüre von Briefen | 20 Kapitelübersicht | 27 Lesehinweise und Dank | 29 Destinerrance. Briefeschreiben und das Denken unter Freunden – Ein Übergang | 33
Philosophiegeschichtliche Inspiration: Der Denkraum | 33 Das Bild Derridas als freundschaftlicher Briefeschreiber. In dieser Arbeit verwendete Briefe | 35 Destinerrance. Der Brief als schwebender Ort der Freundschaft | 41 Korrespondenz: Das Gespräch als Unterbrechung | 53 Der Anfang der Freundschaft im Brief. Schrift, Höflichkeit, Anrede – Aspekte der Liebe | 59
Einen Briefwechsel beginnen. Auf dem Weg zur ›Freundschaft‹ im Brief, mit Derrida und Nancy | 61 »J’ai adopté ton ›a‹«. Granel liest Derrida zu Fragen der Schrift | 72 Freundschaft aus Höflichkeit. Die Adressierung der Freunde als methodisches Problem (Platon, Nietzsche) | 80 Aimance: Die Freundschaft an der Grenze zur Liebe | 92 Freundschaft ohne Brüder und Väter. Aspekte der Verwandtschaft und des Politischen | 105
»Und dann ist die Zeit ohne mich vorangeschritten.« Immer im Verzug oder die Notwendigkeit, Zeit zu haben. Gelesen mit Briefen von Derrida und Althusser | 106 ›Weltliche‹ Pflichten. Aufgeteilt zwischen Althusser und Derrida. Dank und Entschuldigungsformen | 119
Brüderlichkeit I: Freundschaft als Frage der Natur (Cicero, Aristoteles) | 127 Brüderlichkeit II: Freundschaft als Frage der Politik (Schmitt) | 137 Gegensätzliche Geschwister. Warum formale und inhaltliche Dimensionen der Freundschaft zusammen gehören | 148 Différance in der Freundschaft. Verzug, Abwesenheit, Wiederholung – Aspekte des Fiktiven | 155
Aufgeschobene Antworten. Einführung in die Différance | 155 Vom ›Verzug‹ zum ›Tod‹. Die Schlussfolgerung, dass eine Freundschaft der Nähe nur ein Wunsch ist. Mit Postkarten zwischen Derrida und Blanchot | 162 Das gespenstische Schweigen. Auf dem Weg zu einer Freundschaft der Stille. Worüber Freunde in der Freundschaft schweigen. Derrida im Briefwechsel mit Blanchot | 169 Vom Verhältnis zum Tod hin zu einer Freundschaft der Lesenden. Bei zu viel Nähe kann man nicht gut lesen. Der notwendige Raum der Différance zwischen befreundeten Schriftstellern | 179 Mitgefühl, Beileid, Mitleid als Antworten auf die Différance | 183 Von der Gemeinschaft zur Nachbarschaft. Aspekte des Heiligen und der Ideologie | 195
Minimale Kollektivität | 195 Aspekte des Heiligen: Der Bruch des Bezugs als Bezug. Was ist die Gemeinschaft der Schreibenden? (Blanchot, Antelme, Bataille, Mascolo) | 199 Aspekte der Ideologie. Derrida ohne Ort. Gelesen mit Briefen von Derrida, Granel und Althusser | 221 Die Politik der Nachbarschaft | 232 Freundschaft ›ohne‹ Kontakt. Die unmögliche Berührung zwischen Nancy und Derrida | 241
Nahezu berührend – Nancy, Derrida | 241 Ohne oder Mit Sein. Dehnen des Begriffs der Gemeinschaft (Nancy, Blanchot) | 255 Ausblick: Derridas Ort der Freundschaft als Zerstreuung ohne Hauch und ohne Sammlung | 263
Freundschaft als Ko-respondenz. Derrida schreibt mit Granel | 271
Das Risiko, keinen Brief mehr zu erhalten | 271 Freundschaft der Ko-respondenz. Derrida und Granel antworten | 281 Fazit: Geschriebene Freundschaft | 289 Quellenverzeichnis | 297
Siglenverzeichnis
Siglen ausgewählter Werke von Jacques Derrida M O PdA PdF PM JME SP
Mémoires für Paul de Man Otobiographien Politiques de l’amitié (frz.) Politik der Freundschaft (dt.) Papier Machine Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt Sur Parole
Briefe an Derrida AD BAUD BALD BLD CD GRD ND UD
Althusser an Derrida Bauchau an Derrida Balibar an Derrida Blanchot an Derrida Canguilhem an Derrida Granel an Derrida Nancy an Derrida Ukai an Derrida
Briefe von Derrida DA DBL DGR DN
Derrida an Althusser Derrida an Blanchot Derrida an Granel Derrida an Nancy
Einleitung Überlegungen zum Zusammenhang von Theorie und Praxis der Freundschaft
Nicht ›Was ist die Freundschaft?‹ sondern: Was ist der Freund? Wer ist es? Wer ist er? Wer ist sie? Derrida/Politik der Freundschaft, 392.
In der vorliegenden Arbeit wird Derridas Verständnis von Freundschaft auch anhand seiner Briefe erforscht. Im Folgenden wird es um den Zusammenhang von Brief und Freundschaft gehen. Hierzu argumentiere ich anhand von Briefen, die Derrida erhalten und versendet hat. Hierin wurde der Schwerpunkt auf die folgenden Charakteristika des freundschaftlichen Briefs gelegt: seine nicht festgelegte Ankunft, seine Qualität als Zeichen von Nähe, seine Konservierung unfertiger Gedanken, das unabgeschlossene Denken zu zweit und die grundlegendere Frage, auf welche Weise ein Brief Teil freundschaftlicher Praktiken ist. Gerade für Menschen, die hauptberuflich schreiben, ist es der Brief und sind es zunehmend elektronische Kommunikationsmittel, durch die sich Freundschaft am Leben hält, durch die man sich der Freundschaft und eines regelmäßigen Austauschs von Neuigkeiten versichert. Das zeigen die für diese Arbeit gelesenen Briefe deutlich. Die Lektüre dieser Briefe mündet in der These der geschriebenen Freundschaft. Es gibt einen wunderbaren Text von Koskenniemi, der über Demetrios schreibt. In diesem Text geht es um die Brieftheorie aus dem Umfeld des Peripatos, der Schüler von Aristoteles war.1 Für den Erhalt der Freundschaft sei nach Demetrios besonders das Zusammenleben von Bedeutung, während das Ge-
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Vgl. Koskenniemi, Studien zur Idee und Phraseologie des griechischen Briefes bis 400 n. CHR., 37.
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trenntsein sie vergessen mache. 2 In diesem Sinn wird bei räumlicher Distanz empfohlen, Briefe zu schreiben. »In der Tat versteht sich ja dieser Sinn des Briefes so sehr von selbst, dass es im Grunde keiner Theorie bedarf, um ihn zu begreifen; aber in den Händen der peripatetischen Theoretiker hat die Verknüpfung dieser Funktion des Briefes mit der ausführlichen aristotelischen Lehre von der Freundschaft zu einer so starken Akzentuierung dieser einen Bedeutung geführt, dass der Brief in der Theorie allgemein als Freundschaftsbrief betrachtet wird.«3
Dem antiken Brieftheoretiker Demetrios zufolge ist die »freundschaftliche Gesinnung das innerste Wesen des Briefes«.4 Der Brief ist ihm zufolge philophronesis, ein Freundschaftsbeweis.5 Der Peripatetiker rate gleichsam dazu, den Brief nicht durch philosophische oder naturwissenschaftliche Fragen zu einem literarischen Produkt werden zu lassen. 6 Die Qualität des Briefs als Ort für freundschaftliche Komplimente tauche auch bei Cicero wieder auf.7 Der Brief werde bei Demetrios als Darstellungsform bezeichnet, der auch »schlichtes und unmittelbares Plaudern« ausgerichtet sei, also »die natürliche Form des Verkehrs zwischen Freunden«8. Für diesen sei das Übersenden eines Briefs wie ein Geschenk zu betrachten.9 Die Verbindung der Frage von Brief und Freundschaft ist in der Philosophie kein neues, sondern ein sehr altes Thema. Briefe werden im Umkreis der Freundschaft und als sie tragend begriffen. Dennoch ist der Brief als freundschaftliche Gabe oder als philophronesis nach Demetrios dann besonders gelungen, wenn er sich von literarischen und philosophischen Fragen fernhält. Im Folgenden wird es um Briefe gehen, die teilweise sowohl philosophische Inhalte haben als auch freundschaftsanzeigend und freundschaftsbeweisend sind. Das Thema dieser Arbeit greift also diese Triade von Brief, Freundschaft und Philosophie auf. Denn in Ausnahmefällen, vielleicht ist es bei Freunden, die Philosophie betreiben, sogar die Regel, wird im Brief über die Freundschaft als Theorie, über 2
Vgl. Ebd., 37.
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Ebd., 37.
4
Ebd., 35.
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Vgl. Ebd., 35.
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Vgl. Ebd., 35.
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»philichai philophroneseis«, ebd., 35.
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Ebd., 35.
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Vgl. Ebd., 35.
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die man nachdenken und in allgemeinen Worten sprechen kann, reflektiert. Hier kann es zu den Konflikten kommen, die ein Freund Derridas in folgenden Worten ankündigt: »Von der Rede über Freundschaft unterscheidet sich Freundschaft, weil die Freunde, die über etwas sprechen, keinem Denkzwang unterstehen und an keine Darstellungsform gebunden sind.«10 Die Denkzwänge, die eine Freundschaftstheorie notwendigerweise umrahmen, spielen für die Praxis der Freundschaft hiernach keine Rolle. Allerdings schreibt Garcia Düttmann auch, dass die Freundschaft gegenüber der Liebe gerade auszeichnet, dass Freunde gemeinsam über etwas sprechen, während für die Liebe zentral ist, dass sich Menschen aneinander richten. 11 Diese Rede sei gegenüber der Liebe uneingeschränkt. 12 Nun haben wir hier den Fall, dass sich Freunde offenbar einander uneingeschränkt mitteilen können, aber über die Freundschaft theoretisierend zu sprechen, einer Darstellungsform unterworfen und somit begrenzend wäre. Im Brief ist diese Möglichkeit zu offener Rede also von einer partikularen Darstellungsform eingeschränkt. Freunde können sich brieflich von der Freundschaft schreiben, sind aber von der Form des Briefs begrenzt. Aber wären sie das nicht auch im Gespräch, beispielsweise von Konventionen? An dieser Stelle werde ich mich an dieser Stelle entfernen, da ich nicht glaube, dass das freundschaftliche Gespräch gar keinen Grenzen unterliegt. So bemühte sich Nietzsche in einem Brief, der im Folgenden noch zitiert wird, seinen Freund Rohde auf seinen neuen Text, die fröhliche Wissenschaft, vorzubereiten. Wir könnten seine Worte auch umdrehen und sagen, dass er sich bemüht, ihm ein Bild zu vermitteln, welches Nietzsche noch Freund Rohdes bleiben lässt. Auch ist es problematisch, wenn Freunde in Briefen über ihre Freundschaft schreiben, dass der Freund in den Briefen nicht nur angesprochen ist, sondern die
10 Garcia Düttmann, Freunde und Feinde, 45. 11 Vgl. hierzu »Kann man sagen, eine Freundschaft bestünde darin, daß man mit dem Freund oder der Freundin über alles zu sprechen vermag? Besteht eine Freundschaft in der Möglichkeit einer solchen uneingeschränkten Rede, läßt sich angeben, wie sie sich von der Liebe und der Rede über Freundschaft unterscheidet. Von der Liebe unterscheidet sich Freundschaft, weil die Freunde über etwas sprechen und die Mitteilung sich nicht in der Mitteilbarkeit erschöpft, darin, daß sie sich etwas mitteilen [Bedingungslosigkeit der Liebe, nt]« (ebd., 45). 12 Vgl. »Besteht die Freundschaft in der Möglichkeit uneingeschränkter Rede, so äußert sich ihr Empirismus in deren Verzögerungen und Abweichungen, in ironischer Gelassenheit, ihre Metaphysik dagegen in deren Begeisterung und Ausschweifung, in überschwänglicher Mitteilsamkeit« (ebd., 52).
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Freundschaft auch – in der Regel – schon entstanden. 13 Die Reflexion über Freundschaft aber gilt in der Regel einer vergangenen Freundschaft oder aber als Theorie einer, die noch zu erdenken wäre. Im Schreiben über Freundschaft wird sich an den Freund gerichtet, als ob er noch kein Freund oder kein Freund mehr wäre. Man versucht zu bestimmen, was auf eine andere Art und Weise – nämlich in der erlebten Erfahrung – schon hervor getreten ist. Freundschaft ist da, aber dennoch gibt es ein Bestreben, sie theoretisch zu fassen – das scheint ein Widerspruch zu sein. Um eine Theorie der Freundschaft zu bilden, die über die eigene Freundschaft zum Freund hinaus gilt, müsste man sich von der Perspektive der partikularen Freundschaft befreien. Man müsste also den Freund in Briefen als noch-nicht- oder nicht-mehr-Freund behandeln, sich nicht mehr in partikularer, sondern in allgemeiner Weise an ihn richten. Das Sprechen zu Freunden und das Sprechen über Freundschaft sind zwei verschiedene Dinge, die im freundschaftlichen Brief zwischen Philosophen zusammen – in ein und demselben Brief – fallen können. Im freundschaftlichen Brief unter Philosophen ist, wie zu zeigen sein wird, das Freundschaftsdenken begrenzt von der eigenen Freundschaft. Das hat zur Folge, dass die Freundinnen und Freunde sich zerrissen fühlen können zwischen zwei Polen von Distanz und Nähe, der Frage, wieviel man über etwas sagen sollte und wie viel man verschweigen muss, damit die Freundschaft hält. Anders gewendet lässt sich aber ebenso zeigen, dass der Brief etwas ermöglicht. Bedeutungen entstehen im Brief dadurch, dass beide Ebenen aufeinander bezogen werden; dass also das, was über Freundschaft im Allgemeinen gesagt wird, mit den persönlichen Bezügen in Verbindung gebracht werden kann. Dies sehe ich als besondere Chance der Lektüre von Briefen, denn in ihnen ergibt sich ein Reichtum von Wissen über die Freundschaft auch durch das aufmerksame Verfolgen der Beziehung, die sich in ihnen – zum Beispiel durch die Wahl der Anrede – zeigt. Freundschaft wird im Brief thematisiert und Freunde werden angesprochen: beide Dimensionen scheinen sich zu widersprechen. Im Brief aber ist m. E. der in beide Richtungen verfolgte Bezug der Ebenen aufeinander notwendig, um das bedeutungsvolle Sprechen in einer Lektüre nicht zu sehr zu verkürzen. Der Preis einer solchen Lektüre ist der, dass immer eine Seite zu kurz kommen könnte: die Philosophie, weil nicht nur über eine Theorie der Freundschaft nachgedacht werden wird. Und auch die Anthropologie oder Geschichte, weil trotz den Bezü13 Vgl. auch was Garcia Düttmann bezüglich seiner Freundschaft zu Derrida über die Freundschaft schreibt: »Die Konstellation einer Freundschaft ist in dem Augenblick, in dem man ihr Entstehen durch die identifizierende und klassifizierende Untersuchung der Eigenarten der Freunde zu erklären versucht, immer schon entstanden« (ebd., 54).
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gen auf das Leben von Menschen nach einer Theorie der Freundschaft Ausschau gehalten wird. Aber die Gegenüberstellung beider Ebenen erschien mir gerade beim Thema der Freundschaft zu interessant, als dass ich hätte auf eine der Ebenen verzichten wollen. Fest steht, dass die Briefe und Texte Derridas gelesen werden sollen. Lesen erfordert Nähe und Distanz, um zu Verständnis zu gelangen, Raum für Überraschung und für Kritik. Bei genauer Lektüre geleitet von bestimmten Fragen stellen sich Unebenheiten und Nähe zwischen den Texten wie von selbst her. Auch inspirierend für die Vorgehensweise war Derridas eigener Wunsch bezüglich der Lektüre seiner Texte: »Now I think that if time permitted I could show that my texts on the subject are written texts, by which I mean that they are not a thesis on a theme. They have a pragmatic aspect, a performative aspect that would require another kind of analysis.«14
Was sind geschriebene Texte in diesem Sinn und welche Betrachtungsweise erfordern sie, wenn es Derrida in der Politik der Freundschaft um »die polemische Verwendung des Begriffs des Politischen, um seinen konkreten Gebrauch, seinen praktischen und effektiven Anwendungsmodus, anders gesagt: um seine Performativität selbst«,15 geht? Vielmehr als um das konkrete Anwenden einer bestimmten Methode geht es in der folgenden Arbeit um etwas, das mit Lesen oder Denken am besten beschrieben wäre. Verschiedene Disziplinen grenzen sich durch ihre unterschiedlichen Gegenstände und ihre unterschiedlichen Lesarten ab. Die Zuschreibung zu einer Disziplin geschieht im Hauptsächlichen durch die Lesenden und nicht durch die Autorin selbst. Ob es hier um Wahrheit, um eine Wahrheit über Literatur, um die Wahrheit über ein bestimmtes historisches Ereignis oder um die Wahrheit über Quellen zu einem historischen Ereignis gehen soll, werden diese Leserinnen und Leser bestimmen.16 Ginge es aber um Literatur, dann wäre im Zentrum eine Betrachtung ohne eine ›Sache‹ als Gegenstand. 17 Ginge es hingegen um Philosophie, wäre die Freundschaft als solche im Zentrum und Ergebnis wäre dann die Betrachtung eines Gegenstands, der nicht aus den Augen verschwindet, sondern dessen Abmessungen und Form hinterher etwas genauer vor 14 UCI Jacques Derrida Papers, MS-C01, Box 121, Folder 2 »Religion and postmodernism«, 5. 15 PdF, 165. 16 Derrida zufolge entscheidet sich, ob eine Äußerung literarisch oder nicht literarisch ist durch das ihr hinterher durch die Lektüre zugeschriebene Recht (vgl. DEM, 29 f.). 17 Literatur fasst Derrida als »le nom sans la chose« (ebd., 17).
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Augen erscheint. Wenn die Literatur vielleicht alles sagen kann, 18 müsste die Philosophie vor allem etwas über etwas sagen. Ebenso stellen sich offene Fragen an die gelesenen Briefe: Sind sie als faktual oder fiktional zu lesen?19 Wieviel Wahrheitsgehalt steckt in Briefen? Stimmt das Bild, was das Schriftliche vermittelt, mit dem Bild überein, das man von einer Person gewonnen hat? Diese Fragen bleiben offen, tauchen aber in der Arbeit wiederholt auf. Es gibt eine Arbeitsdefinition von Freundschaft. Als grundsätzliche Voraussetzung soll angenommen werden, dass Freundschaft die Beziehung ist, in der es ein Mehr gibt, gegenüber der Liebe, der Solidarität und der Familie. Freundschaft geht über diese Beziehungen hinaus. Auch gibt es Kategorien, nach denen Ausschau gehalten wurde. Unter diese Kategorien fallen (die Art der) Adressierung, Nähe, Distanz, Gemeinschaft, Stille und die Schrift. Aus den Briefen, die von Freundschaft sprechen, wurden (man könnte es induktiv nennen) Themen sondiert, die wie Stränge verschiedener möglicher Ebenen von Freundschaft erzählen. Gleichzeitig ging es darum (eher deduktiv) die Frage nach Derridas Verständnis von Freundschaft zu stellen und das sowohl in den publizierten philosophischen Texten als auch in den Briefen. Dabei waren folgende Fragen von Interesse: Wie bekundet ein Briefschreiber dem anderen seine Freundschaft? Wofür steht ›Freundschaft‹ oder ›amitié‹ in den folgenden Briefen? Wie steht es mit Höflichkeitsformeln, in denen das Wort der Freundschaft auftaucht? Welche freundschaftlichen Gefühle werden im Brief ausgedrückt? Wann wird über die Freundschaft reflektiert? Wie ist Derridas und der Freunde Derridas Gebrauch des Freundschaftswortes zu beschreiben? Wie ist das, was Menschen über Freundschaft denken, in Lebenspraktiken eingebettet? Wie beeinflusst vielleicht sogar dieses Wissen die Praxis? Und wie wird in den entwickelten Theorien das Biographische mitgedacht und mitverhandelt, zum Beispiel, wenn eigene Bücher konkreten Freunden gewidmet werden? Es wird die Funktion und der praktische Wert eines Wissens über Freundschaft von Interesse sein. Die Briefe wurden teilweise da chronologisch verfolgt, wo es möglich und notwendig war, um die Entwicklung von Gedanken oder Dialogischem nachvollziehbar werden zu lassen. Teils wurden Briefe so geordnet, dass Ideen verfolgt, expliziert oder exemplifiziert werden konnten und teils wurde auch anhand von scheinbar formalen Beobachtungen wie den Anredeformeln geordnet. Ziel dieser Arbeit ist es hierneben auch, einen Weg dafür zu finden, wie Briefe aus philosophischer Perspektive gelesen werden könnten. Dabei bot mir der 18 Den Gedanken, Literatur könne alles sagen, vertieft Derrida in DEM, 30. 19 Man kann Derrida zufolge denselben als ernsthaft genanntes Zeugnis, Archiv, Dokument und als Symptom lesen, oder aber als fiktionales, literarisches Werk (vgl. ebd.).
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Reichtum des Materials einen riesigen Vorteil, denn die Briefeschreiber reflektieren in ihren Briefen selbst darüber, wie man Briefe lesen kann.
DIE ARCHIVE Die einzelnen Archive konnten ausgiebig konsultiert werden, was der Unterstützung der jeweiligen Verantwortlichen der Archive zu verdanken ist und auch der Arbeit, die die Archivmitarbeiterinnen und Archivmitarbeiter dort täglich leisten. Gerade bei Privatdokumenten wie Briefen ist es unerlässlich, vor der Konsultation der Briefe die Genehmigungen der verschiedenen Rechteinhaberinnen und Rechteinhaber einzuholen, wobei die Archive behilflich waren. Sie stellten in den meisten Fällen den Kontakt her und leiteten meine Anfragen weiter. IMEC Die hier neben den edierten Texten Derridas verwendeten unedierten Briefe und – in einzelnen Fällen – unedierten Texte stammen zum Großteil aus den Fonds Derrida im Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC), welches in einer Abtei, Abbaye d’Ardenne, in Saint-Germain la Blanche-Herbe in Frankreich untergebracht ist. In der beeindruckenden Friedlichkeit dieses Orts, an dem ich für Jahre hätte bleiben können, wenn es nach mir ginge, der neben Derridas Nachlass auch zahllose weitere Archive literarischer Persönlichkeiten aus Frankreich birgt, lassen sich nur unter Autorisierung der jeweiligen Erben oder Rechteinhaber die Archivboxen konsultieren. Das IMEC ist strukturiert in vier Bereiche: Die Autorenbestände (Les fonds d’auteur), die Herausgeberbestände (Les fonds d’éditeur), die Bestände von Zeitschriften und Presse (Les fonds de revues et de presse) und die Bestände zu Institutionen und Verbänden (Les fonds d’institutions et d’associations).20 Derridas Nachlass ist in den Autorenbeständen klassifiziert, erschöpfend aufgearbeitet ist er noch lange nicht. Es gibt eine derart große Anzahl von Dokumenten und Manuskripten, dass sich noch nicht sagen lässt, wann die fortschreitende Inventarisierung vollständig abgeschlossen sein wird. Die Forschungsarbeit im IMEC war für die vorliegende Arbeit zentral, da sich hier die private Korrespondenz Derridas befindet. UC Irvine Special Collections and Archives In den Beständen der University of California Irvine (UC Irvine) in den USA befindet sich im Critical Theory Archive ein weiterer Anteil des Nachlasses von
20 Vgl. IMEC [online].
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Derrida. Er ist in den Bereich der Special Collections and Archives eingeordnet, der seltene Bücher, Manuskripte, Archive, Photographien und sonstige Materialien beherbergt.21 Derridas Nachlass wurde thematisch zwischen beiden Archiven und Ländern aufgeteilt, wobei das Abkommen geschlossen wurde, sich jeweils gegenseitig mit Kopien des vorhandenen Materials zu versorgen. Ob dieses Abkommen vollständig eingehalten wurde, kann ich nicht beurteilen, da ich nicht Zugang zu den gesamten Beständen hatte, allerdings habe ich einige Seminarmanuskripte im IMEC aufgefunden, die ich auch im Original in Irvine gesehen habe, wo sich die Seminare Derridas befinden. Besonders hilfreich für Forschende ist die Online-Übersicht über vorhandene Dokumente und das Bemühen des Archivs um weltweite Zugänglichkeit dieser Daten unter der Website http://hydra.humanities.uci.edu/derrida/uci.html. Für die vorliegende Arbeit wurden die Manuskripte seiner Seminare zu der Thematik der Freundschaft sowie Video- und Audio-Interviews mit Derrida konsultiert. Umgang mit dem Archivmaterial Eine Herausforderung betrifft die Tatsache, dass eine Voraussetzung dafür gefunden werden musste, was die hinreichenden Bedingungen dafür sind, von einem Brief sprechen zu können. Ich habe kurze Notizen, zum Beispiel auf dem Papier der Ecole Normale Supérieure, worauf sich die jeweiligen Autoren mitteilten, dass sie um eine bestimmte Zeit in einem bestimmten Restaurant warten werden, ausgeschlossen und setze hier voraus, dass als Brief jene Schriftstücke zu sehen sind, die entweder eine Anrede oder eine Schlussformel haben und die entweder verschickt oder aber weitergegeben wurden und ein Papier, das nicht mehr als wenige Zeilen, die eilig an den Partner übermittelt oder auf seinem Schreibtisch positioniert wurden, nicht als Brief zählt. Dass diese Ausgrenzung problematisch und sogar willkürlich ist, ist mir bewusst, aber diese Problematik weist grundsätzlich auf die Schwierigkeit hin, ein Interesse, das die vorliegende Arbeit begründet, nämlich den Brief gedanklich fassbar und erfassbar machen zu können. In dieser Arbeit wurde eine weitere Auswahl getroffen, die dem thematischen Interesse Rechnung trägt (wie man in der Ethnologie sagt, wurde eine thematisch orientierte qualitative Analyse (TA) durchgeführt) und die Briefe ausgewählt, in der Freundschaft benannt oder über verwandte Themen gesprochen wird. Aus einem Corpus von mehreren hundert Briefen habe ich daher ausschlaggebende Briefe ausgewählt, die ich mir daraufhin ansehen will, was sie im Themenkreis Freundschaft-Briefe-Schrift aussagen. Die Lektüre der Briefe ist dabei keine rein historische, sondern das Interesse ist auch von philosophischer Art – vorausge21 Vgl. UCI [online].
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setzt, man kann diese beiden Lesarten unterscheiden. Ich lege also die Auffassung zugrunde, dass auch Briefe von philosophischem Interesse sind. Dennoch soll an ihre spezifische Qualität als nicht-abgeschlossene Philosophie erinnert werden, an ihren Fragment- und Entwurfscharakter. Wenn ein Wort oder ein ganzer Absatz nicht lesbar war, was handschriftliche Briefe im Besonderen betrifft oder aber Teile ausgelassen wurden, weil sie nicht zentral waren, habe ich das mit […] gekennzeichnet. Wenn ein Wort unlesbar war, fügte ich [uW] ein und wenn es mehrere Worte betraf, was insbesondere bei den Briefen von Derrida selbst der Fall war – er hatte eine schwer lesbare, über die Grenzen, die Zeilen geben könnten, hinweg reichende Handschrift – habe ich [uWW] eingefügt. Auch wenn Namen nicht entziffert werden können oder dies aus Gründen von Persönlichkeitsrechten notwendig schien, habe ich dies mit Auslassungszeichen gekennzeichnet. Die Briefe wurden von mir außerdem, soweit sie vorlagen, mit einem eigenen System von Siglen plus laufender Nummer markiert, um einen Überblick zu behalten, beispielsweise DN 40 für den 40. Brief in der Reihe, der mir von Derrida an Nancy vorlag. Der erste Brief von Nancy an Derrida wiederum wäre mit ND 1 gekennzeichnet. Forschungsethische Fragen spielten eine große Rolle. Dazu gehörte im vorliegenden Fall das Einholen der Konsultationsrechte und hiernach Zitationsrechte bei den Rechteinhaberinnen und Rechteinhaber, die ich eingeholt habe. Ich habe mich dem Material nach bestem Glauben und Gewissen zugewendet. Der Vollständigkeit halber soll aber angemerkt werden, dass die Umsetzung dieses verantwortungsvollen Handelns in der Praxis viel Einarbeitung erfordert, da die Rechtslage in Frankreich und Deutschland unterschiedlich ist und für viele Einzelfälle keine klaren Rechtslagen, sondern nur Empfehlungen vorliegen. Dabei helfen unter Umständen auch die Archive, wie das im IMEC durch Anfragen möglich war. Grundsätzlich stellt sich mir die Frage, wie das Lesen dieser privaten Dokumente zu verantworten ist. Ist es zum Beispiel kein Problem, Briefe zu verwenden, wenn die Personen bereits lange verstorben sind? Ermöglicht die bereits vergangene Zeit eine ausreichende, schützende Distanz für die Schreibenden? Wie weit ins Private führt die Öffentlichkeit einer bekannten Person? Im Fall Derridas war die Antwort auf diese Frage etwas klarer, da er selbst über die Frage des Archivs gearbeitet hat und sich noch zu Lebzeiten darum gekümmert hat, dass seine Briefe in Archiven zugänglich sein würden. Ich habe mich also entschieden, über Briefe zu arbeiten. In erster Linie ist dies aus dem Grund geschehen, dass die Autoren ihre Privatdokumente überhaupt an Archive übergeben haben, wie im Fall Derridas. Bei der Übergabe an ein öffentlich zugängliches Archiv hat der Autor bereits eine Entscheidung über die potenziell öffentli-
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che Aufarbeitung seiner Lebensdokumente getroffen, die auch von Derrida selbst ausführlich in seinen verschiedenen Texten zum Thema der Archivierung von Wissen diskutiert wird. Da, wo die Autoren sich nicht selbst geäußert haben, wurden Rechteinhaber, meist Verwandte um die Rechte gebeten. Es wäre weitergehend zu fragen, ob nicht auch schon das Schreiben eines Briefs, also das Übermitteln von Gedanken auf dem Papier, schriftlich, grundsätzlich die Hoffnung birgt, dass dieses Schriftstück konservierbar bleibt, und damit potenziell auch andere Adressaten als den ursprünglich intendierten haben kann. Ich möchte auch Hinweisen auf die hauptsächlich für sozialwissenschaftliche Forschung herausgegebenen Richtlinien für ethisches Forschen und von den Archiven selbst herausgegebenen Leitlinien.22
VORAUSSETZUNGEN ZUR LEKTÜRE VON BRIEFEN Zur Philosophie des Briefs gibt es sehr wenig Literatur. Dennoch soll im Folgenden einführend und im Rückgriff auf literaturwissenschaftliche, linguistische und philosophische Literatur dem nähergekommen werden, was den freundschaftlichen Austausch in Form von Briefen ausmacht, den ich als Grundlage dieser Arbeit betrachte. Das erste Kriterium, um überhaupt vom Brief sprechen zu können, ist die Schriftlichkeit. Ein Brief ist schriftlich verfasst und müsste so zunächst dem Schriftlichen zugeordnet werden. Er ist ein schriftliches Stück, welches verwahrt und verschickt werden kann. Allerdings wird die häufig auftauchende Vorstellung, dass die mündliche Rede den Gedanken unmittelbarer verbunden sei als die Schrift, die die Rede abbilde, hier nicht vertreten.23 Es gibt verschiedene Elemente eines Briefs, auf die sich die Forschung bezieht und die an dieser Stelle hilfreich sein können für eine vorhergehende, erste Bestimmung des Briefs. Nickisch zufolge unterscheidet sich der Brief in seine Grundbestandteile »Briefeingang, -inhalt und -schluß«.24 Für ihn weisen
22 Hierzu verweise ich auf die folgenden Richtlinien vor allem für sozialwissenschaftliche Arbeiten (vgl. Literaturverzeichnis): Code of human research ethics von der British Psychological Society, der American Psychological Association und der Social Research Association. 23 Aleida und Jan Assmann zeigen, dass sich diese Vorstellung in Aristoteles’ Lehre vom Satz und auch bei Platon bezüglich der Kunst wiederfinde (vgl. Assmann / Assmann, »Schrift und Gedächtnis«, in Assmann et al., Schrift und Gedächtnis, 265). 24 Nickisch, Brief, 9 f.
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»Anrede, Grußformeln und Unterschrift […] auf die miteinander Kommunizierenden und die Art ihrer sozialen Beziehung zueinander hin (für diese Beziehung von Bedeutung sind sogar Äußerlichkeiten des Briefes wie Schreibmaterial, Schriftbild, Umschlag u.ä.). Eingang und Schluß, die als Rahmen des Briefes die prinzipiell gleichbleibenden Gesten der Eröffnung und Beendigung des kommunikativen Aktes sprachlich abbilden, neigen dementsprechend am ehesten zur Formalisierung und Verformelung.«25
Aus dieser Perspektive gibt es formale und inhaltliche Aspekte, die im Brief miteinander in Verbindung stehen. Vendrell Ferran und Wille fassen die folgenden Elemente eines Briefs wie folgt zusammen: Inhalt, sprachliche Form (meist Prosa, aber nicht immer), Funktion (Zweck, Informationsvermittlung, Selbstdarstellung, Unterrichtung etc.), Absender (real oder fiktiv oder apokryph, ebd.) und Adressat (Person, Institution oder Öffentlichkeit).26 Außerdem muss das graphische Schriftbild als Element von Briefen hinzu gefügt werden, welches vom Autor bewusst eingesetzt werden kann oder das dem Brief eine individuelle Note gibt, die Handschrift. Im Fall Derridas war es beispielsweise so, dass seine Briefpartner die Briefe nur schwer lesen konnten. Aber betrachten wir die möglichen Elemente eines Briefs noch genauer. Zunächst kann Briefe ein fiktionaler oder faktualer Adressat auszeichnen. Briefe in der Philosophie können mindestens zwei Formen haben: Erstens kann es philosophische Briefe geben, die sich an einen fiktionalen Adressaten richten, zum Beispiel um eine Belehrung in der Form von Briefen an eine erdachte Person darzustellen, wie es bei Seneca zu sein scheint.27 Es gibt in der Philosophie und als Philosophie verstandene Briefe,28 die sich an ein faktuales Gegenüber richten wie die Briefe zwischen Engels und Marx. Diese Briefe können entweder für die Veröffentlichung vorbestimmt worden sein oder als relevante Form der Reproduktion und Distribution betrachtet werden, was zum Beispiel in Senecas Briefen thematisiert wird29 oder für die rein intime Korrespondenz – die eine eher unklare Kategorie darstellt – gedacht worden sein. 25 Ebd., 9 f. 26 Vgl. Vendrell Ferran/Wille, »Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie«, 788. 27 Vgl. Ebd. 28 Dieses ist ein großes Thema, denn, wie Teichert schreibt, werden an Briefe seitens der Philosophie die gleichen Ansprüche gestellt wie Traktate: an Senecas Briefen wurde der Vorwurf gerichtet: sie seien schlecht geordnete Überlegungen, eine Aneinanderreihung von Einzelfällen, keine kohärente Philosophie werde entwickelt, kein systematisches Vorgehen (Teichert, Der Philosoph als Briefeschreiber, 62). 29 Vgl. Ebd.
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Ein weiteres wichtiges Element von Briefen ist die Möglichkeit, sie in verschiedenen Lesarten zu betrachten. Einen Brief zeichnet wie jedes Schriftstück aus, dass es verschiedene Weisen gibt, ihn zu lesen. Die Unterscheidung in drei Ebenen aus Literaturtheorie und Philosophie variieren Vendrell Ferran und Wille. Ein Brief könne auf der Gegenstandsebene (Darstellung der Erfahrungen, erwähnten Personen etc.), auf thematischer Ebene (Erschließung, thematische Einordnung, Interpretation) oder auf Reflexionsebene (weiterführende Gedanken) gelesen werden.30 Diese Unterscheidung ist natürlich für die Forschung oder für das Schreiben eines Texts hilfreich, allerdings erscheint sie mir eher künstlich, da alle drei Ebenen immer aufeinander Bezug nehmen. Einigen Quellen zufolge ist die dialogische Form die wichtige Voraussetzung dafür, von einem Brief zu sprechen. Teichert vergleicht den Brief mit dem Sokratischen Dialog,31 weil er sich gegen ein abgeschlossenes Denken in Systemen, gegen ein zeitlich umschlossenes Ganzes als Text, richte. Die Besonderheit der Briefe Derridas ist beispielsweise, dass im Brief Anekdoten aus der Lebenspraxis neben und zwischen philosophisch systematischeren Überlegungen stehen. So lasse der Brief eben diese Erörterung in freier Form zu, was er mit dem Essay gemein habe.32 Gegenüber dem Traktat oder Essay zeichnet den Brief ein expliziter oder in seltenen Fällen impliziter Dialogpartner aus, er ist eine »Einladung zum Dialog«.33 Besonders wichtig ist hieran, dass er einen expliziten Bezug zu einem Adressaten ermöglicht und voraussetzt.34 In Briefen komme man »ins Gespräch«,35 womit nicht nur die Briefpartnerinnen gemeint sein können, sondern auch zukünftige Leser. Briefe haben daher ein Verhältnis zum Werk eines Autors, sie dienen als »ästhetische Variante und als Kommentar« 36 des Werks. Was bedeutet dieser Dialog mit sich und mit anderen im Briefwechsel? Dialogizität meint hier nicht nur, was Vendrell Ferran und Wille als Gegenteil des Traktats oder Essays betrachten, dass nämlich den Brief ein expliziter oder in seltenen Fällen impliziter Dialogpartner auszeichne. 37 Dialogizität ist meiner 30 Vendrell Ferran/Wille, »Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie«, 789. 31 Teichert vergleicht, Der Philosoph als Briefeschreiber, 71. 32 Vgl. Vendrell Ferran/Wille, »Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie«, 787. 33 Ebd., 789. 34 Vgl. Teichert, Der Philosoph als Briefeschreiber, 70. 35 Strobel, Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern, 15. 36 Ebd., 14. 37 Vgl. er ist eine »Einladung zum Dialog«, Vendrell Ferran/Wille, »Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie«, 789.
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Perspektive nach auch nicht lediglich Ausdruck für eine Textgattung, die einen expliziten Bezug zu einem Adressaten ermöglicht und voraussetzt.38 Ein Brief kann zwar zum Briefwechsel führen.39 In seiner Kritik an Humboldt distanziert sich Wellek von der Vorstellung, der Briefwechsel ersetze das Gespräch. 40 So argumentiert er, dass Goethe und Auguste zu Stolberg sich außergewöhnliche Briefe schrieben, ohne sich je gesehen zu haben.41 Auch Derrida und Nancy schrieben sich zunächst Briefe, ohne sich begegnet zu sein. Trotzdem wird in der Forschung immer wieder der Briefwechsel auf der Folie des mündlichen Gesprächs bestimmt. Auch Wellek schreibt, dass der Briefaustausch im Gegensatz zum Gespräch »langfristig zerdehnt« 42 sei und es nicht immer eine Antwort auf einen Brief gebe. Aus Briefen kann, aber muss nicht unbedingt ein Wechsel entstehen. Benjamin fasst es m. E. etwas präziser, wenn er über Adorno schreibt, seine Briefe seien »Figuren einer redenden Stimme, die schreibt, indem sie spricht«.43 Hierin liegt die Vorstellung, dass der Briefwechsel nicht wie, sondern ein Gespräch sein kann. Jedoch können Briefe auch beunruhigend monologisch sein.44 Es erscheint Wellek idealer, wenn der Briefschreiber eingestimmt auf seinen Partner oder seine Partnerin schreibt und nennt Goethe oder Luther als Beispiel. 45 Kierkegaard sei als anderes Extrem, da er in seinen Brautbriefen als Briefschreiber immer denselben Stil beibehalte.46 Ebenfalls gebe es Briefschreiber, die sich den Stil eines anderen aneignen, so im Beispiel von Bettina von Arnim-Brentano.47 Die erdichteten Briefe, diese, die eigentlich keine Briefe mehr darstellen, denkt Wellek nicht mehr mit.48 Eine linguistische Perspektive erweitert die Perspektive des Monologischen, da sie betont, dass im Brief Bedeutung immer durch die verschiedenen Weisen der Adressierung strukturiert wird, dass diese Elemente aber nicht notwendigerweise dialogische Interaktion herstellen, sondern auch Selbstrepräsentation
38 Für Dialogizität als Textgattung vgl. Teichert, Der Philosoph als Briefeschreiber, 70. 39 Vgl. auch Wellek, »Zur Phänomenologie des Briefes«, 48. 40 Ebd., 48. 41 Ebd. 42 Ebd., 49. 43 Adorno 1974: 129. 44 Vgl. Wellek, »Zur Phänomenologie des Briefes«, 49. 45 Vgl. Ebd., 51 f. 46 Vgl. Ebd., 52. 47 Vgl. Ebd., 56. 48 Vgl. Ebd., 59.
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sind.49 Briefe haben also grundsätzlich eine monologische Dimension. »Zahlreiche Briefwechsel gleichen parallel geführten Selbstgesprächen«.50 Nicht nur können Briefe Selbstgespräche sein, sondern sie zeichnen sich auch durch eine gewisse Abwesenheit oder Distanz aus. Man könnte so auch von Abwesenheit als Kriterium dafür sehen, von einem Brief zu sprechen, auch wenn diese Bemerkung wieder in den Vergleich mit dem Mündlichen zurückfallen würde. Denn wie nah kann man einander überhaupt kommen? Warum ich dennoch von Abwesenheit spreche, ist, dass zumindest freundschaftliche Briefe in der Regel aus dem erspürten Defizit heraus geschrieben werden, dass der andere nicht da ist. 51 Hinzu kommt die zeitliche Unterbrechung zwischen Brief und Antwort, die aufgeschobene Antwort oder die ganz fehlende Antwort. Briefe können dialogisch wirken, wenn in ihnen ein Gegenüber spürbar wird und gleichzeitig haben sie vielleicht ihren Adressaten nie erreicht und das Schreiben bleibt Selbstreflexion. Senecas Briefe seien die »Synthese des Dialogs und der Selbstreflexion«, so Teichert.52 Gute Briefe, scheint mir, sind erfolgreich darin, sowohl eine Figur des Adressaten als auch eine Figur der Briefeschreiberin in einer überzeugenden Weise präsent zu machen. Briefe sind Mittel der Vergegenwärtigung: Die Briefeschreiberin spricht zu einer Adressierten, als ob sie präsent wäre.53 So hat das Briefeschreiben auch mit dem Erlebnis von Intimität und Vertrauen zu tun. Wellek beschreibt, wie es in der Neuzeit zu einem Ende der Briefkultur komme, da die Handschrift als Teil der Bekenntniskultur, abgelöst wird.54 Jeder Brief aber habe Bekenntnis- und Mitteilungswert. 55 So können Briefe Mittel für Seelsorge sein, in Fällen, wo man sich Gedanken in Briefen offenbart, 49 »In letters, meaning is structured by interpersonal bonds: the I is defined in relation to the You whom he/she addresses. In short, the I/You relationship that governs epistolary discourse is both a form of self-(re)presentation and of dialogic interaction« (Dossena/del Lungo Camiciotti, Letter Writing in Late Modern Europe, 4). 50 Baumann, Sprache und Selbstbegegnung, 106. 51 Vgl. hierzu auch Vendrell Ferran/Wille, »Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie«, 788. 52 Teichert, Der Philosoph als Briefeschreiber, 72. 53 Vgl. hierzu auch Dossena/del Lungo Camiciotti, Letter Writing in Late Modern Europe, 5. 54 Vgl.: »Anders ausgedrückt: sowie wir endgültig aufhören, Briefe und Tagebuch im Sinne des persönlichen Bekenntnisses zu schreiben, hören wir auch auf, im prägnanten Sinne Handschrift zu haben, Handschrift zu schreiben« (Wellek, »Zur Phänomenologie des Briefes«, 46). 55 Vgl. Ebd., 47.
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die man sich mündlich nicht zu sagen traute.56 Zeitverlust und das damit einhergehende Desinteresse am Innenleben des Menschen – zum Beispiel seit den 1950er Jahren – hätten zu einem weiteren Untergang der Briefkultur geführt.57 Was fehle sei ein »Gefühl der ›Geborgenheit‹« sowie der »Gewährleistung der Intimität«.58 Ein Brief soll also »Vertrauen und die Bitte um Vertrauen«59 voraussetzen. Dieses Vertrauen ist mit dem speziellen Verhältnis zu Raum und Zeit von Briefen verbunden. Zeit muss aufgebracht werden, um einen Brief zu schreiben. Ein Brief bezeugte für den Adressaten »dass man bereit war, Zeit für das schriftliche Gespräch mit ihm aufzubringen« 60 . Nähe und Distanz sind Effekte dieser Schriftsprache, die den Brief ausmacht. Die Qualität einer Briefschreiberin lässt sich aus der Empfängerperspektive daran messen, wie vertrauensbildend ihre Worte sich auswirken. Vertrauen wird in Briefwechseln geschaffen und vorausgesetzt. Schon mit dem Absenden eines Briefes investiert der Sender Vertrauen, dass der Brief beantwortet wird und die Adressierte sich die Zeit nimmt, ihn zu lesen. Der Brief kann missverstanden werden, er kann verloren gehen, er kann das Gegenüber enttäuschen. Für all das wird Vertrauen aufgebracht. An der Grenze für ein nicht enttäuschtes Vertrauen ist der nicht beantwortete Brief: »Nichts ist demütigender als das ins Leere gesprochene Brief-Wort«.61 Briefe lassen sich also auf verschiedene Weisen als monologisch oder dialogisch einordnen. Monologisch kann entweder ein Eindruck beim Lesen eines Briefs sein oder auch darauf hinweisen, dass der Briefwechsel einseitig war. »Untrüglich erscheint in Briefen durchsichtig, wie weit ihr Verfasser mit seinem Adressaten rechnet, welche Achtung er ihm entgegenbringt […]. Es bildet stets eine kritische Probe, welche Bedeutung den Gegenbriefen zukommt.«62
Monologisch können Briefe auch dann genannt werden, wenn sie weder auf vorhergehende noch auf nachfolgende Briefe des Adressaten Bezug nehmen, wenn also in der Gesamtkommunikation kein Richtungswechsel stattgefunden hat oder stattfinden wird bzw. soll. Dialogizität von Briefen sei dagegen durch einen vergangenen oder zukünftigen Richtungswechsel in der Gesamtkommuni56 Vgl. Ebd., 48. 57 Vgl. Ebd., 59. 58 Ebd., 60. 59 Ebd., 61. 60 Améry, »Der verlorene Brief«, 22. 61 Ebd., 23. 62 Baumann, Sprache und Selbstbegegnung, 106.
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kation definiert.63 Ermerts Klassifizierung ist hilfreich für die Einordnung von Briefen, allerdings ist die Zuordnung in der Praxis und die Rekonstruktion eines Netzes an Briefen, wie er auch bemerkt, durch fehlende Briefe selten möglich.64 Briefe in der Philosophie können entweder Briefe über Philosophie, Philosophie in Briefen oder Philosophie durch Briefe sein. 65 Briefe über Philosophie können philosophische Inhalte, Kulturen oder Personen zum Gegenstand haben.66 Philosophie in Briefen bezeichnen sie als »Philosophie in Briefen ausgedrückt«. 67 Philosophie durch Briefe bezeichnet den Übermittlungscharakter, 68 denn Philosophie wird beispielsweise durch einen bestimmten Briefwechsel weiter oder ein bestimmtes Problem fortgeführt. Diese drei Ebenen können in einem Brief zu finden sein. Philosophische Briefwechsel zeichnet außerdem ein öffentliches Interesse aus, welches den Briefen zukommt, die in der Regel nach dem Tod veröffentlicht werden.69 Dieter Teichert macht in Der Philosoph als Briefeschreiber darauf aufmerksam, dass gerade die Briefform betreffend Grenzen zwischen Philosophie und Literatur zu hinterfragen sind. So kann der Briefeschreiber sich seinen Adressaten nur ausgedacht haben und die Briefe eigentlich als Lehrwerk für philosophische Leser gemeint sein.70 Auch kann der vermeintli63 Vgl. Ermert, Briefsorten, 78. 64 Vgl. Ebd. Ermert unterscheidet: a) monologisch singulärer Brief; b) monologisch vorwärtsverweisender Brief; c) Monologisch rückwärtsverweisender Brief; d) Monologisch bidirektionale Briefe; e) Dialogisch rückwärtsverweisende Briefe; f) Dialogisch bidirektionale Briefe (vgl. ebd., 78f.). 65 Vendrell Ferran/Wille, »Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie«, 792. 66 Vgl. Ebd. 67 Ebd., 794. 68 Vgl. Ebd., 795. 69 Vgl. ausführlicher: »Philosophischen Briefen kommt durch den Allgemeinheitsanspruch des philosophischen Inhalts gegenüber privat verschickten Briefen eine eigentümliche Öffentlichkeit zu, egal ob sie an ein bestimmtes Gegenüber versandt werden, wie beim philosophischen Briefwechsel, oder ob sie an die philosophische Öffentlichkeit gerichtet sind und publiziert werden. Das erklärt die übliche Praxis, den Briefwechsel von PhilosophInnen, denen Bedeutung zugemessen wird, posthum zu veröffentlichen« (Vendrell Ferran/Wille, »Form und Inhalt. Möglichkeiten der Briefform für die Philosophie«, 795 f.). 70 Was macht man in einem Brief eigentlich? Teichert zufolge beschreibt Seneca nicht nur Verfahren einer philosophischen Lebensform, »er wendet sie im Schreiben selbst an: Er arbeitet seinen Lesestoff auf, er referiert problembezogene Gespräche und führt den Briefwechsel mitunter wie ein solches Gespräch, er vergegenwärtigt sich exem-
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che Dialog nur ein Monolog, oder aber als diachroner Dialog mit den erdachten Lesern zu bezeichnen sein.71 Seine Überlegungen verweisen auf die Frage, ob es einen Unterschied macht, wenn die Dinge, die in Briefen stehen, oder die Personen, an die sie sich richten, faktual oder fiktional sind.72 Diese Fragen werden die vorliegende Arbeit an den Briefen stets begleiten, auch wenn im Folgenden die Frage, was ein Brief ist und welche Bedingungen er erfüllen soll, an die Briefeschreiber selbst gestellt wird.
KAPITELÜBERSICHT Im auf diese Einleitung folgenden Kapitel dieser Arbeit wird die Gesamtthematik der Beobachtung von Derridas Texten und Briefen als Frage der Zerstreuung eröffnet, welche mit Derridas Wortschöpfung der destinerrance zusammengefasst wird. Hierin wird die Diskussion um den Zusammenhang von Briefen und Freundschaft aufgenommen, in die vorhandenen Korrespondenzen eingeführt, und die Korrespondenz als fragmentarisches Gespräch definiert. Im Kapitel Der Anfang der Freundschaft im Brief werden die Aspekte der Adressierung und der Anrede als Anfang der Freundschaft im Brief gefasst. Hierin folge ich einigen Briefen zwischen Nancy und Derrida sowie Granel an Derrida und betrachte auch das Thema der Höflichkeitsformeln im Brief. Als Ergebnis diesen Kapitels wird die Anrede als Aspekt der Schrift erkannt, und die Freundschaft in die Nähe der Liebe gerückt. Im Kapitel Freundschaft ohne Brüder und Väter geht es um verwandtschaftliche und politische Aspekte von Freundschaft. Diese sollen als Fragen der Brüderlichkeit und Väterlichkeit thematisiert werden, wofür ich Briefe zwischen Althusser und Derrida hinzuziehe, die ich in Bezug auf Kategorien wie Dank und Entschuldigung näher besehe. Außerdem wird die Freundschaft als Frage der Natur mit Rückgriff auf Cicero und Aristoteles und als Frage der Politik mit Schmitt beleuchtet, bevor ich Derrida diesen Konzeptionen zuordne und gegenüberstelle. Im Kapitel Différance in der Freundschaft geht es um die Frage, wie viel différance es in einer Freundschaft geben darf. Hier werden Themen wie aufge-
plarisches Verhalten, er legt Rechenschaft über sein eigenes Verhalten ab« (Teichert, »Der Philosoph als Briefeschreiber«, 69 f.). 71 Vgl. Ebd., 71. 72 Vgl. diese Überlegungen zu Seneca: Teichert, »Der Philosoph als Briefeschreiber«, 63, 71.
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schobene, briefliche Antworten, Tod und Schweigen thematisiert, in zwei Abschnitten mit Briefen und Postkarten zwischen Derrida und Blanchot. Die Frage der différance wird hinüberleiten zum Thema des gegenseitigen Lesens in der Freundschaft von Schriftstellern und zu Fragen, wie man mit der Trauer über den Verlust, der jeder Freundschaft nach Derrida vorausgeht, umgehen kann. Im Kapitel Von der Gemeinschaft zur Nachbarschaft werden Aspekte des Heiligen und der Ideologie anhand der Frage der Gemeinschaft diskutiert, die mit der Freundschaftsfrage als Tangenz in Verbindung zu stehen scheint. Hierbei geht es um die Frage, wieviel Kollektivität die Derridasche Freundschaft zulässt und welcher Art von Gemeinschaft diese Freundschaft nahe wäre. Hier wird die These vertreten, dass die Freundschaft bei Derrida zwar Einflüsse von Konzeptionen der Gemeinschaft berührt, sie jedoch eher in die Nähe der Nachbarschaft zu rücken wäre. Weil diese Nachbarschaft den verbindenden Kontakt zu entbehren scheint, wird im Kapitel Freundschaft ›ohne‹ Kontakt die nicht stattfindende Berührung zwischen Nancy und Derrida thematisiert und die Frage, wie nah die Derridasche Freundschaft kommen lässt, damit beantwortet, dass sie vor der Berührung Halt macht. Hierbei wird auch die Debatte um Gemeinschaft zwischen Blanchot und Nancy in den 1980er Jahren im Denkumfeld Derridas gestreift, und überlegt, dass die Freundschaft ohne Berührung in Richtung einer Freundschaft ohne Sammlung (vgl. Anfang der Arbeit, Kap. 2) führt. Im Kapitel Freundschaft als Ko-respondenz nähere ich mich dem Abschluss der Arbeit mit der Präzisierung der These von der Freundschaft als Nachbarschaft mit der These der Freundschaft als Ko-respondenz. Hauptsächlich mit Briefen von Granel an Derrida, deren Beantwortung nicht verfolgt werden kann, wird die Unmöglichkeit der Antwort auf einen Brief thematisiert und Freundschaft als gemeinsames Antworten auf etwas Drittes bestimmt. Im Fazit steht die Zusammenfassung des Lesewegs dieser Arbeit, der hinführt zu einer Bestimmung der Derridaschen Vorstellung von Freundschaft als geschriebener Freundschaft. Diese Freundschaft als Schrift umfasst die Freundschaft als Ko-respondenz als Spezialfall der Freundschaft unter Schriftstellern. Hierin wird geschlussfolgert, dass es in der Freundschaft bei Derrida eine minimale Gemeinschaft namens Freundschaft gibt, die im gemeinsamen Antworten auf etwas abwesendes Drittes besteht und die selbst sich ebenso entzieht wie das, worauf sie sich bezieht. Freundschaft ist in der Nachbarschaft der Politik, der Liebe, der Ideologie, der Verwandtschaft und der Literatur anzusiedeln, ohne Berührung, aber in Ko-respondenz.
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LESEHINWEISE UND DANK Im folgenden wird die männliche und weibliche Form in Beispielen abgewechselt, womit jedoch nicht deutlich gemacht werden kann, dass Geschlecht über die Kategorien von Mann und Frau hinausgeht. Diese Frage müsste jedoch in einer eigenen Arbeit weitaus stärker thematisiert werden, als es hier der Fall sein kann. Ich schreibe im Folgenden vom Briefeschreiben im Plural und nicht vom Briefschreiben, um kenntlich zu machen, dass Menschen sehr selten einen einzigen Brief in ihrem Leben schreiben, sondern dass es hierbei um eine Praktik geht, die ganze Netze an Briefen ausspannt, wie man in der Weiterentwicklung zur E-Mail und zum Tweet sehen kann. Französische, nicht in offizieller Übersetzung vorliegender Textstellen Derridas habe ich ins Deutsche übersetzt ebenso wie alle verwendeten Auszüge der handschriftlichen Briefe aus dem Archiv. Ich möchte mich an dieser Stelle herzlich bei Anne Courbois für die geduldige Korrektur meiner Übersetzungen bedanken. Ich habe die meist handschriftlichen Briefe transkribiert, an mancher Stelle mit der großzügigen Hilfe einiger Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des IMEC, und übersetzt. Aufgrund der schwierigen Texte habe ich mich entschieden, die Originale in den Fußnoten den französischsprachigen Leserinnen und Lesern zugänglich zu machen. Im Folgenden werden Abschluss- und Begrüßungsformeln meist nicht übersetzt, um die Eigenart zu erhalten und um die Unübersetzbarkeit nicht durch nicht im Deutschen gebräuchliche Formeln wie ›Lieber Alter‹ für ›Cher vieux‹ zu verzerren. Im Original auf Englisch erschienene Texte werden auf Englisch im Fließtext zitiert. Das Wort parole wird von unterschiedlichen Übersetzern der Texte Derridas mit ›Rede‹ oder aber mit ›gesprochenem Wort‹ übersetzt, in einem Fall sogar als »Sprechen/Wort«. 73 Da mir das gesprochene Wort vielerorts am passendsten erschien, habe ich an diesen Stellen die Variante von Rheinberger in seiner Übersetzung der Grammatologie – gesprochenes Wort – verwendet. Mit Siglen kennzeichne ich die wichtigsten Texte von Derrida. Wenn ich aus Jedes Mal einzigartig, das Ende der Welt (=JME) zitiere, schreibe ich im Vorhinein, um welchen Nachruf es sich handelt, zum Beispiel über Levinas, JME, Seitenzahl. Auch angemerkt sei hier, dass im Französischen häufig zwischen einem Wort und dem darauf folgenden Doppelpunkt ein Leerzeichen gesetzt wird. Dieses wurde in die deutsche Schreibweise ohne Leerzeichen übertragen.
73 Vgl. Derrida, Berühren. Jean-Luc Nancy, 148.
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Bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei meinem Erstgutachter Prof. Dr. Hans-Helmuth Gander und meiner Zweitgutachterin Prof. Dr. Lore Hühn, bei allen Mitwirkenden des DFG-Graduiertenkollegs Freunde, Gönner, Getreue und am Husserl-Archiv Freiburg, der DFG für die Förderung der Arbeit sowie bei allen anderen Menschen, die mich während der Zeit wissentlich oder unwissentlich unterstützt haben. Ausdrücklich bedanke ich mich auch bei allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des IMEC, besonders bei François Bordes, Marjorie Delabarre und André Derval, den Critical Theory Archives und ebenso soll großer Dank den Rechteinhaberinnen und Rechteinhabern der Briefe an und von Derrida für die Genehmigungen, besonders Jean-Luc Nancy und Élisabeth Rigal für Gespräche darüber hinaus, gesagt sein.
Alles ist mir sehr nah, das Bild der Schrift, die Unterschrift, die Wörter selbst Derrida über Barthes/JME, 95.
Destinerrance Briefeschreiben und das Denken unter Freunden – Ein Übergang
PHILOSOPHIEGESCHICHTLICHE INSPIRATION: DER DENKRAUM Interpretation beruht auf der Lückenhaftigkeit geschichtlich-philosophischen oder kulturwissenschaftlichen Arbeitens.1 Das bedeutet jedoch nicht, dass dieses Projekt der Mühe nicht wert ist. In der Vorbereitung dieser Arbeit habe ich mich mit philosophiegeschichtlichen Ansätzen beschäftigt, die diese Arbeit inspirierten und die viele weitere Gründe dafür bieten, sich innerhalb der Philosophie mit Briefen zu beschäftigen und Vorschläge machen, wie dies zu tun sei. Diese Vorschläge sollen hier kurz aufgegriffen werden. Einer dieser Ansätze und in einer ganz anderen zeitlichen und finanziellen Dimension stattfindenden Projekt ist Dieter Henrichs Forschung zum Idealismus in seiner Konstellationsanalyse.2 Ein weiterer Ansatz ist der Kurt Flaschs. Die Konstellationsforschung geht davon aus, dass Gespräche unter Freunden die Arbeit des Denkens von Schriftstellern beeinflussen und fördern, dass es in Zusammenhang steht, was ein Mensch über Freundschaft schreibt und welche Freunde er trifft, was er mit ihnen bespricht und wie sie miteinander umgehen. Um die Konstellation zu beschreiben, ging es Henrich darum, »eine Übersicht über die Problemzusammenhänge zu gewinnen, die in der Diskussion und in der Position der eigentlichen spekulativen Philosophie wirksam gewesen sind.«3 Der Fokus auf die Problemzusammenhänge wird
1
Von Aischylos’ 82 Stücken sind nur sieben bis heute erhalten (vgl. Frietzsch, Über die
2
Vgl. hierzu Henrich, Konstellationen. Sowie: Ders., Werke im Werden. Als auch
3
Ebd., 233.
Praxis kulturwissenschaftlichen Arbeitens, 203). Ders., Grundlegung aus dem Ich.
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von Henrich als Denkraum4 des Autors bezeichnet. Henrich schrieb 1991 über seine eigene Forschung am Idealismus: »Aber die fernere Entwicklung der klassischen deutschen Philosophie ist von Lagen des Austauschs und des anhaltenden Gesprächs nicht abgehoben zu denken. Diese Gespräche waren angebunden an eine öffentliche Debatte in den weitverbreiteten Rezensionsorganen der Zeit, deren Tempo extrem beschleunigt war. Was aber in ihnen entschied, war doch die Verständigung im direkten und vertrauten Austausch oder im Blick auf die Leistungen von Mitstreitern und Freunden, mit denen man einst in solchem Austausch gestanden hatte.«5
Aus einem solchen Fokus auf den freundschaftlichen Austausch können folgende Fragen gewonnen werden und auch für diese Arbeit interessant sein: 1) Was wird in Briefen über Freundschaft gesagt und ergänzt die hier zurate gezogenen philosophischen Texte? 2) Wie adressiert Derrida die Freunde und wie adressieren die Freunde Derrida? 3) Wie sind diese Freundschaften entstanden? 4) Was sind die Orte der Freundschaft? 5) Von wann bis wann haben die Briefwechsel angedauert?6 Philosophie ist in eine Lebenswelt eingebettet; »Je eindringlicher man Wissensinhalte und Argumentationsweisen, Bildmotive und künstlerische Verfahren analysiert, um so mehr zeigt sich in ihnen, nicht: an ihnen, ihre Zeit.«7 Bei der Arbeit an Konstellationen zeigt sich sowohl der entstehende Gedanke und bekomme (philosophisch) Raum als auch der Ort und die Entstehung von Gedanken (Geschichte). 8 Das Zusammenkommen zu einem Bild einer Lebenswelt müsse jedoch vermieden werden. Denn was ist die Lebenswelt? »Oder wir nehmen dies alles zusammen: das alltägliche Verhalten von Menschen samt ihren Widersprüchen, Träumen und Ersatzhandlungen, und nennen dies ›Leben‹ […] Aus einer romantisierenden Weltanschauung – was hat man in das Konzept Leben nicht alles hineingeheimnist – würde eine quellennahe Praxis des Ausschau-Haltens, nicht nach 4
Vgl. hierzu »Dazu ist es nötig, daß man sich die Zuordnung von dringlichen Problemstellungen sowie die Möglichkeiten, die durch den Denkraum vorgegeben werden, verdeutlichen kann, innerhalb derer der jeweils einzelne Autor eine Position zu beziehen suchte.« (Henrich, Konstellationen, 17).
5
Henrich, Konstellationen, 39.
6
Weitere Kriterien entwickelt Henrich in Konstellationen bezüglich seiner Arbeit zu
7
Flasch, Philosophie hat Geschichte I, 43.
8
Vgl. Henrich, Konstellationen, 42 f.
Hölderlin, S. 56–145.
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Totalitäten, sondern nach neuen Details. Lebenswelt wäre dann kein Bild, sondern eine Betrachtungsweise. In dieser methodologisch verflüssigten Form würde das Konzept brauchbar, vielleicht gar unentbehrlich, gerade für den Historiker vor Ort.«9
Flaschs Philosophie hat Geschichte ist eine Kritik an Gadamers Satz, dass Philosophie keine Geschichte habe.10 Gegenüber Gadamer betont Flasch Differenzen und Brüche und plädiert dafür, dass wir uns nicht in den Gedanken der Philosophen von damals wiederfinden, identifizieren sollten, sondern ihr Denken als ihr Denken und nicht unser Denken belassen sollten.11 Denken wir nun wieder an die Frage, wie ein Text zu lesen ist, so wird hier für eine Nähe plädiert, die gegenüber dem Text und gegenüber dem Autor zu halten sei. Gadamer scheint davon abweichend davon auszugehen, dass eine gute Lektüre dem gelesenen Text Raum gibt, sich zu entfalten. Hierin wird vom Schreibenden, der ein Lesender ist, verlangt, sich selbst zurückzuhalten, um die hinreichende Distanz zu haben, lesen zu können. »Jeder Text ist zunächst einmal so zu lesen, als sei er direkt vom Himmel gefallen und als enthalte er die reine Wahrheit, auch die Wahrheit über jeden von uns heute. Man sollte ihn nicht gleich einordnen wollen.«12 So kennzeichnet Flasch den ersten Schritt des Lesens in der Weise, dass man sich in den Texten verlieren solle und den zweiten Schritt damit, den Text mit dem Misstrauen einer distanzierten Analyse zu lesen.13
DAS BILD DERRIDAS ALS FREUNDSCHAFTLICHER BRIEFSCHREIBER. IN DIESER ARBEIT VERWENDETE BRIEFE Die erste Beobachtung, die an dieser Stelle gemacht werden soll, ist, dass Derrida zeitlebens von Freundinnen und Freunden, vom Schreiben, von Texten, von Briefen und vom Briefeschreiben umgeben war. Ich schreibe bewusst vom Briefeschreiben im Plural, weil ich es eher für die Regel halte, dass Briefe in der Vielzahl geschrieben und gewechselt werden. Dabei ist die grundlegende Annahme, dass Briefe geschrieben werden, weil eine Antwort erwartet wird. Es wird eine Antwort erwartet, sobald ein Brief abgeschickt ist. Aber bleiben wir zu
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Flasch, Philosophie hat Geschichte I, 61.
10 Vgl. Ebd., 279 und 282. 11 Vgl. Ebd., 282. 12 Ebd., 66. 13 Vgl. Ebd., 67.
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Beginn noch bei diesem Bild von Derrida. Stellen wir uns Derrida vor in diesem Haus in Ris Orangis beispielsweise, oder auf Reisen, am Steuer, im Flugzeug, immer mit einem Stift in der Hand, immer schreibend, an jemanden schreibend, selten wirklich allein. Allein die in dieser Arbeit aufgefundenen Briefe übersteigen die Anzahl des Lesbaren. Deshalb war die größte Kunst in dieser Arbeit das Streichen, das Umarbeiten, das Neuschreiben, das Puzzeln, das Anordnen, das Schreiben. Aber wenn es ein Bild gibt, was sich bis zum Schluss erhalten hat, so ist dies eines von Derrida beim Schreiben. Ich glaube, unter den Fotos, die ich gesehen habe, gibt es kein Bild von Derrida beim Schreiben. Aber auch im Schreiben selbst liegt ein Bild, das der Schreibende von sich gibt. Bei Briefen ist das ganz offensichtlich, denn es gibt Stil und ein Schriftbild, die an die schreibende Person erinnern können. Hingegen ist das bei publizierten Texten nicht ganz so explizit. Nietzsche entschuldigt sich in einem Brief an seinen Freund Erwin Rohde für sein eigenes Schreiben, denn: »Es ist ein Bild von mir darin; und ich weiß bestimmt, das es nicht das Bild ist, welches Du von mir im Herzen trägst.« 14 Hierin unterscheidet er einerseits die Präsenz eines Bilds, die beim Gegenüber, das einen Brief erhält, ankommt. Dieses Bild wird von Nietzsche scheinbar übergeben, indem er Rohde sein Werk Die fröhliche Wissenschaft schickt. In der Fröhlichen Wissenschaft hatte er die Nächstenliebe mit der Habsucht in Verbindung gebracht, worunter er sowohl die Liebe zu anderen Menschen, als auch die zum Wissen gefasst hatte. Andererseits unterscheidet er davon das Bild, die das Gegenüber erwartet, weil er schon ein solches im Herzen trage. Er glaubt, dass sich durch sein Werk etwas von sich selbst übermitteln lässt. Dieses Etwas wird aber nurmehr als ein »Bild« gefasst, und noch dazu ein Bild, wie er unterstreicht, das das Bild, was der andere von ihm hat, herausfordern wird. Im Kapitel über Adressierung wird auf dieses Zitat eingegangen. An dieser Stelle soll es die Beobachtung unterstreichen, dass das Besondere beim freundschaftlichen Briefwechsel die freundschaftliche Schreibhaltung ist. Freundinnen adressieren ihre Freundinnen in Briefen als solche, und sie tun dies mal implizit, mal explizit in verschiedensten Anredeformeln. Der offensichtliche Unterschied zu einem – zum Beispiel in einer wissenschaftlichen Zeitschrift publizierten – Text, der sich an viele Gegenüber oder an keinen direkt richtet, ist, dass der Brief eine Adresse hat. Diese Adresse kann zu einer Freundin oder einem Freund weisen. In Briefen ist die konstatierende Dimension (»über etwas schreiben«) nur in Zusammenhang mit performativen Aspekten (»welche Haltung drücke ich meinem Gegenüber aus«) das, was Bedeutung schafft, so dass man mit Austin sagen müsste, dass es gerade in Briefen darum geht, Sprechakte oder sprachliche Handlungen zu vollziehen. Wenn es also ein 14 Nietzsche an Erwin Rohde, in: Nietzsches Briefe, Nr. 102.
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Bild Derridas beim Schreiben seiner Briefe an die Freunde gäbe, so würde es zum einen darin bestehen, was die Freunde aus den Briefen von dem wiederfinden, was sie für Derrida halten. Zum anderen bestünde es auch darin, was all die gelesenen Briefe im Zusammenhang genommen skizzieren können, und dabei kommt es auf die Auswahl und auf die Menge der hinzugenommenen Briefe an. Eine Forschung an Briefwechseln hat es mit diesen verschiedenen Aspekten von Abwesenheit zu tun. Briefwechsel zu interpretieren bedeutet im Gegensatz zu anderen Texten die Arbeit am Fragment. Briefe sind wie andere unvollendete und meist unedierte Texte nicht notwendigerweise für die Veröffentlichung bestimmt worden, es fehlen häufig Teile oder ganze Briefe eines Briefwechsels und es besteht ein großer Teil der Arbeit der Forscherin darin, in verantwortlicher narrativer Weise die Lücken zu ergänzen. Die Grenze zur Literatur ist fließend.15 Zwar ist eine Möglichkeit des Arbeitens mit Briefen, darauf zu achten, welche Gesetzmäßigkeiten oder Tendenzen es in Briefen gibt. Manche betonen die Konstanzen des Lebens, manche wiederum die Unwägbarkeiten, manche Briefe beziehen sich auf bleibende Verhältnisse, manche auf Veränderungen.16 Jedoch verbergen sich gerade in Briefen die Gesetzmäßigkeiten und Grundmuster sich oft.17 Darüber hinaus kann der Empfänger abwesend und nicht immer eindeutig zu identifizieren sein. Literaturwissenschaftlichen Quellen soll zugestimmt werden, die stärker hinterfragen wollen, ob »manche Briefe ihren Empfängern wahrhaft zugedacht, ob sie nicht an alle und niemanden gerichtet sind«18. Wichtig festzuhalten ist, dass ein Brief zum Briefwechsel führen kann,19 aber nicht muss. Dem Briefwechsel muss noch nicht mal ein persönlicher Kontakt vorausgehen, auch wenn es um persönliche Briefe geht.20 Hier kann im Folgenden also nicht immer von einem Briefwechsel gesprochen werden und in ganz unterschiedlichen Dimensionen wurden die Briefe verwendet. In dieser Arbeit wurden insgesamt die Briefe zwischen Derrida und acht Briefpartnern transkribiert und verwendet, und in sechs Fällen konnten Briefe – 15 Vgl. zu diesem Thema auch Teichert, Der Philosoph als Briefeschreiber. 16 Vgl. Baumann, »Der Brief«, 110. 17 Vgl. Ebd., 111. 18 Ebd., 106. 19 Vgl. Wellek, »Zur Phänomenologie des Briefes«, 48. 20 Und es muss noch nicht einmal einen Autor geben. Strobel zweifelt Foucaults These an, dass Privatbriefe keine Autoren hätten. Für die zwischen dem 1. und 20. Jh. entstandenen Briefe am Rand der Literatur sei das nicht richtig (Strobel, Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern, 10). in rechtlicher Hinsicht seit Wende zum 19. Jh.: Autorschaft von Briefen vorhanden (ebd., 20).
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wenn auch nur ein einzelner – von Derrida an diese Partner aufgefunden werden. Viele weitere Briefe befinden sich im Archiv, in Privatbesitz, sind zerstört oder aus anderen Gründen nicht zugänglich. Es gibt einzelne Briefe, die Derrida geschrieben hat, die aber dennoch in seinem Archiv auffindbar waren, da er sie nicht abgeschickt hat oder Doppel verfasst hat. Diese Briefe sind auch berücksichtigt worden. Die hier verwendeten Korrespondenzen sind die männlicher Freunde und erwecken den Eindruck von einem Männerbund um Derrida. Diese Einseitigkeit und Beschränkung auf männliche Freunde hat allerdings viel eher mit Genehmigungen und Zugang zu Briefen weiblicher Gesprächspartnerinnen zu tun. Im Vorlauf dieser Arbeit wurde zunächst durch biografisches Material nach Freundinnen und Freunden Derridas gesucht, um dann zu die Orte zu eruieren, an denen sich Briefe befanden und ihre Zugänglichkeit zu prüfen. In einem Fall stieß ich durch Zufall im Archiv auf einen Briefpartner Derridas, Satoshi Ukai. In einem weiteren Fall lernte ich einen Briefpartner nach der Anfrage für die Rechte kennen, Jean-Luc Nancy. In einem dritten Fall traf ich die Witwe eines Briefpartners, Gérard Granel, Élisabeth Rigal. Diese Kontakte ermöglichten Rückfragen und Gespräche zu den aufgefundenen Briefen. Die Entscheidung für die Auswahl der Briefe erfolgte rein aus inhaltlichen Kriterien. Es sollte a) um ein freundschaftliches Verhältnis gehen und b) dieses freundschaftliche Verhältnis im Brief thematisiert werden. 1. Briefe zwischen Louis Althusser und Jacques Derrida (1930-2004) Die vorliegenden Briefe des Briefwechsels zwischen Derrida und Louis Althusser (1918-1990) bezeugen einen brieflichen Kontakt von über 30 Jahren.21 Genauer dauerte der Briefkontakt zwischen Derrida und Althusser hiernach vom 25.04.1956 bis zum 04.11.1987 an, insgesamt mehr als 31 Jahre, fast das halbe Leben Derridas. 22 Nur drei Jahre nach seinem letzten Brief an Derrida starb Louis Althusser. Als Derrida aus Prag zurückkam war sein Freund bereits verstorben.23 Von Althusser an Derrida befinden sich 46 Briefe an Derrida im Fonds Derrida (IMEC), ein Telegramm und ein weiteres Brieffragment. Im Fonds Althusser (IMEC) befinden sich elf Briefe von Derrida an Althusser, sowie vier 21 1952 habe Derrida Althusser kennengelernt, als er ihn als caïman als jungen Studenten empfangen habe. Vgl. Derrida über Althusser: JME, 150. 22 Diese Zahl beruht auf allen datierten Briefen, die ich im Derrida- und im Althusserarchiv im IMEC ausfindig machen konnte. Der erste verwendete Brief ist DA 2, Paris, 25.04.1956, und der letzte AD 43, o.O., 04.11.1987. 23 Dies beschreibt Derrida im Text der bei Althussers Beerdigung gelesen wurde, JME, 149.
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angehängte Dokumente, die in der vorliegenden Arbeit Beachtung gefunden haben. 2. Briefe von Étienne Balibar an Derrida Auch die Briefe von Étienne Balibar (1942 geb.) an Derrida sind Zeugnisse regen Kontakts. Von Balibar an Derrida finden sich 41 Briefe und Postkarten sowie mehrere den Briefen angehängte Dokumente im französischen Archiv Derridas, IMEC im Fonds Derrida. Der Zeitraum dieser Briefe reicht vom 12.09.1966 bis kurz vor Derridas Tod im Oktober, also bis zum 23.08.2004.24 3. Briefe von Henry Bauchau an Derrida Derrida hat lange Zeit Briefe mit Henry Bauchau (1913-2012) gewechselt. 23 Briefe und Postkarten hat Henry Bauchau an Derrida adressiert. Sie befinden sich im IMEC im Fonds Derrida. Die hier aufgefundenen Briefe sind aus einem Zeitraum vom 29.07.1966 bis zum 02.03.1983.25 4. Briefe zwischen Maurice Blanchot und Derrida Zwischen Derrida und Maurice Blanchot (1907-2003) hat es einen Briefwechsel gegeben, der nicht ganz an die Menge von Briefen anderer Briefpartner – zum Beispiel Nancys – heranreicht, in denen aber besonders häufig Fragen der Freundschaft, mal in der Höflichkeit, mal in der Gefühlsäußerung, thematisiert werden.26 Die Anzahl der vorgefundenen Briefe beschränkt sich hier auf wenige Briefe und Postkarten. Im Fonds Derrida finden sich 22 Briefe von Blanchot an Derrida sowie ein Brief von Derrida an Blanchot. Der erste (datierte) Brief von Blanchot ist von circa 1976, der letzte ist ein Brief von Derrida an Blanchot und er ist datiert auf den 29.03.2001.27 Des weiteren wurden die in den Cahiers Blanchot herausgegebenen Postkarten Derridas an Blanchot verwendet. Die sechs
24 Der erste Brief ist eine Karte zur Einladung zur Hochzeit von Balibar BALD 1, Paris, 12.09.1966. Der letzte Brief ist BALD 42, Paris, 23.08.2004. 25 Der erste Brief ist BAUD 6, Gstaad, 29.07.1966, der letzte BAUD 1, o.O., 02.03.1983. 26 Nicht alle offenbar vorhandenen Briefe von Derrida an Blanchot konsultiert werden konnten (die die sich in Privatbesitz der Erbin von Blanchot befanden), sondern lediglich die, die herausgegeben sind oder sich als Doppel oder Fragmente in den Fonds Derrida, IMEC befinden. 27 Die Ungenauigkeit kommt dadurch zustande, dass einige Briefe nicht datiert sind. Der Brief BLD 2, der das Datum 1976 enthält, wurde im Nachhinein per Bleistift datiert. Der letzte Brief ist DBL 26.
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Postkarten, datiert zwischen 1995 bis 1996, von Derrida an Blanchot sind dort publiziert.28 5. Briefe zwischen Georges Canguilhem und Derrida Im IMEC im Fonds Derrida finden sich neunzehn Briefe von Georges Canguilhem (1904–1995) an Derrida sowie ein Brieffragment von Derrida an Canguilhem. Der erste Brief von Canguilhem ist datiert auf den 01.01.1963, der letzte vom 12.11.1994.29 Derridas Brieffragment ist vom 31.10.1969.30 6. Briefe zwischen Gérard Granel und Derrida Des Weiteren wurden Briefe von Gérard Granel (1930–2000)31 an Derrida sowie wenige Briefe von Derrida an Granel aufgefunden. Im Fonds Derrida finden sich 53 Briefe und Postkarten von Granel an Derrida sowie ein Telegramm und drei Briefentwürfe von Derrida an Granel, die nicht ganz entzifferbar sind.32 Die aufgefundenen Briefe sind in einem Zeitraum 06.01.1967 bis zum 22.11.1992 geschrieben.33 7. Briefe zwischen Jean-Luc Nancy und Derrida Der umfangreichste dieser Arbeit vorliegende Briefwechsel stammt von Derrida und Jean-Luc Nancy (1940 geb.).34 276 Briefe oder einem Brief ähnliche Dokumente, meist, von Nancy finden sich im Nachlass Derridas.35 Etwa 229 davon sind Briefe, daneben gibt es eine Reihe von Notizen und Postkarten, sowie drei Kopien von Briefen Derridas an Nancy. Von Derrida an Nancy befinden sich 69 Briefe im Privatbesitz Jean-Luc Nancys. Der erste Brief Nancys an Derrida ist vom 09.05.1969 und der letzte Brief von Nancy an Derrida ist datiert auf den
28 Hg. in: Antelme, Cahiers Blanchot 1. 29 Der erste Brief ist CD 9, 01.01.1963, und der letzte CD 18, 12.11.1994. 30 DC 1, o.O., 31.10.1969. 31 Weiterführende biografische Informationen und Texte finden sich beispielsweise auf der Website zu Gérard Granel, http://www.gerardgranel.com/. 32 IMEC, Fonds Derrida. 33 GRD 2 ist der erste hier verwendete datierte Brief, GRD 50 ist der letzte datierte Brief. 34 Aufgrund der langen Freundschaft zwischen Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe finden sich auch unter den Briefen zwischen Derrida und Nancy zahlreiche Briefe und Spuren eines Kontakts zwischen Derrida, Nancy und Lacoue-Labarthe. 35 Quelle: Eigene Zählung der Briefe im IMEC, Fonds Derrida.
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24.12.2003. 36 Von Derrida ist wiederum der erste auffindbare Brief vom 22.04.1969 und von etwa 2003 der letzte.37 Es gibt darunter einige undatierte Briefe. Unter den hier gesammelten Briefen Nancys an Derrida sind Briefe von Philippe Lacoue-Labarthe oder wurden zusammen von Nancy und LacoueLabarthe verfasst. 8. Briefe zwischen Satoshi Ukai und Derrida Ein etwas weniger umfangreicher, hier Beachtung findender Briefwechsel bestand zwischen Satoshi Ukai (1955 geb.) und Derrida. Es finden sich 27 Briefe von Satoshi Ukai an Derrida im Fonds Derrida sowie ein kurzer Brief von Derrida an Satoshi Ukai.38 Der erste Brief ist vom 06.12.1983 und der letzte vom 03.09.2003.39
DESTINERRANCE. DER BRIEF ALS SCHWEBENDER ORT DER FREUNDSCHAFT »Ich werde versuchen immer da zu sein (immer? das heißt nicht sehr lang) wo Sie sind, da wo Sie zu sein versuchen. Das Schwierige, das heißt Unmögliche, bleibt unsere praktische Perspektive, das Projekt, das es ohne Hoffnung und ohne Unterbrechung zu verfolgen gilt. Sie wissen es, wir wissen es, auch wenn sich dieses Wissen ohne Unterlass zerstreut. Die Beziehungen zwischen der Philosophie und der Literatur bleiben das Enigma und die Notwendigkeit, die ungewisse Notwendigkeit, ohne die es niemals zum Ort des Schreibens kommen würde – aber wo ist der Ort und schreibt man jemals?«40
36 Der erste Brief ist ND 1 und der letzte hat die laufende Nummer des Dokuments ND 233. 37 Der erste Brief ist DN 25 und der letzte Brief scheint DN 22 zu sein, den Nancy auf 2002–2003 datiert. 38 Vgl. IMEC, Fonds Derrida. 39 Es handelt sich um UD 3 und UD 10. 40 »Cher Jacques Derrida, J’essaierai d’être toujours (toujours? cela ne veut pas dire très longtemps) là où vous êtes, là où vous tentez d’être. Le difficile, voire l’impossible reste notre perspective pratique, le projet qu’il faut poursuivre sans illusion et sans relâche. Vous le savez, nous le savons, même si ce savoir se dissipe sans cesse. Les rapports de la philosophie et de la littérature restent l’énigme et la nécessité, la nécessité incertaine sans laquelle il n’y aurait jamais lieu d’écrire – mais où est ce lieu et écrit-on jamais? Cher Jacques Derrida, merci pour votre affection à laquelle la mienne n’est pas seulement une réponse. Maurice Blanchot« (BLD 7, o.O., 21.06.1982).
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Im Folgenden wird es um diese Frage des Ortes der Freundschaft gehen. Welches ist der Ort des Schreibens und darüber hinaus, der brieflichen Freundschaft? Der Brief ist vom 21. Juni 1982, Blanchot ist 74 Jahre alt und Derrida wird bald 52. Blanchot verknüpft in diesem Brief die Frage des Orts mit dem Zusammenhang zwischen Literatur und Philosophie und klärt damit für beide die Frage nach dem Ort, von dem ein Schreiben ausgeht. Sie haben ihren Ort offenbar gefunden. Dieses Wissen aber ist »zerstreut«. Auch wenn Blanchot immer da zu sein hofft, wo Derrida sich befindet, ist ihm das – und seltsamerweise bezeichnet er dies als praktische Perspektive – deshalb nicht möglich, weil das Schreiben an andere keine Sicherheit zu geben scheint. Das Wissen dieser Perspektive selbst aber zerstreut sich hiernach, es ist noch nicht einmal möglich, dies sicher zu wissen. Es scheint ein wenig Schmerz darin zu liegen, dass die Nähe nicht bleiben kann. Dieser Schmerz ist vielleicht auch Ausdruck einer anderen praktischen Perspektive, dass nämlich Derrida selbst und auch viele seiner Briefpartner ständig unterwegs waren. 41 Dieser Wunsch nach Dauer und der Wunsch nach beständiger Begleitung durch den Freund wird nicht nur in diesem Brief benannt. So schrieb auch Étienne Balibar 1984, dass er wirklich froh war, Derrida über den Weg zu laufen, und dass die gemeinsamen Momente »nach meinem Geschmack zu selten und zu kurz«42 sind. In vielen Fällen lebten die Briefeschreiber nicht am selben Ort oder hielten sich nur selten in ihrer Nähe auf. Es wird deutlich, dass Treffen, wenn sie stattfanden, häufig auf der Durchreise sein mussten. So schlug 1968 Bauchau Derrida vor, vorbei zu kommen: »Sollten Sie jemals einen Moment haben, würde mich ein Wort von Ihnen freuen. Noch mehr eine Durchreise hier, wenn Sie und Margerite und/oder Sie Entspannung bräuchten, Arbeit oder Freundschaft. Ein Zimmer und ein Büro erwarten Sie. Ich befürchte, dass Sie schon nach Amerika fahren, bevor wir uns wieder sehen könnten.«43
Arbeit und Privatleben mussten verbunden werden, um die Zeit zu finden, sich zu sehen. Vielfach wurden Postkarten geschrieben. Diese Postkarten und Briefe 41 Vgl. das Kapitel Différance in der Freundschaft. 42 Ausführlicher im Original: »j’ai été vraiment content de te croiser cet après midi: comme chaque fois ; elles sont trop rares et trop brèves à mon goût« (BALD 8, Paris, 10.09.1984). Er schreibt dies am Kopf eines siebenseitigen Briefs. 43 »Si jamais vous avez un moment un mot de vous me fera plaisir. Plus encore un passage ici, si vous avez besoin Marguerite et/ou vous de détente, de travail et d’amitié. Une chambre et un bureau vous attendent. Je crains que vous ne partiez en Amérique avant que nous ne puissions nous revoir« (BAUD 14, o.O., 11.07.1968).
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kennzeichnet der Absenderort, der durch den Poststempel oder die Absenderadresse im Brief vermerkt wird. So sind einige der von Derrida versendeten Briefe Reisegrüße, die auf Ansichtskarten benannt werden und Erinnerungen an Reisen,44 darunter eine Gemeinschaftskarte von einer Konferenz, an der Nancy nicht teilnehmen konnte.45 Auch Ansichtskarten wie die von Nancy aus Marokko sind darunter,46 die von Derrida aus Kyoto an Nancy47 oder von Derrida an Nancy aus dem Prager Gefängnis.48 Derrida, schon an einem anderen Ort und in der Erinnerung an einen zweiten und einen dritten, sendet »eine Postkarte aus Japan (obwohl ich seit langer Zeit zurückgekommen bin… um dir zu danken, sehr spät, für die wunderbaren Fotos dieses frohen Tages, den wir zusammen in L.A. verbracht haben (eine der besten Erinnerungen dieser langen Reise).«49
Diese Erinnerung wird möglich durch eine Postkarte, also in einer Sendung an den Freund, der gerade nicht in der Nähe ist. Wo die Nähe des Freunds nicht möglich ist, wird daran gedacht, und es scheint, als wären Orte für die Freundschaft gedanklich zu erschaffen: »Ich weiß, dass ihr viel arbeitet, aber das ist gut so (ich, mehr oder weniger im Gegenteil, ich arbeite um es so zu sagen nicht, oder ich lasse mich arbeiten, ermüden ohne etwas zu tun und ohne zu wissen, weniger als je, wohin ich gehe, wohin es geht – aber glücklicherweise, ›geht es‹ besser als in den schlimmsten Momenten dieses Winters). Ich denke an euch an diesen Orten die ich mir jetzt vorstellen kann.«50 44 Zum Beispiel die Postkarte DN 1, Granada, o.D., bei der Derrida ein Freundschaftsmotiv gewählt hat. 45 DN 4, Cerisy-la-Salle, 15.07.1997. 46 ND 233, Fes, 24.12.2003. 47 DN 10, Kyoto, o.D. 48 DN 12, Prag, 30.12.1981–18.01.1982. 49 »une carte postale du Japon (bien que j’en sois revenu depuis assez longtemps… pour te remercier, bien tard, des magnifiques photos de l’heureuse journée que nous avions passées ensemble à L.A. (un des meilleurs souvenirs de ce long voyage)« (DN 17, Japan, o.D.). 50 »Je sais que vous travaillez beaucoup mais c’est bien ainsi (moi, ce serait a peu près l’inverse, je ne travaille pour ainsi dire pas, ou je me laisse travailler, fatiguer sans rien faire et sans savoir, moins que jamais, où je vais, où ça va – mais heureusement, ›ça va‹ mieux qu’aux pires moments de cet hiver). Je pense à vous dans des lieux que je sais imaginer maintenant« (DN 33, o.O., 23.07.1981).
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Derridas Arbeiten erscheint ihm selbst richtungslos und er scheint zu bedauern, dass er nicht weiß, wohin es geht, obwohl es ›geht‹. Der Ruf in die Ferne an den Freund scheint eine Möglichkeit, diesem Denken doch eine Richtung zu geben, auch wenn nur Orte im Denken erschafft werden und davon viele. So schreibt 1993 Satoshi Ukai aus Japan: »Weil ich 1989 Frankreich verlassen musste, mitten in Ihrem Seminar über die Politik der Freundschaft, fühle ich jetzt, dass ich meinen Durst, auf dem ich sitzen blieb, gestillt habe, die Frage der philia/philein – ich weiß nicht ob Sie sich erinnern – eins der Themen, mit denen ich mich am meisten beschäftige.«51
Diese Themen bleiben im Denken Ukais relevant, denn er wird einen Teil der Politik der Freundschaft ins Japanische übersetzen. Zehn Jahre nach diesem Brief wird die japanische Übersetzung von Politiques de l’amitié erscheinen. Ukai kündigt diese an als eine Übersetzung von Freunden, oder genauer, Schülern; »Wir waren alle drei im Seminarraum in den achtziger Jahren bis zum Seminar über Freundschaft.«52 In diesem Brief beschreibt Satoshi Ukai auch die Notwendigkeit, Fragen, die in der Politik der Freundschaft aufgeworfen worden sind weiter zu denken, angesichts der schwierigen politischen Situation, derer sie international ausgesetzt seien. Er möchte diesbezüglich vorsichtig sein, aber gleichzeitig »unsere Anstrengungen des Denkens verdoppeln«53. Der Irakkrieg begann im März 2003. Möglicherweise bezieht sich Satoshi Ukai darauf, wenn 51 »Puisque j’ai dû quitter la France, en 1989, au cours de votre séminaire sur la politique de l’amitié, je sens maintenant d’avoir un peu étanché ma soif sur quoi je restais, la question de la philia / philein – je ne sais pas si vous vous en souvenez – étant une de mes préoccupations majeures« (UD 4, Tokyo, 18.04.1993). In diesem Brief geht es auch um die Übersetzung von L’autre cap. 52 »J’ai le plaisir de vous annoncer une publication de la version japonaise de Politiques de l’amitié. Je ne suis pas le seul à avoir l’honneur de participer à cette tâche très importante à bien des égards en ce moment. Les deux autres traducteurs s’appellent Masaichirô Onishi et Shoichi Matsuba. Nous étions tous les trois dans la salle de votre séminaire dans les années 80 jusqu’au séminaire sur l’amitié. Je vous écris maintenant en me demandant dans quelle situation internationale ce colis vous arrivera. Il faut bien dire que ce qui se déroule sous nos yeux nous incite, non seulement à intervenir dans le champ dit politique tout en prenant la meilleure précaution, mais aussi à redoubler nos efforts de pensée, en toute urgence, dans le sillage de notre temps.« (UD 13, Tokyo, 10.03.2003). In diesem Brief schreibt Ukai auch, Derridas Freunde seien besorgt um seine Gesundheit (vgl. ebd.). 53 Ebd.
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er fordert, politisch Position zu beziehen. Auch Georges Canguilhem drückt seine Bewunderung von Politik der Freundschaft aus. »Aber ›Politiques de l’amitié‹ mobilisiert mich. Weil es ein Meisterwerk ist. Ich kann es mir glaube ich leisten, das beurteilen zu können, was Sie über Kant, über Nietzsche, sagen. Im Gegenteil hierzu brauche ich Ihnen nicht zu beichten, wie wenig ich Heidegger kenne und dass ich ihn nicht mag. Zu meiner Überraschung kommt Carl Schmitt vor, der mir seit der Doktorarbeit von Julian Freund, L’essence du politique (1965), und seinem letzten Werk, Philosophie politique (1990), aus den Augen geraten war. Freund ist letztes Jahr gestorben. Ich bewundere die gelehrte Schlichtheit, mit der Sie Aristoteles, Montaigne und Blanchot koexistieren lassen (genau gesagt kenne ich von ihm nur sein kleines Buch über Foucault). Ich freue mich zu sehen, dass Sie Levinas schätzen, über den ich gerade die Studie von Marie-Louise Lescourret gelesen habe.«54
In Derridas Text über das Briefe- und Postkartenschreiben, Die Postkarte. Von Sokrates bis an Freud und jenseits, scheint sein Schreibstil dem Brief selbst angepasst, er wird flüchtig, fragmentarisch und daher schwer zitierbar und kreist um Fragen der Adressierung. In einem – möglicherweise fiktiven, in Die Postkarte abgedrucktem – Brief schreibt Derrida: »Wenn ich Korrespondenz erledige (was nicht der Fall ist hier), ich will sagen wenn ich mehrere Briefe hintereinander schreibe, packt mich das Entsetzen in dem Moment, in dem ich die Sache in den Umschlag stecke. Und wenn ich mich getäuscht habe im Beschickten, die Adressen vertauscht oder mehrere Briefe in dieselbe Hülle gesteckt habe. Das kommt mir an, und es ist nicht selten, daß ich nicht gewisse Briefe wieder öffne, nachdem es mir nicht gelungen ist, sie durch den Umschlag hindurch zu identifizieren in dem Moment, in dem ich sie in den Kasten werfe. Mein postalisches Sortieren und mein postalischer Ver-
54 »Mais ›Politiques de l’amitié‹ me mobilise. Car c’est un chef-d’oeuvre. De ce que vous dites sur Kant, sur Nietzsche, je pense avoir les moyens de juger. Par contre je n’ai pas besoin de vous confesser que je connais très peu Heidegger et que je ne l’aime pas. Ma surprise c’est de retrouver Carl Schmitt, que j’avais perdu de vue depuis la thèse de Julien Freund, L’essence du politique (1965), et son dernier ouvrage, Philosophie politique (1990). Freund est mort l’an dernier. J’admire la simplicité savante avec laquelle vous faites coexister Aristote, Montaigne et Blanchot (je ne connais de lui précisément que son petit livre sur Foucault). Je suis heureux de voir que vous estimez Levinas, au sujet duquel je viens de lire l’étude de Marie-Louise Lescourret« (CD 18, Marly-le-Roi, 12.11.1994).
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kehr, das ist diese Szene. Sie geht voraus und sie folgt der Obsession der Leerung, der anderen, der nächsten oder der, die ich verfehlt habe.«55
Kennzeichen des Briefs ist also, dass er die Fiktion einer Leerung aufbaut, dass er die Vorstellung weckt, man könne sich von etwas Geschriebenem wirklich trennen und ein Gespräch mit jemandem jemals aufhören. Gerade dadurch, dass Briefverkehr immer ein Phänomen von vielzähligen Briefen war – Briefeschreiber haben sich meines Wissens nur in den seltensten Fällen an lediglich einen Adressaten gewendet, sondern sie haben immer mehrere Brieffreunde oder Briefpartner gehabt, entsteht, wie Derrida hier schildert, die Möglichkeit des Vertauschens des Adressaten. Er verdeutlicht, dass die Möglichkeit, Briefe zu adressieren, auch die Möglichkeit impliziert, dass die Adresse vertauscht werden kann und dass die Identifikation des Briefs fehlschlägt. Wenn es eine Funktion des Briefs gibt, nämlich anzukommen, und dem fernen Gegenüber etwas mitzuteilen, so wird hier zunächst die Szene beschrieben, dass keinerlei Vertrauen in diese Funktion gesetzt wird. Derrida erschafft dieses Bild von der Korrespondenz, welches davon ausgeht, dass die Briefe sich vervielfältigen (mehrere Briefe in dieselbe Hülle) oder verstreuen (Briefe an falsche Adressaten) können. Andererseits versucht ein Briefpartner gerade durch das Briefeschreiben, den Kontakt zu einem fernen Freund herzustellen. An Nancy schreibt Derrida: »In den USA hat fast niemand meine Bücher erhalten und das beunruhigt mich etwas. Wenn niemand sie erhalten hätte, würde ich mir sagen, dass es an der ›Surface mail‹56 liegt. Aber manche haben sie sehr schnell erhalten. Ich hoffe, dass Galilée sie gut versendet hat. Es ist nicht verifizierbar. Gestern habe ich deins gelesen und bewundert. Sehr schön und sehr stark, wie immer. Und das Gefühl habe nicht nur ich. Blanchot hat in der Quinzaine littéraire, die ihre 20 Jahre feierte, eine Anspielung darauf gemacht. Jedes Mal wenn ich mit ihm am Telefon spreche – was ich seit einiger Zeit ziemlich regelmäßig und ausgiebig mache –, spricht er mich auf dich an, bittet mich um Neuigkeiten von dir, folgt deinen Bewegungen. ›Sie fahren in die USA, Sie werden Jean-Luc Nancy sehen…‹«57 55 Derrida, Die Postkarte, 1. Lieferung, 128. 56 Das ist die Post, die mit dem Schiff, im Gegensatz zum Flugzeug, Briefe bringt. 57 »Presque personne aux Etats-Unis n’a reçu mes livres et cela m’inquiète un peu. Si personne ne les avait reçus, je me dirais que c’est le ›Surface mail‹. Mais certains les ont reçus très vite. J’espère que Galilée les a bien envoyés. C’est invérifiable. Hier, j’ai lu et admiré le tien. C’est très beau et très fort, comme toujours. Et ce n’est pas seulement mon sentiment. Blanchot y a fait une allusion dans le numéro de la Quinzaine littéraire qui fêtait ses 20 ans. Chaque fois que je parle avec lui au téléphone – ce que je fais assez régulièrement et longuement depuis quelque temps –, il
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Es wird deutlich, dass es bei diesen Derrida in alle Richtungen wehenden Reisen auch darum ging, Freunde zu sehen und dass diese Freunde wiederum untereinander befreundet waren – wie es üblicherweise in der Wissenschaft passiert. Derrida erzählt dies Nancy, und vermittelt ihm über seine Geste, Blanchot zu zitieren, auch, dass Nancys Nähe für ihn, Derrida, wichtig ist. »Du müsstest es höchstwahrscheinlich schon von David und Suzanne (denen du meine Grüße sagst) wissen [dW], ich werde mich bald eurem Pazifik annähern. Das ist sicher eine gute Sache, was die Nähe der Freunde betrifft. Was den Rest angeht, ist es weniger klar. Man wird sehen. Es wird mich vielleicht jünger machen. Aber ich habe bereits eine noch melancholischere Erfahrung von Yale, wo ich vor weniger als zwei Tagen angekommen bin: Ich bin seit 12 Jahren hier, ich habe hier so einzigartige Dinge erlebt und Paul de Man ist hier so präsent… Gut, voilà, ein langer Brief. Der Tag erhebt sich, es ist 5h30.«58
Der Brief scheint eine bestimmte Funktion zu haben. Diese Funktion mag sein, die Distanz zu überbrücken oder die Reisen erträglicher zu machen. Dabei ist der Brief an Papier gebunden. Das Papier ›hält‹, so scheint es, die Freundschaft; »Denn wenn wir auf das Papier Wert legen, und das noch lange, wenn es uns hält [s’il nous tient au coups], und auf alle Weisen, und durch alle Phantasmen, heißt das, dass seine Ökonomie immer mehr als die eines Mediums gewesen ist (eines einfachen Kommunikationsmittels, von der angenommenen Neutralität eines Hilfsmittels), aber auch, paradoxerweise, Ihre Frage schlägt dies vor, die eines Multimedia [sic]. Es war immer so, bereits, virtuellerweise.«59 me parle de toi, me demande tes nouvelles, suit tes déplacements. ›Vous allez aux Etats-Unis, vous allez voir Jean-Luc Nancy…‹« (DN 54, Yale, o.D. – vermutlich 1986 wegen Derridas Tätigkeit in Yale). 58 »Tu dois le savoir par David et Suzanne (à qui tu diras mes amitiés): très probablement, je me rapprocherai bientôt de votre Pacifique. C’est certainement une bonne chose pour la proximité des amis. Pour le reste, c’est moins clair. On verra. Cela me rajeunira peut-être. Mais j’ai déjà une expérience plus mélancolique de Yale où je suis arrivé il y a moins de deux jours: J'y suis depuis 12 ans, j’y ai vécu des choses si singulières, et Paul de Man y est si présent… Bon, voilà une longue lettre. Le jour se lève, il est 5h30« (DN 54, Yale, vermutlich 1986, wegen Derridas Tätigkeit in Yale. Paul de Man hatte Derrida 1966 kennengelernt (dies wurde auch zitiert von Peeters, Derrida, 338)). 59 »Car si nous tenons au papier, et pour longtemps encore, s’il nous tient au coups, et par tous les sens, et par tous les phantasmes, c’est que son économie a toujours été
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Das Papier habe die Funktion eines elektronischen Hilfsmittels für uns gehabt, obwohl es noch nicht elektronisch war.60 Derrida bezog sich im zitierten Brief darauf, dass er oft und lange mit Blanchot am Telefon spreche. Zumindest scheint dies für seine eigene Arbeit zu gelten, denn »ich habe immer auf dem / über das Papier geschrieben, und sogar gesprochen, gleichzeitig zum Sujet / zum Thema des Papiers, direkt auf dem Papier und zum Zweck des Papiers. Untergrund, Sujet, Oberfläche, Abdruck, Spur, Gramm, Inschrift, Falte«.61
Jean-Luc Nancy schrieb in einer Postkarte an mich, dass die Briefe dennoch in ihrer Freundschaft nicht erstes Mittel der Wahl waren: »Indem ich Ihnen diese Erlaubnis sende, muss ich Ihnen präzisieren, dass die Briefe zwischen Jacques Derrida und mir weder ein regelmäßiges noch wichtiges Mittel des Austauschs waren, außer in einigen Fällen. Wir sprachen uns zu oft, mündlich oder am Telefon, als dass die Post uns sehr wichtig gewesen wäre. Es ist gut, das im Kopf zu behalten.«62
Die Post scheint im Gegenteil zum Telefon etwas zu sein, was Ärgernisse verursacht. Sie kommt zuweilen nicht am Bestimmungsort an:63
plus que celle d’un média (d’un simple moyen de communication, de la neutralité supposé d’un support), mais aussi, paradoxalement, votre question le suggère, celle d’un multimédia. Il en a toujours été ainsi, déjà, virtuellement« (PM, 240). 60 Vgl. Ebd., 241. 61 »j’ai toujours écrit, et même parlé sur le papier, à la fois au sujet du papier, à même le papier et en vue du papier. Support, sujet, surface, marque, trace, gramme, inscription, pli« (Ebd., 239). 62 »en vous envoyant cette autorisation je dois vous préciser que les lettres n’ont pas été entre Jacques Derrida et moi un moyen d’échange fréquent ni important, sauf dans quelques cas. Nous nous parlions trop souvent, de vive voix ou au téléphone, pour que la poste nous soit très nécessaire. Il est bon de garder cela à l’esprit« (Email Jean-Luc Nancy an mich, 26.02.2013). 63 Vgl. »Es hätte sein können, daß dieser Brief ihn nie erreicht und daß dieser Wettlauf ohne Ende bleibt – oder jenem Schicksal der ›dead letters‹ geweiht bleibt, in das sich das Rätsel sämtlicher Bartlebys der Welt, unserer unmöglichen Brüder, zurückzieht (›Oh errands of life, these letters speed to death. Ah Bartleby! Ah humanity!‹)« (Derrida über Riddel, JME, 168).
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»Und du wirst mir sagen, daß dieser augenscheinlich-geringschätzige Abscheu (das ist es nicht) meinem Postkartenkult widerspricht […] Und daß das nicht zusammenstimmt mit der Tatsache, daß ein Brief in eben dem Augenblick, in dem er statthat (und ich rede nicht allein vom Bewußtsein), sich teilt, sich zerstückt, zur Postkarte zerfällt.«64
Aus Derridas Perspektive wird jeder Brief zur Postkarte, der keine Korrespondenz – im Sinne einer Kommunikation oder eines Verständnisses zwischen zwei Menschen – erlaubt. Höchstens könnte man von einer einmaligen Sendung sprechen. Hier ist im Kopf zu behalten, dass im Französischen lettres zugleich Buchstaben als auch Briefe sind. Diese Zusammengehörigkeit muss bei Derrida ernst genommen werden. Überall wo es um Fragen des Briefs geht, scheint die Frage des Buchstabens mitgemeint. Die lettres als Buchstaben verweisen wiederum darauf, dass es auch durch die Schrift keine Korrespondenz als Ganzes gibt, sondern eher eine Vielzahl und Vielheit verschiedener Briefe. »Die Unmöglichkeit, diesem Satz einen einzigen Adressaten zuzuordnen, ist auch die – wahrscheinlich kalkulierte – Unmöglichkeit, einen Kontext festzuhalten, mit dem Sinn oder dem Referenten der Aussage [de l’énoncé] – die übrigens eher als einen Diskurs, noch bevor sie ein Aussagen [une énonciation] ist, eine Spur bildet und hinterläßt.«65
Im Brief – könnte man meinen – entsteht eine Beziehung. Auf Postkarten hingegen wird selten geantwortet. Was Derrida also mit dem Aspekt, dass Briefe zur Postkarte zerfallen, gemeint haben könnte, ist, dass sie eine Spur hinterlassen, aber nichts darüber hinaus aus ihnen entsteht und sie so letztlich nicht ankommen. Aber auch auf das Ankommen von Postkarten scheint Derrida kein Vertrauen zu setzen. So formuliert er in einer Postkarte aus Island, die aus Paris abgesendet ist, er »ziehe es immer vor, meine Postkarten im Voraus zu verschicken«.66 Briefe und auch Postkarten scheinen sich in ihrem Bestimmungsort nicht festlegen zu lassen. 1980 schreibt Blanchot an Derrida in einem Brief, dass ihn
64 Derrida, Die Postkarte, 1. Lieferung, 102. 65 Derrida über Lyotard, JME, 266. Der Satz, über den er hier spricht, ist »There shall be no mourning«. 66 »Mon cher Jean-Luc, je t’espère remis de tes émotions ou commotions écossaises. Moi je préfère toujours envoyer mes cartes postales d’avance, d’autant plus que, [uWW], ce pays paraît encore plus ›unheimlich‹ que l’Ecosse« (DN 28, 30.05.1975 Island, Poststempel aus Paris).
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Derridas Werk Die Postkarte deshalb so berührt habe, weil es ohne Bestimmungsort bleibe; »Ich würde gern ein letztes Mal – aber ist nicht immer das letzte Mal – soll heißen das was man für die Stille hält – unterbrechen, um Ihnen zu sagen, wie tiefgründig mich die verlorenen Seiten in der Postkarte erreicht, erschüttert haben, gerade deshalb, weil sie ohne Bestimmungsort [destination] bleiben mussten.«67
In den von Derrida in Die Postkarte abgedruckten Briefen gibt es keinen klar zuzuordnenden Adressaten und keine klar zuzuordnende Senderin. Es scheint, als richte sich darin ein Mann an eine Frau, aber das Rätsel der Adressatin wird nicht aufgelöst. Blanchot schreibt weiter: »Wer sie erhält, weiß, dass er das erhält, was ihm nicht zugesprochen war – gerichtet an niemanden, unerreichbar und die Freundschaft immer unter der Drohung der Indiskretion durchstreichend, weil sie empfängt und sie nicht verstanden zu werden verlangt. Trotzdem, die Freundschaft. Ich möchte, dass dieses Wort noch zwischen uns sprechen kann – und ich würde auf die einfachste Art sagen: Freundschaft, unentwegte Freundschaft.«68
Diese Art, Derrida seine Freundschaft zu sagen, geht über die bloße Beschreibung seiner Freundschaft zu ihm hinaus, weil sie seine Zustimmung dazu formuliert, was Derrida über die Unmöglichkeit, Bedeutung zu übermitteln, denkt. Das Problem der Adressierung wird hier als Unmöglichkeit gefasst, jemanden schriftlich zu adressieren. Vielleicht gilt für jeden Text, was hier laut Blanchot für Derridas Die Postkarte feststeht; »Gegenteilig zur größten geteilten Gewissheit zweifle ich daran, dass man schreibt um gelesen zu werden, wirklich gelesen, zu kalkulierbarer Frist, und dafür, dass die Briefe an dem Bestimmungsort ankommen. Es ist nur ausgehend von dieser Unentscheidbarkeit, 67 »Cher Jacques Derrida, Je voudrais rompre une dernière fois – mais n’est-ce pas toujours la dernière fois – ce qu’on croit être le silence pour dire – pour vous dire combien profondément m’ont atteint, ébranlé les pages perdues dans la Carte Postale, précisément parce qu’elles ne pouvaient rester que sans destination. Qui les reçoit sait qu’il reçoit ce qui ne lui était pas destiné – destiné à personne, irrecevable, et rayant même l’amitié toujours sous la menace de l’indiscrétion parce qu’elle accueille ce qu’elle ne demande pas à comprendre. Pourtant, l’amitié. Je voudrais que ce mot puisse encore parler entre nous – et je dirais de la manière la plus simple: amitié, amitié constante. Maurice Blanchot« (BLD 4, o.O., 17.06.1980). 68 Ebd.
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dass der Grund für die Reise zurück zu dem der destinerrance zurückkäme, und dass die Geschichte des Buchstabens/Briefs sich als Literatur ereignet.«69
Es ist nicht genau zu bestimmen, an wen Derrida sich hiermit richtet und wer der Adressat der »größten geteilten Gewissheit« ist, auch wenn er diesen Brief in einem an Catherine Malabou adressierten Buch veröffentlicht. 70 Wer ist der wirkliche Adressat dieses Briefs? Es ist möglicherweise weder Malabou noch sind es die Leserinnen und Leser. Wenn die Ankunft eines Briefs auch nicht kalkulierbar ist, so ermöglicht er eine Reise zu einem vielleicht nie erreichbaren Grund. Derrida spricht von einem Brief, der nicht von der »externen Gelegenheit einer Begegnung zwischen zwei bereits identifizierbaren Subjekten«71 ausgeht. 69 »Contrairement à la certitude la mieux partagée, je doute qu’on écrive pour être lu, vraiment lu, à échéance calculable, et pour que les lettres arrivent à destination. C’est seulement depuis cette indécision que la cause du voyage reviendrait à celle de la destinerrance, et qu’advient l’histoire de la lettre comme littérature.« (hier Derrida in einem Brief an Malabou, 26.09.1997 aus Villanova, près de Philadelphie, in Derrida/Malabou, La contre-allée, 101). 70 Paradoxerweise scheint erst durch die möglichst wenig explizite Benennung, also die Abwesenheit eines konkreten Adressaten, der Prozess der Identifikation möglich zu werden, der einem Leser oder einer Leserin hilft, einen Text zu verstehen. 71 Vgl. hierzu ausführlicher: »Mais ce n’est précisément pas cela que je parle, seulement d’une lettre qui ne serait pas l’occasion externe d’une rencontre entre deux sujets déjà identifiables mais qui paraît après coup avoir été écrite pour quelque destinataire inconnu au moment où elle est écrite, destinataire inconnu de lui-même si on peut dire, et qui se détermine (comme tu sais si bien le faire) à partir de la réception de la lettre, qui est tout sauf un message. Alors tu t’identifies et tu engages ta vie sur le programme de la lettre, ou [p]lutôt d’une carte postale, d’une lettre ouverte, divisible, à la fois transparente et cryptée. Tu dis alors, c’est moi, uniquement moi qui puis recevoir cette carte, non pas parce qu’elle m’est réservée mais parce que je reçois comme un présent la chance à laquelle cette carte se livre. Je veux croiser son trajet, je le peux et je le veux son trajet ou son transfert. Bref tu dis ›c’était moi‹ par une décision douce et terrible, tout autrement: rien à voir avec l’identification à un héros de roman. Tu dis ›moi‹ l’unique destinataire et tout commence entre nous; et disant cela, tu ne te fais aucune illusion sur la divisibilité de la destination, tu ne l’arraisonnes même pas, tu es là pour recevoir la division et tout commence entre nous, depuis ce que là tu donnes en recevant. Non que la carte ainsi trouve son destinataire, il ou elle. On ne peut pas dire du destinataire qu’il existe avant la lettre. D’ailleurs, si on le croyait, et si on parlait d’identification au destinataire comme au personnage d’une fiction, la question reste: comment le pourrait-on? Comment s’identifier à un destinataire, à un destina-
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Darüber hinaus ist der einzige Ort, von wo der Brief abgeschickt werden kann – und das bezeichnet Derrida als »Grund« – die destinerrance, durch die das Ereignis der Geschichte von Brief und Schrift sich ergibt. Das Wort destinerrance kombiniert die französischen Worte destin (Bestimmungsort), destinée (Schicksal, Bestimmung) und errance (Umherirren, Verirrung). Die destination d’une lettre ist der Bestimmungsort eines Briefs. So könnte man sagen, dass Derrida als das, was dem Brief wesentlich ist, eine Bestimmungsverirrung annimmt. Nicht der Bestimmungsort, sondern die destinerrance wäre dann das Ziel eines solchen, zirkulären Briefs. Ein Derrida’scher Brief ermöglichte so statt der Übertragung verschiedener sinnhafter Sätze nur die Multiplikation, Irrfahrt, oder Streuung des Sinns. Er würde aber nicht und nirgendwo ankommen. An anderer Stelle notiert Derrida, dass ein Ereignis (wie das der irregeleiteten Bedeutung) die Form des Ankommens annehmen kann, dass also eine dieser Bedeutungsmöglichkeiten sogar das Ankommen einer gewissen Rezeption, die er in Anführungszeichen setzt, sein könnte: »Vom außen, das heißt da, wo kein ›Performativ‹ selbst das Ereignis produzieren könnte, noch eine ›Allmacht des Denkens‹ (cf. Télépathie). Dieses Ereignis könnte die Form einer Ankunft am Bestimmungsort annehmen, zum Beispiel einer Lektüre in den Händen des Anderen, einer ›Rezeption‹. Mit der Gefahr eines Verlusts, Gabe, einer Wette, die das Geschriebene unterschreibt.«72
Diese Rezeption scheint aber nur ein Eindruck zu sein, der wiederum auf die Verirrung zurückverweist, weil Bedeutung als Ereignis bestimmt wird. Diese Verirrung besteht darin, dass ein Text gleichzeitig einen Adressaten haben kann, sogar haben muss (weil er von einem Menschen geschrieben ist, der Freunde hatte), aber gleichzeitig diesen Adressaten verfehlt. Der Verlust ist nicht bloß eine beiläufige Gefahr des Geschriebenen. Obgleich das Gegenüber beim Briefeschreiben die Gabe eines Vertrauensvorschusses vom Autor erhält, der sich wagt, ihm zu schreiben und sich schreibend zu (ver-)äußern, verfehlt diese Gabe jegliche Absicht etwas zu geben. Der Grund taire inconnu, à un personnage si absent du livre?« (UCI, Jacques Derrida Papers, MSC01 Box 91, Folder 1 »Télépathie«, 4-5). 72 »Du dehors, c’est-à-dire là où aucun ›performatif‹, même, ne produira l’événement, ni une ›toute-puissance de la pensée‹ (cf. Télépathie). Cet événement pourrait prendre la forme d’une arrivée à destination, par exemple d’une lecture aux mains de l’autre, d’une ›réception‹. Avec le danger d’une perte, don, un pari qui signe l’écrit.«, schreibt hier Derrida in einem Brief an Malabou, 26.09.1997 aus Villanova, près de Philadelphie, in Derrida/Malabou, La contre-allée, 99).
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dafür ist, dass sobald geschrieben wird, Bedeutung gestreut wird. Dieses Streuen der Bedeutung könnte man als ›Denken‹ bezeichnen. Deshalb ist das Schreiben an sich und für sich, ganz ohne Grund, für Derrida schon eine andere Form des Denkens (hier nicht entgegen gesehen zum Tun). Er schreibt, sein Denken treffe man nicht dort an wo er darüber rede, sondern »da wo ich schreibe« (»là où j’écris«).73 Exécrer bedeutet im Französischen verabscheuen, écrire bezeichnet das Schreiben, aber es scheint, als würde Derrida etwas von sich veräußern, sich veräußern wenn er schreibt, da das ich und das schreibe unmittelbar verbunden werden. Derrida scheint zu sagen, dass er am meisten ich ist, wenn er schreibt, was ein Kunstwort wie excrire ergeben könnte. Es scheint, als gäbe es kein Denken außerhalb des Schreibens, welches gleichzeitig ans Ich gebunden ist, welches schreibt, aber auch ans da, wo es schreibt.
KORRESPONDENZ: DAS GESPRÄCH ALS UNTERBRECHUNG Derrida verwies darauf, dass das Briefeschreiben der Gefahr aussetzt, dass Bedeutung nicht übermittelt werden kann. In der Freundschaft scheint der Brief außerdem etwas zu sein, was die Freunde hinterfragen, weil es möglicherweise nicht ankommt. Das Derridasche Misstrauen jedoch könnte auch umgewendet werden. So könnte man die These aufstellen, dass gerade die Briefform ideal für die fragmentarische, unabgeschlossene Qualität ist, die das Denken unter Freunden ausmacht. Briefeschreiben und auch Briefe-lesen wären dann Möglichkeiten, ins Denken zu kommen. Derrida schien das Schreiben selbst auch im Urlaub nicht zu unterbrechen; »Ich bemerke auch, dass die Leute während ihres Urlaubs nicht schreiben, außer du. Es soll Leute geben die wirklich Urlaub machen…«74 Dabei schien das fragmentarische Denken durch Briefe eine gute Möglichkeit, weiter zu denken, da wo die Texte nicht fertig geschrieben werden konnten.75 Durch den Brief, der sich immer noch besser konservieren lässt als eine Email, die schnell im Posteingang gelöscht ist, erhält sich auch die Möglichkeit, einmal ein Schreiben zurückzufordern, einen selbst zu Papier gebrachten Gedan-
73 Ebd. 74 »Je constate aussi que les gens pendant les vacances n’écrivent pas, sauf toi. Il doit y avoir des gens qui se mettent vraiment en vacances…« (AD 28, o.O., 14.08.1966). 75 Ich erinnere daran, dass Derrida die Politik der Freundschaft als ein langes Vorwort bezeichnet (PdF, 9).
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ken der Erinnerung zurückzuführen. Der Brief konservierte, was noch nicht fertig war. Er bot somit nicht nur die Möglichkeit, vom Adressaten oder ohne ihn an Dritte weitergegeben und vorgelesen zu werden, sondern er konnte auch zurückgegeben werden, geöffnet oder ungeöffnet, wie der folgende Brief von Granel: »Eine, fast ein Bisschen beschämende, Anfrage, aber schließlich verständlich, ich hoffe es: Könntest du – wenn du ihn aufgehoben hast – mir diesen Brief zurücksenden, worin ich mich darum bemüht habe, auf deine Frage ›Bist du Materialist?‹ zu antworten?«76
Dabei muss die Zeit keine Rolle spielen, oder es könnte sich eine andere Zeitlichkeit ergeben. Der Brief gibt die Möglichkeit, dass gleichzeitig ein Gedanke weitergeführt werden kann. Er ermöglicht ein Denken ohne Linearität.77 Wenn Briefe bei Derrida also zu Postkarten verkommen und Korrespondenz keine Möglichkeit mehr ist, so soll dieser Umstand hier auch als Chance betrachtet werden, der eine ganz bestimmte Art von Denken ermöglicht, das Denken unter und mit Freunden. Den Brief so als Teil des Denkens unter Freunden zu bestimmen, scheint in Derridas Fall stimmig zu sein. Vielmehr, als dass es möglich gewesen war, überall am selben Ort miteinander zu sein oder gar miteinander zu wohnen – wie im Fall von Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, bot der Brief für Derrida die Möglichkeit, an vielen verschiedenen Orten gedanklich zu sein, und einen Diskussionsraum offen zu halten, der dem Ort, der ihm am nächsten scheint, dem des Schreibens als destinerrance sehr nahe gekommen sein muss. Vielleicht könnte man daran denken, was Adorno über Benjamin schrieb: »Der Brief war ihm darum so gemäß, weil er vorweg zur vermittelten, objektivierten Unmittelbarkeit ermutigt. […] Im Brief vermag man die Abgeschiedenheit zu verleugnen und gleichwohl der Ferne, Abgeschiedene zu bleiben.«78 76 »Une demande, presque un peu honteuse, mais compréhensible finalement, je l’espère: Pourrais-tu – si tu l’as conservée – me retourner cette lettre où je m’efforçais de répondre à ta question: ›Es-tu matérialiste?‹« (GRD 27, Toulouse, 28.09.1971). 77 Vgl. z. B.: »Ich erhalte deinen Brief in demselben Moment wo ich dir einen absenden wollte…« (»Je reçois ta lettre dans le moment même où j’allais t’en expédier une…«) (AD 24, o.O., 24.08.1964). 78 Adorno, »Benjamin, der Briefschreiber«, 128. Adorno interpretiert die Briefe Benjamins als diejenigen eines Schriftstellers, der darin seinen Briefpartnern gegenüber eine Distanz reserviert. Trotzdem betont er seine Fähigkeit, der Adressierten den Eindruck zu vermitteln oder zu fingieren, er sei ganz in der Nähe, ganz lebendig. Interessanter-
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Was durch die vielen Briefe gefördert worden sein muss, ist eine Freundschaft des Denkens, die diese Menschen nicht zwangsläufig in der Nähe ihrer Freunde hielt, aber doch in der Nähe des Denkens. Wenn es also kein Denken gibt, welches nicht ans Ich gebunden ist, welches schreibt, noch an das Da seines Orts, so ist dieser Ort in diesem Fall ein Ort unter Freunden.
weise entsteht hier der Eindruck der Lebendigkeit aus dem »Medium des erstarrten Worts« (ebd.), das für Adorno die Schrift ist. Hierin wird eine gewisse Zuordnung und möglicherweise Abwertung eines Briefs als (bloßem) Ersatz für das Gespräch deutlich. Auch dass er vom Fingieren spricht, macht deutlich, dass die Schrift es – aus dieser Perspektive betrachtet – nicht mit dem gesprochenen Wort aufnehmen kann und Lebendigkeit lediglich vortäuschen kann.
Die aimance hat eine selbe Stimme, aber sie schreibt sich nicht mit denselben Abdrücken auf den Körpern ein. L’aimance a une même voix, mais elle ne s’inscrit pas sur les corps avec les mêmes empreintes Khatibi, Aimance, 109.
Der Anfang der Freundschaft im Brief Schrift, Höflichkeit, Anrede – Aspekte der Liebe
Die Formen der Adressierung sind speziell in der französischen Sprache im Brief von einer Vielzahl von Konventionen begrenzt. In den hier betrachteten Briefen, hauptsächlich aus dem französischen Kontext in einem Zeitraum von über vierzig Jahren, ist Freundschaft kein seltenes Wort. Gerade in ausführlichen Schlussoder Anredeformeln wird Freundschaft oftmals evoziert, es entspricht den gebräuchlichen Briefpraktiken. Relativ schnell scheinen sich Briefpartner gegenseitig mit dem eher formellen »Cher ami« zu betiteln, obgleich dies kein Zeichen der intimen Nähe sein muss. Wie hängt diese scheinbar formale Ebene des Sprechens über Freundschaft mit der Freundschaft zusammen? In den vorliegenden Briefen wird über Freunde gesprochen, es wird zu zu ihnen gesprochen und es wird von der Freundschaft gesprochen. Auf allen diesen Ebenen wird etwas über Freundschaft ausgesagt. Deshalb stellt sich die Frage, wie in den Briefen auf Freundschaft Bezug genommen wird. Wie benennen die Korrespondenten ihre Freundschaft? Wie erinnern sie einander daran? Wie berufen sie sich auf die Freundschaft, oder wo wird gar nicht das Wort der Freundschaft berufen, wo ist es eher explizit, wo implizit? Freundschaft wird in den Briefen explizit und implizit benannt. Die hier im Zentrum der Beobachtung stehenden Briefe haben gemeinsam, dass sie über Freundschaft sprechen, implizit oder explizit Freundschaft verhandeln, aber dass sich in diesen Texten auch an konkrete Freunde gerichtet wird, weil es Texte sind, die an andere Freunde verschickt wurden. Zunächst kann man die Weise, wie man die Freunde adressiert, sie nennt, ansehen. Außerdem gibt es die Weise, wie Freundschaft zum Ausdruck kommt. Hierbei lässt sich unterscheiden, wann man sich innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Konventionen adressiert (im Brief: Anrede, Abschiedsgrüße, Länge des Briefs, Aufbau) und wann es etwas mehr ist, wann Freundschaft zum Ausdruck kommt, obwohl sie nicht benannt wird.
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In den Briefen kreuzen sich Modi der Beschreibung und der Adressierung. Dafür soll daran erinnert werden, was John Langshaw Austin über die verschiedenen Aspekte einer Äußerung geschrieben hat. In How to do things with words unterschied er zunächst die performative von der konstatierenden Äußerung. Die performative Äußerung ist »Handlung und Äußerung zugleich«,1 sie beschreibt nicht lediglich etwas wie die konstatierende, sondern sie bezeichnet den Umstand, dass man in einer solchen Äußerung etwas tut, indem man etwas sagt. Die konstatierende Äußerung würde hingegen lediglich behaupten. 2 In How to do things with words unterschied Austin zunächst die performative von der konstatierenden Äußerung, um diese Fallunterscheidung im Verlauf seiner Untersuchung zugunsten einer Aspektunterscheidung in den lokutionären, illokutionären und perlokutionären Akt einer Äußerung übergehen zu lassen. Seine Beobachtung wendet sich von der Unterscheidung verschiedener Typen von Äußerungen hin zu einer verschiedener Aspekte einer Äußerung, einer Sprechakttheorie. 3 Nunmehr hat jede Äußerung performative Dimensionen. Dies führt zu der weite Teile heutiger Kultur- und Sprachtheorie beeinflussenden These, dass Menschen etwas mit der Sprache tun können, und Sprache nicht lediglich abbildet.4 Man könnte nun also annehmen, dass jede sprachliche Äußerung nicht nur etwas feststellt, behauptet oder beschreibt, sondern auch etwas tut. Das ›Tun‹ einer Äußerung ist aber nicht immer so offensichtlich wie beim Taufen eines Schiffs, wo das Gesprochene in illokutionärer Weise schon dem Tun der Äußerung entspricht. Ebenso kann das Geäußerte perlokutionäre Folgen haben. So kann ich die Äußerung meines Gegenübers: »Es ist kalt hier im Raum«, als Aufforderung verstehen und dies kann mich dazu bringen, das Fenster zu schließen. Perlokutionäre Folgen fallen nicht zusammen – und dies muss zeitlich gedacht sein – mit dem Sprechen, wie es bei der illokutionären Dimension der Fall ist. Die Unterscheidung selbst von perlokutionär und illokutionär ist jedoch nicht unproblematisch. Von welchem Ort aus könnte man darüber urteilen, welche Folgen ein
1
Austin, »Performative und konstatierende Äußerung«, 142. Vgl. auch: »Eine solche Äußerung tun, ist die Handlung vollziehen« (ebd., 140).
2
Vgl. hierzu: »Man kann leicht eine Vorstellung von der ›performativen Äußerung‹ gewinnen, obgleich dieser Ausdruck, wie mir wohl bewußt ist, weder in der deutschen noch in irgendeiner anderen Sprache existiert. Der Begriff ist eingeführt worden, um einen Gegensatz zur behauptenden oder, besser gesagt, konstatierenden Äußerung zu bezeichnen« (ebd., 140).
3
Vgl. Austin, Zur Theorie der Sprechakte.
4
Vgl. hierzu bspw. die Diskussion um den Performative Turn in den Kulturwissenschaften.
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bestimmtes Sprechen hatte und wann genau sie eingetreten sind?5 Im Folgenden wird von Performativität im Allgemeinen gesprochen, dafür aber nicht nach illokutionär und perlokutionär unterschieden. Ein Text kann etwas anstoßen, vermitteln oder zeigen, was abseits der Intention des Autors steht.6
EINEN BRIEFWECHSEL BEGINNEN. AUF DEM WEG ZUR ›FREUNDSCHAFT‹ IM BRIEF, MIT DERRIDA UND NANCY Wie kann man eine Freundschaft beginnen, die nach Jahren plötzlich die Form annimmt, für ein wichtiges Werk über Freundschaft maßgebend gewesen zu sein? Lesen wir Derrida über die Politik der Freundschaft: »Wenn ich mich ausnahmsweise trauen würde, den Titel eines meiner Bücher zu zitieren, Politiques de l’amitié, würde ich sagen, dass es fast alles, in seinen Zielen und in seinen Aporien, der Erfahrung schuldet, die ich seit 35 Jahren mit meinen Straßburger Freunden geteilt habe.«7
Ablesen lässt sich die Konstanz dieser Freundschaft auch an einer großen Anzahl an Briefen. Die etwa 300 vorhandenen Briefe zwischen Derrida und Nancy umspannen einen Zeitraum vom 09. Mai 1969 bis zum 24. Dezember 2003. Der erste Brief von Nancy an Derrida ist verschwunden, aber der Anhang, der ihm mitgeschickt wurde, konnte in Nancys Privatbesitz aufgefunden werden. Es handelt sich um einen Text. In diesem Text, Commentaire, geht es um Derrida und Nancy beschäftigt sich hierin mit der Übernahme des Denkens durch die Gruppe Tel Quel und der Kritik, die von der Epistemologie eines Dialektischen Materialismus ausgeht. In diesem Text also, der im Bulletin de la Faculté des Lettres de Strasbourg vom Dezember 1969 erschienen ist, beschreibt Nancy, dass die Metaphysik geschlossen sei (close) und die Philosophie sich erschöpfe,
5
Vgl. hierzu die Debatten um rassistische Sprache, beispielsweise im Kontext der
6
Dies alles ist eine Diskussion, die ausführlicher schon an anderer Stelle geführt wurde.
Critical Whiteness Studies. 1980 jedenfalls schreibt Kittler in einem Text, in dem er auch darauf verweist, dass erst seit dem 18. Jahrhundert als Literatur Texte annehmbar seien, die mit der Funktion Autor versehen seien (vgl. Kittler, »Wie man abschafft, wovon man spricht«, in: Ebd., 67): »Die Diskursivität, deren Merkmal der obligate Autorname ist, heißt Literatur.« Kittler, »Wie man abschafft, wovon man spricht«, in: Ebd., 66f. 7
Derrida, Penser à Strasbourg, 48f.
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indem sie diese Geschlossenheit (clôture) durchläuft. 8 Commentaire ist ein Kommentar, in dem es um die Themen Nancys Seminars über Literatur und Philosophie geht und um die Frage, ob es eine theoretische Möglichkeit gibt, über Literatur zu sprechen (propos théorique sur la littérature).9 Die Philosophie als Wissenschaft stellt er hier in die Nähe der Literatur. Mit deutlichem Bezug zu Derrida wird ein Zeitaufschub oder Verzug (délai) als Mangel und Kraft der Philosophie zugleich beschrieben.10 »Der Name dessen, was keinen Namen hat – der Eigenname aller Eigennamen, Name des Eigenen [Propre], welches der Philosophie fehlt, und dessen Mangel die Philosophie ist. Die Wissenschaft ist so der Ort, wo dieser Mangel den Effekt hat, immer schon sein eigener Name zu sein.«11
Der Mangel der Philosophie wird zu ihrem Kriterium, und Nancy fragt sich, ob es eigentlich je eine Philosophie des Scheiterns (philosophie du défaut) gegeben habe.12 Dabei sei Verstoß oder die Übertretung der Philosophie, diese Übertretung immer wieder zu verschieben (différer).13 Wenn die Metaphysik mit Schließung operiert und sich mit dem Ausgrenzen jeder Differenz vervollkommnet,14 bleibt die Frage, ob es einen begrifflosen Begriff gibt, der dieser Schließung entkommt. Er antwortet auf Derrida und ertastet die Grenzen seiner différance: Ist der Bruch nicht auch eine Bewegung, die schließt?15 Wenn Wissenschaft ihre je eigene Differenz ist, und sich so immer verfehlt, könnte man schließen:
8
Vgl. Nancy, Commentaire, 189.
9
Vgl. Ebd., 189.
10 Vgl. Ebd., 192. 11 »Le nom de ce qui n’a pas de nom – le nom propre de tous les noms propres, nom du Propre qui manque à la philosophie, et dont le manque est la philosophie. La science est ainsi le lieu où ce manque fait l’effet d’être toujours, déjà, son propre nom« (Ebd., 198). 12 Vgl. Ebd., 191. 13 Vgl. Ebd., 192. 14 Vgl. Ebd. 15 Vgl. Ebd., 197.
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»Jede Wissenschaft ist das Wissen vom Selbst, deren Begehren jeden Text hervorruft, behauptet und strukturiert, insofern er die Einschreibung dieses Begehrens und folglich die différance dieser ›Wissenschaft‹ ist.«16
Diese Verfehlung legt die Annahme nahe, dass die Wissenschaft vor allem Literatur sei. 17 Mit einer so eindeutigen Positionierung Nancys innerhalb eines Denkkontexts mit Derrida beginnt ihr Briefwechsel. Dass es sich zwischen Derrida und Nancy um einen Briefwechsel handelte, kann verfolgt werden ab Derridas Antwort auf einen ihm geschickten Text Nancys, der ein Begleitschreiben gehabt haben muss. Am 22. April 1969 schreibt Derrida also zum ersten Mal an Nancy, mit der noch recht unpersönlichen Anrede, die den Vor- und Nachnamen Jean-Luc Nancys nennt: »Cher Jean-Luc Nancy, ich weiß nicht wer Sie sind, aber ich wusste schon, da ich sie schon mehrfach in Esprit gelesen hatte, dass wir uns notwendigerweise begegnen sollten oder uns in jedem Fall zumindest kreuzen.«18
Dem Kontakt mit Nancy ging also die gegenseitige Lektüre voraus. Den Kontakt zueinander nahmen sie dann im Brief auf. Derrida dankt ihm überschwänglich: »Ihr Brief und Ihr Text gehen über das, was ich erwartete, hinaus und ich danke Ihnen dafür sehr herzlich«.19 Derrida antwortet dann direkt auf Nancys Text, der in der Fußnote auf die Reaktionen von Tel Quel und Badiou eingegangen war:20
16 »toute science est le savoir de soi dont le désir suscite, soutient et structure tout texte en tant qu’il est l’inscription de ce désir et donc la différance de cette ›science‹« (Ebd., 198). 17 Auf andere Weise zeigt es von Nancy ans Ende seines Texts gestellte Zitat Batailles – »Ecrire? se retourner les ongles, espérer, bien en vain, le moment de la déli–vrance?« (vgl. Bataille, L’impossible, zit. nach Nancy, Commentaire, 198) – die Unmöglichkeit eines Abschlusses oder einer Erlösung der Wissenschaft an. 18 »Cher Jean-Luc Nancy, Je ne sais pas qui vous êtes mais je savais déjà, pour vous avoir lu plusieurs fois dans Esprit, que nous devions nécessairement nous rencontrer ou en tous cas, au moins, nous croiser« (DN 25, o.O., 22.04.1969). 19 »Votre lettre et votre texte vont au-delà de ce que j’espérais et je vous en remercie très chaleureusement« (ebd.). 20 Nancy schrieb: »l’ensemble est consacré à un commentaire de la pensée de J. Derrida, en elle-même et par rapport soit à la reprise qui en est faite par le groupe Tel Quel, soit à la critique qu’elle subit de la part de l’épistémologie qui se qualifie de matérialiste
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»Ich wüsste nicht auf alle – entscheidenden und schneidenden – Fragen, die Sie mit solcher Kraft wie Diskretion stellen, zu antworten. Ich stelle sie mir auch, das können Sie sich denken und die Ratlosigkeit, die Sie in Ihrem Brief eröffnen, Sie wissen (es reicht die Texte zu lesen, alle Texte, in dem Raum auf den sie hinweisen – Tel Quel, Badiou etc.), dass ich sie nur teilen kann.«21
Derrida beschließt diesen frühen Brief mit der förmlichen Sympathie und seinem Einverständnis: »Soyez sûr de ma sympathie et de mon accord« und unterschreibt mit vollem Namen. Inhaltlich entdecken sie beide eine Gemeinsamkeit, die Kritik am gegenwärtigen Wissenschaftsmodell: »Mit allem, was Ihr Text ausdrückt, die Metaphysik betreffend als auch die ›Logik‹ ihres Exzesses, bis hin zu den Paradoxien der Schließung [clôture], insbesondere, bin ich völlig einverstanden. Umso mehr als es sich weniger um Thesen handelt als um streng entfaltete, gewendete Fragen, etc… und ich bin Ihnen dankbar dafür, meine Versuche nicht als nummerierte Thesen zu nehmen, sie mitzuverfolgen in ihrer Bewegung über ihre Stationen hinweg – das ist selten, Sie wissen das.«22
Es ist eine Art zu lesen, für die sich Derrida hier bedankt. Beide stimmen überein mit einer gewissen Distanznahme gegenüber ihren Zeitgenossen, und Derrida spricht es folgendermaßen aus, dass sie an diesen Themen arbeiten müssen; »aber es ist ein gefährliches Terrain, mehr als je zuvor«23. Diese ersten Tage der Freundschaft zu Nancy erzählt Derrida auch in Penser à Strasbourg. Darin nennt er die Themen dieser Zeit: seine Assistenz an der Sorbonne, sechs Jahre der Lehre an der ENS, seine ersten Publikationen und der endgültige Bruch mit der dialectique (plus particulièrement dans les textes d’A. Badiou)« (Nancy, Commentaire, 189). 21 »Je ne saurai pas répondre à toutes les questions – décisives et incisives – que vous formulez avec autant de force que de discrétion. Je me les pose aussi, vous vous en doutez bien, et la perplexité que vous déclarez dans votre lettre, vous savez bien (il suffit de lire les textes, tous les textes, dans l’espace que vous désignez – Tel Quel, Badiou, etc…) que je ne peux que la partager« (DN 25, o.O., 22.04.1969). 22 »Avec tout ce que votre texte énonce, quant à la métaphysique, à la ›logique‹ de son excès, aux ›paradoxes‹ de la clôture, surtout, je me sens pleinement d’accord. D’autant plus qu’il s’agit moins de thèses que de questions rigoureusement déployées, retournées, etc… Et je vous suis reconnaissant de ne pas recevoir mes essais comme des thèses numérotées, de les entrainer dans leur mouvement au-delà [dW] de leurs stations – c’est rare, vous le savez« (DN 25, o.O., 22.04.1969). 23 »mais le terrain est miné, plus que jamais« (ebd.).
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Bewegung Tel Quel. Er habe sich von pro-PCF und pro-sovietischen Positionen von 1968 distanziert und gesehen, wie diese zu einer Form von Maoismus wurden. Derrida beschreibt sich selbst als einsam in dieser Zeit, wo er die Nähe zu Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe spürte.24 Schließlich schlägt Derrida in einem Brief vor, sich zu treffen: »Wir müssen uns eines Tages treffen, hier oder dort«25 und fragt ihn, ob er manchmal nach Paris komme. Er hofft »inständig, dass dies nur ein erster Austausch«26 ist. Etwa 10 Jahre später erinnerte sich Nancy in einem Brief an jenen ersten Brief Derridas: »cher Jacques, danke, dass du mir trotzdem geschrieben hast – du hattest mir davon genug gesagt, zu viel schon, aber ich sage nicht, ›zu viel ist zu viel‹, es ist niemals genug, aber jedenfalls kann ich mir nichts besseres vorstellen, um dieser kleinen Arbeit, die ich gemacht hatte, das ›originäre Vergnügen des Wissens‹ (1) zu geben, als diese Begegnung mit dir. Ich erinnere mich an deinen ersten Brief, antwortend auf einen ganz linken Text, vor zwanzig Jahren. Um also die Dinge besser markieren zu können, hat mein Herz die Notwendigkeit einer Transplantation [greffe] erfunden, stell dir vor! Ja, es ging ziemlich schlecht in der letzten Zeit und nach schwerwiegenden Untersuchungen schlussfolgert die Medizin, dass ich das Herz austauschen muss. Das lässt sich heutzutage gut machen. Aber ich werde ziemlich lange ruhig gestellt sein. Ab jetzt keine Reisen mehr. – Schuld ist nicht das Rauchen, vielleicht noch nicht mal ein hypothetischer früherer Virus, sondern einfach eine schlechte Ausgangsdisposition. Aber danach garantiert man mir 30 Jahre lang das Leben eines jungen Mannes! Zum jetzigen Zeitpunkt ruhe ich so viel ich kann, ich bereite die notwendigen Veränderungen in Straßburg vor, in Berkeley – und ich denke von ganzem Herzen an dich. j.luc (1) Dieses von Kant bestimmte ›Vergnügen‹, das ich in ›Sens elliptique‹ 27 zitierte, ich habe kürzlich gesehen, dass du es in ›le sens de la coupure pure‹ zitiert hattest, wo du sagtest, dass seine Verwendung bei Kant elliptisch sei…«28 24 Derrida, Penser à Strasbourg, 45. 25 »Ici, dans une lettre, je ne peux en décrire tous les tours, tous les chemins, toutes les grilles. Il faudra que nous [nous, nt] rencontrions un jour, ici où là« (DN 25, o.O., 22.04.1969). 26 »J’espère fortement que ceci n’est qu’un premier échange« (ebd.). 27 Vgl. diesen Artikel in englischer Version: Nancy, »Elliptical Sense«. 28 »cher Jacques, merci de m’avoir quand même écrit – tu m’en avais assez dit, déjà trop, mais je ne dis pas ›trop c’est trop«, ce n’est jamais assez, mais tout de même je ne peux rien penser
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Zum Moment eines neuen Anfangs – nach der Transplantation würde das neue Herz ein neues Leben garantieren – erinnert sich Nancy hier 1980 an den Anfang ihres Briefwechsels zurück. Zu diesem Zeitpunkt schreibt er außerdem das erste Mal über Derrida, in einem Text, den Nancy sens elliptique nennt. Hierin bezeichnet er auch die Schwierigkeit über einen Freund zu schreiben: »Über Jacques Derrida schreiben: das scheint mir gewaltsam. Nichts Banaleres als ›über‹ jemanden schreiben, das heißt auf ein Werk, ein Denken Bezug nehmen« 29 , und in einer früher herausgegebenen, englischen Version, notiert er darüber hinaus: »I have never written on Jacques Derrida […] This is understandable; there is too great a proximity between us, and I have often written in the space of this proximity, and by means of it. This does not mean that our thinking always converges or that there is only a complicity between us. There is something of an ellipsis in our proximity – or rather, our proximity resides in this very ellipsis.«30
Derrida fragt Nancy in einem Brief kurz vor der Herztransplantation von Nancy am 09. Juli 1990 und spielt auf den Text Nancys an: »Wie willst du noch, dass ich schreibe? Dass ich dir / dich schreibe? Ohne Elliptisches [sans elliptique]? Das, was ich gerade von dir gelesen und erneut gelesen habe, erreicht de plus, pour donner au petit travail que j’avais fait le ›plaisir original de la connaissance‹ (1), que cette rencontre avec toi. Je me souviens de ta première lettre, en réponse à un texte bien gauche, il y a vingt ans. Alors, pour mieux marquer les choses, mon coeur a inventé la nécessité d’une greffe, figure-toi! Oui, c’est allé assez mal ces derniers temps, et après examens sérieux la médecine conclut qu’il me va falloir changer de coeur. Cela se fait très bien, aujourd’hui. Mais je vais être immobilisé assez longtemps. Dès maintenant, plus de voyages. – La faute n’en est pas à la fumée, peut-être même pas à un hypothétique virus ancien, mais simplement à une disposition de départ. Mais après, on me garantit 30 ans de vie de jeune homme! Pour le moment, je me repose autant que je peux, je prépare les changements qui vont être nécessaires à Strasbourg, à Berkeley – et je pense à toi de tout coeur. j.luc / (1) Ce ›plaisir‹ désigné par Kant, que je citais dans ›Sens elliptique‹, j’ai vu récemment que tu l’avais cité dans ›le sens de la coupure pure‹, en disant que sa mention, chez Kant, était elliptique…« (ND 95, 19.07.1980). 29 »Écrire sur Jacques Derrida: cela me paraît violent. Rien de plus banal que d’écrire ›sur‹ quelqu’un, c’est-à-dire à propos d’une oeuvre, d’une pensée.« Nancy, »Sens Elliptique«, 325. 30 Nancy, »Elliptical sense«, 175.
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mich durch eine so große Freude, eine derartig bewegte Anerkennung, und du weißt alles so gut, im Vorhinein, gerade, was ich noch verzichten muss dir zu sagen, dass ich mich begnügen muss und dass du dich auch begnügen musst, mit sehr wenig, dem Wenigsten. Nur das, was es braucht, um dir zu sagen in dem Moment, wo der Schatten über das Leben gewinnt, an Geschwindigkeit gewinnt, wenn die Erinnerung mehr und mehr übergreifen will, wachen (anschauen, sehen), um zunehmend umfassend zu werden, kommt die ganze Freundschaft, die jeden Satz von sens elliptique unterzeichnet, als die freudigste Möglichkeit über mich, eine Photographie, die Schrift des Lichts und ich hätte gern, dass sie nach uns und dank dir, die Mädchen und Brüder, die Schwestern und Söhne, die Freunde von Augustin, von uns zweien erhalten, mit dem Lachen, das du sagst, von uns beiden und den Überschneidungen des Denkens, die meinem Herzen die teuersten sind – dem dein Denken das meiste zu geben gewusst hatte, das beste, soll heißen, das, was mir zu sehr fehlt, wirklich zu sehr. Ich träume davon, endlich Ferien mit dir zu verbringen, mit euch.«31
Dieser Vorgriff erlaubte es zu sehen, wie nah sich Derrida und Nancy in Briefen zur Zeit der Herztransplantation gekommen sind. Auf die Ellipse wird im folgenden noch zurückgegriffen. Gehen wir aber hier erst wieder elf Jahre zurück. Am 9. Mai 1969 antwortet Jean-Luc Nancy Jacques Derrida. Sie kennen sich noch kaum. Derridas Einverständnis habe ihn sehr berührt,
31 »Mon cher Jean-Luc, Comment veux-tu encore que j’écrive? Que je t’écrive? Sans elliptique? Ce que de toi je viens de lire et relire m’arrive à travers une telle joie, une telle commotion de reconnaissance, et tu sais si bien, d’avance, justement, tout ce que je dois renoncer à te dire encore, qu’il me faut bien me contenter, et il te faudra bien toi aussi te contenter, de très peu, du moins. Juste ce qu’il faut pour te dire qu’au moment où l’ombre gagne sur la vie, gagne de vitesse, quand la mémoire voudrait mordre de plus en plus, garder (regarder, voir) à se faire de plus en plus mordante, toute l’amitié qui signe chaque phrase de sens elliptique vient sur moi comme la chance la plus joyeuse, une photographie, l’écriture de lumière que je voudrais qu’après nous, et grâce à toi, les filles et les frères, les sœurs et les fils, les amis d’Augustin gardent de nous deux, avec le rire que tu dis, de nous deux et des croisements de pensées les plus chers a mon coeur (I) – auquel ta pensée aura su donner le plus, le meilleur, c’est-à-dire ce qui me manque trop, vraiment trop. Je rêve de passer enfin des vacances avec toi, avec vous. Cela nous sera-t-il un jour donné aussi? Je l’espère encore et je vous embrasse Jacques. / (I). Footnote: Veille comme moi sur ton cœur. Il faut marcher, ne pas fumer (fumer moins), apprendre à prendre c’est à dire à se donner le temps, beaucoup, beaucoup de temps…« (DN 24, Nice, 09.07.1990). Dieser Brief wird auch zit. in Peeters, Derrida, 507.
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»weil es zweifellos ermöglicht, dort klarer zu sehen – sich weniger isoliert zu fühlen auch, was mir gleichzeitig Angst macht, weil mir bewusst ist, nicht ganz fähig zu sein, die zweifellos nicht genug beherrschten Intuitionen korrekt zu entfalten. Ich versuche mich dennoch darin, indem ich mich in meinen Seminaren mit der Wissenschaft beschäftige.«32
Auch teilt er ihm mit, dass er Assistent an der Straßburger Fakultät ist. Nancy spricht außerdem über Esprit, eine Zeitschrift katholischer Intellektueller, die zu dieser Zeit in Frankreich viel gelesen wird, und mit der er aus ideologischen Gründen nicht mehr kollaboriere. Er macht deutlich, dass er in einem Arbeitsumfeld unter Freunden an Texten arbeitet. Was ihn zu diesem Zeitpunkt besonders beschäftigt, ist das »Problem des philosophischen Stils«. Er bezieht sich auf einen Text: »›Commentaire‹ ist ein unbeholfener, irreführenderweise aphoristischer Versuch […] Dennoch, kann man nicht mehr schreiben wie vorher –? Der Diskurs müsste re-dramatisiert werden.« Er beschließt diesen Brief mit Höflichkeitsformeln, die noch etwas mehr als bloße Höflichkeit zu übermitteln scheinen: Er sagt, dass er natürlich gern seinen Text behalten könne, und möchte gern Derridas Vortrag lesen. Er dankt ihm schließlich und drückt seine Sympathien zunächst vorsichtig, aber dennoch herzlich aus: »Ich danke Ihnen nochmals und spreche Ihnen all meine Sympathie und mein Einverständnis aus für die Notwendigkeit der Arbeit und des Risikos, von dem Sie sprechen.« Gleichzeitig werden hier Übereinstimmungen deutlich gemacht (in Bezug auf das Risiko, dass beide eingehen), als auch das Terrain markiert, in dem sie sich sehen. Nancy macht deutlich, dass er sich von der ideologischen Position katholischer Intellektueller distanziert hat, und Derrida weist darauf hin, dass Nancy vorher für diese geschrieben hatte, da er ihn einige Male in Esprit gelesen hatte.
32 Hier und folgend: »car il permet sans doute d’y voir plus clair – de se sentir moins isolé aussi, qui me fait peur en même temps, car j’ai conscience de ne guère être capable de déplier correctement des intuitions sans doute pas assez maitrisées. je m’y essaie pourtant en m’occupant de la science dans mes cours – je suis assistant à la fac. de Strasbourg [...] quant à Esprit, je n’y collabore plus […] [A]vec mes amis, nous travaillons à partir de ce texte, encouragés, et s’il en sort quelque chose de plus précis je vous ferai signe si je passe à Paris. Me préoccupe entre autres – ou à travers tout – le problème du style philosophique. ›Commentaire‹ est un essai maladroit, faussement aphoristique et plein de [uW] à la mode. Pourtant, on [ne, nt] peut plus écrire comme avant –? il faudrait re-dramatiser le discours. En attendant, je vous laisse bien sûr ce texte, et bien sûr aussi je recevrai avec le plus grand intérêt votre conférence. Je vous remercie encore et vous dis toute ma sympathie et mon accord dans la nécessité du travail et du risque dont vous parlez« (ND 1, 09.05.1969).
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Februar 1970 ist der Ton ihrer Briefe herzlich. Zum Colloque de rhétorique, dass Nancy und Lacoue-Labarthe organisieren, laden sie Derrida ein, der ihnen einen Text über »die Metapher im philosophischen Text« 33 vorschlägt. Er schließt mit »Toute ma sympathie«34. Genauer nimmt er auf diesen Text noch in einem weiteren Text vom 21. April 1970 Bezug: »Es ginge um den Status der Metapher im philosophischen Text, darum, die ›metaphysischen‹ Spuren des Konzepts der Metapher erscheinen zu lassen, die diese Problematik leiten und sie folglich neutralisieren könnten. […] Der Vorwand, wenn nicht gar der rote Faden dieser Analyse wird eine Passage aus Jardin d’Épicure von A. France sein (ja!). Der wahre rote Faden würde zwischen Nietzsche und Heidegger her führen.«35
Ihre berufliche Kooperation beginnt also mit einem Gespräch über die Grenzen der Philosophie hin zur Literatur. Die etwas weniger förmliche Abschlussformel »Bien à vous« beschließt diesen Brief freundlich, aber noch etwas herzlicher äußert er sich in einem angehängten Brief, wo er »Amicalement«36 schreibt. Am 14. Mai 1970 dankt Nancy ihm für seine »freundschaftliche Präsenz«, die offensichtlich über das Berufliche hinaus geht.37 Die Anredeformel »Cher ami« findet sich in Nancys Briefen das erste Mal am 08. April 197138 und Derrida nennt Nancy das erste Mal brieflich »Cher ami«
33 »Pour ma part, je vous proposerais un exposé sur la métaphore dans le texte philosophique, fragment détaché du séminaire de l’Ecole normale qui me parait ressembler à ce que vous faites – ou le croiser – à Strasbourg, si j’en juge par les documents que vous m’avez fait l’amitié de m’envoyer, j’ai été heureux d’y retrouver le texte que j’avais lu l’an dernier« (DN 55, o.O., 18.02.1970). 34 Ebd. 35 »Il s’agirait du statut de la métaphore dans le texte philosophique, de faire apparaître les traits ›métaphysiques‹ du concept de la métaphore qui pourraient guider et par conséquent neutraliser cette problématique. […] Le prétexte, sinon le fil conducteur, de cette analyse sera un passage du Jardin d’Épicure d’A. France (oui!). Le vrai fil conducteur passerait entre Nietzsche et Heidegger.« (DN 56, Paris, 21.04.1970). Dieser Brief wird auch von Peeters zitiert in Derrida, 271 f. 36 DN 56b, Paris, Dokument ohne Datum, vermutlich an DN 56 angehängt, da es um das Programm des Kolloquiums geht. 37 ND 7, o.O., 14.05.1970. 38 ND 18, 08.04.1971. Ich muss dies eingrenzen, da manche Briefe undatiert sind und so die Möglichkeit besteht, dass hierunter sich noch ein früherer Brief mit dem cher ami befindet.
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am 13. September 1970,39 wobei ein im Brief verwendetes Cher ami selbstverständlich nicht die Freundschaft anzeigen muss. Noch einmal verändert sich der Ton zwischen ihnen, als eine Todesnachricht Nancy erreicht. Derridas Vater war am 18. Oktober 1970 gestorben40 und Nancy schreibt: »Nach der Beunruhigung, die diesen Sommer lang Ihre war, verstehe ich, welche Prüfung dies für Sie ist. Ich will nicht, noch wüsste ich Formeln zu gebrauchen – Ihnen aber einfach und von Herzen ein Zeichen der Freundschaft zeigen. Und Ihnen wünschen, dass Sie die Kraft wieder erlangen.« 41 Auch auffällig ist, dass dieser Brief ohne Abschlussformel bleibt. Es wird umgesetzt, wovon auch geschrieben wird: Es fehlen dem Gegenüber ›förmlich‹ die Worte. Das Wort der Freundschaft taucht noch in anderer Form in einem Brief auf, der vermutlich im Januar 1971 geschrieben wurde, worin Derrida bestätigt, dass er am Seminar von Lacoue-Labarthe und Nancy teilnehmen würde, obgleich sie sich noch siezen; Derrida beendet diesen Brief mit dem sehr herzlichen »Toute mon amitié«.42 Der Ton der Briefe ist nicht weniger herzlich, wohl aber auch persönlicher: »Geben Sie bitte ein Zeichen, damit wir uns außerhalb des Seminars sehen können, und einen Moment frei über diese oder jene Dinge sprechen können.« Mehr als ein Jahr später, am 02. Oktober 1972 variiert wiederum die Abschlussformel, denn Derrida hatte bemerkt, wie eng Nancy und LacoueLabarthe zusammen arbeiteten. Denn der Text, den Nancy ihm geschickt hatte, und auf den er sich hier bezieht – Le titre de la lettre – ist von Lacoue-Labarthe 39 DN 57, o.O., 13.09.1970. 40 Vgl. Peeters, Derrida, 273. 41 »Cher Monsieur, j’ai appris, comme Philippe Lacoue-Labarthe, le deuil qui vous a frappé. Après l’inquiétude qui a été la vôtre cet été, je comprends quelle épreuve c’est pour vous. Je ne veux ni ne saurais employer de formules – mais simplement et cordialement marquer ici un signe d’amitié. Et vous souhaiter de retrouver la force. j.l.nancy« (ND 12, 07.11.1970). 42 »Cher ami, merci de votre lettre. J’ai été absent quelques jours (Nice) et je me rejoins avec quelque retard. Oui, il y aura une séance le 16 février: S. Kofman y présentera un exposé sur ›les métaphores politiques dans la Métaphysique d’Aristote‹. Je pense que cela sera intéressant. Merci aussi d’accepter tous deux ce principe d’une participation au séminaire. Faites signe, s’il vous plait, dès votre arrivée, pour que nous puissions nous voir en dehors du séminaire, et parler un moment, librement, de choses et d’autres. A bientôt, donc. Toute mon amitié, Jacques Derrida.« (DN 59, o.O., Datum schlecht lesbar. Nancy zufolge müsste es sich um ein Datum zwischen Januar und April 1971 handeln, vermutlich 24.01.1971).
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und Nancy zusammen geschrieben. Derrida endet nun also mit »Toute mon amitié à vous deux«.43 Eine Neugier gegenüber der Arbeitsweise von Nancy und Lacoue-Labarthe wird deutlich. »Es stimmt, dass ihr zwei seid […]. Ich kann es kaum erwarten euch wieder zu sehen. […] Meine ganze Freundschaft an euch zwei«44
So könnte man die Geschichte einer Freundschaft als die Geschichte unterschiedlicher Anredeformulierungen in Briefen erzählen. Beschließt Derrida 1970 noch seinen Brief durch seine Sympathie – »Dieses Treffen ist eine sehr gute Idee. Danke. Bis bald. Toute ma sympathie, Jacques Derrida« 45 – schreibt er einen Brief später schon mit einem freundschaftlichen Amitié.46 Später wird die Anrede auch auf die jeweiligen Frauen von Nancy und Lacoue-Labarthe ausgeweitet, vielleicht weil er feststellte, dass sie alle in Straßburg zusammenlebten. Auch wenn Derrida sich weiterhin an einen seiner Freunde vorzugsweise zu richten scheint,47 – »Mon cher Jean-Luc« –, sendet er in der Abschlussformel »toute mon amitié à vous tous«.48 Die Adressformeln werden durch diese Zusammenarbeit vermischt, was es schwierig macht, den Brief einem einzigen Adressaten zuzuordnen. So adressiert Derrida sich einmal beispielsweise in 43 Ausführlich im Original: »Cher ami, Merci. Je commence à lire Le titre de la lettre, à en admirer – là je recommence – la très prudente, habile et imprenable rigueur. Bien retors celui qui saurait vous surprendre. Il est vrai que vous êtes deux – et cela, non moins que le reste, doit en vérité faire valser toute équation entre quoi que ce soit et qui que ce soit de votre machination – qui m’intéresse aussi par là. J’ai hâte de vous revoir. Et de savoir quand vous pourriez venir à l’Ecole. En fait ces indications de principe me seraient très utiles avant le mercredi II, date d’une réunion administrative. Si vous n’aviez pas le temps de m’écrire, peut-être pourrez-vous m’appeler, par exemple vendredi ou dimanche matin [Telefonnummer, nt]. Au cas où cela vous serait impossible, et comme je quitterai Paris du lundi au mercredi matin, vous pourriez aussi bien appeler Pautrat [Telefonnummer, nt]. A bientôt, j’espère. Toute mon amitié à vous deux, Jacques Derrida.« (DN 60, o.O., 02.10.1972). 44 Ebd. 45 »Cette rencontre est une très bonne idée. Merci. A bientôt. Toute ma sympathie, [noch nicht Freundschaft! nt] Jacques Derrida.« (DN 55, o.O., 18.2.1970). 46 Vgl. DN 42, Paris, o.D. 47 Ein Brief an Nancy, ist also meist weiterhin an Nancy allein adressiert, auch wenn zwei oder mehr Personen in der Abschlussformel gegrüßt werden. 48 Vgl. DN 45, o.O., o.D.
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seinem »Cher ami« an den Freund Nancy im Singular, wendet sich aber im Brieftext selbst an beide. Zum Abschluss schreibt er sogar »Amitié à vous deux«.49 Auch 1971, als er an Nancy schreibt (»Cher ami«), richtet er sich im Brieftext an Nancy und Lacoue-Labarthe gleichermaßen und sendet zum Schluss »Toute mon amitié à vous quatre«.50 Der Brief richtet sich hier vorzugsweise an einen. Es wird sich fast immer nur ein Du im Singular gerichtet. Es scheint im Briefwechsel nur selten ein Gespräch möglich, was über das Zwiegespräch hinaus geht, auch wenn Bezüge und Hinweise zu anderen Personen führen können. Zur ›Berührung‹ kam es in brieflicher Hinsicht wesentlich später. Dies wird im Kapitel Freundschaft ›ohne‹ Kontakt ausführlicher thematisiert werden. Wenn es in diesem Kapitel um das ›Anfangen‹ geht, so zeigt sich hier deutlich, dass zwischen Freunden, die beruflich schreiben, die Frage, über Freunde zu schreiben, schnell zum Thema sowohl der Freundschaft wird als auch die Freunde Teil des Schreibens werden können. Freundschaft scheint zum einen mit sich zu bringen, dass die Texte der Freundin oder des Freunds gelesen werden und neben der bloßen Korrespondenz weitere Ebenen entstehen, auf denen die Freundschaft als auch die gemeinsamen philosophischen Problematiken verhandelt werden. So lässt sich bereits vermuten, dass die Korrespondenz zwischen Schriftstellern und die Einflussnahme auf die Texte der Freundinnen und Freunde eng miteinander verbunden sind, und dass dies die Freundschaft unter Schriftstellern im Besonderen auszeichnet. Auch wird in scheinbar formalen Details dieses Verhältnis zueinander bereits ausgehandelt. Langsam scheint Derrida sich anzunähern und auf die Ansprache zu reagieren.
»J’AI ADOPTÉ TON ›A‹«. GRANEL LIEST DERRIDA ZU FRAGEN DER SCHRIFT Wie sieht diese besondere Art der Verbindung aus, die Schriftstellende aneinander bindet? Wie lesen sie im Speziellen die Briefe der anderen und wie liest noch spezieller Gérard Granel Derridas Briefe und auch seine Texte? Im folgenden Abschnitt kann nicht auf die Antworten Derridas eingegangen werden, da sie von Granel vor seinem Tod vernichtet wurden.51 Drei Briefentwürfe von Derrida an Granel befinden sich im IMEC. Die Briefe Granels sind in ihrer Qualität länger und nehmen oft stärker auch auf philosophische Debatten Bezug als ande-
49 Vgl. DN 50, o.O., o.D. 50 Vgl. DN 58, o.O., 15.04.1971. 51 Angabe von Élisabeth Rigal.
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re von mir gelesene Briefe an Derrida. Sie lassen darauf schließen, dass der Briefkontakt ein für sie wichtiges Mittel zum Austausch war. Aufgrund dieser Einseitigkeit der noch vorhandenen Briefe ist es hier nur zutreffend zu schreiben: Granel liest Derrida. Nicht aber: Derrida und Granel im Briefwechsel. Ob Derrida Granel auch tatsächlich schreibt oder ›antwortet‹, soll in einem anderen Abschnitt dieser Arbeit thematisiert werden.52 1967 bringt Derrida drei seiner wichtigsten Werke heraus: L’écriture et la différence, La voix et le phénomène, und De la grammatologie. Granel begrüßt diese Werke und in einem Brief vom 09. September 1967 ist die Rede von einem Artikel, den Granel über Derrida schreiben wolle.53 In einem sehr langen Brief vom 06. Januar 1968 schreibt Granel an Derrida, bedankt sich für seinen »so netten« Brief und beschreibt einen Eindruck nach der Lektüre zweier großer Texte Derridas, die dieser ihm offensichtlich geschickt hatte: »Ich habe den Eindruck, dass durch dich eine Rede [parole] – entschuldige! eine – absolut wesentliche – ›Schrift‹ [écriture] zum Durchbruch gekommen ist.« Er bezeichnet dies als »theoretischen *Durchbruch [Original deutsch]«: »mit einer unwiderstehlichen Kraft, sind alle Hindernisse hinfortgetrieben oder vermieden, und die Woge der Schrift dringt selbst zur Anerkennung [reconnaissance] ihres Ursprungs in bewundernswerter Form. Außerdem – obgleich man gut sieht warum du diese Texte hier und da ›wieder aufnehmen‹ musstest, und in einem Sinn von überallher – bin ich sehr froh, sie in einer solchen Rohform zu haben, wo ein Denken geboren wird und durchbricht. Es gibt dort Bruchstellen oder Sprünge und manchmal ein prophetisches HellDunkel [ganz in ›immenser‹ Antizipation], die aufschlussreicher sind als irgendein Text es jemals sein könnte [was nicht verhindert, dass man ›zähmen‹ muss, erhellen, vereinheitlichen, entwickeln etc…].54 52 Vgl. Kap. VIII. 53 Vgl.: »En écrivant cela, je vois naître chez toi une autre crainte, qui est que je n’en ›fasse trop‹ et ne monte trop haut le ton. Mais c’est aussi pour cela que je veux écrire cet article, moi. Car quelle que soit l’espérance et la confiance que bien certainement tu as envers le sérieux – et le sérieux unique – de ton propre travail, c’est justement ce que tu ne peux pas dire toi-même, et même sans doute ce que tu préserves en ne le regardant ›pas trop‹ en face – ainsi que chacun doit faire avec ce qui lui revient de la pensée« (GRD 7, St Sauveur, 08.09.1967). 54 »Le plus magnifique est sans doute le péril de ce Durchbruch théorique, qui semble (dans les premières pages) partir d’un domaine trop étroit (quand ,on croit encore‘ qu’écriture veut dire graphic), qui se met sur le dos tout le ›savoir‹ linguistique (comment fera-t-il pour le traverser jusqu’à ces présupposés onto-theo-logiques [sic] et revenir à l’inscription de – ou: à partir de – la Différence? on tremble!…) qui même
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Etwa ein Jahr später schreibt ihm Granel über diese schwierige Situation dessen, was alle das »Ende der Metaphysik« nennen. Aber er zweifelt daran, dass es ein Ende ist, zweifelt, dass das Ende der Metaphysik sich selbst von ihr abwenden kann. Im selben Brief ist von einem Anathema die Rede. »Gut. Also nun, was ist das Anathema? Ich spreche nicht vom abgewerteten ›anathema sit‹, dass in den juridischen Texten der Kirche der Gegenreform herrscht – oder geherrscht hat. Ich spreche vom Anathema in allgemeinem Sinn, das ist die prophetische Funktion, nur befohlen, um Israel daran zu erinnern, dass [dW] Yaweh der einzige Gott ist, d.h. um diese Differenz des Ganz-Anderen [des ›Heiligen‹, des ›Getrennten‹] wieder aufleben zu lassen, der sich ein Volk für seine Offenbarung als lebendiger Differenz ausgewählt hat, die lediglich Treue und Lobrede bezüglich seiner Ausschließlichkeit / seinem Riss [tranchant] selbst fordert. Und ich sage selbstredend nicht, dass es in einem Moment in Frage kommt, die Sanctitas von Yaweh und dieser anderen Differenz, über die wir sprechen, wenn wir dieser stumpfen Form, unter der sie bisher gehalten wurde, d. h. der Metaphysik, zu vertauschen oder anzugleichen. Aber ich sehe kein besseres Bild, um zu verstehen zu geben – zu erahnen, mindestens –, dass das Ende der Metaphysik eben der wertvollste historische Moment ist, weil er der ist, an dem die Ausschließlichkeit [tranchant] der Differenz noch reißender55 [plus tranchant] wird, den uralten Stoff – den Text – der götzendienerischen Treue, deren Dokument die Metaphysik ist, schüttelt und diese ganze Vergangenheit zerreißend, eine Korrespondenz, die ihrerseits entschieden [tranchée] ist, eine lebendigere ›Treue‹, erfordert.56 par moments semble vouloir ›contourner‹ même Heidegger (et là on tremble encore plus!) – et puis finalement, par une force irrésistible, tous les obstacles sont emportés ou évités, et le flot de l’écriture parvient lui même à la reconnaissance de sa source d’une façon admirable. Aussi – même si l’on voit bien pourquoi tu as dû ›reprendre‹ les textes ici et là, et en un sens de partout – suis-je très heureux de les avoir eu sous cette forme brute où une pensée naît et perce. Il y a là des cassures ou des sauts, et parfois un clair-obscur prophétique [tout en anticipation ›immense‹], qui sont plus révélateurs qu’aucun texte assagi ne le sera jamais [ce qui n’empêche pas qu’il faille ›assagir‹, éclairer, unifier, développer etc…]« (GRD 2, 06.01.1967). Im Rest des Briefs geht es um Husserl und Heidegger und dass man die jungen Menschen dazu ermutigen müsse, Husserl zu lesen. Die eckigen Klammern hat Granel gesetzt. 55 Hier könnte man auch übersetzen: einschließender / ausschließender / schärfer. 56 »Bon. Maintenant, l’Anathème, qu’est-ce que c’est? Je ne parle pas de l’›anathema sit‹ dévalué, qui règne – ou a régné – dans les textes juridiques de l’Eglise de la Contre-Réforme. Je parle de l’Anathème en son sens général, qui est la fonction prophétique, uniquement ordonné à rappeler à Israël que Yaweh seul est Dieu, c.à.d. à aviver cette différence du Tout-Autre [du ›Saint‹, du ›Séparé‹] qui s’est choisi un
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Die Schwierigkeit, tranchant angemessen zu übersetzen, zeigt auch auf die verschiedenen Bedeutungsmöglichkeiten, die es in diesem Fragment gibt. Es wird auch nicht ganz offen gelegt, auf welcher Seite sich der Autor selbst befindet. Spricht er von der Seite der Metaphysik? Will er sie verteidigen? Es wäre vielleicht am angemessensten, davon zu sprechen, dass hier auf einer Problematik verharrt wird, die nicht ganz aufgelöst werden kann. Dabei wird von Granel markiert, dass die götzendienerische Treue vermieden werden müsse, die Spaltung selbst aber könnte hiernach die eigentliche Treue sein, die dann dazu führte, dass man noch metaphysischer werde als die »uralten« Metaphysiker selbst, oder gerade so einschlägig wie sie. Wenn es also darum geht, eine gewisse Erschöpfung von der Metaphysik zu äußern, dann könnte gerade der Bruch mit der Metaphysik in Derridas neuer Art der Schrift die neue, richtungsweisende Voraussetzung für die Philosophie sein. Auch ist der Ausdruck Anathema hier besonders aufschlussreich. Anathema bezeichnete in der Antike eine Gabe an eine Gottheit.57 Die Etymologie führt aber auch in Richtung eines Fluchs, mit dem Kirche jemanden aus der Gemeinschaft ausgeschlossen (retranche) hatte, und es bezeichnete später auch denjenigen, der exkommuniziert wurde. Der Verfluchte selbst als auch das, was ihm durch die Verfluchung geschah, konnten Anathema bedeuten.58 Außerdem spielt das Anathema eine Rolle im Judentum und auch Levinas bezog sich darauf.59 Deshalb scheint hier Anathema ein glücklicher Fund, um sich den Annahmen anzunähern, die Derrida in der kurz zuvor veröffentlichten Grammatologie in Frage stellt oder die Derrida als etwas ansieht, das in die Nähe des Tabus gerückt wird. Hiernach habe die Metaphysik »ein exemplarisches Abwehrsystem gegen peuple pour sa révélation en tant que Différence vive, qui ne demande que fidélité et louange à l’égard de son tranchant même. Et je ne dis pas, bien entendu, qu’il est un instant question de confondre, ou d’aligner, la Sanctitas de Yaweh et cette autre Différence qui est celle dont nous parlons lorsque nous voulons l’arracher à la forme émoussée sous laquelle jusqu’ici elle a été gardée, c.à.d. à la Métaphysique. Mais je ne vois pas de meilleure image pour faire comprendre – entrevoir, en tout cas – que la Fin de la Métaphysique est justement le moment historial le plus précieux, parce qu’il est celui où le tranchant de la Différence devient plus tranchant, secoue le tissu – le texte – immémorial de la fidélité-idolâtre dont la Métaphysique est le document, et déchirant tout ce passé demande une correspondance elle-même plus tranchée, une ›fidélité‹ plus vive« (GRD 6, 16. 01.1968). 57 TLFi [online]. 58 Ebd., [online]. 59 Zum Weiterlesen empfehle ich dazu einen Text von Brémondy, »Blanchot, Lévinas et la Bible.«
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die von der Schrift ausgehende Bedrohung errichtet«. 60 Derrida nimmt in der Grammatologie Bezug auf Lévi-Strauss’ Beschäftigung mit dem »Anathema, welches vom Abendland immer wieder hartnäckig aufgegriffen wurde – zum Ausschluß der Schrift, durch den es sich vom Phaidros bis hin zum Cours de linguistique générale konstituiert und erkannt hat« 61 und lässt hiervon seine Studie der Grammatologie ausgehen. Der Ausschluss der Schrift, als das Anathema des »Abendland[s]« bezeichnet, wird hier gesehen als das, worin die Metaphysik sich als solche konstruieren konnte. Ist diese Metaphysik teilend und zerteilt in sich, ausgeschlossen und vielleicht deshalb auch ausschließlich? Die ganze Welt scheine zu wissen, was das »Ende der Metaphysik« bedeute, aber sich außerhalb dessen innerhalb der Philosophie zu setzen sei dennoch absurd, argumentiert Granel in einem weiteren Brief. 62 Der gemeinsame Ort Derridas und Granels, den Granel in einem Brief skizziert, ist weder innerhalb noch außerhalb der Metaphysik angesiedelt: »Warum war ich also beunruhigt? Sicherlich wegen dieser Landschaft, aus der wir beide hervorgetreten sind: die der Différance (ich habe dein ›a‹ übernommen!) ist wirklich die reine Beunruhigung [l’Inquiétant tout pur], vor allem aus dem Grund, dass sich niemand dessen beunruhigt, wohingegen der Abstand [écart] zwischen dem, was unsere tiefste Situation ist (sie selbst ist schon ein Abstand: ›zwischen‹ dem Ende (das anfängt) der Metaphysik und dem langsamen Wiederfinden einer Möglichkeit zu ›denken‹63 und das, was alle von allen Seiten davon sagen, ist nicht lediglich unzureichend, sondern völlig 60 GRAM, 178. 61 Ebd., 181. 62 Hier ausführlicher im Original: »Cette situation évite de prendre précisément au sérieux cela même dont on se réclame, comme d’une évidence dont tout le monde est supposé savoir le sens, à savoir: la Fin de la Métaphysique. […] Mais proclamer tous les jours qu’on est ›après‹ la métaphysique, en continuant à articuler un espoir qui est proprement celui de la philosophie (simplement abrité derrière l’une des 5 positivités], c’est absurde en-soi, puisque le philosophique est, et n’a jamais été, autre chose que la métaphysique, et surtout c’est ›sécurisant‹ au pire sens du terme – ça climatise la Fin de la Métaphysique, en ce sens que personne ne s’aperçoit vraiment seul et orphelin, ›vide du sens‹« (GRD 6, 16.01.1968). Diese geteilte Kritik von Derrida und Granel geht an Foucault. Derrida hatte diese Kritik an Foucault im Kapitel Cogito et histoire de la folie in L’écriture et la différence expliziert. 63 Dieses Wiederfinden wäre vielleicht auch anzubinden an die Gedanken, die im Kapitel über Différance in der Freundschaft gemacht werden und die nach dem Zweiten Weltkrieg wahrgenommene Unmöglichkeit, über Vergangenes sprechen bzw. schreiben zu können.
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›para-logisch‹, in radikaler Weise ziellos, dieser Abstand stürzt mich also in die Verblüffung bis dahin, dass ich mich frage, ob ich nicht verrückt bin oder aber ob alle anderen verrückt sind oder aber ob es die Wahrheit selbst ist, die verrückt ist, indem sie von uns so Gebrauch macht (dass sie einen solchen Abstand ›erlaubte‹). Unter diesen Bedingungen kannst du dir das Ausmaß der Bedeutung dieser sommerlichen Blütezeit von 1967 für mich nicht vorstellen: L’Ecriture et la Différance, la Grammatologie, la voix et le phénomène [sic] – unerwartete Nähe, plötzlich offenbarte Schicksalsgemeinschaft, als ob, seit zehn Jahren Gefangener in einer Zelle kompletter Isolation, ich plötzlich einen Anderen gegen die Mauer oder auf den Dächern klopfen hörte. Diese Kommunikation [weit entfernt, muss man sagen, vom pathos der Pseudo-Frage der ›Kommunikation mit dem Anderen [autrui]‹!] – diese ›communio in quaestionibus‹ würde ich nicht gefährden wollen, noch nicht einmal von weitem, um keinen Preis. Es ist wichtig, zwei zu sein, und wir werden wahrscheinlich nie viel mehr sein – außer wenn wir seit langem tot sein werden und wenn dann ›alle‹, als ob sie bei sich wären, in den Fußwegen spazieren gehen, die uns das Leben gekostet haben werden!64
Die Freundschaft zu Derrida, die Granel nicht mit diesem Wort benennt, aber doch als Kommunikation, ist hier nicht nur durch die Praxis entstanden, sondern 64 »Pourquoi donc étais-je cependant inquiet? Sans doute parce que le paysage sur lequel nous avons débouché tous les deux: celui de la Différance (J’ai adopté ton ›a‹!) est véritablement l’Inquiétant tout pur, principalement en ceci, que personne ne s’en inquiète, tandis que l’écart entre ce qui est notre plus profonde situation (elle-même déjà un écart: ›entre‹ la Fin (qui commence) de la Métaphysique et la lente retrouvaille d’une possibilité de ›penser‹) et ce que tout le monde en dit de tout côté, qui est non seulement insuffisant, mais entièrement ›para-logique‹, radicalement errant, cet écart, donc, me plonge dans la stupeur au point que je me demande si je ne suis pas fou, ou bien si tous les autres sont fous, ou bien si c’est la vérité elle-même qui est folle d’en user ainsi avec nous (qu’elle ›permette‹ un tel Ecart…). Dans ces conditions tu ne peux imaginer l’importance pour moi de cette floraison estivale de 1967: L’Ecriture et la Différence, la Grammatologie, la voix et le phénomène – proximité inespérée, communauté de destin tout à coup révélée, comme si, prisonnier depuis dix ans dans une cellule d’isolement complet, j’entendais soudain un Autre frapper contre le mur ou sur les tuyaux. Cette communication (fort loin, faut-il le dire, du pathos [altgriech. geschrieben, nt] de la pseudo-question de la ›communication avec autrui‹!] – cette ›communio in quaestionibus‹ est ce que je ne voudrais mettre en péril, même de loin, à aucun prix. Il est important d’être deux, et nous ne serons vraisemblablement jamais beaucoup plus – sauf quand nous serons morts depuis longtemps et qu’alors ›tout le monde‹ se promènera comme chez soi dans les sentiers qui nous auront coûté la vie!« (GRD 17, Toulouse, 04.02.1968, Brief über 21 Seiten).
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scheint sich vielmehr ereignishaft aus den gemeinsamen Themen und Problematiken der beiden für ihn ergeben zu haben. Die Freundschaft, wenn es eine ist, scheint wie im Fall der Freundschaft Derridas zu Nancy mit einer Lektüre verbunden. Dabei wird besonders auf die Zahl der zwei rekurriert. Viel mehr als zwei werde es laut Granel vermutlich nie geben. Die Zweisamkeit wird vor allem im Ausgang von Heidegger gegen Heidegger abgegrenzt. »Denn: Heidegger wird sterben, und jedenfalls fängt unsere Arbeit der Schrift [écriture], wenn sie an ihn hält, nach ihm an […] Wir dürfen also nichts erwarten als von uns selbst und wir sind zwei. Folglich wissen, dass die ›Dualität‹, die mit-sich auch (und glücklicherweise!) das Zwei-Sein einschließt, wissen, dass diese Dualität in einem gewissen Sinn auch zwischen dir und dir verläuft, zwischen mir und mir, wie zwischen uns beiden, wissen, dass es eine ›gute‹ Dualität ist, da ist das Wissen [das ich gewiss schon vorher besaß in der Zuversicht, oder vielmehr im Keim, sonst hätte ich nie den Artikel über dich geschrieben, was ich getan habe], dessen dein Brief mich definitiv versichert und der mir eine so große Freude ist.«65
Es werden Texte über einander geschrieben, und nicht nur Briefe aneinander adressiert. Die Dualität wird dabei hervorgehoben, und sie scheint zu verbinden, als gleichsam zu spalten, weil sowohl er als auch Derrida selbst von einer guten Dualität durchzogen seien. In diesen Worten leitet er über zu philosophischen Fragen der Dualität, die ihn und Derrida jahrelang beschäftigen wird. Lesen wir direkt hierzu ein weiteres Brieffragment von Granel: »Von daher gibt es eine extreme Konsolidierung von allem, das du ›verstreut‹ [›dissé– miné‹] hast, dessen System und Zirkulation mit einer verblüffenden Kraft auftauchen. Ich weiß nicht, was du da konstruiert hast (›konstruiert‹ passt nicht… Es ist ein Ensemble aus theoretischen Bewegungen geregelter Eingriffe – und doch ›frei‹ – die einen über die anderen, nicht eins davon rekapitulierbar… vielleicht das erste Mal, dass das Denken ein ›Mobile‹ und nicht ein ›Stabile‹ konstruiert), aber was mir immer deutlicher erscheint, ist 65 »Car: Heidegger va mourir, et de toute façon notre travail d’écriture, s’il tient à lui, commence après lui […] Nous ne devons donc rien attendre que de nous-mêmes, et nous sommes deux! Par conséquent savoir que la ›dualité‹ que comporte avec-soi aussi (et heureusement!) l’être-deux, savoir que cette dualité passe en un sens aussi bien entre toi et toi, entre moi et moi, qu’entre nous deux, c.à.d. savoir qu’elle est une ›bonne‹ dualité, c’est là le savoir (que certes je possédais déjà en espérance, ou plutôt en germe, sinon je n’aurais jamais écrit l’article que j’ai écrit sur toi] que ta lettre vient confirmer définitivement et qui me donne une si grande joie.« (Fortlaufend, GRD 17, Toulouse, 04.02.1968).
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das Ensemble von Wanderbegriffen [concepts-migrateurs] oder von propagierenden Frag– menten [fragments-propagateurs] – derartige, ohne System (sie sind bei dir nie ›ohne System‹: wenn sie ›ins Rutschen kommen‹ und das ihr Wesen ist, ist die Schrift, worin sie rutschen, rigoros) die Wurzeln (die Teilstücke) von gramm…, greff…, sem-a-en […], zum Beispiel das offene Quadrat – all dies bildet eine Art allgemeiner und fundamentaler Syntax des Denkens aus, aber eines Typs von Syntax von Gesten oder Bewegungen (Tanz?) [soll heißen noch nicht des Sinns, noch nicht zurückgefallen in die Ordnung des – ›aufgeschobenen‹ Sinns, wie die Tänzerin Mallarmés also]. Dies hat also den Platz (ohne in irgendeiner Weise dieselbe Sache zu sein wie) [von] etwas, was eine, logische, Fundamentalontologie ›gewesen ist‹, kategorischer und transzendentaler Diskurs, etc… in der Tradition. Knirsche nicht mit den Zähnen!«66
Auch wenn im letzten Satz ein Hinweis darauf ist, dass Derrida mit diesem ›Urteil‹ nicht ganz einverstanden gewesen sein dürfte, scheint es mir doch eine der genauesten und erstaunlich frühe Lektüre – der Brief datiert auf 1972 – von Derridas Projekt zu sein. Im selben Brief bezeichnet er auch darauf folgend, dass er mit Derrida zusammen in diesem Unternehmen steckt.67 Der in Kapitel De66 »Il en résulte une extrême consolidation de tout ce que tu as ›disséminé‹, dont le système et la circulation apparaissent avec une force stupéfiante. Je ne sais ce que tu as construit là (›construit‹ ne va pas: c’est un ensemble de mouvements théoriques en empiétement réglé – et pourtant ›libre‹ – les uns sur les autres, non récapitulables aucun d’aucun… peut-être la première fois que la pensée construit un ›mobile‹, et non un ›stabile‹), mais ce qui me paraît de plus en plus clair c’est que l’ensemble de ces concepts-migrateurs, ou de ces fragments-propagateurs – tels que, en vrac (et ils ne sont jamais chez toi ›en vrac‹: ils ›glissent‹, et ce par essence, l’écriture où ils glissent est rigoureuse) les racines (les tronçons) de gramm…greff…sem-a/en [sic]…dis… et tels aussi que les ›images‹ (qui, pour une fois, suivent leur métaphorisation), par exemple le carré ouvert – tout cela forme comme une sorte de syntaxe générale et fondamentale de la pensée, mais du type d’une syntaxe de gestes ou de mouvements (danse?) (c.à.d. pas encore du sens, pas encore retombé dans l’ordre du sens – ›suspendu‹, donc, comme la danseuse de Mallarmé]. Cela tient donc la place (sans être aucunement la même chose que) [de] ce qui ›a été‹ ontologie fondamentale, logique, discours catégorial et transcendantal, etc… dans la tradition. Ne grince pas tes dents!« (GRD 28, Toulouse, 01.03.1972, eckige Klammern von Granel). 67 Vgl. ausführlich im Original: »Je sais que je ne puis te comprendre que dans ce qui te paraît – et est – le risque de l’inversion de toute ton entreprise; mais je suis moi-même entre-pris dans cette entreprise, et je ne me ›déporte‹, comme on dit d’un bateau dont le mouvement réel est la résultante nulle part ›calculée‹ de sa gouverne et de sa dérive, je ne me déporte pas moins que ne me déporte ce que je lis en toi malgré toi, et avec
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stinnerrance als Zerstreuung oder destinerrance gefasste Prozess wird hier hin zu einer dissémination geleitet, die Granel nun auf Derrida selbst anzuwenden scheint.68 Die Dissemination von Bedeutung im sprachlichen Prozess führt bei Derrida laut Granel in ein festes Set aus Wanderbegriffen und ist demnach nicht nur eine Zerstreuung, sondern auch eine Verdichtung. In einer Linie scheint dies mit der Aussage von Granel, dass die Schrift stets noch mit dem Begräbnishaften (funéraire) beginne.69 Schrift führt somit zu einer Streuung von möglichen Bedeutungen und damit zur Unmöglichkeit, etwas davon zu übermitteln, bevor zum Beispiel ein Leser diese Bedeutung interpretiert und damit einen Weg durch das Geflecht einschlägt. Ist aber diese Art der Schrift, die Derrida auszeichne, selbst außerhalb der Metaphysik? Die neue Schrift Derridas scheint mit einem Ende der Metaphysik zu beginnen, aber es bleibt in Frage gestellt: »Was tun angesichts des ›Nicht-Zentralen‹? […] wäre das wiederum Philosophie«?70
FREUNDSCHAFT AUS HÖFLICHKEIT. DIE ADRESSIERUNG DER FREUNDE ALS METHODISCHES PROBLEM (PLATON, NIETZSCHE) Kant schreibt in Anthropologie in pragmatischer Hinsicht: »Höflichkeit (Politesse) ist ein Schein der Herablassung, der Liebe einflößt. Die Verbeugungen (Complimente) und die ganze höfische Galanterie sammt den heißesten Freundschaftsversicherungen mit Worten sind zwar nicht eben immer Wahrheit (Meine lieben Freunde: es giebt keinen Freund! Aristoteles), aber sie betrügen darum doch auch nicht, weil ein jeder weiß, wofür er sie nehmen soll, und dann vornehmlich darum, weil diese
toi aussi. Je n’ai pas pour le moment de ›position‹, sinon selon plusieurs ›calculs‹ qui ne s’harmonisent ni se résolvent – ce qui est évidemment le risque du brouillage pur et simple, mais aussi la chance d’un travail ›sériel‹ par rapport auquel l’harmonique paraîtra vieille demain« (ebd.). 68 Derrida schrieb 1972 ein Werk mit dem Titel Dissemination, vgl. (dt.) Derrida, Dissemination. 69 Vgl. »L’écriture n’en a certes pas fini de commencer par le funéraire« (GRD 17, Toulouse, 04.02.1968). 70 »Savoir: quoi faire à l’égard du ›non-central‹, puisque précisément il n’y a pas (en tout cas pas sur le mode du ›il y a‹) de domaine central (pas de ›dedans‹ exploitable de la généralité syntaxique gestuelle – car alors elle ne serait plus gestuelle, mais sémantique ; et ce serait de nouveau la philosophie]?« (GRD 28, Toulouse, 01.03.1972).
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anfänglich leeren Zeichen des Wohlwollens und der Achtung nach und nach zu wirklichen Gesinnungen dieser Art hinleiten.«71
Michel Foucault (der Übersetzer der Version des Kant-Texts, die Derrida konsultiert) übersetzt ins Französische als courtoisie, was Kant als politesse meint und wird von Derrida in der Politik der Freundschaft zitiert.72 Es geht hierin um die Scham, mit der sich auch Derrida mehrfach beschäftigt hat 73 und hierneben immer noch um die Geschichte der »Vermenschlichung als Verbrüderung«74 als »Geschichte der Wahrheit«, die Freundschaft also.75 Die Geschichte, die Derrida wiederum an dieser Stelle erzählt, beginnt mit der »Geschichte der Humanisierung als Fraternisierung«.76 Bei Kant hat die Sittsamkeit hiernach eine Funktion. Sittsamkeit (pudicitia) solle nach Kant als Illusion notwendig bleiben, damit Menschen einander nicht für Genuss gebrauchen.77 Kant schreibt: »Selbst der Schein des Guten an anderen muß uns wert sein; weil aus diesem Spiel mit Verstellungen, welche Achtung erwerben, ohne sie vielleicht zu verdienen, endlich wohl Ernst werden kann.«78 Obgleich Kant den »Schein der Herablassung« einen »Schein« nannte, so ist es ein Schein mit effektiven Folgen. Die Frage, in welcher Weise man einen Freund seiner Freundschaft versichern soll, die in einem der vorigen Abschnitte schon aufkam, beantwortet er damit, dass dieser höfliche Schein für die Freundschaft notwendig ist und dass es dafür keine Rolle spielt, ob die Versicherungen wahr sind oder nicht. Die Formulierung cher ami wäre damit nicht freundschaftsanzeigend, wohl aber als freundschaftsstiftend anzusehen. Derridas Bezugnehmen auf Kant und die Höflichkeit unterbricht Derrida recht abrupt, um weiter zur Figur des Dritten zu schreiben.79 Diese Unterbrechung scheint kein Zufall. Den der Schein des Guten kann bei Kant zum Guten führen. Derrida wiederum versteht sich als der, »der auf den Unterschied von Geld und Falschgeld pfeift«.80 Und Derrida weist darauf hin, dass Kant nichts
71 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 14, 152. 72 Vgl. PdF, 366. 73 Unter anderem auch in Derrida L’animal que donc je suis. 74 PdF, 366. 75 Ebd. 76 Ebd. 77 Vgl. Ebd., 365. 78 Kant, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 14, 153. 79 Vgl. PdF, 368. 80 PdF, 367.
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über den Preis dafür, dass Geld zu Gold wird, sage.81 Im Folgenden geht es Derrida um die Frage der Beziehung zum anderen und darum, wie diese bei Kant durch Bezug auf einen Dritten (Moral, Recht, Politik) bestimmt sein kann. 82 Außer an zwei Stellen, an denen er sich auf Kant bezieht, interessiert Derrida in Politik der Freundschaft die Höflichkeit nicht. Es scheint Derrida in diesem kurzen Absatz der Kritik an der Höflichkeit nicht darum zu gehen, sich völlig von der gesellschaftlichen Funktion von Höflichkeit zu distanzieren, aber sein Hinweis, Kant sei auf der Seite dessen, der Papiergeld in Gold umtauschen wolle,83 muss als Argument gelesen werden. Kant scheint also die Sittsamkeit zu etwas Besserem zu machen, als sie ist. In Briefen wird Höflichkeit zumeist durch die in der Anrede verwendeten Formeln ausgedrückt, die nicht notwendig mit dem Eigennamen übereinstimmen. Es wird sich in Formeln aneinander gerichtet, die für den Bezug zum anderen stehen. Für Derrida ist die Benennung eines Menschen mit irgendeinem Namen, der nicht der eigene ist, problematisch: »Kann man auch nur seinen Partner dazu bringen, ihn [einen Namen der Liebe] in dem Augenblick anzunehmen, da man dieser Liebe, die wesentlich in diesem Akt bestünde, diesen Namen gibt und ihn dem anderen übergibt?«84
In den folgenden Kapiteln wird immer wieder Höflichkeit zum Tragen kommen, sei es, um einen Brief einzuleiten oder um einen abzuschließen. Briefe sind hoch formell und es scheint, als stünde die Höflichkeit zu den Freundschaften konträr. Denn jemand kann gleichzeitig in einem Brief Cher ami genannt werden, aber muss dennoch trotzdem kein Freund sein.85 Wie gezeigt werden soll, ist es nicht die Höflichkeit an sich, die an einem Brief problematisch ist, sondern vielmehr eine ihm zugrunde liegende Dualität. Denn der Brief ist schriftlich formuliert und kann daher potenziell an mehrere Adressatinnen und Adressaten gehen, aber gleichzeitig richtet sich ein Mensch darin an einen anderen. Das Schreiben an die Freunde geht somit nicht nur in den engen Grenzen der Regeln von Höflichkeit vonstatten, sondern es ist grundsätzlich von Fragen der Adressierung, das mit
81 Vgl. Ebd. 82 Vgl. Ebd., 368. 83 Vgl. Ebd., 367. 84 Ebd., 102. 85 Critchley wies auch darauf hin, dass die Unterscheidung der Anrede vom tu zum vous der Unterscheidung vom Privaten und Öffentlichem oder Politischen und Persönlichem entspreche (vgl. Critchley, Forgetfulness Must, 15).
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Platons Lysis und von Fragen der Performanz, das mit Nietzsche diskutiert werden sollen, bestimmt. Satoshi Ukai, der einen verglichen zu den anderen hier aufgezählten Briefpartnern und bedingt durch die geografische Distanz zwischen Japan und Frankreich einen weniger intensiven Kontakt zu Derrida hatte, schreibt Derrida entweder mit Cher Monsieur oder Cher ami an. »Ich hatte Schwierigkeiten damit, eine Formel zu finden, um mich an Derrida zu richten. Als er anfing mich Satoshi zu nennen, sollte ich ihn dann Jacques nennen? Für jemanden der aus dem Orient kommt ist das eine wirkliche Frage. In unserer Kultur ist es nicht erlaubt einen Lehrer mit seinem Vornamen zu nennen, auch nicht ihn zu duzen. Deshalb die Ungeschicklichkeit [maladresse] in meinen Briefen.«86
Ukai spricht von seiner maladresse und scheint sich damit für seine Weise, sich an Derrida zu richten, zu entschuldigen. Hier wird auch die Besonderheit deutlich, dass es sich bei Derrida nicht nur um einen Freund oder guten Bekannten handelte, sondern gleichzeitig um einen Lehrer. Offenbar kann die Frage der Adressierung bei einem Briefeschreiber ein Unbehagen auslösen. Dieses Unbehagen könnte auf eine Frage der Hierarchien zwischen Briefpartnern zurückzuführen sein. Aufgrund seiner »Ungeschicklichkeit« hatte er sich daher auf die strenge Höflichkeit verlegt, die es ihm erlaubte, die Gegebenheiten des Kontexts, vom dem aus er zu Derrida schrieb (»aus dem Orient«) zu respektieren. Hingegen soll diese sogenannte fehlgeleitete Adressierung hier als Glücksfalls angesehen werden, der zeigt, dass dies nur scheinbar eine »Ungeschicklichkeit« ist, sondern dass sein Unbehagen vielmehr auf das grundlegende Problem der schriftlichen Adressierung eines Anderen zurückzuführen sein kann. Schauen wir hierzu in einen der ›Texte‹, den Derrida an wiederholter Stelle der Politik der Freundschaft aufgreift, Platons Lysis. In der Diskussion, die Platons Lysis eröffnet, stellt sich die Frage der Freundschaft auch als eine Frage nach der Ansprache des Freunds: »Was ist der Freund? Wer ist es? Wer ist er? Wer ist sie?«87 Sokrates scheint an der Bestim-
86 »Tu touches à un point très important. J’avais des difficultés de trouver une formule pour m’adresser à Derrida. Quand il a commencé à m’appeler Satoshi, est-ce qu’il fallait l’appeler Jacques? Pour quelqu’un qui vient d’Orient, c’est toute une question. Dans notre culture, il n’est pas permis d’appeler un maître par son prénom, ni de le tutoyer. D’où la maladresse dans mes lettres« (Satoshi Ukai an mich, Mail vom 17. Oktober 2015, 04:37). 87 PdF, 392.
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mung der Freundschaft zu scheitern, weil er den Freund nicht identifizieren kann. »Gleichwohl sage ich noch, als sie sich schon zum Weggehen anschickten: Heute, mein Lysis und Menexenos, haben wir uns lächerlich gemacht, ich, der alte Mann, und ihr. Denn sie, die da jetzt fortgehen, werden sagen, wir hätten geglaubt untereinander Freund zu sein – denn auch mich rechne ich zu euch – und doch wären wir noch nicht imstande zu entdecken, was man eigentlich unter ›Freund‹ zu verstehen habe.«88
Der Freund lässt sich hier nicht identifizieren, vielleicht weil nicht letztlich zu klären ist, was ein Freund ist. Darin besteht an dieser Stelle das Lächerliche. Jedoch bleibt die Frage nicht geklärt: Muss ein Mensch wissen, was ein ›Freund‹ im allgemeinen ist, um ein Freund sein zu können? Auf das gerade geführte Gespräch zurück verweisend, scheint Sokrates diesen Zusammenhang anzunehmen; »sie, die da jetzt fortgehen werden sagen, wir hätten geglaubt untereinander Freund zu sein«. Er spricht hierin jedoch weder über seine eigene Meinung noch macht er eine auf die Gegenwart bezogene Aussage (»sie […] werden sagen«). Der Zusammenhang zwischen Freundsein und dem Sprechen darüber ist also noch nicht abschließend geklärt. Vielleicht haben sich die drei lächerlich gemacht, weil Sokrates’ Fragen nach der Identifizierung eines Freunds immer wieder in aporetische Antworten verwickelt worden waren. Dennoch ist sein ›Scheitern‹ kein Ende der philosophischen Suche nach der Freundschaft. Auch wenn sich nicht abschließend klären lässt, was der Freund ist, so wird hier deutlich, dass eine zentrale Problematik im Sprechen über die Freundschaft liegt. Die Adressierung eines Freunds, zum Beispiel, indem er bei seinem Eigennamen angesprochen wird (»mein Lysis und Menexenos«), und das Sprechen über ihn (zum Beispiel als »Freund«) sind nicht dasselbe. Derrida nennt den Beginn des Lysis die »Szene eines zunächst unaussprechlichen Eigennamens […] Wer ist der Geliebte? Wird sein Name fallen? Wird man ihn zum ersten Mal bei seinem Namen rufen?«89 Der Dialog endet mit einer Unklarheit. Die Gruppe trennt sich abrupt, als Lysis und Menexenos von ihren Pädagogen abgeholt werden.90 Sokrates gesteht ein, dass sie sich lächerlich gemacht haben, da sie gerade nicht verstehen, was man unter einem Freund
88 Platon, Lysis, 223b / 115. 89 PdF, 115. 90 Vgl. Platon, Lysis, 223a / 115.
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versteht.91 Gibt es also den ›Freund‹ nicht? Der Knoten des lysis [sic] wird jedenfalls nicht gelöst.92 Deutlicher als Platon konstatiert Derrida die Unmöglichkeit einer Identifizierung des Freunds. Die Tonalität seines Sprechens ist jedoch anders als Platons etwas dunkler, er scheint die Geschichte des Freundschaftsbegriffs am Ende zu sehen: »Wer [ist der Freund, nt], da doch, wie man sehen wird, alle Kategorien und Axiome, die den Freundschaftsbegriff in seiner Geschichte konstituiert haben, sich als morsch erwiesen haben: das Subjekt, die Person, das Ich, die Anwesenheit, die Familie und die Vertrautheit, die Wesensverwandtschaft, die Zugehörigkeit (oikeiotes) oder die Nähe, also eine bestimmte Wahrheit und ein bestimmtes Gedächtnis, der Verwandte, der Bürger und die Politik (polites und politeia), selbst der Mensch – und natürlich, der Bruder, der all das kapitalisiert.«93
Allerdings ist auch in diesem Text das festgestellte Ende nur der Anfang für seine Reflexion in der Politik der Freundschaft.94 Außer Frage steht hier, dass es Freunde gibt, die beispielsweise ›ich‹ mit Namen nennen kann. Hinterfragt aber wird, dass es den Freund im allgemeinen geben könnte. – Wenn ich nun aber den Namen des ›Freunds im allgemeinen‹ nicht kenne, und nicht weiß, was damit gemeint ist, wenn jemand ›Freund‹ sagt, wie kann ich mit einer oder einem Einzelnen befreundet sein? Wie kann ich sicher wissen, dass es ein ›Freund‹ ist? Für Nietzsche ist entscheidend, nicht nur, wer der Freund ist, sondern vor allem, wie er angesprochen wird, und über was man miteinander spricht. Verbinden wir diese Frage nun mit Nietzsche, der die Frage der Benennung der Freunde eine andere Schattierung als Platon gibt. Worin besteht das eigentliche Achten eines Freundes nach Nietzsche? Ein Freund soll nicht beschrieben werden, sondern Freundschaft soll möglich bleiben. Nietzsche ordnet in dem mit »Silentium« betitelten Satz an, dass man nicht über seine Freunde reden dürfe, »sonst
91 »Möglicherweise also gibt es überhaupt keine Freundschaft, eine Voraussetzung, die sich durch die Verhandlung nur zu bestätigen scheint,« fragt sich Apelt in der Einleitung zum Lysis (Apelts Einleitung in: Platon, Lysis, 70). 92 Derrida verweist darauf, dass lysis altgriechisch die Auflösung eines Knotens bedeutet (vgl. PdF, 115). 93 Ebd., 392. 94 Ich verweise hier nochmals darauf, dass Derrida vorgibt, die Politik der Freund schaft sei vielleicht nur ein langes Vorwort (vgl. Ebd., 9).
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verredet man sich das Gefühl der Freundschaft«.95 Es geht also darum nicht über seine Freunde, sondern zu seinen Freunden zu sprechen Die Möglichkeit eines Schreibens über Freundschaft scheint über das Sprechen hinaus für Nietzsche unsinnig, da wie er an Rohde schrieb,96 nur ein Bild hierin ist, welches nicht unbedingt mit der gelebten Freundschaft übereinstimmt. Für Nietzsche soll dementsprechend nicht über die Freunde gesprochen werden. Das Problem in der Freundschaft bei Nietzsche ist die Sprache. Wenn Nietzsche den Freund bitte, sich in einen Feind zu verwandeln, bleibe Freundschaft – so Derrida: »Kein verlässlicher, stabiler Begriff (bebaios, hätte Aristoteles gesagt)« 97 ; Derrida macht deutlich, dass dies nur scheinbar, aber nicht wirklich Liebe ist, wenn er Nietzsche mit dem Teilsatz zitiert, was alles »Liebe genannt wird«.98 Wo Derrida gerade noch an Kants ›Gold‹ der Sittsamkeit zweifelte, scheint Derrida hier in einer Linie mit Nietzsche, der den Bezeichnungen misstraut. In Menschliches, Allzumenschliches bringt Nietzsche den sterbenden Weisen und den lebenden Tor über die Frage der Freundschaft ins Gespräch. Als lebenden Tor scheint Nietzsche sich, und als sterbenden Weise Aristoteles zu setzen. Lesen wir Nietzsches Ausführung in Von den Freunden: »Überlege nur mit dir selber einmal, wie verschieden die Empfindungen, wie geteilt die Meinungen, selbst unter den nächsten Bekannten sind; wie selbst gleiche Meinungen in dem Kopf deiner Freunde eine ganz andere Stellung oder Stärke haben als in deinem; wie hundertfältig der Anlaß kommt zum Mißverstehen, zum feindseligen Auseinanderfliehen. Nach alledem wirst du dir sagen: wie unsicher ist der Boden, auf dem alle unsere Bündnisse und Freundschaften ruhen, wie nahe sind kalte Regengüsse oder böse Wetter, wie vereinsamt ist jeder Mensch! Sieht einer dies ein und noch dazu, daß alle Meinungen und deren Art und Stärke bei seinen Mitmenschen ebenso notwendig und unverantwortlich sind wie ihre Handlungen, gewinnt er das Auge für diese innere Notwendigkeit der Meinungen aus der unlösbaren Verflechtung von Charakter, Beschäftigung, Talent, Umgebung – so wird er vielleicht die Bitterkeit jener Schärfe der Empfindung los, mit der jener Weise rief: ›Freunde, es gibt keine Freunde!‹ Er wird sich vielmehr eingestehen: ja es gibt Freunde, aber der Irrtum, die Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweigen müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben; denn fast immer beruhen solche menschliche Beziehungen darauf, daß irgend ein paar Dinge nie gesagt werden, ja daß an sie nie gerührt wird: kommen diese Steinchen aber ins Rollen, so folgt die Freundschaft hinterdrein und zerbricht. Gibt es Menschen, welche nicht tötlich zu verletzen sind, wenn sie 95 Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches II, 252 / 114. 96 Vgl. Kap. II. 97 PdF, 92. 98 Ebd., 102.
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erführen, was ihre vertrautesten Freunde im Grunde von ihnen wissen? – Indem wir uns selbst erkennen und unser Wesen selber als eine wandelnde Sphäre der Meinungen und Stimmungen ansehen, und somit ein wenig geringschätzen lernen, bringen wir uns wieder ins Gleichgewicht mit den übrigen. Es ist wahr, wir haben gute Gründe, jeden unserer Bekannten, und seien es die Größten, gering zu achten; aber ebenso gute, diese Empfindung gegen uns selber zu kehren. – Und so wollen wir es miteinander aushalten, da wir es ja mit uns aushalten; und vielleicht kommt jedem auch einmal die freudigere Stunde, wo er sagt ›Freunde, es gibt keine Freunde!‹ so rief der sterbende Weise; ›Feinde, es gibt keinen Feind!‹ – ruf ich, der lebende Tor.«99
Als Frage stellt sich hier nicht nur, wie Nietzsche hier seine Feinde ruft, sondern auch, wie Derrida wiederum Nietzsche adressiert oder anruft. Der Appell an die Freunde taucht als wiederkehrendes Thema auf und benennt einen Aspekt der Freundschaft: die Notwendigkeit, einen Freund zu rufen, – »ein einziger Ruf antwortet dem anderen: ›so rief der sterbende Weise […]; ruf ich, der lebende Tor‹«100. Was aber bedeutet es zu rufen? Bedeutet es, einen Freund herbeizurufen, weil er sich zu sehr distanziert hat? Heißt dies, eine Freundin herbei zu zitieren, weil sie sich nicht gut benahm? Heißt es einfach, jemanden beim Namen zu nennen? Nietzsche ruft seine Freunde an dieser Stelle nicht. Er ruft nur die Feinde, und schlägt ihnen die Möglichkeit der Feindschaft im selben Satz aus, – »es gibt keinen Feind!« Gleichzeitig nennt er das Kapitel Von den Freunden und nicht Von den Feinden. Wir haben bereits den Unterschied performativer und konstatierender Sprache thematisiert. An dieser Stelle stellt sich nun die Frage, wer spricht, und was gesagt oder was getan wird. Da es nämlich »keine vertragliche Übereinkunft mehr zwischen Wort und Begriff, zwischen Vokabel und Bedeutung«101 gibt, gäbe es die Möglichkeit, dass man bei Nietzsche »den Freund [bittet], sich in einen Feind zu verwandeln«102. Es wäre also denkbar, dass Nietzsche doch von den Freunden spricht, sie aber als Feinde auftreten lässt. Und deshalb traut Derrida dem Gegensatz zwischen sterbendem Weisen und lebendem Tor nicht:
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Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches I, 376 / 246 f.
100 PdF, 82. 101 PdF, 92. 102 Ebd.
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»ein erster Grund, dem Gegensatz […] nicht zu trauen […], liegt darin, daß man sich in einer Apostrophe auch für einen anderen ausgeben kann. […] Der sterbende Weise kann verrückt spielen, es könnte sein, daß er den Verrückten spielt.«103
Wenn man in einer relativ freien Definition die Verlässlichkeit – das zu sagen, was man zu sagen beabsichtigt hat – als eine gewisse Form von Freundschaft mit dem Text betrachtet, 104 dann geht jedem, der schreibt, diese Freundschaft ab. Austin hatte mit der performativen Dimension der Sprache darauf hin gewiesen. Nietzsche wies darauf hin, und Derrida weist wiederum hier in Bezug auf Nietzsche darauf hin. Könnte aber Nietzsche sich nicht auch die Freundschaft seiner Lesenden bewahren, indem er sie gerade nicht als solche anspricht? Zu gut weiß er, dass er sich nicht auf die Sprache verlassen kann. Somit müsste man schließen, dass Derrida seine Freunde deshalb als Feinde adressiert, weil er zu gut weiß, dass die Sprache gerade nicht bezeichnet, was sie zu bezeichnen scheint. Derrida entscheidet sich hier nicht für eine Auflösung der Interpretation. Für ihn ist »Menschliches, Allzumenschliches […] die Rede, die ein Verrückter an Verrückte richtet, an seine Freunde, die Verrückten.« 105 So wird die Freundschaft hier wieder zu der Kippfigur, die Derrida seit dem Rückgriff auf Cicero vor Beginn der Politik der Freundschaft beobachtet hat. Wir können nicht sicher sein, dass Nietzsche sich nicht doch an seine Freunde richtet, die Narren, denen Nietzsche sein Buch zueignet.106 Wenden wir uns einer zweiten Passage aus dem Nietzsche-Zitat zu, in der es um das Schweigen geht; »ja es gibt Freunde, aber der Irrtum, die Täuschung über dich führte sie dir zu; und Schweigen müssen sie gelernt haben, um dir Freund zu bleiben«. Vielleicht ist damit nicht nur gemeint, dass sie nicht übereinander oder miteinander sprechen dürften, sondern eher Schweigen im Sinne des Folgenden: »Dieses ist nichts anderes als eine bestimmte Weise des Sprechens: verschwiegen, diskontinuierlich, aphoristisch, elliptisch«107 – wie der Tor, der vorgibt, seinen Freunden Feind zu sein, also. Es geht darum, etwas »einzubeken103 Ebd., 93. 104 Ein anderes Wort dafür könnte Hermeneutik sein. 105 PdF, 82. 106 Vgl. Ebd., 82. Vgl. hierzu auch: »Und auch er [der Epilog Ein Nachspiel - Unter Freunden, nt] spricht die Freunde an. Nicht um Entschuldigung oder Verzeihung für ›dieses unvernünftige Buch‹, nur um Gastfreundschaft bittet er sie, nur um die Unterkunft, die man daherkommenden Verrückten gewährt« (Ebd., 82 f.). 107 PdF, 86. Vgl. hierzu auch Kittler, der behauptet, Nietzsches Werk sei nichts als Übertretung, es begründe keinen anderen Diskurs, richte sich an keinen anderen Adressaten (Kittler in O, 68).
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nen«, »die zu verbergende Wahrheit«, »indem man sie verbirgt«108. Das würde bedeuten, dass eine Adressierung oder genauer ein Rufen der Freunde beim Namen, nicht möglich wäre, jedenfalls nicht als Freunde. Sagte ich ›Matthias ist mein Freund‹, so wäre – folgen wir Nietzsche – das Gegenteil der Fall. Ich müsste mich vielmehr indirekt an ihn wenden, ihm zu verstehen geben, dass ich seine Freundin bin, und weniger darüber sprechen. Das ist wohl der Grund, weshalb Derrida Nietzsches Freundschaftsverständnis im Zarathustra mit einer neuen Tugend in Verbindung bringt: »Dieses Gesagte und dieses Sagen erfordern einen neuen Typus des Sich-richtens an den anderen. Sie nehmen ihn jedenfalls, teleopoietisch, bereits für sich in Anspruch. Um das Sagen, die Tugend des Sagens von der Tugend [kursiv nt] ernstzunehmen, muß man wissen, an welche Adresse sich die Anrufung wendet: An die (vergangenen, gegenwärtigen, zukünftigen) Brüder, denen Zarathustras feierliche Rede über die Freundschaft und die Tugend, eine stets männliche Tugend, zugedacht ist.«109
Hierin erscheint interessant nicht nur, dass Derrida Nietzsches Art zu adressieren mit einer Tugend in Verbindung bringt. Behalten wir diese Bezeichnung als Tugend im Hinterkopf. In diesem Zusammenhang ist interessant, wem Nietzsches Zarathustra gewidmet ist. Ein Buch für Alle und Keinen110 ist der Untertitel von Nietzsches Zarathustra, und Nietzsche richtet sich darin immer wieder an die Brüder. Für Derrida ist es im eben Zitierten wichtig, den Ort zu skizzieren, von dem aus Nietzsche spricht, um hier an dieser Stelle das Gesagte vom Sagen zu trennen.111 Es interessiert ihn die Frage, was an den unterschiedlichen Orten im Zarathustra je über Freundschaft gesagt wird, zu einem jeweiligen Modus wird, und die sich »einzig ausgehend von dem bestimmen lassen, was da, an diesem spezifischen Ort, jeweils gesagt wird – von der Freundschaft, der Tugend, der Brüderlichkeit und vom Sagen dessen, was da, in dieser spezifischen Weise, gesagt wird.«112 Derrida spricht in diesem Zusammenhang nicht nur von Modus, sondern auch von Rhetorik, Poetik oder Logik. 113 Das Sagen ist also hier die 108 Alles PdF, 86. 109 Ebd., 95. 110 Vgl. Nietzsche, Also Sprach Zarathustra. 111 Er bewundert Nietzsche für seine Fähigkeit, so zu schreiben als spräche er: Während alle Wissenschaften Wissenschaften des Toten seien, da sie für das Leben einen ihm vorgeschriebenen Platz hätten, sei Nietzsche die seltene Ausnahme und Philosoph, der unter eigenem Namen gehandelt habe (vgl. 0, 24). 112 PdF, 95. 113 Vgl. Ebd.
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Interpretation, das Gesagte das, was jeweils ausgedrückt wird. Hier müsste man jedoch betonen, dass es ohne Interpretation nicht notwendigerweise einen Text gibt. Diese Unterscheidung zwischen Sagen und Gesagtem wird sich möglicherweise im Folgenden auch nicht halten lassen. Das Thema des Sagens versus des Gesagten (dire, dit) ist auch bei Levinas zentral, mit dem Derrida befreundet war. Ein Verständnis dieses Gegensatzes bei Levinas ist weit komplexer, als es sich im Rahmen dieser Arbeit darstellen lässt. Dennoch möchte ich dazu einladen, die Parallele zu betrachten und Derridas Beharren auf der Unterscheidung zu verstehen. Bei Levinas ist das Sagen »vor-ursprünglich[…]«114. Die Sprache ist das Gesagte.115 Mit der Sprache lässt sich das Außerhalb-des-Seins thematisieren, »als sei das Andere des Seins Ereignis des Seins«116. Aber dieses Verhältnis zum Sein ist bei Levinas eine Ausnahme, es zeigt sich vielmehr, als dass es gesagt werden kann.117 Daher kommt es, dass die Theorie immer in Verantwortung gegenüber der ihr abwesenden Wahrheit steht.118 Wo aber wäre die in diesem Kapitel thematisierte Adressierung eines Freunds oder einer Freundin zu verorten? Das Rufen eines Freunds könnte man für die Dauer eines gedanklichen Spiels als Teil des Gesagten begreifen, denn ich, als Freundin, rufe ja den Freund (im Gegensatz dazu wäre in diesem Gedankenspiel die Freundschaft Teil des Sagens, von der ich also nie wirklich wissen kann, ob sie da ist). Wenngleich die Adressierung des Freunds wie auch das Beschreiben der Freundschaft sich beide nicht auf die eine oder die andere Ebene reduzieren lassen, so wird doch eines deutlich: Inspiriert von Levinas müsste man auf ein methodisches Problem der Untersuchungen über Freundschaft hinweisen.119 Nietzsche versuchte aufgrund einer ähnlichen Problematik, die Freunde als Feinde zu adressieren. Derrida hingegen versucht als Reaktion darauf, nichts zu sagen: »Indem ich so spreche, die unwahrscheinliche Liebe oder Freundschaft ausspreche, sage ich nichts, konstatiere oder beschreibe ich nichts.«120 Und weiter beansprucht »Ich sage also nichts, was gesagt oder sagbar
114 Levinas, Jenseits des Seins, 30. 115 Ebd. 116 Ebd., 31. 117 Vgl. Ebd., 31. 118 Vgl. Die Theorie ist »motiviert durch die Berufung des vor-ursprünglichen Sagens, durch die Verantwortung selbst« (ebd., 31). 119 Levinas fragt sich nämlich, ob eine »An-archäologie« möglich sei, ob also das Sagen sich wirklich zeigen kann. Wenn man davon ausginge, das dies so wäre, würde das Sagen bereits wieder der Ebene des Gesagtem einverleibt (Vgl. Ebd., 32 ff.). 120 PdF, 107.
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wäre.«121 Eigentlich geht es also darum, nichts – in einer bestimmten Weise – zu sagen, sondern sich vielmehr an jemanden zu richten, aber an jemanden als Freund, dessen »unendliche Andersartigkeit« wertgeschätzt wird, 122 und diese Perspektive bindet Derrida an Levinas in der folgenden Weise: »Sich auf den einfachen allgemeinen Sinn, wenn man das sagen kann, beziehend, kann es keine Freundschaft geben, Gastfreundschaft oder Gerechtigkeit, außer da, wo die Andersartigkeit des Anderen als unendliche Andersartigkeit noch einmal, absolut, irreduzibel, einbezogen wird, obwohl sie unkalkulierbar ist. Levinas erinnert daran, dass die Sprache, das heißt, die Anrede eines Anderen [l’adresse à l’autre] in ihrem Wesen Freundschaft und Gastfreundschaft ist.«123
Es scheint also um eine Geste zu gehen. Und diese Geste ist das freundschaftliche Sich richten an einen anderen. Eine Geste Derridas ist es wiederum, dass er Levinas nach seinem Tod mit Vornamen ruft. Im letzten Satz seines Nachrufs an Levinas nennt Derrida Levinas bei seinem Vornamen. Hierin bringt er seinen – geschriebenen – Versuch zum Ausdruck, sich immer noch, immer wieder, je einzigartig an seinen Freund richten zu können: »Doch ich hatte gesagt, daß ich nicht nur an das erinnern wollte, was er uns von dem àDieu anvertraut hat, sondern ihm zuallererst adieu sagen wollte, ihn bei seinem Namen 121 Ebd., 108. Er sage nichts, da er zunächst einmal nicht wisse, dass es außerhalb von dem was er sagt und was wir lesen wirklich gegenwärtig sein würde (vgl. Ebd., 107 f.). 122 Eine erhellende Parallele zum Tetragramm im Judentum ergibt sich bei Granel, der an das Tetragramm erinnert (vgl. »Si l’on part de l’idée qu’il ne saurait, sauf blasphème, rien y avoir de plus dans tous les textes du Livre que ce qu’il y a dans le Tétragramme, alors il faut comprendre que toutes les leçons de sagesse que l’on peut ›tirer‹ de l’Ecriture sont des variantes qui vocalisent et consonantisent (articulent) dans des figures qui prennent l’apparence d’un sens (mais qui se savent, dans cette mesure même, ›insensées‹) un surcroît de sens, aussi peu énonçable comme sens que la suite des quatre ›grammes‹ n’est prononçable pour la voix« (Granel, »Sibboleth ou de la lettre«, 194). 123 Es könne keine Freundschaft gebe ohne die Sprache und die Adressierung eines anderen (vgl. im Original: »En se référant au simple bon sens si on peut dire, il ne peut y avoir d’amitié, d’hospitalité ou de justice que là où l’altérité de l’autre, comme alterité infinie encore une fois, absolue, irréductible, est prise en compte, bien qu’elle soit incalculable. Lévinas rappelle que le langage, c’est-à-dire l’adresse à l’autre, est dans son essence amitié et hospitalité« (Sp, 65)).
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nennen und seinen Namen nennen wollte, seinen Vornamen, so wie er sich nennt in dem Augenblick, in dem er, sollte er nicht mehr antworten, auch in uns antwortet, im Grunde unseres Herzens, in uns, aber noch vor uns, in uns, hier vor uns – uns rufend, uns zurückrufend: ›à-Dieu‹. Adieu, Emmanuel.«124
Levinas ist gestorben, aber möglicherweise lebt er weiter (»sollte er nicht mehr antworten«). An anderer Stelle schreibt Derrida entschiedener, dass – wenn das Leben nach dem Tod zurückkomme, dann dem »Namen und nicht dem Lebendigen.«125
AIMANCE: DIE FREUNDSCHAFT AN DER GRENZE ZUR LIEBE Für sich genommen ist das Wort, das ein Name ist, bedeutungslos. »Es gelingt mir noch nicht, mich daran zu erinnern, wann ich seinen Namen zu ersten Mal gehört oder gelesen habe und wie er für mich zu einem Namen geworden ist«,126 schreibt Derrida über Barthes. Der Name wird bedeutungsvoll in dem Moment, wo ein Mensch mit ihm in Verbindung gebracht wird und der Name als Eigenname sichtbar wird. Möglicherweise deshalb, weil nicht nur das Benannte der Benennung entgeht, sondern auch die Benennung immer über ihr Benanntes hinaus geht, bringt Derrida den Namen mit dem Tod in Verbindung. Levinas wurde von Derrida in seinem Tod benennbar und anrufbar. Umgekehrt scheint der Name im Leben immer schon den Bezug auf den Tod inne zu haben. In seinem Nachruf über Riddel beschreibt Derrida den Namen als die Spur des Tods im Leben: »Im Laufe des Lebens, zu unseren wie zu Joes Lebzeiten, wissen und wußten wir es bereits: der Name signiert den Tod und markiert das Leben mit einer Furche [ride], die es zu entziffern gilt. Der Name läuft dem Tod schneller entgegen als wir, die wir in naiver Weise glauben, ihn zu tragen. Er trägt uns mit unendlicher Geschwindigkeit dem Ende entgegen. Er ist von vornherein der Name eines Toten. Und eines überstürzten Todes, der uns in ihm, durch ihn zustößt, ohne je im eigentlichen Sinne der unsere zu sein.«127
124 Derrida über Levinas, JME, 255. 125 Vgl. O, 28, kursiv nt. 126 Derrida über Barthes, JME, 99. 127 Derrida über Riddel, JME, 166 f.
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Das kann man sich buchstäblich vergegenwärtigen, wenn man an die auf einem Grabstein eingravierten Namen denkt, die einem auf dem Friedhof begegnen. Auch geht der Name dem Leben vorweg, indem Menschen schon durch andere benannt werden, bevor sie zur Welt kommen. Gleichzeitig sprach Derrida im vorigen Zitat davon, dass man jemanden kennenlernen kann, ohne seinen Namen zu kennen. Der Name scheint also gerade nicht mit dem lebenden Roland Barthes zusammenzuhängen. Diesen Menschen lernte er kennen, ohne dass es wichtig gewesen wäre, welchen Namen er trägt. Ein Name bleibt gleich, während Menschen sich ständig verändern. Gleichzeitig scheint der Name auf eine singuläre Person hinzuweisen, auch wenn andere diesen Namen tragen. Hier scheint die Problematik der Bezeichnung auf, und insbesondere die Bezeichnung von dem Lebendigem, das der Mensch ist. Das Problem wird vor allem deutlich für Schriftsteller, die diejenigen Menschen sind, die über ihre Freunde schreiben. Es ist, »als ob der Tod Namen und Körper trennen würde, als ob er den Namen dem Körper entreißen würde, und als ob wir infolgedessen überall, wo der Name sich vom Körper löst – was uns die ganze Zeit passiert, vor allem dann, wenn wir sprechen, schreiben und veröffentlichen –, den Tod dort [là] bestätigen würden, als ob wir ihn bezeugen würden, während wir gleichzeitig gegen ihn protestieren.«128
Warum löst sich beim Schreiben der Name vom Körper? Denken wir uns dazu eine Situation. Der sechsjährige Sohn eines Freunds erhielt von einem Mädchen in seiner Grundschulklasse ein Herz auf Papier. Dann müsse er ihr wohl wichtig sein, schlossen sein Vater und ich. Er erwiderte daraufhin, ja, aber er könne nicht sagen, dass sie Freunde sind, weil er sich nicht an ihren Namen erinnere. Das könne keine richtige Freundschaft sein, wenn man sich nicht an den Namen des anderen erinnern kann. Diese Anekdote illustriert das Problem der Philosophie mit der Freundschaft auf seine Weise. Die Philosophie ist eine Liebe oder Freundschaft zum Wissen, nicht zu einem oder einer einzelnen. Um Freundschaft philosophisch zu erschaffen, müsste man so weit gehen, aus dem Begriff einen Eigennamen zu machen. Das Problem besteht dann, wenn ein Begriff immer nur ein Platzhalter bleiben kann, anders gesagt, dass der ›Name‹ sich vom ›Körper‹ lösen muss, um schriftlich etwas zu bedeuten. In dieser Weise ist jede Benennung eine Setzung:129 128 Derrida über Kofman, JME, 225. 129 Und diese Setzung macht das, was vielleicht am Leben gehalten werden sollte, den Menschen, zu etwas, was als tot angenommen wird, nämlich als etwas, was sich mit einem einzigen Namen bezeichnen ließe.
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»Man wird zum Beispiel den Akt (es kann, muß aber nicht, der des Sprechens sein), der der Opposition einer Sprache des Aktes und einer Sprache der Wahrheit, der Opposition von Performativum und Konstativum, vorausgeht, einen ›Akt‹ nennen. Man könnte dergleichen über die Position (Setzung*), sogar Übersetzung*) behaupten: selbst wenn diese eine metaphysische Bestimmung des Seins (wie das Heidegger behauptet) bleibt, so wird sie ihren Namen doch für eine Bewegung hergeben, die sich nicht darauf reduziert.«130
Wer einen Eigennamen zitiert, ruft einen Menschen auf und spricht ihn damit an. Wird ein Eigenname genannt, dann ist zumeist eindeutig, an wen sich die Worte richten. Anders – würde man denken – ist es bei einem geschriebenen Text. Das Schreiben ist nicht voller Eigennamen, und die meisten Texte – mit Ausnahme der Briefe – sind nicht nur an einen Menschen adressiert. Wer ein neues Wort erschafft, könnte man denken, und möglichst noch etwas davon fern hält, zu einem allzu festgelegten Begriff zu werden, erhält sich diese Façon der Anrede, aber macht sie dennoch zu etwas aus dem Kontext des Texts Verstehbarem. Das Schreiben ist so gesehen ein Akt, der sich immer an ein Kollektiv richtet, und dabei kann nicht mehr im Sinne eines Namens ein einzelner ›Körper‹ gemeint werden. Die Briefe bieten dabei möglicherweise eine Ausnahme, weil in ihnen direkte Adressierung in schriftlicher Form beabsichtigt ist. In einer Situation, in der zwei Menschen einander in die Augen blicken, zum Beispiel über Freundschaft oder Feindschaft miteinander sprechend, gerät aus dem Sichtfeld, was um sie herum noch geschieht; wer gerade vorbei geht, was abseits von den beiden geschieht, wer ihnen zusieht und was für Formen der Anrede es noch gibt. In dem Moment, wo ein Mensch sich einem anderen von Angesicht zu Angesicht zuwendet, kommt es zu einer Asymmetrie. Je näher man sich kommt, desto weniger hat man das Ganze im Blick, die vielen. Wenn Freundschaft vor allem Adressierung ist, dann kann ich nicht alle gleichzeitig lieben, sondern im besten Fall immer nur eine, immer nur einen zur Zeit. Derridas Wortschöpfung der aimance gibt diesem Thema der Adressierung eine neue Variante. In dieser Variante antwortet er auf Kant, Nietzsche und Platon, die alle das Problem der Sprache – zum Beispiel in Bezug auf Freundschaft – auf unterschiedliche Weise thematisiert hatten. Die aimance, so möchte ich argumentieren, ist einer Entscheidung für eine der zwei von Austin unterschiedenen Formen des Schreibens – adressierend oder konstatierend – vorgezogen. Das Auswählen und Präferieren bezeichnet Derrida aber selbst als der aimance immanent. Ihm zufolge handelt es sich um ein Begehren, »das mich im Lieben [aimance] – Freundschaft oder Liebe – an diesen oder diese eher als an wen auch immer, eher als an einen jeden und eine jede bindet, an diese mehreren (Männer oder Frauen) 130 M, 186.
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und nicht an alle«.131 Interessant ist, dass aimance dieses Mal als »le même nom juste cette fois, juste pour une fois«132 – oder auf Deutsch, ich zitiere ausführlicher, »diesmal dem rechten, dem angemessenen oder eher noch passenden, genau auf es zugeschnittenen Namen dessen, was sich begriffslos, ein einziges unvergleichliches Mal, zu diesem einen Datum, zwischen zweien ereignet«133 – für das Freundschaft-werden der Liebe angesehen wird, und der Bezug zur Gerechtigkeit (justice).134 Er gibt hiernach einen einzigen und rechten Namen für die Freundschaft und zwar nur diesen. In Einklang mit Nietzsche, für den die Freundschaft eine Liebe mit neuem Namen ist,135 versucht sich Derrida in der Folge mit einer Neubenennung oder vielmehr Neuübersetzung der philía mit aimance.136 Es handelt sich – und hierin bleibt er Nietzsche treu – um eine »neue Form des Liebens [aimance]«: »Was sich da zwischen zweien ereignen mag […] Es ginge nicht darum, einen Begriff einem Begriff, einen Namen einem anderen, eine Freundschaft einer Nicht-Freundschaft, eine Freundschaft einer Feindschaft, eine Freundschaft einer Liebe zu substituieren oder entgegenzusetzen. Nein, das ›Neue‹, das vielleicht kommen wird, wird radikal neu sein, wer weiß – und doch könnte es auch die Form einer Entfaltung oder einer Fortsetzung* der Liebe annehmen. Es wäre dann eine neue Form des Liebens [aimance], des ZurFreundschaft-werdens der Liebe unter dem selben, aber diesmal dem rechten, dem angemessenen oder eher noch passenden, genau auf es zugeschnittenen Namen dessen, was
131 PdF, 398. 132 PdA, 85. 133 PdF, 103. 134 Hier tritt er ein Wenig hinter seinen eigenen Anspruch zurück, würde man juste als einzig angemessen verstehen. Denn es handelt sich ja gerade darum, die Diskussion um die Freundschaft nicht zu schließen, was er an anderer Stelle sagt (vgl. oben). 135 »Es giebt wohl hier und da auf Erden eine Art Fortsetzung der Liebe, bei der jenes habsüchtige Verlangen zweier Personen nach einander einer neuen Begierde und Habsucht, einem gemeinsamen höheren Durste nach einem über ihnen stehenden Ideale gewichen ist: aber wer kennt diese Liebe? Wer hat sie erlebt? Ihr rechter Name ist Freundschaft« (Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft, 14 / 45). 136 Bis hierhin erinnert dies an die Spannung zwischen agape und eros in der Liebe und ließe die Vermutung zu, dass Derridas Freundschaft sich in Richtung einer Liebe neigt, wie die von Cicero. Vgl. zu agape und eros auch Fromm, Die Kunst des Liebens.
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sich begriffslos, ein einziges unvergleichliches Mal, zu diesem einen Datum, zwischen zweien ereignet.«137
Hier taucht, der Übersetzer Stefan Lörenzer lässt es sinnvollerweise in Klammern stehen, die »neue Form des Liebens« »aimance« auf.138 Die neue Form des Liebens indiziert mehr als durch das Substantiv der Freundschaft Beschreibbare. Sie wird als ein Werden verstanden, als der Übergang von der Liebe zur Freundschaft. Das bedeutet allerdings nicht, dass Derrida wie Aristoteles das Lieben dem Geliebtwerden vorzieht oder Aristoteles einfach umkehrt. 139 Ganz im Gegenteil wird eine dritte Kategorie vorgeschlagen. Es scheint weder darum zu gehen, die Freundschaft vor der Liebe zu privilegieren oder umgekehrt, sondern um einen Übergang oder Prozess, eine Tätigkeit, einen Verlauf, der gleichzeitig ein Zustand sein kann, den man durchlebt. Passive und aktive Dimensionen sind notwendig für eine solche Bewegung. Aimance lässt also an das Tun des Liebens (aimer) denken, erinnert aber auch mit dem suffix -ance an Substantive wie tolerance, oder résistance.140 In der aimance soll gegenüber dem Aktiv und dem Passiv eine Form »der Aktivität und der Passivität, der Entscheidung und der Passion«141 denkbar werden. Dieses neu geschaffene Substantiv und verfremdete, substantivierte Verb bringt den Vorteil, dass es einerseits eine Bewegung andeutet, etwa wie in der Grammatik der englischen Verlaufsform, die es im Französischen nicht gibt. Trotzdem bleibt die Liebe oder Freundschaft – beide Bekundungen ähneln sich im Französischen mit Je t’aime bzw. Je t’aime bien – darin Substantiv. Das Substantiv der aimance macht das Lieben zu einer passiveren Form als das Verb aimer – und schwimmt daher grammatikalisch zwischen 137 PdF, 102 f. 138 Derrida gibt an, das Wort nicht von seinem Freund Abdelkebir Khatibi übernommen zu haben, der es schon 1986 verwendete (vgl. Ebd., 25, Fußnote 6). 139 Bliebe man auf der einen oder der anderen Seite stehen, würde man wieder präferieren, die eine Form des Liebens gegenüber der anderen, etc. (Vgl. PdF, 25). Und dann könnte man der aimance nicht mehr gerecht werden. Der Begriff für die neue Form der Freundschaft ist also »aimance«, das »Zur-Freundschaft-werden […] der Lie–be« (ebd., 103), und grenzt diese einmalige, mögliche Freundschaft von der »Beständigkeit der aristotelischen philia« (ebd.) ab. Gleichzeitig betont er, dass es ohne die Festigkeit solcher Bestimmtheiten keine Regeln geben könne (ebd., 104). Er negiert also nicht die Relevanz der traditionellen philosophischen Bestimmungen von Freundschaft. 140 Auch steckt in der Aimance das a der différance drin, was vielleicht nur ein glücklicher Zufall ist. 141 PdF, 25, Fußnote 6, kursiv nt.
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der aktiven und passiven Form. Es ist weder ein bestimmendes noch ein bestimmtes Wort. Dieses neu geschöpfte Wort verknüpft sich mit der Thematik von Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. 142 Denn aimance scheint die Freundschaft in die Nähe des Ereignisses zu bringen. Sprache scheint hiernach nur so lange lebendig, solange sie sich ereignet. 143 Auch in genanntem Text geht es Derrida darum, den Spielraum des Möglichen zu vergrößern, angesichts dessen, dass das Ereignis die Unterscheidung von Möglichem und Unmöglichem untergrabe.144 Derrida weigert sich offenbar, aimance auf eine begriffliche Dimension zu reduzieren. Deshalb ist die Frage von Derrida m. E. zu Recht gestellt: »Ist eine solche Freundschaft noch griechisch?«145 Hat eine solche, von Nietzsche inspirierte, neue Form des Liebens unter dem Namen der Freundschaft, benannt von Derrida unter dem neuen Namen der aimance, noch einen Bezug zur ›Tradition‹ eines Denkens über Freundschaft, die mit der philía – also einem Begriff – beginnt? »Ja und nein«,146 sagt Derrida, an Nietzsche gerichtet. Derrida schreibt aimance, da sie einerseits jeden meinen kann, weil sie ein Eigenname zu sein scheint, aber niemanden in partikularer Weise anspricht. Durch den Gebrauch eines solchen Namens (aber ist es ein Name?) scheint die Grenze zwischen Biographie und wissenschaftlichem Schreiben undeutlich zu werden.147 Derrida könnte in der aimance und in diesem einen Moment vielleicht der Gewalt, die er in philosophischen Texten am Werk sieht, entgehen. Sobald der Text verstanden, seine Neuschöpfung begriff-en wird, ist es allerdings kein Eigenname mehr. Vielleicht müsste man dann davon sprechen, dass Derrida versucht, bei seiner Lektüre philosophischer Texte eine Offenheit zu bewahren. Oder anders gesagt: Wenn es dazu kommt, dass die Frage der Kippfigur zwi-
142 Vgl. Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. 143 Das ist genau der Gedanke, den Toni Morrison allegorisch in ihrer Nobelpreisrede entwickelt (vgl. Morrison, »Nobel Lecture«). 144 Vgl. UM, 41. Es geht dabei auch um eine Entmachtung im Moment der Entscheidung, die immer eine Entscheidung des anderen ist (vgl. ebd., 42–44). 145 PdF, 97. 146 Ebd. 147 Vgl. hierzu Derrida, der inmitten seiner Nietzschelektüre bemerkt, philosophische Lektüren hätten nicht die Randung/Linie zwischen Werk und Leben hinterfragt (vgl. O, 23).
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schen der performativen und konstatierenden Lektüre sich nicht mehr entscheiden lässt, ist die Kippfigur das, was die Lektüre ausmacht.148 Es soll offenbar vermieden werden, einen Begriff zu schaffen, womit etwas Allgemeingültiges und Zitierbares gemeint sein könnte. Vielmehr scheint aimance selbst (zu) etwas aufzurufen (wie ein Eigenname jemanden ruft), zu neuer theoretischer und praktischer Beschäftigung mit der Freundschaft und mit den Freundinnen und Freunden. Damit hätte sich Derrida auf eine Weise nicht von der Tradition der Philosophie entfernt, wenn es ihr um die Wiedereröffnung bestimmter, zuvor verdeckter Areale der Diskussion um Freundschaft durch ungewöhnliche Lektüre ihrer Texte und das Erhalten der Möglichkeit neuen Wissens ginge. Wenn Sokrates von Lysis bei ihrer Begegnung eine Probe fordert, »damit ich mich überzeuge, ob du auch verstehst, was für ein Reden ein Liebhaber über seinen Liebling zu diesem selbst oder auch zu anderen Leuten führen soll«, 149 fragt Sokrates auf der konstatierenden Ebene danach, wie ein Liebhaber über seinen Liebling oder zu diesem sprechen soll. Auf der performativen Ebene – oder könnte man sagen: auf der Ebene Platons? – zeigt sich durch das Handeln der Figur des Sokrates, dass man lernt, sich freundschaftlich an jemanden zu richten, indem man jemandem, der zu seinem Freund spricht, zuhört und ihn nachahmt (etwas tut). Was tut nun ›Derrida‹, wenn er die aimance als neues Wort für die Freundschaft schreibt? Wie Sokrates gibt er vor, jemand anderes zu sein, er ahmt eine gewisse Tradition (Philosophie) nach, aber ist vielleicht doch ein anderer. Denn auf andere Weise betrachtet, setzt sich Derrida mit seiner (teilweisen) Verweigerung vor dem Begriff der Freundschaft in eine Position, die Distanz zu allen anderen philosophischen Positionen einnimmt. Oder er tut so, kein Philosoph zu sein, indem er nicht die in der Philosophie üblichen Worte verwendet. Man könnte denken, Derridas Schreiben sei eine Anrede. Er versucht es der gesprochenen Sprache anzugleichen, ihr schreibend
148 »Wenn die Kritik der Metaphysik als eine Aporie zwischen performativer und konstativer Sprache strukturiert ist, so ist dies dasselbe, wie wenn man sagt, daß sie als Rhetorik strukturiert ist. Und da, wenn man den Ausdruck ›Literatur‹ beizubehalten wünscht, man kaum zögern sollte, sie mit Rhetorik zusammenzubringen, so würde daraus folgen, daß die Dekonstruktion der Metaphysik oder ›Philosophie‹ eine Unmöglichkeit ist in dem Maß, wie sie ›literarisch‹ ist. Dies löst keineswegs das Problem der Beziehung zwischen Literatur und Philosophie bei Nietzsche, aber setzt wenigstens einen etwas verläßlicheren ›Referenz‹punkt, von dem her die Frage zu stellen ist« (de Man, Allegorien des Lesens I, 176f.), schreibt ein Freund und Leser Derridas. 149 Vgl. Platon, Lysis, 205a / 82.
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ähnlich zu werden, sie nachzuahmen. Dies entspricht einer gewissen Leidenschaft. Von der Leidenschaft als der Erfahrung der Liebe spricht Derrida als etwas, wonach es möglich sein würde, alles zum anderen sagen zu können, was auch mit einer grenzüberschreitenden Nähe zu tun hat, hier im Original zitiert: »tout dire à l’autre et de s’identifier à tout«,150 »dem anderen alles sagen und sich mit allem identifizieren«. Die Möglichkeit der Liebe bringt Derrida vor allem mit der Literatur in Verbindung, weil die Literatur alles sagen könne.151 Die aimance, wenn sie Ereignis ist, wäre gerade eine unmögliche Möglichkeit zu sprechen. Sie wird also in die Nähe der Literatur gebracht, denn sie ist möglich, aber in ihrer Möglichkeit ist sie auch unmöglich, Teil des praktischen Lebens. Die partikulare Art des Schreibens, die Derrida anstrebt, scheint daher gegenüber der Philosophie einen Ort des Literarischen zu reklamieren oder einzunehmen. Umgekehrt aber ist auch aimance keine Anrede, da das Wort wiederholbar ist, da es sich einschreibt in vorangegangene und kommende schriftliche Szenarien der Freundschaft. Und angenommen die Anrede würde in Form eines Texts möglich: Wäre das dann überhaupt noch Freundschaft, wenn sie niemanden mehr in partikularer Weise anspricht? Müsste man nicht eigentlich sagen, dass Derrida über diesen neuen Namen der Freundschaft mit diesem Nachdenken einer gewissen Tradition bricht, weil er der Übersetzung von philía mit Freundschaft einfach die der aimance aufpfropft? Wenn es so wäre, warum lässt sich über aimance noch so wenig sagen, dass die Politik der Freundschaft von dem alten Wort der Freundschaft durchzogen ist und Derrida so selten und nur in Ansätzen über die neue Form des Liebens schreibt?152 Wenn sein Schreiben literarisch würde, so behielte es sich einen Ort des philosophischen Denkens. Es scheint, als nähme er diese beiden Positionen – die literarische und die politische – im Wechsel ein. Deshalb darf auch aimance bei Derrida nicht zum Begriff werden. Und schon ist auch aimance ein alter Name für das, was in der Erfahrung diesen Namen übersteigt:153
150 Derrida, Demeure, 26. Hier ist jene Leidenschaft gemeint (passion), die im Gegensatz des Aktivitäts-Passivitätsgegensatz steht. Vgl. auch die archi-passivité bei Levinas, und Blanchots neutre (Derrida, Demeure, 27). 151 Vgl. Ebd., 30. 152 Etwa auf 22 Seiten kommt das Wort aimance in der Politik der Freundschaft vor. 153 Nichts könnte die Angemessenheit dieses Namens versichern, sagt Derrida über die zweite Art der Liebe bei Nietzsche, die die Freundschaft ist (vgl. PdF, 102).
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»Gleichgültig, welchen Satz man mit diesen Wörtern auch bildet (affirmativ, negativ, neutral oder in der Schwebe gehalten), stets bliebe er ohne Beziehung zu dem, was wir weiterhin bei diesem alten Namen rufen: Lieben [aimance], Freundschaft, Liebe, Begehren. […] Das Gesetz der Zahl und des ›mehr als einer, einer mehr, nicht mehr einer‹, das dieses Buch durchzieht, wäre darum nicht weniger unerbittlich und unvermeidlich, aber es würde dann eine ganz andere Sprache erfordern.«154
Die Möglichkeit, eine solche Sprache zu finden, scheint gering. Hoffnungsvoller ist dies auch nicht an anderer Stelle, da die Bezeichnungskraft des Eigennamen einzigartig ist: »Vielleicht wird eines Tages, hier oder dort, kann man es je wissen, zwischen zweien, die einander lieben, sich etwas ereignen. Zwischen zweien, die einander aus Liebe lieben – und so, daß vielleicht Freundschaft zum rechten Wort für das würde, was sich da ereignet hätte. Zu seinem Eigennamen – und vielleicht nur ein einziges Mal.«155
Es ist folglich im Rahmen des Denkbaren, dass ein Wort mit dem von ihm zu bezeichnenden Gegenstand zusammen fällt. Aber wenn dies passieren sollte, ließe sich nicht darüber schreiben, so scheint Derrida hier zu implizieren, sondern diese Erfahrung nur leben. Im Nachhinein scheint es möglich, dieses Ereignis als Freundschaft zu bezeichnen, aber dann wäre wiederum die Freundschaft, in der wir zu Freunden sprechen können, vorbei. Hierin wird der Ort, den Derrida bezüglich des Denkens über Freundschaft einnimmt, nicht nur als Ort zwischen Philosophie und Literatur, sondern auch zwischen Schreiben und Sprechen deutbar. Die Differenz zwischen Schreiben und Sprechen sei eine »Erfahrung des vielleicht«.156 Vielleicht gibt es dazwischen »[e]ine andere Form sich an das Mögliche zu richten«.157 Damit ist, obgleich Derrida weder das Schreiben noch das Sprechen vorzuziehen scheint, eine Richtung vorgegeben. Es geht ihm um ein Verhältnis zum Möglichen. So kann verstanden werden, dass sich dies für ihn mit einer neuen Art, das Politische zu denken, verbinden muss,158 um die es im nächsten Kapitel gehen soll. Möglicherweise wäre die »Erfahrung des vielleicht« zu beschreiben als eine Sendung ohne Adresse, oder mit der gespenstischen Adresse derer, die – möglicherweise – nicht mehr gerufen werden können: die toten Freunde. 154 Ebd., 398f. 155 Ebd., 102. 156 Ebd., 103. 157 Ebd. 158 Vgl. Ebd.
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Derridas Freundschaft ist m. E. eine Form der Liebe, die sich nicht an ihre eigenen Grenzen hält. Zwar ist sie, wie er sagt, nicht »gestaltlos«159, weshalb man sie sich nicht vorstellen könnte wie zwei umeinander tanzende Gespenster. Gleichzeitig lässt sich an einen Platzhalter denken, wenn Derrida schreibt, aimance sei »die Liebe in der Freundschaft« –, die jeweils für etwas anderes – für verschiedene darin sich einpassende Erfahrungen – stehen kann. Wenn von Platzhaltern oder Metaphern die Rede wäre, wären es allerdings solche, die regelmäßig gesprengt würden, und zwar von der Erfahrung. Was aber wären diese besonderen Metaphern anderes als Begriffe und ist nicht die Philosophie immer schon literarisch gewesen?
159 Hier und folgend vgl.: »Es wird sich bereits angedeutet haben, daß in dieser Richtung liegt, was ich aimance, das Lieben zu nennen versucht bin: die Liebe in der Freundschaft, das Lieben jenseits von Liebe und Freundschaft in ihren determinierten Gestalten, über alle Lesewege dieses Buchs, über alle Epochen, Kulturen oder Traditionen des Liebens [aimer] hinaus. Das heißt nicht, dieses Lieben [aimance] sei gestaltlos, es müsse nicht in bestimmten Figuren hervortreten – etwa in dem, was man die griechische philia nennt, in der höfischen Liebe oder, wie man so sagt, in dieser oder jener ›Strömung‹ der Mystik. Aber ein Lieben [aimance] durchquert diese Figuren« (ebd., 107). Vgl. auch: »Es geht also stets wieder um den Namen. Um den getragenen Namen. Um den Namen, dem es einen zutragen soll. […] Ein Begriff trägt so stets das Gespenst des anderen bei sich. Der Freund den Feind, der Feind den Freund. Der Freund: der Feind, der Feind: der Freund« (ebd., 111).
Warum ist der Freund wie ein Bruder? Derrida, Politik der Freundschaft, 10.
dieser Philosoph, bedacht auf all die Herausforderungen seiner Zeit, war nicht nur ein Meister des Denkens, sondern auch unser Freund und Verbündeter / ce philosophe, attentif à tous les enjeux de son temps, était non seulement un maître à penser, mais aussi notre ami et allié« (Kursiv Chérif) Chérif, Derrida à Alger, 10.
Freundschaft ohne Brüder und Väter Aspekte der Verwandtschaft und des Politischen
In Platons Politikos wird die staatsmännische Tätigkeit auf das Wissen bezogen. Die Wissenschaften, in denen das Wissen verhandelt wird, sind in praktische und erkennende (theoretische) gegliedert.1 Das Wissen wird so aufgespalten in zwei verschiedene Bereiche.2 Das Wissen des Königs ist Teil des erkennenden Wissens und hier wiederum des befehlenden Teils. 3 Die politische Praxis scheint hiernach auf das Wissen bezogen zu werden und sogar eine implizite Form des Wissens darstellen zu können. In diesem Kapitel wird es um den Gegensatz von Theorie und Praxis in vielfacher Hinsicht gehen und die damit verbundene Frage, was an der Freundschaft politisch ist. Derrida setzt in Politik der Freundschaft voraus, dass Theorie und hier speziell die Geschichte eine Form von politischer Praxis ist.4 Diese politische Praxis ist bei Derrida schwerlich mit einem intentionalen Tun vereinbar. Denn für ihn gilt, dass »man nicht tun [kann, nt], was man sagt«.5 In der Auseinandersetzung mit und Abgrenzung von Carl Schmitt stößt Derrida auf die folgende Paradoxie: »Die Nichtübereinstimmung mit dem Begriff ist dem Begriff selbst inhärent. Und nirgends tritt diese Nichtübereinstimmung des Begriffs mit sich selbst deutlicher zutage als in der Ordnung des Politischen, gesetzt, daß diese Ordnung oder vielmehr die Möglichkeit dieser Ordnung nicht gerade den eigentlichen Ort, das Phänomen, den ›Grund‹ der Nichtübereinstimmung eines jeden Begriffs mit sich selbst bezeichnet: den Begriff der Disjunktion als des Begrifflich-seins des Begriffs. Daraus folgt, daß auch das, was man eine Politik, eine
1
Vgl. Platon, Politikos, 258, S. 20.
2
Vgl. Ebd.
3
Vgl. Ebd., 260, S. 22 f.
4
Vgl. PdF, 161.
5
Ebd., 161.
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ideale Politik, eine regulative oder programmatische Zielsetzung, ja eine Idee der Politik im allgemeinen nennt, einen solchen ›Begriff des Politischen‹ nicht einzulösen vermag.«6
Er kündigt hiermit von der Schwierigkeit, im Bereich des Politischen von Begriffen (und nicht vom praktischen Handeln) auszugehen. Freundschaft ist für ihn aber ein Teil der Politik oder der Politiken – der französische Titel seines Hauptwerks zur Freundschaft ist Politiques de l’amitié, zu deutsch übersetzt im Singular Politik der Freundschaft. Die Herausforderung wird bereits im Titel gestellt, dass ein praktisches Wissen – hier verstanden als ein politisches Handeln – mit einem theoretischen zusammengebracht scheint. Dem liegt bereits eine These zugrunde: die Freundschaft ist Frage der Politik, indem sie Frage der Philosophie ist.
»UND DANN IST DIE ZEIT OHNE MICH VORANGESCHRITTEN.« IMMER IM VERZUG ODER DIE NOTWENDIGKEIT, ZEIT ZU HABEN. GELESEN MIT BRIEFEN VON DERRIDA UND ALTHUSSER Angenommen, zwei Menschen freunden sich an. Sie lernen sich kennen, sie nähern sich an und sie teilen ihre Interessen miteinander. Sie hoffen vielleicht beide, dass die Nähe immer größer werde und dass irgendwann die letzten Differenzen, die zwischen ihnen sind, verschwinden. Dann stellen sie vielleicht fest, dass sie beide an einem falschen Bild hingen, und dass der oder die andere plötzlich ein anderer oder eine andere scheint. ›Nähe‹ wurde da vielleicht mit ›Ähnlichkeit‹ verwechselt, der ›Wunsch nach Präsenz‹ mit der ›Präsenz‹ selbst. Aber vielmehr noch wurde vergessen, dass der Anfang einer Freundschaft nicht auch den Anfang dieser Leben selbst bildet, dass die Menschen je eigene Geschichten und je eigene Kontexte mitbringen, die einem Menschen nicht immer gleich präsent sind. – »Viele Jahre danach, als ich in New York ein Gastsemester verbrachte und unglücklich verliebt war, erlebte, was Adorno als das ›Phänomen des Besetztseins‹ bezeichnet, hat Derrida bemerkt, in den Beziehungen zu Anderen gebe es keine tabula rasa, Andere seien immer schon in ein Netz weiterer Beziehungen verstrickt.«7
6
Ebd., 162.
7
Garcia Düttmann, Derrida und ich, 154.
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Im hier beobachteten Kontext kommt hinzu, dass Derrida und seine Freunde fast alle Personen des öffentlichen Lebens waren. Wie weit und wie leicht kann man im Alltag mit anderen den eigenen Ansprüchen nicht genügen, weil zu viele Verpflichtungen daran hindern, nur für den Freund, nur für die Freundin, zu sein. Im folgenden Abschnitt wird zunächst dieser Umstand beobachtet, dass Freunde im ständigen Gefühl des Verzugs leben können. Im folgenden Nachruf an Riddel beschreibt Derrida den Beginn ihrer Freundschaft als einen literarischen, der nicht auf der Basis einer Begegnung begann; im Tod kam dieser Eindruck wieder zurück: »Ich bin im Frühling nie nach Kalifornien gekommen, ohne darauf zu hoffen, Joe wiederzusehen; von nun an wird ein Schatten über diesen Reisen liegen. Ich werde so tun müssen, als ob - aber wie daran glauben? - unsere Freundschaft der Begegnung nicht mehr bedürfte, als ob sie immer schon dazu bestimmt gewesen wäre, durch den Apparat des Buches und des unerledigten oder unzustellbaren Briefes hindurch zu atmen, wie sie es ganz am Anfang über mehrere Jahre hinweg tat.«8
Warum hat Freundschaft für Derrida diese unerledigte oder unzustellbare Komponente? Ich werde dies versuchen, anhand einiger Briefe von Althusser an Derrida und von Derrida an Althusser zu illustrieren. Ein wichtiges Thema ihrer frühen Briefe ist Algerien. Aus Algerien schreibt Derrida mit 26 Jahren an Althusser, dass er noch »[z]ehn Tage […] in diesem Land verbringen [müsse,] in schrecklicher Starre. Es passiert nichts, nichts, nichts, dass an eine politische Bewegung denken lässt, also einen Wandel der Situation. Nur die täglichen Attentate, die Toten, an die man sich gewöhnt und von denen man spricht, als sei lediglich schlechtes Wetter«. 9 Es sei »immer 8 9
über Riddel, JME, 166. »J’ai encore dix jours à passer dans ce pays à l’immobilité terrible. Il ne se passe rien, rien, rien, qui fasse penser à un mouvement politique, ce qu’on appelle l’évolution d’une situation. Simplement des attentats quotidiens, des morts auxquelles on s’habitue et dont on parle comme d’une mauvaise pluie. Mais c’est toujours la même inconséquence politique, le même aveuglement. J’ai vue avec tristesse se clore cette année, non précisément parce que je quitte l’Ecole et que j’en ai fini avec des Faits que je supportais très mal depuis longtemps, mais parce que je vais être séparé de mes meilleurs amis, de tous ceux dont la présence a tant compté pour moi à l’Ecole, et dont tu es, tu le sais bien. Et je ne te verrai même pas en Septembre, ou de passage à Paris, avant de m’embarquer au Havre… Je ne veux pas te remercier. Je le devrais pourtant – pour tout ce que m’ont apporté tes conseils et ton enseignement. Je suis très conscient de ce que je leur dois mais toutes les formules de distance respectueuse par
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dieselbe politische Inkonsequenz, dieselbe Blindheit.« 10 Am 03. Juli 1962 erlangte Algerien Unabhängigkeit. Derrida wirkt in diesem Brief involviert, aber doch aus der Fremde auf ein Land zu blicken, zu dem er sich nicht ganz zugehörig sieht. Warum schreibt er von »schrecklicher Unbeweglichkeit«? Der Brief aus El-Biar wird zu einem Abschiedsbrief, da er ankündigt, die Ecole normale supérieure verlassen zu müssen, und mit dem Schiff nach Harvard aufzubrechen: »Mit Traurigkeit habe ich dieses Jahr zu Ende gehen sehen, eben nicht, weil ich die Ecole verlasse und da ich mit den Fakten, die ich seit langer Zeit sehr schlecht ertrug, abschloss, sondern weil ich von meinen besten Freunden getrennt sein werde, von all denen, deren Präsenz an der Ecole so für mich gezählt hat und wo du bist, das weißt du gut. Und ich sehe dich noch nicht einmal im September, wo ich durch Paris fahre, bevor ich aufs Schiff gehe… Ich möchte dir nicht danken. Jedoch sollte ich es – für alles, was mir deine Ratschläge und deine Lehre mitgegeben haben. Ich bin mir sehr bewusst, was ich diesen zu verdanken habe, aber alle Formeln respektvoller Distanz, durch die man sich an den Lehrer wendet, würden vielleicht die herzliche Freundschaft verletzen, die du mir immer bezeugt hast. Das ist es, was ich dich bitte mir zu erhalten und für die ich dir von ganzem Herzen danke. Ich hege alle meine Wünsche für deine Gesundheit, das Ende deiner Ferien und deines Jahrs an der Ecole – die Distanz wird uns nicht trennen, hoffe ich. Ich werde dir aus Harvard schreiben und werde dich auf dem Laufenden halten, was mein Leben in diesem Land betrifft, von dem ich noch überhaupt nicht weiß, was mich erwarten wird. Ich schreibe dir bald besser und länger. Bis bald, mein lieber Althusser. Sei meiner sehr treuen Freundschaft versichert, J. Derrida«11
»Ich schreibe dir bald besser und länger«, schreibt Derrida, und lässt damit den gerade geschriebenen Brief wie eine Einleitung zu einem längeren Brief erscheinen, einer ausgiebigen Antwort, die noch zu schreiben wäre. Er hofft darauf, dass sie wieder als Freunde zusammentreffen. Folgen wir Aristoteles, so kann der Wunsch, eine Distanz zu überbrücken, Zeichen der Freundschaft sein, zum lesquelles on s’adresse au maître ferait peut-être injure à l’amitié affectueuse que tu m’as toujours témoignée. C’est cela que je te prie de me garder et par laquelle je te remercie du fond du coeur. Je forme tous mes voeux pour ta santé, la fin de tes vacances et ton année à l’Ecole – la distance ne nous séparera pas, je l’espère. Je t’écrirai de Harvard et te tiendrai au courant de ma vie dans ce pays, dont je ne sais pas du tout encore ce que je dois attendre. Je t’écrirai mieux et plus longuement bientôt. Au revoir, mon cher Althusser. Sois sûr de ma très fidèle amitié« (DA 4, El-Biar, 30.08.1956). 10 Ebd. 11 Ebd.
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Beispiel einer geografischen, denn Derrida schreibt Althusser aus El-Biar, von wo aus er bald in die USA aufbricht. Ein Begehren oder vielleicht auch erst ein Sehnen nach dem Freund und seiner Präsenz wird erst in der Abwesenheit erkennbar: »wer aber nur an dem Äußeren eines anderen Freude hat, liebt ihn darum noch nicht, sondern das tut er erst dann, wenn er in seiner Abwesenheit sich nach ihm sehnt und nach seiner Gegenwart begehrt.«12 Um die Freude nicht nur am Äußeren des Freunds festzumachen, braucht es dieses Begehren des Freunds Althusser, womit wir vermuten könnten, dass ein wenig Distanz der Freundschaft sogar gut getan haben könnte. Das Aristotelische Ideal ist jedoch nicht das der Distanz in der Freundschaft. Im Gegenteil soll die Distanz so gering wie möglich sein. »Die Gegenwart der Freunde erscheint also in allen Lebenslagen als begehrenswert«13, schreibt Aristoteles. Aber was ist der genaue Abstand, den eine Freundschaft laut Derrida braucht? Im Februar 1957 schreibt Derrida an Althusser: »Dieses Jahr wird mir einen bitteren Geschmack von Ohnmacht hinterlassen haben. Ich tat bislang so, als ob externe Notwendigkeiten mich erstarren ließen und ich wollte mich davon überzeugen, dass ich nach Abschluss der agrégation [uW] einen Gebirgsbach produzieren würde. Nun ist es fast schlimmer als vorher. Selbstverständlich komme ich gut damit klar, mich als Märtyr einer Erschütterung der Fundamente, einer Agonie der Philosophie, einer Erschöpfung einer Kultur zu betrachten. Angesichts all dieser Toten kann man nichts als schweigen, um zumindest nicht das ›Phänomen‹ zu verfehlen. Spaß beiseite, nichts gibt das Gefühl dieser Krise – die der Husserlsche Optimismus mir nicht im Geringsten zu bedenken hilft – als der völlige Wechsel des politischen Klimas von einem Land zu einem anderen. Zu sehen, was die Philosophie wird, in einem Buch oder einer amerikanischen Universität, unmögliche Übersetzung, die Exzentrizität der Themen, die Verschiebung der Interessengebiete, die Relevanz der Lehre und lokaler Werte, die Weise wie dies sogar den Sinn beeinflusst und er wird Fragen aufwerfen und eine verwendete Sprache haben, sich zu sagen haben, dass ein Deutscher, der nach Frankreich kommt, ein Pole in Deutschland [uW], ein Engländer in Rom sprachlos wären und nicht wirklich wüssten wovon wir sprechen, auch wenn sie eine objektive Sprache verstünden, nicht wüssten, was uns hier und weniger dort beschäftigt. Man fragt sich also, was diese Sache ist, die Philosophie. […] Und dann die Vorstellung, in einer Bibliothek wie der von Harvard (der größte Friedhof für Bücher auf der Welt. Es gibt alles. Zehn mal schneller als in der B.N. Und man hat mir das Privileg eingeräumt, in den Reserven zu wühlen) seine kleine Sache zu hinterlassen, dreht einem den Magen um.
12 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1167a5-10 / 218. 13 Ebd., 1171b25-30 / 343.
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Trotz all dem Überdruss versuche ich mich in den kurzen Augenblicken an einer kleinen unpersönlichen Arbeit, einer anerkannten Übersetzung vom ›Ursprung der Geometrie‹, obwohl ich nicht weiß, ob ich das Recht haben werde, sie zu veröffentlichen, da ich noch keine Antwort aus Leuven habe.«14
Derrida macht also nicht nur eine geografische Distanz kenntlich, sondern spricht auch darüber, dass das Gefühl der Distanziertheit auch mit Schwierigkeiten der Übersetzung zu tun haben kann. Die Differenz dessen, was Philosophie an verschiedenen Orten der Welt ist und weshalb man besser daran täte, von Philosophien zu sprechen, wird hier zum Thema. Ähnlich wie Derrida schreibt sein Freund Satoshi Ukai über die Übersetzung von Derrida ins Japanische: »Ich bin froh Ihnen mitteilen zu können, dass unsere Übersetzungsarbeit weiterhin gut läuft, trotz der Schwierigkeiten, die die grundsätzliche Verschiedenheit der beiden Spra-
14 »Cette année m’aura laissé un goût amer d’impuissance. Je faisais jusqu’ici semblant de croire que des urgences extérieures me gelaient, et je voulais me persuader, qu’une fois l’agrégation passée, je me produirais [uW] un torrent. Or c’est presque pire qu’avant. Bien sûr, je m’arrange toujours pour me considérer comme le martyr, d’une crise des fondements, d’une agonie de la philosophie, de l’épuisement d’une culture. A l’avant-garde de toutes ces morts-là, on ne peut que se taire pour, du moins, ne pas en manquer le ›phénomène‹. Blague à part, rien ne donne le sentiment de cette crise – que l’optimisme husserlien ne m’aide pas le moins du monde à considérer – que le changement total du climat philosophique d’un pays à l’autre. A voir ce que devient la philosophie, dans un livre ou une université américaine, la traduction impossible, l’excentricité des thèmes, le déplacement des zones d’intérêt, l’importance de l’enseignement et des valeurs locales, la façon dont tout cela marque jusqu’au sens et il y aura des questions posés et du langage utilisé, à se dire qu’un Allemand venant en France, un Polonais en Allemagne [uW], un Anglais à Rome, seraient ahuris et ne sauraient pas vraiment de quoi on parle, même s’il entendait un langage objectif, ne saurait pas de quoi on s’inquiète ici plutôt que là. On se demande alors ce que c’est que cette chose, la philosophie. […] Et alors l’idée de déposer dans une bibliothèque comme celle de Harvard (le plus gigantesque cimetière de livres du monde. Il y a tout. Dix fois plus vite que la B.N. Et on m’a accordé le privilège de fouiller dans les réserves), sa petite chose, vous soulève le coeur. Malgré tout ce dégout, j’essaie dans les brefs moments de m’accrocher à un petit travail impersonnel, une traduction patentée de l’›Ursprung der Geometrie‹ dont je ne sais si j’aurai le droit de la publier, n’ayant pas encore de réponse du Louvain« (DA 5, Cambridge, 11.02.1957).
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chen und Ihres Idioms mit sich bringt, das die französische Sprache weit übersteigt, wie sie in ihr gleichzeitig tief verwurzelt ist.«15
Kommen wir zurück zum Brief Derridas. 1962 publizierte Derrida schließlich seine Husserl-Übersetzung. Die Erschöpfung wird nicht nur auf die politische Situation bezogen, sondern auch auf eine Erschöpfung von der Philosophie. Hier schreibt er aus Harvard (»der größte Friedhof für Bücher auf der Welt«), wo er sich wieder abseits sieht. Eine Woche später, am 18.02.1957 benennt Althusser den genau definierten Raum, den er ihrer Freundschaft gibt: »Ich lasse dich dieses Paradox lösen: Bleibe dort, so lange wie möglich, um uns so viele Dinge wie möglich zu erzählen zu haben… und komm so schnell wie möglich zurück, um uns nicht deine Freundschaft zu entziehen.« 16 Bedingungslos ist diese Freundschaft hier also nicht, Althusser gibt Raum, aber begrenzt ihn auch. Als ob Derrida diesen Raum nicht überstrapazieren wolle, schreibt er nur drei Tage später zurück: »Ich hätte gern Neuigkeiten von dir, von deiner Gesundheit, vom Jahr an der École. Ich fühle mich hier von allem getrennt; die Neuigkeiten erreichen mich mit viel Verspätung und trotz meiner Beunruhigung für das, was in Frankreich, in Algerien und anderswo in Europa geschieht, Verzögerungen, wie die Leute hier daran teilhaben und mir all dies daher schmerzlich weit weg und abstrakt erscheinen lassen. Ich möchte mit dir über all das, was während der letzten Monate in Algerien passiert ist, sprechen, in Afrika, in Paris etc etc [sic] und noch über tausend andere Dinge. Ich hätte wirklich Lust, einige lange Momente in diesem Büro zu verbringen, in dem du mich immer so freundlich empfangen hast. Manchmal trifft mich die Nostalgie nach Paris, nach der École, den Freunden, die dort verblieben sind, […] mit einem Schlag wie eine seltsame Krankheit… Mein lieber Althusser, ich hätte dir tausend Dinge zu sagen. Aber in wenigen Monaten bin ich in Paris. Nichts, das ich dir erzählen könnte, ist dringend, außer das, was einzig und allein zählt und warum ich diesen spärlichen Brief schreibe: Ich bewahre dir eine sehr treue und sehr
15 »Je suis heureux de vous faire savoir que, grâce à vos aides, notre travail de traduction marche toujours bien, malgré toutes les difficultés que posent à la fois la différence foncière des deux langues et votre idiome, débordant largement la langue française tout en y étant profondément enraciné.« (UD 21, Paris, 06. Januar 1986). 16 »Je te laisse résoudre ce paradoxe: reste là-bas le plus longtemps possible pour avoir le plus de choses à nous dire… et reviens-nous le plus vite possible, pour ne pas nous priver de ton amitié!« (AD 7, Paris, 18.02.1957).
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warmherzige Freundschaft, bitte dich um Entschuldigung für meine lange Stille und darum, dass du dich nicht bei mir rächst, indem nun auch du lange schweigst.«17
Als Grund für den Brief wird der Wunsch geäußert, Althusser der Freundschaft zu versichern. Sich für die eigene Stille entschuldigend, bittet er seinerseits um neue Briefe, und nicht um ein Schweigen. Am 18. Februar 1957 schreibt Althusser an Derrida: »ich erlebe und kenne zu sehr das natürliche Gewicht der vorbeiziehenden Zeit, und die Zerstreuung der Beschäftigungen und Arbeiten, um mich jemals für deine Stille zu beschweren!«18 Damit versichert er ihm seinerseits und implizit seiner Freundschaft, indem er ihm die Zeit gibt, zu antworten, wann er will. Schon im Frühjahr 1956 wird auf die mit der agrégation in Verbindung stehende Flut an Arbeit hingewiesen, die Derrida zunächst als Mitarbeiter Althussers, und schließlich auch selbst als agrégé-répétiteur erlebt. »Nur ein kleines Wort, um dir meinen freundlichen und treuen Gruß zukommen zu lassen ohne deine Erholung unterbrechen zu wollen; ich hoffe darauf, dass sie ganz wirksam ist. Ich bin sicher, dass diese wenigen Wochen des Rückzugs dir gut getan haben. Ich war traurig darüber, dich ›so müde‹ zu sehen, der agregativ-administrativen Aufruhr ausge– setzt.«19 17 »J’aimerais bien avoir des nouvelles de toi, de ta santé, de cette année d’école. Je me sens coupé de tout ici ; les nouvelles m’arrivent avec beaucoup de retard et malgré mon inquiétude pour tout ce qui se passe en France, en Algérie, et ailleurs en Europe, des délais, la part que les gens y prennent ici, et donc me rendent tout cela douloureusement lointain et abstrait. J’aimerais parler avec toi de tout ce qui s’est passé pendant ces dernières mois an Algérie, en Afrique, à Paris etc etc, et de mille autre chose encore. J’aurais bien envie de passer quelques longs moments dans ce bureau où tu m’as toujours si amicalement reçu. Parfois la nostalgie de Paris, de l’école, des amis que j’y ai laissés, me reprend et m’abat d’un coup comme une étrange maladie… Mon cher Althusser, j’aurais mille choses à te dire. Mais dans quelques mois je serai à Paris. Rien de ce que je pourrais te raconter n’est urgent, sinon ceci qui compte seul, dans cette pauvre lettre: Je te garde une très fidèle et très affectueuse amitié, te demande de pardonner mon long silence et de ne pas te venger en te taisant trop longtemps à ton tour., J. Derrida« (DA 5, Cambridge, 11.02.1957). 18 »j’éprouve et connais trop le poids naturel du temps qui passe, et la dispersion des occupations et travaux, pour te faire jamais grief de ton silence!« (AD 7, Paris, 18.02.1957). 19 »Juste un petit mot pour te faire parvenir mon amical et fidèle salut sans troubler ton repos ; je l’espère pleinement efficace. Je suis sûr que ces quelques semaines de re-
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Im Alltag scheint es sowohl für Derrida als auch Althusser schwer gewesen sein, neben alltäglichen universitären Belastungen diesen Raum für die Freundschaft zu finden. Immer wieder wird von Erschöpfung gesprochen. Dieser Brief zeugt von einer konstanten Belastung durch die agrégation. Acht Jahre später wird Derrida selbst agrégé-répétiteur an der ENS.20 Die agrégation ist zentrales Thema schon lange bevor Derrida selbst die Stelle inne hat, sie bewegt sich wie ein konstanter Faden durch Derridas und Althussers Korrespondenz und erklärt die immer wieder festgestellte aufgeschobenen freundschaftlichen »Pflichten«. 21 Diese berufliche Enge scheint die Freundschaften gefährden zu können: »Seit der agrégation verfalle ich der Macht tausender völlig externer Sachen, besonders den Vorbereitungen kleiner und großer Reisen. […] Ich schien dabei meine Freunde zu vergessen. Es war nichts, das weißt du genau.«22
Wenn die Arbeit den Raum nimmt, die für Freundschaft notwendig ist, dann ist es dem Freund, als komme die Antwort immer im Verzug. Am 11. Februar 1957 schreibt Derrida aus Harvard. Derrida beschäftigt sich zu diesem Zeitpunkt mit der Übersetzung von Husserls Ursprung der Geometrie. Gleichzeitig ist der Algerienkrieg präsent, aber Derrida ist in Harvard nur durch die Briefe von Freunden und Nachrichten in Kontakt damit. 23 Dass es einen traite t’auront été bienfaisants. J’étais triste de te voir ›si fatigué‹, exposé aux vents agrégativo-administratifs« (DA 2, Paris, 25.04.1956). 20 Die agrégation de philosophie wird als zentraler Bestandteil der französischen Eliteschaffung betrachtet, die starken Einfluss auf Stil und Inhalte späterer Philosophien hat, sie befindet sich zwischen der thèse de mémoire und dem Anfang der Doktorarbeit, und erlaubt denen, die sie bestehen, den Zugang zu Universitätsposten (vgl. Baring, The Young Derrida and French Philosophy, 223). Vgl. auch: »The importance of the agrégation can be shown in three central areas: the constitution of major themes and trends in French thought, the production of a French philosophical community, and finally the style of philosophy undertaken in France« (ebd., 226). 21 Möglicherweise hat Derrida, der 20 Jahre lang an der ENS war, sogar die meisten seiner Bücher auf der Basis dessen geschrieben, was er mit seinen Studierenden als Vorbereitung auf die agrégation erarbeitete. Das legt Barings Lesart nahe (vgl. Ebd., 223). 22 »Depuis l’agrégation, je me suis laissé gagner par la force de mille choses bien extérieures, en particulier les préparatifs des petits et grands voyages. Puis ce fut la saumure familiale. J’en ai paru oublier mes amis. Il n’en a rien été, tu le sais bien« (DA 4, El-Biar, 30.08.1956). 23 Vgl. Peeters, Derrida, 116 f.
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Verzug gegeben hatte, scheint mehr als ein bloßer Eindruck Derridas. Sogar, dass er im Februar 1957 Marguerite Aucouturier heiraten würde, hatte Derrida vergessen zu schreiben: »ich bitte dich um Entschuldigung. Seit langem schon möchte ich dir schreiben, um dir einige Neuigkeiten zu berichten, dich um welche zu bitten, vor allem, und dir versichern, dass ich dich nicht vergesse. Und dann ist die Zeit ohne mich vorangeschritten. In erster Linie weil ich von Reise zu Reise geeilt bin, von Neuerung zu Neuerung, dann, gegenteilig, als ich mich in Cambridge niedergelassen hatte, habe ich angefangen, eine provinzielle Zeit vorbeiziehen lassen, worin die gegenständlichen Anhaltspunkte, die ›Ereignisse‹, die uns zum objektiven Leben bringen, so abwesend wie möglich sind. Auch habe ich nicht gewusst die Zeit ›einzuschätzen‹. Nach einem bewegten Sommer, wie du dir vorstellen kannst, im Kreis meiner Familie in Alger, nach dieser wunderbaren transatlantischen Reise, das faszinierte Staunen vor New York, wovon ich schon beeindruckt zurückgekommen bin, verführt von dem Mysterium dieser Stadt ohne Mysterium, ohne Geschichte, ganz im Außerhalb. Ich habe mich schnell auf einen einsamen Alltag, mit Marguerite (ja, ich kündige es dir in Klammern an, entschuldige dies, die am wenigsten in Klammern stehende Sache in meinem Leben: Ich werde sicher vor meiner Rückkehr Marguerite Aucouturier heiraten, die ich mich freuen werde dir im Juni vorzustellen) eingelassen, in diesem Bostoner Vorort, den man die Universität von Harvard nennt.«24
Hierin ist der Bezug zur Zeit aufschlussreich. Nicht nur wird davon berichtet, dass eine gewisse Zeit ohne Derrida verstrichen sei, sondern auch davon, dass er 24 Ausführlich im Original: »Cambridge, le 11 février 57 Mon cher Althusser, je te demande pardon. Il y a bien longtemps que je veux t’écrire pour te donner quelques nouvelles, t’en demander, surtout, et t’assurer que je ne t’oublie pas. Et puis le temps a passé sans moi. D’abord parce que j’ai été précipité de voyage en voyage, de nouveautés en nouveautés, puis, au contraire, une fois installé à Cambridge, j’ai commencé à laisser filer un temps provincial où les repères objectifs, les ›événements‹ qui nous rapportent à la vie objective sont aussi absents que possible. Aussi n’ai-je pu ›mesurer‹ le temps. Après un été agité, comme tu l’imagines, dans ma famille, à Alger, après ce magnifique voyage trans-atlantique, l’émerveillement fasciné devant New York – où je suis déjà retourné, impressionné, séduit par le mystère de cette ville sans mystère, sans histoire, tout au dehors. Je me suis vite enfoncé dans un quotidien solitaire, avec Marguerite (oui, je t’annonce entre parenthèse, excuse m’en, la chose la moins parenthetique de ma vie: Je me marierai sans doute ici avant mon retour, avec Marguerite Aucouturier, que je serai heureux de te faire connaitre en Juin) dans cette banlieue de Boston qu’on appelle Université de Harvard.« (DA 5, Cambridge, 11.02.1957).
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die Zeit nicht ›einschätzen‹ konnte, und dann davon, dass einerseits die Zeit sich ausdehnte, verstrich, und gleichzeitig bestimmte Ereignisse (»die uns zum objektiven Leben bringen«) diese eine Zeit (»provinzielle Zeit«, die die vorbei zieht) nicht zu betreffen schienen. Es ist, als hätten sich im Eindruck Derridas zwei verschiedene Zeiten eröffnet, die in der er zu leben hat oder leben sollte. Eine davon geht immer schon voraus, und eine andere ist die, in der er lebt. Dem folgend, hatte Derrida nur leben können, indem er sich diese Gegenzeit gebildet hat, ganz konkret in Cambridge durch den Rückzug. In New York ist dies ganz anders. Hier hatte er auch keine Zeit, aber wiederum wird die Zeit in New York anders erfahren. Es ist die Stadt, die ihn »beeindruckt« gelassen hat, im »Staunen«, aber auch »von Neuerung zu Neuerung« springend. Hier waren es einerseits das Eilen von einem Ort zum anderen, und in Cambridge die mangelnde Eile, die ihn davon abhielten zu schreiben. Aber auch hier entsteht wieder der Eindruck, leben ist nur möglich durch das Im Erleben sein der Gegenwart. Als ein Gegensatz dazu wird das Schreiben gesehen, wofür Derrida eine ganz andere Zeit gebraucht hätte. Diese für das Schreiben notwendige Zeit scheint es hiernach nicht zu geben, auch wenn es sich nur um einen Eindruck handelt (denn Derrida schreibt freilich in dieser Zeit, und das nicht wenig; zum Beispiel diesen Brief an Althusser). Zwei Jahre später ist der Eindruck von zu wenig Ruhe und Zeit, um dem anderen zu schreiben, immer noch da. Und doch ergibt sich da plötzlich die notwendige Zeit. 1959 schreibt Derrida Althusser, dass er hoffte, ihm hatte früher schreiben zu können, aber dies erst von Koléa aus geschafft hatte, wo er Ruhe fand.25 Die sich auftuende Zeit wird hier in Zusammenhang mit einem Ort gebracht, an dem es möglich war zu schreiben. Dies ist aber nur ein Moment der Unterbrechung, bevor in Paris wieder Zeit fehlt, dieses Mal dafür, sich privat zu treffen. 1965 arbeiten Derrida und Althusser wieder zusammen an der ENS, Derrida nun selbst als agrégé-répétiteur: »Im nächsten Jahr müsste man sich auch öfter außerhalb der Anliegen der École sehen. Dabei wollte ich dir auch sagen, dass ich froh war dieses Jahr an deiner Seite gearbeitet zu haben. Aber du weißt das gut. Seien wir beide voller Kraft im September. Vertraue auf meine altbekannte Zuneigung.«26
25 »Mon cher Althusser, je pensais t’écrire plus tôt mais il m’a fallu attendre le retour dans mon paisible Koléa pour le faire.« (DA 6, Koléa, 04.09.1959). 26 »Oui, nous viendrons la découvrir. Il faudra aussi se voir plus souvent l’an prochain hors des soucis de l’Ecole. Où je voulais aussi te dire que j’ai été heureux de travailler à tes côtés cette année. Mais tu le sais bien. Soyons tous deux pleins de force en septembre. Crois à ma vielle affection« (DA 16, Fresnes, 02.08.1965).
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Es scheint neben der Arbeit nur selten möglich gewesen zu sein sich zu treffen. Die hohe Anspannung Derridas und das Gefühl, den Anforderungen im Beruflichen nicht gerecht werden zu können und auch die Beobachtung, dass der Raum für Privates fehlt, werden durch die Aussage, er könne schlecht atmen, unterstrichen; »Außerdem atme ich generell schlecht. Draußen ist tristes Wetter, ich bin fast allein (Marguerite und Pierre sind in Charente) und das, was ich zu schreiben versuche, geht kaum voran. Ich habe den Eindruck Perlen außerhalb meiner Reichweite zu sehen, wie ein Fischer der Angst vor dem Wasser hätte, während er sich perfekt mit Austern auskennt… Das Wasser, der Ozean, sind gerade jetzt die Linguistik und die Kybernetik.«27
Eine interessante Beobachtung ist die, sich aufgrund der zu nahen Sichtweise nicht in ein Arbeitsgebiet stürzen zu können. Dies ist auch deshalb aufschlussreich, weil Derrida als Urvater des Close Reading bekannt geworden ist. Das schlechte Atmen, die Beobachtung, nicht voran zu kommen, und nicht weit genug sehen zu können, sind Ausdruck davon, dass auch für das Schreiben, das Derrida hier versucht, ein gewisser Raum und auch eine gewisse Nähe, aber auch Distanz notwendig ist, in dem dies stattfinden kann. Auch hier wieder entsteht der Eindruck, zum Schreiben bräuchte man eine Art Paralleldimension, die vielleicht auch eine parallele Zeit ist. Dieser Raum ist nicht notwendigerweise ein äußerer. 1971 schrieb Althusser an Derrida über diesen der Freundschaft notwendigen Raum: »Wenn du da wärst, das wäre schön aber wir sind auch froh, dass du dort bist. Jedenfalls halten wir den Betrieb ohne jegliche Schwierigkeit oder Überlastung aufrecht. Nimm dir all die Zeit die du brauchst, der Geist ebenso frei wie die Luft.«28
27 »Je respire mal en général d’ailleurs. Il fait un temps triste, je suis à peu près seul (Marguerite et Pierre sont en Charente) et ce que j’essaye d’écrire n’avance guère. Je me donne l’impression de voir des perles hors de portée, comme un pécheur qui aurait peur de l’eau alors qu’il s’y connaît parfaitement en huitres … L’eau, l’océan, en ce moment, c’est la linguistique et la cybernétique« (DA 16, Fresnes, 02.08.1965). 28 »Nous avons refusé officiellement les demandes d’auditeurs libres, qui se multiplient du fait qu’il n’y a aucune préparation technique à l’Agrégation ni en Sorbonne (I,IV) ni à Nanterre: mais latéralement nous en avons pris quelques uns ›à titre privé‹. Tu vois: le train-train. Tout va bien. Si tu étais là on serait contents, mais on est aussi contents que tu sois là-bas. En tous cas on tient le coup sans aucune difficulté ni surcharge. Prends tout ton temps, l’esprit aussi libre que l’air« (AD 38, o.O., 29.10.1971).
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Was schreibt und was tut Althusser hier? Er macht ihm deutlich, dass sie ohne Derrida den Betrieb aufrecht erhalten können, und bedeutet ihm mit der Formulierung »Nimm dir all die Zeit die du brauchst«, dass die Freundschaft auch darüber hinaus noch bestehen bleibt. Er deutet hierin darauf hin, dass die Zeit nicht nur eine objektive Dimension hat, die einer verstreichenden Uhr, in der auf eins zwei folgt und so weiter, sondern dass die Zeit, von der Derrida immer wieder spricht, um schreiben zu können, eine ist, die er sich nehmen könne. In diesem Sinne gibt Althusser Derrida etwas. Er gibt ihm nicht die Zeit, um zu schreiben oder dort Dinge zu erleben. Aber er eröffnet ihm eine neue Weise, über seine Zeit nachzudenken, was freilich eine Weise sein kann, Raum zu schenken. In diesem Brief berichtet Althusser also nicht nur vom Vorübergehen seiner eigenen Zeit (»halten wir den Betrieb«), sondern er bietet Derrida auch Raum, damit er sich Zeit für sich nehmen kann. Er scheint nicht darauf zu drängen, dass Derrida ihm schreibt. Einmal bezeichnet Althusser seinen Brief an Derrida eine »Flaschenpost«: »Cher vieux, Flaschenpost… rein zufällig, falls du noch (was ich für dich nicht hoffe) in Paris sein solltest.«29 Da scheint der Raum zwischen ihnen gerade etwas zu groß zu sein, weil er nicht weiß, ob sein Brief ankommt. Dennoch werden die Belange des anderen mitgedacht und er drückt aus, dass er das für den anderen Beste wünscht. 1987 schreibt Althusser, dass er an Derrida denkt, und macht ihm deutlich, dass es ihm nicht gelingt, sich an den Platz seines Freunds zu begeben: »Ich habe nicht aufgehört an dich zu denken, eingeschlossen deine Stille, deine Sorge, deine Sorgen, auch wenn ich sie nicht im Detail kenne. Es ist wahr: Du hast kein Leben der Leichtigkeit gewählt und du begegnest täglich der Gefahr mit einem Mut und einem gewissenhaften Feingefühl, das ich zutiefst schätze. Zum Glück hast du eine Welt voller Freunde. […] Zum Glück weißt du ein Freund zu sein und dir Freunde zu machen. Ich bin sehr berührt von deinem angenehmen Feingefühl. Ich sehe immer weniger Menschen. Dies dauert schon zu lang an und die Depression schließt den Deprimierten in sich ein, was den Austausch unterbricht.«30 29 »Cher vieux, Bouteille à la mer… à tout hasard, si tu étais encore (ce que je ne souhaite pas pour toi) encore à Paris« (AD 26, Paris, 21.08.1965). 30 »Je n’ai cessé de penser à toi, comprenant ton silence, ton travail, ton souci, tes soucis même si j’en ignore le détail. C’est vrai: tu n’as pas choisi la vie de la facilité et tu abordes chaque jour le danger avec un courage et une pudeur scrupuleuse que je respecte profondément. Heureusement tu as un monde d’amis. […] Heureusement tu sais être ami et te faire des amis. Je suis très touché par le bonheur de ta délicatesse. Je vois de moins en moins de monde. Cela dure depuis trop longtemps et la dépression renferme le déprimé en lui, ce qui coupe l’échange« (AD 43, o.O., 04.11.1987).
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In Althussers Schilderung oder Vorstellung ist Derrida umgeben von einer Reihe von Freunden. Seinen eigenen Ort beschreibt er als einen, an dem er sich eingeschlossen fühlt und in der Depression von Gesprächen abgeschnitten. Es scheint ein besonders großer Unterschied zutage zu treten. Dennoch unterbindet dies nicht, dass Althusser von Derridas angenehmem Feingefühl berührt ist. In der Beschreibung der eigenen Enge scheint er Derrida keinen Vorwurf zu machen. Konfrontationen hatte es in dieser Zeit für Derrida tatsächlich gegeben. Im November 1987 war Derrida mit den Vorwürfen im Rahmen der Farias-Affaire beschäftigt, in denen es um die Frage ging, ob er sich genügend von Heideggers Nazismus distanziert hätte.31 Die »Welt voller Freunde«, wie Althusser sie nennt, bekommt dort noch diese andere Konnotation. Indem Althusser ihm dies vergegenwärtigt, darauf rekurriert, dass Derrida viele Freunde habe, so scheint es, gibt er auch diese notwendige »Welt«, die es braucht, um Freundschaft zu haben. Hierin zeigt sich Althusser als gar nicht in die eigene Gedankenwelt eingeschlossen, sondern vielmehr als guter Freund. Hiernach könnte man vermuten, dass Freundschaft in der Fähigkeit liegen kann, einander eine Zeit und einen Raum zu geben, der für die Freundschaft, oder genauer, für den Freund, reserviert ist. Diese Freundschaft aber kann sich nur innerhalb der anderen Zeiten und Räume ansiedeln, die das Leben sonst noch bereit hält. Die Freundschaft der beiden ist in eine Welt eingebettet, in der das Ideal Aristoteles’, man möge mit seinen Freunden leben, aus der Zeit geraten scheint, aber doch etwas bezeugt wird, was Derrida nach dem Tod Althussers eine gemeinsame Welt nennt: »Was endet, was Louis mit sich nimmt, ist nicht nur dies oder das, was wir im einen oder anderen Moment, an diesem oder jenem Ort geteilt hätten, es ist die Welt selbst, ein bestimmter Ursprung der Welt, der seine, gewiß, aber auch der jener Welt, in der ich, in der wir eine einzigartige, auf alle Fälle unersetzliche Geschichte gelebt haben, die für jeden von uns diesen oder jenen Sinn gehabt haben wird, wenn es auch nicht derselbe sein kann, auch nicht derselbe wie für ihn; das ist eine Welt, die für uns die Welt ist, die einzige Welt, die in einem Abgrund versinkt, aus dem kein Gedächtnis – selbst wenn wir es bewahren, und wir werden es bewahren – sie wird retten können.«32
31 Hierzu Peeters, Derrida, 465ff. Dies ist für Derrida auch der Moment an dem er und der Freund Philippe Lacoue-Labarthe sich voneinander zu distanzieren beginnen, und er wiederum sich Jean-Luc Nancy stärker annähert (vgl. Ebd., 472 f.). 32 Derrida über Althusser, JME, 150.
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Es ist nicht »die einzige Welt«, aber eine »einzigartige« Welt, die zwischen Freunden entsteht, auch und gerade da, wo sie zusammenbleiben, obwohl sie nicht an allen Orten zusammen sind.
›WELTLICHE‹ PFLICHTEN. AUFGETEILT ZWISCHEN ALTHUSSER UND DERRIDA. DANK UND ENTSCHULDIGUNGSFORMEN Wenn Derrida 1956 schreibt, Althusser duzend, »Glaube an meine sehr treue Freundschaft, J. Derrida«, 33 ist dies dann ein Zeichen von Freundschaft? Wie sehr sind die beiden freundschaftlich verbunden? Handelt es sich um eine Arbeitsbeziehung? Wie sehr ist die Freundschaft eine Frage der Form oder des Inhalts? Nicht nur in den Briefen zwischen Althusser und Derrida sind Dank und Entschuldigung wichtige formale Motive, auch wenn hier speziell diese Briefe als Gegenstand der Analyse ausgewählt wurden. Es scheint sogar so, als spielten Dank und Entschuldigung in allen gelesenen Briefen eine sehr große Rolle. Als metakommunikative Elemente könnten im Folgenden auch Dankesformeln und Entschuldigungen behandelt werden, die in sehr vielen Briefen eine Rolle spielen. Allerdings muss diese Zuordnung zunächst vorläufig bleiben. Bleiben wir zunächst bei Derrida und Althusser und bei der Funktion, die Dank und Entschuldigung in ihren Briefen haben. Aus Paris äußert sich Althusser im April 1956 Derrida gegenüber entschuldigend: »Ich habe dich ganz schön genervt. […] Erhol dich gut. Mach dir keine Sorgen um uns, noch um irgendwas. […] Antworte mir nicht, wenn das dich auch nur ein kleinstes Bisschen anstrengt.«34 Althusser ist zu diesem Zeitpunkt in Épinay hospitalisiert.35 Derrida hingegen fährt nach Harvard: »Dank eines Vorschlags […] fahre ich zweifellos im September für 10 Monate nach Harvard. Ich
33 Vgl.: »Et crois à ma très fidèle amitié, J. Derrida« (DA 2, Paris, 25.04.1956). 34 »Je t’ai bien ennuyé. Il ne faut pas en vouloir à un agrégatif fatigué. Repose toi bien. Ne te fais pas de soucis pour nous, ni pour rien. Nous aurons encore tous de très beaux jours. Ne me réponds pas si cela te fatigue le moins du monde.« (DA 2, Paris, 25.04.1956). 35 Althusser, L’avenir dure longtemps, 538. Für einen historischen Überblick vgl. d ieses biografische Werk.
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mache es ohne Enthusiasmus, weil das Verlassen von Paris und meiner Freunde mir große Angst macht.«36 Trotz wiederkehrender Krankheiten Althussers und der zunehmenden Reisen Derridas bleibt auch der Austausch über berufliche Themen bestehen. Althusser beschreibt 1957 das Problem der Überfülle und beschließt: »Dass ich dir einige Neuigkeiten dieses alten Hauses gebe. Wir haben 20 zusätzliche Wissenschaftler im letzten concours aufgenommen. Die Probleme der Unterkunft waren furchtbar zu Beginn des Jahres. Wir haben thurnes37 in der alten Sporthalle aufgebaut, die Externen in der Docu untergebracht, fast alle thurnes du Palais in Zimmer verwandelt. Der alte Musikraum ist ein wundervoller Cercle geworden. Dieses Jahr hat man in dem neuen Turnraum getanzt und in einem großen Saal, der für die Vergrößerung der Bibliothek vorgesehen ist, – der Ball war vorgestern, zweifellos seit langem der glanzvollste.«38
Von 1957–1959 ist Derrida zum Militärdienst in Koléa, um Nachrichten über Nordafrika von Englisch nach Französisch zu übersetzen. 39 Ausführlicher bedankt sich Althusser im Juli 1959 für Derridas Lektüre seiner Briefe: »Ich antworte ziemlich spät auf deinen so freundschaftlichen und großzügigen Brief von Anfang Juni. Er hat mir sehr große Freude bereitet und hat mich davon überzeugt, dass man das Risiko eingehen kann zu schreiben, wenn man das Glück hat mit so viel Interesse, Nachsicht und Aufmerksamkeit gelesen zu werden. Danke aus ganzem Herzen für all 36 »Grâce à une proposition [uWW], je partirai sans doute pour Harvard en Septembre pour 10 mois. Je le fais sans enthousiasme car quitter Paris et mes amis me terrorise. Mais c’est la seule façon d’obtenir [dW] [uWW, er spricht vermutlich von Geld, nt] supplémentaire pour l’année et le secondaire« (DA 2, Paris, 25.04.1956). 37 »Thurnes« werden im Jargon der ENS die Studierzimmer genannt, der »cacique« ist der beste Student einer Prüfung (vor allem der Aufnahmeprüfung), »pot« ist der Essenraum, »caiman« der Direktor der Studien und »archicube« ist der Schüler (Baring, The Young Derrida and French Philosophy, 87). 38 »Que je te donne quelques nouvelles de cette vieille maison. Elle est bourrée d’élèves. On a pris 20 scientifiques de plus au dernier concours. Les problèmes de logement ont été terribles au début de l’année. On a construit des thurnes dans l’ancienne salle de Gym, logé des externes dans la Docu, transformé en chambres presque toutes les thurnes du Palais etc. L’ancienne salle de musique est devenue un magnifique Cercle. On a dansé cette année dans la nouvelle salle de gymnastique et dans une immense salle destinée à l’agrandissement de la bibliothèque,– c’était avant-hier le Bal, sans doute le plus brillant depuis longtemps.« (AD 7, Paris, 18.2.1957). 39 Vgl. ausführlicher bezüglich dieser Zeit: Peeters, Derrida, S. 121-138.
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deine Gedanken und für die Fragen, die du dir, wegbereitend, stellst. Aber ich hoffe, dass wir in diesem Essay eines Tages über all das Gewagte was ich, mit dir, sehe, sprechen können.«40
Althusser bedankt sich für Gedanken und Fragen Derridas. Nicht nur der Brief wird wertgeschätzt, sondern auch, dass der andere die eigenen Texte gelesen habe. In dunkelblauer Tinte schreibt – am 04. September 1959 – Derrida an Althusser, diesmal aus Koléa, und behält den Rhythmus der vorangestellten Entschuldigungen bei: »Muss ich dir sagen, wie sehr ich dir für deine freundschaftliche und ermutigende Haltung während meiner Durchreise nach Paris und schon vorher, in deinem Brief und in allem, dankbar bin? Aber das ist auch nichts Neues. Und wenn ich glücklich über die Pariser Perspektive bin, ist das besonders, das weißt du gut, weil sie mich der Ecole näher bringt, wo du bist.«41
Gedankt wird aber darüber hinaus für eine freundschaftliche Haltung, die mit einer ebenso freundschaftlichen Geste beantwortet wird: Die Aussicht auf eine berufliche Perspektive in Paris scheint Derrida gerade deshalb reizvoll, weil sie die Freunde einander annähert.42 Die Präsenz des Freunds wird herbeigewünscht, und das gemeinsame Arbeiten steht damit in Verbindung. Der ausführliche Dank, der auf Freundschaft referiert, steht damit in Verbindung, dass Althusser Derrida in dieser Zeit tatsächlich unterstützte. 40 »Je réponds bien tard à ta lettre si amicale et si généreuse du début de juin. Elle m’a fait le plaisir le plus vif, et m’a convaincu qu’on pouvait se risquer à écrire, quand on avait la chance d’être lu avec tant d’intérêt, d’indulgence et d’attention. Merci du fond du coeur pour toutes tes pensées, et pour les questions que, chemin faisant, tu t’es posées. Mais j’espère que nous pourrons parler un jour de tout le téméraire que je vois, avec toi, dans cet essai« (AD 13, Paris, 15.07.1959). 41 »Dois-je te dire combien je te suis reconnaissant de ton attitude amicale et réconfortante lors de mon passage à Paris et bien avant, dans ta lettre, et en tout? Mais cela non plus n’est pas nouveau. Et si je suis heureux de la perspective parisienne, c’est en particulier, tu le sais bien, parce qu’elle me rapproche de l’Ecole, où tu es« (DA 6, Koléa, 04.09.1959). 42 Wenige Tage später wurde die Unabhängigkeit Algeriens spruchreif, als de Gaulle am 16. September 1959 eine Rede hält. Derrida leistet hier seinen Militärdienst ab. Es ist kurz vor Ende des Militärdiensts, Mitte November zieht er dann nach Le Mans um, wo er im Knabengymnasium zu unterrichten anfängt (vgl. hier und folgend Peeters, Derrida, 139 ff.).
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Althusser schrieb am 06.10.1959: »Danke für die schnelle Antwort und die Dokumente, die du mir anvertraust.«43 Zu dieser Zeit befindet sich Derrida in Koléa, wo er seinen Militärdienst ableistet. In dieser Zeit beschäftigte ihn die mögliche Freistellung zum Hochschuldienst, bei der ihn Althusser versucht zu unterstützen.44 Auch aus Koléa, schreibt er schon am 21.10.1959 an Althusser von seiner Dankbarkeit für ihn: »Mein lieber Althusser, ich zähle die Schuldtitel nicht mehr, die du in meiner Dankbarkeit hast […] ich habe viel Glück…«45 Im Juli 1960 hatte Derrida erfahren, dass er von seiner ihn unterfordernden Stelle im Gymnasium an die Sorbonne wechseln kann.46 Häufig entschuldigt sich Derrida selbst bei Althusser für die mangelnde Zeit, ihm zu schreiben. Die Eile – so schreibt er – hält ihn davon ab, längere Briefe zu schreiben: »Ich schreibe dir in völliger Eile, an der Tür. Entschuldige diesen Entwurf.«47 Auch wenn die Eile ein wiederkehrendes Thema Derridas Briefe an Althusser ist, sagt sie nicht notwendigerweise etwas über die Fähigkeit zur Freundschaft aus, sondern auch darüber, wie Derrida sein Leben über lange Zeit empfunden hat. Nicht nur Derrida beschreibt diese Angespanntheit. Sie ist das, was häufig im Briefkontakt ausgedrückt wird, möglicherweise auch, um sich zu rechtfertigen, warum eine briefliche Antwort nicht früher kam. Einige Jahre später, 1964, wird sich brieflich immer noch ausgiebig bedankt. Für die Briefe und darüber hinaus schreibt Althusser: »Danke von ganzem Herzen, ja aus ganzem Herzen für all das, was du tust – und danke vor allem für das, was du bist, der du bist«.48 Der Dank für Hilfe und Unterstützung in praktischen Dingen wird verbunden mit einem Dank für den Menschen und verknüpft sich so an seine Freundschaft. Aber auch hier ist der Dank in eine Situation, in einen Kontext eingebunden. Diese Worte schreibt Althusser 1964, in dem Jahr als Althusser langfristig hospitalisiert ist. Auch in diesem Jahr hatte Derrida sich ausführlich mit Althussers Text zu Marxismus und Humanismus beschäftigt. Ebenso wechselt Derrida in diesem Jahr von einer Beschäftigung an der Sor-
43 »Merci de cette rapide réponse et des documents que tu me confies« (AD 10, Paris, 06.10.1959). 44 Peeters, Derrida, 120 ff. 45 »Mon cher Althusser, je ne compte plus les titres que tu as à ma gratitude. […] j’ai beaucoup de chance…« (DA 13, Koléa, 21.10.1959). 46 Peeters, Derrida, 143. 47 »Je t’écris ceci à toute vitesse, de la porte. Pardonne à ce brouillon. Quelle histoire! Ton ami,« (DA 7, Alger, 08.10. o.J.). 48 »Merci du fond du coeur, oui du fond du coeur pour tout ce que tu fais – et merci avant tout d’être ce que tu es, tel que tu es« (AD 19, o.O., 14.05.1964).
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bonne zur ENS als caïman de philosophie.49 Es wird deutlich, dass die beiden sich in praktischen Lebensfragen stetig unterstützen und einander informieren. 1964 erhält Derrida ein Büro an der ENS und Althusser bespricht mit ihm den Ort seines Büros, wobei die Nähe zu ihrem gemeinsamen Raum ein Kriterium ist.50 Auch kümmern sie sich um darum, sich auf dem Laufenden zu halten. Drei Monate später im selben Jahr 1964 sagt Althusser: »Danke, dich darum gekümmert zu haben, mir all diese guten Neuigkeiten zu verkündigen.« 51 Im selben Brief wird deutlich, dass sie sich besuchen:
49 Vgl. Peeters, Derrida, 187ff. Der caïman de philosophie ist derjenige, der die Studierenden der École normale supérieure für Ihre Studien und Prüfungen vorbereitet. 50 Ausführlich: »Du musst nun ein Büro auswählen welches dir beliebt: entweder im Erdgeschoss, in einer der thurnes die du kennst oder in der ersten Etage (16, 17, 18), wenn du sie vorziehst. Ich hätte gern dass wir über einen Raum für uns verfügen könnten, zusätzlich, für Bücher, Tonbandgeräte, eventuell Schreibkraft und diverse Dokumente. Man könnte ihn ziemlich einfach unten (Bereich deines alten Büros) haben, eher als oben. Ich werde die Anweisung Tabarly überlassen. Du könntest ihm deinerseits schreiben um ihm deinen Wunsch deutlich zu machen, bevor er sich dem kleinen Spiel der Verteilung von thurnes überlässt (er wird sich dieses Jahr sehr auf räumliche Enge beschränken, gemessen an der Anzahl der Schüler). Unten (Bereich deines alten Büros) hat Vorteile: ebenerdig, Nähe zu »unserem Dokumentenraum«), oben hätte auch seine Vorteile: die erste Etage ist heller und man hat eine bessere Sicht auf den Hof. Denk über all dies nach, um vor dem 15. September Tabarly wissen zu lassen, welchen Ort du für dein Büro wählst.« (»Faudra que tu te choisisses un bureau selon ton coeur: soit au rez-de-chaussée, dans une des thurnes que tu connais, soit au 1er étage (16, 17, 18) si tu préfères. Je voudrais aussi que nous puissions disposer d’une salle à nous, en plus, pour bouquins, magnétophones, dactylo éventuellement, et documents divers. On pourrait l’avoir assez facilement en bas (zone de ton ancien bureau), plutôt qu’en haut. Je vais laisser la consigne à Tabarly. Tu pourrais de ton côté lui écrire pour lui indiquer ton voeu, avant qu’il ne se livre au petit jeu de la répartition des thurnes (il va se trouver très à l’étroit cette année, vu le nombre d’élèves). Le bas (région de ton ancien bureau) a ses avantages: de plain-pied, proximité de notre salle de travail-documents) le haut a aussi ses avantages: le 1er étage est plus clair, et on a une vue plus ›cavalière‹ sur la cour. Pense à tout cela, pour faire savoir avant le 15 septembre à Tabarly quel est le lieu que tu choisis, pour ton bureau«) (AD 24, o.O., 24.08.1964). 51 »Merci d’avoir pris soin de m’annoncer toutes ces bonnes nouvelles« (AD 21, o.O., 03.08.1964).
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»Von ganzem Herzen danke dafür, mir euer Haus zu öffnen: Ich weiß nicht recht was ich machen werde, es geht mir nicht gut genug, um Projekte aufrechtzuerhalten, – aber du tust mir einfach gut, indem du mir diese Möglichkeit eröffnest. Ich danke dir von ganzem Herzen dafür, so wie ich dir für das alles danke, was du für mich dieses Jahr, über die Arbeiten der Ecole hinaus, getan hast.«52
Der Dank scheint hier wieder ein beruflicher Anlass zu sein, der aber in der Formulierung über das Berufliche hinausgezogen wird. Ende 1963 wurde Derrida – neben seiner Assistentenstelle an der Sorbonne – maître de conférences an der ENS.53 Seit April 1964 hatte Derrida auch oft Althusser, der in die maison de santé d’Épinay-sur-Seine hospitalisiert wird, in der Vorbereitung der Studierenden auf die concours vertreten.54 Indem Althusser Derrida brieflich wertschätzt und ihm dankt, wird nicht nur die Arbeitsbeziehung aufrecht gehalten und dafür gesorgt, dass er weiterhin Kontakt zu dem, was dort passiert, behält, sondern gleichzeitig ist es der Dank dafür, dass Derrida ihm offensichtlich sein Haus angeboten hatte. Aber wie ließe sich dafür danken? Einfacher scheint es da zu danken, wo es um Dinge des alltäglichen Lebens geht. Es wird 1964 und 1966 in Briefen für so alltägliche Dinge wie das Übersenden seiner Adresse in Nizza gedankt oder für die Mitteilung der neuen Prüfungsergebnisse der Studierenden. 55 Der Briefwechsel zeugt von beruflichem Kontakt, und gleichsam wird auf die Freundschaft implizit und explizit Bezug genommen. Eine Nähe wird zum Beispiel deutlich an dem Grad an Herzlichkeit der Abschiedsformel. So schreibt Althusser schon 1966 an Derrida und seine Frau Marguerite: »Wir küssen euch alle beide, von ganzem Herzen Louis«. 56
52 »Merci de tout coeur de m’ouvrir votre maison: je ne sais trop ce que je vais faire, n’allant pas assez bien pour nourrir des projets,– mais tu me fais du bien simplement en m’offrant cette possibilité. Je t’en remercie du fond du coeur, comme je te remercie de tout ce que tu as été pour moi cette année, bien au-delà des travaux de l’Ecole« (AD 21, o.O., 03.08.1964). 53 Peeters, Derrida, 183. 54 Zwischen April und Juli hatte Derrida Prüfungen an der Sorbonne abgenommen wie auch die Studierenden der ENS auf die agrégation vorbereitet und Althusser bedankt sich (ebd., 185f.). 55 Vgl.: »Je te remercie de m’avoir donné ton adresse à Nice: je ne sais exactement ce que je vais faire au retour d’Italie,- si je ne choisis pas le retour le plus direct, j’irai te saluer.« (AD 28, o.O., 14.08.1966) oder »Merci de m’avoir envoyé la liste des résultats« (AD 24, o.O., 24.08.1964). 56 »On vous embrasse tous les deux, du fond du coeur Louis« (AD 28, o.O., 14.08.1966).
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Dazu zählen nicht nur die versandten Küsse, sondern auch jene Freude, die es machen kann, wenn man einander besucht: »Man sagt sich, dass ihr uns eines Tages vielleicht besuchen werdet, jedenfalls wird man das Notwendige tun, damit es nächstes Jahr Zimmer für Freunde gibt, bis dahin gibt es Notlösungen und man mag sie nicht anbieten. Aber nun ja, euch zu sehen wäre uns eine große Freude.«57
Fast ein Jahr später, im Juli 1967 wird die gemeinsame Übernachtung tatsächlich anvisiert. Althusser spricht darin von der Gastfreundschaft: »Es wäre schön euch auf eurer Durchreise Ende Juli zu sehen. Beachtet alle Vorsichtsmaßnahmen, die für die Reise Marguerites zu nehmen sind. Aber insbesondere und in Hinsicht auf alle unabgeschlossenen Arbeiten wollte ich dir sagen, dass Hélène und ich über die praktischen Vorkehrungen nachgedacht haben, damit ihr die Nacht hier bleiben könnt. Das ist vollkommen möglich und einfach und ohne jeglichen Umstand. Ihr nehmt mein Zimmer in der ersten Etage, in dem es ein großes Bett gibt und in das man eine Matratze für Pierre hineinlegen kann – und ich werde in dem Zimmer unten schlafen, wo es einen Divan gibt. Natürlich wäre es amüsanter gewesen, euch eins der (zukünftigen) neuen Zimmer einweihen zu lassen… aber das bleibt noch für das nächste Mal… Trotz allem, ihr sollt jedenfalls wissen, dass ihr uns eine große Freude macht, wenn ihr diese Gastfreundschaft annehmt, die wir euch von ganzem Herzen anbieten.«58
Die praktischen Absprachen, die bis ins Detail gehen und die dem Gegenüber zu bedeuten scheinen, dass Raum für ihn besteht, »ein großes Bett«, »eine Matratze 57 »On se dit qu’un jour vous viendrez peut-être nous voir, en tous cas on va faire le nécessaire pour que l’an prochain il y ait des chambres d’amis, d’ici là c’est un peu des solutions de fortune et on n’ose les proposer. Mais enfin, vous voir nous serait une grande joie« (AD 28, o.O., 14.08.1966). 58 »On voudrait bien vous voir à votre passage à la fin juillet. Tenez compte de toutes les précautions à prendre pour le voyage de Marguerite. Mais justement, et en fonction de ces travaux inachevés, je voulais vous dire qu’Hélène et moi avions réfléchi aux dispositions pratiques pour que vous puissiez passer la nuit ici. C’est tout à fait possible et simple, et sans aucun dérangement. Vous prendrez ma chambre au 1er, où il y a un grand lit, et où on pourra mettre un matelas pour Pierre,– et je dormirai dans la pièce du bas, où il y a un divan. Evidemment, c’eût été plus amusant de vous faire étrenner une des (futures) nouvelles chambres… mais ce sera pour la prochaine fois. Cela dit, sachez, sans façons, que vous nous ferez un très grand plaisir en acceptant cette hospitalité que nous vous offrons de grand coeur« (AD 33, Gordes, 21.07.1967).
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für Pierre« und die Ankündigung, dass der Gastgeber selbst unten auf dem Divan schlafen wolle, illustrieren die »von ganzem Herzen« angebotene Gastfreundschaft und machen deutlich, dass es Althusser ernst damit nimmt. Ganz anderer Qualität ist das »Merci de ta lettre«,59 welches häufig in Briefen gebraucht wird, um Dank zu äußern. Dies ist aber eher als Standart einer Höflichkeit zu betrachten. Über die Höflichkeit hinaus scheint es hingegen zu gehen, wenn Althusser für seinen Brief dankt und sich dabei auch explizit die Freundschaft beruft: »Mein lieber Althusser, danke für deinen Brief. Er ist, wirklich, von einem Freund. […] Danke nochmals. Dein Freund, J. Derrida.«60 In diesem Brief geht es im Speziellen darum, dass er Althusser eine Menge von Aufträgen gibt, womit er ihn unterstützen kann. Deshalb hat das Aufrufen freundschaftlichem Vokabulars hier auch einen Zweck. Hier wird zu Beginn und zum Schluss explizit auf die Freundschaft rekurriert. Eine direkte Benennung des Freunds als Freund ist in Derridas Texten selten. Aber in Briefen ist vielleicht gerade diese explizite Benennung des Freunds der Form nach notwendig und auch deshalb, weil das Gegenüber so stärker der Freundschaft des Abwenden versichert werden kann. Und diese expliziten Formulierungen tauchen tatsächlich selten auf. Das hat mindestens folgenden Grund: Schon 1956 schrieb Derrida an Althusser, warum er ihm nicht danken wolle. Er fürchtet, dass die formelle Danksagung ihr freundschaftliches Verhältnis stören könne.61 Die »Formulierungen respektvoller Distanz« werden von Derrida als Gegensatz empfunden zur »liebevollen Freundschaft«, die Althusser ihm bezeugt habe.62 Es scheint also, als würde die formalen Danksagungen im Brief zu einer Bewegung führen, die der Freundschaft entgegen streben. Hiervon ausgenommen müsste dann jedoch jener Raum sein, den Althusser bezeichnete, als er Derrida verbal Raum und Zeit gewährte. Zu viel Abwesenheit scheint nicht zuträglich zu sein, zu viel Beschäftigung dazu zu führen, dass man ständig in Eile ist und es an Zeit für Briefe mangelt. Es geht also um das richtige Maß von Höflichkeit und darum, seinem Freund zu bezeugen, dass die Freundschaft darin, aber nicht nur darin besteht, einander angemessen wertschätzend zu adressieren.
59 DA 16, Fresnes, 02.08.1965. 60 »Mon cher Althusser, Merci de ta lettre. Elle est d’un ami, vraiment. […] Merci encore. Ton ami, J. Derrida« (DA 8, Koléa, 05.10. o.J., müsste wegen des Orts Koléa 1957–1959 sein. 61 Zitiert ausführlich a.a.O. (DA 4, El-Biar, 30.08.1956). 62 Ebd. (DA 4).
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BRÜDERLICHKEIT I: FREUNDSCHAFT ALS FRAGE DER NATUR (CICERO, ARISTOTELES) Das Folgende könnte nun wie ein Bruch wirken, allerdings erscheint es hier notwendig, auf in der Politik der Freundschaft aufgeworfene Fragen einzugehen, um die Perspektive auf Derridas Freundschaft nicht auf die Briefe beschränkt zu halten und um die Untersuchung durch weitere inhaltliche Bezüge zur Frage von Politik und Freundschaft zu bereichern. Die Politik der Freundschaft beginnt Derrida mit Cicero und das dem Werk vorangestellte Zitat enthält viele der wiederkehrenden Motive, anhand derer Derrida seinen Text wie ein komplexes Musikstück aufbaut. Der Politik der Freundschaft, um die es hier im Zentrum geht und immer wieder gehen wird, steht also ein einziges Zitat voran. Es ist das folgende: »›Quocirca et absentes adsunt […] et, quod difficilius dictu est, mortui vivunt…‹ ›So kommt es, daß Abwesende zugegen […] und, was man kaum in Worte fassen kann, Tote lebendig sind…‹ Cicero, Laelius de Amicitia«63
Derrida gibt mit diesem Rekurs seinem einzigen Buch über Freundschaft eine Richtung. Er macht deutlich, dass es eine Umkehrung oder eine Wendung geben wird. Er wird zeigen, dass sich die Philosophie der Freundschaft stets mit der Abwesenheit beschäftigt hat. Im zitierten Teilsatz Ciceros geht es um lebendige Tote und um gegenwärtige Abwesende. Diese Umkehrung wird Derrida nicht vollziehen, sie scheint aber die Grenz- oder auch die zentrale Frage zu sein, um die sich die folgenden Überlegungen herum spinnen. Es wird außerdem gezeigt werden, warum es kein negativer Umstand sein muss, die Freundschaft mit dem Tod in Verbindung zu bringen. Der Vokativ, mit dem Derrida jede Sitzung seines Seminars über die Freundschaft beginnt, auf dem die Politik der Freundschaft beruht und über den man von Derrida über Montaigne zu Aristoteles gelangt, weil der Satz immer wieder zitiert wird, ist: »O meine Freunde, es gibt keinen Freund«.64 Dieses legt den ersten Strang offen, um den es im Folgenden geht; die Frage des Tods und der Abwesenheit in der Freundschaft. Zugleich wird in einem weiteren Zug in Richtung der Freilegung der Freundschaft von der Qualität eines
63 PdF, 7. 64 Ebd., 18.
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Bruders ausgehend operiert. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Freundschaft außerhalb vom Politischen gedacht wird, innerhalb derer die Politik der Freundschaft anzusiedeln ist. Ich argumentiere dafür aus folgenden Gründen. Erstens ist zu beachten, dass Derrida die Politik der Freundschaft zum 200jährigen Jubiläum der Französischen Revolution publiziert und dies in seiner Arbeit anmerkt, und zweitens ging es im vorangehenden Vorlesungszyklus um Die Nationalität und der philosophische Nationalismus, sowie um Den Anderen verzehren (Rhetoriken des Kannibalismus) und danach um Fragen der Verantwortung.65 Drittens muss in diesem Kontext erwähnt werden, dass Derrida ganz zu Beginn ankündigt, er habe keine »Urszene« der Freundschaft, eher »eine Art Vorspiel«66 geschrieben, worin es darum ginge, von einer Freundschaft zu träumen, die »über die Nähe des gleichartigen und gleichgeschlechtlichen Doppels«67 hinaus weise. Er will eine »Politik eines solchen ›Jenseits des Brüderlich– keitsprinzips‹«68 bestimmen. Nun kann nicht gesagt werden, Derrida verabschiede sich von Brüderlichkeit als solcher. In Sur Parole schreibt er, er habe nichts gegen die Brüderlichkeit (fraternité), hinterfragt aber die Implikationen eines Diskurses über Brüderlichkeit.69 Es wird also um eine Freundschaft gehen, die auf etwas verzichtet. Sie verzichtet auf Prinzipien, die ihr vormals zugeschrieben wurden. Gleichzeitig geht 65 Ebd., 9. Diese zum Teil handschriftlich geschriebenen Seminare lassen sich in Irvine, USA (Critical Theories Archives), oder in Abbaye d’Ardenne, Frankreich (IMEC) einsehen. Im Irvine finden sich verschiedene, zum Teil handschriftliche Varianten des Seminars Politiques de l’amitié von 1988-1989 in Box 19. Hierin ergibt sich ein weiterer Kontext dieses Seminars über Freundschaft als Anschluss an das vorausgehende Seminar über Nationalité et nationalisme philosophique; Derrida schreibt: »Noch zum ersten Mal habe ich mich im letzten Jahr meiner sicher und bestimmt genug gefühlt, um vom Frühjahr ab anzukündigen, dass wir unter demselben allgemeinen Titel ›Nationalität und philosophischer Nationalismus‹ versuchen werden zu analysieren, was gerade, 87–88, in Frankreich passiert ist, im Kontext dessen, was manche die Heidegger-Affäre nennen.« (»Or pour la première fois l’an dernier, je me suis senti assez sûr de moi et déterminé pour annoncer dès le printemps que toujours sous le même titre général de ›Nationalité et nationalisme philosophiques‹, nous essaierions d’analyser ce qui vient de se passer en France, en 87–88, autour de ce que certains appelent l’affaire Heidegger«) (UCI, Jacques Derrida Papers, MS-C01-19, Box 19, Folder 18). 66 PdF, 10. 67 Ebd. 68 Ebd. 69 Vgl. Derridas Aussage, dass das Konzept der Brüderlichkeit beunruhigend sei (vgl. SP, 70).
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es darum zu zeigen, warum dies kein Ende der Debatte über Freundschaft bedeutet, sondern eher ihren Anfang, zumindest aber ihre Fortführung auf unbestimmte Zukunft hin. Die philosophische Frage nach der Freundschaft wird reiteriert und eröffnet, ohne sie wieder zu schließen. Deshalb wählt er für seinen einzigen Text, der um die Freundschaft kreist, die Form eines Vorspiels und nicht zum Beispiel eines Traktats über Freundschaft. Der Kontext für das von Derridas zitierten Zitats von Cicero ist jener, worin Cicero genau auf diese Themen eingeht. Aufschlussreich ist auch, dass Derrida den ausgewählten Satz von Cicero so beschneidet, dass er das Vorangehende auslässt. Ermstellt nur jenen Satz beginnend ab »Deswegen […]« oder in anderer Übersetzung »So kommt es […]« seiner Politik der Freundschaft voran. Sehen wir uns den Abschnitt aus Cicero ausführlicher an: »Wer nämlich einen wahren Freund ansieht, schaut gleichsam auf ein Abbild seines eigenen Ichs. Deswegen sind auch Abwesende anwesend, Bedürftige reich, Schwache stark und, was noch verwickelter klingt, Tote lebendig. So groß ist der Ruhm, so groß Andenken und Sehnsucht der Freunde, die sie begleitet. Darum erscheint mir der Tod der einen glückselig, das Leben der anderen preisenswert.«70
Es ist auffällig, dass Derrida den Satz über den »wahren Freund« und das Abbild des Eigenen als Teil der Freundschaft nicht mitzitiert. Hingegen legt er den Fokus auf die anwesenden Abwesenden und die lebendigen Toten. Auch die reichen Bedürftigen und die starken Schwachen klammert er mittels […] aus. Lesen wir hierzu nochmal die Phrase »O meine Freunde, es gibt keinen Freund« 71 , so stellen wir fest, dass sich eine ähnliche Aporie ergibt. In der Freundschaft scheint es ein Zusammenspiel von An- und Abwesenheit zu geben, von etwas, das Sinn ergibt und etwas, dessen Sinn sich entzieht. Aber kann man so weit gehen zu sagen, dass es um Leben und Tod geht? Oder um das Leben eines literarischen Texts? Wie kann Derrida den in literarischer Form geschriebenen Text Ciceros am Leben erhalten? Wenn es um Leben und Tod gehen sollte, handelt es sich um eine Entscheidung: Cicero bzw. Laelius stellt die Frage, ob Freundschaft aus Schwäche entstehe oder aus Liebe.72 Diese Unterscheidung ist zentral für seine Untersuchung. Er führt danach ins Feld, dass Liebe für die Begründung gegenseitigen Wohlwollens geeignet sei. 73 Wohlwollen gibt es ihm zufolge nur in der Freundschaft, 70 Cicero, Laelius über die Freundschaft, 58 / 134. ist ein Fußnotentext. 71 PdF, 18. 72 Vgl. Cicero, Laelius über die Freundschaft, 26 / 135. 73 Vgl. Ebd.
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nicht aber notwendigerweise in der Verwandtschaft.74 Dieses Wohlwollen wird in die Nähe der Tugend gerückt, aber Tugend in einem von Aristoteles abgegrenzten Begriff im Sinne praktischen Lebens; es sei von normalen Leben auszugehen, nicht von Männern, die sich überhaupt nirgends finden.75 Hierzu soll jedoch kurz angemerkt werden, dass es auch bei Aristoteles heißt, Tugendhafte hätten »die gleiche oder eine ähnliche Handlungsweise«76. Das Wohlwollen im praktische Leben, welches zur Freundschaft führt, ist nach Cicero gegründet in einem Gefühl: Liebe und nicht in Bedürftigkeit oder Schwäche. Er verweist auf die Verbindung von Liebe (amor) und Freundschaft (amicitia).77 Wenn der Ciceronische Text sich auch von der Freundschaft aus Bedürftigkeit entfernt, so heißt das nicht, dass er sie von der menschlichen Natur entfernt,78 zumindest einer männlichen menschlichen Natur. Liebe muss hier selbst als Teil der (menschlichen) Natur aufgefasst werden, damit er sagen kann: »Weil aber die menschliche Natur unwandelbar ist, darum sind wahre Freundschaften von ewigem Bestand.«79 Natürlichkeit und Authentizität sind hier die Grundpfeiler der Freundschaft, in der alles »Wahrheit und freier Wille« 80 ist. Diese Freundschaft, die Cicero meint, sei »mehr in der mit einem gewissen Gefühl der Liebe verbundenen Zuneigung als in der Erwägung, wieviel Vorteile sie bringen könnte.« 81 Dass bei Cicero die Freunde männlich sind, ist kein Zufall. »Was kann angenehmer sein, als einen Freund zu haben, mit dem man so reden darf wie mit sich selbst!« fragt Cicero.82 Aber was könnte zugleich unangenehmer sein? Was machte einsamer, als das Sprechen zu einem anderen wie zu sich? Es gäbe kein Weiterkommen im Gespräch, nur Monolog, in dem sich die Dinge wiederholten. Müsste man hierzu nicht anfügen – und deshalb wurde im vorigen Kapitel die Adresse des Briefs als Frage der Auswahl der Freunde thematisiert –, dass es an der Adresse seines Texts liegt, dass er so etwas schreibt? Wenn man davon ausgeht, dass die Philo74 »Denn das zeichnet die Freundschaft vor der Verwandtschaft aus, daß das Wohlwollen unter Verwandten beseitigt werden kann, unter Freunden dagegen nicht. Durch die Beseitigung des Wohlwollens wird nämlich der Name ›Freundschaft‹ getilgt, der Name ›Verwandtschaft‹ aber bleibt« (Cicero, Laelius über die Freundschaft, 19 / 132). 75 Vgl. Ebd., 21 / 133. 76 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1156b15–20, kursiv nt. 77 Vgl. Cicero, Laelius über die Freundschaft, 26 / 135. 78 Vgl. Ebd., 27 / 136. 79 Ebd., 32 / 138. 80 Ebd., 26 / 136. 81 Ebd., 27 / 136. 82 Ebd., 22 /133.
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sophie in einer gewissen Form der Erfahrung gründet, dann müsste man sagen, dass Cicero so etwas schreibt, weil er an seinen verstorbenen Freund denkt, der für ihn wahr und vollkommen war,83 dessen Freundschaft für ihn war, als wäre er ein anderes Selbst? Auch wenn der Satz »Oh meine Freunde, es gibt keinen Freund« Aristoteles nur zugeschrieben ist, es also nicht sicher ist, dass er wirklich von Aristoteles stammt, schlage ich nun vor, ihn in Verbindung mit den Freundschaftsbüchern der Nikomachischen Ethik zu setzen. Diese Verbindung hilft zu verstehen, warum Cicero zwischen Freundschaft aus Liebe und Freundschaft aus Bedürftigkeit zu schwanken scheint. Hierin orientiert er sich an Aristoteles. Aristoteles unterscheidet in Buch VIII und IX der Nikomachischen Ethik drei Arten der Freundschaft. Die im Umkreis der Natur angesiedelte Freundschaft, obgleich sie nicht nur Menschen betreffen kann, sondern auch Tiere, ist, wie er setzt, eine zwischen »Wesen gleicher Abstammung«. 84 Es gibt davon drei. Es gibt erstens Freunde, die lieben sich des Nutzens wegen, und zweitens solche, die sich aufgrund der Lust lieben.85 Als dritte Freundschaft unterscheidet er die Tugendfreundschaft, jene Freundschaft zwischen ähnlichen Menschen, die »einander gleichmäßig Gutes wünschen«. 86 Diese dritte Art der Freundschaft erscheint ihm vollkommen, weil sie sich auf ähnlich gute und tugendhafte Menschen bezieht; diese »wünschen einander gleichmäßig Gutes, insofern sie gut sind, und sie sind gut an sich«. 87 Die Tugendfreundschaft bezeichnet eine Freundschaft, in der lustbringende als auch nützliche Eigenschaften verwoben sein können, aber in der diese Elemente nicht im Vordergrund stehen. Die tugendhaften Freunde sind einander auch gut gegenüber eingestellt. Die vollkommene Freundschaft setzt daher eine »Gleichheit und Übereinstimmung« 88 vor allem die Tugend betreffend voraus. Es scheint in der Tugendfreundschaft um das Selbst (der Freundschaft oder des Freunds, das ist hier nicht ganz deutlich), zuerst als Selbstzweck zu gehen, denn:
83 Er spreche »von der wahren und vollkommenen, wie sie unter den wenigen bestand, welche die Geschichte nennt« Ebd., 22 / 133. 84 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1155a15–20. 85 Vgl. Ebd., 1156a10–15. 86 Ebd., 1156b5–10. 87 Ebd. 88 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1159b1–5.
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»Um der Lust und des Nutzens willen können auch schlechte Menschen untereinander und Gute mit Schlechten und die keins von beiden sind mit jedem befreundet sein, um ihrer selbst willen aber offenbar nur die Tugendhaften.«89
Hier spricht er auch von dieser dritten als einer »wahren« Freundschaft.90 Bei der Tugendfreundschaft scheint sich ganz natürlich ein Wettlauf darum zu ergeben, nicht darum dem anderen überlegen zu sein, sondern ihm vielmehr »nur Gutes zu erweisen; denn das ist der Tugend und der Liebe eigen.«91 Aristoteles begründet dieses bevorzugte Lieben der tugendhaften Freunde mit dem natürlichen Drang dazu, gut zu sein. Von Tugend und von Liebe lässt sich dann sprechen, wenn Gutes wie natürlich gegeben werden soll. Es scheinen sich sogar Tugend und Liebe zu decken. Tugendhaft ist, wer liebt und umgekehrt. Aristoteles denkt in seinen Beispielen, für seine Zeit üblich, nur an Männer. So zitiert er Homer, nach dem zwei Männer gesellig zusammen sind. Sklaven seien nur teilweise zur Freundschaft fähig, Tiere nimmt er völlig aus der Freundschaft aus.92 Über die Nutzen- und Lustfreundschaft schreibt Aristoteles: »Die bezeichneten Freundschaften beruhen also auf Gleichheit. In ihnen leisten und wünschen sich beide Teile dasselbe oder tauschen eines gegen das andere, wie z. B. Lust gegen Vorteil, ein.« 93 Tugendfreundschaft geht zwar hierüber hinaus, in ihr scheint es also nicht in allererster Linie um den Tausch von Gefälligkeiten zu gehen. Dennoch bleibt die Notwendigkeit der Reziprozität bestehen. Gleichheit sei der »Grundzug aller Freundschaften«,94 womit er hier vor allem quantitative meint, gefolgt von der Würdigkeit.95 Zu große Asymmetrien in der Freundschaft, wie die zwischen Göttern und Menschen, tragen nicht. Etwas Abstand sei erträglich, zu viel der Freundschaft abträglich, »ist aber der Abstand sehr groß, wie bei Gott, so kann keine Freundschaft mehr sein.«96 Wer wie Aristoteles die beste Freundschaft als einen Tausch aus Leistung und Gegenleistung begreift, der aber nicht im Sinne des Nutzens oder der Lust ausgetragen wird, sondern bei dem es darum geht, sich gegenseitig Gutes zu tun, muss darauf hoffen, dass das Gegenüber auch im Sinne derselben – guten und tugendhaften – Freundschaft gibt oder empfängt. Aber ist das möglich? Ist es 89 Ebd., 1157a15–20. 90 Ebd., 1157a20–25. 91 Ebd., 1162b5–10. 92 Vgl. Ebd., 1161b1–5. 93 Ebd., 1158b1–5. 94 Ebd., 1158b25–30. 95 Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1185b30–35. 96 Ebd., 1159a5–10.
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möglich, nur Gutes und Tugendhaftes von einem anderen zu erwarten? Und ist es nicht zu viel verlangt, sich immer gut und tugendhaft zu einem Freund zu verhalten? Möglich scheint dies auch für Aristoteles nur in Bezug auf wenige Menschen der Fall. »Befreundet im Sinne der vollkommenen Freundschaft kann man nicht mit vielen sein, sowenig man gleichzeitig in viele verliebt sein kann. Denn solche Freundschaft hat etwas vom Übermaß an sich, und das Übermaß der Neigung ist seiner Natur nach auf einen gerichtet.«97
Hier wird deutlich, dass die Präferenz Ciceros für die Liebe sich auf die bevorzugte Freundschaft von Aristoteles bezieht, der von einer Neigung im Übermaß spricht. Zudem beschränkt Aristoteles diese möglichen Freunde auf wenige Männer, auf ein Minimum, wie Derrida schreibt, 98 vielleicht sogar nur einen einzigen. Männer, von denen er bezüglich der tugendhaften Freundschaft spricht, gebe es nur selten und die tugendhafte Freundschaft brauche Zeit.99 Die Lebenszeit ist beschränkt und so ist es nicht möglich, allen diese Zeit zu geben, die Aristoteles den besten Freundschaften zuspricht. Mit Aristoteles verbindet sich Cicero noch auf eine andere Weise. In Buch VIII und IX der Nikomachischen Ethik wird die Freundschaft als eine Frage des Tuns eingeführt. Die Präferenz des Liebens vor dem Geliebtwerden lässt sich am Aristotelischen Text nachvollziehen. 100 Aristoteles schreibt: »Da aber die Freundschaft mehr im Lieben liegt und diejenigen Lob ernten, die ihre Freunde lieben, so erscheint als die Tugend der Freunde das Lieben«.101 Obgleich Aristoteles »erscheint« schreibt, kann davon ausgegangen sein, dass er hier nicht ironisch spricht, und das Tun dem Leiden in der Freundschaft voranstellt. Denn auch in Bezug auf die Wohltat wird deutlich, dass »wir insofern sind, als wir tätig sind, nämlich leben und handeln. Durch seine Tätigkeit ist also der Meister gewissermaßen das Werk, und daher liebt er das Werk darum, weil er das Sein liebt, eine Liebe, die in der Natur begründet ist. Denn was er in Möglichkeit ist, zeigt das Werk in Wirklichkeit.«102
97
Ebd., 1158a10–15.
98
Vgl. PdF, 45f.
99
Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1156b25–30.
100 Vgl. Ebd., 1159a25–30. 101 Ebd., 1159a30–1159b5. 102 Ebd., 1168a1–10.
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Hier wird die Wohltat in den Kontext des Werks gesetzt, aber speziell eines Werks des Seins selbst. Wenn das eigentliche Streben des Lebens darin besteht, ein Werk zu tun, welches aber in der Bewegung des Tuns und Handelns schon seine Vollendung ist, dann scheint es Aristoteles bei seiner Theorie über den Menschen nicht um ein Produkt zu gehen, sondern eher um ein Werden. Im freundschaftlichen Umgang, so scheint es dann möglich zu schlussfolgern, entsteht genau das, in uns und zwischen uns, Freundschaft. Die »Tugend der Freunde« sei »das Lieben«103. Zur Unterscheidung führt er das Wohlwollen an, das noch nicht das Tun von Gutem beinhaltet wie die Freundschaft. Wohlwollen (εὔνοια) ist daher »metaphorisch eine untätige Freundschaft«.104 Für das Wohlwollen reicht es also, untätig zu sein. Ich kann einem Bekannten gut gesinnt sein und ihn mögen, für das Lieben in der Freundschaft scheint das aber nicht zu reichen. Für die Freundschaft hebt Aristoteles die Notwendigkeit eines »Mehr« heraus, die er als die Tätigkeit spezifiziert. In der Freundschaft muss ich tun, muss Gutes tun. Aber wäre es angemessen, einem Freund ständig und immer Gutes zu tun? Aristoteles macht deutlich, dass die Tätigkeit nicht unerschöpflich sein kann. Lieben müsse immer in Maßen und nach Verhältnis geschehen, wenn eine Freundschaft andauern soll, »weshalb die, bei denen dies [das Lieben] nach Würdigkeit und Verhältnis geschieht, beständige Freunde sind und ihre Freundschaft ebenfalls.«105 Grundsätzlich scheint der Aristotelische Text zur Kontrolle des Gebens und auch des Nehmens aufzurufen. So spricht sich Aristoteles für eine Kontrolle der Annahme von Wohltaten aus, da man sie erwidern müsse.106 Im Kontext der Frage, wie viel Wohltaten man geben soll, gibt Aristoteles als Maß für den Überschuss neben der Vorsicht davor, alles zu vergeben, auch das Bemerken der Ansprüche des Anderen an.107 Freundschaft als ein Austarieren von Geben und Nehmen. Wenn auch die Freundschaft das Ergebnis einer Leistung oder eine zu erbringende Aktivität ist, so ist sie doch immer begrenzt durch die Maßgabe einer Reziprozität. Deshalb lässt sich nicht davon sprechen, dass Aristoteles von grenzenlosem Geben in der Freundschaft ausgehe. Dennoch scheint Derrida in gewisser Weise aufzuzeigen, dass Aristoteles’ Präferenz des Liebens vor dem Geliebtwerden ›ungerecht‹ ist. Somit gebe es eine Asymmetrie zwischen dem Lieben und Geliebtwerden der Freundschaft bei Aristoteles. 108 Diese Lektüre 103 Ebd., 1159b1–5. 104 Ebd., 1167a10–15. 105 Ebd., 1159a30–1159b5. 106 Vgl. Ebd., 1163a5–10. 107 Vgl. Ebd., 1165a30–40. 108 Vgl. PdF, 33ff.
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kann in noch grundsätzlicherem Sinn als die Präferenz Aristoteles’ des Lebens über den Tod gesehen werden. Während die Guten die Freunde um des Lebens willen liebten, würden die Schlechten die Freunde als Sachen ansehen.109 Die zweite Asymmetrie bemerkt Derrida also darin, dass es bei Aristoteles eine Hierarchie zwischen Leben und Dingen gibt, eine Präferenz für den Akt des Liebens110 (aktiv, Welt des Lebens) gegenüber dem Geliebtwerden (passiv, Welt des Tods). Freundschaft scheint nur mit Lebendem möglich, denn: »Nun spricht man aber bei der Liebe zu leblosen Dingen nicht von Freundschaft.«111 Hierin gebe es keine Gegenliebe und kein Wohlwollen. Wieder erinnert Aristoteles hierin an die Reziprozität. Deshalb muss die Freundschaft zu Leblosem und Dingen unmöglich sein. Toten und Dingen ist es gemein, dass sie nichts zurück geben können. Hier entsteht für Derrida eine Schieflage dessen, was der Text fordert (Reziprozität) und dessen was er tut (Asymmetrien errichten). Aristoteles präferiere einerseits das Lieben und fordere andererseits die bedingungslose Liebe in der tugendhaften Freundschaft. Derrida zufolge verträgt sich dieser Imperativ einer Ersten Freundschaft nicht mit dem Imperativ des einseitigen, asymmetrischen philein, oder der Präferenz des Liebens vor dem Geliebtwerden.112 Dieser Vorwurf mag jedoch nicht ganz berechtigt sein, da auch Aristoteles das bedingungslose Lieben einschränkt, indem er von Verhältnismäßigkeit spricht. Dennoch scheint Derrida Recht mit seinem Zweifel daran zu haben, dass eine Freundschaft wie die der Tugendhaften bei Aristoteles möglich wäre. Wenn es in der idealen Freundschaft darum ginge, dass die Freunde einander reziprok und bedingungslos liebten, so wäre das Lieben vielleicht bedingungslos, die Freundschaft selbst aber nicht, sondern voller Bedingungen, selten und schwer zu erreichen. Wer liebt, ohne zu hoffen, geliebt zu werden, müsste dem Freund oder der Freundin die größtmögliche Freiheit einräumen. Diese Freiheit aber räumt Aristoteles der Freundschaft selbst nicht ein. Derrida widerspricht Aristoteles’ Präferenz des Liebens, vielleicht um der Freundschaft ihre Möglichkeit als schriftliche oder ideelle im Sinn von mögliche zu erhalten. Auf diese Weise wäre zu verstehen, Derrida das passive Moment im Ursprung der Freundschaft stärker betont. So beginne der ›Akt‹ der Freundschaft durch Trauer und Vorwegnahme der Trauer über den möglichen Tod des Freunds.113 Er führt also eine passive Dimension als Grund der Freundschaft ein, ohne die eine Freundschaft, die nicht nach Gegenliebe fragt, gar nicht möglich 109 Vgl. Ebd. 110 Vgl. Ebd., 43. 111 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1155b25–30. 112 Vgl. PdF, 50. 113 Vgl. PdF, 35.
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wäre. Es geht so auch bei Derrida um ein Gefühl, aber die genaue Qualität dieses Antworten auf einen bestimmten Entzug soll in den folgenden Kapiteln weitergehend eruiert werden. Zwei Momente erscheinen hier wichtig zu resümieren: Erstens setzt Aristoteles wie Cicero das Lieben als Urgrund der Freundschaft und rückt die Freundschaft in die Nähe gegenseitigen Wohlwollens aus Liebe. Zweitens sehen sowohl Aristoteles als auch Cicero den Freund als einen Menschen, der dem Selbst ähnelt und ihm – zumindest was diese Fähigkeit des Wohlwollens aus Liebe angeht – nahe ist. Nun bleibt jedoch die Frage, was Liebe ist und worauf sie sich richtet. Wenn Derrida gleich zu Beginn seiner Vorlesung fragt, ob der Freund der Selbe oder der Andere ist,114 ist diese Frage auch an Aristoteles und Cicero gerichtet, die er kurz davor zitierte, und woraufhin Derrida urteilt: »Cicero erteilt dem Selben den Vorzug«.115 Nun ist also in Frage gestellt, was Liebe ist. Da Cicero für die Liebe plädiert, gibt es eine, wenn auch leichte, Präferenz, aber indem er die Liebe an die menschliche Natur bindet, wird die Liebe zu einer Freundschaft aus natürlicher Nähe, die man vielleicht eher als Verwandtschaft bezeichnen müsste. Tatsächlich wird bei Cicero die Liebe in Richtung der Verwandtschaft gerückt. Während er die Verwandtschaft als eigentliche Liebe bezeichnet, sei die Liebe zwischen Partnern nur etwas, was scheint, Liebe zu sein, »eines der Liebe ähnlichen Gefühls«, »wenn wir jemanden gefunden haben, mit dessen Lebenswandel und Charakter übereinstimmen«. 116 Ist es aber Liebe, wenn man einander in dieser Form ähnlich ist? Ist es nicht liebevoller, wenn man ihn liebt, obwohl man nichts gemein hat? Auch könnte man hier bezweifeln: Ist nicht der Verwandte gerade der, den man (versucht zu lieben oder) liebt, ohne dass man etwas gemein hätte? Dies kann in der vorliegenden Arbeit nur als Frage aufgeworfen werden. Nun allerdings soll Carl Schmitt hinzugenommen werden, der hier denen zugeordnet wird, die die Freundschaft in Richtung einer Ähnlichkeit rücken, aber diesmal einer Ähnlichkeit derer, die auf der ›richtigen‹ politische Seite stehen und von dem sich Derrida abgrenzt.
114 Vgl. PdF, 21. 115 Ebd. 116 Cicero, Laelius über die Freundschaft, 27 / 136.
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BRÜDERLICHKEIT II: FREUNDSCHAFT ALS FRAGE DER POLITIK (SCHMITT) Im Vorangegangenen wurde die Freundschaft in die Richtung einer Empfindung der Liebe gerückt, die ihrerseits in Praktiken eingebettet war. Im Folgenden wird eine Position nachvollzogen, bei der es ganz unerheblich ist, wie jemand fühlt. Es geht hier eher um Brüderlichkeit in der Form von politischen Allianzen, weniger um Brüderlichkeit aufgrund von Geburt. Cicero hatte darauf verwiesen, dass Freundschaft gerade dann schwierig sei, wenn sie zwischen Personen öffentlichen Lebens stattfindet. 117 Es sei schwer, diese bis ans Ende des Lebens zu halten.118 Wir haben in der Freundschaft Althussers und Derridas Aspekte einer solchen Freundschaft gelesen. Für Carl Schmitt nun ist die Freundschaft explizit eine Frage des Öffentlichen. Schmitt verlegt sein Verständnis der Freundschaft in Der Begriff des Politischen in die Sphäre des Öffentlichen. Für ihn ist die Freundschaft im Gegensatz zur Feindschaft das Kriterium, nach dem politisches Handeln stattfindet und Menschen sich auf Staatsebene zueinander verhalten können. Für Derrida hingegen lässt sich das Öffentliche nicht vom Privaten trennen. 119 Die in der Freundschaft gelebten scheinbar privaten Gefühle haben für ihn auch eine politische, also öffentliche Dimension. Er zeigt, wie Schmitts Abgrenzung des privaten vom öffentlichen Feind auf einer verkürzten Platonlektüre beruht. Derrida stellt sich auf Seiten von Nicole Loreaux, die gegen eine klare Unterscheidbarkeit von inimicus und echthros bei Platon argumentiert.120 Wenn Schmitt in Der Begriff des Politischen davon spricht, dass man jeden wissenschaftlichen Text daraufhin untersuchen sollte, was für ein Menschenbild in ihm steckt – der Mensch als friedliebendes oder als kriegerisches Wesen – so könnte hier dieselbe Frage an Schmitt gestellt werden, der sich selbst aus dieser Unterscheidung auszunehmen scheint, indem er den Menschen rein aus öffentli-
117 Denn sie könnten »in Staatsangelegenheiten unterschiedlicher Meinung« sein (Cicero, Laelius über die Freundschaft, 33 / 138). 118 Vgl. Ebd. 119 Hier würde ich übereinstimmen mit: Weber, Living Together: Jacques Derrida’s Communities of Violence and Peace, 125, Stichwort »The Personal Is Political«. 120 Das bezeichnet Derrida als Asymmetrie bei Schmitt: dass er einerseits zwischen hostis (öffentlicher) und inimicus (privater Feind) unterscheidet, aber gleichzeitig behauptet er dass es nicht bedeute, dass echthros, der in einem Bürgerkrieg (stasis) der Feind sein kann, ein privater Feind ist. Derrida fragt: »Kann man nicht in einem Bürgerkrieg (stasis) öffentliche (also politische?) Feinde haben?« (PdF, 134).
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cher, politischer, also neutraler Perspektive einbeziehen will. Die hier notwendige Frage wäre also: was für ein Mensch wird im Text von Schmitt selbst impliziert? Oder auch weiter: Bezieht sich dieser Text überhaupt auf Menschen? Könnte es eine von jeder menschlichen Realität gereinigte politische Maschine sein, die hier imaginiert wird? Nun sind wir bereits ganz im Thema. So schreibt Schmitt, man solle alle Staats- und politischen Theorien danach einzuteilen, ob sie einen von Natur bösen oder guten Menschen voraussetzen, also eine »problematische oder die unproblematische Auffassung des Menschen als Voraussetzung jeder weiteren politischen Erwägung«121 sehen. Schmitt setzt als erste Grundlage die Unterscheidung Freund-Feind – ob der Mensch dabei gut oder schlecht sei, spielt hierfür keine Rolle.122 Gleichzeitig sieht er keinen Grund für anthropologischen Optimismus, da die Sphäre des Politischen von der realen Möglichkeit des Feinds bestimmt werde.123 Ich möchte jedoch erst noch ein paar Schritte zurück gehen, um diese Argumentation genauer am Text verfolgen zu können. Schmitt unterscheidet also Freund und Feind. Er sagt: »Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.«124 Die Grundlage der Politik ist es also unterscheiden zu können, zwischen dem der ihr zugetan ist, und dem, der es nicht ist. Es geht um eine Frage der Seite, auf der man steht. Parallel zu Gut und Böse, die das grundlegende Kriterium für das Moralische seien, nennt er hier Freund und Feind grundlegend für das Politische.125 Ließe sich diese Unterscheidung nicht vornehmen, gäbe es kein politisches Handeln. Für ihn hört das Volk da auf, politisch zu existieren, wo es nicht mehr über Freund und Feind selber unterscheiden könne.126 Er spricht hier nicht von Freund oder Feind als Metaphern, sondern möchte die Unterscheidung ganz wörtlich genommen wissen: »Die Begriffe Freund und Feind sind in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen, nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt und abgeschwächt durch ökonomische, moralische und andere Vorstellungen, am wenigsten in einem privat-individualistischen Sinne psychologisch als Ausdruck privater Gefühle und Tendenzen.«127
121 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 46. 122 Vgl. Ebd., 55 ff. 123 Vgl. Ebd., 51. 124 Ebd., 14. 125 Vgl. Ebd. 126 Vgl. Ebd., 38. 127 Ebd., 15.
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Derrida zeigt sich verwundert davon, dass sich für Schmitt zwischen Freund und Feind unterscheiden lässt.128 Ist dies nicht bereits eine falsche Annahme? Wo befindet man sich, wenn man ohne Feind und also ohne Freunde ist?, fragt Derrida, an Schmitt gerichtet, in der ›Politik‹ der Freundschaft. 129 Die Antwort findet sich bei Schmitt selbst: auf Seiten des Feindes. Als Privatmann könnte Derrida aus Sicht Schmitts nicht über Freundschaft sprechen. Wenn ein Teil des Volkes sagte, es kenne keinen Feind mehr, stellte es sich auf Seiten der Feinde, aber die Unterscheidung sei deshalb nicht aufgehoben, so Schmitt.130 Ein »Privatmann hat keine politischen Feinde«.131 Es wird zu begründen sein, dass Derrida gerade als Privatmann mit Schmitt über Politik sprechen möchte. Für Schmitt wäre Derrida dann ein Feind im eigenen Lager, wenn er die Möglichkeit offen hält, es gäbe keinen Feind und auch keinen Freund mehr. Er würde aus Schmitts Perspektive zum Verräter oder würde einen Bürgerkrieg anstiften.132 Derrida scheint die theoretische Strenge in Schmitts Begriff des Politischen zu wertschätzen. Allerdings sind die Grundvoraussetzungen gegensätzlich. Derrida schließt aus, dass eine Politik je ihrem Begriff entsprechen könnte.133 Ein Begriff könne nie frei sein von der Verstricktheit in außerbegriffliche Zusammenhänge. Auch Schmitts eigener Begriff des Politischen könne sich nicht vom Einfluss realer politischer Bedingungen frei sprechen. Schmitt habe das selbst benannt, so Derrida, als er auf den »polemischen« Sinn aller politischen Begriffe verwies. 134 Sie sind nicht rein.135 Nun sei aber die Zuordnung bei Schmitt zu Freund oder Feind sehr klar; »Wissen heißt hier [in Schmitts Begriff des Politischen], Freund und Feind zu identifizieren wissen.«136 Derrida extrapoliert hier ein bestimmtes Verständnis von Wissen in Schmitt. Für Schmitt ist hiernach die Bedingung für das Politische die Identifizierung, das klare Zuschreiben einer Identität als Freund oder Feind. In diesem Aspekt lässt sich Schmitt mit Cicero und Aristoteles verbinden. Denn der Freundschaft wird die Form einer bestimmten Natur zugeschrieben. So gehe es Schmitt, liest Derrida, an weiten Stellen seines Buchs nicht um die Hervorbringung einer Politik, sondern um »Diagno128 Vgl. PdF, 126. 129 Vgl. Ebd., 114. 130 Vgl. Schmitt, Der Begriff des Politischen, 40. 131 Ebd. 132 Dieser entsteht, so liest Derrida Platon in der Politeia, wenn eine schlechte Gemeinschaft, eine »Pathologie der Gemeinschaft« (PdF, 137) als Ereignis eintritt. 133 Vgl. Ebd., 161. 134 Ebd., 163. 135 Ebd. 136 Ebd., 164.
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sen«. 137 Es scheint einen gewisse Normalzustand zu geben, über den Schmitt spricht.138 Derrida schreibt in einem Passus über Platon, in einem Teil von Politik der Freundschaft, in dem es vorrangig um Schmitt geht: »Wie in allen Rassismen, in allen Ethnozentrismen, genauer: in allen Nationalismen der Geschichte, regelt ein Diskurs über die Geburt und die Natur, eine physis der Genealogie (genauer gesagt: ein Diskus oder ein Phantasma der genealogischen physis) die Bewegung der jeweiligen Gegensätze: Anziehung und Abstoßung, Widerstreit und Einmütigkeit, Krieg und Frieden, Haß und Freundschaft. Drinnen und draußen.«139
Dass es nicht darum gehen kann, von der klaren Kategorie des Staats im Politischen auszugehen, wird auch in einem Text Derridas über Gastfreundschaft deutlich: »Die Gastlichkeit, die einfach vom Staat, über den Bezug zu den Bürgern als solchen, geregelt wäre, erscheint nicht mehr ausreichend. Der Beweis dafür bleibt die furchtbare Erfahrung unseres Jahrhunderts, die massenhafte Verdrängung von Bevölkerungen, die nicht mehr als Bürger konstituiert waren, und für die die Gesetzgebungen der StaatenNationen nicht ausreichen würde.«140
Die Erfahrungen massenhafter Migration und Verdrängung seit dem 20. Jahrhundert zeigt auch, dass die Beschränkung der Frage des Politischen auf staatliches Handeln141 eine wachsende Menge an Menschen, Menschen ohne Staatsbürgerschaft, aus dem Politischen ausgrenzen würde. Eine begriffliche Analyse
137 PdF, 166. 138 Diese These muss man allerdings insofern etwas eingrenzen, da Schmitt selbst voran stellt, dass er das Staatliche nicht klar definieren wolle. 139 PdF, 136. Menschenhass ist bei Schmitt überdeutlich: die ökonomisch »funktionierende Gesellschaft« habe Mittel genug um Störer oder Erfolglose »verhungern zu lassen« die sich nicht freiwillig fügen würden (Schmitt, Der Begriff des Politischen, 36). 140 Im Original: »L’hospitalité qui serait simplement réglée par l’État, par le rapport à des citoyens comme tels, ne paraît plus suffisante. L’épreuve, l’expérience terrible de notre siècle, ce fut, cela reste, le déplacement de populations massives qui n’étaient plus constituées de citoyens et pour lesquelles les législations des Étatsnations ne suffisaient pas« (SP, 69). 141 Hierzu vgl. auch: Ebd., 122.
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des Politischen dürfte sich nicht auf den Nationalismus, also auf die Zugehörigkeit zu einem »Diskurs über die Geburt und die Natur« beschränken. Die Unterscheidung von Freund und Feind ist bei Schmitt klar vorzunehmen, weil der Feind kein privater Feind sein soll, »nicht der private Gegner, den man unter Antipathiegefühlen haßt«, sondern nur »der öffentliche Feind«.142 Wer ist also der Feind für Schmitt? »Der politische Feind braucht nicht moralisch böse, er braucht nicht ästhetisch häßlich zu sein; er muß nicht als wirtschaftlicher Konkurrent auftreten, und es kann vielleicht sogar vorteilhaft scheinen, mit ihm Geschäfte zu machen. Er ist eben der Andere, der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas Anderes und Fremdes ist.«143
Aber wie lassen sich Freund und Feind unterscheiden, wenn es kein Kriterium dafür gibt, wie etwa, dass jemand gut oder böse ist? Es gibt für Schmitt keinen Zusammenhang zwischen privater Abneigung und öffentlichem Feind. Im gesamten Text Der Begriff des Politischen ist von »private[n] Gefühle[n]« nicht die Rede. Er nimmt dieserart das von ihm selbst Geschriebene von privaten Gefühlen aus und will das Schreiben über das Politische von Gefühlen frei wissen.144 Derrida setzt dort an, wo Schmitts Freundschaft / Politik von Gefühl gesäubert wird: er grenzt sich von Schmitts Bild der Freundschaft ab, das ein rein öffentliches ist und das die persönlich-affektive Ebene ausschließt.145 Das Politische Schmitts sei »gereinigt« vom Gefühl.146 Aus der Distanz zwischen Privatem und Politischem bei Schmitt folge, so Derrida, dass jemand auch gegen den Menschen Krieg führen kann, der ein
142 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 16. Ebd., 16. Schmitt macht dies fest an Platons Unterscheidung von polemios und echthros in der Politeia (Ebd., 133), Derrida hält dagegen Nicole Loraux Arbeiten zu stasis, die die Unterscheidung zwischen polemios und echthros außer Kraft setze (vgl. PdF, 133). 143 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 14. 144 Man könne »vernünftigerweise nicht leugnen«, schreibt er, »daß dieser Gegensatz auch heute noch wirklich und für jedes politisch existierende Volk als reale Möglichkeit gegeben ist« (Ebd., 16). 145 Vgl. »Wir hätten es demnach mit einer in ihrem politischen Wesen vollkommen reinen, von jedem Affekt, zumindest von jedem persönlichen Affekt gründlich gereinigten Erfahrung des Freundes/Feindes zu tun« (PdF, 130). 146 Ebd.
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privater Freund sein kann. 147 Eine Freundschaft, die sich persönlich-affektiv begründet, wäre in Schmitts Bild der Freundschaft ausgeschlossen oder nicht relevant. Es geht Schmitt darüber hinaus darum, die Freundschaft zu einer Frage des Kriegs zu machen. Es zeigt sich, dass Schmitt den Krieg einem Frieden vorzieht und das auch in einem begrifflichen Sinn. Denn für ihn haben alle politischen Begriffe einen »polemischen Sinn« 148 , die Gegensätzlichkeit im Zentrum.149 Dieser polemische Sinn deutet hier und beschränkt sich auf den binären Gegensatz von Freundschaft und Feindschaft im öffentlichen Raum. Derrida verweist hingegen in Auseinandersetzung mit Schmitt auf die Performativität des Begriffs des Politischen. 150 Gemeint ist eine Gerichtetheit des Begriffs, eine Unschärfe, die dadurch entsteht, dass ein Begriff nicht nur beschreibt, sondern auch etwas tut, selbst Teil des Politischen ist. Darüber hinaus müsste man ergänzen, dass auch performative Sprache von ihrer Verwendung im politischen Raum geschärft und gebildet wird. Für Derrida lassen sich politische Diagnose und politische Stellungnahme nicht voneinander trennen.151 So scheint Derrida zu urteilen: Indem Schmitt über das Politische konstatierend zu sprechen vorgibt, es also zu beschreiben sucht, spricht er zu Freunden und Feinden, teilt also die Lesenden nach Freund und Feind auf. Wo für Schmitt Begriffe polemisch auf die Möglichkeit eines Kriegs deuten, operiert Derrida mit einer leichten Verschiebung. Begriffe sind auch bei Derrida spannungsreich in sich, aber diese Spannung wird hier nicht dauerhaft zugunsten einer Seite der Binarität entschieden. Die Unschärfe der Begriffe wird nicht aufgelöst hin zugunsten einer Entscheidung. Damit bleibt Derridas Philosophie im Bereich der Ethik. Schließt Schmitt die Möglichkeit aus, dass es politischen Frieden, ja überhaupt Frieden geben kann und dass sich ein Ort (als Staat oder Nation) ohne die Bildung von Feindschaften konstituieren könnte? Das Politische liegt für Schmitt zwar nicht im Kampf noch ist es dasselbe wie der Kampf, aber es liegt in der »realen Möglichkeit«152 dessen. Aus dieser Perspektive sind wir immer bereits in einer Art Kaltem Krieg, auch wenn wir nicht kämpfen. Die Möglichkeit des 147 Vgl. Ebd. 148 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 18. 149 Vgl.: »Jeder religiöse, moralische, ökonomische, ethnische oder andere Gegensatz verwandelt sich in einen politischen Gegensatz, wenn er stark genug ist, die Menschen nach Freund und Feind effektiv zu gruppieren« (Ebd., 25). 150 PdF, 165. 151 Vgl. PdF, 166. Vgl. hierzu des Weiteren Beardsworth, für den die Reduktion der Metaphysik selbst politisch ist, Derrida & the Political, XVI. 152 Schmitt, Der Begriff des Politischen, 25.
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Kriegs ist da, aber sie scheint das Leben des Individuums nicht zu betreffen. Darauf erwidert Derrida, dass Schmitts Projekt kein demokratisches sein kann. Schmitt schließe den Privatmenschen von der Möglichkeit aus, an der Politik teilzuhaben. Auch die Menschheit könne aus dieser Perspektive nicht Thema des Politischen werden.153 Schmitt äußert es als Ziel, das Politische wieder einzufordern, wo seine Bedeutung verloren gegangen ist. Freundschaft wird damit zur politischen, öffentlichen Frage. Freunde sind immer nur solche, insofern sie im Krieg für dieselben Ziele als die eigenen sterben würden. So widmet Schmitt den Begriff des Politischen seinem »Freund August Schaetz aus München – gefallen am 28. August 1917 beim Sturm auf Moncelul«.154 Er nimmt in diesem Motto sowohl den Zusammenhang von Freundschaft und Krieg als auch Politik voraus. Schmitts Vorgabe ist es, im Rahmen der Wissenschaft zu schreiben und legt dabei nicht offen, und das legt meines Erachtens Derridas wiederholendem Beharren auf den Begriffen der Performativität und der ›Neutralität‹ nahe, dass sein Begriff des Politischen auch einer (nicht neutralen) politischen Stellungnahme entspricht. Diese politische Stellungnahme privilegiert den Bruder, also den, der auf der Seite Schmitts ist: »Alles was wir hier ›Verbrüderung‹ nennen, zeitigt in symbolischer und konventioneller Weise, durch Übereinkunft und beeidigte Verpflichtung eine bestimmte Politik. Ob es sich um eine linke oder eine rechte Politik handelt, stets ist es diese symbolische Projektion einer wirklichen oder natürlichen Brüderlichkeit, auf deren Grundlage sei es eine wirkliche Brüderlichkeit, unterstellt und behauptet wird, sei es eine geistige oder geistliche, eine Brüderlichkeit im figurativen Sinne sich bestimmt und bemißt. Wer wäre je einem Bruder begegnet? Einem Bruder väterlicher- oder mütterlicherseits, einem leiblichen Bruder?).«155
Lesen wir Schmitt aus der Perspektive einer performativ-politischen Handlung, dann konstituiert Schmitt eine Politik, er interveniert politisch, was Derrida hier unter Verbrüderung fasst. Derrida spricht im Kontext seiner Schmitt-Lektüre von einer »überkommenen Bedeutung dieses Wortes« 156 jener Politik, die sich auf Verbrüderung stützt, entweder im geistigen oder leiblichen Sinn. Sein neues Verständnis von Politik und auch von Demokratie entfernt sich davon, im alten Sinne des Worts politisch zu sein und über ein Land oder eine Nation oder einen
153 Vgl. hierzu ebd., 42. 154 Ebd., 6. 155 PdF, 138. 156 Ebd., 154.
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Staat zu sprechen.157 Derrida nennt Schmitts Projekt daher eine »Re-Konstruktion des Politischen«.158 Auf eine Re-Konstruktion lässt sich in zwei Weisen reagieren. Derrida hält eine, hier auf Schmitt bezogene, »Entpolitisierung« 159 für notwendig, Schmitt beklagt sie. Verfolgen wir Derridas Perspektive. Was meint er mit Entpolitisierung? Diese notwendige Entpolitisierung würde nicht zu »neutrale[r] oder negative[r] Indifferenz gegenüber sämtlichen Formen des sozialen Bandes, der Gemeinschaft, der Freundschaft«160 führen. Stattdessen müsse die Entpolitisierung Raum für eine neue Vorstellung von Demokratie geben (»zu denken, zu interpretieren, in die Tat umzusetzen«161). Er schlägt eine »›genealogische Dekonstruktion‹«162 vor, deren Objekt all dasjenige des Genealogischen ist, »wo immer es seine Herrschaft im Namen einer Geburt und einer nationalen Natürlichkeit geltend macht«.163 Was bedeutet dies für Derridas eigenes Projekt? Was Derrida auf seinem Weg versucht, ist, die in den großen Narrativen impliziten Voraussetzungen zu Tage zu bringen und dies nicht nur bezogen auf Schmitt. Er will »eine Politik, eine Freundschaft, eine Gerechtigkeit […] leben, an deren Anfang der Bruch mit ihrer naturhaften Homogenität, der Bruch mit ihrem Ursprungs- und Herkunftsort steht.«164 Ziehen wir zur Illustration dieses Aspekts bei Derrida das folgende Zitat hinzu, welches aus einem Brief von Bauchau an Derrida stammt. Bauchau und Derrida hatten sich durch eine befreundete Psychoanalytikerin kennengelernt (Marie-Claire Boons). In der Schweiz leitete er zusammen mit seiner Frau ein Pensionat und begann seine Schriftstellerlaufbahn relativ spät, im Zeitraum als er Derrida kennenlernte (etwa 1966). 165 Der hier zitierte Brief entstand, als die beiden sich erst zwei Jahre kannten: »Es ist so, dass die Begegnung mit Ihnen sehr gezählt hat. Weniger die Ihres Denkens, als die mit Ihnen selbst. Dieser Mischung aus Sanftheit und Verschlossenheit, der Strenge und des Alltäglichen, einer Weise die Zeit anzuhören, ohne etwas davon zurückzuweisen, 157 Vgl. Ebd., 154. 158 Ebd., 155. 159 Ebd. 160 Ebd. 161 Ebd. 162 Ebd. 163 Ebd. 164 Ebd., 156. 165 Vgl. Peeters, Derrida, 204 ff.
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besonders von der Vaterschaft. Über die Welt des Vaters hinausgehen, ohne die Verbindungen der Vaterschaft zu negieren, das ist, was mir viel zu denken gegeben hat, als ich Sie vier gesehen habe. Wenn ich Sie lese, glaube ich – besonders in la Pharmacie de Platon und ihrem bewundernswerten Stil – Sie zu sehen und Sie zu hören. Es gibt nicht einen Mann und ein Denken, sondern einen Mann der sich beim Denken sagt, durch alles, was er zwischen den Zeilen betont. Das Weiß genauso wichtig wie das schwarze Zeichen. Die Ereignisse vom Mai haben das bestätigt, was Sie mir in Ihrem Januarbrief über den Mann von der Straße gesagt haben. Er hat seine Macht demonstriert, aber er wusste nicht wohin er gehen sollte und man hat ihn zurück in die gewöhnlichen Futterkrippen geschickt. Ich sympathisiere völlig mit der Studentenbewegung, aber das zweifellos notwendige verbale Abreagieren hat zu lange gedauert, man hat vielleicht vergessen, dass darin in der Regel eine von beiden Seiten akzeptierte spielerische Seite liegt.«166
Der Brief ist zum Zeitpunkt der Studentenrevolten in Paris 1968 geschrieben und es wird eine – nicht völlige aber weitgehende – Übereinstimmung gegenüber der Studentenbewegung deutlich. Bauchau verwebt hier auf kunstvolle Weise seine persönlichen Beobachtungen Derridas mit öffentlichen Ereignissen und Derridas politisch-philosophischer Haltung zur Vaterschaft. Beide scheinen zu dieser neuen Öffentlichkeit eine kritische Distanz einzunehmen, auch wenn Derrida theoretisch mit der Studentenbewegung in einer Linie gewesen sein dürfte, was die Kritik am traditionellen Verständnis von Brüderlichkeit und Familie angeht. In einer Zeit politischer Umbrüche spricht also Bauchau darüber, dass Derridas persönliches Projekt und das seines Denkens der Rückhalt vor der Vaterschaft war, die er gleichzeitig nicht völlig zurückgewiesen habe. Es geht in dieser Distanznahme von der Vaterschaft um ein grundsätzliches Zweifeln an als ›natür166 »C’est que votre rencontre a beaucoup compté. Moins celle de votre pensée que de vous même. De ce mélange de douceur et de fermeté, de la rigueur et du quotidien, d’une façon d’écouter ce temps sans en rien rejeter, notamment la paternité. Dépasser le monde du Père sans renier les liens de la paternité, voilà qui m’a beaucoup donné à penser en vous voyant tous les quatre. Quand je vous lis je crois – surtout dans la Pharmacie de Platon et son admirable style – vous voir et vous entendre. Il n’y a pas un homme et une pensée, mais un homme qui en pensant se dit par tout ce qu’il dessine entre les lignes. Le blanc aussi important que le signe noir. Les évènements de mai ont confirmé ce que vous me disiez dans votre lettre de janvier sur l’homme de la rue. Il a démontré sa puissance mais il ne savait où aller et on l’a fait retourner aux mangeoires habituelles. Le mouvement étudiant a toute ma sympathie, mais le défoulement verbal, nécessaire sans doute, a trop duré, on a peutêtre oublié qu‘il y a eu un côté jeu admis conventionnellement des deux côtés« (BAUD 14, o.O., 11.07.1968).
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lich‹ bezeichneten Verbindungen. Darüber hinaus gibt es noch eine weitere Kritik an einer männlichen Figur der Geschichte der Freundschaft und ihren Zusammenhängen mit der Familie. Wenn Derridas Anliegen ein demokratisches Projekt ist, dann distanziert es sich dennoch von der Brüderlichkeit. Er hält am Namen der Demokratie fest, macht aber deutlich, dass diese zuallererst durch Heterogenität gekennzeichnet sein muss.167 »Aber vielleicht eignet ihm [diesem Denken einer neuen Form der Demokratie, nt] auch das Vermögen zu einer über die Grenzen des Staates und der Nation hinausgehenden Universalisierung, die nichts anderes universalisiert als eine Berücksichtigung der namenlosen und irreduziblen Singularität von Einzelnen, deren Differenz gegenüber indifferent ist, um die es dem blindwütigen Eifer einer Identitätsbehauptung zu tun ist, der das unzerstörbare Begehren korrumpiert, das sich am Idiomatischen entzündet.«168
Vielleicht sucht Derrida eine Politik der Freundschaft, die die Möglichkeit des Friedens nicht ausschließt, den Raum, den Schmitt in der Politik verschlossen hält. Demokratie ist hiernach ein universelles Projekt, das nur die »namenlose[…] und irreduzible[…] Singularität von Einzelnen, deren Differenz« vorschreibt. Während die politischen Konsequenzen solch eines Statements oft in Richtung des Liberalismus interpretiert wurden, hatte Derrida selbst sich von diesem allerdings zeitlebens abgesetzt.169 Wenn auch die These einer brüderlichen Gemeinschaft bei Derrida nicht angebracht ist, da Derrida weder von Brüderlichkeit noch von Gemeinschaft gerne spricht,170 so gilt diese Distanznahme nicht für die Demokratie. »Ist es möglich, die Demokratie oder das, was weiterhin auf den alten Namen Demokratie hört, zu denken und ins Werk zu setzen, indem man sämtliche Formen der Brüderlichkeit, nämlich der Familie oder der androzentrischen Ethnie entwurzelt, die ihr von all jenen Figuren der (philosophischen oder religiösen) Freundschaft diktiert werden?«171
Auch für die Demokratie gilt Derridas Vorsicht: »Selbst wenn es die Demokratie gibt – sie existiert nicht, sie ist nie gegenwärtig, sie blieb das Thema eines nicht 167 Vgl. PdF, 156. 168 PdF, 157. 169 Vgl. hierzu das Kap. VI. 170 Vgl. hierzu auch die Doktorarbeit von Marie-Ève Morin, Jenseits der brüderlichen Gemeinschaft. 171 PdF, 409.
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darstellbaren und nicht zur Anwesenheit zu bringenden Begriffs.«172 Es scheint hier mehr als um ein politisches um ein politisches Anliegen innerhalb der Philosophie zu gehen. Dann handelte es sich darum, die Politik, die mit Philosophien gemacht wird, indem sie Grenzen setzen und ausgrenzen, zu begrenzen und Philosophie als ein offenes Projekt zu betreiben, bei dem nicht im Vorhinein schon klar wäre, worauf man hinaus will.173 Noch konkreter geht es in diesem philosophischen Projekt, so scheint mir, um eine Kritik daran, dass Schmitt die Lektüre bestimmter, vorhandener philosophischer Texte zur Freundschaft unterschlägt. Derrida bringt im Kontext seiner Schmitt-Lektüre Aristoteles und Platon wieder hervor, indem er über das Lieben in Verbindung und über das Politische hinausgehend spricht. »Was, wenn es ein Lieben gäbe (aus Freundschaft oder Liebe), das mit der Bejahung des Lebens und der endlosen Wiederholung dieser Bejahung darum und nur darum einherginge, weil sein Weg über das Politische hinausginge (weil es, und dies wäre das philein selbst, seinen Weg lieben würde)?«174
Derrida nennt diese Position die Liebe zu einer anderen Art von Politik. Das Lieben des Selbst wird hier nicht als Selbstliebe betrachtet, also bezogen auf das Lieben eines Menschen von sich selbst, sondern als Liebe zum Lieben selbst. Freundschaft hat hiernach zwar mit Politik zu tun, aber sie ist auch gleichzeitig ein Werden, was immer wieder über die Politik, die vielmehr ein abgeschlossenes Werk wäre, hinausginge. Das schließt direkt an Aristoteles’ Bemerkungen zum Werk an, die er in Buch IX der Nikomachischen Ethik machte, dass nämlich die Tätigkeit der Kern der Freundschaft wäre, der unabgeschlossene Weg. Wenn es Politik in Derridas Freundschaftsverständnis gäbe, so würde sie von den freundschaftlichen Praktiken herausgefordert. Die Freundschaft scheint, wie bei Aristoteles auch, sich nur an sich selbst zu messen, einen Wert zu haben, der das Politische streift, aber nicht auf es zu reduzieren ist. Durch die Auseinandersetzungen Derridas mit Aristoteles und Schmitt wird deutlich, dass seine Ausführungen zur Freundschaft in Politik der Freundschaft im Rahmen einer Politischen Philosophie zu lesen sind, auch wenn Derrida an 172 Ebd. 173 Hier könnte man von Philosophie als poetischem Projekt sprechen, da die Bedeutungsmöglichkeiten möglichst in der Vielzahl gehalten werden und eine klare Parteinahme möglichst weit aufgeschoben wird. Die Philosophie könnte des Weiteren ethische Grenzen für die Politik setzen und umgekehrt könnte sie sich auch durch die Orientierung an politischer ›Realität‹ ›korrigieren‹ lassen. 174 PdF, 173f.
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Schmitt im Besonderen die Forderung stellt, sich zu entpolitisieren. Gleichzeitig verwehrt er sich gegenüber einer Reduktion der Freundschaft auf strategischen Allianzen.
GEGENSÄTZLICHE GESCHWISTER. WARUM FORMALE UND INHALTLICHE DIMENSIONEN DER FREUNDSCHAFT ZUSAMMEN GEHÖREN Es wurden im Vorangegangenen zwei ganz unterschiedliche Ebenen der Reflexion zusammen gestellt, die zunächst nichts miteinander zu tun zu haben schienen. Die Fragmente einer Freundschaft, mit denen dieses Kapitel begonnen wurde, haben scheinbar nichts mit der Freundschaft versehen mit Aspekten des Gefühls (Aristoteles, Cicero) als Gegensatz zum Politischen, verstanden als Öffentliches (Schmitt) oder der Entscheidung zu tun. Dass die Freundschaft auch in Derridas Leben von seiner Rolle als öffentlicher Person maßgeblich bestimmt war, sieht man allerdings an seinen Briefen an und denen von Althusser. Es geht darum, einander zu helfen, öffentliche Positionen auszukleiden, einander zu helfen, ein Leben zu führen, was in weiten Teilen durch Reisen, Distanz, beruflicher Forderung und Überforderung gekennzeichnet war. Es wird deutlich, dass die Eile Teil einer Freundschaft ist, die damit umgehen muss, dass diese Frage des Beruflichen und die Fragen des Politischen sie ständig in Aufruhr halten. Auch Bauchau verleiht diesem Aspekt in einem Brief an Derrida Ausdruck: »Ihr Brief vom Januar hat mich gefreut und mir Kummer bereitet, weil es wirklich eine Schande ist, dass ein Mann Ihren Kalibers von den Zwängen und der Unruhe der Epoche so in seinem inneren Refugium angegriffen ist.«175
In diesem unmöglichen Refugium, so erscheint es, war für Derrida die Notwendigkeit einer neuen Art von Gemeinschaft dringlich, die vielleicht nicht als Gemeinschaft zu bezeichnen wäre, in der er aber eine Art vorübergehenden Aufenthaltsorts fand. Hier müsste man von einer Art von Treue und Familie sprechen, die sich nicht in die natürliche Form übersetzen lässt;
175 »Mon cher Jacques, Votre lettre de janvier m’a fait plaisir et m’a chagriné car il est bien dommage qu’un homme de votre trempe soit à ce point assailli dans son refuge intérieur par les obligations et l’agitation de l’époque« (BAUD 25, Gstaad, 11.02.1972).
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»Auf meine Weise liebe ich, wie wahrscheinlich alle Welt, ja, liebe ich meinen Bruder, meinen einzigen Bruder. Und meine Brüder, die lebenden und die toten, dort wo der Buchstabe und die Buchstäblichkeit nicht mehr zählen und nie gezählt haben, in meiner ›Familie‹ und in meinen ›Familien‹, ich habe mehr als eine und habe nicht mehr eine, und habe mehr als einen Bruder mehr als eines Geschlechts, und ich liebe es, ihrer mehr als einen zu haben, mehr als einen doch jedes Mal einzigen, mit dem und mit der mich, in mehr als einer Sprache, über mehrere Grenzen hinweg, mehr als eine Verschwörung und mehr als ein unausgesprochener Schwur verbinden.«176
Und wie es scheint, hatte Derrida in seinen Freundschaften diesen Ort gefunden, auch wenn er es vielleicht nie eingestanden hätte. »Im selben Zug habe ich mich gefragt, warum ich niemals auf eigene Rechnung, wenn man so sagen kann, niemals in meinem eigenen Namen das Wort Gemeinschaft (eingestehbar oder uneingestehbar, darstellbar oder undarstellbar) hätte schreiben können?«177
schreibt Derrida dazu, was Blanchot über Juden als seine oder ihre Brüder sagt. Derrida hält sich davon fern, von Gemeinschaft oder Brüderlichkeit in einem positiven Sinne zu sprechen. Aber was, müsste man fragen, ist ein Bruder noch, wenn er nur durch einen unausgesprochenen Schwur mit Derrida verbunden ist? Wenn er lebend oder tot ist? Wenn »Familie« in Anführungszeichen gesetzt wird und Liebe offenbar nicht mehr an natürliche Abstammung gebunden sein soll? Gibt es Familie, Liebe und Freundschaft überhaupt noch bei einer so minimalen Konzeption? Von Treue zu sprechen könnte deshalb an dieser Stelle hilfreich sein, wo die Treue nicht unter Zwang versprochen wird. Die Treue ist, will sie überzeugend gegeben sein, freiwillig. Sie müsste weder eingestehbar noch uneingestehbar bleiben, sie dürfte überhaupt nicht geäußert werden, wollte sie nicht an Treue einbüßen. Treue ist, so denke ich, dieser unausgesprochene Schwur, den Derrida nicht benennen will, aber der doch die Freundschaft zu einer zutiefst politischen Angelegenheit macht. Es geht hierin offensichtlich nicht darum, mit der Freundin oder dem Freund in dieselbe Partei einzutreten. Derrida trat nicht in die Parti Communiste ein, in der Althusser eine Zeit lang Mitglied war. Aber es geht darum, einander die Treue zu halten, obwohl das praktische Leben von langen Zeiten der Distanz geprägt ist. Man könnte so von einem Hauch von Treue in Derrida sprechen. Nun ist Treue wiederum problematisch, weil sie auch wieder eine Reihe von geschichtlichen Verbindungen aufruft, in deren Nähe Derrida 176 PdF, 408. 177 Ebd., 407.
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vermutlich nicht gerückt werden wollen würde. Treue lässt im Politischen an jene Brüderlichkeit denken, die gerade noch mit Schmitt beiseite gelegt wurde, weil sie noch zu brüderlich wäre. Daher belasse ich es hier bei diesem Hinweis, dass die Derridasche Forderung nach etwas, das mehr als ein unausgesprochener Schwur sei, immer noch an eine Politik der Freundschaft erinnert, die an Brüder oder Schwestern im Geiste zu appellieren scheint. Und nicht nur im Aspekt der Treue bindet sich die Derridasche Kritik an Varianten der Freundschaft zurück an eine von ihm kritisierte Tradition. So muss es in Derridas Freundschaft offenbar genau diese Ambivalenz und mehr noch als Ambivalenz, Zerstreuung und Zerrissenheit geben. Dies alles könnte man auch als Notwendigkeit zur Auseinandersetzung fassen. Im ganz wortwörtlichen Sinn soll hier etwas – schriftlich – auseinander genommen werden. Und dann wäre die Freundschaft Derridas vielleicht nicht ganz entfernt von jener Freundschaft als Krieg, nur dass sie sich auch darauf niemals beschränken könnte. Auch wenn es keine leiblichen Brüder bei Derrida gibt, so gibt es konzeptuelle Brüder oder Schwestern; darin, dass Freundschaft in Liebe und Entscheidung besteht, darin, dass sie zugleich vielfach und einzigartig ist, darin, dass sie politisch ist und gleichzeitig unpolitisch bleibt. So ist dafür zu argumentieren, dass wenn es Verwandtschaft bei Derrida gibt, sie als schriftliche Nähe zu denken wäre. Es gibt Konzepte, mit denen er verwachsen ist. Diese besondere Art zu schreiben sucht eine Annäherung von Form und Inhalt, von Öffentlichkeit und Privatheit, von den zwei Seiten oder zwei Gesichtern der Freundschaft. Denken wir an das der Politik der Freundschaft vorangestellte Zitat von Cicero. Das Schwanken der Ciceronischen Schaukel der Freundschaft zwischen Liebe und Bedürftigkeit ist in Richtung der Liebe leicht gekippt. Es mündet also in der Entscheidung für oder gegen die Freundschaft. Mit seiner Neigung zur Seite der Liebe bleibt Cicero in einer Linie mit Aristoteles. Derrida auch? Granel schreibt in einem Text über Derrida, es müsse einen Text geben, der sich »durch das Gestotter und den Bruch« 178 auszeichne. Dieses können wir weiterdenken in Bezug auf eine andere Freundin von Derrida, Hélène Cixous, die selbst eine neue Art des Schreibens entwickelt hat (écriture féminine). Eine Zersetzung der Begriffe und der Wandel ihres Gebrauchs ist für Derrida hier am Beispiel der Brüderlichkeit vollzogen und hat einen innovativen Aspekt, der über die bloße Zerstreuung hinausgeht. Mit dem Verharren auf der Mitte der Schaukel jedoch ist Derrida möglicherweise dennoch eine minimale Präferenz eigen. Und diese Präferenz vor Gefühl und Entscheidung scheint die, möglicherweise etwas lebensferne, Seite der Schrift zu sein. Der Freund Henry Bauchau fragte kurz nachdem Derrida ihm seine Texte (unter anderem La dissémination, und La 178 »par le bégaiement et la brisure« (Granel, »Sibboleth ou de la lettre«, 203).
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différance) geschickt hatte, ob Derrida sich an das Schreiben außerhalb der Philosophie gewagt habe: »Jean Amrouche sagte mir, dass es bei den Berberfamilien Familien gab, in denen von Generation zu Generation ein genialer179 Sänger oder eine Sängerin auftauchten. Familien der »clairchantants«, es gibt dieses Zeichen an Ihnen, aber vielleicht wollen Sie da noch nicht zu klar sehen, obgleich der Ort des Gedichts beredt [diseur] ist und sein Weg den gestrichelten Linien geometrischer Figuren ähnlicher ist, die auf unsichtbare Oberflächen oder Umfänge deuten als den Linien und Kurven des Sichtbaren. Ich verstehe Ihre Besorgnis, mit all Ihrer Belastung, dort nicht hinzugehen, das ist auch meine Sorge in dem Roman, aber vielleicht müsste man die Last durch Operationen innerer Alchimie kondensieren.«180
Schließlich soll noch erwähnt sein, dass eine der politischen Organisationen, denen Derrida engagiert war, das Parlement international des écrivains war.181
179 Wort schlecht entzifferbar, daher nur Vermutung, dass es sich um »chanteur inventeur« handelt. 180 »Jean Amrouche me disait que chez les Berbères il y avait des familles où de génération en génération un chanteur inventeur ou une chanteuse apparaissait. Des familles de ›clairchantants‹, il y a de ce signe sur vous, mais peut-être voulez vous encore y voir trop clair, alors que le lieu du poème est diseur et son chemin plus semblable aux lignes pointillées des figures géométriques indiquant les surfaces ou volumes invisibles qu’aux lignes et courbes du visible. Je comprends très bien votre souci de n’aller là qu’avec tout votre chargement, c’est aussi ma préoccupation dans le roman, mais peut-être faudra-t-il condenser ce chargement par des opérations d’Alchimie intérieure« (BAUD 7, Gstaad, 23.04.1969). 181 Er war an der Gründung dieses Parlaments für Schriftsteller beteiligt und gründete des Weiteren 1983 mit seinen Freunden zusammen das Collège international de philosophie (Vgl. Derrida, Penser à Strasbourg, 56 f.). Hier werden zwei Präferenzen Derridas deutlich; eine für das Schreiben im Allgemeinen, eine für die Philosophie.
Sie wissen es, wir wissen es, auch wenn dieses Wissen sich ohne Unterlass zerstreut. Die Beziehungen zwischen der Philosophie und der Literatur bleiben das Enigma und die Notwendigkeit, die ungewisse Notwendigkeit, ohne die es niemals zum Ort zum Schreiben kommen würde – aber wo ist dieser Ort und schreibt man jemals? / Vous le savez, nous le savons, même si ce savoir se dissipe sans cesse. Les rapports de la philosophie et de la littérature restent l’énigme et la nécessité, la nécessité incertaine sans laquelle il n’y aurait jamais lieu d’écrire – mais où est ce lieu et écrit-on jamais? Brief von Blanchot an Derrida, 21.06.1982.
Danke für dieses Buch, danke für all diese Bücher und vor allem und abseits dieser, für die Zeichen, die nicht nur von den Texten kommen, sondern wie von einer neuen Schrift, die umschreibt. / Merci pour ce livre, merci pour tous les livres, et surtout, en dehors d’eux, pour les signes qui viennent non seulement des textes, mais comme d’une nouvelle écriture qui réécrit. Brief von Blanchot an Derrida, 1976.
Différance in der Freundschaft Verzug, Abwesenheit, Wiederholung – Aspekte des Fiktiven
Wenn im dritten Kapitel dafür argumentiert wurde, dass Freundschaft in der Adressierung der Freundin oder des Freunds liegt, so soll in diesem Kapitel eine Adressierung über différance plausibilisiert werden. Im vorigen Kapitel ging es um die Frage der Politik. Wie weit darf ein Freund sich entfernen? Wann schlägt die Freundschaft in Feindschaft um, oder wann wird sie zur ›politischen‹ Freundschaft, zu einer Freundschaft, die nur der Form und der Vorgabe nach Freundschaft ist? In Abgrenzung zur Thematik der Antwort und der Differenz wird versucht zu zeigen, worin das Eigene der différance besteht und dass Freundschaft genau diesen Abstand, Aufschub und die damit verbundene Trauerarbeit braucht, die in der différance angelegt sind. Auch geht es hierin um die spezifische Form der Freundschaft unter Schriftstellern oder Philosophen.
AUFGESCHOBENE ANTWORTEN. EINFÜHRUNG IN DIE DIFFÉRANCE Blanchot schreibt in einem Brief an Derrida: »Danke für dieses Buch, danke für all diese Bücher, und vor allem, und abseits dieser, für die Zeichen, die nicht nur von den Texten kommen, sondern wie von einer neuen Schrift die um-schreibt.«1 Die Beobachtung Blanchots legt den Finger auf eines der Themen, mit denen Derrida sich seit Jahren beschäftigt. In der Grammatologie, die neun Jahre vor diesem Brief veröffentlicht wurde, lehrt Derrida Grammatologie, die er zunächst mit Rückgriff auf das Wörterbuch Littré als die »Lehre von den Buchstaben,
1
»Merci pour ce livre, merci pour tous les livres, et surtout, en dehors d’eux, pour les signes qui viennent non seulement des textes, mais comme d’une nouvelle écriture qui réécrit«, BLD 2, 1976, Le Mesnil Saint-Denis.
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vom Alphabet, der Syllabierung, dem Lesen und dem Schreiben«2 begreift. Es ist erklärtes Ziel Derridas, dass diese Lehre in wissenschaftlicher, geschriebener Form übermittelt wird.3 Die Grammatologie selbst soll aber jenseits von bisherigen Wegen führen, eine Wissenschaft von der Schrift zu begründen, die er als abgeschlossen betrachtet: »Vor allem möchten wir zu bedenken geben, daß eine solche Wissenschaft von der Schrift – so notwendig und fruchtbar dieses Unternehmen auch sein mag –, selbst wenn sie im günstigsten Falle alle technischen und epistemologischen Hindernisse überwinden, alle theologischen und metaphysischen Fesseln von sich abstreifen würde, die sie bisher einschränkten, Gefahr läuft, vielleicht niemals als solche und unter diesem Namen das Tageslicht zu erblicken; niemals die Einheit ihres Vorhabens und ihres Gegenstandes definieren, weder ihre Methode diskursiv fassen noch die Grenzen ihres Feldes umreißen zu können. Dafür gibt es wesentliche Gründe: die Einheit all dessen, was heute in den unterschiedlichsten Auffassungen von Wissenschaft und Schrift sichtbar wird, ist im Prinzip, wenn auch mehr oder weniger verborgen, seit je durch eine historisch-metaphysische Epoche determiniert, deren Geschlossenheit [clôture] wir gerade erst erahnen können. Wir sagen nicht Ende [fin].«4
Hiermit ist die Metaphysik gemeint und auch wenn Derrida noch nicht von einer Geschlossenheit der Epoche sprechen mag, wird doch eine Kritik an einer metaphysischen Bestimmung der Schrift und der Wissenschaft deutlich. Er stellt sich seine Grammatologie als Befreiung vor. »In Anspielung auf eine Wissenschaft von der Schrift, die noch an die Metapher, die Metaphysik und die Theologie gefesselt ist, soll die Devise mehr als nur ankündigen, daß die Wissenschaft von der Schrift, die Grammatologie – dank entschiedener Anstrengungen weltweit die Zeichen zu ihrer Befreiung setzt. Diese Anstrengungen lassen sich nur schwer wahrnehmen und sind notwendigerweise diskret und verstreut. Das gehört zu ihrem Sinn und zum Wesen des Bereiches, in dem sie wirksam werden.«5
Erinnern wir uns auch daran, dass Granel Derrida geschrieben hatte, eine wesentliche Schrift sei durch ihn zum Durchbruch gekommen.6 Es war auch von der Schrift als Anathema die Rede. Nun scheint es also hier, als habe es eine unter2
GRA, 13.
3
Die Grammatologie ist für Derrida »Wissenschaft von der Schrift« (Ebd., 13).
4
Ebd., 14.
5
Ebd., 13f.
6
Vgl. Kap. III.
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drückte Schrift gegeben, die von sich aus verstreuend ist und deren Verstreuung ihr Sinn ist. Es ist also das »geschriebene Sein«,7 worum es geht und wonach Derrida ein Unterkapitel der Grammatologie benennt; »Im geduldigen Nachdenken und in der strengen Erforschung des Bereiches, der sich vorläufig noch Schrift nennt […] äußert sich vielleicht die Irre [errance] eines Denkens, das treu und aufmerksam auf eine unaufhaltsam kommende Welt gerichtet ist, die, jenseits der Geschlossenheit [clôture] des Wissens, sich der Gegenwart kundtut.«8
Dies könne sich nur »in Gestalt der Monstrosität« »präsentieren«.9 Überhaupt scheint das geschriebene Sein zunächst irregeleitet werden zu müssen. Außerdem unterscheidet Derrida zwei Arten der Schrift. Einerseits nennt er die »natürliche Schrift« die noch an die Stimme, an den Atem gebunden ist, und die nicht grammatologisch sei.10 Andererseits nennt er die heilige innere Stimme, die wahrnehmen kann, wer in sich blickt, jene »Präsenz des göttlichen Wortes in der Innerlichkeit unseres Gefühls«.11 Es scheint zunächst so, als würde ›die heilige‹ Schrift das sein, was Derrida mit seiner neuen Schrift meint. Dies ist jedoch nur ein erster Eindruck. Denn er selbst warnt davor, dass man wie Heidegger »eine profunde, an eine Ur-Wahrheit heranreichende ontologische Intuition, also eine ganze, unter dem Gewand eines empiristischen oder metaphysischen Textes verborgende Fundamentalität restaurieren oder auslegen wollen«12 könnte. Ihm geht es hingegen darum, »die Wiederaneignung der Differenz«13 zu verhindern. Ich würde dennoch dafür plädieren, dass sie einer heiligen Schrift ähnelt, denn nur Heiliges dürfte gerade nicht niedergelegt, geschrieben und damit festgelegt werden, zumindest nicht von Menschen. Auch klingt es so, als gäbe es prophetische Zeichen in dieser Schrift, allerdings ohne Propheten. Sie ist aber anders als vielleicht manche heilige Schriften es nahelegen, nicht von außerhalb dieser Welt. Das, was sich hier »vorläufig noch Schrift nennt«, ist nicht völlig abgehoben von jener Distinktion von Schrift und mündlichem Wort. Für Derrida muss sich diese neue Schrift aus der Welt selbst ergeben, in der es eine binäre Differenz von Schrift und gesprochenem Wort gibt:
7
Ebd., 35.
8
Ebd., 15.
9
Ebd.
10 Ebd., 33. 11 Ebd. 12 Ebd., 36. 13 Ebd., 48.
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»Die Idee der Wissenschaft und die Idee der Schrift – also auch die Idee der Wissenschaft von der Schrift – haben für uns nur Sinn von einem Ursprung her und innerhalb einer Welt, für die ein bestimmter Begriff des Zeichens (wir werden später sagen: der Zeichenbegriff) und ein bestimmter Begriff des Verhältnisses zwischen gesprochenem Wort und Schrift schon feststeht.«14
Derrida führt mit dieser neuen Schrift seine Kritik an der Metaphysik der Präsenz ein. Hauptgegner dieser Kritik ist Aristoteles. Der Phonozentrismus bei Aristoteles sei Teil der Sinn-Bestimmung des Seins als Präsenz. 15 Dieser Bestimmung folgt Derrida nicht. Für ihn ist die Sprache ein Modus der Schrift.16 Dieses Verständnis der Schrift deckt sich jedoch nicht mit allem, was man bislang über Schrift dachte. Schrift für Derrida ist gekennzeichnet durch den »ökonomische[n]«17 Begriff der différance, der die »Produktion des Differierens im doppelten Sinne des Wortes [différer – aufschieben / (von einander) verschieden sein, nt] bezeichnet.«18 Die Schrift ist aus dieser Perspektive jedes Mal anders und darin auch in différance zu sich selbst.19 Nehmen wir eine Textstelle eines relativ frühen Texts von Derrida zur Schrift hinzu. Er liest hier Condillac und schreibt: »Eine Schrift, die nicht über den Tod des Empfängers hinaus strukturell lesbar – iterierbar – ist, wäre keine Schrift.«20 Ein erstes Kennzeichen der Schrift laut Derrida wird hier also in ihrer Wiederholbarkeit deutlich. Das, was für den Empfänger gilt, nämlich dass er – potenziell – tot sein können muss, damit die Schrift als solche funktionieren kann, gilt hier auch für den Sender, der sich und seine Präsenz auslöschen muss, damit sein Text lesbar wird.21 Da eine Wiederholung aber nie eine echte Kopie sein kann, weil sie in einem neuen Kontext geschieht, wird die Möglichkeit gegeben, dass es neue Bedeutungen gibt. Darauf deutet Derridas différance hin, eingefasst in eine Kritik an der Erfahrung des
14 Ebd., 14. Rheinberger übersetzt gesprochenes Wort mit parole und Sprache mit langue. 15 Ebd., 26. 16 Ebd., 19. 17 Derrida scheint darauf hinweisen zu wollen, dass es eigentlich um mehr als einen Begriff geht, er aber aus ökonomischen Gründen hier aufschiebt, einen besseren Begriff für Begriff zu finden. 18 GRA, 44. 19 Vgl. SEK, 298. 20 SEK, 298. 21 Vgl. SEK, 299.
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Seins als Präsenz.22 Ein Kontext ist hiernach die »Gesamtheit von Abwesenheiten, die das Moment seiner [des Zeichens] Einschreibung organisieren«23. Aber was bedeutet différance noch, die sich im Deutschen nicht wiedergeben lässt? Différer heißt im Französischen nicht nur unterscheiden, sondern auch aufschieben. Die Differenz der Schrift, die außerhalb ihres Kontexts wiederholbar und dazu fähig sein muss, mit dem Kontext zu brechen, um überhaupt etwas aussagen zu können ist also auch ein Aufschub oder wie Derrida es nennt, die Möglichkeit der Verräumlichung des Zeichens. 24 Nun besteht die eigentliche Provokation im Denken Derridas darin, dass er dieses System nicht nur in der schriftlichen Kommunikation gegeben sieht, sondern sogar »auf jede ›Erfahrung‹ im allgemeinen ausdehnen«25 will und das hiernach vielleicht sogar die Schrift »nicht existiert«26. Der Möglichkeitsraum der Kommunikation, wie er ihn hier fasst, ist ihre différance, in der die Präsenz und die Intention der gewöhnlichen Sprache Spezifika sind, die eine Wirkung haben, aber die zuletzt einem Aufschub inbegriffen sind,27 der auch das deutlich macht, was Derrida sagt, wenn er schreibt: Eine letzte Gewissheit über die Bedeutung eines Texts gibt es nicht. Die Bedingung der Möglichkeit der Schrift ist zugleich ihre Unmöglichkeit.28 ›Schrift‹ erhält damit eine neue Bedeutung – »Dieser allgemeine Raum ist zunächst die Verräumlichung als Unterbrechung der Anwesenheit im Zeichen [marque], was ich hier Schrift nenne.«29 Schrift, »den alten Namen« wolle er nur »provisorisch und strategisch« 30 beibehalten. Um der Tendenz zur Hierarchie und Binarität metaphysischer Begriffe beizukommen, ginge es ihm um eine »doppelte Schrift«31. In diesem Kontext taucht zum ersten Mal das Wort Dekonstruktion auf.32 Wie im Prolog behauptet wurde, hat jedes Verständnis der Freundschaft in philosophischen Texten Voraussetzungen. Für Derrida war eine der wichtigsten Erfahrungen seines Lebens das Schreiben. Bei ihm verbinden sich in methodischer Hinsicht diese beiden Pole der Erfahrung und der Schrift. Dies ist an der 22 Vgl. Ebd., 300. 23 Ebd. 24 Vgl. Ebd., 300. 25 Ebd., 301. 26 Ebd., 304. 27 Vgl. SEK, 311. 28 Vgl. Ebd., 313. 29 Ebd., 311. 30 Beides ebd., 313. 31 Ebd. 32 Vgl. Ebd.
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phänomenologischen Methode Husserls orientiert:33 »Husserl ist für mich jemand der mich eine Technik gelehrt hat, eine Methode, eine Disziplin, die mich niemals verlassen hat.«34 »Zum Beispiel wissen Sie, dass das Prinzip der Prinzipien der Phänomenologie, mit der Rückkehr zu den Sachen selbst, die Regel der Intuition ist, mit der Gegebenheit der Sache selbst in ihrer Präsenz, aus Fleisch und Knochen, wie man sagt. In Husserls Werk gibt es Momente, da – er erkennt das selbst an – dieses Prinzip auf eine gewisse Weise scheitert, ob es sich um die Zeit oder den Anderen handelt; man kann nicht als Phänomenologe von der Zeit oder vom Anderen sprechen, ohne auf eine gewisse Weise dieses Prinzip zu verraten, jedenfalls ohne die Treue zu diesem intuitionistischen Prinzip auszusetzen.«35
Die Dekonstruktion scheint Husserls Phänomenologie erweitern zu wollen: »Ich habe also versucht, indem ich mich bei Husserlschen Momenten inspirierte, die die Phänomenologie in Schwierigkeiten bringen, eine Art der Präsupposition oder des metaphysischen Prinzips am Ursprung der Phänomenologie zutage zu bringen. Das führt dazu, dass das, was man Dekonstruktion nennt, zugleich eine phänomenologische Geste war (sich von spekulativen philosophischen Präsuppositionen eines gewissen Erbes frei ma-
33 Waldenfels zufolge ist der Unterschied zwischen Derridas ré-écriture und Husserls Streben nach Anschaulichkeit ein größtmöglicher Gegensatz (vgl. Waldenfels, Phänomenologie in Frankreich, 536). Waldenfels trennt hierin Derrida in einen frühen Derrida und einen späten ab 1964 oder 1966 (vgl. ebd., 538). In der folgenden Arbeit wird es – falls es eine solche Trennung gibt – hauptsächlich um den späteren Derrida gehen. 34 »Husserl est pour moi celui qui m’a enseigné une technique, une méthode, une discipline, celui qui ne m’a jamais abandonné« (SP, 84). Aber Heidegger sei ihm näher »vom Gesichtspunkt einer existentiellen Tonalität« (»du point de vue de la tonalité existentielle« ebd., 84) her. 35 »Par exemple, vous savez que le principe des principes de la phénoménologie, avec le retour aux choses mêmes, c’est la règle de l’intuition, de la donnée de la chose même dans sa présence, en chair et en os, comme on dit. Il y a dans l’œuvre de Husserl des moments où – il le reconnaît lui-même – ce principe est mis en échec en quelque sorte, qu’il s’agisse du temps ou de l’autre ; on ne peut pas parler en phénoménologue du temps et de l’autre sans d’une certaine manière trahir ce principe, en tout cas sans interrompre la fidélité à ce principe intuitioniste« (ebd., 84 f.).
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chen oder sich befreien), aber zur selben Zeit, ein Versuch, im Gebäude der philosophischen Thesen der Phänomenologie einige dieser Präsuppositionen aufzudecken.«36
Es wird hierin eine Absicht erkenntlich, über die Phänomenologie hinaus gehen zu wollen und sich von ihrer Geste zu befreien, die wie die Philosophie vor ihr auf einer metaphysischen Grundlage steht. Im Prinzip der Dekonstruktion beabsichtigt er nicht das Schaffen eines neuen metaphysischen Begriffs: »Es gibt keinen metaphysischen Begriff an sich. Es gibt eine – metaphysische oder nichtmetaphysische – Arbeit an Begriffssystemen«,37 schreibt Derrida darüber. Vielmehr gehe es darum, durch das Verschieben und Umkehren begrifflicher Ordnungen38 neue Bedeutungsspielräume zu eröffnen und das kommunizierbar zu machen, was an der Grenze des Kommunizierbaren ist. Nancy beginnt seinen Text betitelt mit Différance wie folgt. Différance sei »nicht als ein erworbenes Konzept behandeln, denn sie ist ›weder Wort noch Begriff‹. Nicht den Fetisch, den Schlüssel oder das Siegel eines irgendwo hinterlegten Sinns daraus machen. Sie ist – wenn sie ›ist‹ – der Index des Sinns als abwesender Sinn ohne Entbehren von Sinn.«39
Hiermit deutet er darauf hin, was in Derridas Philosophie allem voraus liegt und welches seine spezielle Geste ist. Bei all der Niederschlagung der Brücken, die sein Philosophieren vorsieht, gesteht er eine Art Ursprung ein, der nicht zu entwurzeln ist.40 »Unbestreitbar ist die Dekonstruktion eine Geste der Affirmation, ein ursprüngliches ja, das nicht leichtgläubig, dogmatisch oder von einer blinden Zustimmung ist, optimistisch,
36 »C’est donc toujours en m’inspirant de ces moments husserliens, qui mettent en difficulté la phénoménologie, que j’ai essayé de mettre au jour une sorte de présupposition ou de principe métaphysique à l’origine de la phénoménologie. Ce qui fait que ce que l’on appelle la déconstruction était à la fois un geste phénoménologique (s’affranchir ou se libérer de présuppositions spéculatives philosophiques d’un certain héritage), mais en même temps, un essai pour déceler dans l’édifice des thèses philosophiques de la phénoménologie certaines de ces présuppositions« (ebd., 85). 37 SEK, 314. 38 Vgl. SEK, 314. 39 In seinem Artikel, Nancy, Jean-Luc, »Différance«, 53. 40 Es gäbe etwas, das »indéracinable« sei (SP, 85).
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vertrauensvoll, positiv, dass das ist, was durch das Moment der Befragung, des Hinterfragens, vorausgesetzt ist, das affirmativ ist.«41
In zirkulärer Weise vom Ursprung der Dekonstruktion sprechend, weist Derrida ein einziges Moment der Wahrheit auf, von dem sich sprechen lässt: das Moment des affirmativ darin ist, dass es alles in Frage stellt.
VOM ›VERZUG‹ ZUM ›TOD‹. DIE SCHLUSSFOLGERUNG, DASS EINE FREUNDSCHAFT DER NÄHE NUR EIN WUNSCH IST. MIT POSTKARTEN ZWISCHEN DERRIDA UND BLANCHOT Nun scheint aber die Korrespondenz eine Sonderform des Schriftlichen zu sein. Sie ist, folgt man Gadamer, zwischen Mündlichkeit und Schrift angesiedelt. »Der zeitliche Abstand, der die Absendung eines Briefs vom Empfang der Antwort trennt, ist eben kein äußerliches Faktum allein und prägt die Kommunikationsform der Korrespondenz in ihrem eigenen Wesen als eine besondere Form der Schriftlichkeit.«42
Diese Definition scheint gerade das Kriterium des Schriftlichen, das Derrida findet, für den Brief im Speziellen anwenden zu wollen. Der zeitliche Abstand wird hier als das Konstitutive des Briefwechsels gesehen, also die Notwendigkeit, dass ein Brief immer verspätet ankommt. Was genau ist mit diesem strukturellem Abstand gemeint? Gadamer beschreibt in Wahrheit und Methode die Korrespondenz als ein Übergangsphänomen, das »die Bewegung des Aneinander-Vorbeiredens und Miteinander-Übereinkommens gleichsam zerdehnt«.43 Wo im Gespräch Aneinander-Vorbeireden und Miteinander-Übereinkommen nahezu gleichzeitig passieren, installiert der Briefwechsel einen zeitlichen Abstand. Hier wird auch deutlich, dass Gadamer den Briefwechsel im Vergleich zum Mündli-
41 »Incontestablement, la déconstruction est un geste d’affirmation, un oui originaire qui n’est pas crédule, dogmatique ou d’acquiescement aveugle, optimiste, confiant, positif, qui est ce qui est supposé par le moment d’interrogation, de questionnement, qui est affirmatif« (ebd., 88). 42 Hier und weiter: »So ist es bezeichnend, daß die Verkürzung der Postzeiten durchaus nicht zu einer Intensivierung dieser […] geführt hat« (Gadamer, Wahrheit und Methode, 374 f.). 43 Gadamer, Wahrheit und Methode, 374.
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chen bestimmt. Diese Orientierung am Mündlichen müsste man mit Derrida umkehren, denn die Zentriertheit auf das mündliche Gespräch – auf die Stimme also – wird dort vor allem kritisiert. Aufschlussreich sind die Bemerkungen Gadamers dennoch in diesem Zusammenhang. Denn er betont die Bewegung dieses Übergangsphänomens als begrenzt; wie die Schrift habe der Brief ein Maß an Endgültigkeit einzuhalten. 44 Wenn die hermeneutische Aufgabe ist, in das Gespräch mit dem Text zu kommen,45 so ist das Gespräch sowohl im hermeneutischen Verstehen eines Texts als auch beim Verfassen von Korrespondenz aufgrund jener Distanz eine herausfordernde Aufgabe. Kunstvoll sei die Korrespondenz vor allem dann, wenn die schriftliche Aussage nicht nur Abhandlung würde, sondern darauf gerichtet sei, dass sie ein anderer erhält und annimmt.46 Für Derrida gibt es die Differenz zwischen Schrift und Mündlichkeit nicht außerhalb des Prozesses der Bedeutung selbst (nicht außerhalb der différance). 47 Dies scheint Gadamers Beobachtung über die Korrespondenz als Übergangsphänomen noch zu radikalisieren. Denn mit Derrida betrachtet ergäbe sich eine Zuschreibung, ob der Brief Schrift oder Mündlichkeit ist, immer wieder neu und wäre nie ganz zu entscheiden. Gadamers Bestimmung des Briefwechsels lässt uns verstehen, dass gerade den Briefwechsel ein gewisser Abstand ausmacht. Im Kapitel Freundschaft ohne Brüder und Väter wurde darüber geschrieben, wie zwischen Althusser und Derrida der ›Verzug‹ zu einem Thema der Briefe wird. Wie wäre zu unterscheiden, ob es sich bei dem in den Briefen thematisierten Verzug um tatsächliche Erschöpfung und Überforderung oder aber um ein Gefühl des Verzugs hielte? Diese Frage lässt sich hier nicht beantworten. Sagen lässt sich aber sicher, dass diese ausgesagte Unzulänglichkeit der Briefe, die aus der Perspektive Derridas zu spät kommen, nicht immer etwas mit der Quantität der tatsächlich abgesandten Briefe zu tun hatte; Derridas Kontakt zu Althusser ist viel dichter als zum Beispiel der zu Blanchot und es geht in ersterem viel konkreter um die zu erledigenden Pflichten. Aber das beschriebene Gefühl ist ähnlich – und das sogar fast 40 Jahre später – zu dem, was er in Postkarten an Blanchot schreibt. Ich möchte hier zur Lektüre dieser Briefe Blanchots und Derridas überleiten, und hoffe, dass sie den Leserinnen und Lesern einen Eindruck von der Tonalität des Briefwechsels Blanchots und Derridas geben kann, die über dasselbe Thema des ›Verzugs‹ variieren. Diese Variation wird schließlich zu dem Thema ›Tod‹ überleiten. 44 Vgl. Ebd., 374. 45 Vgl. Ebd. 46 Vgl. Ebd. 47 Zum weiteren Dialog zwischen Derrida und Gadamer vgl. Derrida / Gadamer, Der ununterbrochene Dialog.
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Wenn wir bereits festgestellt haben, dass die Freundschaft mit einer bestimmten Anzahl einhergehen kann, dann deshalb, weil man sich mit den meisten nur schreibt, sie anruft oder sie regelmäßig trifft, aber nicht mit allen zusammenleben kann. Diese Frage taucht schon bei Aristoteles auf. – »So ist auch die Zahl der Freunde begrenzt, und ihr Maximum wird sich wohl danach bestimmen, mit wie vielen man zusammenleben kann.«48 Für Aristoteles ist das Zusammenleben wichtiger Bestandteil von Freundschaft. Freunde tauschen sich im Gespräch aus und leben zusammen, sie sind füreinander präsent und auch einander bewusst: »Mithin bedarf es auch eines Bewußtseins vom Dasein des Freundes, und ein solches wird vermittelt durch das Zusammenleben und den Austausch der Worte und Gedanken. In diesem Sinne ist das Zusammenleben bei Menschen zu verstehen, nicht wie beim Vieh das Weiden auf einer Trift.«49
Freundschaft bedarf der räumlichen Nähe, nicht zu langer Trennung und im Idealfall des Zusammenlebens.50 Ideal wäre hiernach die »Tägliche Lebensgemeinschaft«51. Hier wird auf einen gemeinsamen Lebensraum Bezug genommen, der gegeben sein soll. Was für ein Lebensraum könnte hier gemeint sein? Es soll zumindest ein Austausch sein, in dem der Freund bewusst wahrgenommen wird in seiner Existenz als solcher. Wer zusammenlebt, kann auch den anderen besser wahrnehmen, so Aristoteles hier. Er spricht auch davon, dass die Zeit und Gewohnheit des Zusammenlebens Freunde machen. 52 Freundschaft brauche Zeit, sie sei nicht schnell. 53 Von dieser Vorstellung aus gesehen wäre eine Brieffreundschaft kaum als wirkliche Freundschaft zu bezeichnen. Ein Brieffreund könnte seine Gegenüber weder bewusst wahrnehmen, noch hätte er die nötige Präsenz, die die Freundschaft braucht. Wenn die Trennung zu lange dauert, macht sie die Freundschaft vergessen.54 Das sieht man an der Unmöglichkeit der Freundschaft unter Schlafenden oder räumlich Getrennten, obgleich ein freundschaftlicher Habitus in solchen Fällen bestehen bleiben kann.55 Was von Aristoteles hervorgehoben wird, ist nicht der Verlust eines Gefühls der Freundschaft, 48 Aristoteles, Nikomachische Ethik, 1171a1–5/230. 49 Ebd., 1170b 10–15/229. 50 Vgl. Ebd., 1157b5–10. 51 Ebd., 1157b20–25. 52 Vgl. Ebd., 1156b25–30/186. 53 Vgl. Ebd., 1156b25–30/186 ff. 54 Vgl. Ebd., 1157b10–15/189. 55 Vgl. Ebd., 1157b5–10/188 f.
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sondern der Praktiken, die er für Freundschaft so wichtig hält.56 Zu viel Abstand, zu viel Differenz, schließt die Freundschaft aus. Ist dies aber notwendig der Fall? Riskieren wir einen Blick in die Briefe zwischen Derrida und Blanchot.57 »Wir sind auch hinaufgefahren nach Eze, von wo ich jeden Sommer eine Postkarte an Blanchot sende. Sie wissen, dass er dort gelebt hat, und in meiner Gewohnheit frage ich mich jedes Mal, ›wird dies das letzte Mal sein, die letzte Karte?‹«58
In einem veröffentlichten Brief an Catherine Malabou beschreibt Derrida seine Gewohnheit, Postkarten an Maurice Blanchot zu senden. Derrida hat Blanchot mit gesetzmäßiger Gewohnheit Postkarten geschrieben, wenn er in Eze war, wo Maurice Blanchot ein Haus hatte, in dem er ab und zu lebte. Die Postkarten waren an den Hauptwohnsitz Blanchots in Mesnil-Saint-Denis adressiert. Sechs Postkarten im Zeitraum zwischen 1995 und 1996 sind in den Cahiers Blanchot veröffentlicht, zwei davon zeigen Eze. Derrida hatte sie jedoch beide nicht in Eze zur Post gebracht, sondern sie wurden von verschiedenen Orten aus abgeschickt: von Roissy, vom Aéroport Charles de Gaulle und einmal vom 20 Autominuten entfernten Villefranche-sur-Mer. Derrida hatte dort in der Nähe Familie. Die Postkarten von Derrida, der ständig auf Reisen ist, folgen ihm so auf dem Weg zu seiner nächsten Station. Die Postkarten an Blanchot vergegenwärtigen wiederum den Entfernten, der über die Distanz hinweg daran appelliert, um die Freundschaft nicht zu vergessen. So schreibt er zum Beispiel am 19. Juli 1995 aus London an Blanchot: »[I]ch will Sie vor allem um Entschuldigung bitten: die Seltenheit meiner Zeichen, ich werfe sie mir oft vor […] Aber ich denke immerzu an Sie, ich höre Ihnen zu, lese Sie, spreche zu Ihnen.« 59 Die empfundene Freundschaft stellt 56 Vgl.: »Denn die örtliche Trennung hebt nicht die Freundschaft, sondern ihre Betätigung auf.« (Ebd., 1157b10–15/189). 57 Zur Freundschaft der beiden – sie spricht von einer »amitié de pensée«, vgl. auch Berkman, Blanchot, Derrida: l’amitié, la déconstruction, l’écriture, 213. 58 »Nous sommes aussi montés à Eze, d’où j’envoie chaque été une carte postale à Blanchot. Vous savez qu’il y a vécu, et à mon habitude je me demande chaque fois ›sera-ce la dernière fois, la dernière carte?‹« (hier Derridas Brief an Malabou vom 04.09.1997 aus Villefranche-sur-mer, Meina (Lac Majeur) in: Derrida/Malabou, La contre-allée, 56). 59 »à la veille de ce 20 Juillet, de Londres où je suis venu pour un colloque, je veux surtout vous demander pardon: la rareté de mes signes, je me la reproche souvent, même si elle s’explique en partie par le désir de ne pas multiplier les [attentions], par la fatigue aussi et souvent le découragement, la dispersion, la [uWW]. Mais je pense
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hierin für den Postkartenschreiber, der kurze, aber bedeutungsschwangere Texte an sein Gegenüber sendet, eine Gegenzeit dar. Der Mangel an Briefen soll gerade nicht vermuten lassen, dass das ferne Gegenüber in Vergessenheit geraten sei. Diese Versicherung wird durch die unzähligen Werke, in denen Derrida sich mit Blanchot auseinandersetzt, unterstrichen. 60 Die Regelmäßigkeit der Postkarten bestätigt die Sprache auch performativ: »Dieses Wort um ihnen wieder zu sagen, über alle Worte hinaus, wie ich an Sie denke, mit welcher Regelmäßigkeit, mit welcher bewundernden Hochachtung, und welche Wünsche ich aus tiefstem Herzen für Sie hege«.61 Wiederholt bekräftigt Derrida die Nähe, und nur selten werden die Postkarten durch etwas anderes als diesen Grund der Betonung der inneren Ausrichtung auf den anderen bestimmt. Dies sind keine Briefe, in denen es darum geht, ein neues Arbeitsprojekt abzusprechen. – »Aber ich wollte Ihnen vor allem sagen, dass Ihr Denken mich niemals verlässt.«62 – Die dieser Arbeit vorliegenden Postkarten an Blanchot sind im Unterschied zu anderen Briefen Derridas (zum Beispiel die an Nancy) wirklich Ansichtskarten, also Momentaufnahmen oder in der Kürze brillierende, versandte Eindrücke von einem denkwürdigen Ort, die er dem fernen Freund übermittelt. Blanchot, der zeitlebens im Rückzug lebte und dessen Präsenz für Freunde rar gewesen sein muss, wird immer wieder sprachlich von Derrida (auf-)gerufen: »Ich komme von Éze zurück, wo ich, wie letztes Jahr (wie immer) umhergeirrt bin und davon träumte, in Ihren Spuren zu laufen… Niemals verlässt mich Ihr Denken. Ich lese Sie und versuche, immer, zu behalten, was mir von Ihnen her kommt – mit Dank, Inbrunst und Bewunderung.«63
constamment à vous, je vous écoute, vous lis, vous parle. Après Londres, ce sera un autre colloque, à Louvain.« Derrida an Blanchot, 19.07.1995, London, in: Antelme et al., Cahiers Maurice Blanchot, 8. 60 Vgl. in erster Linie Parages und Demeure. Maurice Blanchot, aber in zweiter Linie fast alle der Texte Derridas. 61 »Ce mot pour vous dire encore, au-delà de tous les mots, comme je pense à vous, avec quelle constance, avec quelle admirative reconnaissance, et quels voeux je forme au fond du coeur pour vous« (Derrida an Blanchot, 24.11.1995, Karte aus Eze, eingeworfen auf dem Charles de Gaulle Aéroport, bevor er nach Südamerika aufbricht, in: Antelme et al., Cahiers Maurice Blanchot, 10). 62 »Mais je voulais surtout vous dire que votre pensée ne me quitte jamais.« Karte von Derrida an Blanchot, ohne Datum, Météora, Griechenland, in: Ebd., 12. 63 »Je reviens d’Eze où, comme l’an dernier (comme toujours) j’ai erré en rêvant de marcher dans vos pas… Jamais votre pensée ne me quitte. Je vous lis et tente de
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Aber nicht nur das. Derrida – das schreibt er zumindest – läuft auch in Blanchots Spuren, davon träumend, dass hier Blanchot einmal war. Er schreibt ihm sogar, dass Derridas Gegenwart auf den abwesenden Freund ausgerichtet sei, dass die Reisen, die er macht, als Vorwand dienen, Blanchot zu adressieren; »weil ich mich nicht traue Sie anzurufen (mir manchmal auch vorwerfend mich nicht zu trauen dies zu tun), nehme ich den Vorwand dieser Reisen um meine Grüße und Wünsche an Sie zu richten [adresser]«.64 Während das einzige, was die Präsenz des anderen durch den Klang einer Stimme herbeirufen könnte, ausgeschlagen wird – ein Anruf – reist Derrida lieber, um ihn zu adressieren. Dies ist nicht notwendigerweise als Derridas Unfähigkeit, reale Nähe herzustellen, zu interpretieren. Vielleicht lässt es sich auch als Respekt lesen, die Stille, die der andere um sich aufgebaut hat, nicht zu stören. Dafür spricht, dass er ihm anbietet, ihn anzurufen, wann immer er wolle.65 Derridas Freundschaft zu Blanchot ist nicht von häufigen Begegnungen gekennzeichnet. Dafür sehen sie sich zu selten. Dass aber ein stetiger innerer Dialog Derridas mit Blanchot stattfindet, scheint, wenn man diesen Briefen Glauben schenkt, höchst wahrscheinlich. Und auch Blanchot schreibt 1990 in zugewandter Weise an den jüngeren Derrida: »Wie berührt ich von Ihrem Brief war. Er bleibt nah bei mir, und diese so wertvolle Nähe, ist nur der Ausdruck von Ihrem noch näheren Denken und Ihrer Freundschaft.«66
garder, toujours, ce qui me vient de vous – avec gratitude, ferveur et admiration« (Derrida an Blanchot, 09.08.1996, Villefranche-sur-Mer, in: Ebd., 14). 64 »Cher Maurice Blanchot, comme je n’ose pas vous téléphoner (tout en me reprochant parfois aussi de ne pas oser le faire), je prends prétexte de ces voyages pour vous adresser des saluts et des voeux. J’espère que votre santé est bonne. Constamment je vous lis et pense à vous, avec la même admiration, la même confiante reconnaissance… N’hésitez pas à m’appeler vous-même si vous le jugez opportun ou possible, ou bon…« Derrida an Blanchot, 04.11.1996, Capri, in: Ebd., 18. 65 Vgl.: »Immerzu lese ich Sie und denke an Sie, mit derselben Bewunderung, derselben vertrauensvollen Anerkennung« und bietet ihm an ihn anzurufen, wann er will. (»Constamment je vous lis et pense à vous, avec la même admiration, la même confiante reconnaissance…«). Derrida an Blanchot, 04.11.1996 von Capri, in: Ebd., 18. 66 »Combien j’ai été touché par votre lettre. Elle reste près de moi, et cette proximité, si précieuse, n’est que l’expression de votre pensée et de votre amitié encore plus proches« (BLD 13, 05.J.1990 [sic]). Das »noch nähere« bezieht sich auf das Denken und auf die Freundschaft, welches mir im Deutschen jedoch schwer wiederzugeben erscheint (»Ihrer noch näheren Denken und Freundschaft« würde den Klang des Zitats verschlechtern).
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Die Karten scheinen sogar fast eigens dafür geschrieben, Blanchot mitzuteilen, wie viel Derrida ihm und seinen Texten schuldet. Dies kommt in vielen Briefen als impliziter und expliziter Dank und Versicherung der Nähe zutage. In den wenigen in den Cahiers Blanchot abgedruckten Postkarten von Derrida schreibt er fast in jeder Karte: »Ich denke immerzu an Sie, ich höre Sie, ich lese Sie, ich spreche zu Ihnen.«67 Er spricht von der Regelmäßigkeit und der Hochachtung, mit der er an ihn denke,68 davon, dass des anderen Denken ihn nie verlasse.69 Die zärtliche Tonalität der Briefe und die Weise, in der er sich bei Blanchot zu bedanken scheint, ist einzigartig und findet sich bei anderen Briefpartnern unter den von mir gelesenen Briefen nicht. Offenbar hing das Gefühl freundschaftlicher Nähe in diesem Fall nicht davon ab, dass man sich regelmäßig schrieb, sondern dass man regelmäßig aneinander dachte. »Ständig lese ich Sie und denke an Sie, mit derselben Bewunderung, derselben vertrauten Hochachtung…«,70 schreibt Derrida. Die Hochachtung Derridas ist in allzu große Worte gekleidet. Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass Blanchot wesentlich älter war als Derrida, dass also die Freundschaft auch von Ehrerbietung gegenüber Blanchot gekennzeichnet war. Blanchots Briefe an Derrida aber zeugen von ähnlicher Achtung und dem Einklang bei wichtigen Fragen des Schreibens und des Lebens. Es wird auch deutlich, dass Blanchot Derridas Schreiben und seine Wege verfolgt, auch wenn er vielleicht etwas weniger oft als Derrida betont, dass sein Denken ihm nahe sei. Das wird jedoch auf eine Weise deutlich, wenn er zum Beispiel zum Zeitpunkt des Todes eines seiner nächsten Freunde, Robert Antelme, Derrida auswählt, um mit ihm sein Leid zu teilen. In diesem Brief schreibt er, dass Derrida »ihm so viel gegeben habe« und spricht von ihrer «Gemeinschaft des Unglücks«.71
67 »Mais je pense constamment à vous, je vous écoute, vous lis, vous parle.« (Derrida an Blanchot, 19.07.1995, London, in: Antelme (Hg.), Cahiers Maurice Blanchot, 8). 68 Derrida an Blanchot, 24.11.1995, Roissy Aéroport Charles de Gaulle, in: Ebd., 10. 69 Karte von Derrida an Blanchot, ohne Datum, Météora, Griechenland, 12, und Karte aus
Villefranche-sur-Mer,
09.08.1996,
in:
Ebd.,
14,
und
»Votre
pensée
m’accompagne« (DBL 26, 29.03.2001). 70 »Constamment je vous lis et pense à vous, avec la même admiration, la même confiante reconnaissance…« (Karte Derridas an Blanchot, 04.11.1996, Capri, in: Antelme (Hg.), Cahiers Maurice Blanchot, 18). 71 »Chaque jour, je voulais vous écrire, mais la mort de Robert Antelme m’a rendu si malheureux que je me sentais incapable de vous le dire, sachant que vous aussi, si fidèle à l’amitié, vous partagiez cette communauté du malheur. […] Je pense à vous, cher Jacques Derrida, comme à celui qui m’a tant apporté, et plus [uW – vénérable?]
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DAS GESPENSTISCHE SCHWEIGEN. AUF DEM WEG ZU EINER FREUNDSCHAFT DER STILLE. WARUM FREUNDE ÜBER FREUNDSCHAFT SCHWEIGEN. DERRIDA IM BRIEFWECHSEL MIT BLANCHOT Im nötigen Abstand in einer Freundschaft geht es auch um einen ihr eigenen Anteil des Nichtssagens. Aber über was genau soll nichts gesagt werden? Man könnte jene Position Nietzsches einnehmen, wonach die Freundschaft durch das Schweigen bewahrt wird. Schweigen gewährt, so Nietzsche, der Freundschaft Schutz: 72 »Das heißt nicht, daß unter Freunden und über Freunde Schweigen herrschen müßte. Vielmehr muß ihre Rede ein stillschweigend mitvernommenes Schweigen atmen«. 73 Aber was ist das Schweigen bei Nietzsche, wenn nicht einfach die Abwesenheit der Rede? Schweigen bei Nietzsche schließt ein: »Soziales Band, Zeitgenossenschaft, vielleicht – aber in der gemeinsamen Bejahung der Entbindung, im unzeitgemäßen Einsam-sein und, gleichzeitig, der einmütigen Einwilligung in die Entzweiung.«74 Sein Schweigen ist ein einverständiges Schweigen, nicht einfach eins, was den Kontakt von einer Seite aus unterbricht. Es gibt viele Gründe, von einem solchen Abstand zwischen Blanchot und Derrida auszugehen. Einige davon wurden bereits genannt. Zwischen beiden lag neben den zeitweise unterschiedlichen Wohnorten auch die Distanz des Alters – Blanchot ist 27 Jahre älter als Derrida. 75 Dennoch trug sich die Freundschaft durch etwas Gemeinsames. Aber was ist ihnen gemein? In einem Brief vom 10. März 1986 bedankt sich Blanchot dafür, mit Derrida eine gewisse Zeit geteilt zu haben: »Ich wüsste nicht, wie ich meine Dankbarkeit genügend ausdrücken könnte – schließlich diese, einige Zeit Ihr Zeitgenosse gewesen zu sein. Ich vergesse unsere erste Begegnung nicht, die schlimmen und auf eine Weise ethischen Gründe unserer Begegnung. Es handel-
que vous, blessé par cette étrange animosité qui cherche en vain à vous atteindre.« BLD 14, o.O., 02.12.1990. 72 Vgl. PdF, 85. 73 Ebd., 86. 74 Ebd., 87. 75 Blanchot lebte zwischen 1948 und 1958 zurückgezogen in Éze-Village, bevor er nach Paris zurück kam. Krankheiten, aber auch die Kritik gegenüber linken Positionen, für die er sich engagiert hatte, führten zu Rückzügen aus der Öffentlichkeit. Vgl. Christophe Bident, Blanchot (Maurice).
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te sich […] darum, eine Freundschaft zu retten. Dass diese Freundschaft erhalten bleibe.«76
Es geht in diesem Brief um den gemeinsamen Freund Emmanuel Levinas. Im Februar 1968 hatten Derrida und Blanchot – laut Peeters – sich zum ersten Mal getroffen,77 Derrida zufolge im Mai 1968.78 Der Grund dafür war, dass sie ihr Vorgehen absprechen wollten. Derrida und Blanchot hatten ihre Teilnahme an einem Sammelband für Jean Beaufret zugesagt, bevor publik wurde, dass Beaufret eindeutige antisemitische Äußerungen gemacht hatte, die dieser selbst vehement bestritt und in denen es auch um den gemeinsamen Freund Derridas und Blanchots, Emmanuel Levinas, ging.79 In diesen Kontext scheint auch der Brief einzuordnen zu sein, da Blanchot Derrida daran erinnert, dass sie eine »komische – nicht komische – Epoche durchschreiten«80 Der Brief ist undatiert, aber hier scheint es um die aufkommenden Heidegger- und de-Man-Affären (1987–88) zu gehen, da Blanchot die Diskussionen um Heidegger benennt. Außerdem erschien Derridas Werk Parages, auf das er hier Bezug nimmt, 1986. Das Teilen von Zeit und das Danken für die Zeitgenossenschaft ist bindendes Element ihrer Freundschaft, die sich hier aber auch durch ein drittes Element, nämlich einen gemeinsam geschätzten Freund, leichter gibt. Gleichzeitig wird die Freundschaft in den Briefen als Band thematisiert, welches keinen Grund braucht, um zu bestehen. Die Freundschaft wird als stillschweigende, immer schon bestehende Einigung begriffen:
76 »je ne saurais assez exprimer ma gratitude – celle enfin d’avoir été quelque temps votre contemporain. Je n’oublie pas notre première rencontre, les raisons graves et en quelque sorte éthiques de cette rencontre. Il s’agissait d’un signe dans l’incompatibilité et peut-être de sauver une amitié. Que cette amitié soit préservée« (BLD 10, o.O., 10.03.1986). 77 Dies erzählt en detail und mit Rückgriff auf Briefe Derridas Peeters, Derrida, 240f. 78 Vgl. über Blanchot, JME, 326. 79 Sie ziehen die Artikel nicht zurück, aber der Sammelband wird dann auf Anfrage Blanchots mit der Widmung »Pour Emmanuel Levinas avec qui, depuis quarante ans, je suis lié d’une amitié qui m’est plus proche que moi-même: en rapport d’invisibilité avec le judaïsme.« publiziert. Vgl. Peeters, Derrida, 241. Vgl. hierzu auch Janicaud, Heidegger in France, S. 344 f. 80 Ausführlich zitiert in Kap. VI: BLD 22, o.O., o.D. (Parages erschien 1986, die Heidegger und de Man Affären waren 1987–1988, der Brief scheint aus dieser Epoche zu sein).
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»Sie zu hören, Sie gehört zu haben war ein so bewegendes Ereignis, dass ich kaum darauf antworten konnte. Es macht vielleicht nichts. Immer schon ist alles zwischen uns stillschweigend vorausgesetzt [sous-entendu]. Dies berührt in tiefster Weise und sagt sich, sich nicht sagend [se dit, ne se disant pas].«81
Das Stillschweigen ist vorausgesetzt, aber nicht als Vorgabe, der man Folge leisten müsste, sondern als Kredit oder Vorschuss, den man dem anderen gibt. Es fällt auf, dass immer wieder die Stille in Bezug auf die Freundschaft benannt wird. Im selben Brief schreibt Blanchot auch über das jüdische Repräsentationsverbot und gibt damit eine Idee davon, weshalb Stille so wichtig für Derrida gewesen sein mag. In Derrida Text Droit de regard taucht, so Blanchot, die Stille in jeder der Derridaschen Figuren auf: »das jüdische Repräsentationsverbot […] ich habe es wie dort angewandt gesehen – von daher die Einsamkeit jeder Figur, ihrer Stille, ihrer Keuschheit, ihrer Unschuld, die kein Vergehen trüben könnte.«82 Derrida seinerseits nimmt dieses Schweigen bei Blanchot als etwas wahr, das ihm lieb war: »Auch das Schweigen, die notwendigen Atempausen des nur halb Gesagten und der Diskretion gehörten im Lauf dieser Unterhaltungen, soweit ich mich erinnere, dieser gesegneten Zeit eines niemals aussetzenden Lächelns an, einer vertrauensvollen und wohlwollenden Aufmerksamkeit.«83
Hierin bezeichnet er das Schweigen als eine der Eigenschaften, die er auch an seinem Freund wahrgenommen hatte und interpretiert sie als das Schweigen des aufmerksamen Zuhörers. Stille scheint hier zur Freundschaft dazu zu gehören, die sich um das Einverständnis mit dieser Stille herum ›strickt‹; Blanchot spricht sogar davon, dass die Stille ihnen nicht nur gemeinsam sei, sondern dass eine Stille sie eine: »Ich denke immer von ganzem Herzen an Sie in der Stille, die uns
81 »Vous entendre, vous avoir entendu était un évènement si émouvant que je n’ai guère su y répondre. Il n’importe peut-être. Depuis toujours, tout est sous-entendu entre nous. Cela touche au plus profond et se dit, ne se disant pas« (BLD 9, o.O., 21.08.1985). 82 »Il m’était évidemment impossible de vous parler de la lecture de Droit de regard, malgré l’intention ou parce que l’intention ne convenait pas. Partageant en partie l’interdiction judaïque de la représentation (qui au reste n’est pas si générale), je l’ai sentie comme appliquée là – de là la solitude de chaque figure, son silence, sa chasteté, son innocence qu’aucune faute ne saurait altérer« (Ebd.). 83 Derrida über Blanchot, JME, 327.
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eint.«84 Wieder an Nietzsche denkend, müsste man anfügen, dass in der Freundschaft vielleicht auch über gewisse Dinge geschwiegen werden muss, dass bestimmte Wahrheiten verschwiegen werden. Verschwiegen wird zuallererst, dass die Freunde so selten wirklich in der Nähe – am selben Ort – sein konnten. Nietzsche zufolge kann größte Nähe Menschen nur schaden, denn »Leben wir zu nahe mit einem Menschen zusammen, so geht es uns so, wie wenn wir einen guten Kupferstich immer wieder mit bloßen Fingern anfassen: eines Tages haben wir schlechtes beschmutztes Papier und nichts weiter mehr in den Händen. Auch die Seele eines Menschen wird durch beständiges Angreifen endlich abgegriffen; mindestens erscheint sie uns endlich so – wir sehen ihre ursprüngliche Zeichnung und Schönheit nie wieder.«85
Immer am selben Ort zu sein, das wäre vielleicht der Wunsch nach Liebe in der Freundschaft. In seinem Nachruf an Roland Barthes stellt sich Derrida die Frage der Zeitgenossenschaft und zieht sie in Zweifel: »Wie kann man an das Zeitgenössische glauben? Man könnte mühelos zeigen, daß für diejenigen, die zur selben Epoche zu gehören scheinen, die durch die Schranken der historischen Datierung oder des sozialen Horizonts etc. begrenzt ist, die jeweiligen Zeiten unendlich heterogen und genaugenommen beziehungslos bleiben.«86
Blanchot und Derrida standen also auch brieflich nicht ständig in Kontakt. Die Stille hatte verschiedene Gründe, zum Beispiel gesundheitliche Probleme, die Blanchot in den Rückzug brachten, wie er am 24.04.1988 schrieb.87 »Ich schreibe Ihnen nach Paris, Ihre Rückkehr annehmend, so verspätet, dass ich mich dafür schämen würde, nicht weil es an Gründen für die Stille mangeln würde (wirklich, als Folge meines gesundheitlichen Zustands, fühlte ich mich, und fühle ich mich oft jenseits der Rede [parole], sondern aufgrund dieser so liebenswerten Art, wie Sie mir geschrieben haben und die Beunruhigung, die Angst, worunter einige Sätze von Ihnen mich profunderweise einsam gemacht haben, mich in Verbindung [communication] mit einer 84 »Je pense à vous toujours de tout coeur dans le silence qui nous unit« (BLD 20, o.O., 15.01.1993). 85 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 428 / 263. 86 Derrida über Barthes, JME, 85. 87 Darauf spielt Blanchot in einem Brief an Derrida an: »(réellement, par suite de mon état de santé, je me sentais, et je me sens souvent encore au-dessous de la parole)« (BLD 11, o.O., 24.04.1988).
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bedrückenden Wahrheit gebracht haben, die ich beherbergen musste, so wie sie ist, ohne mir selbst das Recht zuzugestehen, sie zu vertiefen.«88
Blanchot entschuldigt sich in fast jedem der hier vorliegenden Briefe an Derrida für die eigene Unzulänglichkeit. 1990 beschreibt er diese Unzulänglichkeit als die Weise, nicht »auf eine Weise schreiben zu können, die eher meinen Gefühlen für Sie und für Ihr Werk entspricht.«89 Er thematisiert hier eine Problematik, die die Schrift als solche betrifft, also den Zusammenhang dessen, was man schreibt, mit dem, was man fühlt. Es wird von dieser Unmöglichkeit der Übersetzung gezeugt, die sich dem Autor als eigene Unzulänglichkeit darstellt. Im Brief bedauert Blanchot nicht nur seine verspätete Antwort aufgrund gesundheitlicher Beschwerden. Am 24. April 1988 beunruhigt den Briefeschreiber die Möglichkeit seines eigenen Sterbens, aber nicht, weil er selbst darunter leiden könnte, sondern weil es betrüblich ist, die Freunde in der Sorge zu lassen: »Es ist wahr, dass trotz des Anscheins und insoweit ich mir selbst darüber klar werden kann, die Isolierung, die mich ausmacht, mich nicht für die Freundschaft verschlossen hat, sondern sie mir im Gegenteil umso wertvoller gemacht hat, da sie jeden Tag seltener ist, und dass ich ihr eines Tags oder eines anderen ermangeln werde, mit der Gewissheit sie nicht vergeudet zu haben, aber auch mit dem Bedauern, jenen, die mir wichtig sind, den Kummer meines Auslöschens zu hinterlassen.«90
Er scheint sich also selbst dafür zu entschuldigen oder zumindest anzukünden, dass er es – bereits im Vorhinein und um das Leid des anderen willen – bedauert, 88 »Je vous écris à Paris, supposant votre retour, si tardivement que j’en aurais honte, non pas parce que les raisons de [sic] silence manquaient (réellement, par suite de mon état de santé, je me sentais, et je me sens souvent encore au-dessous de la parole), mais parce que la manière si affectueuse dont vous m’avez écrit et l’inquiétude, l’angoisse, dont quelques phrases de vous me rendaient profondément solidaire, me mettaient en communication avec une vérité éprouvante que je devais accueillir, telle quelle, sans me reconnaître le droit de l’approfondir.« (BLD 11, o.O., 24.04.1988). 89 »J’espère pouvoir vous écrire prochainement d’une manière qui corresponde mieux à mes sentiments pour vous et pour votre oeuvre« (BLD 14, o.O., 05.J.1990). 90 »Il est vrai que, malgré l’apparence et autant que je puis m’en rendre compte, l’isolement qui est ma part ne m’a pas fermé à l’amitié, mais au contraire me l’a rendue d’autant plus précieuse qu’elle est chaque jour plus rare, et qu’un jour ou l’autre je lui ferai défaut, avec la certitude de ne l’avoir pas gaspillée, mais aussi le regret de laisser à ceux qui me sont chers le souci de mon effacement« (BLD 11, o.O., 24.04.1988).
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dass er sterben muss. Dieser Zeitpunkt ist – wesentlich später – schließlich eingetreten. Derrida schrieb, als Blanchot nur ein Jahr vor Derrida – am 20. Februar 2003 mit 95 Jahren – starb, seine Grabrede.91 Hierin geht es um eine unmögliche Ansprache: »Was uns bleibt, ist dem nachzulauschen und nachzudenken, was fortfährt und nicht aufhören wird, seinen Namen, Ihren Namen mit Klang zu erfüllen – denn ›Deinen Namen‹ zu sagen wage ich nicht, im Gedenken an das, was Maurice Blanchot selbst über diese absolute Ausnahme, über dieses große Privileg gedacht und öffentlich erklärt hat, das die Freundschaft verleiht, jenes brüderliche Du, von dem er sagte, dass es das einzigartige Glück seiner von jeher bestehenden Freundschaft mit Emmanuel Lévinas gewesen sei.«92
In seinem Text mit dem Titel Demeure. Maurice Blanchot schreibt Derrida, dass obwohl die Leidenschaft der Literatur sich auf etwas anderes richtet als auf sich, sie nicht diese Sache ist.93 Das gilt wohl für die Leidenschaft im allgemeinen. In dem Moment, wo Blanchot starb, war es Derrida nur noch möglich, sich in Form von Literatur an seinen Freund zu richten. Literatur nämlich fasst Derrida als »den Namen ohne die Sache« – »le nom sans la chose«94. Derrida kann Blanchot zwar noch mit seinem Namen – wie im Untertitel des Werks geschehen – nennen und ihn rufen, aber antworten kann Blanchot nicht, sein Leben wird zu etwas Objektivierbarem. Literatur hingegen braucht dieses Abwesende für ihre Konstitution als Literatur. Über jemanden schreiben kann man eigentlich nur, wenn eine gewisse Distanz eingetreten ist. Aber wie lässt sich eigentlich bestimmen, ob etwas literarisch ist? »Keine Äußerung, keine diskursive Form ist intrinsisch oder essenziell literarisch vor oder außerhalb der Funktion, die ihr ein Recht zuschreibt oder zuerkennt, soll heißen eine spezifische Intentionalität, die direkt in den sozialen Körper eingeschrieben ist. Dieselbe Äußerung kann hier für literarisch gehalten werden, in einer Situation oder den gegebenen Konventionen entsprechend, und dort für nicht literarisch.«95 91 Derrida und Blanchot haben sich seit 1958 nicht mehr gesehen (vgl. Mallet, Jacques Derrida, 449). 92 Derrida über Blanchot, JME, 325. 93 Vgl. DEM, 29. 94 Ebd., 17. 95 »Aucun énoncé, aucune forme discursive n’est intrinsèquement ou essentiellement littéraire avant et hors de la fonction qui lui assigne ou reconnaît un droit, c’est-à-dire une intentionnalité spécifique inscrite à même le corps social. Le même énoncé peut être ici tenu pour littéraire, dans une situation ou selon des conventions données, et là
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Ist beispielsweise Demeure. Maurice Blanchot ein literarischer Text? Oder handelt es sich um Philosophie? Erst im Nachhinein könnte darüber entschieden werden und ist entschieden worden, aber nicht endgültig. Derrida selbst wurde oft vorgeworfen zu literarisch für die Philosophie zu sein. Blanchot würde antworten: »Lediglich das nicht-literarische Buch bietet sich als ein eng gewebtes Netz aus determinierten Bedeutungen dar, wie eine Gesamtheit tatsächlicher Behauptungen«. 96 Je feststehender und zwanghafter die Bedeutungen, desto weniger literarisch wäre ein Buch. Für Derrida macht erst die Lektüre die Literatur zu dem, was sie ist: »Vor ihrem Aufkommen als Schrift, hängt sie von der Lektüre und vom Recht, das ihr von einer Erfahrung der Lektüre verliehen wird, ab.«97 Im Falle Derridas mag das ›gescheitert‹ sein, wenn man Granel folgt: »Er hat es nicht geschafft, seine ›Schreibweise‹ geltend zu machen – zumindest gut geltend zu machen – aber auch nur zulässig zu machen, manchmal haarscharf.«98 Schreiben ist deshalb mit dem Lesen engagiert, weil es sonst nur als Privatsprache funktionieren könnte. Schreiben macht nur dann Sinn, wenn es verstanden werden kann. Das aber wiederum wird erst dann deutlich, wenn ein Text zirkuliert und gelesen wird. Dies ist eine seltsame Zusammenkunft, weil es hierin um eine Differenz oder einen Aufschub geht, der logisch betrachtet unmöglich oder paradox erscheint. Eine Schreibende geht freilich erst einmal davon aus, dass sie ihren Worten auf dem Papier Bedeutung verleihen kann, sonst würde sie nicht schreiben, sondern kritzeln. Nach Derrida aber entgeht die eigentliche Bedeutung dessen, was »sie« schreibt, der Autorin. Sie ist aus der Derridaschen Perspektive gar keine Autorin mehr, denn die Bedeutung dessen, was sie geschrieben hat, wird durch die spätere Lektüre anderer Menschen oder auch durch sie selbst zu einem späteren Zeitpunkt ausgehandelt. Ihrem Text wird also eine bestimmte Berechtigung zugeschrieben: das Recht, Literatur zu sein, oder das Recht, Philosophie zu sein. Wie sollte es aber nun möglich sein, dass die Autorin überhaupt etwas Sinnvolles auf das Papier bringt? Es ist, als ob zwei pour non littéraire« (DEM, 29). Man kann denselben Text lesen »comme un témoignage dit sérieux et authentique, ou comme une archive, ou comme un document ou comme un symptôme – ou comme l’oeuvre d’une fiction littéraire, voire l’oeuvre d’une fiction littéraire qui simule tous les statuts que nous venons d’énumerer« (DEM, 30). 96 Blanchot, Das Unzerstörbare, 13. 97 »Avant sa venue à l’écriture, elle dépend de la lecture et du droit que lui confère une expérience de lecture« (DEM, 30). 98 »Il n’arrivait pas à faire admettre – du moins à faire bien admettre – mais seulement à faire passer, parfois de justesse, ›sa manière d’écrire‹« (Granel, »Sibboleth ou de la lettre«, 187).
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verschiedene Zeiten aufeinander treffen, die einander ausschließen (ausschließende Disjunktion). Lesen und Schreiben sind nie gleichzeitig, aber sie sind beide Teil der Entstehung von Bedeutung (Aporie). Wie könnte man aber von der bestimmten Bedeutung zu einem spezifischen Moment sprechen, wenn Bedeutung ständig im Prozess, im Vor und Zurück von Lesen und Schreiben ist? Wie kann die Schreibende überhaupt schreiben, etwas festhalten, wenn sie eigentlich ständig ihre Worte ändern müsste, um diesem auf die Zukunft und auf die Vergangenheit zugleich gerichteten Prozess gerecht zu werden? Nehmen wir einmal an, Bedeutung kann nur als ein doppelter Prozess betrachtet werden. Was für Probleme entstehen aus dieser Annahme? Sie zeigen sich im Beispiel der Zeugenschaft besonders deutlich. Denn der Zeuge ist immer zugleich Überlebender, er spricht über etwas, das notwendigerweise bereits war, und gleichzeitig erwartet man von ihm einen veritablen Diskurs. 99 Der Zeuge müsste zwei Personen in einer sein, er ist gespalten. Aus dieser Perspektive ist der eigene Tod das einzige, wovon jemand zeugen könnte, aber dann müsste er sich überleben.100 Nun könnte man daraus schließen, dass Zeugen lügen müssen oder simulieren müssen, sie könnten gleichzeitig an zwei Orten und zu zwei Zeiten sprechen. Das Zeugnis darf aber nicht gelogen sein, es darf keine Literatur sein, es darf nicht zu erkennen geben, dass es sich gar nicht auf etwas dem Zeugen Präsentes bezieht: »Ohne die Möglichkeit dieser Fiktion, ohne die gespenstische Virtualität dieser Täuschung und folglich dieser Lüge oder dieser Fragmentierung des Wahren, wäre kein wahrhaftes Zeugnis als solches möglich. Von daher verfolgt [hante] die Möglichkeit literarischer Fiktion, als die ihr eigene Möglichkeit, das verantwortlich, ernsthaft, reell genannte Zeugnis. Diese Angst [hantise] ist vielleicht die Leidenschaft selbst, der leidenschaftliche Ort des literarischen Schreibens, als Projekt, alles zu sagen – und überall wo sie autobiographisch ist, das heißt überall, ist sie autobio-thanatographisch.«101 99
Vgl. »le témoin n’est-il pas toujours un survivant? Cela appartient à la structure testimoniale. On ne témoigne que là où on a vécu plus longtemps que ce qui vient de se passer. On peut en prendre des exemples aussi tragiques ou pathétiques que les survivants des camps de la mort« (DEM, 54).
100 Vgl. »De ma mort, je suis le seul à pouvoir témoigner – à la condition d’y survivre« (Ebd., 55). 101 »sans la possibilité de cette fiction, sans la virtualité spectrale de ce simulacre et par suite de ce mensonge ou de cette fragmentation du vrai, aucun témoignage vérace en tant que tel ne serait possible. Par conséquent la possibilité de la fiction littéraire hante, comme sa propre possibilité, le témoignage dit vérace, responsable, sérieux, réel. Cette hantise est peut-être la passion même, le lieu passionnel de l’écriture litté-
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Warum würde jemand literarisch schreiben wollen? Die Leidenschaft ergibt sich für Derrida aus dem »Projekt, alles zu sagen«. Es ist der Versuch, sich zu sagen, etwas über sich zu sagen (auto-biographisch) und etwas über sich als sich selbst Abwesender (autobio-thanatographisch) zu sagen, über sich hinaus zu treten. Die Schreibende ist so gesehen eine Halbtote, gespalten in dem Versuch etwas über das zu sagen, was sie jetzt gerade zum Ausdruck bringen will. Der Ausdruck »gespenstische Virtualität« benennt, dass sich im Versuch Zeugnis abzulegen nichts Reales, Verantwortliches, Ernsthaftes finden lässt. Das aber, wovon Zeugnis abgelegt wird, ist weder Literatur noch Wahrheit, sondern einfach diese Jagd danach, also der Abstand selbst: »Das wovon das Zeugnis zeugt, ist nichts weniger als der Moment einer Unterbrechung der Zeit und der Geschichte, eine Sekunde der Unterbrechung [interruption], in welcher die Fiktion und das Zeugnis ihre gemeine Quelle finden.«102
Von woher Demeure nicht als Biographie Blanchots zu bezeichnen wäre, sondern vielmehr Autothanatographie Derridas ist. Durch dieses Werk Derridas, in dem er über Blanchot schreibt, zieht sich von Titel bis zum Ende die Frage der demeure, was Wohnsitz, Bleibe, Wohnung bedeutet. Demeure wird für Derrida das Wort, das der Lektüre von Blanchots Text L’instant de ma mort eine Richtung gibt. In L’instant de ma mort erinnert sich Blanchot an den Moment, da er während des Kriegs nur knapp der Erschießung entging. Es ist nicht zufällig, dass Derrida in einem Buch über seinen Freund, das von dessen möglichem Tod handelt, von demeure spricht. Nicht nur bedeutet demeure die Bleibe, sondern Derrida bezeichnet sich auch als »l’être en attente« 103 , der Wartende sein. Im folgenden Zitat zeugt ›Derrida‹ von seiner Haltung gegenüber Blanchot, auf den er wartet, der nicht aufhört, ihn anzurufen, ihm zu schreiben, und zu hoffen. Er – Derrida – ›ist‹ l’être en attente.
raire, comme projet de tout dire – et partout où elle est auto-biographique, c’est-àdire partout, est partout autobio-thanatographique« (DEM, 94). 102 »Ce dont témoigne le témoignage, ce n’est rien de moins que l’instant d’une interruption du temps et de l’histoire, une seconde d’interruption dans laquelle la fiction et le témoignage trouvent leur commune ressource« (Ebd., 95, kursiv nt). Vgl. auch: »Celui des penseurs de l’avenir (le discours du possible peut-être], disait Nietzsche. Rien n’est assuré dans le témoignage, rien n’est décrit, rien n’est constatable: tout seulement peut être. Une virtualité aléatoire qui s’oppose moins que jamais à l’actualité de l’acte ou de la présence« (DEM, 88). 103 DEM, 3.
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»Regelmäßig, zwei oder drei Mal im Jahr rief ich ihn an und schickte ihm eine Postkarte aus dem Dorf Eze. Vor zwei Jahren tat ich es in Gesellschaft Jean-Luc Nancys, unseres gemeinsamen Freundes, der hier unter uns ist, an meiner Seite, und dem sich Blanchots Denken so oft zugewandt hat, besonders in La Communaute inavouable. Jedes Mal, wenn ich ihm eine dieser alten Vorkriegs-Postkarten schickte, die ich in einem Trödelladen in den Gässchen des altertümlichen Dorfes Eze zu kaufen pflegte, in dem Blanchot einmal gewesen war und in dem ihm sicher Nietzsches Geist über den Weg gelaufen ist – eine Gasse trägt noch seinen Namen –, jedes Mal also, wenn ich ihm wieder eine Karte schrieb, sagte ich zu mir, im Laufe der Jahre gleichsam immer unhörbarer, ganz in meinem Innern: Ich hoffe, dass ich ihm noch lange solche Postkarten schicken kann, mit derselben ritualistischen, herzlichen und ein wenig abergläubischen Inbrunst. Ich weiß heute, dass ich, auch wenn ich diese Botschaften nie mehr der Post anvertrauen werde, nicht aufhören werde, ihm zu schreiben oder ihn anzurufen, in meinem Herzen oder in meiner Seele, wie man sagt, so lange ich lebe.«104
Lesen wir hierzu Derridas Worte über différance als »Leidenschaft«: »Wenn eine différance sich nur in der Grammatik einer bestimmten mittleren Stimme schreiben lässt und auch wenn sie sich nicht auf eine solche historische Grammatik beschränkt, könnte ›différance‹ sich auf einen anderen Namen für ›Leidenschaft‹ beschränken.«105
Différance gehe über eine historische Grammatik hinaus. Aber wenn sie es begrenzbar wäre, würde Derrida sie als Leidenschaft fassen. Wenn nun différance als Leidenschaft gefasst würde und im Vorherigen gesagt wurde, dass Leidenschaft die Eigenart der Literatur ist, die Glauben macht, dass alles gesagt werden kann, dann geht es in der besonderen Art Derridas, über différance zu schreiben, darum deutlich zu machen, dass es kein vom Fiktiven bereinigtes Zeugnis geben kann. 106 »Es ist die gemeinsame Bedingung der Literatur und der NichtLiteratur«, von der Derrida spricht. 107 Die fiktive Stille oder eine nicht völlig 104 Derrida über Blanchot, JME, 333 f. 105 »Si une différance ne se laisse écrire que dans la grammaire d’une certaine voix moyenne, et même si elle ne se confine pas dans une telle grammaire historique, ›différance‹ pourrait se réduire à un autre nom pour ›passion‹« (DEM, 27). 106 Vgl. »Die Bezeugung [testimonialité], und da wo sie ihre Bedingung mit der literarischen Fiktion teilt, gehört a priori der Ordnung des Wundersamen an.« (»La testimonialité, et là où elle partage sa condition avec la fiction littéraire, appartient a priori à l’ordre du miraculeux.«) (DEM, 98). 107 »C’est la condition commune à la littérature et à la non-littérature« (Ebd., 124).
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einzuholende Bedeutung zeichnet das Geschriebene aus. Auch sagt es etwas über Derrida als Schriftsteller aus. Blanchot schrieb 1982 darüber, dass Derrida und er beide am selben Ort – zwischen Literatur und Philosophie – angesiedelt sind.108 Aber es ist nicht nur die Leidenschaft zum Literarischen, von der Derrida zeugt. Wenn wir davon ausgehen, dass Derrida sich in diesem vorigen Text über Blanchot autothanatographisch zeigt, so drückt er hierin nichts weniger aus als seine Leidenschaft für den anderen, für Blanchot. Hier wäre noch zu betonen, dass die autothanatographische Position nicht der Schrift grundsätzlich ihre Fähigkeit abspricht, überhaupt etwas zu sagen.109 Trotz der strukturell notwendigen Lüge, die dem Zeugnis eingeschrieben ist, lässt sich nicht sagen, der Zeuge habe nichts gesagt oder sein Zeugnis hätte keine Bedeutung. Gleiches trifft meines Erachtens auf Texte zu. Literarische als auch philosophische Texte haben Bedeutung, aber welche Bedeutung ihnen zugesprochen wird, ist auch Sache der Aushandlung. In jedem Text gibt es die Möglichkeit der Bedeutung, auch wenn man davon ausgeht, dass diese Bedeutung veränderbar und perspektivenbezogen relativ ist.
VOM VERHÄLTNIS ZUM TOD HIN ZU EINER FREUNDSCHAFT DER LESENDEN. BEI ZU VIEL NÄHE KANN MAN NICHT GUT LESEN. DER NOTWENDIGE RAUM DER DIFFÉRANCE ZWISCHEN BEFREUNDETEN SCHRIFTSTELLERN Ging es schon häufiger um den Zusammenhang von Freundschaft und Schreiben, so ist ein wichtiges Element darin auch der Zusammenhang von Lesen und Freundschaft. Denn wie liest man, wenn man Freunde hat, die Schriftsteller sind? Wie liest man die Freunde – in einer Bewegung, die ihnen als Freunden Raum gibt und nicht als Feinden? Wie lässt sich Freundschaft bewahren, auch wenn oder obwohl man vielleicht ihre Texte kritisiert? Es soll ein Gefühl dafür entstehen, was die spezifische Form der Freundschaft von Schriftstellern ausmachen kann. Deshalb wird auch hier wieder der konkrete Gegenstand der Briefe an und von Derrida einbezogen. Briefe von Schriftstellern sind ungewöhnlich. Sie schreiben miteinander und übereinander, lesen die Texte voneinander und lassen sich vom Denken der jeweils anderen inspirieren. Sie zitieren einander, sie wid108 Ausführlich zitiert in Kap. II, BLD 7, o.O., 21.06.1982. 109 Vgl. Derrida in Wie nicht sprechen, wo er davon erzählt, dass seine Texte der negativen Theologie zugesprochen wurden.
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men einander ihre Texte, und sie richten sich in ihren Texten aneinander. Diese Freundschaft ist also eine besondere Form der Freundschaft, die eine literarische Freundschaft oder eine Freundschaft des Denkens einschließt. Besonders ist sie also in der Hinsicht, dass sie ein Zentrum und eine Mitte durch einen geteilten Bezug zur Schrift haben. Insbesondere in den hier aufgelesenen Briefwechseln ist dies der Fall. Das Leben dieser Menschen kreist um das Schreiben, und fast meinte man, es gäbe nur das in einer Freundschaft. Derrida äußert die Besorgnis darüber, dass er selbst eines Tages gelesen würde, ohne darüber sprechen zu können, was geschrieben wird. »Doch über dieses Grab hinweg, über Ihre Köpfe hinweg träume ich davon, mich an all diejenigen zu wenden, die nach ihm, oder bereits nach uns kommen, bezüglich derer ich – leider! – an mehr als einem Zeichen erkenne, daß sie allzu eilig verstehen, interpretieren, klassifizieren, festlegen, reduzieren, vereinfachen, abschließen, urteilen, das heißt mißverstehen, ob es sich nun um ein – ach welch einzigartiges – Schicksal handelt, oder aber, davon nicht zu trennen, um Prüfungen der Existenz, des Denkens, der Politik.«110
Aber »Lesen hieße also, das Buch nicht neu zu schreiben, sondern zu erreichen, daß das Buch sich schreibt oder geschrieben wird – diesmal ohne die Vermittlung des Autors, ohne jemanden, der es schreibt.«111 An anderer Stelle wurde notiert, dass Derrida den Wunsch hatte, einfach seinen Freund zu lesen, ohne Vermittlung, ganz direkt.112 Wenn man aber davon ausgeht, die Lektüre mache ein Buch glatt wie eine Statue und wenn das Buch sogar »in gewisser Weise des Lesers [bedarf], um Statue zu werden«,113 dann ist diese Schwere des Verlusts auch die Chance, die Leichtigkeit des Lesens, da es ohne Autor auskommt.114 Das geht über die Vorstellung von Lesen heraus, die zum Beispiel Schopenhauer hat, wenn er sagt, Lesen hieße »mit einem fremden Kopfe, statt des eigenen, denken«.115 Dieses Lesen birgt nach Schopenhauer auch die Gefahr, dass es, wie bei den Gelehrten, zu viel gelesen und zu starker »Zufluß fremder Gedanken« erlebt wurde. Das eigene Denken leide darunter. Der wissenschaftliche Denker schaffe es aber, die fremden Töne in die Gerüste des eigenen Denkens einzuordnen. Statue wird bei Blanchot das gelesene Buch, bei Schopenhauer aber ist es 110 Derrida über Althusser, JME, 154. 111 Blanchot, Das Unzerstörbare, 11. 112 Vgl. »Mein einziger Ehrgeiz: einladen zu lesen, unabweislich, direkt, ohne Zwischenschaltung« (Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 79). 113 Blanchot, Das Unzerstörbare, 12. 114 Vgl. Ebd., 12. 115 Hier und folgend: Schopenhauer, »Selbstdenken«, § 261.
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eher der Leser, dessen Integrität vom Lesen bedroht wird. Derrida wiederum hat Angst davor, gelesen und missverstanden zu werden. Obwohl seine Texte, folgte man Blanchot, nur zu Büchern werden können, wenn sie gelesen werden, fürchtet Derrida – und das ganz bestimmt zu recht – dass er sich nicht mehr an die Leser richten können werde. Nun schreibt Blanchot, dass es »kein direktes Sprechen in der Literatur«116 gebe. Blanchot folgend »verlangt das Lesen, Sehen und Hören des Kunstwerks mehr Unwissenheit als Wissen, verlangt es ein Wissen, das eine unermeßliche Unwissenheit und eine Begabung einschließt, die nicht im voraus gegeben ist, die man jedesmal erhalten, erwerben und verlieren muß in der Vergessenheit seiner selbst.«117
Hier wird darauf verwiesen, dass Distanz der Lektüre zuträglich und sogar notwendig ist. Nicht nur soll der Lesende all sein Wissen am besten vergessen und sich hiervon distanzieren, auch soll er selbstvergessen und distanziert von sich selbst entdecken, was es zu lesen gibt. Besonders schwierig, diese distanzierte Position einzunehmen, muss es für Derrida gewesen sein, der viel die Texte seiner Freundinnen und Freunde las, mit denen er die Leidenschaft des Schreibens und des Lesens teilte. Nietzsche meint hierzu: »Wir lesen Schriften von Bekannten (Freunden und Feinden) doppelt, insofern fortwährend unsere Erkenntnis daneben flüstert: ›das ist von ihm, ein Merkmal seines inneren Wesens, seiner Erlebnisse, seiner Begabung‹, und wiederum eine andere Art Erkenntnis dabei festzustellen sucht, was der Ertrag jenes Werkes an sich ist, welche Schätzung es überhaupt, abgesehen von seinem Verfasser, verdient, welche Bereicherung des Wissens es mit sich bringt. Diese beiden Arten des Lesens und Erwägens stören sich, wie das sich von selbst versteht, gegenseitig. Auch eine Unterhaltung mit einem Freunde wird dann erst gute Früchte der Erkenntnis zeitigen, wenn beide endlich nur noch an die Sache denken und vergessen, daß sie Freunde sind.«118
Auch hier wird empfohlen, die Freundschaft für einen Moment zu vergessen und eine andere Rolle einzunehmen. Offenbar stört es das erkenntnisreiche Lesen, wenn die Nähe zwischen den Personen zu groß ist. Auch bekräftigt Nietzsche hierin, dass das Vergessen darüber, dem anderen ein Freund zu sein, die sachli-
116 Blanchot, Das Unzerstörbare, 147. 117 Ebd., 10. 118 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 197 / 153.
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che Unterhaltung ermöglicht.119 Umgekehrt könnte die Freundschaft von inhaltlichen Differenzen herausgefordert werden. Der Autor scheint also hier wie dort die Lektüre des Texts oder das sachlich-philosophierende Gespräch zu stören und der Text sich nur entfalten zu können, wenn der Autor ausgeblendet wird. Ist also der Tod des Autors gerade das, was die Bewegung des Denkens bei der Lektüre in Gang setzt? Sollten wir also gerade lesen, wen wir am wenigsten kennen? Derrida bekräftigt Nietzsches Ansicht, wenn er bekennt, warum er Althussers Wirken gegenüber nicht neutral zu sein vermochte: »Trotz allem, was uns voneinander entfernen oder trennen konnte, war ich weder jemals in der Lage noch habe ich jemals gewollt, das, was ihm geschah oder was durch ihn geschah, zu beobachten, das heißt mit der Neutralität des Zuschauers zu betrachten.«120
Das Lesen der Freunde spaltet den Lesenden. Einerseits in den Freund, der einen Freund liest, andererseits, wenn wir an Blanchot denken, an denjenigen oder diejenige, der oder die sich und die Freundschaft vergisst, um lesen zu können, der oder die, anders gesagt, die Autorität des Autors untergräbt. Es wurde an anderer Stelle darauf hingewiesen, dass für Nietzsche die Freundschaft von einem gemeinsamen Schweigen getragen sein soll. Durch das Schweigen über die unsichere Basis würde Freundschaft ermöglicht. Freundschaft beruht hiernach häufig auf einem Missverständnis, jenem, dass der Freund mit einem selbst übereinstimmen, sich verantwortlich in der Beziehung verhalten möge, dabei läuft das nach Nietzsches Vorstellung dem Menschen zuwider. Aber der Freund wisse mehr und sage es doch, vielleicht aus Freundschaft, nicht. Nietzsche zufolge ist das Gleichgewicht, welches er doch im Zusammenhang mit der Freundschaft aufbringt, nur so zu erlangen, dass wir die Heterogenität unserer eigenen Meinungen und Stimmungen anerkennen. Um zusammen zu sein, braucht es die Gewissheit, dass jeder einem anderen ein wenig Feind ist und dass das was man als subjektives Selbst erhöhen kann, nicht mehr als ein lebender Tor ist. Diese Kritik an einem machtvollen Selbst und die von Nietzsche geforderte Bescheidenheit oder sogar Unterwürfigkeit gegenüber dem anderen ermöglichen lebendige Freundschaft. Im Gespräch vom Weisen und Tor121 wird eine Adressierung vorgenommen. Freundschaft scheint auf eine abwesende Basis zu verweisen, der Weise, der darüber spricht, stirbt. Soll sie dem Leben verbunden 119 Das doppelte Verhältnis – Freund und Leser – führt zu – nicht nur moralischen – Ambivalenzen im Umgang mit den Freunden. Es ergibt sich das, was in Historikerkreisen als Patronagenetzwerke bezeichnet wird. 120 Derrida über Althusser, JME, 153. 121 Vgl. Kap. Der Anfang der Freundschaft im Brief.
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sein, muss sie von einer gewissen Torheit ausgehen. Sich an die Feinde zu richten und ihnen zu sagen, es gebe keinen Feind, ist ein performativer Widerspruch. Dennoch müssen die Feinde sich gegenüber einander so verhalten, wollen sie die Möglichkeit zur Freundschaft erhalten. Sie müssen eine Distanz gegenüber dem anderen einhalten. Der Freund kann nur geachtet werden, wenn er das Selbst überragt, wenn es sich vor dem Freund verneigt. So schreibt Nietzsche in Die gute Freundschaft: »Die gute Freundschaft entsteht, wenn man den anderen sehr achtet, und zwar mehr als sich selbst, wenn man ebenfalls ihn liebt, jedoch nicht so sehr als sich, und wenn man endlich, zur Erleichterung des Verkehrs, den zarten Anstrich und Flaum der Intimität hinzuzutun versteht, zugleich aber sich der wirklichen und eigentlichen Intimität und der Verwechslung von Ich und Du weislich enthält.«122
Nietzsche spricht trotz allem noch von der Möglichkeit einer »gute[n]« Freundschaft. Diese gute Freundschaft aber erfordert Distanz. Nun könnte man Derrida mitteilen, dass seine Sorge, gelesen zu werden, unbegründet sei. Aus dem Grund, weil gerade die geschriebene Freundschaft die Chance hat, zur besseren Freundschaft zu werden, wenn sie geduldig liest, und weil sie die Schlussfolgerung so weit aufschiebt, dass der Gelesene wirklich nicht mehr da ist, nur noch der Text da ist und so eine Lektüre völlig frei von den Blicken der Freunde, völlig frei auch von jeglichem, was den Autor persönlich ausmachte, ist.123
MITGEFÜHL, BEILEID, MITLEID ALS ANTWORTEN AUF DIE DIFFÉRANCE Mitgefühl scheint ein in der Philosophie selten gebrauchtes Wort.124 In den hier gelesenen Briefen wird jedoch deutlich, dass Mitgefühl, Beileid und Mitleid in der Freundschaft durchaus tragend sein können. Zunächst soll hier Mitgefühl als
122 Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches II, 241 / 112. 123 Aus diesem Grund ist der vorliegende Text keine Biographie Derridas und das ist auch nicht beabsichtigt. Beabsichtigt ist eine Lektüre. 124 Dies wäre in einer neuen Arbeit weiter und tiefergehender, vor allem mit Bezug auf die Phänomenologie, zu erforschen. Aristoteles schreibt überraschenderweise über Mitgefühl, dass ein Sklave Mitgefühl mit seinem Herrn haben kann, und zwar dann, wenn es dem Herrn an etwas mangele und er dadurch den Sklaven schlechter behandelt (Aristoteles, Eudemische Ethik, 1240a 30–35).
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das umfassendere Wort gebraucht werden. Es geht dabei um ein Mitfühlen, welches sowohl auf Erfolge wie auch Misserfolge des Freunds gerichtet sein kann. Mitleid hingegen wäre das Mitfühlen von Leid, von Misserfolgen, Tod. Das Kondolenzschreiben ist die spezielle literarische, aber in der Regel keine Ansprüche der Fiktion tragende Form des Schreibens, dass sich an Angehörige oder Freunde des Verstorbenen richtet, um das Beileid auszudrücken. Der oder die Adressierte eines Kondolenzschreibens ist also zumeist eine Person. Der Nachruf hingegen ist einerseits das an einen oder an mehrere der Hinterbliebenen gerichtete Schreiben, welches zuweilen auch mündlich vorgetragen und worin sich unter Umständen noch an den Verstorbenen gerichtet wird, als Ruf, der zu spät kommt (Nach-Ruf). Der Nachruf ist deshalb eine interessante Form des Schreibens, weil er zumeist mündlich vorgetragen wird. Anders als die Grabrede muss dies nicht zum Zeitpunkt der Grablegung passieren. Im Fall des Nachrufs von Schriftstellern kommt noch die Besonderheit hinzu, dass er zumeist später publiziert wird. So muss also zunächst bemerkt werden, dass Nachrufe von Schriftstellern zugleich drei Adressaten haben können: Erstens die oder der Verstorbene (toter Freund), zweitens die im privaten oder öffentlichen Kreis anwesenden Hinterbliebenen, die dem vorgetragenen Nachruf zuhören (Angehörige, Freunde, gemeinsame Freunde), drittens diejenigen, die den Nachruf in abgedruckter Form lesen (Leser). Zusätzlich gibt es Briefe, die nicht das Beileid ausdrücken, sondern in denen das Leid beim Versterben eines gemeinsamen Freunds geteilt wird. Lesen wir an dieser Stelle einen veröffentlichten Brief von Derrida: »Aber was ich für unmöglich, unschicklich und unentschuldbar hielt und was ich mir seit langem mehr oder weniger geheim und entschlossen versprochen habe, niemals zu machen (um der Strenge willen, aus Treue, wenn man so will, und weil es dieses Mal zu ernst ist), ist beim Tode zu schreiben, nicht nach, lange Zeit nach dem Tod, indem man darauf zurückkommt, sondern beim Tod, anläßlich des Todes, in Sammlungen zur Ehrung und Würdigung, in Schriften ›zum Gedächtnis‹ derjenigen, die zu ihren Lebzeiten meine Freunde waren und die mir viel zu gegenwärtig sind, als daß irgendeine ›Erklärung‹ oder gar Analyse oder ›Studie‹ mir in diesem Moment nicht an und für sich unerträglich erschiene.«125
Sein Hinweis »weil es dieses Mal zu ernst ist«, weist auf das ernste Thema dieses Kapitels hin, das sich mit der Verbindung von Tod und Freundschaft beschäftigt. Dies erscheint mir jedoch nicht bloß eine nebensächliche Bemerkung, sondern auch der Hinweis, dass alle Texte Derridas mit einer Prise Ironie zu 125 Derrida über Barthes, JME, 78.
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lesen sind (nicht gemeint im Sinne von Komik), nämlich durch jene Trope, mithilfe derer es möglich wird, zwei Ebenen des Sagens zu eröffnen, nämlich eine der buchstäblichen Bedeutung und eine andere, auf der etwas darüber hinaus gehendes und nur im Kontext zu verstehendes geäußert wird. Derrida schreibt also in einem nun publizierten Brief an Francine Loreau, dass er sich geschworen habe, niemals in Schriften »zum Gedächtnis« schreiben zu wollen. So müsste man diese Texte, die im Folgenden hier einbezogen werden (Nachrufe), also nicht als wissenschaftliche Texte nehmen, nicht als Studien oder Analysen, sondern als Zeugnisse. Aber wird dies möglich sein? Können wir Derrida ernst nehmen? Im folgenden Abschnitt geht es um ›Trauerarbeit‹. Nach dem Tod eines Freunds kann der Anspruch bestehen, in Reden und Gesprächen dem toten Freund weiterhin gerecht zu werden. Eine Einfühlung mit dem Toten würde es aber notwendig machen, gar nichts mehr zu sagen. »Diese Beraubtheit hängt auch mit der Pflicht zusammen: den Freund sprechen zu lassen, ihm das Wort zurückzugeben, das seine, es nicht zu ergreifen, es vor allem nicht an seiner Stelle zu ergreifen – es scheint keinen schlimmeren Mißbrauch zu geben beim Tod des Freundes (und ich spüre, daß ich ihm bereits nachgegeben habe) –, ihn nicht zum Sprechen zu bringen, sein Schweigen nicht zu okkupieren oder, falls dies möglich ist, das Wort nur zu ergreifen, um es ihm zurückzugeben.«126
Was passiert also, wenn ein Freund nicht mehr antwortet? Das Gespräch wird unmöglich. Wenn im Gespräch einer spricht, und der andere nichts sagt, besetzt der Sprechende stimmlich den gesamten Raum, und läuft Gefahr, den anderen vor sich nicht mehr wahrzunehmen, weil der Redende nur noch die eigene Stimme hört. Das Gespräch ist unterbrochen, aber trotzdem kann im Verbleibenden noch der Wunsch fortbestehen, sogar der leidenschaftliche Wunsch, dass er doch einen sprachlichen oder wie auch immer gearteten Weg finden könnte, den anderen »zum Sprechen zu bringen«. In dieser Lesart wäre dies Derridas Ringen darum, Max Loreau das Wort »zurückzugeben«. Dies schreibt Derrida in einem Brief an Francine Loreau, der mit einigen Nachrufen zusammen veröffentlicht ist. Es ist ein Kondolenzschreiben, es richtet sich an eine ausgewählte Person (Loreaus Witwe), aber warum entsteht der Eindruck, dass der Text nicht an Loreau allein gerichtet ist? Derrida richtet sich mit seinem Wunsch, Max Loreau noch länger sprechen zu lassen, an Francine Loreau.
126 Derrida über Max Loreau, JME, 128.
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»Wenn ich mich heute an Sie wende, dann auch, um Sie zum Zeugen zu nehmen: Es ist mir nicht gelungen zu schreiben, was ich dem Gedächtnis von Max hätte widmen wollen und was seiner würdig wäre, ich vermochte auch nichts zu schreiben, was meiner Bewunderung für die einzigartige Kraft seines Denkens entspräche, nichts, was mit der unerbittlichen Intensität seines gleichsam körperlichen Ringens mit der Sprache, in ihr, bereits in seinem Gegenüber Körper an Körper mit ihr, in Einklang stünde, nichts, was dem ähneln würde, was er in mir, in uns lebendig zurückläßt, nichts, was auch der Freundschaft würdig wäre, die er mir zum Geschenk gemacht hat und deren ich mich meinerseits, zweifellos seit langem schon, nicht würdig zu erweisen vermochte.«127
Wie könnte man sich aber einem toten Freund würdig erweisen? Und wie einer Freundschaft? Wie das Geschenk der Freundschaft wirklich annehmen? Was erwartet Derrida hier von Francine Loreau? Er spricht davon, dass sich ihm die »(ge)rechten, die angemessenen Worte [mots justes]«128 verweigern und Francine Loreau die Zeugin dieses Unvermögens werden solle. Wie kann dieser Verlust der mots justes noch gefasst werden? »Wenn man über die Arbeit arbeitet, über die Trauerarbeit, wenn man an der Trauerarbeit arbeitet, leistet man bereits, ja schon, eine solche Arbeit, erduldet man sie von jenem ersten Augenblick an, läßt man die Trauerarbeit in sich arbeiten, ermächtigt man sich dadurch, stimmt man sich auf sie ein, stimmt man sich in sich ein, gibt man sich jene Freiheit der Endlichkeit in ihrer größtmöglichen Würde und Freizügigkeit. Man kann keine Rede über die ›Trauerarbeit‹ halten, ohne an ihr teilzuhaben, ohne am Tod Anteil zu haben, und zwar zunächst am eigenen Tod.«129
Der Sprechende kann sich nicht anders, wie anfangs schon bezeugt, ausdrücken, ohne sich in seiner Sprache auf diesen Tod zu beziehen. Oder anders gesagt, er spricht, weil er davon betroffen ist. Der Trauernde kann nicht von der Trauer sprechen, ohne von ihr betroffen zu sein. Diese Betroffenheit ist das, was Derrida die Anteilnahme »zunächst am eigenen Tod« nennt. Mit Tod könnte hier die Unmöglichkeit sich auszudrücken, zu sprechen und, vielmehr, zu schreiben gemeint sein, aber auch, dass in der Sprache selbst das Subjekt sich immer schon auslöschen muss, um etwas Feststehendes sagen zu können. Zunächst ist es die Einsicht, dass etwas, was in mir und mir keinen Sinn ergibt, was mir abwesend ist, Teil meines Wesens ist.
127 Ebd., 127. 128 Ebd. 129 Derrida über Marin, JME, 179.
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Wenn also Derrida von einem Unvermögen zeugt, seinen Bezug zu einem toten Freund angemessen schriftlich hervorzubringen, dann zeigt sein Versuch, die Witwe zum Teilen dieses Unvermögens hinzuzunehmen, von einer Bitte um Beziehung. Diese Beziehung oder dieser Bezug wäre möglicherweise als Trauerarbeit zu bezeichnen, eine, die den Überlebenden gilt, weil für die Beziehung zum Toten keine Zeit mehr bleibt. Am 23.01.2002 starb Pierre Bourdieu, und Balibar schrieb an Derrida: »Ich frage mich mit wem ein wenig den Schmerz teilen in Bezug auf den Tod von Bourdieu und ich sehe nur dich. Du musst das also akzeptieren, und ich zweifle nicht daran. Es ist nur eine kleine Sache. Ich weiß, dass sein Verschwinden dich berührt, aber mich auch.«130
Der Brief von Étienne Balibar an Derrida ist weder Kondolenzschreiben noch Nachruf, sondern er sucht in Derrida nach jemandem, mit dem er seinen »Schmerz teilen« kann. Mehr als um Mitleid, scheint mir, ersucht er ihn um das Teilen des Gefühls mit ihm (»dich berührt, aber mich auch«), der in diesem Moment nicht weiß, an wen er sich richten kann, und der diese »kleine Sache« von ihm erbittet. »An wen wendet man sich in einem solchen Augenblick?«, fragt Derrida im Nachruf an Levinas.131 Beim Tod eines gemeinsamen Freunds stellen sich dieselben Fragen, die Derrida in Bezug auf das Reisen aufbringt: »›für wen?‹ […] ›mit wem?‹, ›mit wem teilen?‹, ›mit welchem Adressaten?‹, ›angesichts welcher Adresse?‹«132 Derrida zufolge fragt schon Platon im Lysis: »Nicht ›Was ist die Freundschaft?‹ sondern: Was ist der Freund? Wer ist es? Wer ist er? Wer ist sie?«133 Was Balibar hier höflich als »kleine Sache« bezeichnet, scheint viel mehr als das zu sein. Mit wem teilt Balibar den Schmerz? Wer ist da, wenn aus Einsamkeit oder aus dem Gefühl und der Erfahrung des Verlusts heraus Nähe gesucht wird? Offenbar ist es entscheidend, wen man in einem solchen Moment bittet, da zu sein. So sagt Balibar dazu: »ich sehe nur dich«.
130 »je me demande avec qui partager un peu de deuil à propos de la mort de Bourdieu et je ne vois que toi. Il faut donc que tu l’acceptes, et je n’en doute pas. Ce n’est qu’une toute petite chose. Je sais que sa disparition t’affecte, mais moi aussi« (BALD 39, Irvine, 05.02. vermutlich 2002). 131 Derrida über Levinas, JME, 245. 132 »›pour qui?‹ veut dire ›avec qui?‹, ›avec qui partager?‹, ›avec quel destinataire?‹, ›en vue de quelle destination?‹ Question de voyage, n’est-ce pas, traversée de la lettre« (Derrida in: Derrida/Malabou, La contre-allée, 15). 133 PdF, 392.
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Dieses ist zugleich eine problematische als auch Raum erschaffende Bitte und gleicht darin einer performativen Bitte um Freundschaft oder zumindest und zuallererst Antwort. Balibars und Derridas Briefe sind Bitten um Freundschaft, denen der Tod eines Freunds vorausgeht. Warum behaupte ich das? Im Dialog mit Catherine Malabou fragt Derrida: »Mit wem akzeptiertest du zu reisen? Das ist, als ob man mich fragen würde: Akzeptiertest Du geboren zu werden – oder zu sterben – mit diesem oder dieser, zu demselben Moment an demselben Ort?«134 Zunächst scheint dies unmöglich. Sterben oder geboren werden müssen wir von einer Perspektive aus immer allein. Jedenfalls wenn man diese Momente als das Gehen über eine Schwelle betrachtet, über die niemand mit einem gehen kann, nicht zur gleichen Zeit am gleichen Ort, weil niemand mit einem anderen identisch ist. Könnte man aber nicht auch sagen, dass eine gute Voraussetzung für eine Freundschaft paradoxerweise die ist, gleichzeitig etwas Gemeinsames verloren zu haben (den gemeinsamen Freund) als auch, dass über den gemeinsamen Verlust und die Teilung eine Teilhabe entsteht, auch wenn es Teilhabe in solchen Momenten nicht mehr gibt? So schreibt Derrida von der »unwiderlegbaren Antizipation der Trauer, aus der die Freundschaft besteht«.135 »Wenn die Freundschaft vor der Freundschaft beginnt, dann rührt sie an den Tod, wie könnte es anders sein; sie erwächst aus der Trauer, aber sie ist auch doppelt bejaht, doppelt besiegelt; es ist ein Wiedererkennen, das dem Kennenlernen vorausgeht und, wie ich glaube, bestimmt ist, zu überdauern.«136
So überlebt der verstorbene Freund in der neuen Freundschaft derer, die hinterbleiben, in ihrer von nun an geteilten Erinnerung an einen Schmerz, der zur selben Zeit, am selben Ort, seinen Ursprung fand. Der Entzug schafft möglicherweise die Nähe, die Hinterbliebene zueinander fühlen. Er hinterlässt sie nicht völlig im Nichts. Nach dem Tod von Derridas Mutter am 05.12.1991 schreibt Blanchot: »Ich bin mit dem Herzen und in Gedanken bei Ihnen. Ich teile Ihren Schmerz, sogar in dem was ohne Teilen [partage] bleibt. […] Wenn Sie es 134 »Avec qui accepterais-tu de voyager? C’est comme si on me demandait: accepteraistu de naître – ou de mourir – avec tel ou telle, au même instant dans le même lieu? De mourir surtout. Car j’y reviendrai, je ne pars jamais en voyage, je ne vais jamais, je ne m’éloigne jamais de la ›maison‹, si peu que ce soit, sans penser, avec images, films et dramaturgie orchestrée, que je vais mourir avant le retour« (hier Derrida 1997 in: Derrida/Malabou, La contre-allée, 15). 135 Derrida über Marin, JME, 200. 136 Derrida über Jabès, JME, 160.
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erlauben, umarme ich Sie und begleite Sie.«137 Die Möglichkeit, dass Blanchot Derrida in seiner Trauer begleitet (Trauerarbeit), entsteht eben durch dieses, was ohne partage bleibt, sie aber verbindet. In der Trauerarbeit spreche »ich« also nur durch das Ableben einer dritten Person zu einer weiteren. Gleichzeitig ist kein Dialog mehr zur verstorbenen Person möglich. Die Möglichkeit, weiter zu leben, zu überleben, liegt außerhalb von mir, in etwas, das gestorben ist, das auf eine abwesende Weise aber in meinen weiteren Handlungen präsent bleibt. Nur in veränderter Form. Der Tote lebt als Fiktiver fort, müsste man sagen, und nur so kann »ich«, der Überlebende, weiter leben, indem ich ihn durch Worte am Leben erhalte. Das genau ist Trauerarbeit, insbesondere in der Form, die Schriftsteller ihr geben: »Am Leben erhalten und in sich bewahren, ist das die beste Regung der Treue? Mit dem unbestimmten Gefühl, zum Lebendigsten vorzustoßen, habe ich soeben zwei Bücher von ihm gelesen, die ich noch nie gelesen hatte.«138
So erhält sich das Gefühl oder die »Regung« der Treue auch über den Tod hinaus.139 Derrida sagt »Regung« und es passt meines Erachtens daher, weil ich nicht sicher sein kann, dass dieses Gefühl auch wirklich Treue ist. Denn selbst wenn ein Nachruf ganz besonders angemessen erscheint, so täte er das nur aus Sicht der Angehörigen, die Toten lassen sich nicht mehr befragen. Und eine mögliche Adressierung dessen führt in eine unmögliche Möglichkeit: »Was ich für ihn vermeiden wollte: die doppelte Verletzung, hier und jetzt von ihm als von einem Lebenden oder als von einem Toten zu sprechen. In beiden Fällen verzerre ich, verletze ich, beschönige oder töte ich, aber wen? Ihn? Nicht mehr.«140
Hier findet sich wieder das Schema Derridas, dass man das einer performativen Abwesenheit oder eines performativen Lassens bezeichnen könnte, und worin er verdeutlicht, wie das menschliche Handeln auf der Basis sich entziehender 137 »Je suis de coeur et de pensée avec vous. Je partage votre douleur, même en ce que celle-ci reste sans partage. […] Si vous le permettez, je vous embrasse et je vous accompagne« (BLD 16, o.O., 12.12.1991). 138 Derrida über Barthes, JME, 61. 139 Vasikalis zeigt, dass für Derrida eine neue Möglichkeit der Freundschaft die zu Verstorbenen sein kann, da sie jeden Tausch unmöglich macht (Vgl. Vasilakis, »Die Aporie der Freundschaft«, in: Vogt, Derrida und die Politiken der Freundschaft, 201). 140 Derrida über Barthes, JME, 71.
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Gründe und Motivationen steht und worin er mit Nietzsche zu korrespondieren scheint. Derridas Texte sind also nicht nur Texte über das Trauern, sondern sie sind gleichsam »Erfahrungen« der Trauer, die deshalb zugleich als philosophische Texte und als Zeugnisse zu lesen sind.141 Der Versuch, im eigenen Schreiben eine Erfahrung der Trauer zu ›machen‹ oder das Schreiben zu einem Ausdruck der menschlichen Gefühle geraten zu lassen, wäre dann als Kritik an Aristoteles zu lesen, der in der Nikomachischen Ethik die Freundschaft den Lebenden vorbehält. Wo Aristoteles in der Eudemischen Ethik davon spricht, die Menschen zu loben, die »den Toten in Liebe die Treue halten, denn sie kennen die Toten, werden aber von diesen nicht mehr gekannt«142, nimmt Derrida ihn hier ganz buchstäblich und bezeichnet Freundschaft eben gerade als diese seltsame Liebe zu Toten und im Verhältnis mit dem eigenen Tod. Derrida sei selbst nur lebendig, da er durch seine Freunde sprechen kann. Gleichzeitig ist ihm bewusst, dass sie weiter von ihm sprechen werden, wenn er selbst sterbe. Sein erster Vortrag in der Politik der Freundschaft scheint wie eine Grabrede und er spricht davon: »Ich lebe, heute, im Präsens, indem ich durch den Mund meiner Freunde zu mir spreche; ich höre sie schon reden am Rand meines Grabes.«143 Bei Aristoteles könne Unbeseeltes aber noch geliebt werden. Eine innere Gegensätzlichkeit scheint Derrida selbst in der ›Freundschaft‹ zu finden, denn die dem Toten entgegengebrachte Freundschaft bringe für Aristoteles die philía an die Grenze ihrer Möglichkeit, und gleichzeitig könnte ich nicht freundschaftlich lieben, wenn diese Kraft nicht bereits an den Horizont des Tods hinreichen würde.144 Wenn diese philía mit der Möglichkeit, zu überleben, beginnt145 und 141 Vgl. »Es gibt folglich keine Metasprache in bezug auf die Sprache [langage], der sich eine Trauerarbeit befleißigt. Aus diesem Grunde sollte man auch über die Trauerarbeit nichts sagen können, nichts über ihr Sujet sagen, da dies kein Thema werden kann, sondern allein eine andere Erfahrung der Trauer, die im Körper desjenigen arbeitet, der sprechen hört; der von der Trauer oder was auch immer das sei sprechen hört. Und aus diesem Grunde lernt ein jeder, der so an der Trauerarbeit arbeitet, das Unmögliche kennen – und daß die Trauer unbeendbar ist; untröstbar; unversöhnlich« (Derrida über Marin, JME, 180). 142 Aristoteles, Eudemische Ethik, 1239a40–1239b5, S. 75f. Dies sagt er im Kontext dieser Überlegung, dass das Aktive bei der Freundschaft wichtiger sei als das Passive. Derrida bezieht sich auf diese Aristoteles-Textstelle in PdF, 33. 143 PdF, 22. 144 Ebd., 33. 145 Ebd., 35.
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der Akt der Freundschaft durch Trauer und vorweg gehender oder vorweg genommener Trauer über den möglichen Tod des Freunds, 146 dann wäre meine Schlussfolgerung zu diesem Zeitpunkt der Lektüre, dass Freundschaft den Gefühlen zuzuordnen ist. Gefühle sind hier allerdings als etwas begriffen, was die philosophische Diskussion sowohl anregt wie stört. Gehen wir also davon aus, dass Freundschaft erstens den Gefühlen zuzuordnen ist. Zweitens wird deutlich, dass wenn Derrida auf der Frage des ›mit wem‹ so beharrt, die Freundschaft nicht generell eine der Präferenz ist, sondern der Entscheidung. Und genauer noch, geht es um eine Entscheidung um Leben und Tod: »Sie ist nötig, aber man sollte sie nicht lieben, die Trauer, die Trauer selbst, falls es so etwas gibt: nicht durch eine Träne seiner selbst hindurch lieben, sondern nur den Anderen, und jede Träne stammt vom Anderen, dem Freund, dem Lebenden, solange wir sind, uns daran erinnernd, das Leben zu bewahren.«147
Nun ist gerade das eine Entscheidung, sich daran zu erinnern, das Leben zu bewahren, aber eine Entscheidung, die an ein Gefühl gebunden ist. Was bedeutet es, wenn wir davon ausgehen, dass Freundschaft ein Gefühl ist? Derrida betont diesen Spielraum der Entscheidung. Während andere Denkende die Freundschaft als etwas gesehen haben, was über uns kommt, ist bei Derrida zentral, was Menschen, trotz der Ambivalenz der Gefühle, entscheiden müssen. Dann ginge es darum, eine Haltung zu den eigenen Gefühlen zu entwickeln. Diese Haltung kann ein Ja oder ein Nein sein, auch wenn das Gefühl zuerst kommt und darin eine bestimmte Art der Entscheidung schon getroffen ist. Die Frage, ob ich mit jemandem leben will (Aristoteles mit seinen Freunden) oder ihn doch nur ein paar Mal im Leben sehen (Blanchot und Derrida), ist Frage jener zweiten Entscheidung. Aber es braucht beides – Gefühl und Entscheidung – Theorie und Praxis – Fiktion und Faktualität – zur Freundschaft.
146 Ebd. 147 Derrida über Benoîst, JME, 145.
Seien Sie in jedem Fall sicher, ich sage es Ihnen noch einmal, dass Sie auf mich zählen können, was auch immer geschieht. Immer. Ich werde immer tun, was in meiner Macht steht, um mich dem Vertrauen, was Sie mir so bezeugen, würdig zu erweisen – und das ich Ihre Freundschaft als ein leuchtendes Glück, absolut einzigartig in meinem Leben, erhalte und preise / Soyez sûr en tout cas, je vous le dis encore, que vous pouvez compter sur moi, quoi qu‘il arrive. Toujours. Toujours je ferai ce qui sera en mon pouvoir pour me montrer digne de la confiance que vous me témoignez ainsi – et que je reçois, et bénis, ainsi que votre amitié, comme une chance lumineuse, unique absolument, dans ma vie DBL 26, 29.03.2001 Das Buch ist zweifellos da, nicht nur seine papierene und gedruckte Wirklichkeit, sondern auch sein Wesen als Buch, dieses Gewebe aus festen Bedeutungen, diese Bejahung, die es einer vorher festgesetzten Sprache verdankt, diese Umfriedung auch, die die Gemeinschaft aller Leser um es herum bildet, in der ich, der ich es noch nicht gelesen habe, mich bereits befinde, und diese Umfriedung ist außerdem die aller Bücher, die, Engeln mit ineinander verschlungenen Flügeln gleich, streng über diesen unbekannten Band wachen, denn ein einziges gefährdetes Buch erzeugt eine gefährliche Lücke in der universalen Bibliothek Blanchot über die Freiheit in der literarischen Lektüre: Blanchot, Das Unzerstörbare, 14.
Von der Gemeinschaft zur Nachbarschaft Aspekte des Heiligen und der Ideologie
MINIMALE KOLLEKTIVITÄT Als der Interviewpartner nach der Möglichkeit kollektiver Verantwortung, Reue und Befangenheit fragt, stößt Derrida auf den folgenden »Widerspruch: das Verzeihen ist eine Erfahrung des Angesicht-zu-Angesicht [face-àface], des ›ich‹ und des ›du‹, aber gleichzeitig gibt es schon Gemeinschaft, Entwicklung [génération], Zeugnis; seit es Ausdruck gibt, gegebenes oder nicht gegebenes Verzeihen [pardon accordé ou non], gibt es Implikation der Gemeinschaft, also eine bestimmte Kollektivität.«1
Was Derrida so vorsichtig formuliert, ist die Existenz einer »bestimmten Kollektivität«, der »Gemeinschaft«. Derrida benennt an dieser Stelle wie nur selten affirmativ die Existenz einer Gemeinschaft und das auch nur in einem Interview, also einem Text, den Derrida möglicherweise nicht für die Veröffentlichung bestimmt hätte. Zu einem frühen Prozess dieser Arbeit war ich davon ausgegangen, dass es Gemeinschaft bei Derrida nicht gibt. Freundschaft, wenn sie möglich sein sollte, müsste sich von allen Aspekten der Gemeinschaft vielleicht fern halten, um nicht in die Nähe der Ideologie oder des religiösen Glaubens gerückt werden zu können. Ich plädiere hier nun zunächst und im Gegenteil dafür, von Gemeinschaft bei Derrida zu sprechen, Gemeinschaft zu einem Aspekt seiner Theorie der Freundschaft zu machen. Wenn er davon spricht, dass Gemeinschaft impliziert ist, wo das Verzeihen von Angesicht zu Angesicht stattfindet, ist dies 1
»contradiction: le pardon est une expérience du face-à-face, du ›je‹ et du ›toi‹, mais en même temps il y a déjà communauté, génération, témoignage ; dès lors qu’il y a énoncé, pardon accordé ou non, il y a implication de la communauté, donc d’une certaine collectivité« (Derrida, Sur Parole, Ebook, Pos. 1515).
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nicht irgendeine Art von Gemeinschaft, sondern »eine bestimmte Kollektivität«. Es handelt sich also um einen Begriff der Gemeinschaft, der reduziert auf eine minimale Größe scheint. Welche Art des Kollektiven ist hier gemeint? »Jenes Begehren (›reines unreines Begehren‹), das mich im Lieben [aimance] – Freundschaft oder Liebe –an diesen oder diese eher als an wen auch immer, eher als an einen jeden und eine jede bindet, an diese mehreren (Männer oder Frauen) und nicht an alle, an jeden beliebigen und jede beliebige, jenes Begehren, das mich an ein singuläres ›wer‹ bindet, und sei es auch eines in der Mehrzahl, die stets, wie zahlreich die mehreren auch immer sein mögen, eine geringe Zahl bleibt gemessen an ›allen anderen‹ – jenes Begehren also gehört (vielleicht) der Ordnung des Gemeinsamen oder der Gemeinschaft, des genommenen oder gewährten Anteils, der Partizipation und der partage, dem Teilen und der Teilhabe nicht an.«2
Hier wird vom Begehren und einer Bindung gesprochen, jedoch führt sie in die folgende Richtung: »Gäbe es folglich eine Politik des Liebens [aimance], so würde ihr Weg nicht länger über die Motive der Gemeinschaft, der Zugehörigkeit oder der Teilhabe verlaufen, mit welchen Vorzeichen man sie auch jeweils versehen mag.«3
Was sich also feststellen lässt, ist, dass eine eigentümliche Stille über dem Begriff der Gemeinschaft bei Derrida herrscht. Diese Stille könnte bedeuten, dass es keine Gemeinschaft bei Derrida gibt. Wird Derrida als politischer Denker gelesen, so ist er sicherlich keiner, der sich mit Institutionen ausgiebig beschäftigt hätte. Politisch scheint Derridas Denken eher bezüglich des individuellen Handelns in politischen Bezügen zu sein, nicht aber affirmativ auf die Bildung einer Gemeinschaft ausgerichtet. Wie García Düttmann schrieb: »Politisch steht die Dekonstruktion der Abstraktion einer ›großen Weigerung‹ näher als der Abstraktion einer ›regulativen Idee‹.«4 Es scheint, als fände sich Gemeinschaft in den Schriften Derridas nur in der negativen Dimension eines Bruchs mit ihr. Die Frage ist jedoch, ob es bei dieser negativen Definition bleibt. Wenn sich bei einem so komplexen Gebiet eine These annehmen ließe, so würde ich im Gegenteil zu García Düttmann sagen, dass es (keine) Gemeinschaft bei Derrida gibt. Denn Derrida lässt sich weder die »große[…] Weigerung« noch die »Abstraktion einer ›regulativen Idee‹« gänzlich zuschreiben. Hingegen möchte ich zeigen, 2
PdF, 398 f.
3
Ebd., 399.
4
Garcia Düttmann, Freunde und Feinde, 67 f.
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dass er das Beharren auf der Spannung von Zurückhaltung und gleichzeitiger Affirmation eines zumindest minimalen Denkens der Gemeinschaft produktiv für den Aspekt der Freundschaft, der Gemeinschaft heißen könnte, macht. Im letzten Kapitel wurde bemerkt, dass Derrida in der Freundschaft immer die Notwendigkeit einer différance betont. Hierin angelegt ist, dass es einen Bruch mit bestimmten, schon da gewesenen Formen des Denkens über ein Gebiet gibt. Georges Bataille und Jacques Derrida waren keine Zeitgenossen in dem Sinne, dass sie zur gleichen Zeit geschrieben hätten. Derrida war fast 32, als Bataille starb. Aber in der Politik der Freundschaft nimmt die Lektüre Batailles eine zentrale Position ein. »Warum zitieren wir sie [die Worte Batailles, nt] hier? Um Zeugnis, ein zu kurzes und dürftiges Zeugnis von der anerkennenden Aufmerksamkeit abzulegen, die mich hier Denkern und Texten zuträgt, mit denen mich eine Freundschaft des Denkens verbindet, der ich nie ganz genügen werde.«5
Indem Derrida dieses Zeugnis ablegt, setzt er voraus, dass es eine »Freundschaft des Denkens« gibt, die er aber sogleich einschränkt, da er sich unfähig sieht, ihr zu genügen. Nicht nur auf Bataille ist diese Freundschaft des Denkens gerichtet, sondern auch seine Texte und die Blanchots. Kurz darauf schreibt Derrida über L’amitié und La communauté inavouable, welches ein Buch über die Freundschaft nach Bataille sei: »Neben denen, die in ihrem Licht und in deren Licht aufleuchten, zählen diese Werke zweifellos zu jenen, die mir heute am wichtigsten sind.«6 Und noch dazu habe er Blanchots La communauté inavouable seinem eigenen Essay voranstellen mögen.7 Wer also sind die Freunde des Denkens? Was haben sie über Freundschaft gedacht? Auch wenn Derrida selten – und wenn, dann in Fußnoten – offen über seine Einflüsse spricht – schränkt er hier die Freundschaft ein. Er könne ihr »nie ganz genügen«. Der Vorstellung, Texten von Blanchot nicht gerecht werden zu können, verleiht er auch an anderer Stelle Gewicht.8 Drei Fragen hauptsächlich 5
PdF, 67, Fußnote 13.
6
Ebd., 67.
7
»Ich hätte diesem ganzen Essay, jedenfalls dort, wo es um Nietzsche geht, die Sätze aus ›Die negative Gemeinschaft‹, einem Kapitel von La communauté inavouable, voranstellen können« (PdF, 67).
8
»Da wir der Unermeßlichkeit dieser Bücher, namentlich L’amitié und L’écriture du désastre, hier nicht gerecht werden können, werden wir uns, im Zeichen der Bewunderung und der Dankbarkeit ohne Teilhabe, nur auf drei Orte zurückbesinnen, an
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in Bezug auf Blanchot möchte er nachkommen: der der Gemeinschaft, der ›griechischen‹ Frage und der der Brüderlichkeit.9 So könne man beobachten, »daß an bestimmten Orten des Denkens, bei manchen und in der Tat wenigen, ein beispielloser, unerhörter Bruch stattgefunden haben wird – oder vielmehr ein neuartiges Denken des Bruchs oder der Unterbrechung als Ort der Freundschaft? Wir denken ganz offensichtlich, auch das haben wir zu Beginn angedeutet, an Blanchot, an Bataille und all das, was von ihren Werken ausstrahlt, ohne daß sie darum dessen Zentrum oder Quelle sein wollten oder es tatsächlich wären.«10
Wurde im letzten Kapitel die Freundschaft bei Derrida hinübergezogen in eine gespenstische Stille oder einen Raum, in dem sich die Freundschaft ereignen kann, wird in diesem Kapitel die Freundschaft als eine Frage der Gemeinschaft gestellt. Derrida äußert die Sorge: »Einerseits möchten wir die Einzigartigkeit ihres Namens, ihrer Namen, ihrer/s Denken(s), ihres/r Werke(s) nicht auslöschen – und vor allem nicht die ihrer Freundschaft (ein anderer würde vielleicht sagen: der Freundschaft dieses legendären Freundespaars unseres Jahrhunderts – zu dem sich, wie Kant gesagt hätte, ein dritter verläßlicher Freund hinzugesellt hat, der in Wahrheit von Anfang an da war: Lévinas), andererseits möchten wir ebensowenig ihrem Reichtum das Denken und die ganze Originalität des Denkens derer zuschlagen, die sich ihnen angeschlossen haben oder auf die sie sich, ausdrücklich oder nicht, ihrerseits bezogen haben.«11
Die Sorge scheint hier darin zu bestehen, dass sich das Denken von Blanchot und Bataille nicht angemessen wiedergeben lässt. Es stellt sich die Frage, wie einzigartig ein Denken sein kann, ein Name, ein Werk. Derrida scheint nicht sicher zu sein, dass sich einerseits ein Denken ohne das befreundeter Denker begreifen ließe und andererseits möchte er nicht die Einzigartigkeit durch einen solchen Satz auslöschen. Es lässt sich daraufhin die Frage anschließen, inwieweit sich die Freundschaft (hier die zwischen Blanchot, Bataille und Levinas) – auch wenn diese eine Freundschaft des Denkens ist – erhalten ließe, obwohl Derrida über die Freunde schreibt. Als Figuren bringt er zunächst zwei ins Spiel – Blanchot und Bataille. Daraufhin benennt er drittens Levinas. Levinas ist im Falle von denen sich, wenn nicht das größte Problem, so doch das größte Rätsel zusammenzieht« (PdF, 396). 9
Ebd., 396.
10 Ebd., 392. 11 Ebd.
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Blanchot und Derrida der Dritte, auf den sich ihre Freundschaft bezieht. So zeugt ein Brief Blanchots von dieser dreifachen Verbindung. – »E.L., der mich seit Jahren mehr liest, hat ›L’instant‹ gelesen und tiefgehende Anmerkungen gemacht. […] Wissen Sie, ich werde immer an Ihrer Seite sein.«12 Diese Figur oder dieses Symbol der Freundschaft – 2+113 – findet sich auch in anderer Stelle wieder und könnte als Synecdoche gelesen werden, wenn man darunter wie es im Close Reading geschieht, die ein Zeichen versteht, das für eine Bewegung, ein Ereignis, oder einen Gegenstand steht.14 Wir können also zu diesem Zeitpunkt festhalten, dass Derrida mitteilt, er könne der Freundschaft nicht genügen und dass die Freundschaft sich zwischen der Figur eines 2+1 entfaltet, die zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal aufgegriffen werden soll. Wenden wir uns im folgenden also zunächst den Denkern etwas genauer zu, die er hier adressiert: Blanchot und Bataille.
ASPEKTE DES HEILIGEN. DER BRUCH DES BEZUGS ALS BEZUG. WAS IST DIE GEMEINSCHAFT DER SCHREIBENDEN? (BLANCHOT, ANTELME, BATAILLE, MASCOLO) Um im Folgenden einem Verständnis der Gedanken näher zu kommen, die meines Erachtens in einer Konzeption der Freundschaft als Bruch münden, wird hier vorgeschlagen, einige Schritte zurück zu gehen und die Geschichte einer solchen Freundschaft mit einer möglichen Herkunft von Debatten anzusetzen, die zwischen einer kleinen Gruppe von Menschen nach dem Zweiten Weltkrieg geführt wurden. Wann stellt sich einem Menschen die Frage des Überlebens? Sie könnte sich ihm stellen, weil er einer bestimmten Erfahrung zu überleben unterworfen war und im Nachhinein über die unmögliche Möglichkeit, dass er überlebt hatte, nachdenkt. Dies ist der Fall bei Robert Antelme, der das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hat und im Nachhinein L’espèce humaine geschrieben hat. Im Vorwort heißt es:
12 »E.L., qui me lit plus depuis des années a lu ›L’instant‹ et a fait des commentaires approfondis. […] Vous savez, je serai à vos côtés toujours« (BLD 18, o.O., 16.11.1994). 13 Eigene Darstellung. 14 Zur Synecdoche im Close Reading: Brummett, Techniques of Close Reading, 96.
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»Vor zwei Jahren, nachdem wir gerade zurückgekehrt waren, haben wir, glaube ich, alle unter dem Druck einer regelrechten Manie gestanden. Wir wollten sprechen, endlich angehört werden: man sagte uns, unser physisches Aussehen sei beredt genug. Aber wir kamen gerade zurück, wir brachten unsere Erinnerungen mit, unsere noch ganz frischen Erlebnisse, und wir empfanden ein irrsinniges Verlangen, sie so auszusprechen, wie sie waren. Und doch kam es uns bereits in den ersten Tagen unmöglich vor, die uns bewußt gewordene Kluft zwischen dem Wortschatz, über den wir verfügten, und jenen Erfahrungen, die wir größtenteils immer noch am eigenen Leibe empfanden, auszufüllen.«15
Auch wenn von der Gruppe der im folgenden zitierten Menschen nur einer im Konzentrationslager war und so möglicherweise als einziger sich als Überlebender rechtfertigen und in ein bestimmtes Recht gerückt werden könnte, so ist die Frage des Überlebens bei jenen, die schreiben und die Kriegserfahrung gemacht haben auch Thema. Sowohl Derrida als auch Blanchot haben den Zweiten Weltkrieg – auf je eigene Weise – erlebt.16 Auch könnte sich einem Menschen die Frage des Überlebens dann stellen, wenn er nicht einen eigenen Neubeginn, sondern den Tod eines Nächsten erlebt. Das ist die Figur, die bei Derrida wiederholt – insbesondere, aber nicht ausschließlich, in seinen Nachrufen – auftaucht und die im vorangegangenen Kapitel zur Sprache kam. Es geht in diesem Kapitel um Gemeinschaft, aber ob sich überhaupt von einer Gemeinschaft zwischen denen, über die hier geschrieben wird, sprechen lässt, ist fraglich. Sie gehörten nicht – zumindest nicht für lange Zeit – einer gemeinsamen Partei an. Deshalb soll hier die Suche danach eröffnet werden, ob sich Züge einer Gemeinschaft zwischen all dem, was hier explizit fragmentarisch bleiben soll, benennen lassen. Es geht also wieder um einen bestimmten Aspekt der Freundschaft, den ich hier mit dem Wort Gemeinschaft bezeichne, ausgehend von dem, was die Autoren selbst so nennen. Beginnen wir bei einem Denker, der in diesem Kreis gelesen wurde. In einem Brief schrieb Hölderlin an seinen Freund Böhlendorff: »Schreibe doch nur mir bald. Ich brauche Deine reinen Töne. Die Psyche unter Freunden, das Entstehen des Gedankens im Gespräch und Brief ist Künstlern nöthig. Sonst haben wir keinen für uns selbst; sondern er gehöret dem heiligen Bilde, das wir bilden.«17 15 Antelme, Die Gattung Mensch, 7. 16 Diese unterschiedliche Perspektive lässt sich bspw. durch die im gemeinsamen Band herausgegebenen Texte von Blanchot und Derrida in: Der Augenblick meines Todes: Ein Zeuge von jeher nachvollziehen. 17 Hölderlin, Brief an Casimir Ulrich Böhlendorff, Nr. 240.
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Das, was Künstler aus Hölderlins Perspektive in die Welt setzen, ist ein heiliges Bild, das sich durch die befreundeten Künstler bildet. Es ist hier nicht explizit von Gemeinschaft die Rede, aber doch von einer Art von Versammlung zu einem Bild, welches von Hölderlin heilig gesprochen wird. Mascolo bezieht seine Quelle zur Fundierung eines Kommunismus des Denkens aus der Inspiration durch dieses Hölderlin-Zitat. 18 Blanchot widerum hat Pour l’amitié als Vorwort zu eben jenem Werk Mascolos – A la recherche d’un communisme de pensée – veröffentlicht. Er wie auch Mascolo gehörten demselben Freundeskreis an, wozu auch Bataille gehörte. Die Freundschaft zwischen Mascolo und Bataille begann 1942, als sie bei den Éditions Gallimard an der Publikation von L’Expérience intérieure arbeiten, die 1943 erschien.19 Antelme ist Bataille zufolge einer dieser nahen Freunde.20 So liest Bataille Antelmes Buch oder Bataille schickt ihm die Seiten, zu denen ihn Mascolos Lettre polonaise inspiriert hat.21 Gegenseitige inhaltliche Kritik führte hier nicht zu einem Bruch mit der Freundschaft, sondern: »Es scheint mir manchmal, dass unsere kleinen Unstimmigkeiten nichts getan haben als mich Ihnen anzunähern.«22 Bataille beglückwünschte beispielsweise Robert Antelme zu dem Titel seines Buchs (L’Espèce humaine) und sagt ihm, dass dieses Buch gerade für das sensibel macht, was das Menschengeschlecht ist. 23 Das geografische Zentrum für Treffen dieses Freundeskreises war die Rue Saint-Benoît, die Wohnung von Marguerite Duras.24 18 Mascolo, A la recherche d’un communisme de pensée, 440. 19 Brief Batailles an Mascolo, 05.04.1960, in: Bataille, Choix de lettres, 529. 20 Vgl. Bataille an Mascolo, 27.09.1957, in: Bataille, Choix de lettres, 472. 21 Bataille an Mascolo, 15.04.1958, in: Bataille, Choix de lettres, 477 f. 22 »Il me semble quelquefois que nos petites dissensions n’ont fait que me rapprocher de vous« (Bataille an Mascolo, 22.05.1959, in: Bataille, Choix de lettres, 513). 23 »Et je pense que votre livre et cette revue [Genèse] ont la même intention, qui est de rendre sensible ce qu’est l’espèce humaine« (Brief von Bataille an Antelme, 01.07.1985, in: Bataille, Choix de lettres, 485). Bataille kündigt auch an, über den Film von Duras’ Hiroshima in einem Buch schreiben zu wollen. Bei Marguerite Duras treffen sich die Schriftsteller. Die Geschichte dieses Freundeskreises ist faszinierend, und weil sie hier zu sehr über das Thema hinaus führt, ist ein Artikel zu diesem Thema anvisiert. 24 »Ich nehme an, Dienstagmorgen in Paris zu sein. Ich wäre sehr froh, wenn wir uns zum Mittagessen entweder im Restaurant oder in der rue Saint-Benoît sehen könnten. […] Ich schreibe auch an Blanchot, damit wir uns auf jeden Fall treffen, obwohl es einige Hinternisse gibt. Sprechen Sie Marguerite meine Grüße [amitiés] aus.« (»Je compte être à Paris mardi matin. Si nous pouvions nous voir à déjeuner soit au restaurant soit peut-être rue Saint-Benoît, j’en serais très heureux. […] J’écris aussi à
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Auch wenn die Geschichte dieser Verbindung hier – möglicherweise aber an anderer Stelle – nicht völlig ausgearbeitet werden kann, soll nun zunächst nur wichtig sein, dass dem Buch A la recherche d’un communisme de pensée ein Zitat von Hölderlin als Motto voransteht. Die Suche nach einem Kommunismus des Denkens ist daher, performativ gelesen, auch der Versuch, eine solche Gemeinschaft herzustellen zwischen jenen, die sich auf eine bestimmte Art und Weise nah sind. Aber was für eine Nähe ist dies? Zunächst eine des Denkens, wie hier betont wird. Und wie denken sie? Sechs Jahre vor dem eben zitierten Werk schreibt Mascolo darüber, was für ihn der Freund bedeutet, und bezieht sich hier ganz konkret auf einen Freund: »Der Freund, für mich, mit dem ich niemals vergeblich auf diese glückliche Abwesenheit von Frieden gewartet hätte, die ihre tiefsinnige Musik ist, und den anteilsmäßig das geliebte Wesen gibt, das Untröstliche / Unermessliche, das tröstet / lindert.«25
Die Rede ist von Robert Antelme. Das Buch Mascolos, aus dem dieses Zitat stammt, ist der Erinnerung gewidmet und der Auseinandersetzung mit einem Brief, den Antelme ihm nach der Befreiung aus dem Konzentrationslager geschrieben hatte. Von Gewissensbissen geplagt publiziert er dessen Brief und verleiht der eigenen Vorstellung von Freundschaft Ausdruck.26 Wenn die Welt mit Schmerz in Verbindung gebracht wird, dann gibt der Freund ein Wenig Linderung. Weil der Freund Teil dieses Tröstens ist, ist er hier nur Anteil von dem, was unermesslich ist. In beiden Fällen wird der Freund für unabdingbar für das Selbst gehalten. Im Fall Hölderlins ist dies ein heiliges Bild, was sich zwischen den Freunden bildet. Im Fall Mascolos bildet sich die Gemeinschaft oder Freundschaft um die Herausforderung dessen herum, was das Selbst aufwühlt. Es ist entweder ein Bild, das durch Freundschaft entsteht oder eine Musik. Gemein haben beide Textauszüge, dass hierin nicht nur über Freundschaft als solches gesprochen wird, sondern auch ein partikularer Freund adressiert wird. Umgekehrt war das Schreiben von Texten in diesen Schriftsteller-FreundschafBlanchot de telle sorte que nous nous rencontrions aussi bien, même s’il y a quelque obstacle. Faites mes amitiés à Marguerite.«) (Bataille an Mascolo, 27.10.1961, in: Bataille, Choix de lettres, 577 f.). 25 »L’ami, pour moi, avec qui je n’aurai jamais attendu vainement de connaître cette heureuse absence de paix qui est sa musique profonde, et que donne en partage l’être aimé, l’inconsolable qui console« (Mascolo über Antelme, in: Mascolo, Autour d’un effort de mémoire, 89). 26 Mascolo erzählt dies in: Ebd., 7 f.
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ten ein Element der Freundschaft selbst. Das wird in der Aufforderung Hölderlins »Schreibe doch nur mir bald« deutlich. Was für diese spezielle Freundschaft wichtig wird, ist so der Zusammenhang von Schreiben und Freundschaft, oder von Schreiben und Leben. 27 Im Fall von Antelme und Mascolo bedeutete Freundschaft nicht nur, dass sie sich in ihren Texten mit der Erfahrung des jeweils anderen auseinander setzen, sondern auch, dass der eine dem anderen das Leben rettete. Diese Rettung fand durch Mascolo mithilfe von François Mittérand statt. Antelme war in Dachau noch nach dem Krieg zur Rehabilitation eingesperrt, und Mascolo holte ihn mit einem Auto von dort ab und brachte ihn in einer abenteuerlichen Flucht zurück.28 Mascolo setzte sich in Autour d’un effort de mémoire mit der Erfahrung Antelmes schriftlich auseinander. Er berichtet wie Antelme nach der Befreiung Antelmes aus dem Konzentrationslager fünf Wochen ohne Unterlass gesprochen habe und er erzählt, wie eine Intimität zwischen ihnen entstand, als Antelme ohne zu unterbrechen redete.29 Für Mascolo brachte sich dabei ein »Anspruch alles zu sagen« 30 zum Ausdruck. Wenn »alles« die Erfahrung des Konzentrationslager ist, aber auch mehr als das, die Reflexion über das Wesen des Menschen, die Antelme wenige Zeit nach der Befreiung in L’espèce humaine schreibt, dann lässt sich diese für Mascolo nicht in Form einer Rede sagen: »Es ist so mit Dingen, furchtbar oder nicht furchtbar, einschüchternd oder ungewöhnlich oder ein Konzept ermangelnd – dass die Musik der Stimme, ihnen Körper gebend, sie
27 Für Blanchot seien Schriftsteller immer schon kommunistisch, haben diese Verantwortung, eine unpersönliche, wie Schmidt sagt (Schmidt, Die unmögliche Gemeinschaft, 147). Michel Surya schreibe »communisme imaginaire« im Bezug auf Mascolo (Schmidt, Die unmögliche Gemeinschaft, 148). In diesen historischen Texten wird deutlich, dass die Haltung von Schriftstellern wie Blanchot eher innerhalb eines isolierten Raums des Imaginären und nicht innerhalb einer gesellschaftlich-politischen positioniert werden. Kann aber eine Haltung überhaupt außerhalb des Politischen stattfinden? Was dabei aus späterer Sicht Mascolos mit dem Verständnis der Freundschaft geschieht, ist, dass sie zur Hoffnung auf einen neuen Ursprung, zu einem Bruch mit dem bisherigen Verständnis führt (vgl. Mascolo, Autour d’un effort de mémoire, 25). 28 Schmidt, Die unmögliche Gemeinschaft, 41. 29 Mascolo, Autour d’un effort de mémoire, 27. Hier spricht er von einer Freundschaft des Denkens (vgl. Ebd., 27). 30 »exigence de tout dire« (Ebd., 30).
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maßlos aufblähte. Man muss sie also entweder zum Schweigen bringen oder in dieser Stille selbst die Kraft schöpfen, sie zu sagen: was zweifellos schreiben ist.«31
Was ist hiernach das Schreiben? Schreiben holt »in dieser Stille selbst die Kraft, [die Dinge] zu sagen«. Wenn die geschriebene Sprache es ermöglicht, Dinge gleichzeitig zu beschreiben, aber auch andere Dinge zu tun, 32 dann ist das Schreiben, was Mascolo sucht, performativ. Das Schreiben ist hier betrachtet als das Schöpfen aus einer Quelle des Schweigens, das sagt. Sagen wird aus dieser Quelle nur schreibend möglich. Oder anders, ist Schreiben vielleicht gerade die Möglichkeit, die Dinge zu sagen, sie mitzuteilen. Auch hier ist dieses eigentümliche Verhältnis gegeben: Mascolo schreibt einen Text, den er publiziert, also an ein allgemeines Publikum richtet. Dennoch ist er in seine Erfahrungen gebettet, und so könnte man vermuten, dass er sich ganz besonders an den Freund richtet. Weil der Text Mascolos ins Deutsche noch nicht übersetzt ist und ich den Inhalt hier für relevant halte, zitiere ich in dieser Länge Mascolo über Antelme, in einem Unterkapitel, dass er Prier parler écrire (Beten sprechen schreiben) nennt: »Wenn schreiben, wie man es auf einfachste Weise behaupten kann, immer in einem Sinn […] schreiben an einen ist, der nicht da ist, kann man nicht sagen ohne sehr zu vereinfachen, dass Robert nichts macht als schreiben, was da schreibt. Er setzt vielmehr das Kommunizieren von etwas an jemanden fort, der immer (noch) da sein soll. Wie im Gebet? Wie im Gebet tatsächlich. Ohne Gebet allerdings. Das Gebet ist unterworfen. Um diese Dimension unmittelbarer Intimität der Rede [parole] zu verbergen, würde man in absoluter Weise, glaube ich, sowohl die Natur, die ganz Teil dieser Rede-da [parole-ci] ist als auch die Bedingungen der Möglichkeit, die die Ihren waren und ihre profunde Motivation, verraten. Sie könnte also als Nachricht empfangen werden, Kommunikation des Denkens von einer anonymen Intelligenz gemacht, und Bestimmung zur Erbauung aller. Wohingegen sie eine Rede ist, die, durch gelegentliche Vermittlung [intermédiaire], unvermeidlich, in dem Moment, eines anderen Singulären [singulier], sich an eine singuläre Seele aller richtet, im tiefsten Inneren von jedem. Dies ist so mit wahren Liebesreden [paroles de l’amour], wo man auch nicht weiß, was zu sagen erlaubt ist und was nicht und die im Allgemeinen geheim gehalten werden (weniger willentlich als Geheimnis, sondern von daher, als dass sie nicht zwei Mal gesagt werden dürfen, können sie nicht mehr Geset31 »Il est ainsi des choses, terribles ou non terribles, intimidantes, ou insolites, ou manquant de concept – que la musique de la voix, leur donnant corps, amplifierait sans mesure. Il faut alors, ou les taire, ou puiser dans le silence même la force de les dire: ce qui, sans doute, est écrire« (Ebd., 30 f.). 32 Vgl. Tams, »Gabe und Performativität«.
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zeskraft annehmen und sich auch nicht auf die Erinnerung berufen, im Gegenteil davon, immer dem Kalkül verdächtigt, sich niemals als Literatur [dans les lettres] schreiben zu können).«33
Sehen wir uns diesen nahezu unübersetzbaren Text genauer an. Erinnern wir, dass in Kapitel Der Anfang der Freundschaft im Brief darüber geschrieben wurde, wie Levinas beschreibt, dass das Außerhalb-des-Seins durch Sprache nur thematisiert werden kann, als sei es Ereignis des Seins selbst. Dort wurde auf den Gegensatz zwischen Sagen und Gesagtem aufmerksam gemacht. Nun werden hier ähnlich wie bei jenem Gegensatz die zwei Ebenen in Beziehung gebracht. Jemand schreibt, indem er das Kommunizieren dessen fortsetzt, der schon nicht mehr da ist. Es ist von einem Bezug die Rede, der bezuglos ist. Wie das Gebet ist das Schreiben der Verkehr mit Gespenstern34 und das fällt auch Mascolo auf. Robert Antelme schreibe nicht einfach bloß, sondern er setze »das Kommunizieren von etwas an jemanden fort, der immer (noch) da sein soll.« Das ist im partikularen Sinnkontext Antelmes ganz buchstäblich zu verstehen, denn wie Blanchot schrieb, könne der »Mann im Lager« nicht mehr »Ich« sagen, sich also in individueller Souveränität nicht mehr erkennen.35 Antelme, 33 »Si écrire, comme on peut le soutenir au plus simple, est toujours en un sens (et prétendrait-on s’écrire à soi-même n’y change pas grand-chose) écrire à quelqu’un qui n’est pas là, on ne peut dire sans simplifier beaucoup que Robert ne fait qu’écrire ce qu’il écrit là. Il continue plutôt de communiquer quelque chose à quelqu’un qui est censé être toujours (encore) là. Comme dans la prière? Comme dans la prière en effet. Sans prière toutefois. La prière est soumise. A occulter cette dimension de l’immédiate intimité de la parole, on trahirait absolument, je crois, et la nature tout à fait à part de cette parole-ci, et les conditions de possibilité qui furent les siennes, et sa motivation profonde. Elle pourrait alors être reçue comme un message, communication de pensée faite à l’intelligence anonyme, et destinée à l’édification de tous. Tandis qu’elle est une parole qui, par l’intermédiaire occasionnel, indispensable, dans le moment, d’un autre singulier, s’adresse à l’âme singulière de tous, au for intérieur de chacun. Il en est ainsi des vraies paroles de l’amour où l’on ne sait pas non plus ce qu’il est permis et ce qu’il n’est pas permis de dire, et qui sont généralement tenues secrètes (moins par volonté de secret que du fait que, ne pouvant être dites deux fois, elles ne peuvent non plus prendre force de loi, ni même faire appel au souvenir, au contraire de ce qui, toujours suspect de calcul, a jamais pu s’écrire dans les lettres)« (Mascolo, Autour d’un effort de mémoire, 26). 34 Vgl. Kafka, Briefe an Milena, 301 ff. 35 Vgl. Maurice Blanchot, »L’espèce humaine« in: Antelme, Textes inédits sur l’espèce humaine, 80.
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der die Erfahrung des Lagers gemacht hat, setzt also tatsächlich das Kommunizieren an ein »Ich« fort, das nicht mehr da ist. Mascolo betont aber, dass er kein Einzelfall ist und dass man nur vorgeben könne, an ein »Ich« zu schreiben. Wenn Antelme also schreibt oder betet, dann ist dies ein Gebet ohne Gebet, weil es von der Intimität der Rede selbst betroffen (unterworfen) ist. Es wird hier eine Unmittelbarkeit der Rede angenommen, die Mascolo mit dem Extremfall der Liebesreden noch stärker betont. In Liebesreden richte sich also jemand an einen anderen oder eine andere, nicht wissend, »was zu sagen erlaubt ist«. Sie würden »im allgemeinen geheim gehalten« und er weist auch noch darauf hin, dass diese Liebesreden nicht »zwei Mal gesagt« werden dürfen, um als solche zu funktionieren. Wie er schreibt, dürfen Liebesreden keine Gesetzeskraft annehmen. Sie sollen sich nicht wiederholen. Es ist daher – wenn es solche sein wollen – ausgeschlossen, dass sie zu einem zitierbaren Text werden. Mascolo liest und empfängt Antelmes Brief, er versucht, ihn schreibend als Liebesrede anzunehmen und verrät ihn doch gleichzeitig (er beschrieb, ein schlechtes Gewissen zu haben, über diesen Brief zu schreiben). Er möchte ihn lesen können als die Rede, die sich »an eine singuläre Seele aller richtet, im tiefsten Inneren von jedem«, oder anders gesagt, er möchte sich gleichzeitig von ihr betreffen lassen als auch sie als Philosophie oder als schriftlichen Text in einem schriftlichen Text lesen können. Es ist die wiederholte, direkte Adressierung eines einzelnen Menschen, wie sie sonst eher im persönlichen Gespräch unter Freunden möglich ist, nach der Mascolo hier in seinem Text strebt. Anders gesagt geht es um eine Überschreitung.36 Auch Blanchot bezieht sich auf Antelme, aber für ihn ist ihr gemeinsamer Grund nicht in die Nähe der Liebesreden zu rücken, sondern er bezeichnet das, 36 Sein Freundschaftsverständnis, geht, wie Mascolo selbst sagt, in Richtung von einer Verschmelzung, die sich bei Montaigne finden lässt, der seinem Freund gegenüber keine Reserven haben will (vgl. »Ich sage mit Fleiß ineinander verlieren, denn sie behielt sich nicht das geringste als Eigentum vor oder etwas, das sein oder mein gewesen wäre.« (Montaigne, »Über die Freundschaft«, 129f.). Vgl. hierzu Mascolo: »[Ich] kann ich mich nicht auslöschen, ohne zu riskieren, einige Grundzüge seiner Person auszulöschen. […] Wir sind nicht trennbar. Woran machte sich unsere ›Intelligenz‹ fest, ich finge wieder mit Montaigne an, dessen ›ich‹ glücklicherweise die Grenzen des ›ich‹ überschreitet« (»Limite du refus de principe opposé à la biographie, je ne puis m’effacer sans risquer d’effacer de sa personne quelques traits essentiels. […] Nous ne sommes pas séparables. A quoi tenait notre ›intelligence‹, je m’en remettrai à Montaigne, dont le ›je‹ dépasse heureusement les limites du ›je‹, de le dire sans pudeur: […]«) (Mascolo, Autour d’un effort de mémoire, 29).
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was sie miteinander teilen, eher als Unglück. Es gibt etwas in der Freundschaft, was Blanchot zufolge »ohne Ausweg ist« und er bezieht es, einen Brief an Bataille schreibend, auf die Erfahrung von Robert Antelme: »Wenn ich von den Dingen, die Sie betreffen, so indiskret spreche, dann weil es mir so scheint, als wären sie auch Teil von mir, durch die Freundschaft, aber nicht bloß durch die Freundschaft: etwas ist uns, still, gemeinsam. Ich glaube, dass wir es wissen: dass die Dinge in ihrem Grund ausweglos [sans issue] wären, ich sehe nichts, was mich davon abhalten würde, es mit Ihnen zu sagen; ich würde lediglich hinzufügen, dass dieses ›ohne Ausweg‹ nicht erkennbar werden kann ohne die Notwendigkeit, immer einen Ausweg zu suchen, durch die verhängnisvolle Entscheidung, niemals aufzuhören, einen zu suchen. Dieser letzten Tage erinnerte ich mich an das Buch von Robert Antelme (die Erzählung seiner Zeit im Konzentrationslager) und ich erinnerte mich fast mit Entsetzen an die Art von Hoffnung, die niemals aufhörte, ihn in der Abwesenheit absoluter Hoffnung zu begleiten, und die, für ihn und seine Leidensgenossen, die letzten menschlichen Bedürfnisse heilig werden ließ: Hoffnung, die mir furchtbar erscheint, vielleicht unsäglich [atroce), Hoffnung aber ohne Hoffnung. Entschuldigen Sie diese Worte, sie sind im Gedanken an Ihren Brief geschrieben und um Ihnen zu sagen, wie sehr er mir nah ist. Dass etwas, was man das Unglück nennen kann, aber das man auch ohne Namen lassen kann, in einer gewissen Weise, gemein sein kann, das ist rätselhaft, vielleicht trügerisch, vielleicht in unaussprechlicher Weise wahr.«37
37 »Si je parle si indiscrètement de ces choses qui vous concernent, c’est qu’il me semble que je leur appartiens aussi, par l’amitié, mais non seulement par l’amitié: quelque chose là, silencieusement, nous est commun. Je crois que nous le savons: que les choses en leur fond soient sans issue, je ne vois rien qui me détournerait de le dire avec vous ; j’ajouterai seulement que ce ›sans issue‹ ne peut s’affirmer que par la nécessité de toujours chercher une issue, par la décision, inexorable, de ne jamais renoncer à en trouver une. Ces derniers jours, je me rappelais le livre de Robert Antelme (le récit de son temps de concentration) et je me rappelais, presque avec effroi, l’espèce d’espoir qui n’a jamais cessé de l’accompagner dans l’absence absolue d’espoir et qui rendait sacrés, pour lui et ses compagnons, les derniers besoins humains: espoir qui me paraît terrible, peut-être atroce, espoir pourtant sans espoir. Pardonnez-moi ces mots, ils sont écrits dans la pensée de votre lettre et pour vous dire combien elle m’est proche. Que quelque chose qu’on peut appeler le malheur, mais qu’on doit aussi laisser sans nom, puisse, d’une certaine manière, être commun, cela est mystérieux, peut-être trompeur, peut-être indiciblement vrai« (Brief von Blanchot an Bataille, 08.08.1960 [Jahr mit Fragezeichen], in: Bataille, Choix de lettres, 592).
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Es fällt auf, dass das Gemeinsame für Blanchot als »still«, in der »Tiefe«, und »ausweglos« charakterisiert wird. Fast in buddhistischer Manier wird hier der Versuch, sich dennoch aus den Leiden zu befreien, als die Möglichkeit gesehen, das Ausweglose zu erkennen bzw. es erkennbar werden zu lassen. Das Heilige kommt in dem Moment mit ins Spiel, da die Hoffnungslosigkeit den Menschen auf seine letzten Bedürfnisse reduziere und sie, die Hoffnung, sich nicht mehr sagen lasse. Heilig ist somit nur der Mensch und gemein ist den Menschen »das Unglück«. Bezug zu dieser Wahrheit scheint allerdings nur der zu finden, der schon am Rande seiner Kräfte ist und sie nicht mehr aussprechen kann. So könnte die Freundschaft hiernach eine Gemeinschaft derer sein, die angesichts ihrer leidvollen Erfahrung gemeinsam stammeln, die keine ganzen Sätze mehr zustande bringen, und daher vielmehr als Sprechen, Ausdruck von etwas geben, das »ohne Ausweg« ist. Gemeinsam stammeln ist hier allerdings keineswegs das, was die Freundschaft zwischen denen, die es zu tun glauben, voneinander entfernt, sondern aneinander bindet. An Mascolo schreibt Bataille 1961 über dieses besondere Verhältnis zu Blanchot: »Ich habe mehrmals an Maurice Blanchot geschrieben, für den meine Freundschaft mehr und mehr zählt. Seine Briefe haben für mich sehr gezählt.«38 Und ebenso drückt Blanchot seine Nähe zu Bataille aus, wenn er an ihn in einem Brief schreibt: »Seien Sie sicher, dass mein Denken [pensée] nah bei dem Ihren ist, in der gemeinsamen Erwartung, die wir offenbar immer geteilt haben, seit wir uns kennen.«39 Betrachten wir, was Blanchot ein Jahr später an Bataille schreibt und lesen wir es in seiner Ausführlichkeit um es nicht aus dem Kontext zu reißen: »Ich glaube überhaupt nicht, dass das Interesse oder der Mangel an Interesse, was die ›Politik‹ betrifft, in Frage steht; dies ist nur eine Konsequenz und vielleicht eine oberflächliche. Meinerseits sehe ich gut, sehe ich besser seit einiger Zeit, auf welche doppelte Bewegung ich immer antworten muss, alle beide notwendig und gleichzeitig unversöhnlich. Die eine (um mich auf eine extrem notdürftige und vereinfachende Weise auszudrücken) ist die Leidenschaft, die Realisierung und die Rede des Ganzen, in dialektischer Leistung; die andere ist in essentieller Weise nicht dialektisch, kümmert sich überhaupt 38 »J’ai écrit plusieurs fois à Maurice Blanchot pour lequel mon amitié compte de plus en plus. Ses lettres ont beaucoup compté pour moi« (Bataille an Mascolo, 05.09.1961, in: Bataille, Choix de lettres, 576). 39 »Ce n’est pas pour vous entraîner à la fatigue d’une réponse, mais pour vous dire mon inquiète amitié, car j’ai entendu dire, sans précision, que vous aviez été encore fatigué. Soyez sûr que ma pensée est près de la vôtre, dans la commune attente qu’il semble que nous avons toujours partagée depuis que nous nous connaissons« (Blanchot an Bataille, 09.05.1961, in: Ebd., 594).
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nicht um die Einheit und reicht nicht nach der Macht (nach der möglichen). Auf diese doppelte Bewegung antwortet eine doppelte Sprache [langage] und, für alle Sprache, ein doppeltes Ausmaß [gravité]: eins als Rede des Zusammenstoßes, des Gegensatzes, der Negation, um alles Gegensätzliche zu reduzieren und sich am Ende die Wahrheit in ihrer Gesamtheit als stille Gleichheit unter Beweis stellt (wo die Forderung des Denkens passiert [par où passe]). Aber die andere ist die Rede, die vor allem spricht und außerhalb allem, immer erste Rede, ohne Übereinstimmung, ohne Konfrontation und bereit, das Unbekannte willkommen zu heißen, das Fremde (wo die poetische Forderung passiert [par où passe]). Die eine benennt das Mögliche und will das Mögliche. Die andere antwortet auf das Unmögliche. Zwischen diesen beiden Bewegungen, notwendig und inkompatibel zugleich, gibt es eine konstante Spannung, oft sehr schwierig zu ertragen, und in Wahrheit unerträglich [insoutenable]. Aber man [l’on] kann weder voreingenommen auf die eine oder auf die andere verzichten noch auf die maßlose Suche, die den Menschen abverlangt, ihre Notwendigkeit und die Notwendigkeit des Inkompatiblen zu vereinen. Entschuldigen Sie diese unangebrachten Gedanken. Aber es schien mir, dass ich unserer Freundschaft diese Anstrengung schuldete […] Vielleicht wird Ihre Rückkehr nach Paris und die sich uns dann eröffnenden Möglichkeiten, uns zu treffen, anders als durch abstrakte Behauptungen, auf diese Forderung [exigence] der Freundschaft zu antworten erlauben.«40 40 »Je ne crois pas du tout que l’intérêt ou le manque d’intérêt à l’égard de la ›politique‹ soit en cause ; ce n’est là qu’une conséquence et peut-être superficielle. Pour ma part, je vois bien, je vois mieux depuis quelque temps, à quel double mouvement il me faut toujours répondre, nécessaires tous deux et cependant inconciliables. L’un (pour m’exprimer d’une manière extrêmement grossière et simplificatrice) est la passion, la réalisation et la parole du tout, dans l’accomplissement dialectique ; l’autre est essentiellement non dialectique, ne se soucie pas du tout de l’unité et ne tend pas au pouvoir (au possible). À ce double mouvement répond un double langage et, pour tout langage, une double gravité: l’un en parole d’affrontement, d’opposition, de négation afin de réduire tout opposé et que s’affirme à la fin la vérité dans son ensemble comme égalité silencieuse (par où passe l’exigence de la pensée). Mais l’autre est parole qui parle avant tout, et en dehors de tout, parole toujours première, sans concordance, sans confrontation et prête à accueillir l’inconnu, l’étranger (par où passe l’exigence poétique). L’un nomme le possible et veut le possible. L’autre répond à l’impossible. Entre ces deux mouvements à la fois nécessaires et incompatibles, il y a une constante tension, souvent très difficile à soutenir et, en vérité, insoutenable. Mais l’on ne peut pas renoncer, de parti pris, à l’un ou à l’autre, ni à la recherche sans mesure qu’exigent des hommes leur nécessité et la nécessité d’unir l’incompatible. Pardonnez-moi ces réflexions déplacées. Mais il m’a semblé que je devais à votre amitié cet effort (bien maladroit d’éclaircissement. Peut-être votre retour à Paris et les possibilités de rencon-
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Es lassen sich hiervon sicherlich nur Aspekte verstehen und für die Lektüre gewinnbringend nutzen. Und auch wenn Blanchot es als »Anstrengung« bezeichnen mag, so ist dies einer der treffendsten Äußerungen über die Freundschaft, die mir bekannt sind und auch eines der schönsten Geständnisse. Es werden zwei Bewegungen gekennzeichnet und das »ich« des Texts verweist darauf, dass er auf diese Bewegungen antworten müsse. Wie Mascolo die Intimität der Rede anstrebt, um über Antelmes Erfahrung schreiben zu können, eine unmögliche Forderung, geht es hier um eine Spannung zwischen zwei Ebenen, die nicht kompatibel sind, zwischen einer unmöglichen und einer möglichen Forderung. Hiernach antwortet die Freundschaft immer gleichzeitig auf zwei Forderungen. Eine Parallele ergibt sich zu einem anderen Text von Mascolo, worin er sich auf den Brief von Antelme nach dem Überleben des Konzentrationslagers bezieht und worin er davon ausgeht, dass der Brief Antelmes es ermöglicht, »die zwei verschiedenen Beziehungen [rapports] radikal in Frage zu stellen, in welchen sich dem Menschen die Wahl eröffnet, seine Menschlichkeit zu vollenden oder nicht: sein Verhältnis [relation] zum gesprochenen Wort [parole], seine Beziehung zum Anderen [rapport à autrui] – zwei Beziehungen die im Grunde genommen […] nur eine bilden.«41
Es wird hier nicht von Antworten, sondern Verhältnissen gesprochen. Nur scheinbar müsse der Mensch sich zwischen einer Beziehung mit einem ganz Anderen und einer der Rede oder des gesprochenen Worts entscheiden. Es wird darauf fokussiert »ein Sagen oder ein Verb außerhalb aller Eingewöhnung in die Sprache« 42 zu finden. Von zwei Formen der Rede sprach Blanchot. Die eine
tres qui nous seraient ainsi ménagées me permettront-ils de répondre, autrement que par des affirmations abstraites, à cette exigence de l’amitié« (Blanchot an Bataille, 24.01.1962, In: Ebd., 596). 41 Ausführlicher im Original: »On va le voir, cette lettre, inconcevable sans l’épreuve des camps (et du voyage infini d’un camp à l’autre), n’est pas une lettre sur les camps. Dans le mouvement d’une émotion non épuisée, certes, mais déjà maîtrisée, l’enthousiasme déjà pénétré du souci de ne pas s’oublier, un début d’acédie permettant à la réflexion d’intervenir, elle dit l’expérience intérieure où l’esprit qui vient de la vivre est conduit, sans presque encore le mesurer, à remettre radicalement en question les deux sortes de rapports dans lesquels le choix s’offre à l’homme d’accomplir ou non son humanité: sa relation à la parole, son rapport à autrui – deux rapports qui au fond (ou ›pour nous‹, prétendrait-on non sans commodité) n’en font qu’un« (Mascolo, Autour d’un effort de mémoire, 11). 42 »un dire ou un verbe hors toute accoutumance au langage« (ebd., 35).
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wolle das Mögliche, die andere das Unmögliche. Auch er, wie Mascolo, hebt auf die Widersprüchlichkeit dieser Reden ab, die aber dennoch zusammen gehören. Jedenfalls ist es Mascolo folgend das zerrissenste »ich«, das sich am meisten der Intimität der Rede annähert, auch wenn es schreibt.43 Für Robert Antelme hätten beide Welten für eine Zeit zusammen gefunden. 44 Das überschreitende Moment kennzeichnet hier das »ich«, das in der Spannung zwischen Schreiben und gesprochenem Wort/Rede (parole) sei. 45 Diese Spannung selbst sei aber nicht auszusagen, man könne ihr nur als Schweigen begegnen.46 – Vielleicht war jede Sprache nach der Shoah erstmal ein »potenzieller Betrug der Realität«,47 wie Friedemann über Antelme schreibt. Aber vielleicht ist das auch noch vereinfachend. – Aufgrund seiner Erfahrung im Konzentrationslager hatte Antelme sich selbst als einem Fremden begegnen können, der ihm ähnlich und wie ein Bruder sei, aber dennoch fremd. Mascolo erlebte das so, als dass Antelme tagelang ununterbrochen sprach – nur noch Rede war, nicht mehr der Aufschub, der das Schreiben ist. »Robert schreibt da – einzigartiger Moment – um dem ihm nächsten Freund zu sagen wie er gesprochen hat und immer noch spricht und wer gesprochen hat und noch spricht, seit dem Morgen des 9. Mai in Dachau. Er schreibt auch um das zu sagen, was es für ihn 43 Interessanterweise ist die einzige Möglichkeit Antelmes, der nicht mehr weiß was man sagt und was nicht, sich auszudrücken, zu schreiben (vgl. Ebd., 33). 44 Vgl. Ebd., 32. 45 Vgl. Ebd. 46 Siehe hierzu ausführlich: »Wenn man sich dieser gespaltenen Opposition bewusst wird, spräche jeder nur im Moment ausgehend von der einen oder der anderen der Welten zu denen er gehört, den anderen dem Schweigen überlassend. Ist das da eine übertriebene Sicht? ›Die Misere, die allem was Literatur ist, inhärent ist‹ sagt zweifellos, warum keine Überlegung zur Übung [exercice] der Rede, Philosophie oder Linguistik, jemals etwas vorgeschlagen hat, was einem solchen Unglück angemessen wäre. Der einzige Ausweg wäre es zu schweigen. Sie kann nicht gesagt werden.« (»A s’en tenir à cette opposition tranchée, chacun ne parlerait dans l’instant qu’à partir de l’un ou de l’autre des mondes auxquels il appartient, laissant l’autre au mutisme. Est-ce là une vue excessive? ›La misère inhérente à tout ce qui est littérature‹ dit sans doute pourquoi nulle réflexion sur l’exercice de la parole, de philosophe ou de linguiste, n’a jamais proposé rien qui soit propre à consoler d’un tel malheur. La seule issue serait de se taire. Elle ne peut être dite.«) Ebd., 32. 47 »trahison virtuelle de la réalité«, Mascolo, zit. n. Joë Friedemann, Langages du désastre, 19.
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darstellte [représentait] und immer weiter darstellt so zu sprechen. Aber nicht nur. Er stellt sich bereits in Frage, fragt sich, von welcher Natur die Rede gewesen wäre, die es gebraucht hätte, die er gekonnt hatte, die er noch braucht und die er noch ein Bisschen länger gebrauchen kann.«48
Aus einer »Rede« werden also bei Mascolo zwei Arten der Rede. Im Brief Mascolos trete eine Rede (parole) auf, für die noch kein Konzept existiere.49 Im Folgenden wird die ungewöhnliche grammatikalische Form des französischen futur antérieure gebraucht, die auch Derrida nutzen wird, um aus der Vergangenheit aus der Perspektive der Zukunft ›schreiben‹ zu können, eine kommende Gewesenheit. Antelme also schreibt, so Mascolo hier, wie er gesprochen hat, noch spricht, als der, der gesprochen hat und als der, der noch spricht. Er schreibt auch darüber, was dieses Sagen bedeutete und noch bedeutet, aber er hinterfragt auch, welches Wesen die Rede, die es gebraucht hätte, hat. Mascolo ist nicht sicher, ob es Schreiben oder Sprechen ist, 50 es sei ein Sagen außerhalb jeder Gewohnheit, das sich nicht auf eins der beiden, parole oder écrit reduzieren lasse.51 Denn Antelme ›schreibt‹, aber dieses Schreiben nähert sich der Rede an. Denn es geht um die Vorstellung einer bestimmten Weise des Schreibens, die auch hier bei der Gemeinschaft wieder auftaucht und für die möglicherweise der Brief das beste Symbol ist. So spricht Mascolo vom Brief Antelmes als etwas, das sich gleichzeitig an alle wie auch an einen richtet; »Weil diese Rede sich in partikularer Weise an einen von uns richtete, dessen ungeachtet, was darin auch rein geistiges Gebet ist, kann sie sich heute, da sie Spuren hinterlassen hat, auch an jeden von uns direkt richten.«52
48 »Robert écrit là – moment unique – pour dire à l’ami le plus proche comment il a parlé et parle encore, et qui a parlé et parle encore depuis le matin du 9 mai à Dachau. Il écrit aussi pour dire ce que représentait et ce que continue de représenter parler ainsi pour lui. Mais non seulement. Déjà il se questionne, se demandant de quelle nature aura été la parole qu’il lui a fallu, qu’il a pu, qu’il lui faut encore et qu’il peut encore employer pour un peu de temps« (Mascolo, Autour d’un effort de mémoire, 34). 49 Ebd., 34. 50 Ebd., 35. 51 Ebd. Und alle verschiedenen zeitlichen Sprünge, die die Sprache sonst macht, sind hier gesammelt in einem Brief. 52 »C’est parce que cette parole s’adressait particulièrement à l’un d’entre nous, en dépit de ce qu’il y a aussi en elle de pure oraison mentale, qu’elle peut aujourd'hui, ayant laissé des traces, s’adresser aussi directement à chacun d’entre nous« (Ebd., 27).
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Immer noch erreicht der Brief, der eigentlich von Antelme an Mascolo gerichtet war, neue Adressatinnen und Adressaten. Immer noch betrifft und berührt das Schreiben, auch wenn Antelme und Mascolo nicht mehr leben. Hiernach scheint es also so, dass ein Schreiben umso mehr Reichweite hat, je persönlicher sich darin jemand an einen Einzelnen wendet. Wir können aus der Beschäftigung Mascolos mit Antelmes Brief vermuten, dass aus einer solchen Perspektive gesprochen, die Schrift in ein derartiges Verhältnis zum gesprochenen Wort gesetzt werden kann, dass sie mehr sagt / spricht, als dass sie schreibt. Es zeigt sich, dass es verschiedene Arten des Schreibens gibt. Und es wird darauf hingewiesen, welches Verhältnis Schrift und Mündlichkeit zueinander haben können. Problematisch erscheint aber nun die Spaltung, die Mascolo bei Antelme wahrnimmt zwischen Antelme und einem inneren »Bruder«.53 Hierdurch wird die Fremde im Selbst, das Antelme in diesem Brief zu beschreiben scheint, möglicherweise etwas Familiärem, Ähnlichen einverleibt. Diese Interpretation der Zerrissenheit Antelmes als Brüderlichkeit verleibt sich das Gegenüber ein, indem Mascolo über den Brief des Freunds schreibt und diesen Text dann auch publiziert. Damit gibt er diesem Tun, seiner Lektüre, einen Sinn, dies ist meine These und er macht sich zum Bruder, zu einem Nächsten, der er nicht mehr ist.54 Auch Blanchot, der mit Antelme und Mascolo befreundet war, hat sich zu der Möglichkeit, über tote Freunde zu schreiben, geäußert. Bei Blanchot ist die einzige Möglichkeit der Ähnlichkeit, die alle Ähnlichkeiten entzieht, der Tod.55 Wenn zeitgenössische Freunde, Freunde als Zeitgenossen, sterben, hinterlässt das Sprechen über ihr Werk für Blanchot einen unangenehmen Beigeschmack: »Kaltblütig über die Werke von Freunden zu reden und dabei den Schatten zu übersehen, der sich in sie zurückgezogen hat und den sie auf uns werfen, das würde eine unwahrhaftige Reaktion bedeuten, die zudem nicht in unserer Macht stünde.«56
Es verbietet sich nach dieser Lektüre, über die Werke von Freunden zu sprechen. Er sagt aber nicht explizit, dass wir sie gar nicht mehr lesen dürfen. Nur solle es 53 Genau sagt er »mehr als Bruder« (Ebd., 32 f.). 54 Hier muss man auch beachten, dass zum Zeitpunkt der Publikation von Autour d’un effort de mémoire der Freund Antelme schon an einer Form der Amnesie erkrankt ist, bei der auf die nahe Vergangenheit kein Bezug mehr genommen werden kann (vgl. Ebd., 8). 55 Vgl. auch den schönen Text von Santi zu diesem Thema, der dies beschreibt. Santi, »Écrire à l’ami« sowie Fischer, Das Undenkbare Denken. 56 Blanchot, Die Freundschaft, 241.
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möglichst nicht beurteilt, in einer Interpretation gefangen gehalten werden, die das Werk eher schließt als offen hält; »Dieses Fehlen entfernt sie nicht von uns; es ist die Art, in der sie uns nahe sind, der Schmerz, den diese Nähe in unser Denken einführt; jedes Mal, wenn wir uns ihnen zuwenden, stoßen wir auf diese harte Gegenwart, die dem Werk eignet, das sich schon wieder schließt, und wir werden nicht dazu beitragen, dass es sich wieder schließt (oder sich auflöst), indem wir es beurteilen oder in den Dienst einer intellektuellen Strategie stellen.«57
In L’Écriture du désastre, dem Werk, das Blanchot Derrida in seiner Karte heimlich widmet,58 schreibt Blanchot von einem Begehren, eine Distanz zu überbrücken und durch diese Distanz gemeinsam sterben zu können. Man könnte diesen Text so interpretieren, als dass er in einer Weise der Adressierung an den Freund Bataille entspricht, es schafft, zu dem Freund anstatt über ihn zu sprechen.59 Eine solche Anrede in Form eines Texts müsste aber durch Ähnlichkeit bestimmt sein,60 oder zumindest einen gemeinsamen (Nicht-)Ort. Wenn nun die Gemeinschaft hier eine Vorstellung des Bruchs impliziert, wird dies bei Blanchot zu einer Figur erweitert. Diese Gedanken führen bei Blanchot zur Annahme einer Gemeinschaft ohne Gemeinschaft, eines »›X ohne X‹«, wie Derrida schreibt.61 In Demeure zeigt Derrida, dass es in jenem X ohne X
57 Ebd., 241 f. 58 Vgl. Brief von Maurice Blanchot an Derrida, angehängt an das Buch L’Écriture du désastre (Ausgabe von 1980, Paris Gallimard), o.O., o.D. 59 Das ist die These von Santi, »Écrire à l’ami«, 45. 60 Interpretiert Santi, ebd., 46. 61 Vgl. ausführlicher: »All die Syntagmata die Blanchot ununterbrochen über dem Modell des ›X ohne X‹ […] bildet, haben ihre Möglichkeit, die nicht nur eine formale Möglichkeit ist, sondern ein Ereignis der Ermöglichung, in dem, was sich dort ereignet hat, eines Tages, an diesem präzisen Augenblick [instant effectif], soll heißen dass trotzdem, angefangen mit diesem stigmatischen Punkt, dieses stigmé eines Verdikts, das ihn zu Tode verurteilt hat, ohne das der Tod darauf gefolgt wäre, es für ihn, für den jungen Mann, für seinen Zeugen und für den Autoren, einen Tod ohne den Tod und folglich ein Leben ohne Leben gegeben hätte.« (»Tous les syntagmes que Blanchot forme inlassablement sur le modèle du ›X sans X‹ […] ont leur possibilité, qui n’est pas seulement une possibilité formelle, mais un événement de possibilisation dans ce qui s’est passé là, un jour, à cet instant effectif, à savoir que désormais, à partir de ce point stigmatique, de cette stigmé d’un verdict qui l’a condamné à mort sans
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die Notwendigkeit des verbindenden Ausschlusses, des »ohne« ist, das jenseits der Grenze zwischen Fiktivem und Fakualem operiert. 62 Dieses Denken der Gemeinschaft als »gemeinschaftslos«, und die Vorstellung, dass es »das NichtGemeinsame der Verbindung des gemeinsamen Umgangs« 63 ist, entwickelt Blanchot vor allem und in fragmentarischer Weise in der Schrift des Desasters. Hiernach macht der Verlust einer Zeitgenossenschaft und die »Gemeinschaft« dessen, das nicht versammelt, Freundschaft aus.64 Freundschaft kann nach Blanchot in der Antwort auf den »Druck des Leichtesten, de[n] Kontakt dessen, was nicht berührt« sein, sie ist »ohne Teilhabe wie ohne Gegenseitigkeit«65. In diesen Worten sei Blanchot »an den anderen großen, den anderen einzigen Freund, an Lévinas gerichtet und [es sei] von ihm her geschrieben […], aus einer Freundschaft des Denkens, die nicht allein eine des Denkens, nicht bloß eine gedachte Freundschaft ist.«66 Spuren dieses Kontakts wurden schon im letzten Kapitel etwas weiter verfolgt, aber nun soll die Frage ins Zentrum gerückt werden, inwiefern Derrida auf diese Forderung der Teilhabe ohne Gegenseitigkeit reagieren würde. In Bezug auf jenes letzte Zitat von Blanchot fragt Derrida: »Wie könnte eine solche ›Antwort‹ sich jemals in jene ethische oder politische Verantwortung übersetzen lassen, die das philosophische Abendland seit jeher mit der Freundschaft verknüpft hat?«67 Ich lese Blanchot in einer Kette mit Antelme, Blanchot, und Mascolo, aber Derrida scheint mir mit dieser Kette zu brechen, auch wenn es eine Ähnlichkeit des sprachlichen Repertoires gibt. Für ihn bleiben Bataille und Blanchot der Idee
que mort s’ensuive, il y aura pour lui, pour le jeune homme, pour son témoin et pour l’auteur, une mort sans la mort et donc une vie sans vie.«) (DEM, 119). 62 Vgl. »Der Tod und die Bleibe [demourance], von dem die Erzählung spricht, haben Statt gehabt obwohl sie nicht in etwas das man gewöhnlich die Realität nennt, statt hatten. Das ›ohne‹ des ›X ohne X‹ bedeutet diese gespenstische Notwendigkeit die den Gegensatz der Realität und der Fiktion übersteigt.« (»La mort et la demourance dont parle le récit ont eu lieu même si elles n’ont pas eu lieu dans ce qu’on appelle couramment la réalité. Le ›sans‹ du ›X sans X‹ signifie cette nécessité spectrale qui déborde l’opposition de la réalité et de la fiction.«) (DEM, 123). 63 Beides Blanchot, Schrift des Desasters, 167. 64 Ebd., 112. In der Kritik an der »Versammlung« erscheint eine Kritik an Heidegger deutlich. 65 Ebd., 39. 66 PdF, 395. 67 Ebd.
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der Brüderlichkeit noch zu sehr verhaftet. 68 Denn bei Blanchot ist der Bruch wiederum in einen Bezug eingebunden: »Die Freundschaft als Beziehung ohne Abhängigkeit, ohne Episoden, in der trotzdem die ganze Einfachheit des Lebens auftritt, geht über die Anerkennung der gemeinsamen Fremdheit, die es uns nicht erlaubt, von unseren Freunden zu sprechen, sondern nur zu ihnen zu sprechen, nicht, sie zu einem Konversations- (oder Aufsatz-)thema, sondern zu einer Geste des Einverständnisses zu machen, in der sie uns noch in der größten Vertrautheit, wenn sie zu uns sprechen, die unendliche Distanz bewahren, jene grundsätzliche Trennung, von der ausgehend das, was trennt, Beziehung wird.«69
Es ist kein Tod, von dem hier die Rede ist.70 Im Gegenteil wird eine Vorstellung von Gemeinschaft verteidigt, die den Bruch des Bezugs als gemeinschaftsstiftend setzt. Es sammelt sich der bezuglose Bezug zu einem Bild, wie wir auch in der Schrift des Desasters verfolgen können (wobei das Wort sammeln schwierig ist, weil es ja das nicht Wahrnehmbare ist, was sich sammelt). »Durch meine stille Meditation mache ich die ununterbrochene Bejahung und Behauptung spürbar, das unermessliche Gemurmel, auf das hin die Sprache, indem sie sich öffnet, Bild wird, Imaginäres wird, die sprechende Tiefe, die ununterscheidbare Fülle, die leer ist.«71
Es ist das Bild eines ungewöhnlichen Werks, das Bezüge von Bedeutung sammelt.72 Das Werk ist in Blanchots Augen nicht eine Behauptung des Autors. Der Schreibende ist hingegen zur Auslöschung »eingeladen«73. Ein besonders schöner Ton eines Werks entstünde nicht durch die Stimme des Autors, sondern gerade durch das Schweigen, »das er dem Sprechen verordnet«, welches selbst 68 »Und vielleicht gibt es auch bei Bataille, Blanchot und Nancy noch eine Brüderlichkeit, von der ich mich aus der Tiefe meiner Bewunderung heraus frage, ob sie es nicht verdient, daß man sich von ihr losreißt, und ob sich das Denken der Gemeinschaft – und sei es auch einer Gemeinschaft ohne Gemeinschaft oder einer Brüderlichkeit ohne Brüderlichkeit – noch an ihr ausrichten soll« (Ebd., 68, Fußnote 13). 69 Blanchot, Die Freundschaft, 371. 70 Der »Riss des Todes« zerreißt gerade die beziehungsstiftende Trennung zwischen zwei Freunden. Die »Leere zwischen uns, in der sich früher die Offenheit einer geschichtslosen Beziehung entfaltete«, verschwindet (ebd., 372). 71 Blanchot, Die wesentliche Einsamkeit, 100. 72 Damit bleibt er in der Nähe Heideggers. 73 Blanchot, Die wesentliche Einsamkeit, 100.
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Distanz zum Werk halten muss, da es sein Schweigen ist.74 Anders ausgedrückt ist es die Abwesenheit (des Autors), sein »Tod«, die ein Werk überhaupt erst ermöglicht. Für Blanchot könnte es einen – vielleicht kaum spürbaren – Anteil von Kontakt zu geben, zwischen jenem, der schreibt, und jenem, der damit angesprochen sein soll. Trotz dieser Abgeschlossenheit des Werks in sich gegenüber dem Autor und dem Leser, fragt Blanchot danach, warum es oft so scheine, als ob ein Werk mit jemandem in Kontakt treten kann. »Was passiert aber, wenn das, was man sieht, wenngleich auf Distanz zu berühren scheint, nach einem greift, Kontakt fordert, wenn die Weise des Sehens eine Art Berührung ist, wenn Sehen ein Kontakt auf Distanz ist?75
Dieses Sehen, das Blanchot auch Faszination nennt, ist also kein Kontakt, zumindest kein solcher, der Initiative erforderte. Der Blick sei »fortgerissen«,76 das Bild werde durch solch einen Kontakt gegeben, aber er entstehe nicht in der Handlung des Einzelnen.77 Für Blanchot ist »Faszination […] die Leidenschaft des Bildes«.78 Blanchot zufolge bindet sich das Sehen an ein Bild, an ein Gesehenes. Er zeigt in seinem Text, dass der Mensch von einem Werk nur fasziniert sein kann, ihm aber keinen Sinn geben kann. 79 Er ist also niemals eigentlich Autor des Werks, eher müsste man sagen, er ist Objekt der Leidenschaft des Bildes. In der Faszination ist ›Man‹ also in der neutralen Gegenwart, in der »Abwesenheit, die man, da sie blind macht, sieht«.80 Es ist also vielmehr als ein Bestimmen ein Erleben, das Erleben der Launen eines Bilds, welches einsam macht, da es nicht wiederum bestimmt werden kann. Setzen wir Derrida in ein imaginäres Gespräch mit Blanchot. »Das, was ich von Nietzsche ausgehend und über Nietzsche sagen werde, auch für ihn, wird ein Gruß sein, ja, ein Gruß an die Adresse der gerade zitierten oder genannten Freunde. Das, was ich auch gegen Nietzsche sagen werde, vielleicht, zum Beispiel dort, später,
74 Ebd. 75 Ebd., 105. 76 Blanchot, Die wesentliche Einsamkeit, 105. 77 Ebd., 106. 78 Ebd. 79 Vgl. Ebd. 80 Ebd., 108.
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wo ich gegen die Bürgschaften protestieren werde, durch die er sich noch an eine bestimmte Verbrüderung bindet.«81
Derrida sagt hier etwas ausgehend von und schreibend über Nietzsche. Es sei »ein Gruß«, den er Nietzsche als auch seinen anderen ›Freunden‹ sendet. Aber auch bei Nietzsche gehöre der Gruß einer Art der Verbrüderung an. Wenn Faszination die »Leidenschaft eines Bildes [kursiv nt]« wäre, wäre es dann nicht ›mein‹ eigenes? Wie könnten ›wir‹ »auf indezente Weise ›wir‹ oder, schlimmer noch, ›ich‹ […] sagen, wo der erste Wunsch darin bestünde, Jean-François selbst das Wort zu überlassen, ihn zu lesen und ihn zu zitieren, ihn allein, und sich selbst zurückzuhalten – ohne ihn allerdings […] ihn zu verlassen« 82, bemerkte Derrida an anderer Stelle über Lyotard. Diese Frage wird dann noch problematischer, wenn sich dieses ›wir‹ auf einen Toten bezieht und der Schreibende ein Überlebender ist.83 Obgleich Derrida einen Nachruf schreibt und so das Risiko eingeht, »Verrat zu begehen«, scheint ihm gerade dies die Problematik persönlicher Bekenntnisse, das sie den anderen vereinnahmen.84 Ist es möglich, den anderen nicht zu verlassen, wenn man über ihn schreibt? Ist es überhaupt möglich, jemanden zu verlassen, wenn er nicht mehr am Leben ist (uns verlassen hat)? »Gewiss können wir weiter dieselben Wege abschreiten, könnten die Bilder aufsteigen lassen, könnten eine Abwesenheit anrufen, die wir uns durch einen täuschenden Trost bildlich vorstellen, als sei sie die unsere. Mit einem Wort, wir können uns erinnern«,85
könnte Blanchot antworten. Aber das Denken wisse, dass wir nicht erinnern können. Das Denken müsse »die Freundschaft begleiten, ins Vergessen«86, ins Unsichtbare. Das Denken scheint hier der Freundschaft nah zu sein, so nah, dass kaum die Freundschaft ohne das Denken sein kann und umgekehrt. Wenn wir davon ausgehen, dass das Schreiben vereinnahmend ist, dass es zur Erinnerung macht, was keine Erinnerung sein kann, was passiert dann Schriftstellern, die immer und über alles schreiben müssen? Für Blanchot ist der Schriftsteller von der Einsamkeit des Seins bestimmt. Nun ist diese Einsamkeit bei ihm positiver, also produktiver, werk-erschaffender Art. Blanchot macht deutlich, dass das 81 PdF, 68, Fußnote 13. Im Französischen schreibt er für Gruß »salut«, vgl. Ebd., 57. 82 Derrida über Lyotard, JME, 274. 83 Ebd., 263. 84 Ebd. 85 Blanchot, Die Freundschaft, 373. 86 Ebd.
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Schreiben einsam macht, nicht in einem einfachen Sinn, sondern daher, dass ein Werk, Kunst– oder schriftstellerisches Werk, nie abgeschlossen ist und in dem Moment den Kontakt zum Autor verliert, in dem es Werk wird. Schriftsteller wie auch Leser gehören gemeinsam einer Einsamkeit an; »Derjenige, der in der Abhängigkeit des Werkes lebt, entweder um es zu schreiben oder um es zu lesen, gehört der Einsamkeit dessen an, was nur durch das Wort Sein zum Ausdruck gebracht wird: ein Wort, das die Sprache schützt, indem es sie versteckt, oder zum Erscheinen bringt, indem es sie in der schweigenden Leere des Werkes verschwinden lässt.«87
Es scheint, als könne sich dabei eine Verbindung herstellen, eben aufgrund der Einsamkeit des Seins. Ein Buch beispielsweise wird erst dann zum Werk, wenn durch es das Wort »Sein« ausgesprochen werde; »Ein Ereignis, das erfüllt wird, wenn das Werk zur Intimität wird zwischen einem, der es schreibt, und einem, der es liest.«88 Aber das Werk bleibe für den Schriftsteller als auch für den Leser eine abwesende Behauptung.89 Das Werk ist also kein Ort, wo jemand sich aufhalten könne oder beruhigen, sondern nur Stätte der Unruhe, die den Schriftsteller zum »Überlebenden macht«.90 Der Schriftsteller sei besessen, stets zu wiederholen, was er noch besser sagen könnte. Aber das Werk ist aus dieser Sicht nicht lesbar. 91 Das Unwissen zeige sich »als zweideutige Erfahrung, die ihn veranlasst, sich wieder ans Werk zu machen.«92 Hier ist die zweideutige Erfahrung produktiv. »Schreiben, das ist der Bruch der Verbindung, die das Sprechen mit mir selbst vereint, der Bruch des Bezugs, der, indem er mich veranlasst, zu ›dir‹ zu sprechen, das Sprechen im Einvernehmen erlaubt, das dieses Sprechen von dir erhält, da es dich anruft, da es diese Anrufung ist, die in mir beginnt, weil sie in dir endet. Schreiben ist der Bruch dieser Verbindung.«93
Es gibt den Moment, da schreibt eine Schriftstellerin die Worte auf das Papier und den späteren Druck dieser Worte auf blanken Seiten. Das ist ihre Möglich87 Blanchot, Die wesentliche Einsamkeit, 94. 88 Ebd., 95. 89 Vgl. Ebd. 90 Ebd., 96. 91 Vgl. Ebd. 92 Ebd., 98. 93 Ebd., 99.
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keit als Autorin. Aber diese Herstellung eines Buchs hat für das Werk keine Bedeutung, in ihr ist noch nicht das Werk gegeben. Das Werk entsteht aus der hier benannten Perspektive im Gegenteil gerade da, wo sie von ihrem Buch ablässt, es zirkuliert, in verschiedene Kontexte eintritt. Da aber hat sie den Zugriff verloren, sie verliert die Möglichkeit, mit diesen Worten zu jemandem zu sprechen. Es ist kein sprechen, es ist schreiben. Dies könnte so klingen als verlöre das Werk an Lebhaftigkeit oder aber zumindest die Autorin, die versucht, mit diesen Worten zu jemandem zu sprechen. Aber doch ermöglicht aus dieser Perspektive gesprochen die Abwesenheit des Werks von der Autorin erst sein Sein. Für Blanchot müsste die Schriftstellerin im besten Fall schweigen, um sich »der reinen Passivität des Seins« 94 hinzugeben. Ein besonders schöner Ton eines Werks entstünde nicht durch die Stimme des Autors, sondern gerade durch das Schweigen, »das er dem Sprechen verordnet« 95 , welches selbst Distanz zum Werk halten muss, da es sein Schweigen ist. Anders ausgedrückt ist es die Abwesenheit, die ein Werk überhaupt erst ermöglicht, sein »Tod«. Nun richtet sich im folgenden Text auch Blanchot in einer (schriftlichen) Weise an Derrida, die das Schreiben in die Nähe einer heiligen oder zumindest überschreitenden Erfahrung bringt. Denken wir an Hölderlin. Blanchot macht in seinem Text Dank (sei gesagt) an Jacques Derrida deutlich, dass Derrida jene Fragen, die sich durch die Thora Moses stellen, aufnimmt und ihnen nah ist. Er weist auf das Verhältnis von Stimme und Schrift bei Moses hin. Blanchot fokussiert nun darauf, dass bei Moses deutlich wird, dass das Zentrale der Schrift das Tun ist.96 – »Aber das Verschwinden des ›Autors‹ verleiht der Lehre, Schrift (Spur vor jedem Text) noch mehr Notwendigkeit, und auch der Rede, Sprechen im Schreiben, Rede, die keine Schrift, die andernfalls tot wäre, beleben würde, sondern eine, die uns aufruft, in Richtung der Anderen zu gehen, in der Sorge um Ferne und Nähe, ohne dass es uns zu wissen gegeben wäre, dass es zunächst der einzige Weg in Richtung des Unendlichen ist.«97
Da dies der letzte Satz in Blanchots Text über Derrida ist, scheint er Derrida genau auf diesem Weg zu verorten. Blanchot weist in einem Brief darauf hin, dass seine Zuneigung etwas überschreitet. Am 21. Juni 1982, Blanchot ist 74 Jahre alt, Derrida wird bald 52, schreibt ersterer seinem Briefpartner: »Lieber Jacques Derrida, danke für Ihre Zuneigung auf die meine nicht nur eine Antwort 94 Blanchot, Die wesentliche Einsamkeit, 99 f. 95 Ebd., 100. 96 Vgl. Blanchot, »Dank (sei gesagt) an Jacques Derrida«, 224 f. 97 Ebd., 226.
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ist.«98 Er markierte auch, dass er immer versuchen würde, da zu sein, wo Derrida ist. Die Zuneigung ist hiernach mehr als eine bloße rekursive Schleife von einem zum anderen. Es geht um ein Sprechen im Schreiben, um eine Schrift, die nicht tot ist, sondern die aufruft, die eine religiöse, überschreitende – Dimension hat, da sie zu neuer Schrift aufruft und damit richtungsweisend ist, wenn sich durch sie auch die Zukunft nicht voraussagen lässt. Bilden sich in dieser besonderen Art zu schreiben, die hier gepflegt wird und auf die schon mehrfach hingewiesen wurde, Ansprüche einer jenseitigen Zusammenkunft aus? Und würde Derrida an eine solche glauben?
ASPEKTE DER IDEOLOGIE. DERRIDA OHNE ORT. GELESEN MIT BRIEFEN VON DERRIDA, GRANEL UND ALTHUSSER Vermutlich würde er es nicht. Derrida spricht nicht oder nie direkt von einem göttlichen Jenseits. Beginnen wir aber an ganz anderer Stelle, also wieder mit Bataille. Bataille schrieb 1932 an Leiris, mit dem er 1937 das Collège de Sociologie gründete, über den gemeinsamen Grund der Gemeinschaften, die sich dadurch bilden, dass sie sich abgrenzen. »Du hast mir geschrieben (aber dein Brief geht auf den ersten Mai zurück), dass du immer angeekelt davon bist, dass die Leute nicht andere sind, als die, die sie sind: Ich glaube, ich bin nicht weniger angeekelt als du. Das ist alles was ich sagen kann. Aber vielleicht ist das, was am abstoßendsten ist, dass die Beziehungen, die man mit den Leuten hat, immer konform mit solchen Konventionen sind, dass alles ausgeschlossen ist, was anders [autre] sein könnte. Ich nehme nicht an, dass die brieflichen Beziehungen [rapports épistolaires] davon einfach ausgenommen werden könnten.«99
98 »Cher Jacques Derrida, merci pour votre affection à laquelle la mienne n’est pas seulement une réponse« (BLD 7, o.O., 21.06.1982, ausführlicher zitiert in Kap. Des– tinerrance). 99 »Tu m’as écrit (mais ta lettre remonte au premier mai) que tu es toujours dégoûté que les gens ne soient pas autres que ce qu’ils sont: je ne crois pas être moins dégoûté que toi. C’est tout ce que je puis dire. Mais peut-être ce qu’il y a de plus rebutant est que les rapports qu’on a avec les gens, on les a toujours conformément à des conventions telles que tout ce qui pourrait être autre est exclu. Je ne suppose pas que les rapports épistolaires puissent faire facilement exception« (Bataille an Leiris, Oktober 1932, in: Bataille, Choix de lettres, 72).
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Er bezieht sich darauf, dass Leiris ihm geschildert hatte, »mit welcher Bitterkeit ich meinen besten Freunden vorwerfen kann, nicht anders zu sein als die, die sie sind. Nicht, dass ich, grundsätzlich, denke, dass sie besser wären, wären sie andere, aber aufgrund der simplen Vorliebe für die Veränderung.«100 Wie Leiris und Bataille hier ihre Freundschaft bezeichnen, ist selbstkritisch und zeugt von einem Ekel gegenüber menschlichen Beziehungen. Konventionen sind hiernach das, was Freundschaft eher zu verhindern scheint, weil alles, »was anders sein könnte, ausgeschlossen ist«. Wenn Konventionen hier in einer Arbeitsdefinition als Set von ausgehandelten Regeln, die soziale Verhaltensweisen strukturieren und ihnen jeweils als implizites Wissen vorausgehen, verstanden wird, dann kann man sagen, dass dieses Wissen Bataille und Leiris in ihrer Freundschaft zueinander beschränkt. Konventionen, und gerade im Brief, schränken das Gegenüber in seinen Ausdrucksmöglichkeiten ein. Widersprüchlich scheint dann aber Leiris Unmut damit, dass die Freunde gerade »nicht anders« sein können als wer sie sind, oder nicht bereit zur Veränderung seien. Aber ist dies eine Frage der Konventionen (Bataille) oder der unterschiedlichen Vorlieben (Leiris)?101 Könnte man auch Derrida in einer solchen Linie eines Denkens sehen, das sich außerhalb der Konventionen bewegen möchte, um sich nicht der Gefahr einer Gemeinschaft auszusetzen? Im Sinne des Geschriebenen kommt es vor, als sei er in der Diskussion um Gemeinschaft abwesend. Er bezieht sich nicht auf Antelme in der Politik der Freundschaft, wohl aber ausführlich auf Blanchot, der sich ohne diese Verbindung des Denkens nicht vorstellen lässt. Tatsächlich habe ich auch in den vorherigen Unterkapiteln wenig auf Derrida referiert, wenn ich auch glaube, dass die vorhergehenden Elemente eines Denkens über Freundschaft einschlägig sind für die Haltung, die Derrida angesichts dieses Kontexts später hinsichtlich der Freundschaft entwickeln wird. Es gibt kein Buch von Derrida unter dem Titel Gemeinschaft. Freundschaft, Gabe und Politik hingegen tauchen auf. Wenn er Nancy und Blanchot vorwirft, immer noch dem brüderlichen Prinzip zu verharren, so bringt er hiermit seinen profunden Zweifel an dem Begriff der Gemeinschaft zum Ausdruck, der für ihn nicht für eine Abkehr vom Totalitären stehen kann. Wenn man sich die Diskussionen in den Briefen mit Granel, 100 »Tu sais avec quelle acrimonie je puis reprocher à mes meilleurs amis de ne pas être autre que ce qu’ils sont. Non pas que je pense, au fond, qu’ils seraient mieux étant autres, mais par simple goût du changement. Toi, plus que d’autres, l’a expérimenté« (Brief von Leiris an Bataille, in: Bataille, Choix de lettres, 72). 101 Seltsamerweise scheint die Freundschaft zwischen Bataille und Leiris hier schräg zu stehen und außerhalb. Denn sie beide teilen etwas, die Abneigung gegenüber konventionellen Beziehungen.
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Nancy und Althusser ansieht, wird deutlich, dass Derrida den seit den 80er Jahren in Frankreich intensiv geführten Gesprächen zum Thema Gemeinschaft gegenüber abseits steht. Er schreibt keinen Text, der auf die Diskussion seiner Freunde Maurice Blanchot und Jean-Luc Nancy über Gemeinschaft antwortet. Er scheint diese Diskussion zwar zu hören, aber erst spät veröffentlicht er ein Buch über Marx, erst als die Gefahr nicht mehr besteht, selbst in eine Art Gemeinschaft derer eingeordnet zu werden, die über Gemeinschaft schreiben. Das hieße nicht, dass nicht auch Derrida von den marxistischen Diskussionen an der ENS beeinflusst war. Auch Derridas Bezug zum Kommunismus ist ein dünner Faden, der über seine Freunde, wie Althusser, verläuft. 102 Wenn sich überhaupt davon sprechen lässt, dass auch Derrida in der Gruppe um Althusser in eine Gemeinschaft eingegliedert war, so behielt er immer seine Distanz zu dieser. Sowohl über den Kontakt zu Althusser als auch über Granel wird aber offenbar, dass er den Diskussionen um den Marxismus in den 70er Jahren in Frankreich nicht verschlossen gegenüber war. So schreibt beispielsweise Granel 1970 in Briefen ausführlich über sein eigenes Verhältnis zum Marxismus, auch wenn er sagt: »Es wäre total idiotisch, zu sagen, ich würde ›marxistisch‹. Aber es wäre schon weniger idiotisch für mich, im Inneren der Lektüre von Marx selbst.«103 Derrida äußert sich dazu genauer in Sur Parole: »Sie haben gesagt, dass ich niemals Marxist gewesen bin. Das ist wahr, wenn das heißen soll, dass ich niemals Mitglied der parti communiste oder einer marxistisch-orthodoxen Partei gewesen bin. Man zögert zu sagen, dass man nicht Marxist ist, weil Marx der erste gewesen wäre, der es für sich in Anspruch genommen hätte. Man sieht so aus, als ob man sich für Marx nehmen würde, wenn man sagt: ›Ich bin kein Marxist‹! Ich würde nicht sagen, dass ich kein Marxist bin, aber es stimmt, dass ich wie für alle Leute meiner Generation, ohne Marxist zu sein, natürlich genährt vom marxistischen Erbe bin und das habe ich eben gewissermaßen zu einem unzeitigen Moment versucht zu sagen, da ich es jedenfalls einschätzen konnte.104 102 Zu Althussers Kreisen vgl. Montag, Althusser and His Contemporaries. 103 »Ce serait complètement idiot de dire que je deviens ›marxiste‹ – mais ce n'est déjà plus idiot pour moi à l'intérieur de la lecture même de Marx.« (GRD 25, St Sauveur, 21.10.1970). 104 »Vous avez dit que je n’ai jamais été marxiste. C’est vrai, si cela veut dire que je n’ai jamais été membre du parti communiste ou d’un parti marxiste orthodoxe. On hésite à dire qu’on n’est pas marxiste parce que Marx a été le premier à le revendiquer. On a l’air de se prendre pour Marx quand on dit: ›je ne suis pas marxiste‹! Je ne dirais pas que je ne suis pas marxiste, mais il est vrai que comme tous les
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Er sieht sich hiernach nicht in der Verbindung mit einer Marxistischen Partei, sondern eher in einer Außenposition, aus der er jedoch spät auf diese Debatten Bezug nahm. Am selben Ort präzisiert er sein Verhältnis zu Marx.105 Er macht Althusser 1964 das Zugeständnis, seinem theoretischen Antihumanismus nahe zu sein: »Ich fand den Text, den du mir geschickt hast, exzellent. Ich fühle mich auch diesem ›theoretischen Anti-Humanismus‹ so nah wie möglich, den du mit so viel Kraft wie Gründlichkeit vorschlägst, ich verstehe gut, dass es deiner ist, ich verstehe auch gut, glaube ich, was dennoch die Notwendigkeit des ›ideologischen‹ Humanismus zu bestimmten Momenten bedeutet, die Notwendigkeit der Ideologie im Allgemeinen sogar in einer kommunistischen Gesellschaft etc… Ich war weniger überzeugt von allem, was diese Vorschläge zurück an Karl Marx selbst bindet. Es spielt zweifellos viel Ignoranz in mein Misstrauen hinein und in das Gefühl, dass andere – nicht marxistische – Prämissen diesen Antihumanismus leiten könnten. Was du ab S. 116 darlegst, zeigt mir gut den Bruch von Marx mit einem gewissen Humanismus, einer gewissen Verbindung vom Empirismus und dem Idealismus etc… Aber die Radikalisierung scheint mir oft, in ihren stärksten und verführerischsten Momenten, sehr Althusserisch. Du wirst mir sagen, dass die ›Repetition‹ von Marx keine ›Rezitation‹ sein soll, etc., dass das Vertiefen, die Radikalisierung die Treue selbst sind. Sicherlich. Aber käme man nicht zum selben Resultat, wenn man von Hegel oder Feuerbach ausgeht? Und dann, wenn alles was du von der Überdetermination und der ›intrumentalen [sic]‹ Konzeption der Ideologie sagst, mich vollständig zufrieden stellt, stört mich der Begriff der Ideologie selbst, aus philosophischen Gründen, die ganz und gar nicht ›reaktionäre‹ sind. Ganz im Gegenteil. Er scheint mir noch gefangen von gens de ma génération, sans être marxiste, j’ai naturellement été nourri de l’héritage marxiste et j’ai essayé de le dire à un moment justement intempestif, en quelque sorte, tel que j’ai pu en tous les cas l’évaluer« (SP, 118). 105 Z. B. hier: »Ich glaube, dass man bei Marx ein Denken der Grenzen des Politischen (des Staatspolitischen) lesen kann, manchmal dank ihm, manchmal gegen ihn, von der Unterbrechung eines absoluten Ankommenden ausgehend. Das Messianische begrenzt sich nicht notwendigerweise auf den Messias in seiner jüdischen oder christlichen Figur. Es öffnet dem was da ankommt, wo man es nicht erwartet, das was ankommen kann oder nicht ankommen kann: ein Besucher mehr als ein geladener Gast (invité).« (»Je crois qu’on peut lire chez Marx, quelquefois grâce à lui, quelquefois contre lui, une pensée des limites du politique (du politico-étatique) à partir de l’irruption de l’arrivant absolu. Le messianique ne se limite pas nécessairement au messie dans sa figure judaïque ou chrétienne. Il ouvre à celui qui arrive là où on ne l’attend pas, qui peut venir ou ne pas venir: un visiteur plutôt qu’un invité«) (ebd., 122).
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einer Metaphysik und einem gewissen ›umgekehrten Idealismus‹, den du besser kennst als irgendwer auf der Welt. Ich habe sogar manchmal den Eindruck, dass er dich selbst belastet… Wir müssen über all das sprechen, die Texte von Marx in der Hand,… und dass du mich zum Lesen bringst…«106
Dieser Brief ist 1964 geschrieben. Derrida äußert sich jedoch erst 1993 zum ersten Mal ausführlich schriftlich über Marx – zur Unzeit, wie er vorher gesagt hatte, nämlich in einer Zeit, wo die PCF schon kein Gewicht mehr hatte in Frankreich, veröffentlicht Derrida Spectres de Marx, 107 weitaus später als die Bücher seiner Freunde, die sich viel früher theoretisch mit Marx beschäftigen. In
106 Und er spricht auch darüber, im selben Jahr, dass er sich Althussers theoretischem Antihumanismus nah fühlt, auch wenn er seine Rückhalte behält: »J’ai trouvé excellent le texte que tu m’as envoyé. Je me sens aussi proche que possible de cet ›antihumanisme théorique‹ que tu proposes avec autant de force que de rigueur, je comprends bien qu’il est le tien, je comprends bien aussi, je crois, ce que signifie néanmoins la nécessité de l’humanisme ›idéologique‹ à certains moments, la nécessité de l’idéologie en général même dans une société communiste, etc.. [sic] J’ai été moins convaincu par tout ce qui relie ces propositions à Karl Marx lui-même. Il entre sans doute beaucoup d’ignorance dans ma méfiance et dans le sentiment que d’autres prémisses – non marxistes– pourraient commander cet anti-humanisme. Ce que tu exposes à partir de la p. 116 me montre bien la rupture de Marx avec un certain humanisme, une certaine conjonction de l’empirisme et de l’idéalisme, etc.. Mais la radicalisation me paraît souvent, dans ses moments les plus forts et les plus séduisants, très althusserienne. Tu me diras que la ›répétition‹ de Marx ne doit pas être une ›récitation‹, etc que l’approfondissement, la radicalisation sont la fidélité même. Certes. Mais est-ce qu’alors on n’aboutit pas au même résultat en partant de Hegel ou de Feuerbach? Et puis, si tout ce que tu dis de la surdétermination et de la conception ›in[sic]trumentale‹ de l’idéologie me satisfait pleinement, la notion même d’idéologie me gêne, pour des raisons philosophiques qui ne sont rien moins, tu le sais, que ›réactionnaires‹. Bien au contraire. Elle me parait encore prisonnière d’une métaphysique et d’un certain ›idéalisme renversé‹ que tu connais mieux que personne au monde. J’ai même l’impression, parfois, qu’elle t’encombre toimême… Il faudra que nous reparlions de tout cela, textes de Marx en main… et que tu me fasses lire…« (DA 15, Nice, 01.09.1964). So stimmt Derrida Althussers Konzeption der Ideologie nicht ganz zu, weil sie immer noch in einer Metaphysik verharre. Zum Verhältnis Althusser-Derrida vgl. auch Solomon, »L’espacement de la lecture: Althusser, Derrida«. 107 Derrida, Spectres de Marx.
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einem kritischen Tonfall schreibt Derrida an Granel über sein Verhältnis zum Marxismus: »Du weißt, dass, wenn ich gesehen hätte, wo sich das ›Kapital‹ [›principal‹] in Marx und in all dem, was unter seinem Namen im Spiel ist, befindet, […] ich für Marx ›ein Wort eingelegt‹ hätte. […] Wenn ich umgekehrt sicher wäre, dass der marxistische Text – und das, was davon abhängt – allein und schlichtweg ein onto-theologisches Stück wäre (das, was du selbst vor nicht allzu langer Zeit zu denken schienst), hätte ich das auch geschrieben. Da ich weder vom einen noch vom anderen überzeugt bin, vorausahne, dass dieser wie jeder wichtige Text stratifiziert, diversifiziert ist, keine ›Wahrheit‹ hat, aber von einer interpretativen Strategie einer Schrift abhängt, auch weiß, dass die interpretative Strategie, der sie dieser Tage in unserem Umfeld explizit und effektiv unterworfen ist, in ihrem ›Kern‹ metaphysisch und rückläufig ist, ich keinen Frontalangriff will, weil (wie ich es dir gesagt hatte, dich in Wut bringend, eines abends in Ris-Orangis) ich diese Geste für ›reaktionär‹ in der gegenwärtigen Konjunktur hielte und da ich niemals dem Anti-Kommunismus verfallen würde, schließe ich sie also.108
Bezöge er sich in diesem Brief auf den späteren Text über Marx, dann steckt er hierin sein Ziel ab:109 »Und diese Arbeit, ich ahne es, meine Art und meine Rhythmen kennend, wird niemals Grund [lieu] zu einer ›Konversion‹ geben, sondern zu schrägen Einschnitten, zu Verschie-
108 »Tu sais que si j’avais vu où se tient le ›principal‹, chez Marx et dans tout ce qui est en jeu sous son nom, […] j’aurais ›pris la parole‹ sur Marx. […] Si, inversement, j’étais sûr que le texte marxiste – et ce qui en dépend – était seulement et simplement une pièce onto-théologique (ce que tu semblais penser toi-même il n’y a pas si longtemps) je l’aurais aussi écrit. N’étant assuré ni de l’un ni de l’autre, pressentant que, comme tout texte important, celui-ci est stratifié, diversifié, n’a pas de ›vérité‹, mais dépend de la stratégie interprétative d’une écriture, sachant aussi que la stratégie interprétative à laquelle il est explicitement et effectivement soumis autour de nous aujourd’hui, est, elle, dans son ›principal‹, métaphysique et régressive, ne voulant pas l’attaquer de front parce que (comme je te l’avais dit en t’exaspérant un soir à Ris-Orangis) je considérerais ce geste comme ›réactionnaire‹ dans la conjoncture présente et que je ne tomberais jamais dans l’anti-communisme, alors je la ferme« (DGR 3.3, o.O., 04.02., o.J.). 109 Da dieser Brief nicht datiert ist, ist aber auch möglich, dass er sich auf einen Zeitpunkt vor 1970 bezieht – und dann vermutlich auf den Text über Marx, den Granel vorbereitet.
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bungen des Umwegs, dieser oder jener unbemerkten Ader des marxistischen Texts oder der ›Revolution‹, von der die Rede [discours] ist, folgend.«110
In der Art der Konversion bezeichnet er seine Differenz zu Granel, wenn diese mit einem Glauben zu tun hätte; »Im Grunde habe ich das Gefühl, dass du vielleicht am mutigsten (du würdest ›tapfer‹ sagen), der Kohärenteste von allen bist: die interpretative Entscheidung oder die Befragung [interpellation], der du dich nun verschreibst, hängt sie nicht, prinzipiell, von den zwei Ordnungen der genannten ›Revolution-Konversion‹ eines ›Glaubens‹ ab? einerseits [sic] vor der Theologie, vor den Apparaten, sicher, vor allen Problemen, Gott und allen Vätern? Dieser Glaube besucht mich nicht.«111
Die Frage des Glaubens verbindet sich hier durch den Bezug auf Gott oder Väter mit der Frage der Religion oder Ideologie. Beides verneint Derrida. Derrida fragt Granel daraufhin, ob er Materialist sei, auf welche Frage Granel ausführlich antworten wird (die Antwort ist nicht im Archiv Derridas, aber Granel spricht in einem späteren Brief von jenem langen Brief, worin Granel auf die Frage »Bist du Materialist?« geantwortet habe). In diesem Brief scheint auch eine gewisse Distanznahme beider von den politischen Analysen Althussers durch. Da jedoch beide sich nicht der Parti Communiste anschließen, fragt Derrida Granel »Wie von einem ›Nicht-Ort‹ zur Revolution übergehen?«112; »Und ich würde sagen, 110 »Et ce travail, je le pressens, connaissant ma manière et mes rythmes, ne donnera jamais lieu à une ›conversion‹, mais à des incisions obliques, à des déplacements de biais, suivant telle ou telle veine inaperçue du texte marxiste ou de la ›révolution‹ dont il est le discours. Le reste, d’autres le font très bien, qui d’ailleurs ne s’occupent pas de science ou d’économie politique: et j’hésiterai toujours à juger de Marx abstraction faite de son économie politique (tu imagines le travail!) et sur sa seule ›philosophie‹ (qu’elle renoue, comme tu dis, avec la question aristotélicienne, ne garantit pas suffisamment, à mes yeux, son indépendance à l’égard de la métaphysique moderne)«) (ebd., fortlaufend). 111 »J’ai au fond le sentiment que tu es peut-être, le plus courageusement (tu dirais ›vaillamment‹) le plus cohérent de tous: la décision interprétative, ou l’interpellation à laquelle tu te rends maintenant ne dépend-elle pas, principiellement [sic], dans les deux ordres de la ›révolution-conversion‹ dont on parle, d’une ›foi›? d’une fois d’avant la théologie, d’avant les appareils, certes, d’avant tous les problèmes, de dieu et de tous les pères? Cette foi ne me visite pas« (Ebd.). 112 »Comment ›passer à la révolution‹ depuis un ›non-lieu‹? [sic]« Dieser Brief muss vor 1971 entstanden sein, weil er in einem Brief von 1971 Derrida fragt, ob er ihm
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die Gegebenheiten des Problems umkehrend, dass die interpretative Entscheidung des Texts von Marx die Probleme des Orts für gelöst annimmt.«113 Wenn hierin Derrida seine vielleicht nur minimale Differenz114 gegenüber den Positionen Granels zu markieren scheint, ist er selbst es eher, der sich für sein Schweigen gegenüber den Freunden rechtfertigen muss: »Von daher, dass mein vermeintliches ›Schweigen [mutisme]‹ auch, mehr oder weniger, den Anschein einer ›apraxie‹ hat. Indessen, was tun als innerhalb der Grenzen der Strenge arbeiten, derer man fähig ist (und die mit der strukturierten Gesamtheit des Felds, das sie trägt, unsichtbar kommunizieren soll, mit all der laufenden praxis, praxis über deren individuellen und ›vorsätzlichen‹ Einsatz [initiative] man nie bestimmt) und da wo möglich, ›links‹ zu handeln, im Feld, das man erfasst oder beherrscht, wenn die Situation dafür klar genug ist, ohne sich große Hoffnung über die mikroskopische Tragweite einer solchen ›Handlung‹ zu machen.115
An dieser Stelle äußert sich Derrida ungewöhnlich deutlich zu seiner eigenen politischen Positionierung als »links«. Er schließt also die Notwendigkeit politischen Handelns nicht aus, gewährt ihr aber gleichzeitig »mikroskopische Tragweite«. Derrida schrieb an anderer im Gespräch mit Roudinesco, man solle sich situationsabhängig immer der politischen Richtung anhängen, die gerade nicht aufstrebend wäre. So müsse man situativ entscheiden, wann man ein – vorläufiges – Bündnis eingehe. 116 Auch problematisiert er in einem undatierten Brief
seinen Brief der versuchte auf die Frage, ob er Materialist sei zu antworten, und evtl. auch vor 1968, weil Granel ihm 68 den Text über Marx schickt, von dem Derrida hier fragt, wann endlich sein Text über Marx komme (DGR 3.3, o.O., 04.02. o.J.). 113 Ebd. 114 Ganz klar ist diese Differenz m. E. nicht. In Peeters Biographie heißt es, Granel habe wie andere immer wieder Derrida gegenüber insistiert, ihn zu seiner Haltung zu Marx auszufragen (vgl. Peeters, Derrida, 275 f., 279). 115 »De là que mon prétendu ›mutisme‹ ait aussi l’apparence, peu ou prou, d’une ›apraxie‹. En attendant, que faire d’autre que de travailler dans la limite de la rigueur dont on est capable (et qui doit communiquer invisiblement avec la totalite [sic] structurée du champ qui la porte, avec toute la praxis en cours, praxis dont on n’a jamais l'initiative individuelle et ›volontaire‹) et d’agir ›à gauche‹ chaque fois qu’on le peut, dans le champ qu’on perçoit ou domine, quand la situation est assez claire pour cela, sans se faire grande illusion sur la portée microscopique d’une telle ›action‹« (DGR 3.3, 04.02. o.J.). 116 Vgl. hierzu Derrida / Roudinesco, Woraus wird morgen gemacht sein?, 44.
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Strategien des Zentrums und spricht über strategische Möglichkeiten, eine Position auszuhandeln, von der aus man politisch sprechen könnte: »Aber du hast auch Recht: es gibt keine wirksame politische Strategie als Effekt des ›Zentrums‹ und es gibt keine Revolution, die dieses nicht auszuhandeln hätte und es eine Zeit lang dem Onto-Theologischen einräumen müsste. Das ist zweifellos die Natur des politischen Projekts, der ›Politik‹ im Okzident: es ist philosophisch. Das ist die allgemeine ›Logik‹ dieses ›strategischen Zugeständnisses‹, das ich stillschweigend zu erarbeiten versuche. Zweifellos wäre ich wie du bereit, aber auch auf eine ganz andere Weise, eine solche ›Aushandlung‹ zu akzeptieren, vorausgesetzt, dass man nicht gleichzeitig von mir verlangt, auf die andere Karte zu verzichten, das In-Frage-Stellen der Onto-Theologie, die, sie, (die Frage) als solche, von keinem Zentrum her kommt; für die es immer ein Problem gibt; und ein Verzicht darauf, da bin ich sicher, hätte auch die regressivsten politischen Konsequenzen.«117
Derridas Position des Hinterfragens einer Onto-Theologie ist also insofern politisch, als dass sie problematisiert und kritisiert. Derridas Verhältnis zum Marxismus ist grundsätzlich gekennzeichnet von einer Vorsicht, einem Zurücktreten von einer Art von Gemeinschaft. Dieses Zurücktreten sieht er aber selbst als politisch notwendig an, was daran deutlich wird, dass er einem Verzicht darauf regressivste politische Konsequenzen zuschreibt. Auch in Derridas Schlussformel wird deutlich, dass er hier keine abschließende Diskussion wünscht, keine Bewegung des Zentrums, welche diese philosophische Bewegung beenden würde. So beendet er seinen Brief mit der Aussage, dass er diesen Brief nicht beenden könne.118 Die Vorsicht gegenüber Gemeinschaft, Zuschreibung, Identifikation auch seiner eigenen Person als philosophischem Denkers wird bei Derrida deutlich 117 »Mais tu as aussi raison: il n’y a pas de stratégie politique efficiente dans un effet de ›centre‹ et il n’y a pas de révolution qui ne doive négocier cela, et concéder cela, pour un temps, à l’onto-théologique. Telle est sans doute la nature du projet politique, du ›politique‹ en Occident: il est philosophique. C’est la ›logique‹ générale de cette ›concession stratégique‹ que j’essaie tacitement d’élaborer. Sans doute serais-je prêt, comme toi, mais aussi, d’une tout autre manière, à accepter une telle ›négociation‹ pourvu qu’on ne me demande pas de renoncer simultanément à l’autre carte, la mise en question de l’onto-théologie qui, elle, (la question) en tant que telle, ne procède d’aucun centre; pour laquelle il y a toujours problème; et dont l’abandon, j’en suis sûr, aurait aussi les effets politiques les plus régressifs« (DGR 3.3, o.O., 04.02. o.J.). 118 DGR 3.3, o.O., 04.02. o.J. (ausführlich zit. a.a.O.).
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geäußert. Aber könnte es auch möglich sein, diese markierte Distanz zu Gemeinschaften und zu naher Gemeinschaft in seiner Performanz zu lesen? Ich möchte daher Nietzsche hinzuziehen: »Der Weise sich als Narren gebend. — Die Menschenfreundlichkeit des Weisen bestimmt ihn mitunter sich erregt, erzürnt, erfreut zu stellen, um seiner Umgebung durch die Kälte und Besonnenheit seines wahren Wesens nicht weh zu tun.«119 –
Ist also Derridas abwesende Stille in vielen Texten über seine politische Haltung selbst Teil einer Politik? Derrida schrieb selbst zu dieser Art von Freundschaft bei Nietzsche folgendes: »es ist eine großzügige Freundschaft […] Und er [der Weise, nt] spielt, er lügt, er verstellt oder maskiert sich aus Freundschaft, aus einem freundschaftlichen Verhältnis zu den Menschen, aus Menschenfreundlichkeit* […] Lüge, Maske, Dissimulation, das Simulakrum gibt.«120
Der Weise also, der lügende Weise, verkleidet sich aus einer Freundschaft, die hier Menschenfreundlichkeit genannt wird. Was aber macht Menschenfreundlichkeit aus? Für Kant gibt es laut der Metaphysik der Sitten zwei Arten von Freundschaft. Zunächst: »Moralische Freundschaft (zum Unterschiede von der ästhetischen) ist das völlige Vertrauen zweier Personen in wechselseitiger Eröffnung ihrer geheimen Urteile und Empfindungen«.121 Diese enge Art der Freundschaft hat etwas mit dem Bewahren von Geheimnissen zu tun, »zumal da die engeste Freundschaft es verlangt, daß dieser verständige und vertraute Freund zugleich verbunden ist, ebendasselbe ihm anvertraute Geheimnis einem anderen, für eben so zuverlässig gehaltenen, ohne des ersteren ausdrückliche Erlaubnis nicht mitzuteilen.«122 Im Gegenteil dazu steht die ästhetische Art der Freundschaft. Hierzu sagt Kant: Ein »Menschenfreund überhaupt aber (d.i. der ganzen Gattung) ist der, welcher an dem Wohl aller Menschen ästhetischen Anteil (der Mitfreude) nimmt, und es nie ohne inneres Bedauren stören wird. Doch ist der Ausdruck eines Freundes der Menschen noch von etwas engerer Bedeutung, als der des bloß Menschenliebenden (Philanthrop). Denn in jenem ist auch die Vorstellung und Beherzigung der Gleichheit unter Menschen, mithin die Idee, 119 Nietzsche, Menschliches Allzumenschliches II, 246 / 113. 120 PdF, 94. 121 Kant, Die Metaphysik der Sitten, §47, S. 610. 122 Ebd., S. 611.
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dadurch selbst verpflichtet zu werden, indem man andere durch Wohltun verpflichtet, enthalten; gleichsam als Brüder unter einem allgemeinen Vater, der aller Glückseligkeit will.«123
Hier beschreibt Kant eine eher öffentlich und politisch orientierte Freundschaft. Mit Bezug auf Kant beschreibt Derrida dieses Gegenüberstellen Kants als Teilung der Freundschaft in einem Schema: »Die Teilung (Singularität/Universalität) hat stets die Erfahrung, den Begriff und die Interpretation der Freundschaft gespalten und eine Reihe von anderen Gegensätzen festgeschrieben. Grob gesprochen: Das private-unlesbare-unsichtbare-apolitische und a-limine begriffslose Geheimnis einerseits, das offenbare-öffentliche-bezeugte-politische und dem Begriff gegenüber homogene andererseits.«124
Auch wenn Nietzsches Menschenfreundlichkeit nicht übereinzustimmen scheint mit der Kants, weil sie sich auf Wohlwollen und Mitfreude bezieht, scheint mir Nietzsches Menschenfeindlichkeit doch insoweit nicht ganz glaubhaft, als dass er sich selbst für den Weisen zu halten scheint, der etwas anderes sagt, als er tut. Derrida gegenüber aber frage ich mich: Möchte er Menschenfreund bleiben, indem er das Geheimnis der wahren Art der Freundschaft bewahrt? Und bleibt er somit bei Kant und bei Nietzsche zugleich, indem er einerseits dieses Geheimnis der Freundschaft schützt, indem er sich nicht auf eine Entscheidung zwischen öffentlicher und privater Freundschaft festlegen lässt? Derrida könnte so Menschenfreund gelesen werden, der nicht notwendigerweise menschlich oder menschenfreundlich erscheinen muss. Auch er stellt sich die Frage, ob es möglich ist, »das Gesetz der Freundschaft als die Erfahrung einer gewissen Un-Menschlichkeit zu denken und zu leben: in der absoluten Trennung, jenseits oder diesseits des Austauschs und Verkehrs zwischen Göttern und Menschen?«125
Diese Bemerkung wird im Kontext einiger Gedanken zu Nietzsche und Blanchot gemacht. Mit einiger Nähe, die er dieser Position der »Un-Menschlichkeit« Nietzsches gegenüber zu haben scheint, beantwortet er die eigene Frage im folgenden nicht. Es bleibt offen, ob dies eine rhetorische Frage ist. Jedenfalls aber scheint es zwei Arten von Gemeinschaft zu geben – so Derrida, bezugnehmend auf Nietzsche – von denen eine durch das Teilen des Unmöglichen und des Lei123 Kant, Die Metaphysik der Sitten, §47 / 611f. 124 PdF, 370. 125 Ebd., 392 f.
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dens verbunden ist, und die andere getrennte Freunde sind, »heterogene Verbündete, die einander bejahen«.126 Es geht also einmal um eine Gemeinschaft, die auf ihre Getrenntheit durch Leiden reagiert, und eine andere, die sich an ihrer Heterogenität freut. Ein Blick in den Kontext, die wiederholte Bezugnahme auf eine unmögliche Möglichkeit127 in Derridas Werk, stärkt den Verdacht, dass er beiden Positionen im Zusammenschluss etwas abgewinnen kann. Aber jene Verbindung zwischen beiden Positionen scheint selbst weder eine negative noch eine positive zu sein, weder eine, die Freundschaft nur ermöglicht, noch eine, die sie nur ausschließt. Die Maskierung geht in diesem Punkt bis ins Unendliche, je länger man Derrida liest, desto weniger scheint diese Position oder Kippfigur greifbar. Eine gewisse »Un-Menschlichkeit« ist vielleicht wirklich in einer solchen Position, die Abstand nimmt von einer jeglichen feststehenden Position, aber es ist vielleicht auch gerade diese Un-Menschlichkeit, die das spezifisch Menschliche ausmacht.
DIE POLITIK DER NACHBARSCHAFT Wenden wir uns nun einem zentralen Satz in der Politik der Freundschaft zu, der die Frage der Derridaschen Kippfigur etwas komplexer werden lässt und sie als Zeichen – 2+1 – variiert. Kommen wir nun hierauf zurück, um die Kippfigur auf dieses Zeichen beziehen zu können. Es handelt sich um den Satz, der Aristoteles zugeschrieben wurde: »Oh meine Freunde, es gibt keinen Freund«.128 Und fügen wir noch eine weitere Besonderheit hinzu, nämlich, dass Derrida seinem Buch ein Zitat von Cicero voranstellt, welches lautet: »So kommt es, daß Abwesende zugegen […] und, was man kaum in Worte fassen kann, Tote lebendig sind…«129. Für Derrida – so möchte ich argumentieren – ist diese Frage des 2+1 aber auch die Frage des 2 und gleichzeitig 1 im Zentrum der Frage der Freundschaft. Es lässt sich zeigen, dass sich diese Frage zugunsten der einen oder der anderen Übersetzung oder Präferenz der Übersetzung dem Aristoteles zuge-
126 PdF, 86 f. 127 So zum Beispiel in: Derrida, Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen. 128 PdF, bspw. 18. 129 Ebd., 7.
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schriebenen Satz »O phíloi, oudeis philos« entscheidet.130 Denn der altgriechische Satz lässt sich nicht nur auf diese erste Weise (vokative Lesart), sondern auch in einer Rückzugsversion131 lesen. Wie Derrida erarbeitet, sei das griechische omega im Manuskript von Diogenes Laertius vornehmlich als »Interjektion«132 oder »vokatives O« gelesen worden.133 Nun zieht Derrida diese Lesart in Frage. ὦ könne als Vokativ und so ᾧ als Relativpronom gelesen werden, auch wenn beim Vokativ das Iota subscriptum wegfällt.134 Dies bezeichnet Derrida als »kleiner philologischer Theatercoup« 135 , nämlich die – wie er sagt, unwahrscheinlichere – Möglichkeit, dass das omega in der Übersetzung von Diogenes Laertius verwechselt wurde.136 Die Entscheidung bestünde darin, den Satz beginnend mit vokativer Interjektion oder dem Dativ des Pronomens zu übersetzen. Derrida also zeigt diese zweite, weniger wahrscheinliche Version: »›Der, dem Freunde [gegeben sind, eine Mehrzahl oder Vielzahl von Freunden, JD], dem ist kein Freund [gegeben]‹; oder auch: ›Zuviele Freunde, kein Freund‹.«137 Im Altgriechischen ist das Iota subscriptum nur als Hauch hörbar. Daher hängt für Derrida die Möglichkeit der Verwechslung an einem einzigen Buchstaben oder »Hauch« 138 . Weniger als darum, welches die richtige Lesart ist, geht es ihm darum, dass die zweite Version inhaltlich zu den Aristotelischen Bemerkungen über Freundschaft passt, sie sich also kontextualisieren lässt.139 Und hier finden sich ihm zufolge eher Anzeichen, die diese Rückzugsversion rechtfertigten. 140 Zunächst scheine beide Versionen oder Lesarten folgendes zu unterscheiden: »Die erste spricht zu den Freunden, die zweite spricht von den Freunden.«141 Die Rückzugsversion scheine konstativ zu bleiben. 142 Aber: »Wie immer man ihn 130 Zum Beispiel übersetze Kant in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht den Satz »Meine lieben Freunde: es gibt keinen Freund!« (PdF, 365). Blanchot wiederum ziehe die vokative Version der Rückzugsversion vor (ebd., 393). 131 Ebd., 282. 132 Ebd. 133 Hier nennt er Montaigne, Florian, Kant, Nietzsche, Blanchot, Deguy und die Übersetzungen von Diogenes Laertius. (Ebd., 260). 134 Vergleichen lässt sich dies mithilfe von Perseus [online]. 135 PdF, 279. 136 Dies entwickelt er ab: Ebd., 280 ff. 137 Ebd., 281. 138 Ebd., 283. 139 Vgl. PdF. 140 Vgl. Ebd., 283 f. 141 Ebd., 287. 142 Vgl. Ebd.
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liest, ob in der kanonischen Version oder der Rückzugsversion, und ganz gleich, wer sein vermeintlicher Autor gewesen sein mag, der besagte Satz mußte sich an jemanden richten«143. Auch die Rückzugsversion impliziere »ein performatives Sich-richten-an«.144 So schlägt Derrida es vor, beide Versionen gleichzeitig in ein Verhältnis zu bringen und gleichzeitig gelten zu lassen, denn: »Ein solcher Gegensatz wäre von begrenztem Interesse […]. Es ist vielmehr gerade der von der Struktur des Appell – des Rufens, Anrufens, Herbeirufens, Aufrufens – gezeitigte Chiasmus zwischen beiden Versionen, auf den es uns hier ankommt.«145
Und die Struktur des 2+1 kommt wieder zur Geltung, da man sich in der Freundschaft an einen einzelnen richten müsste, aber dies nicht kann; »Es ist zweitens, anderes Geschick oder Irrgeschick, nicht möglich, sich an einen einzigen, an eine einzige zu richten. Denn dafür müßte man es […] jedes Mal ein einziges Mal tun, und müßte die Struktur der Spur jede Iterabilität ausschließen. Auch ein einziger kann aber ein einziges Mal eine einzige Markierung nur empfangen, wenn diese in wie immer geringem Maße iterierbar, also in ihrem Auftreten und jedenfalls in ihrem Ereignischarakter zuinnerst vielfältig und gespalten ist. Der Dritte ist da.«146
Wenn Derrida anführt, dass diese Vielfalt »die Berücksichtigkeit des Politischen unumgänglich« mache wie auch die Berücksichtigung der Frage des Subjekts,147 dann macht dies deutlich, dass die Frage der Freundschaft einer Entscheidung oder einer gewissen Politik entspricht vielmehr als der einer transzendenten Wahrheit entspringenden Gewissheit. Aber es ist eine Entscheidung, die wiederum nicht ohne den Glauben auskommt, dass diese Entscheidung die richtige ist. Lesen wir hierzu Derrida über ›Gott‹: »Of course, God, what may be called God’s desire, is part of this scenario. When I say in French tout autre est tout autre, which is difficult to translate, this does not mean, as you say, inclusiveness. It means simply that every other, without and before any determination, any specification, man or woman, man or God, man or animal, any other whatever is infinitely other, is absolutely other. That is the only condition for the experience of otherness. This sentence is virtually an objection to Levinas, of course, for whom tout autre is 143 Ebd., 290. 144 Ebd., 288. 145 Ebd. 146 Ebd., 290. 147 Ebd., 292.
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God. Every other is infinitely other. That is not a logic of inclusion but, on the contrary, a logic of alterity.«148
Auch wenn hier Derrida in Richtung einer Freundschaft gelesen werden könnte, die ohne ein heiliges Moment nicht auskommt, so führt dies nicht zu einem anderen im Sinne eines einzigen Anderen. Diese dennoch, müsste man sagen, heilige Dimension der Freundschaft muss Derrida zufolge dafür heilig gesprochen werden, dass sie gerade nicht in einem Verständnis aufgeht: »Dieses ›wir‹, ohne das es kein Zeugnis gäbe, dieses unbestimmte ›wir‹, setzt nicht notwendigerweise ein Einverständnis mit dem was ich sage voraus, keine Sympathie, keine Gemeinschaft, keinen Konsens jeglicher Art, außer einer minimalen Wesensart, kann man sagen, des Einverständnis’ [intelligence avec] mit dem anderen, mit mir hier in der Sprache im Augenblick da sie sich spricht, wo sie sich gesprochen hat [où elle s’est parlée].«149
Es ist hier noch allgemeiner vom »wir« die Rede, ohne das ein »ich« nicht sprechen könnte.150 Die Annahme eines solchen »wir« ist widersprüchlich und ist nicht Teil einer friedlichen Übereinkunft im Sinne eines Konsens’.151 Ähnlich geht es für Derrida auch die Frage der Gemeinschaft betreffend um einen Krieg auf dem Papier: »Gäbe es eine Gemeinschaft, ja einen Kommunismus des Schreibens, so hätte sie ihre Bedingung zunächst daran, daß man gegen jene Krieg führt, die den vorherrschenden Sprachgebrauch prägen und sich zueigen machen, gegen die Mehrzahl, die Stärksten und Schwächsten zugleich – wobei es eine offene Frage bleibt, ob die größte Kraft, Stärke oder Macht, mit einem Wort, die Hegemonie oder Dynastie, auf der Seite der größten Zahl – und nicht vielmehr, wie stets bei Nietzsche, auf der des Schwächsten ist. Und umgekehrt. Auch Cicero, wir erinnern uns, hatte auf seine Weise diese Verwandlung des Starken in den Schwachen, des Toten in den Lebenden freigelegt – und sie auch und gerade als eine 148 UCI Jacques Derrida Papers, MS-C01 Box 121, Folder 3 »Religion and postmodernism«, 11. 149 »Ce ›nous‹, sans lequel il n’y a pas de témoignage, ce ›nous‹ indéterminé ne suppose nécessairement aucun accord avec ce que je dis, aucune sympathie, aucune communauté, aucun consensus d’aucune sorte, sauf une manière minimale d’être, disons, d’intelligence avec l’autre, avec moi ici dans la langue à l’instant où elle se parle, où elle s’est parlée« (DEM, 38). Im Original englisch. 150 Vgl. »nous sommes tout de suite plus d’un, dès que je ou qu’un je parle« (DEM, 37). 151 Daher auch der jahrelange Streit, den Derrida mit Habermas geführt hat.
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Geschichte der Freundschaft beschrieben. Diese Vertauschbarkeit ist stets derjenigen verwandt, die den Gegensatz Freund/Feind destabilisiert.«152
Von dieser Gemeinschaft übrig bleibt – wie bei Nietzsche – die geringe Zahl: »Man muß – zumal dort, wo es um die Freundschaft geht – gegen die Vielzahl denken und anschreiben. Gegen die Mehrzahl, die Meisten, die ›den Sprachgebrauch gemacht [haben, nt]‹. Gegen den Sprachgebrauch, der beherrscht, was man den öffentlichen Raum nennt.«153
Wenn es hiernach eine Gemeinschaft gäbe, würde sie eine Pluralität voraussetzen, und wenn sie sich bildete, würde sie der Folge des Bildens einer Gemeinschaft widersprechen. Lesen wir hierzu einen Brief Blanchots an Derrida, der weiterführen kann. »Cher Jacques Derrida, wie dankbar ich Ihnen für die Schriften bin, die ich von Ihnen erhalte; umso mehr als da wir diese komische – nicht komische – Epoche durchschreiten. Die, die Heidegger angreifen und die, die ihn verteidigen sind, die einen und die anderen, sehr weit davon, was man zu denken sucht. Daher der Hang, die Augen zu schließen. Sie sind abseits und das ist tröstlich. Erlauben Sie mir, bis ans Ende in Ihrer ›Nachbarschaft‹ [parages] zu bleiben amicalement et fidèlement Maurice Blanchot«154
Blanchot sagt parages. Derrida hatte geschrieben, dass Blanchot seine Bleibe (demeure) war. In diesem Brief nun fragt Blanchot, ob Derrida weiter in seiner Nachbarschaft bleiben könne. Die Nachbarschaft ist in der Regel ein Ort, indem 152 PdF, 109. 153 Ebd., 108 f. 154 »Cher Jacques Derrida, Comme je vous suis reconnaissant de tous les écrits que je reçois de vous ; d’autant plus que nous franchissons (franchir ne convient pas) cette drôle – pas drôle – d’époque. Ceux qui attaquent Heidegger et ceux qui le défendent sont, les uns et les autres, très loin de ce que l’on cherche à penser. D’où ce penchant à fermer les yeux. Vous êtes à part, et cela réconforte. Permettez moi de rester jusqu’à la fin dans vos ›parages‹ amicalement et fidèlement Maurice Blanchot« (BLD 22, o.O., o.D. [1968–1988, nt]).
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die Schritte (pas) der Nachbarn sich kreuzen. Wer in der Nachbarschaft läuft, tritt unter Umständen auch in die Fußstapfen des anderen. Jedenfalls ist die Nachbarschaft der Ort, an der sich die Wege ständig kreuzen, in denen ein gewisser alltäglicher Dialog und das zufällige sich Wiederbegegnen die Regel sind. Die Bitte, »bis ans Ende« in Derridas Umgebung, in seiner Nähe bleiben zu dürfen, ist eine Reformulierung des ersten Satzes des Briefs, in dem Blanchot Derrida die Dankbarkeit für das Senden von dessen Schriften ausspricht. Auch in den Texten scheint es eine Nachbarschaft zu geben und mit dem Versenden dieser Texte an Blanchot eine Streuung der Ideen von einem zum anderen, hin zu einem gemeinsamen Fluchtpunkt: der »komische[n] – nicht komische[n] Epoche«. Die »komische« Epoche bezieht sich auf die Zeit, in der sie von Vorwürfen bezüglich der Heidegger-Debatte betroffen sind, eine Debatte, in der sie beide, als Lesende Heideggers, angegriffen werden.155 Bezüglich dieser Zeit muss man betonen, dass – gerade weil er Heidegger gelesen hat – es Derrida eine Notwendigkeit gewesen sein muss, sich vom Nationalsozialismus und von der Annahme einer Volksgemeinschaft zu distanzieren. Er vermied nahezu völlig, überhaupt das Wort der Gemeinschaft zu schreiben und es ist davon auszugehen, dass sie eher in der Form einer zufälligen Nachbarschaft, dem zufälligen Zusammentreffen am selben Ort zur selben Zeit und mit der selben Haltung zur Welt zu denken ist. Diese Art von arbiträrer, einen Moment langer Gemeinschaft könnte dann, über wiederholte Anrede, das Rückhalten einer gewissen Differenz und das Einstehen für den jeweils anderen zur Freundschaft werden. Das Problem der Gemeinschaft für Derrida scheint auch zu sein, dass dieses Wort für das Anhalten einer gewissen Diskussion und Bewegung um die Frage des Begriffs steht. Eine Diskussion über Themen wie Gemeinschaft aber abzuschließen müsste zur Folge haben, dass keine spontane Nachbarschaft mehr entstehen kann. In einer Gemeinschaft sich frei zu fühlen, das scheint Derrida als Möglichkeit auszuschließen. Aufgrund der Widersprüchlichkeit, die Derrida in der Freundschaft gegeben sieht, möchte ich also vorschlagsweise diesen ›Begriff‹ der Nachbarschaft einführen, der dem Denken Derridas über Gemeinschaft eine Variation gibt. Denn wenn es eine Koexistenz von zwei verschiedenen philosophischen Lektüren von ›Freundschaft‹ gibt, dann ist das, was Derrida meiner Lektüre nach anstrebt, eine Nachbarschaft zwischen diesen beiden Formen, die einander ausschließen, aber zusammen sind. Wenn der Chiasmus zu einer Art Strang weiter gedacht würde, könnte jene Spannung zwischen den beiden Formen zu dem werden, was die Freundschaft – zumindest bei Derrida – ist. 155 Parages erschien 1986, die Heidegger und de Man Affären waren 1987–1988, der Brief scheint aus dieser Epoche zu sein.
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Es lässt sich nun annehmen, es gebe zwei verschiedene Parabeln, die sich überlappen, ohne sich zu berühren. Innerhalb von ihnen entsteht etwas, was sich nicht beschreiben lässt, aber da ist. Erinnern wir uns an die Darstellung des Lebens aus der Biologie als DNA, so entsteht auch hier eine gewisse Parallele. Auch lässt sich hier an das Verhältnis von Levinas’ Sagen und Gesagtem oder Mascolo Rede und Schrift denken.
Abb. 1: Chiasmus der beiden Formen der Freundschaft Gleichzeitig die Rückzugsversion und die kanonische Version, gleichzeitig der oder die Eine und die Zwei, gleichzeitig Anrede und Beschreibung und gleichzeitig Nähe und Distanz. Wenn so auch keine Gemeinschaft entsteht, dann zumindest eine Anhäufung von Perspektiven, die lose miteinander verbunden scheinen, eine Nachbarschaft.
Ja, berühren, manchmal denke ich, dass das Denken berührt, noch vor dem ›Sehen‹ oder ›Hören‹, oder dass sehen und hören ist, auf Distanz zu berühren. / Oui, toucher, parfois je pense que la pensée, avant de ›voir‹ ou d’›entendre‹ touche, ou que voir et entendre c’est toucher à distance UCI, Jacques Derrida Papers, MS-C01 Box 91, Folder 1 »Télépathie«, 10.
Freundschaft ›ohne‹ Kontakt Die unmögliche Berührung zwischen Nancy und Derrida
NAHEZU BERÜHREND – NANCY, DERRIDA In den Briefen zwischen Derrida und Nancy taucht das Wort ›Berührung‹ selten auf. Es spielt in ihrer Korrespondenz keine große Rolle. Dies ist als erste Beobachtung zu bemerken. An zwei Stellen aber taucht es auf. Einmal etwa 1980, als Nancy sich von Derridas Text Envois berührt zeigt und ein anderes Mal 1991, als Derrida ankündigt, er wolle über ›Berührung‹ im Zusammenhang mit Jean-Luc Nancy schreiben. Beide Briefe sollen im Folgenden genauer betrachtet werden. Ich gehe zunächst auf den ersten Brief von 1980 ein. Im Brief, geschätzt auf das Jahr 1980, schreibt Nancy: »dieser Text berührt mich, er tut nur das, berühren (auch am Bestimmungsort), es ist ein Text des Takts1 und der Haut«2. Mit dem Text, auf den sich Nancy bezieht, ist Derridas Envois gemeint.3 Nancy bedauert in seinem Brief auch, dass Envois kein eigenes Buch sei. Der Text Envois wird später tatsächlich von Derrida erweitert und unter dem Titel von La carte postale publiziert. Nancy bringt mit der Aussage, dass ihn jener Text berühre – zum Ausdruck, dass ein Text berühren kann und dass er darüber hinaus »am Bestimmungsort« ankommen kann. Im Gegenteil dazu bezeichnet Derrida im ersten Teil von Die Postkarte (La carte postale), die dem Text Envois entspricht, Korrespondenz als etwas Unmög1 2
Gemeint auch im Sinne von Tastsinn. »Cette même vitesse m’interdit pour le moment d’en dire grand-chose d’autre: indépendamment de la décision éditoriale, ce texte me touche, il ne fait que ça, toucher (à destination, aussi), c’est un texte de tact et de peau. […] En même temps, pourtant, j’ai presque une manière de regret que ›Envois‹ ne soit pas un livre à part« (ND 130, 22. [Samstag], o.M., o.J., geschätzt auf etwa 1980, da es um die mögliche Publikation von Envois geht).
3
Weshalb ich den Brief auf vor oder 1980 datiere, wo Envois erschien.
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liches. Es habe einmal eine Zeit gegeben, da man an die erfolgreiche Übermittlung von Briefen geglaubt hatte; »Diese Wächter gehören, wie das, worüber sie glauben die Wache zu haben, zu ein und derselben großen Epoche, zu einem großen Halt, demselben, der zusammengeht mit sich selbst in seiner postalischen Repräsentation, in seinem Glauben an die Möglichkeit dieses Typs von Korrespondenz, mit sich selbst in seiner postalischen Repräsentation, in seinem Glauben an die Möglichkeit dieses Typs von Korrespondenz, mit seiner ganzen technologischen Gegebenheit. Indem sie sich diese Gegebenheit verhelt, indem sie sie erlebt wie ein quasi natürliches Datum, bewahrt sich diese Epoche, sie kreist in sich selbst, sie automobilisiert sich und erblickt sich, ganz in ihrer Nähe, in dem Bild, das sie sich zurücksendet – durch die Post gerade.«4
Mit Wächtern sind hier die »Wächter der Tradition, die Professoren, die Universitäre, die Doktoren und Autoren von Dissertationen«5 gemeint. Den Glauben an eine mögliche Korrespondenz als Repräsentation oder tatsächlicher Schickung oder Übermittlung von Inhalten an einen anderen Ort macht er hier zum Glaubenssatz einer vergangenen Epoche. Aber diese Epoche kreise um sich selbst. Derrida hingegen spricht im selben Text davon, »daß ein Brief immer nimmer am Schickungsort ankommen kann«. 6 Er bestimmt den »Schickungsort« als »unmittelbar vielfältig«,7 was mit der Formulierung »immer nimmer« angedeutet wird. Wenn ein Brief schon nicht am Bestimmungsort ankommen kann, so wäre Berührung ein Ding des Unmöglichen, müsste man denken. Derrida kommt in einem Brief auf das Thema der Berührung zurück. Im zweiten hier herangezogenen Brief, von 1991, kündigt Derrida an, einen Text zu schreiben, der alles, was Nancy zum Berühren, zum Takt sage, erneut lesen wolle. 8 Im selben Brief geht es auch um die Herztransplantation Nancys, die 4
Derrida, Die Postkarte, 1. Lieferung, 79 f.
5
Schreibt Derrida, ebd., 79.
6
Ebd., 151.
7
Ebd., 100.
8
Hier und im Folgenden zitiert aus: »Mon cher Jean-Luc, merci, merci de nous avoir écrit en un tel moment. Quelle tristesse, quel tremblement de terre. Comme nous tous, comme ta mère, je suis sûr que tu as fait, et bien, ce que tu devais faire. Je n’ai pas osé t’appeler, cette fois encore, tu comprends bien, mais mon cœur est près du tien. A chaque instant je laisse venir tout ce qui peut me permettre de partager avec toi les épreuves que tu traverses et que j’aimerais tant adoucir un peu, alléger ou éclairer de quelque manière. Comme toi j’attends maintenant une sorte de nouvelle année, quelque chose comme un grand second souffle dont je sais qu’il se tient en réserve, et que
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Derrida als eine Art zweiten Atemzug (»comme un grand second souffle«) für dieses Jahr bezeichnet. Des Weiteren drückt Derrida sein Beileid zum Tod von Nancys Vater aus. Sein eigener Vater war vor genau 20 Jahren gestorben. Drei Themen kommen hier also zusammen – die Ankündigung für den Text, den Derrida später unter dem Titel Berühren. Jean-Luc Nancy publizieren wird, die Herztransplantation Nancys und das Beileid zum Tod des Dritten. Deshalb ist der Brief Nancys Angabe zufolge auf Januar 1991 zu datieren, etwa drei Monate vor dem Herzimplantat.9 Er habe zu diesem Zeitpunkt zuhause bleiben müssen, da jeden Moment ein Herzimplantat kommen sollte. Der Vater war gestorben und er habe trotz der Möglichkeit des Implantats zu Beerdigung gehen wollen, die Mutter habe ihn am Telefon angeschrien, weil es mehr als vier Stunden im Zug nach Paris waren, wo sein Vater beerdigt wurde. Außerdem war der Golfkrieg im Anmarsch, auf den Derrida im Brief auch kurz eingeht. Immer wieder bezieht er sich auf das Herz von Nancy und versichert ihm, dass sein »Herz nah an deinem« ist. Erinnern wir, wie Granel 20 Jahre vorher zum Zeitpunkt des Tods von Derridas Vater geschrieben hatte, er erinnere den Tod seines eigenen Vaters nicht, weil er zu jung war. Nun bezieht sich Derrida tu le sais aussi. Je me rappelle la mort de mon père, il y a exactement 20 ans. Et quelle nuit il a fallu traverser alors. J’ai confiance, je forme des vœux pour que tu puisses garder la sérénité souriante, la patience et les forces que tu nous donnes à tous. Bien sûr, si je crains, moi, d’abuser du téléphone qui doit trop souvent résonner chez vous, n’hésite pas à m’appeler, toi, à tout moment si tu en as envie. C’est toujours une joie pour moi de parler avec toi et en vérité cela m’aide beaucoup. J’ai encore la voix d’Augustin, aussi, dans l’oreille depuis le jour où il a eu la bonne idée de m’appeler à Nice. Dis-lui, et à Hélène, que je pense à vous. Et que nous vous embrassons, Marguerite et moi, Jacques. / Il est 2 h du matin et je ne veux pas attendre plus longtemps pour te remercier de ta lettre sur l’Irak.* Et de tes deux très beaux textes, dont je te reparlerai, qui ne sont pas seulement beaux pour avoir au passage immortalisé Ris Orangis qui a frémi, tout(e) entièr(e) de sentir passer sur elle, ou sur lui, l’aile de ton écriture, d’avoir été, comme dit Ponge, ›remarqué(e)‹ par toi. Ceci vient dire de Ris Orangis, ›touché‹ à ›quelque point sensible‹ (t)’arrive à écrire cela, un jour, je relierai tout ce qui dans tes pensées touche le toucher, et le tact; J’ai déjà repéré tout un réseau labyrinthique de fils conducteurs dans cette pensée du tactile ou du tangible. / *Il est maintenant 11h20 et rien ne s’est passé, apparemment, dans le Golfe…« (DN 15, o.O., 10.05. o.J., geschätzt von Jean-Luc Nancy auf Januar 1991).« 9
Dies und folgendes erzählte Nancy im Gespräch am 16.06.2014. Auf dem Brief ist das Datum schlecht lesbar und ich hatte »mardi« 10.05. gelesen. Das kann aber nicht stimmen, da der 10.05.1991 ein Freitag war. Daher ist anzunehmen, dass Nancys Datierung stimmt.
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auf den Tod des eigenen Vaters von vor 20 Jahren zum Zeitpunkt, als Nancy seinen Vater verliert – »Und welche Nacht musste ich hiernach durchqueren.« Er drückt damit Nancy sein Beileid aus. Des Weiteren bedankt sich Derrida für zwei »sehr schöne Texte« von Nancy, in denen Nancy auch auf Ris Orangis eingegangen sei, den Ort, wo Derrida lebte. Mit jenem Text ist der Text Les Iris gemeint sein.10 In dem Text Les Iris, den Nancy mit Syrotinski über Michel Leiris im März 1990 geschrieben hatte, verlangt der erste Satz von den gesiezten Leserinnen und Lesern, keine Verbindung herzustellen: »Gehen Sie kein Verhältnis ein, stellen Sie keine Beziehung her: weder das Verhältnis des Klangs, so wie die französische Sprache sie hier erfordert, noch die Beziehung der Subjekte, wie das Denken, französisch oder nicht, es überall erfordert. Aber nehmen Sie diese doppelte Interdiktion auch nicht als Einleitung.«11
Aber so wird nur eingeführt, um diese Position im Folgenden zu widerlegen und deutlich zu machen, dass es »Berührung«12 gibt, und dass alles anfängt, »wenn zwei Blicke sich flüchtig berühren«13, was sehen bedeute. Es wird deutlich gemacht, dass alles mit einem vorausgehenden »(Ein-)Druck [impression]«14 beginnt. Und dieser »Eindruck« habe aus Ris-Orangis kommen können, schreibt Nancy zusammen mit Syrotinski in diesem Text, also dem Ort, wo Derrida sich befindet.15 Derrida ›antwortet‹ in seinem Brief auf diesen Text, den er gelesen hat, damit, dass »Ris Orangis« den »Flügel deiner Schrift« gespürt habe, der Ort habe sich »bemerkt« (er benutzt hier sowohl die männliche als auch weibliche Form) von ihm gefühlt.16 Eines Tages, »lese ich nochmals alles was in deinem Denken 10 Angabe Nancys im Gespräch am 16.06.2014. Bei diesem Text handelt es sich um: Nancy / Syrotinski »Les Iris«. 11 Vgl. im Frz. Original: »(ne faites pas la liaison, ne faites pas le rapport non plus: ni la liaison des sonorités, telle que la langue française l’exige ici, ni le rapport des sujets, tel que la pensée, française ou pas, l’exige partout. Mais ne prenez pas non plus ce double interdit pour une introduction. […])« Nancy / Syrotinski, Les Iris, 46. 12 Was genau Berührung bei Nancy bedeutet, wäre Aufgabe einer Arbeit, die sich mit vielen weiteren der Texte Nancys beschäftigen könnte. 13 Im Französischen: »Mais c’est ainsi que c’est parti, et que ça part toujours. Comme lorsque deux regards’effleurent.« Nancy / Syrotinski, Les Iris, 47. 14 Ebd., 49. 15 Vgl. Ebd., 53. 16 Vgl. DN 15, o.O., 10.05. o.J. (a.a.O.).
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das Berühren berührt, und den Takt; ich habe schon ein ganzes labyrinthisches Netzwerk von roten Fäden in diesem Denken des Berührens [tactile] oder Greifbaren [tangible] ausfindig gemacht.« Dieses tut Derrida fast zehn Jahre später mit dem im Jahr 2000 publizierten Le toucher. Jean-Luc Nancy. In einer Mail, in der Nancy seine Freundschaft zu Derrida in Worte fasst, benennt er die Freundschaft als etwas, worin »die profunde Einsamkeit eines jeden berührt ist – vielleicht nur berührt, flüchtig berührt, aber dennoch berührt«.17 Er benutzt darin das Wort, dass er in Les Iris schon benutzt hatte, effleurer – flüchtig berühren. Die Freundschaft zu Derrida habe eine Dimension von ›Kontakt‹ gehabt, die über die bloße Kollaboration im Sinne einer politischen oder strategischen Verbindung hinausging, aber auch über die Liebe, die über die Berührung hinaus Penetration begehre.18 In diese Richtung führt Nancys Freundschaft zu Derrida nicht. Mehr als in die Nähe der Liebe oder des politischen Bündnisses würde ich das Denken Nancys der Berührung als Tangente Derridas bezeichnen. Derrida nennt dieses Wort selbst im Rahmen seiner Nancylektüre: »Wie immer im Nancyschen Gebrauch, den wir von diesem Wort machen, bedeuten diese Teilungen zunächst eine Teilnahme, eine unbestreitbare Nähe, Affinitäten, Überschnei17 Email von Nancy an mich, 27.04.2016, 11:11 h, Original in Frz.: »C’est le mot ›politique‹ qui est embarrassant dans un cas comme celui-ci: car au sens ›juste‹ politique comme tu dis il ne s’agit sans doute jamais d’amitié ; il s’agit de sympathie ou de solidarité, de communauté d’engagement, etc. mais l’amitié n’est jamais ›juste‹ de cet ordre ; au contraire elle a toujours affaire avec autre chose: avec une confiance et un plaisir par lesquels quelque chose de la solitude profonde de chacun est touché – peutêtre juste touché, effleuré, mais touché quand même; Or dans le cas de Jacques, Philippe et moi il y avait bien sûr d’abord une condition générale de possibilité de rencontre sociale (professionnelle) et politique (›gauche‹ en un sens très large luimême lié à l’époque) ; ensuite il s’en est suivi de la collaboration et de là une amitié qui tenait, elle, à la dimension du ›contact‹ dont je parle, contact qui aurait pu ne pas se produire ; nous aurions pu rester des collaborateurs, solidaires, ou même des compagnons: ce n’est pas encore l’amitié. Le compagnonnage n'est pas encore dans le ›toucher‹ même s'il en est très proche. Et ce toucher lui-même a d'infinies différences de forme, d’intensité, etc…« 18 Ebd., im Original: »En même temps il faut ajouter qu’il y a une autre différence, dans une direction opposée: celle entre l’amitié et l’amour. L’amour veut plus que le toucher, il veut la pénétration (pas seulement, pas forcément sexuelle – bien que celle-ci soit appelée par l’amour) et il veut une aliénation… Mais là aussi il est vrai que les différences sont infiniment fines…«
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dungen, eine Art Gemeinschaft oder Zeitgenossenschaft des Denkens, der Sprache, des Diskurses. Was wir unter dem Namen Tangenz zusammenfassen.«19
Auch zwischen ihnen, so scheint mir, gibt es diese »Art Gemeinschaft oder Zeitgenossenschaft des Denkens«, im Sinne der Nachbarschaft. 20 Sich tangieren lassen rückt im Deutschen die Tangenz wieder in Richtung der Berührung, über die Derrida nicht so offen spricht wie Nancy. Denn: Das wirklich Bedeutsame solle sich nicht ausdrücken. So schreibt Derrida: »Ich wusste nicht was Jean-Luc Nancy als Dargebot zu präsentieren […] Diese Dinge tun sich nicht kund. Sie sollten es nicht. Weder öffentlich noch privat.«21 Das wirklich Bedeutsame, wie die Freundschaft, darf sich für ihn offenbar nicht ausdrücken. Derrida wiederum spricht in dem Werk, obgleich er es Berühren. Jean-Luc Nancy nennt, davon, dass die Möglichkeit der ›Berührung‹ für ihn zweideutig bleibt und dass es immer darum ginge, gleichzeitig zu berühren ohne zu berühren; »Man muss berühren, ohne zu berühren. Indem man berührt, ist es verboten zu berühren: nicht an die Sache selbst rühren, an das, was es zu berühren gibt […] Und zunächst das Gesetz selbst. Welches das Unberührbare wäre.«22
Bei Derrida solle es gleichzeitig über die Adressierung Berührung, aber auch Unberührbares geben, oder anders gesagt beschreibt das der Satz – »Du (b)ist auch mein Tod.«23 Scheinbar anekdotenhaft spricht Derrida zum Ende des Buchs über Nancy davon, wie er einmal geträumt hatte, Nancy auf den Mund zu küssen, und wie er ihn nach seiner Transplantation spontan auf die Wange geküsst hatte, »was wir niemals zuvor getan hatten, wegen diesem unbezwingbaren Schamgefühl zwischen alten Freunden. Meine wahren Freunde hemmen mich stets. Meine Söhne ebenfalls.«24 Auch Nancy erinnert diesen Moment der Transplantation als ersten Moment, da sie sich unter Männern auf die Wange geküsst hatten.25 In Berühren. 19 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 279. 20 Vgl. Kap. VI. 21 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 87. 22 Ebd. 23 Ebd., 371. 24 Ebd., 387. 25 So Jean-Luc Nancy am 16.06.2014 bei Durchsicht des Briefs von Derrida an ihn, Nancy (DN 42, Paris, o.D.), den Derrida mit »Amitié« beendet, was in Frankreich schon eine relativ große Nähe anzeige. Zu diesem Zeitpunkt hätten sie sich aber noch
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Jean-Luc Nancy bittet Derrida schließlich darum, dass man sein Buch nun ausstreiche;26 »Daß man alles ausstreicht und daß man beginnt oder wiederbeginnt, ihn zu lesen, ihn Nancy in seinem Corpus. Was ihm geben, für meinen Teil? Einen Kuß?«27 Und kommt dann wieder auf die Tangenz zurück, dieses Mal im Sinn dessen, was tangible, greifbar, spürbar ist: »Eine geheime Opfergabe, alles in allem, siehe da, was ich mir zweifellos versprochen hätte. Wie kann man sich versprechen zu geben? Eine Opfergabe, die an die vielfältige Frage des Berührens in einem zugleich notwendigen und kontingenten Modus rührte: Was ist berühren? Was heißt ›Berühren‹? Gibt es ein Wesen des Berührens? Ist es sagbar, verstehbar, spürbar, (an-)tastbar [tangible] oder nicht? Wer oder was berührt was oder wen? Wie es seiner ungeheuren Tradition entziehen und doch diese niemals vergessen?«28
Obgleich Derrida von einem Kuss schreibt, ist er nicht sicher, ob er dies geben kann, er sendet den Kuss mit Fragezeichen, so wie jemand, der erst seine Liebhaberin fragt, wie sie den Kuss haben möchte, um alles richtig zu machen. Aber Derrida kann Nancy hier nicht küssen. Er möchte es offenbar nicht. Der im Text angedeutete Kuss ist vielmehr ein Gruß. Die Berührung Nancys scheint für Derrida nur eine Performanz des Texts zu sein, ein »bewundernder und anerkennender Gruß«, ein »als ob« der Berührung; »Und du sagst dir, zu dir zur Seite ein merkwürdig bewundernder und anerkennender Gruß, den du da an ihn, an Jean-Luc Nancy, adressierst, eine seltsame Weise vorzugeben, ihn zu berühren, indem du so tust, ganz als ob du seine Lexik des Berührens fortan außer Dienst stellen, gar auf den Index setzen wolltest.«29
Das ganze Buch scheint Nancy berühren zu wollen, aber es bleibt im Unklaren, ob der Gruß auch zum anderen hinüberreichen soll. Denn der Gruß ist zwiespältig.30 Während Derrida einerseits mit diesem Buch eine »Opfergabe« zu geben scheint, mit dem er den Freund »berühren« will, beabsichtigt er gleichzeitig »an dieses Ontologische« zu rühren.31 Hier knüpft Derrida an den in der der Politik die Hand gegeben, auf die Wange geküsst hätten sie sich das erste mal, als Derrida Nancy kurz vor der Transplantation besucht hatte. 26 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 386. 27 Ebd., 387. 28 Ebd. 29 Ebd., 140. 30 Vgl. Kap. III. 31 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 387.
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der Freundschaft aufgebrachten Widerspruch zwischen zwei verschiedenen Bewegungen in der Freundschaft an. Dies sind also eine Bewegung der Entfremdung, die den anderen auf Abstand hält (um Ontologisches fassen zu können), und eine Bewegung der Annäherung, die Nähe zulässt (um einem Freund näher kommen zu können) und die beide in der Freundschaft am Werk sind. Diese beiden Bewegungen stoßen sich ab oder berühren sich. Wie berühren, »ohne zu sehr daran zu rühren, indem man die Grenzen der Dezenz, der Pflicht, der Höflichkeit – der Freundschaft – beachtet?«32 fragt also Derrida. Nun wäre das Schreiben eines Texts über einen Freund – wie zum Beispiel Berühren. Jean-Luc Nancy – vielleicht ein Zeichen der Distanzierung. Und gleichzeitig drückt Derrida die Notwendigkeit aus, Philosophie und Freundschaften zu verbinden: »Was mich meine ersten Straßburger Freunde und Gastgeber, Philippe Lacoue-Labarthe, Jean-Luc Nancy und ihre Nächsten, seit ihrer ersten Einladung vor 35 Jahren (in der Summe fast unser ganzes Erwachsenenleben) gelehrt haben zu denken, ist, dass das Denken, was ich hier mit diesem gleichzeitig bescheidenen, abstrakten und hochtrabenden Wort benenne, das Denken, das die Philosophie die Literatur, die Poesie, die Musik, das Theater, die Zeichnung und die Malerei – und die Politik –, durchzieht und überschreitet, dieses Denken würde nicht denken, es würde nicht zu denken geben, es würde sich nicht denken lassen, ohne den Körper [corps] der Liebe, der Freundschaft, der Gastfreundschaft, ohne die Erfahrung der Gabe in den Grenzen des Möglichen und des Unmöglichen.«33
Ohne die Freundschaft zu Nancy und Lacoue-Labarthe hätte er diesen Weg des Denkens und der Schrift nicht weiter verfolgt.34 Einige Zeichen dieser Annäherung finden sich in den Briefen gerade durch die Wandlung ihres Anredevokabulars.35 Dazu ist zunächst zu bemerken, dass sie sich – noch bevor sie sich duzen – 32 Ebd., 389. 33 »Ce que mes premiers amis et mes premiers hôtes de Strasbourg, Philippe LacoueLabarthe, Jean-Luc Nancy et leurs proches, m’ont appris à penser dès leur première invitation, il y a quelque trente-cinq ans (presque toute notre vie d’adultes en somme), c’est que la pensée, ce que j’appelle ici de ce mot à la fois modeste, abstrait et pompeux, la pensée qui traverse et excède la philosophie, la littérature, la poésie, la musique, le théâtre, le dessin et la peinture – et la politique –, cette pensée ne penserait pas, elle ne donnerait pas à penser, elle ne se laisserait pas penser sans le corps de l’amour, de l’amitié, de l’hospitalité, sans l’expérience du don aux limites du possible et de l’impossible« (Derrida et al., Penser à Strasbourg, 39). 34 Vgl. Derrida et al., Penser à Strasbourg, 39. 35 Vgl. auch hierzu das Kap. Der Anfang der Freundschaft im Brief.
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mit Vornamen ansprechen, was allerdings in Frankreich keine Ausnahme darstellt. Der Briefbestand zwischen Nancy und Derrida ist einer der umfangreichsten und vollständigsten der hier vorliegenden Briefwechsel. Dies erklärt auch die große Spannbreite der Formeln, in denen sich beide aneinander richteten. Es lassen sich darin Spuren für eine Annäherung herauslesen, denn im ersten Brief noch schrieb Derrida mit Cher Jean-Luc Nancy den vollen Namen seines noch nicht persönlich bekannten Briefpartners aus und ab etwa 1971 spricht er ihn mit dem Vornamen an. Sie haben begonnen sich zu duzen. Laut Derrida ist der Beginn der Freundschaft mit Nancy auf die siebziger Jahre zu datieren; »Vor dem Kolloquium über die Rhetorik, das sie organisiert hatten, hatte ich schon mit Jean-Luc Nancy korrespondiert und ich hatte sofort, auch da, die ersten in Zeitschriften gelesenen Texte bewundert. All diese Jahre 1970 – Daten unserer ersten Begegnungen und Anfang unserer Freundschaft im Denken, in der Politik, in der Universität«36
Die »Freundschaft im Denken« hatte hiernach mit einer bloßen Korrespondenz begonnen. »Es wäre an der Zeit, von der Stimme zu sprechen, die berührt – stets auf Abstand, wie das Auge – und von der telephonischen Liebkosung, wenn nicht vom Telephonanruf/-schlag [coup de téléphone]«,37 schreibt Derrida. Diese telefonische Begegnung hatte es zwischen ihnen gegeben. Nancy spricht davon, dass sie um 1967 herum weniger das Telefon benutzten als später, was viele editorische Absprachen über Briefe erklärt.38 Für Derrida aber bleibt das Telefon ein Phantasma.39 Die Problematik der Berührung über Distanz ist besonders relevant für einen Menschen, der ständig an wechselnden Orten ist. Der gemeinsame Ort ist, wenn nicht eine Bedingung, laut diesen Briefen jedoch zumindest etwas, dessen Abwesenheit nach einiger Zeit schmerzt und der herbeigesehnt wird. Es wird deutlich, dass zu viel räumliche Distanz unter Freunden als Mangel angesehen wird. 36 »Avant même le colloque qu’ils avaient organisé sur la rhétorique, j’avais déjà correspondu avec Jean-Luc dont j'avais tout de suite, là aussi, admiré les premiers textes lus en revues. Toutes ces années 1970 – dates de nos premières rencontres et commencement de notre amitié dans la pensée, dans la politique, dans l’université« (Derrida et al., Penser à Strasbourg, 44). 37 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 146. 38 Gespräch mit mir am 16.06.2014, Brief, auf den er sich bezieht bspw.: DN 40, Cerisy, 04.08.1976 (Jahr schlecht lesbar). 39 Vgl. »Stellen Sie sich vor: Liebende, zu Lebzeiten getrennt […] Sie glauben an das telephonische Gedächtnis eines Berührens. Ein Phantasma sättigt sie.« Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 146 f.
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Derrida schreibt in einem Brief an Nancy, etwa 1986, wie enttäuscht er darüber ist, ihn nicht in Minneapolis sehen zu werden. »Du fehlst mir. Und wir werden uns auch im Juni noch fehlen, da ich diesen ganzen Monat in Jerusalem verbringen soll. Wie sollen wir es machen? Ich habe keine persönliche Telefonnummer. Wenn du sie mir geben kannst, versuche ich dich von einem Hotel während einer meiner kleinen Reisen anzurufen (New York den 3, 4, 5, Harvard den 17–18). Ich kann keine ›long distance calls‹ von meinem College-Zimmer machen, wo man mich aber anrufen kann […]. Du könntest es eines Tages von der Universität aus machen…«40
Dass körperliche Berührung oder Nähe hätte stattfinden können, ist bei der Distanz unmöglich. In einem Brief an Nancy sagt er »Ich träume davon endlich die Ferien mit dir zu verbringen, mit euch. Wird uns dies eines Tags auch gegeben sein?«41 Nancy zufolge war dies noch vor seinem Herzimplantat und sie hätten nie zusammen Ferien gemacht.42 Einmal waren sie in dem Haus von Georges, eines Onkels von Jean-Luc Nancy und einen Tag zusammen bei Villefranche. In einem weiteren Brief beschreibt er diesen Wunsch, mit ihm die Ferien zu verbringen: »Ich träumte, nach Ayes kommen zu können, wäre es nur für wenige Stunden wie letztes Jahr. Und dann musste ich es aufgeben. Alles ist so kompliziert, so schwierig mit den Strecken, die das bleiben, was sie sind (es ist weit weg).«43
40 Ausführlicher im Original: »Je suis très déçu de ne pas te voir à Minneapolis. Tu me manques. Et nous allons encore nous manquer en juin puisque je dois passer tout ce mois à Jerusalem. Comment faire? Je n’ai pas ton téléphone personnel. Si tu peux me le donner, j’essaierai de t’appeler d’un hôtel au cours de l’un de mes petits voyages (New York le 3, 4, 5, Harvard le 17–18). Je ne peux faire de ›long distance calls‹ depuis ma chambre de collège ou l’on peut néanmoins m’appeler […]. Si tu peux le faire un jour de l’université…« (DN 54, Yale, vermutlich 1986, wegen Tätigkeit in Yale). 41 »Je rêve de passer enfin des vacances avec toi, avec vous. Cela nous sera-t-il un jour donné aussi?« (DN 24, Nice, 09.07.1990). 42 Vgl. hier und folgend Gespräch Jean-Luc Nancy am 16.06.2014. 43 »Je rêvais de pouvoir passer aux Ayes, ne fût-ce que pour quelques heures comme l’an dernier. Et puis j’ai dû y renoncer. Tout est si compliqué, si difficile avec ces routes qui restent ce qu’elles sont. (c’est loin)« (DN 33, o.O., 23.07.1981, Jahr ist schlecht lesbar, Peeters datiert auf 1981, Nancy bestätigt. Eckige Klammer von Derrida).
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Ayes ist der Name eines Orts, wo sich das Haus von Claire Nancy befand, ein altes Bauernhof, das sie wieder instand gesetzt hatten.44 Aber Derrida ist auch hiernach nicht mit ihnen in die Ferien gefahren. Er ist, wie er sagt, »Reisender oder umherirrender Philosoph«.45 Der Unterschied zwischen Derrida und Nancy scheint nur ein gradueller zu sein und es geht dabei um eine Grenze, vielleicht nur um einen Grad an Berührung. Nancys Philosophie scheint zugleich abstrakt als auch berührend aufgrund ihres neuartigen Versuchs, eine Grenze zu thematisieren, die zwischen Philosophie und Berührung liegt.46 Für Derrida kann man sagen, dass ein Körper niemals berührt habe: »Vor allem hat niemand, kein Körper, kein eigener Körper jemals mit der Hand oder im Kontakt ihrer Haut etwas so Abstraktes wie eine Grenze berührt.«47 Andererseits ist damit die Frage nicht entschieden, ob man von einem Wort berührt sein könne.48 So hatte sich Derrida von Nancys Empfehlungsschreiben berührt gezeigt: »Dein ›Empfehlungsschreiben‹ hat mich von ganzem Herzen berührt. Jenseits aller Konventionen des Genres – ich traue mich nicht zu sagen, dass du ihnen nicht zu sehr nachgibst. Und in seinem Überschuss selbst: Ich nehme dies an als das gerechte Maß der Freundschaft, zwischen uns, die, die kein Maß kennt.«49
Hier scheint das Berühren einerseits eine Funktion zu erfüllen und andererseits könnte man argumentieren, dass Derrida in diesem Brief doch, vielleicht schnell dahin geschrieben, von Berührung spricht. Derrida zufolge berühre immer nur eine Grenze.50 Wenn er seinen Freund Nancy als »den größten Denker des Berührens aller Zeiten« 51 wahrnimmt, dann zeigt er sich von seinem Schreiben, oder besser, Denken, berührt. Aber er scheint sich dessen nicht ganz sicher: Vielleicht berührt Nancy diese Grenze des Berührens, jedenfalls ginge es ihm
44 Vgl. Gespräch mit Jean-Luc Nancy (16.06.2014). 45 »ma vie voyageur ou de philosophe errant« Derrida et al., Penser à Strasbourg, 43. 46 Ebd., 135. 47 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 135. 48 Vgl. Ebd., 146. 49 »Ta ›lettre de recommandation‹ m’a touché, au fond du cœur. Au-delà des conventions du genre – auxquelles je n’ose pas dire que tu ne cèdes pas trop. Et dans son excès même: Je l’accepte comme la juste mesure de l’amitié, entre nous, celle qui ne connait plus de mesure« (DN 54, Yale, vermutlich 1986, wegen Tätigkeit in Yale). 50 Vgl. Ebd. 51 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 10.
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um diese Grenze.52 Derridas Kritik scheint zu sein, dass auch Nancy, so nah er sich auch an das Berühren herantastet, nicht wirklich berührt; »so besteht dennoch weiterhin das Motiv der größten Hartnäckigkeit bei Nancy darin, im Namen des Berührens jedem Idealismus oder jedem Subjektivismus, wäre er transzendental oder psychoanalytisch, zu widerstehen. […] Das Berühren bleibt für Nancy das Motiv einer Art absolutem, irredentistischem und post-dekonstruktivem Realismus.«53
Hier wäre der Bruch zwischen beiden anzusiedeln. Denn Derrida ist nicht ganz einverstanden, was das Schreiben Nancys angeht. Es scheint lediglich um ein Wort zu gehen, darum, das Wort der Berührung zu sagen im Sinne des darüber Schreibens in Form philosophischer Lektüre. Er hätte nie geschrieben, dass man dem nicht anzueignenden Ursprung ausgesetzt sein könne, aus Furcht vor der »Eigentlichkeit eines Sich-dem-Ursprung-Aussetzens«.54 Hierin geht es um eine Kritik an Nancys Schreiben als Ontologie. Bei Nancy wird das Berühren mit dem Sein verbunden und zum Sein als etwas Familiärem im Sinne von Gemeinschaft.55 Dennoch scheint Derrida Nancy dafür zu bewundern, so schreiben zu können: »Deshalb faszinieren mich diejenigen, die das ›Berühren‹ leichter haben. Ich bewundere sie, aber es gelingt mir nicht, allzusehr daran zu glauben, ich meine, an das Berühren.«56 Das Berühren wird hier in Anführungszeichen gesetzt, als ob er nicht sicher sei, dass eine Berührung schriftlich möglich sein könnte. Derrida fasziniert auch, wie Nancy mit einem »Herz des Anderen« leben konnte, ein Herz, was in einem schlägt, aber doch nicht das eigene ist, was das Berühren für ihn doch wieder zu einer Frage des Befremdlichen machen muss.57 Als Grenze jeglicher freundschaftlicher Nähe bezeichnet Derrida in Penser à Strasbourg »ihre Verbindungen familiärer Gemeinschaft«.58 Dem Körperlichen, Familiären, Berührenden gegenüber scheint Derrida sich zu entfernen. Wenn das Schreiben bei Derrida die Dekonstruktion ist, dann bleiben Dekonstruktionen für Derrida in einer doppelten Bewegung, die hin zu den gelesenen Texten (Berüh52 Ebd., 57. 53 Ebd., 61. 54 Ebd. 55 Vgl.: »Das Berühren wäre so im Sein, als Sein, als das Sein des Seienden der Kontakt des mit (des cum oder des co-) mit sich wie mit dem Anderen, das mit als Kontakt, die Gemeinschaft [communauté] als Ko-Takt« (ebd., 150). 56 Ebd., 151. 57 Vgl. Derrida et al., Penser à Strasbourg, 126. 58 »leurs liens de communauté familiale« Derrida, Penser à Strasbourg, 46.
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rung) führt, aber immer wieder auch davon weg (Bruch). Deshalb gebe es Dekonstruktionen gleichzeitig im Singular als auch im Plural: »Man muß dieser Analogie oder dieser Affinität Rechnung tragen, nochmals die Dekonstruktion im Singular sagen, um sie im Plural zu sagen, im ›singulären Plural/pluralen Singular‹ – und zumindest erklären, warum in den beiden Syntagmen das ›es gibt‹ einmal im Konditional (›wenn es denn dergleichen gibt‹) und das andere Mal im Modus der Verneinung (›es gibt nicht…‹) wiederkehrt. Das ›dergleichen‹, wenn es denn dergleichen gibt, verweist auf das, was genau, durch den bestimmenden Artikel befohlen, es nicht gibt. Sicher nicht, nicht sicher.«59
Bleibt Derridas Berührung also eine gedankliche? Es scheint so, wenn er schreibt: »Wir erwähnen das nicht nur, um ein wenig, bei der Lektüre zweier Denker und zweier Freunde, zu sinnieren.«60 Diesem widerspricht allerdings der letzte Satz seines Texts über Nancy. Denn er beschließt diesen Text mit der Frage, ob er Nancy für seinen Teil einen Kuss geben sollte.61 Er will berühren, ohne »die Grenzen der Dezenz, der Pflicht, der Höflichkeit – der Freundschaft«62 zu beachten. Behalten wir diesen Gedanken über die Höflichkeit in der Freundschaft für einen Moment in Erinnerung, um später darauf zurückzukommen.
59 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 369. 60 Ebd., 110. 61 Vgl. Ebd., 387. 62 Ebd., 389.
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Abb. 2: Nancy über den Brief von Derrida gebeugt
Abb. 3: Nancy mit undatierter Postkarte Derridas aus Spanien (Alhambra) und Briefen Derridas
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OHNE ODER MIT SEIN. DEHNEN DES BEGRIFFS DER GEMEINSCHAFT (NANCY, BLANCHOT) Im Folgenden soll noch eine weitere Debatte der achtziger Jahre hinzu gezogen werden, um die Nähe des Denkens zu Nancy zu eruieren und mehr über einen Denkraum zu erfahren, der sich aus dem letzten Kapitel über Gemeinschaft schon ergab. Bataille schreibt in Die innere Erfahrung darüber, dass das Gespräch mit Freunden eine Methode sein kann.63 In diesen Gedanken reihen sich die Diskussionen in Frankreich in den 1980er Jahren ein, in denen über Zusammenhänge zum Beispiel von Gemeinschaft und Kommunismus nachgedacht wurde.64 Ausgangspunkt war, wie Nancy in Die herausgeforderte Gemeinschaft darstellt, dass Jean-Christophe Bailly 1983 für die Zeitschrift Aléa das Thema »Die Gemeinschaft, die Zahl« vorgeschlagen hatte. 65 Die undarstellbare Gemeinschaft (La communauté désœuvrée) habe er »für« Bataille geschrieben.66 Derrida schreibt Nancy in eine Linie mit Bataille ein, auch was das Berühren betrifft.67 Nachdem im Frühjahr 1983 die erste Version dieses Texts in der Ausgabe zum Thema Gemeinschaft der Zeitschrift Aléa erschienen war, folgte Ende des Jahres Blanchots Text der Uneingestehbaren Gemeinschaft (La communauté inavouable).68 In seinem Text geht es Nancy um folgendes: »Vielleicht sollte man nicht ein Wort oder einen Begriff suchen, sondern eher im Denken der Gemeinschaft einen Exzeß an Theorie (genauer gesagt, ein Überschreiten des Theoretischen) erkennen, der uns zu einer Praxis des Diskurses und der Gemeinschaft verpflichten würde.«69
Diesen Exzess aber solle man versuchen zu sagen.70 Er nimmt hierin an, dass Bataille als erster Erfahrung moderner Gemeinschaft gemacht hatte, wonach »die
63 Bataille, Die innere Erfahrung, 19. 64 Vgl. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, 20. 65 »La communauté, le nombre«, Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, 18. 66 Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, 88. 67 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 151. 68 Vgl. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, 91. 69 Ebd., 58. 70 Vgl. Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, 58. Vgl. hierzu auch Bataille, der als innere Erfahrung einen Zustand beschreibt, der weder wissenschaftlich noch dogmatisch ist, eine Erfahrung, die im Nichtwissen verbleibt und aufkommende Antworten
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Gemeinschaft […] weder ein herzustellendes Werk, noch eine verlorene Kommunion, sondern der Raum selbst, das Eröffnen eines Raums der Erfahrung des Draußen, des Außer-Sich-Sein«71 ist. Gemeinschaft sei kein Projekt.72 Es ginge ihm nicht darum, kommunitäre Fassungen von Gemeinschaft weiter zu bringen, als vielmehr eine bestimmte »Forderung« 73 ernst zu nehmen, und dies abseits vom »Denken des Subjekts«.74 Während andere Theorien die Gemeinschaft als Werk betrachteten, bringt Nancy die Gemeinschaft eher in Richtung einer abstrakten Gabe. – »Die Gemeinschaft wird uns gegeben – oder wir werden gemäß der Gemeinschaft gegeben und aufgegeben: Es ist dies eine zu erneuernde, mitzuteilende Gabe, kein Werk, das herzustellen wäre.«75 Die Abstraktheit dieses Denkens – obwohl es gerade nicht so gemeint zu sein scheint – wird noch stärker darin deutlich, dass er das Gemeinsamsein als literarisch bezeichnet.76 Literarisch bedeute hier aber vor allem, dass ein Diskurs über seine Grenzen gehen müsse, um »der Gemeinschaft die Souveränität ihrer MitTeilung« 77 zu offenbaren. In diesem Zusammenhang fällt auch das Wort des »literarischen Kommunismus«,78 welches sich in der Wortwahl schon explizit an Blanchot zu richten scheint. »Die ›Literatur‹ (oder die ›Schrift‹) ist das, was in der Literatur, das heißt in der MitTeilung oder in der Kommunikation der Werke, den Mythos unterbricht, indem sie dem Gemeinsam-Sein, das keinen Mythos hat und auch keinen haben kann, eine Stimme verleiht.«79
In der Mitteilung der Gedanken in Schrift oder Literatur steckt also schon eine Teilung des Werks, was bedeutet, dass gerade dieser Pluralität der Stimme für Nancy ›Gemeinschaft‹ am besten entspricht. Man könnte nun sagen, dass gerade dieser Prozess des Veräußerns in der Mitteilung und besser gesagt Ausspeiens in sofort wieder ins Nichts zieht (vgl. Bataille, Die innere Erfahrung, 18). Für ihn müssen wir das Gesetz der Sprache bestreiten, um überrascht zu werden, und nennt dafür Grenzwörter wie das Schweigen (vgl. Ebd., 29–31). 71 Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, 45. 72 Ebd., 38. 73 Ebd., 52. 74 Ebd., 54. 75 Ebd., 77 f. 76 Ebd., 136. 77 Ebd., 58. 78 Ebd., 59. 79 Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, 135 f.
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verschiedene Teile, die die Veräußerung selbst an Inhalt noch übertreffen, die Gemeinschaft bei Nancy ausmacht. Die Gemeinschaft bestünde dann in dem gemeinsamen, notwendigen Akt des Ausspeiens, der auch verletztlich macht: Es handelt sich um einen »unbezwingbaren literarischen Kommunismus, dem jeder angehört, der schreibt (oder liest) oder zu schreiben (oder zu lesen) versucht, indem er sich exponiert«.80 Gemeinschaft für Nancy stößt zu, »als Frage, Erwartung, Ereignis, Aufforderung«81 und sie besteht im Verlust.82 Darauf baut Nancy einen »Kommunismus« auf: »Dieser Kommunismus des Gemeinsam-Seins und der Schrift (der Schrift des Gemeinsam-Seins) ist weder eine Idee noch ein Bild – weder eine Botschaft noch eine Fabel, weder eine Gründung noch eine Fiktion.«83
Vielmehr ist er in die Nähe der Initiationsriten gerückt, wenn er schreibt, dieser Kommunismus sei mit einer einweihenden Geste zu vergleichen. 84 »Kommunismus« entspricht hier dem »Wunsch, einen Ort für die Gemeinschaft zu finden oder wiederzufinden«.85 In Nancys Worten scheint es, als sei dieser Ort verloren gegangen. Als wolle er dieser Gemeinschaft einen neuen Ort geben, lokalisiert er sie in der »Schrift«: »Hier geschieht das Statt-finden der Gemeinschaft, das selbst keinen Ort, keinen seiner Anwesenheit vorbehaltenen oder zugedachten Raum hat: dies geschieht nicht in einem Werk, das die Gemeinschaft vollenden würde, noch weniger in ihr selbst als Werk (als Familie, Volk, Kirche, Nation, Partei, Literatur, Philosophie), sondern in der Entwerkung und als Entwerken all ihrer Werke.«86
Auf Blanchot bezöge er sich, wenn er die Gemeinschaft in die Nähe der »Entwerkung« bringe.87 Die Mit-Teilung der Gemeinschaft als »entwerkte und entwerkende Tätigkeit«88 führt dahin, davon auszugehen, dass Totalität ein »Dia-
80 Ebd., 144. 81 Ebd., 31. 82 Ebd., 32. 83 Ebd., 144. 84 Vgl. Ebd. 85 Ebd., 11. 86 Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, 153. 87 Ebd., 69. 88 Ebd., 77.
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log« sei. 89 Ein Dialog, in dem es »eingeschobene, miteinander abwechselnde, mitgeteilte Texte [gibt, nt], wie alle Texte, die darbieten, was niemandem gehört und uns allen zukommt: die Gemeinschaft der Schrift, die Schrift der Gemeinschaft.«90 In einem späteren Text beschrieb Nancy sein Ziel in der undarstellbaren Gemeinschaft damit, das Verständnis von Gemeinschaft als dem »Aufgehen in Innerlichkeit, als Selbstpräsenz einer realisierten Einheit«91 zu hinterfragen. Die Entwerkung [désœuvrement] der Gemeinschaft hingegen legt für ihn den Fokus auf »die ›Freundschaft‹ und ›unendliches Gespräch‹ zwischen dem einen und dem anderen«.92 Mit dem Bezug auf die Freundschaft scheint hier das prozesshafte und dialogische Element gemeint zu sein, das für ihn offenbar auch Gemeinschaften auszeichnen müsste. Die Gemeinschaft wird damit in die Nähe des freundschaftlichen Dialogs gebracht. In seinem ›Widerspruch‹ auf Nancy bemerkt Blanchot, dass sich das Wort Gemeinschaft häufiger in Batailles Untersuchungen zwischen 1930–40 als danach fände.93 Historisch gesehen sei, was die Gemeinschaft betrifft, von kleinen Gemeinschaften auszugehen, die zur »Kommunion« oder »Verschmelzung« tendieren.94 Es scheint, als richte Blanchot sich gegen Nancy, da er betont, dass Bataille dieses Aufgehen in Gemeinschaft zurückweise.95 Blanchot hingegen macht das, was er als Gemeinschaft betrachtet, an Tod und Geburt fest. Für ihn ist »das erste und letzte Ereignis gemeinsam […], das bei jedem aufhört, gemeinsam sein zu können«.96 Somit ist die Gemeinschaft in einem widersprüchlichen Bezug, der gleichzeitig bezieht und auch bezuglos ist, zu fassen. Hier fügt sich die ›Gemeinschaft‹ bei Blanchot ein in die Überlegungen aus dem Kapitel dieser Arbeit über Différance.97 Wenn Nancy die Gemeinschaft als Schrift bezeichnet, so ist sie für Blanchot eher das Scheitern einer bestimmten Art des Schreibens.98
89 Ebd., 160. 90 Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, 92. Hier betont er auch, dass dieser Gemeinschaft auch Menschen angehören können, die weder schreiben noch lesen. 91 Vgl. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, 25. 92 Vgl. Ebd., 26. 93 Vgl. Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, 14. 94 Vgl. Ebd., 18. 95 Vgl. Ebd., 19. 96 Vgl. Ebd., 22 f. 97 Vgl. Kap. V. 98 Vgl. Blanchot, Die uneingestehbare Gemeinschaft, 27.
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Hierfür führt Blanchot den Begriff einer uneingestehbaren Gemeinschaft ein.99 Diese Art der Gemeinschaft scheint eher etwas zu sein, was im Unverstehbaren (Bezuglosen) bleibt; »So wird man finden, daß sie auch eine zwingende politische Bedeutung hat und daß sie uns nicht erlaubt, uns nicht für die Gegenwart zu interessieren, die, indem sie unbekannte Räume der Freiheit eröffnet, uns für neue, stets bedrohte, stets erhoffte Beziehungen verantwortlich macht, zwischen dem, was wir Werk nennen, und dem, was wir Werklosigkeit nennen.«100
Auch der Text Blanchots nähert sich hier selbst einer hohen Komplexität an und eine Auseinandersetzung mit seinem Denken würde weitaus mehr Platz erfordern, als es hier möglich ist. Hier soll aber im Kopf behalten werden, dass Blanchots uneingestehbare Gemeinschaft eine Art Bezug zur eigenen Gegenwart ermöglicht, auch wenn dies ein Nicht-Bezug ist. Nancys sehr viel spätere Beschäftigung mit der Frage des Zusammenseins in Singulär plural sein (Être singulier pluriel) lese ich als Folge dieser früheren Gespräche und als Antwort auf diesen Nicht-Bezug Blanchots. Die Bezeichnung der »Mit-Teilung« der Gemeinschaft wird hierin zu einer ausführlicheren Beschäftigung mit dem »mit« ausgeweitet. Hierin betrachtet er den Zusammenhang zwischen »Denken« und »Anrede«, 101 wobei Anrede hier auch in Bezug auf Objekte oder Gedanken gemeint ist. – »Anrede soll zugleich heißen, daß das Denken selbst ›mich‹, ›uns‹ anspricht, ausgehend von der Welt, der Geschichte, den Menschen, den Dingen, ausgehend von ›uns‹.«102 Weil Nancy zufolge die Sprache selbst Anrede ist, eigne sie sich schlecht für die Darstellung des ›mit‹.103 Hierin fasst er, dass Gemeinschaft im »miteinander denken« 104 besteht, und scheint ›Gemeinschaft‹ anders als in seinem früheren Text wieder als problematischen Ausdruck zu sehen: »›Sein‹ ist immer […] Und folglich immer auch ein Fall des ›Mit‹: Singulare, die singulär zusammen sind, und deren Zusammen [ensemble] weder ein [sic] Summe, noch ein Um-
99
Vgl. Ebd., 93.
100 Vgl. Ebd., 97 ff. 101 Nancy, Singulär Plural Sein, 13. 102 Ebd., 14. 103 Vgl. Ebd., 14. 104 Ebd., 58.
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fassendes, noch die ›Gesellschaft‹, noch die ›Gemeinschaft‹ ist (diese Worte sind nur Ausdrücke für das Problem).«105
Das ›Mit‹ ist in diesem Text das Gemeinsame. Mit der Wortschöpfung eines gleichzeitig in seiner Singularität pluralen Selbst betont Nancy, dass der Mensch immer in Gemeinschaft und immer in Vielzahl ist, und dabei einzig und erkennbar bleibt: »Das Singuläre ist von vornherein jeder Einzelne, folglich auch jeder mit und unter allen anderen. Das Singuläre ist ein Plural«.106 Das heißt: »Singulär plural: derart, daß eines jeden Singularität von seinem Sein-mit-mehreren nicht zu trennen ist, und weil tatsächlich und im allgemeinen Singularität von Pluralität nicht zu trennen ist.«107 Damit macht er gegenüber Blanchot deutlich, dass es in der Frage der Gemeinschaft nicht nur um die Frage bestimmter Gemeinschaften geht, sondern auch um eine ontologische Frage. Es wird nach dem Begriff gesucht, der alle anderen Begriffe um sich sammelt (es geht um ein ›ensemble‹, wie er sagt), der das Allgemeine der menschlichen Erfahrung beschreiben kann. Bei Blanchot war der verbindende Bezug ein Nicht-Bezug. Bei Nancy geht es in einer komplementär zu sehenden Perspektive darum, diesen Zwischenraum ›Mit‹ oder ›Wir‹ zu nennen. Durch das Betonen des ›Mit‹ soll die Seinsfrage vom Ich zu einem ›Wir‹ verschoben werden.108 »Das Sein ist mit dem Sein, es deckt sich nicht mit sich selbst, aber es ist bei sich, an seiner Seite, ganz bei sich, auf Tuchfühlung, in der paradoxen Nähe, worin sich Entfernung und Fremdheit offenbaren. Wir, jedes Mal ein anderer, jedes Mal mit anderen.«109
Dieses »mit« ist folglich singulär und plural zugleich, es ist jedes Mal anders. Gemeinschaft solle hier nicht nur als solche anerkannt, sondern auch erschaffen werden, das ›Wir‹ müsse erneut als Sinn angeeignet werden.110 Dies tut er, indem er wesentlich später wieder das ›Wir‹ als Gemeinschaft fasst. Nachdem Nancy das Wort der Gemeinschaft im Titel von Singulär plural sein vermieden hatte, schreibt er 2001–2002 wieder einen Text, der die Gemeinschaft im Titel trägt. In Die herausgeforderte Gemeinschaft (La communauté
105 Nancy, Singulär Plural Sein, 62 f. 106 Ebd., 62. 107 Ebd., 61. 108 Vgl. Ebd., 64. 109 Ebd., 65. 110 Ebd., 22.
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affrontée), geschrieben von Oktober 2001 bis 2002111 und Blanchot gewidmet, beschreibt Nancy, dass sich das Denken »des Einen und einer einzigen und einzigartigen Bestimmung der Welt«112 erschöpft. Er bezieht sich hierin auf aktuelle Tendenzen, die Gemeinschaft zu benennen. Von der Gemeinschaft werde gegenwärtig oft »Souveränität und Intimität, Selbstgegenwart ohne Bruch und ohne Außen«113 gefordert. Schauen wir dazu den Titel dieses Texts an, dann fällt zunächst auf, dass der deutsche Titel der herausgeforderten Gemeinschaft nicht ganz mit dem französischen übereinstimmt. Die communauté affrontée kann die konfrontierte Gemeinschaft sein als auch die, der man gegenübergestellt ist. Diese beiden Aspekte vereinen sich nun in seiner Kritik, dass die Gemeinschaft in der Globalisierung in sich gespalten sei und sich und dem Bruch in sich gegenübergestellt sehe.114 – Dieser Aspekt der Gegenüberstellung entgeht der deutschen Übersetzung. Dennoch scheint mir diese Übersetzung glücklich gewählt, denn sowohl im Deutschen als auch im Französischen spiegelt sich das Changieren zwischen Passivität und Aktivität der Formulierung wieder. Mit der konfrontierten Gemeinschaft der französischen Fassung könnten die Debatten über Gemeinschaft gemeint sein, denen Nancy sich sowohl ausgesetzt sieht, aber denen er auch aktiv die Stirn bietet, während das Deutsche ebenfalls den passiven (etwas herausgefordertes ist etwas in Gefahr) als auch den aktiven (das Herausfordern kann sich auch darauf beziehen, dass Nancy die Gemeinschaft aktiv herausfordern will, beziehen) erlaubt. Blanchot habe deutlich gemacht, dass sich die Gemeinschaft, von der Nancy sprach, nicht sagen lässt, woraufhin Nancy in den achtziger Jahren entgegnet habe, dass eine solche Gemeinschaft zwar unbekennbar, aber nicht unsagbar sein müsse.115 Für Nancy schließlich ist die Gemeinschaft uns in ihren Differenzen (vor-)gegeben, und wir sind gemeinsam, obwohl wir unterschiedlich sind. 116 Einerseits ist also Gemeinschaft gegeben, andererseits zeigt er aber auch, dass das Gemeinsame nicht eine gegebene Sache ist. 117 Diese Gemeinschaft wird daher von Nancy wiederbelebt, als Vorgegebenes, welches allerdings neu begriffen wird.
111 Vgl. Nancy, Die herausgeforderte Gemeinschaft, 17, 37. 112 Ebd., 9. 113 Ebd., 12. 114 Vgl. Ebd., 13 f. z.B. 115 Vgl. Ebd., 29. 116 Vgl. Ebd., 28. 117 Vgl. Ebd., 44.
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Ich habe nun diese Debatte zusätzlich zur Debatte über Berührung gewählt, weil sie auf andere Art verdeutlicht, welche – wenn auch geringfügige – Distanz es zwischen Derrida, Nancy und Blanchot gibt. Derrida lässt sich als Opponent nicht nur deshalb setzen, weil ihm Gemeinschaften schon seit seiner Kindheit suspekt sind. Derrida reflektiert über biografische Gründe für diesen Rückzug in Sur Parole. Hierin betonte er, dass das Milieu seiner Kindheit nicht die jüdische Gemeinschaft war. »Auf diesen Moment ist zweifellos das Gefühl zu datieren, das Begehren nach Einsamkeit, des Rückzugs was jegliche Gemeinschaft angeht, das ist jegliche ›Nationalität‹ und das Gefühl des Misstrauens sogar gegenüber dieses Worts ›Gemeinschaft‹: sobald ich sehe, dass sich eine etwas zu natürliche, schützende oder verschmelzende Zugehörigkeit konstituiert, verschwinde ich…«118
Er habe nie zur »jüdischen Gemeinschaft«119 gehören wollen. In der jüdischen Schule habe er sich von der Isolierung der Gemeinschaft in sich ferngehalten, aber gleichzeitig sich verletztlich gegenüber dem Antisemitismus dieser Zeit gewusst.120 Die Frage der Zugehörigkeit wird generell in Zweifel gezogen. Auf die Frage hin, ob er sich als Nietzsches oder Gides Erbe sähe, antwortet er mit einem weder noch: »Es ist allgemein bekannt, aber ich muss sagen, dass ich vom kulturellen Standpunkt aus gesehen das Glück hatte, in Algerien geboren zu sein, in einer jüdischen Gemeinschaft von französischer Sprache, die durch alle möglichen Kriege führend und in der Tragödie alle möglichen Abstammungslinien [filiations] gekreuzt hat. In der Kultur, die die meine ist, werde ich nicht aufhören, meine Väter und meine Mütter zu zitieren. Das gibt mir auch viel Freiheit, denn wenn die Abstammung vielfältig [multiple] ist, spielt man immer den einen gegen den anderen [aus] oder den einen ohne den anderen und man kommt zurück. Um meinen bescheidenen Fall zu beenden; ich glaube, dass eine Abstammung immer vielfältig ist.«121 118 »De ce moment-là date sans doute le sentiment, le désir de solitude, de retrait par rapport à toute communauté, voire à toute ›nationalité‹, et le sentiment de méfiance à l’égard même de ce mot de ›communauté‹: dès que je vois se constituer une appartenance un peu trop naturelle, protectrice et fusionnelle, je disparais…« (SP Ebook, Pos. 132). 119 Ebd., Pos. 127. 120 Vgl. Ebd., 131 f. 121 »C’est assez commun, mais je dois dire que du point de vue culturel, j’ai eu la chance d’être né en Algérie, dans une communauté juive, de langue française, qui à
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Auch wenn Gemeinschaft als die Gemeinschaft ohne Gemeinschaft oder aber als die Gemeinschaft ohne Werk im Mit-sein bestimmt wird, so lässt sich damit der Derridasche Rückzug gegenüber dem Wort der Gemeinschaft weder in das eine noch in das andere Konzept einfügen. In der Politik der Freundschaft, die aimance als das Wort erschafft, was der Freundschaft für ihn am nächsten bezeichnet, sagt er: »Gäbe es folglich eine Politik dieses Liebens [aimance], so würde ihr Weg nicht länger über die Motive der Gemeinschaft, der Zugehörigkeit oder der Teilhabe verlaufen, mit welchen Vorzeichen man sie auch jeweils versehen mag. Bejaht, verneint oder neutralisiert, stets gingen diese gemeinschaftlichen, ›kommunitaristischen‹ oder ›kommunalen‹ Werte mit dem Risiko einher, den Bruder wiederkehren zu lassen. Vielleicht muß man sich dieses Risiko vor Augen führen, auf daß die Frage nach dem ›wer?‹ sich nicht mehr politisch zur Vernunft bringen, sich nicht länger durch das Schema des Gemeinsam-seins oder Mit-seins zur Ordnung rufen, sich nicht mehr als Frage der (individuellen, subjektiven, ethnischen, nationalen, staatlichen etc.) Identität stellen läßt.«122
Die Frage nach dem »Wer?« will Derrida nicht klären. Es ginge vielmehr darum, von einem »Schema des Gemeinsam-seins« Abstand zu nehmen, welches Nancy mit der Frage nach der Adressierung, aber auch Blanchot mit der Frage nach dem Bezug (wenn auch ohne Bezug) anstrebt. Gibt es dennoch im weitesten Sinne einen Derridaschen Ort, wo die Bezüge in einem positiven Sinn zusammenkommen?
AUSBLICK: DERRIDAS ORT DER FREUNDSCHAFT ALS ZERSTREUUNG OHNE HAUCH UND OHNE SAMMLUNG Ein leichter Umweg muss in Kauf genommen werden, um von Benjamin hin zu einer Vorstellung zu kommen, wie sich bei Derrida menschliche Bezüge denken ließen. Die Übersetzung von Benjamins Trauerspiels sollte von den Heraus-
travers toutes sortes de guerres et dans la tragédie, a croisé toutes sortes de filiations. Dans la culture qui est la mienne je n’en finirais pas de citer mes pères et mes mères. Cela me donne aussi beaucoup de liberté, parce que quand la filiation est multiple, on joue l’un contre l’autre ou l’un sans l’autre et on revient. Pour quitter mon modeste cas, je crois qu’une filiation est toujours multiple« (Ebd., Pos. 655) 122 PdF, 399.
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gebern und der Herausgeberin – Jacques Derrida, Sarah Kofman, Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy – der Reihe Philosophie en effet123 publiziert werden, was allerdings aufgrund von Übersetzungsproblemen scheiterte. Walter Benjamin plädiert in jenem Trauerspiel für die Philosophie als Erinnerung. »Sache des Philosophen ist es, den symbolischen Charakter des Wortes, in welchem die Idee zur Selbstverständigung kommt, die das Gegenteil aller nach außen gerichteten Mitteilung ist, durch Darstellung in seinen Primat wieder einzusetzen. Dies kann, da die Philosophie offenbarend zu reden sich nicht anmaßen darf, durch ein aufs Urvernehmen allererst zurückgehendes Erinnern einzig geschehen.«124
Was Derrida und Benjamin verbindet, ist eine bestimmte Erfahrung der historischen Zeit. Der Bezug auf diese historische Zeit ist in Derridas Vokabular stets sehr deutlich. Deshalb scheint es nicht verwunderlich, wenn Derrida als den Ort der Zusammenkunft, wo es die Gemeinschaft nur dann gibt, wenn man dazu gemacht wird, als Synagoge bezeichnet. Was ist der Ort, an dem sich alles sammelt, um nicht lange zu bleiben? Was ist ein Ort, an dem es Zusammenkunft gibt, die sich nicht als Familie, aber doch als eine ›Gruppe‹ betrachtet, die einen gemeinsamen Ort findet, an dem sie zusammenkommt? Diesen Ort hat Derrida in Penser à Strasbourg Synagoge genannt. Synagoge spielt hier auf das jüdische Gotteshaus an, aber es reduziert sich nicht darauf. Dessen erster Sinn sei die »Sammlung, der genannte / gesagte Ort [lieu dit], der sagt oder diktiert, dass man zusammen [ensemble] findet.« 125 Die Synagoge könne auch als Ort gedacht werden, wo Menschen wie in einem Parlament zusammenkommen.126 Derrida betont in diesem Kontext, dass Heidegger vom Ding, an dem man sich sammelt, schreibe.127 Auch ist in Penser à Strasbourg die Postkarte abgebildet, in der Heidegger an Braun schreibt, er freue sich, Derrida zu treffen.128 In einem Brief schrieb Lacoue-Labarthe im Oktober 1973 an Derrida
123 Vgl. DN 33, o.O., 23.07.1981 sowie DN 19, o.O., 12.05.1981, worin es um die Übersetzung des Benjamin-Texts geht. 124 So Benjamin in »Erkenntniskritische Vorrede«, in: Ders., Ursprung des deutschen Trauerspiels [online]. 125 »le rassemblement, le lieu dit qui dit ou dicte de se rendre ensemble«, Derrida et al., Penser à Strasbourg, 34. 126 Vgl. Ebd., 36f. 127 Vgl. Ebd., 36. 128 Vgl. Ebd., 30.
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»nur ein Wort, dass ich an den Brief von Nancy anhänge […] um Ihnen dann zu sagen, dass Braun einen Brief von Frau Heidegger erhalten hat, durch den Heidegger darum bittet ihn zu entschuldigen: er ist ermüdet, er hätte gern, dass wir das Treffen auf etwas später verlegen. Angesichts des schweren Drucks Ihres Stundenplans dieses Trimesters glaube ich, dass es keine schlechte Sache ist. Aber da Heidegger daran zu liegen scheint, wird dieses Treffen bestimmt schließlich stattfinden.«129
Aber ein Treffen zwischen Derrida und Heidegger hat schließlich nicht stattgefunden. Lesen wir dies als Figur für die Differenzen der beiden im Denken. Denn Derridas Synagoge ist tatsächlich nur scheinbar mit Heideggers Sammlung verwandt. Der Ort, wo die Dinge zusammen kommen, wird bei Heidegger als logos gefasst.130 Ohne auf sein Verständnis von logos an dieser Stelle weiter eingehen zu können, möchte ich hier darauf hinweisen, dass sich die Verständnisse von Lesen zwischen Derrida und Heidegger unterscheiden. In einem sehr kurzen Text von 1954 antwortet Heidegger auf die Frage Was ist Lesen?, dass das Lesen eine sammelnde Tätigkeit sei.131 Derrida und Heidegger unterscheiden sich in diesem Punkt, was die Frage des Lesens angeht. Das Lesen sammle auf »das Geschriebene, auf das in der Schrift Gesagte. Das eigentliche Lesen ist die Sammlung auf das, was ohne unser Wissen einst schon unser Wesen in den Anspruch genommen hat, mögen wir dabei ihm entsprechen oder versagen.«132 In einem Brief von Heidegger an Staiger schrieb er auch am 28.12.1950, dass Lesen nichts anderes als sammeln sei, »sich versammeln in der Sammlung auf das Ungespro-
129 Wie man weiß hat dieses Treffen dann doch nie stattgefunden…»Cher ami, juste un mot que je joins à la lettre de Nancy. […] Pour vous dire ensuite que Braun a reçu de Mme Heidegger une lettre par laquelle Heidegger demande qu’on l’excuse: il est fatigué, il voudrait que l’on prenne rendez-vous pour un peu plus tard. Etant donné la lourdeur de votre emploi du temps ce trimestre, je crois que ce n’est peut-être pas une mauvaise chose. Mais puisque Heidegger semble y tenir, cette rencontre finira bien par avoir lieu. […] PLacoue-Labarthe« (Brief Lacoue-Labarthe an Derrida, 07.10.1973, angehängt an einen Brief von Nancy). 130 Schödlbauer weist auf den trennenden Aspekt zwischen Derrida und Heidegger bezüglich des logos, da Heideggers logos zur Sammlung führe. Vgl. Schödlbauer, Psyche, Logos, Lesezirkel: ein Gespräch selbdritt mit Martin Heidegger, 33. 131 Vgl. Heidegger, »Was heißt Lesen?« in: Ders.: GA I 13, Aus der Erfahrung des Denkens, 111. 132 Ebd.
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chene im Gesprochenen.«133 Derrida und Heidegger unterscheiden sich also in Bezug auf das Lesen, soll heißen, in Bezug auf den Aspekt der Sammlung. Hier ist noch nicht impliziert, dass das Lesen auch etwas Schriftliches sein kann. Derrida sieht davon ab, dass das Lesen verschiedener Erfahrungen und Analysen zu einer Sammlung werden könnte, es sei denn es wäre eine Sammlung ohne Sammlung. In seinem Text über Straßburg wird daher mit dem Ausdruck »Synagoge ohne Synagoge« die positive Aussage über Synagoge zurückgenommen und die Bedeutung somit erneut aufgeschoben; »Also natürlich hat es etwas gegeben, was uns hier versammelt hatte und was ich hier nicht zu definieren wüsste, besonders in kurzer Zeit. Es wären lange, tiefgründige und vorsichtige historisch-politische Analysen dafür nötig. Später werden andere vielleicht Interesse daran finden, es ernsthaft zu tun. Dies wird nicht einfach sein. Aber etwas hat uns unsere Synagoge ohne Synagoge bevorzugen lassen, ich traue mich nicht zu sagen, unsere ›Gemeinschaft ohne Gemeinschaft‹, das ich, mangels Besserem, eine respektvolle Bedeutung nicht nur des Rechts auf Philosophie, sondern der Gerechtigkeit [justice] im Denken, was heißen soll, auch der Redlichkeit in der Schrift, der Ethik, des Rechts, und der Politik, taufen würde.«134
Wenn es für Derrida einen Ort gibt, an dem er zuhause war, dann war dies nicht sein Ort: »Wenn ich an das Wesentliche denke, was in meinem Leben gezählt hat, war Straßburg ein Unterschlupf [ville-refuge] für den algerischen Exilanten, der ich bin und der sich nie wirklich zuhause bei sich in Paris gefühlt hat, besonders aufgrund der universitären Institutionen, der philosophischen, kulturellen oder durch die Medien im Allgemeinen.«135
133 Heidegger, »Zu einem Vers von Mörike. Ein Briefwechsel mit Martin Heidegger von Emil Staiger«. in: Ders.: GAI 13, Aus der Erfahrung des Denkens, 107. 134 »Alors, bien sûr, quelque chose a bien dû nous rassembler que je ne saurais définir ici, surtout en peu de temps. Il y faudrait de longues, profondes et prudentes analyses historico-philosophiques. Plus tard, d’autres peut-être trouveront un interêt à le faire sérieusement. Ce ne sera pas facile. Mais quelque chose a dû favoriser notre synagogue sans synagogue, je n’ose pas dire notre ›communauté sans communauté‹, que je surnommerai, faute de mieux, un sens respectueux non seulement du droit à la philosophie mais de la justice dans la pensée, c’est-à-dire aussi la probité dans l’écriture, l’éthique, le droit et la politique« (Derrida, Penser à Strasbourg, 48). 135 Paris: »Si je pense à l’essentiel de ce qui compte dans ma vie, Strasbourg aura été une ville-refuge pour l’exilé algérien que je suis et qui ne s’est jamais bien senti chez
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Wichtig erscheint mir hier zu sehen, dass Derrida einen Zusammenhang zieht zwischen der Selbsteinschätzung als Exilant und dem Eindruck, er habe sich nie »bei sich« zuhause gefühlt. Das »Wesentliche« hingegen sei ein Ort gewesen, an dem er nicht gelebt hatte, sondern nur mit Freunden, wie Philippe LacoueLabarthe oder Jean-Luc Nancy, war. Hier wieder der Hinweis darauf, dass Berührung bei Derrida eher in Form eines Zusammenkommens am Rand stattfindet, und auch nur kurz wie das kurzzeitige Zusammenkommen zum Gebet (nur ohne zu beten) oder das Grüßen der Nachbarn in der Nachbarschaft, aber in einer Nachbarschaft des Denkens. Wenn es aber für diese Nachbarschaft des Denkens doch einen Ort gegeben hat, dann war das ein Ort außerhalb des Heims, außerhalb des Innens. Gleichzeitig war Straßburg ein Ort, den Derrida eher auf der Durchreise war. Es scheint darum zu gehen, dass ein Ort, der nicht primär der eigene ist, die Bewegung des Denkens erlaubt: »das, was meine Liebe für diese Stadt zu einem der Segen meines Lebens gemacht hat, war zunächst und immer noch, zwischen uns, zwischen all denen [männlich und weiblich, nt], die ich gerade genannt habe, die unnachgiebige Anordnung des Denkens.«136
Denken wir wieder an Derridas Text über Nancy, so gibt es darin einen Hinweis, wie man sich doch berühren oder zusammen kommen könnte, nämlich lesend: »Mein einziger Ehrgeiz: einladen zu lesen, unabweislich, direkt, ohne Zwischenschaltung. Ich werde mich damit begnügen, da wo diese Bahn Gefahr läuft, nicht evident genug zu sein, der metamorphischen Verschiebung des Berührens nachzuspüren [suivre à la trace].«137
Es gibt keine Zwischenschaltung, es gibt auch keine Berührung. Stattdessen gibt es eine Verschiebung der Bedeutung, der gefolgt werden kann, und wieder gefolgt, und wieder gefolgt. Lesen also ist hier wie bei Heidegger ein wichtiger Ort, nur dass es bei Derrida kein Ort der Sammlung, sondern in erster Linie der lui à Paris, surtout pour ce qui est des institutions universitaires, philosophiques, culturelles ou médiatiques en général« (ebd., 42). 136 »ce qui a fait de mon amour pour cette ville une des bénédictions de ma vie, ce fut d’abord et toujours, entre nous, entre tous ceux et toutes celles que je viens de nommer, l’injonction intraitable de la pensée.« (Derrida, »Le lieu dit: Strasbourg«, in: Ders. et al.: Penser à Strasbourg, 33). Unter anderem nennt er Lacoue-Labarthe und Nancy. 137 Derrida, Berühren, Jean-Luc Nancy, 79.
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Streuung ist. Dennoch berührt dieser Ort in der Ferne, der das Lesen sein kann, stärker als die Berührung eines Körpers. Derrida beschreibt dieses Lesen als »direkt« und »ohne Zwischenschaltung«. Offenbar scheint es gerade im Lesen möglich zu sein, dass einander zu berühren: »Ja, berühren, manchmal denke ich, dass das Denken berührt, noch vor dem ›Sehen‹ oder ›Hören‹, oder dass sehen und hören ist, auf Distanz zu berühren.«138 Auf eine Frage von John D. Caputo antwortete Derrida: »Your last question was, ›how do we read in the dark?‹, referring to what I said in Dublin. How could we read, properly speaking, read, if not in the dark? If we read, if reading was simply seeing, we would not read. When I say we read in the dark, I do not mean that we have to read without seeing anything, but that the essential feature of reading implies some darkness. That is what distinguishes reading from seeing, from perception. You can transfer this law to the relationship between knowledge and faith, and to the question of criteria that you were addressing. If I were simply perceiving a text, I would not read it.«139
Für Derrida führt die Wahrnehmung eines Texts bei der Lektüre über die Wahrnehmung hinaus, hin zur Berührung, die selbst wiederum über sich hinaus führt.
138 »Oui, toucher, parfois je pense que la pensée, avant de ›voir‹ ou d’›entendre‹ touche, ou que voir et entendre c’est toucher à distance« (UCI, Jacques Derrida Papers, MSC01 Box 91, Folder 1 »Télépathie«, 10). 139 UCI Jacques Derrida Papers, MS-C01, Box 121, Folder 3 »Religion and postmodernism«, 7.
Ich weiß, dass du nicht die Zeit hast auf den letzten Brief zu ›antworten‹ – und das ist auch absolut nicht notwendig. Aber was notwendig ist, ist, dass ich um deine Freundschaft weiß und dass, was auch immer unsere Differenz ist, sie niemals in die Indifferenz abstürzt. Drei Zeilen reichen dafür aus. Je sais que tu n’as pas le temps de ›répondre‹ à ma dernière lettre – et ce n’est pas non plus absolument nécessaire. Mais ce qui est nécessaire est que je sache ton amitié, et que, quelle que soit notre différence, elle ne retombe jamais à l’indifférence. Trois lignes y suffisent. GRD 29, Toulouse, 27.04.1972.
Freundschaft als Ko-respondenz Derrida schreibt mit Granel
Wenn es also nur eine Minimalvorstellung von Gemeinschaft bei Derrida gibt, in welchem Verhältnis stehen die Freunde zueinander? Wie gehen Menschen Verhältnisse ein? Wie lässt sich Freundschaft denken, da sie außerhalb der Brüderlichkeit und jenseits des Väterlichen vonstatten gehen soll?
DAS RISIKO, KEINEN BRIEF MEHR ZU ERHALTEN In Zusammenhang mit der möglichen Antwort auf einen Brief steht die Frage der Reziprozität in der Freundschaft. Schauen wir auf die Lateinische Herkunft von reciprocus, finden wir »auf dem selben Wege zurückgehend, -kehrend, -tretend«. 1 Kann Freundschaft reziprok sein? Kann sie auf dem selben Wege zurück führen? Eine reziproke Freundschaft wäre dieser Definition folgend eine, die nicht nur erwidert wird, sondern auch auf dem selben Wege erwidert wird. Je mehr man über die Frage reziproker menschlicher Beziehungen nachdenkt, desto spannungsreicher wird aber diese Auffassung. In Thermostatsystemen kann man sich leicht vorstellen, wie durch die hineinlaufende Luft zusammen mit einem bestimmten Apparat, der Messungen ausführt, ein gewisses Gleichgewicht erzielt wird. Wie aber ließe sich das auf das menschliche Leben übertragen? Hier gibt es neben dem möglichen Ziel eines Ausgleichs der Werte noch vielfältige andere Motivationen und Zwecke menschlichen Handelns. Auch lässt sich darüber streiten, was Reziprozität oder Gegenseitigkeit für eine Freundschaft bedeuten kann. In minimaler Konsequenz könnte es heißen, dass es auf Akte der Freundschaft immer eine Antwort geben muss. In maximaler Konsequenz könnte auf dem selben Wege die Notwendigkeit bezeichnen, eine Gleichwertigkeit des in der Freundschaft Gegebenen (Gaben) herzustellen. Am anderen Ende könnte 1
Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch [online].
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man sich dann Verhältnisse der Abhängigkeit, des Eigennutzes oder der nicht erwiderten Liebe vorstellen. In letzteren Verhältnissen wird mehr gegeben als erhalten wird oder umgekehrt, nichts gegeben und nur genommen. In Theorien der Freundschaft, einige davon wurden hier gestreift, wird offenbar von einem notwendigen Ausgleich ausgegangen. Bei Schmitt stabilisiert der Gegensatz von Freund und Feind das Politische. Ohne ihn würden politische Systeme zerfallen. Ihr ›Funktionieren‹ werde dadurch gewährleistet, dass ein Feind definiert wird. Freundschaft wird hier zur Solidarität. In Bürgerkriegen oder da, wo Freund und Feind schwer zuzuordnen sind, wird der Staat gefährdet. Das erscheint Schmitt problematisch. Wenn Schmitt einen Ausgleich anstrebt, so schwebt ihm eine ausreichende Treue der Bürger zu ihrem System vor, das sich in Abgrenzung gegenüber dem Feind definiert. Auf dem Wege das zurückgeben, was sie erhalten, hieße hier, Treue gegenüber den Freunden und Verbündeten und Solidarität im Kampf, wogegen man Bürgerschaft erhält. Bei Aristoteles wird dafür plädiert, das Wohlwollen einzugrenzen, sodass niemand zu viel gibt oder zu viel empfängt. Auch dies zielt auf einen Ausgleich, könnte man denken. Und damit ist die Frage noch nicht gestellt, ob es gut oder richtig wäre, Reziprozität in der Freundschaft zu fordern, ob darüber hinaus Gleichwertigkeit oder Äquivalenz gut oder wünschenswert wäre, so wie es bei Aristoteles an manchen Textstellen scheint. – Man kann ›Reziprozität als Erwartungshaltung‹ in einer Freundschaft problematisch finden und gleichzeitig scheint es mir geradezu unmöglich, dass es eine Freundschaft, denkt man an die Brieffreundschaft, ohne diese Notwendigkeit gibt. Ein Briefwechsel scheint undenkbar ohne die Antwort zumindest auf ähnlichem Wege, handelte es sich nicht um eine Flaschenpost, oder um einen jener gespenstischen Briefe, die die Post zum Beispiel in der Briefermittlungszentrale in Marburg, im Archiv, oder in jenen Zentren für Adressen, die es nicht mehr gibt, aufbewahrt.2 Im Folgenden wird es genauer um das notwendige Gleichgewicht einer brieflich erlebten Freundschaft gehen und das aus der Perspektive von einem Freund. ›Auf gleichem Wege‹ antworten wäre dann die Möglichkeit, auf einen Brief mit einem weiteren Brief zu antworten. Den Zusammenhang zwischen Freundschaft und Antwort zu ziehen, kann auf den ersten Blick banal erscheinen, wenn wir davon ausgehen, dass all unser Handeln in intersubjektiven Zusammenhängen geschieht. In den hier gelesenen Briefen aber ist die Notwendigkeit der Antwort etwas, auf das sich viele Briefeschreiber wiederholt beziehen. So wurde die Antwort mal für unmöglich gehalten oder ein anderes Mal herbeigewünscht oder
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Die Mitarbeitenden unterliegen der Schweigepflicht, dürfen aber die Briefe öffnen, um Anhaltspunkte auf die Adressaten oder Sender erhalten zu können.
Freundschaft als Ko-respondenz
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aber sich für die aufgeschobene Antwort entschuldigt.3 Im Folgenden wird also die These zur Diskussion gestellt, dass Freundschaft darin besteht, auf den Brief eines Freunds zu antworten. Zunächst wirft Derrida in Bezug auf das Antworten eine Reihe von Fragen auf: »Frage, also: Was tun wir, wenn wir antworten – auf? Auf was, vor allem? Auf wen? Oder auf welche Sache? Auf eine Frage, eben? Auf einen Anruf? Auf eine Vernehmung, im Übrigen, und die strenge und gewalttätige verhörende Vernehmung? Was es auch immer sei vom anderen wissen wollen, und in hyperbolischer Weise sein Geheimnis, ist das nicht immer die Gewalt selbst? Mit welchem Recht geben wir vor zu wissen oder vom anderen irgendwas zu erfahren, sei es das Geheimnis der Liebe selbst, für das man unlängst noch, im Französischen, gestehen für erklären, sagte? Antworten wir auf eine Anfrage? Auf eine Einladung? Auf einen Antrag oder einen Befehl? Auf eine Pflicht?«4
In diesen Fragen liegt bereits eine Kritik an der Möglichkeit der ›Antwort‹, die mit einer Gewalt in Verbindung gesetzt wird. Schauen wir uns nun die Briefe zwischen Granel und Derrida bezüglich dieser Fragen an. Gérard Granel korrespondierte mit Derrida ab 1967.5 Granel starb nur vier Jahre vor Derrida. 3
Dass auch implizite Bedingungen (der Gastfreundschaft) Bedingungen sind, hat Pascal Delhom aufgewiesen (vgl. Delhom, »Über die Bedingungen einer bedingungslosen Gastlichkeit«).
4
»Alors, question: que faisons-nous quand nous répondons – à? A quoi, d’abord? A quelqu’un? ou à quelque chose? A une question, justement? A un appel? A une interrogation ou à un interrogatoire? A partir de quel moment la question devient-elle interrogation, d’ailleurs, et l’interrogation interrogatoire inquisiteur et violent? Vouloir savoir quoi que ce soit de l’autre, et hyperboliquement son secret, n’est-ce pas toujours la violence même? De quel droit prétendre savoir ou apprendre de l’autre quoi que ce soit, fût-ce secret de l’amour même, qu’on disait naguère, en français, avouer pour déclarer? Répondons-nous à une demande? A une invitation? A une requête ou à un ordre? A une obligation?« (UCI Jacques Derrida Papers, MS-C01 Box 117, Folder 7 »1991–1992 ›Répondre du sécret‹ séance 3–4«).
5
Die im gleichen Jahr geborenen Männer kannten sich aus dem Lycée Louis-le-Grand. In den frühen fünfziger Jahren hätten sie sich aber schon zum ersten Mal bei den répétitions gesehen (Peeters, Derrida, 58). Peeters schreibt, dass die Korrespondenz zwischen Derrida und Granel ab 1967 beginnt. Derrida hatte laut Peeters eine etwas paternale Beziehung zu Granel, der ihn einschüchterte und faszinierte (ebd., 97). Granel war der erste, der in die ENS aufgenommen wurde in seinem Jahrgang, und ohne Wiederholung, auch der erste bei der agrégation, schreibt Michel Deguy, S. 1, Gerard Granel, enseignant, traducteur, penseur et écrivain, site Granel, [online]. Granel war
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Am 20. Oktober 1967 schreibt Granel Derrida in einem Brief: »Ich bitte dich daher um Gnade! Soll heißen, um das Recht eine Art ›permanenter Antwort‹ vorzubereiten, deren ›Stücke‹ ich dir über das Jahr hin senden werde«.6 Damit teilt Granel das Problem des Antwortens in Stücke, als sei es für einen Brief zu viel und für einen Menschen ein zu großes Projekt, auf Derridas Brief zu antworten und hier im Besonderen, da auf die Frage nach dem Ort bei Heidegger geantwortet werden soll.7 Die Antwort könnte mehr als nur einige Seiten Papier beanspruchen.8 Deshalb wird hier vorgeschlagen, die Antwort zu zerteilen und das Thema gedanklich über mehrere Briefe und längere Zeit hinweg zu verfolgen. In der vorliegenden Arbeit wurde bereits die Frage gestellt, wie lange und wie viel Distanz es in der brieflichen Freundschaft geben darf, um auf eine Antwort zu warten. Wie viel Gabe muss es geben und wie wenig Reziprozität darf es geben, damit eine Freundschaft dennoch möglich ist. Wie viel Distanz darf eine Freundschaft haben, damit die unendliche Distanz sie nicht darin hindert, eine zu sein? Kann die alltägliche Distanz nicht gerade eine Gefahr für die Freundschaft sein und sie unmöglich machen? Granel gibt am 21. Juli 1970 eine recht genaue Antwort auf die Frage ihrer partikularen Distanz in einem Brief an Derrida: »Es war also einfach ein Handzeichen an der Jahresschwelle. Weil je mehr es geht, desto mehr ›entfernen‹ wir uns und ›nähern‹ uns wieder ›an‹ durch das Driften und Treiben der uns eigenen Arbeit, desto mehr fühle ich – durch all das, und darüber hinaus – dass meine Notwendigkeit, um deine Freundschaft zu wissen, steigt und mir rätselhafterweise hilft.«9
Das Arbeiten scheint hierin sowohl Annäherung als auch Distanznahme zu bedeuten, vor allem wenn an gemeinsamen Themen gearbeitet wird. Außerdem auch Schüler von Jean Hyppolite und von Althusser und Beaufret (vgl. Vaysse, Gérard Granel). 6
»Bref, je suis trop pris pour pouvoir débrouiller le fil d’une question aussi difficile que celle du ›lieu‹ de Heidegger (et quelques autres questions annexes, que contient aussi ta lettre, et dont chacune est un monde!). Je te demande donc grâce! C.à.d. le droit de préparer une sorte de ›réponse permanente‹, dont je t’enverrai les ›morceaux‹ au long de l’année« (GRD 11, Toulouse, 20.10.1967).
7
Vgl. Ebd.
8
Die Briefe von Granel an Derrida sind zum Teil über 20 Seiten lang.
9
»C’était donc simplement un signe de la main au seuil de l’année. Car plus ça va, plus nous nous ›éloignons‹ et nous ›rapprochons‹ par la dérive et le remous de notre travail propre, plus je sens – à travers tout cela, et en-dehors – que le besoin que j’ai de savoir ton amitié s’accroît et, obscurément, m’aide« (GRD 25, St Sauveur, 21.10.1970).
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gibt Granel in diesem Brief ein »Handzeichen«. Dieses Handzeichen verbindet sich auf der anderen Seite mit der Notwendigkeit, um die Freundschaft des anderen zu wissen. Als Handzeichen kann auch dieser Brief gelten, den er an Derrida schickt. Granel schreibt 1989, als er sich selbst zwischen verschiedenen Arbeiten befindet, wie »notwendig« es ihm sei, dass die »Stille nicht zu lange zwischen uns anhält, und wenn sie nur durch einen geschwind eingeworfenen ›Zettel‹ durchlöchert würde«.10 Wenn es eine Antwort auf einen Brief oder einen anderen Text gibt – was durch die Anführungszeichen im Folgenden in Frage gestellt wird – kann es eine telefonische, briefliche oder persönliche sein. Brieflich gibt es jedoch nur eine begrenzte Anzahl an Seiten, die man beschreiben kann: »Ich kann diesen Brief nicht beenden. Du weißt, dass er sich fortsetzen wird. Zwischen uns; und öffentlich, wenn ich noch die Kraft habe zu arbeiten. Und ich will dich nicht auf meine ›Antwort‹ warten lassen. Noch auf das Zeichen meiner Dankbarkeit und meiner Freundschaft.«11
Derrida schrieb dies schon in einem vermutlich frühen Brief vor 1971. Es geht ihm also nicht darum, gar nicht mehr zu antworten. Einige Zeit später wird das mögliche Ausbleiben der Antwort direkter eingefordert. Das freundschaftliche Zeichen, notwendige Zeichen des Briefs erfordert Zeit, ihn zu schreiben. Am 27. April 1972 schreibt Granel: »Ich weiß, dass du nicht die Zeit hast auf den letzten Brief zu ›antworten‹ – und das ist auch absolut nicht notwendig. Aber was notwendig ist, ist, dass ich um deine Freundschaft
10 »Toulouse, le 22.2.68 Cher vieux, Encore moi. J’ai stupidement besoin que le silence ne dure pas trop entre nous, fût-il même troué seulement par un ›billet‹ jeté à la hâte (car nous sommes tous les deux ›harcelés‹ semblablement). Sans doute est-ce l’état de nudité où je me sens, tant que les ›grands‹ textes ne sont pas sortis: la Thèse, l’autre thèse, l’étude sur Marx, etc… qui me donne ce sentiment de fragilité! Je voudrais aussi être sûr que la longue lettre que je t’ai envoyée sur Foucault (pris purement comme exemple du philosopher actuel) ne t’aura pas inquiété ou irrité…« (GRD 14, Toulouse, 22.02.1968). 11 »Je ne peux pas finir cette lettre. Tu sais qu’elle se poursuivra. Entre nous; et publiquement, si j’ai encore la force de travailler (x, mit Hand]. Et je ne veux pas te laisser attendre ma ›réponse‹. Ni le signe de ma gratitude et de mon amitié« (DGR 3.3., o.O., 04.02. ohne Jahr, muss vor 1971 sein).
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weiß und dass, was auch immer unsere Differenz ist, sie niemals in die Indifferenz abstürzt. Drei Zeilen reichen dafür aus.«12
Hierin ersucht Granel brieflich um einen Brief, der bestätigen würde, dass es in der Freundschaft nicht zu viel Distanz gibt. Er wartet auf Derridas Antwort und darüber hinaus auf etwas, das ihm vermittelt, dass er um seine Freundschaft wisse. Der Brief, das wäre das Zeichen, der Nicht-Indifferenz, er würde die Stille zwischen ihnen durchbrechen und Granel beruhigen. Wenngleich nicht die reziproke Gabe eines langen Briefs gefordert wird, der dem seinen ähnlich wäre, so geht es doch um die Minimalforderung der Reziprozität: Es geht um eine Antwort, eine Rückmeldung, ohne die die Freundschaft nicht auskommt. Es ist ihm notwendig, dass die Freundschaft nicht zur Gleichgültigkeit wird. Er markiert hiermit eine Grenze seiner Freundschaft zu Derrida, eine Grenze der Freundschaft im Allgemeinen, indem er eine Verbindlichkeit einfordert. Offenbar wird die ausbleibende Antwort als schmerzhaft empfunden und so erbeten, da die Erwartung einer Rückmeldung bereits durch das Abschicken des eigenen Briefs entsteht, wie auch in vorigen Kapiteln bereits argumentiert wurde. Aber da auch Granel in einem der vorigen Briefe die Unmöglichkeit einer Antwort thematisierte und von seinen Schwierigkeiten des Antwortens sprach, scheint das Absenden eines Briefs hier nicht lediglich Verbindlichkeit beim Gegenüber entstehen lassen zu wollen, sondern darüber hinaus an eine freundschaftliche Pflicht appelliert, einander »Drei Zeilen« wert zu sein. In der Freundschaft soll es hier neben einer Sympathie für das Wirken des anderen das Zeichen einer Versicherung geben, die der Brief darstellt. Da die Briefe von Derrida hier nicht vorliegen lässt sich nicht sagen, wie lange er hatte warten müssen. In einem zu Beginn diesen Kapitels zitierten letzten Briefabschnitts ging es um Granels Bezeichnung des eigenen Briefs als »Handzeichen«. Kommen wir an dieser Stelle darauf zurück. Wesentlich später, nach einer längeren Phase der Distanz – zwischen 1984 und 1987 ist die Anzahl der Briefe von Granel gering – 1986, schrieb Granel an Derrida: »Und an dich auch, nicht nur damit du weißt, was los ist, sondern auch als ein Zeichen (*Wink) von einer extremen Einsamkeit zu einer anderen.«13 Das Zeichen der Mitteilung überbrückt die Distanz und 12 »Je sais que tu n’as pas le temps de ›répondre‹ à ma dernière lettre – et ce n’est pas non plus absolument nécessaire. Mais ce qui est nécessaire est que je sache ton amitié, et que, quelle que soit notre différence, elle ne retombe jamais à l’indifférence. Trois lignes y suffisent.« (GRD 29, 27.04.1972). 13 »Et à toi aussi, non seulement pour que tu saches tout ce qui se fait, mais encore comme un signe (Wink) d’une extrême solitude à une autre« (GRD 44, Bramepan, 22.11.1986).
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ist nicht nur redselig oder unterhalten, sondern lässt auch die Einsamkeiten in Kontakt miteinander treten. Granel beschreibt sich trotz des brieflichen Kontakts als Einsamer, der auf die Möglichkeit eines Winks gerichtet ist. Auch wenn das deutsche Wort Wink im Französischen mitunter gebräuchlich ist, möchte ich hier auf eine weitere Möglichkeit hinweisen, diesen Brief zu interpretieren. Auch bei Heidegger gibt es den Begriff des Winks. In ihren Briefen befassten sich Granel und Derrida ausführlich mit Heidegger und so ist es nicht unmöglich, dass Granel sich, als er das deutsche Wort Wink verwendete, auf Heidegger bezog. Nur ein Jahr später veröffentlicht Derrida sein Buch Vom Geist. Ziehen wir einige Textstellen Heideggers über den Wink hinzu. Laut Heideggers Unterwegs zur Sprache geben Worte Winke »in das Wesen der Sprache«.14 Ein Wink ist bei Heidegger nicht zwischen dem Du und dem Ich angesiedelt, sondern hat die Funktion, wie ein Wort zum »Wesen der Sprache« zu deuten. Es geht Heidegger darum, sich diesem Wink fügen zu können. Im Gespräch mit einem Japaner schreibt er, als Fragender: »F [Heideggers Kürzel für den »Fragenden«, nt] Um diesem Wink uns fügen zu können, müßten wir erfahrener sein im Wesen der Sprache.« 15 »Winke und Gebärden« kommen Heidegger folgend aus einem »ganz anderen Wesensraum«16 als der Metaphysik. Durch Erfahrung können wir vom Wink affiziert werden. Interessant ist diese Referenz zu Heidegger vielleicht deshalb, weil hier das Gegenteil getan wird, als sich vom Wink affizieren zu lassen. Im zitierten Brief von Granel an Derrida wird das Zeichen auf den eigenen brieflichen Gruß bezogen und so ein deutlicher Wink von einem zum anderen gesetzt. Dennoch gibt es eine Referenz auf etwas Drittes, auf einen anderen Wesensraum, nämlich den der angenommenen geteilten Einsamkeit. Auch war der Brief als Handzeichen benannt worden. Granels Brief betont diese dem Briefeschreiber eigene Einsamkeit, aus der sich Zeichen absenden lassen. Dennoch deutet das Zusammenfallen von ›Wink‹ und ›extremer Einsamkeit‹ im gleichen Satz darauf hin, dass er es zu bedauern scheint, dass sich nicht mehr übermitteln lässt, als nur ein Wink. Es ist ein sehr kleines Zeichen, das sich senden lässt, aber es ist aussagekräftig. Es sagt auch viel über das Gefühl aus, sich von den fernen Freunden abgeschnitten zu fühlen, weil sie an einem anderen Ort sind. Auch ein Brief kann diese Distanz nicht ganz überbrücken. Von 1987 liegen zwei Briefe von Granel an Derrida dieser Arbeit vor. Im ersten Brief bedankt er sich für die Zusendung von De l’esprit, das Derrida 1988 publizieren wird (in dem es um das Verhältnis von Heidegger und ›Geist‹ geht): »Ich erfahre seit einigen Monaten – ich weiß nicht wie – dass deine Freundschaft 14 Heidegger, Unterwegs zur Sprache, 114. 15 Ebd., 146. 16 Ebd., 117.
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die solideste Stütze für Mut ist, den ich täglich brauche, um ›weiterzumachen‹ – (Aber: De nobis ipsis silemus – wie Kant sagte!)«17 So wie die Antwort in die Form zahlreicher Briefe zerstückelt werden konnte, wird sie von Granel hier als eine alltägliche Stütze benannt. Sie gibt ihm Mut als auch eine – zukünftige – Perspektive, um »weiterzumachen«. Die Erfahrung der Freundschaft überbrückt vielleicht nicht die Stille zwischen zwei Einsamkeiten, aber sie hilft im Alltag, um durchzuhalten, »weiterzumachen«. Was die Freundschaft hier gibt, ist Zeit. Granel zeugt davon, dass es die Möglichkeit des Weiterlebens vor allem durch die Perspektiven, die die Freundschaft einem eröffnen können, gibt. Darüber hinaus könnte man sagen, dass Granel gleichfalls Zeit an Derrida gibt, indem er sich zurück hält und nicht alles sagt, aber mit dem Zitat Kants ein Zeichen gibt, dass noch mehr gesagt werden könnte – Von uns selbst schweigen wir. Hierin berührt ist die schwierige Frage, die auch die vorliegende Arbeit durchzieht, wie man sein Gefühl in der Freundschaft ausdrücken kann, ohne die Freundschaft zu gefährden. Denn es geht ja um einen Ausgleich, nicht zu viel und nicht zu wenig zu sagen und zu zeigen. Aber bleiben wir noch einen Moment bei der ›Antwort‹. Granel ›bedankt‹ sich mit dem folgenden Brief von 1987 für Derridas Buchsendungen von Psyché und De l’esprit mit der folgenden Antwort:18 »Man antwortet nicht auf ein Buch wie dieses, es sei denn, wenn man ein anderes schreibt. Außerdem kommt hier ›antworten‹, für mich, vom ›répons‹ (der andere Teil des Gesangs, die Wiederbelebung [relance] desselben Gesangs), weil ich hierin nichts finde, das zum Gegenschlag [›riposte‹], zur Replik [›réplique‹] ausruft und schließlich finde ich in mir keine ›Verantwortung‹ [responsabilité] – eine Fähigkeit auf das und von dem her zu antworten, was in Frage gestellt ist – abseits der deinen. Das, was ich also nur gemacht habe […], ist dir zu folgen und dich zu bewundern. Sehr zu bewundern! (Du musst aushalten, dass dies gesagt wird!).«19 17 »J’éprouve depuis quelques mois – je ne sais comment – que ton amitié est l’étai le plus solide du courage qu’il me faut tous les jours pour ›continuer‹ – (Mais: De nobis ipsis silemus – comme disait Kant!)« (GRD 38, Bramepan, 10.11.1987). 18 Derrida hatte die Gewohnheit, seinen Freunden ein Exemplar seiner neu erschienenen Bücher zu senden. 19 »On ne répond pas à un livre comme celui-ci, sauf à en écrire un autre. Du reste ›répondre‹ ici, pour moi, relèverait du ›répons‹ (l’autre partie du chant, la relance du même chant), car je n’y trouve rien qui appelle ›riposte‹, ›réplique‹, et enfin je ne trouve pas en moi une ›responsabilité‹ – une capacité de répondre à et de ce qui est en question – autre que la tienne. Je n’ai donc fait, dans la soirée et la nuit (heures propices à l’esprit), que te suivre, et admirer« (GRD 40, Bramepan, Mittwoch, o.D., etwa
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In diesem Brief bedankt sich Granel bei Derrida. Er ist ein Dankesgruß. Einerseits könnte man ihn so lesen, dass Granel sich darin selbst die Möglichkeit abspricht, sich zu bedanken. Hiernach kann es auf einen Brief keine angemessene Antwort geben, da Antwort schon eine Verantwortung, eine bestimmte Fähigkeit zu antworten voraussetzte. Liest man den Briefauszug hingegen als etwas, dass eine gewisse Funktion hat, dann fällt auf, dass Granel sich in oder mit dieser Reflexion für das Buch Derridas bedankt oder ihm antwortet, indem er ihm bedeutet, dass es man »auf ein Buch wie dieses« nicht antworten könne. Über das Negative der Formulierung wird der Dank in subtiler Weise vermittelt. Diese Widersprüchlichkeit ist nicht nur dem Gruß zum Dank sondern auch anderen Formulierungen der Höflichkeit inhärent. Allerdings lässt sich die Vorsicht mit dem Wort des Antwortens hier auch philosophisch lesen. Denn es geht in diesem Brief um Vom Geist. Heidegger und die Frage, also den Text, in dem Derrida auf Heidegger ›antwortet‹. Heidegger hatte in Sein und Zeit den Sinn der Existenz in der Frage nach diesem Sinn bestimmt: »Wenn die Interpretation des Sinnes von Sein Aufgabe wird, ist das Dasein nicht nur das primär zu befragende Seiende, es ist überdies das Seiende, das sich je schon in seinem Sein zu dem verhält, wonach in dieser Frage gefragt wird. Die Seinsfrage ist dann aber nichts anderes als die Radikalisierung einer zum Dasein selbst gehörigen wesenhaften Seinstendenz, des vorontologischen Seinsverständnisses.«20
In Sein und Zeit wurde in §54 das Dasein auch als das Antwortende auf einen »Ruf« gefasst. 21 Derrida kehrt Heidegger gegen sich selbst und zeigt in Vom Geist, dass, wer das Dasein als ein Antworten auf den Ruf des Seins bezieht, das Fragen schon beendet. Derrida notiert bezüglich §55 von Sein und Zeit, in dem es Heidegger darum zu tun ist, dass das Dasein auf das Sein hören kann, damit es
1987 da von Psyché und De l’esprit die Rede ist, für deren Sendung er sich hier bedankt). 20 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 14 f. 21 Vgl. Heidegger, Sein und Zeit, 269. Hierzu ausführlicher diesen Abschnitt aus Sein und Zeit, wo es um das Gewissen geht: »Die Grundverfassung des Seienden, das wir je selbst sind, wird konstituiert durch Befindlichkeit, Verstehen, Verfallen und Rede. Die eindringlichere Analyse des Gewissens enthüllt es als Ruf. Das Rufen ist ein Modus der Rede. Der Gewissensruf hat den Charakter des Anrufs des Daseins auf sein eigenstes Selbstseinkönnen und das in der Weise des Aufrufs zum eigensten Schuldigsein«.
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sich nicht im Gerede überhört,22 den Zusammenhang von hören und hörigsein und distanziert sich so von Heidegger.23 Wenn es bei Derrida die Möglichkeit gibt zu ›antworten‹, wäre es nicht eine Antwort auf das Sein im Sinne Heideggers. Wir sind Derrida zufolge nicht in die Sprache, vielmehr »in eine Sprache«24 eingebunden und ihr verpflichtet. Dieses Eingebettetsein in sprachliche Kontexte ist etwas singulär verschiedenes. Er fügt an, dass das Vorausgehen selbst Ereignis ohne Erinnerung sei.25 Diese eine Sprache könnte nun zum Beispiel der Brief eines Freunds sein, benannt als Wink, vom einen zum anderen gesendet. Derrida scheint bezüglich der Frage der Antwort auf einer Linie mit Granel zu bleiben, denn auch er setzt die »Antwort«26 in Anführungszeichen. Wenn also die Möglichkeit, jemandem auf einen Brief wirklich antworten zu können, angezweifelt wird; Was bleibt den Briefeschreibern eine Möglichkeit? »Dir zu folgen und dich zu bewundern«27, schrieb Granel. Sowohl das Folgen als auch das Bewundern gehen nur durch eine minimale Distanz vonstatten. Des weiteren bleibt die Möglichkeit, die Texte des anderen zu lesen und darüber ein wenig Nähe zu finden. Denn hier bezieht sich Granel auf eines der Bücher Psyché oder De l’esprit, für deren Erhalt er sich in diesem Brief bedankt. Er teilt Derrida mit, dass er ihn gelesen und darüber hinaus bewundert hatte. Damit stellt er, könnte man sagen, ein Gleichgewicht her und übermittelt seinem Freund die Freundschaft, die hier darin besteht, von den Gedanken eines Anderen berührt zu sein und an seinen Fragen beteiligt, ihn zu lesen. Wenn Nietzsche schrieb, dass das zu nahe Zusammenleben mit Menschen sie zu beschmutztem Papier werden ließe,28 so bietet eine in Briefen geschriebene Freundschaft die notwendige Distanz, um das Papier nicht zu beschmutzen, sondern zu beschreiben. In einer Freundschaft unter Schriftstellern im Besonderen bietet das die Möglichkeit, die 22 Vgl. ausführlich: »Sich verlierend in die Öffentlichkeit des Man und sein Gerede überhört es im Hören auf das Man-selbst das eigene Selbst« (ebd., 271). Wenn Dasein im In-Frage-stellen der Existenz besteht, aber gleichzeitig in einem Hören auf einen Ruf des Seins, ist es entweder keine Frage mehr, oder aber kein Hörigsein / Hören mehr. 23 Vgl. Derrida, Vom Geist, 111. 24 Ebd., 149. Diese eine Sprache scheint auf Sprachen im Plural zu verweisen, also eine bestimmte Sprache zu meinen. Das erschließt sich daraus, dass Derrida an mehreren Orten auf den Fokus auf Idiome statt Sprache legt. 25 Vgl. Ebd., 149. 26 DGR 3.3, 04.02., o.O., o.J., zit. a.a.O. diesen Kapitels. 27 Vgl. GRD 40, Bramepan, o.D. (a.a.O.). 28 Vgl. Nietzsche, Menschliches, Allzumenschliches I, 428 / 659 f.
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Texte der anderen zu kommentieren und zu verbreiten, wenn man sie bewundert. Die Lektüre von Derridas Briefen und Texten selbst scheint hier Granel der Freundschaft oder einer Nähe in Gedanken zu versichern. Die Möglichkeit einen Freund zu lesen und ihm hiernach zu schreiben, kann für die Gedanken den notwendigen Raum geben, um im Dialog zu bleiben, er kann ihn präsent werden lassen. Diese Art der Freundschaft käme vielleicht sogar dem Briefpartner entgegen. Denn zu viel Nähe sollte die Freundschaft aus Perspektive Derridas nicht haben; Wo die Freundschaft noch Liebe ist, komme sie nicht von der Habsucht los.29 Hingegen ginge es darum, zwischen Liebe und Freundschaft »eine unendliche Distanz« zu wahren, sodass die »Verschmelzung oder Vertauschung von Ich und Du«30 verhindert werden kann.
FREUNDSCHAFT DER KO-RESPONDENZ. DERRIDA UND GRANEL ANTWORTEN Obgleich also Derrida und Granel antworten, wobei Derridas Frequenz der Antworten hier nicht beurteilt werden kann, scheinen sie ein gewisses Schweigen zu bewahren. Denn sie antworten nicht notwendigerweise brieflich auf die Briefe ihres Freunds. Ich möchte hier vorschlagen, dass Derrida und Granel einander nicht antworten, sondern ko-respondieren. Die Ko-respondenz findet in Form einer minimalen Gemeinschaft statt und beruht auf ihr. Aus dieser Perspektive gibt es etwas Geteiltes und Gemeinsames, auch wenn es einer gewissen Distanz bedarf. Hierzu müssen wir zu einem jener Texte Derridas umschwenken und schließlich zurückkehren, in dem es um die Exegese vom berühmtesten Satz über Freundschaft geht. Derrida schreibt über den ersten Teil dieses Satzes – »Oh my friends«, dass er vermittelt, dass jegliche Form der Adressierung mit einer absoluten Vergangenheit korrespondiert: »Without this absolute past, I could not, for my part, have addressed myself to you in this way. We would not be together in a sort of minimal community – but one which is also incommensurable with any other – speaking the same language, even were it so as to manifest a disagreement, if a sort of friendship had not already been sealed, prior to any other contract: a friendship prior to friendships, an ineffaceable, fundamental and bottomless friendship, the one which draws its breath in the sharing of a language (past or to
29 Vgl. PdF, 100. 30 Beides ebd., 101.
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come) and in the being-together which any allocution supposes, including a declaration of war.«31
Derrida bezieht sich in diesem Text auf etwas Drittes, das die Adressierung ermöglicht. Und er teilt die Freundschaft hier in zwei verschiedene. Eine Art von Freundschaft scheint es zu geben, die allem vorausgeht und die auf dem »Teilen einer Sprache« beruht. Diese Art der Freundschaft ist immer schon Plural, wie der Bezug Derridas auf den ersten Teil des Aristoteles zugeschriebenen Satzes – Oh my friends – vermuten lässt. Auch geht es hierbei nicht um einen Bezug auf eine einzige Dimension, auch wenn das der Bezug auf eine minimale Gemeinschaft nahelegt. Einer antwortet dem anderen, indem er die Verantwortung für die minimale Gemeinschaft übernimmt, die das ihnen gemeine Gespür für einen Mangel sein kann. Diese minimale Gemeinschaft bringt Granel und Derrida zusammen schon bevor sie sprechen. Aus dieser Perspektive gesehen gibt es bei Derrida eine minimale Gemeinschaft, die sich ›Freundschaft‹ nennt. Diese Freundschaft ist vor dem Denken (auch wenn sie immer wieder anders ist): »Thought, insofar as it has to be thought of the other – and this is what it must be for man – does not happen without philia«,32 schreibt Derrida. Diese Freundschaft ist hier angebunden an den anderen, an den Derrida sich in der Freundschaft richtet. Auch weist er nicht zufällig in diesem Kontext darauf hin, dass Aristoteles’ »Oh my friends, there is no friend« manchmal als »Oh my friends, there is no true friend« übersetzt werde.33 Ein wahrer Freund würde hiernach ideal, gut sein und Gott ähneln.34 Ich zitiere Derrida, der den vorher aufgebrachten Gedanken zu variieren scheint: »This passage clearly shows that (true) friendship can only be human, but most of all, and at the same time, that for man there is no thought unless it is a thought of the other and a thought of the other as a thought of the mortal. Within the same logic, there is no thought, there is no thinking being, at least if thought has to be thought of the other, except in friendship.«35
Auch Derrida wiederholte in der Politik der Freundschaft beharrlich die Phrase »Oh meine Freunde, es gibt keinen Freund« und beharrte so auf einer Spannung, 31 Derrida, »Politics of Friendship«, 368 f. 32 Ebd., 362. 33 Ebd., 360 ff. 34 Ebd., 361. 35 Ebd., 362.
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die die Freundschaft prägt und die sie dem Risiko aussetzt, in zwei Teile zu zerfallen. Sie scheint gleichzeitig wahr und unmöglich zu sein. Deshalb muss hier hervorgehoben werden, dass für Derrida die Unerreichbarkeit als telos gilt.36 Allerdings ist nicht abschließend klar, ob Derrida in dieser Weise nicht doch auch betet.37 Das legt der Aufbau seines Werks Politik der Freundschaft nahe. Hierin spielt der aus Derridas Sicht zentrale Satz aus der Geschichte des Nachdenkens über Freundschaft »Oh meine Freunde…« gebetsartig wiederholt aufgegriffen und jedes mal anders interpretiert. Derrida verweist auf Aristoteles, der über das Gebet (eukhe) schrieb, es sei der Diskurs (logos), der wie das Performativ weder wahr noch falsch sei.38 Wenn Derrida die Freundschaft in die Nähe dessen bringt, was gleichzeitig wahr und unmöglich ist, legt dies die Vermutung nahe, dass Derrida in dieser Hinsicht tatsächlich betet.39 Diese Position ist die des Gebets oder der Mitte der Schaukel, weil sie gleichzeitig an verschiedenen Orten sein kann. Es gibt offenbar zwei Schreibbewegungen Derridas. Eine Bewegung seines Schreibens über Freundschaft führt in Richtung des Gebets. Eine andere Richtung jedoch weist wieder vom Gebet zurück auf die menschlichen Beziehungen. Schließlich kann es in der Freundschaft nicht oder nicht nur darum gehen, Gott zum Freund zu gewinnen. Gott, so Derrida, kann kein Freund sein, weil er Freunde nicht brauchen würde.40 Menschen hingegen brauchen Freunde. Ihre Unvollkommenheit ist der Grund, warum sie Freundinnen und Freunde finden. Eine Freundschaft mit einer sehr guten Person macht aus dieser Sicht keinen Sinn. So bleibt auch die Derridasche Freundschaft notwendigerweise unvollkommen. Ich möchte nun auf Derridas Vom Geist rekurrieren. Hierin notiert er in einer Fußnote: »Im Verlauf des Kolloquiums, das in Essex stattgefunden hat – ich habe es eingangs erwähnt –, machte mich Françoise Dastur auf jene Stelle in Unterwegs zur Sprache, auf
36 Vgl. Ebd., 361. 37 Vielleicht in der Weise, die Althusser dem Gebet gegeben hat: Man setze sich hin, man falte die Hände zum Gebet, und darin liege das Beten (vgl. Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate, 137). 38 Vgl. Derrida, »Politics of Friendship«, 367. 39 Dass Freundschaft in sich Gebet bedeutet, arbeitete Casper heraus und nahm dabei auch auf Derrida Bezug (vgl. Casper, »Euch aber habe ich Freunde genannt (Jo 15,15)«, 205). Es könnte weiterführend ergiebig sein, über den Zusammenhang von Philosophie und Mission nachzudenken. 40 Vgl. Derrida, »Politics of Friendship«, 361.
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jene Passage aufmerksam, die über die Frage hinausführt, die die Frage passiert. Ich widme ihre diese Anerkennung, Unterpfand meiner Anerkennung.41
An dieser Stelle lässt sich die Frage der Antwort mit Derridas Überlegung in Vom Geist zusammenführen. In seiner Fußnote wird deutlich, dass die eigenen Werke nicht vor allem als Antworten auf den Ruf des Seins zu verstehen sind, sondern darüber hinaus an individuelle Freundinnen und Freunde zurückgebunden werden. Wenn Derrida sich auch nicht ganz von der Vorstellung, dass ein Mensch sich grundsätzlich immer zu gewissen Fragen verhalten muss, löst, ist doch die andere Seite der Schale, in der ein Mensch sich immer zu anderen Menschen bereits verhält, mindestens ebenso wichtig. Es wird betont, dass der Mensch nicht nur Geist ist.42 Es scheint in der Freundschaft hingegen auch und vielleicht vor allem um eine Herzensangelegenheit zu gehen. Balibar hatte sich zum Zeitpunkt des Todes Bourdieus an Derrida gerichtet und Francine Loreau richtete sich zum Zeitpunkt des Todes von Max Loreau an Derrida. 43 Gerade in Zeitpunkten des Verlusts wenden sich Menschen an ihre Freunde. Freundschaft wird in diesem Kapitel aus diesem Grund als Korespondenz begriffen. Aus dieser Perspektive wäre die Freundschaft etwas, das Menschen mit Verlust über geteilte Trauer umgehen lässt, dass sie aber gleichzeitig voneinander trennt als aneinander bindet. Es kann einen Dritten geben, auf den die Freundschaft Bezug nimmt, wie zum Beispiel im Fall Derridas und Blanchots Levinas. Auch kann das verbindende Element einer Freundschaft auch der Tod eines gemeinsamen Freunds sein, wie in obigen Beispielen. Sollte eine Antwort erfolgen, entsteht nicht nur das Gefühl der Nähe zu einer Freundin, sondern es lässt uns auch die Abwesende näher erscheinen, lässt uns zumindest das Wissen über den Schmerz teilen. ›Ich weiß, dass du auch leidest‹. Aber ist nicht diese Erfahrung des Verlusts uns Menschen allen gemein, ist sie nicht sogar das, was wir alle teilen? Aus dieser geteilten Erschöpfung von dem Einbruch des Todes kann die Möglichkeit einer minimalen Gemeinschaft erwachsen. Wir ko-respondieren. Diese oder dieser Dritte muss keine Person, kein Mensch sein, mit dem ein Gespräch aufrecht erhalten werden kann, sondern es kann sich um etwas handeln, das das gegenwärtige Handeln begleitet, indem es abwesend ist, wie beispielsweise die Verlusterfahrung. Es wäre dann eine Verbindung ohne Vermittlung, über einen dritten, sich außerhalb befindenden, Ort. Dieser dritte Ort oder diese dritte Partei hat notwendigerweise keinen Eigennamen, kann aber 41 Derrida, Vom Geist, 155. 42 Wenn das Dasein nur Geist sei, könne es nicht mehr abgegrenzt werden und Antirassismus wäre nicht mehr zu rechtfertigen (vgl. Ebd., 49). 43 Vgl. Kap. V.
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durch die Abwesenheit eines fehlenden Letters (Buchstabens / Briefs) oder in der indirekten Adressierungsform stattfinden, die Sokrates in Platons Lysis durch sein Tun aufzeigt. In einer Weise der Freundschaft verweilen wir in der Nähe eines ausgewählten anderen Menschen, um die Stille zu überbrücken, die alle Menschen voneinander trennt. Freundschaft aus Bedürftigkeit hatte Cicero ausgeschlossen, scheint mir jedoch auch ein wichtiger Aspekt der Freundschaft zu sein. Gleichzeitig ist es eine Entscheidung, an wen ich mich in der Freundschaft richten will und dies macht die Freundschaft aus einer anderen Perspektive wiederum zur Herzenssache. Indem Balibar sich beim Tod Bourdieus an Derrida richtete, teilte er ihm diese Präferenz mit. Wenn Freundschaft Derridas Herzensangelegenheit ist, so würde ich sagen, mobilisiert er dafür andererseits Politiken, um sie zu schützen. Diese Politiken sind mit Entscheidungen verbunden. Einerseits bin ich aufgrund der menschlichen Erfahrung an etwas gebunden, das mir abwesend ist. Und andererseits gibt es auch eine Perspektive, die die Freundschaft der Liebe nahebringt, dem Menschen gegenüber, dem ich mich aus Liebe zuwende und weil ich eine Verbindung zu ihm verspüre. Freundschaft aus Liebe und aus Bedürftigkeit hält aufgrund von Leidenschaft und Entscheidung, obwohl wir wissen müssen, dass es keinen Ort und keine Zeit für sie und dass sie keine Sicherheit gibt. Vielleicht könnte man sagen, dass die durch Texte und Briefe Derridas gewonnene Einsicht über die Freundschaft nahe an einem Gedanken von Bataille ist, der in der Theorie der Religion über den Tod von Nächsten schreibt: »Dieses intime Leben, das die Fähigkeit, mich völlig zu ergreifen, verloren hatte und das ich im wesentlichen als ein Ding betrachtete – erst seine Abwesenheit macht es mir wieder völlig empfindlich.«44 Der Tod eines Nächsten ruft dieserart nicht nur Schmerz hervor, weil sie den Überlebenden mit »geschärfte[m] Bewußtsein für das in seiner Intimität erfaßte gemeinsame Leben«45 hinterlässt. Erst im Moment plötzlicher Abwesenheit, die beim Tod einer oder eines anderen erfahren wird, erlebe der Mensch die Einsicht, dass das Bedürfnis nach Dauer an Leben beraube und die Unmöglichkeit der Dauer befreie.46 Bataille bemerkte an anderer Stelle, dass chance, also Glück, denselben Ursprung habe wie échéance, das Verfallsdatum, im Englischen deadline. 47 In diesem Sinne scheint es ein ganz besonderes Glück, wenn das Antworten eines Menschen mit dem Antworten eines anderen Menschen zusammenfallen. Möglicherweise hallen die Antworten auf Drittes wieder und machen rezeptiv für das, 44 Bataille, Theorie der Religion, 42. 45 Ebd., 43. 46 Vgl. Ebd. 47 Bataille in: Botting / Wilson, Bataille Reader, 95.
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das Derrida andernorts mit Platon als chora bezeichnet hat.48 In diesem Horizont besehen, bliebe der Mensch völlig schutzlos gegenüber der Welt, da er auf nichts antwortet und allem ausgesetzt ist, der verantwortenden Pflicht übereignet, im Spannungsfeld zwischen unvollkommenen Entscheidungen und Gefühlen, die richtigen Entscheidungen zu treffen, also die, in denen sich Vernunft und Gefühl vereint.
48 Vgl. Derrida, Chōra. Seel hat dies Überlegen genannt, Hegel Geist.
Das Unmögliche wird zufällig [par chance] manchmal möglich: als Utopie. Derrida über Barthes/JME, 73.
Fazit Geschriebene Freundschaft
Diese Freundschaft ist und ist nicht. Und auf beide Weisen kann sie sein. Sie kann durch ein Gefühl entstehen, obgleich manche das Liebe nennen mögen. Gleichzeitig ist sie Sache der Aushandlung, der Praxis, der Techniken, und darin eine Zweckbeziehung. Doch da diese Freundschaft beides hat, Zuneigung (Liebe, Gefühl) und Versprechen (Vertrag, Aushandlung, Politik), ist sie mehr als die Liebe und mehr als die Zweckbeziehung. Wenn sie beides ist, besteht sie im ständigen Ausgleichen des Ungleichgewichts zwischen Gefühl und Normen, zwischen gesellschaftlicher Verantwortung und von dem Glauben, der sich in einem stark empfundenen Gefühl äußert oder durch ebendieses entsteht. So ist Freundschaft hier Frage der Metaphysik und der Ethik zugleich. Nach der Lektüre von Derridas Texten könnte man versucht sein zu denken, sein Verständnis der Freundschaft bestehe aus einem ständig wiederholten ›Nein‹ zu dem, was ›die philosophische Tradition‹ geschrieben hat. Dies wäre ein ›Nein‹ zur Freundschaft als familiärer Brüderlichkeit, ein ›Nein‹ zur Freundschaft als Liebe, ein ›Nein‹ zur Politik und ein ›Nein‹ zur Freundschaft als Gemeinschaft. Dafür, dass dies nicht oder nicht nur der Fall ist, möchte ich mit dieser Arbeit plädieren. Ich würde Derrida sogar in die Nähe von Aristoteles und besonders von Platon rücken. Denn meines Erachtens muss sich eine Lektüre dieser Texte die Doppelbödigkeit seines Unternehmens vor Augen führen. Seine Kritik ist einerseits eine Bewegung, die die Freundschaft über Fragen der Theorie erhebt, wo Theorie einen Gegensatz zur Praxis bedeutet. Sie ist andererseits ein Hervorheben der impliziten Voraussetzungen dessen, was die Theorie bereits imstande war zu zeigen. Dabei geht es in Derridas Unternehmung also nicht immer nur um explizites Wissen, sondern darum, die Schriftstücke über Freundschaft so zu lesen, dass bisher Unbemerktes hervorgehoben wird. Diese Art des Denkens ist nicht mehr und nicht weniger als eine Art des Lesens. Derrida wurde hier als ein Autor gezeigt, der das Schreiben und das Lesen
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vermittelt hat, sowohl, als er Studierende für die agrégation vorbereitete, als auch in seinen Texten, in denen es darum geht, das Schreiben und das Lesen zu lehren. Aber ist das Lesen etwas Freundschaftliches? Und ist die Lehre des Lesens es noch? Wenn es eine Freundschaft bei Derrida gibt und dafür argumentiere ich in diesem Text, ist es die geschriebene Freundschaft. Indem ich sie als geschrieben bezeichne, mache ich die Derridasche Freundschaft zu einer Freundschaft unter anderen möglichen. Ich lese sie. Dies ist der Vorschlag, den diese Arbeit macht. Gehen wir dazu wieder an den Anfang zurück. In einem ersten Schritt wurde dazu argumentiert, dass der Versuch, ein Bild eines bestimmten Schriftstellers zu beschreiben, notwendigerweise in die Zerstreuung dieses Bilds als figürlicher Darstellung führen muss. Diese Zerstreuung wurde mit dem Derridaschen Bild der destinerrance gefasst und damit darauf hingewiesen, dass dieses Bild einem Brief ähnelt, der als Zielort gerade dieses Herumirren, anders gesagt das Denken, anstrebt. Da, wo der Anfang jeder Freundschaft in irgendeiner Form der Adressierung zu liegen scheint, in einem Brief, einem Lächeln oder einem gelesenen Text, ist sie sowohl aus aktiven als auch passiven Dimensionen des menschlichen Lebens gespeist. Dafür wurde der Begriff der Geste vorgeschlagen. Durch die Geste der aimance wird die Freundschaft in Richtung einer Liebe zur Literatur gebracht, in der es möglich sein könnte, alles oder auch nichts zu sagen. Die Freundschaft schien hier als différance auf, was die Überlegungen zur Freundschaft in ein methodisches Problem führte. Schließlich ist alles, was in dieser Arbeit gedacht wird, genauso geschrieben wie die konsultierten Briefe und Texte von, an und über Derrida. Die différance ist eine Perspektive auf die Schrift und Schrift bei Derrida bezeichnet alles Sprachliche, wenn nicht sogar alles Menschliche und möglicherweise darüber hinaus eine bestimmte Qualität des Lebens: Diese Qualität, für die Freundschaft gedeutet, zeigt, dass, was als Freundschaft gilt, nur im Hier und Jetzt erfahren, aber erst im Nachhinein bezeichnet werden kann. Dieser abwesende Ort, durch den Bezeichnung stattfindet, ist da, wo die Freundschaft schon beendet ist oder wo sie über die Zwei, die befreundet sind, hinaus zu einem Dritten verläuft. Freundschaft wird also etwas gewesen sein oder aber sie entzieht sich im Vollzug. Eine Theorie der Freundschaft aufstellen zu wollen gleicht so dem Versuch, im Vorhinein festlegen zu wollen, was Freundschaft sein wird. Dies, so ließ sich mit Derrida zeigen, wäre das beste Mittel, das Entstehen einer Freundschaft zu verhindern. Damit wird die Freundschaft in das Prozesshafte, Praktische des Lebens gehoben. Und so muss Derrida versuchen, seinen Schreibstil anzupassen, sich wie Nietzsche zu verkleiden, damit er mit seinem Schreiben
Fazit
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über die Freundschaft nicht die Freunde verprellt. Ihm gelingt dies damit, dass er darauf achtet, dem Schreiben seine Qualität als Performatives, als Anrede, zu bewahren. Und er verhüllt vieles, was er sagen könnte. Damit muss sich der Schriftsteller, der Derrida ist, seine Betrachtungsweise und auch der Untersuchungsgegenstand spalten. Er muss gleichzeitig Freund einzelner Menschen bleiben und der Freund aller werden, er muss Form und Inhalt in eine so große Nähe bringen, darauf hinweisend, dass nur in diesem Abstand die eigentliche Freundschaft liegen kann. Dies führt die Freundschaft in die Nähe der Verwandtschaft und Brüderlichkeit zurück, auf die sich eine philosophische Tradition des Denkens über Freundschaft bezog. Es ließe sich von einer Form des Natürlichen bei Derrida sprechen, die aber an einen fiktiven Urgrund zurückgebunden ist. Die Differenz zwischen Fiktion und Faktualität – oder die Differenz zwischen Literatur und Philosophie – ist so selbst fiktiv. Jedoch hat es entscheidende Konsequenzen, ob ein Text als fiktiv oder faktual eingestuft wird. Freundschaft kann daher nicht in der Abgrenzung von Feinden gegenüber der Möglichkeit des Kriegs mehr sein, aber diese geschriebene Freundschaft ist doch dem Aspekt von Schmitt nicht fern, dass sie im ständigen selbstverantwortlichen Aushandeln der (polemischen) Ambivalenzen inbegriffen ist, die sie herausfordern. Freundschaft ist eine Frage der Haltung zu diesen Ambivalenzen. Sie machen die Freundschaft zu einer praktischen Frage oder einer Haltung zu einer Praxis. Eine geschriebene Freundschaft wurde hier auch genauer als die Freundschaftsform eingekreist, in der befreundete Schriftstellerinnen und Schriftsteller einander lesen und schreiben. Es ging dabei genauer um den Denkraum, der eine bestimmte Differenz und ein bestimmtes (Ver-)Schweigen benötigt, um weiter schreiben zu können. In einer Freundschaft wie dieser geht es um ein Antworten auf die Bedürfnisse der anderen, welches sich häufig als Mitgefühl, Beileid und Mitleid äußert, deshalb, weil in der Erfahrung des Schreibens schon ein bestimmter Verlust und ein bestimmter Grad an Wiederholung sind, die zu einem Gefühl der Einsamkeit führen können. Es gibt eine Gemeinschaft aus Schreibenden, oder eine Gemeinschaft ohne Gemeinschaft, aus deren Denkraum Blanchot, Antelme und Mascolo geschrieben haben. Diese Gemeinschaft scheint Derrida tangential zu betreffen, wie auch die Gemeinschaft Althussers, bei der es um eine Debatte von Marx ging, und gleichzeitig bleibt Derridas Rekurs auf Gemeinschaft und insofern auch auf eine Freundschaft als Gemeinschaft minimal. Freundschaft in diesem Sinne ist weder auf das Heilige noch auf das Ideologische zu reduzieren. Wenn es Gemeinschaft bei Derrida geben sollte, so wäre sie besser mit dem Begriff der Nachbarschaft
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zu bezeichnen, der die Nähe des Wohnens und darin auch des gedanklichen Zuhauseseins erlaubt, worin es aber nicht zur Berührung kommt. Derrida und Nancy scheinen sich in ihrer Konzeption des Berührens fast zu ›küssen‹, aber diese Berührung findet nicht oder nur auf eine bestimmte Weise statt. Gäbe es in Derridas Freundschaft einen Ort, an dem sich alles zusammenzieht (oder ein Bild), dann wäre dies der Ort einer Synagoge, begriffen als ein durchlässiger Ort. Diese Synagoge wäre gewissermaßen der Ort für die nachbarschaftlichen Gespräche, für eine Gemeinschaft des Denkens, aus der man lernen, die man aber auch jederzeit verlassen kann. Deswegen hat sie auch etwas von einem Sandhaufen, der sich bei Wind in alle Richtungen verstreut. Ein ›Kuss‹ fände dann vor allem innerhalb des Schreibens statt, als geschriebener. Die Freundschaft bei Derrida bleibt eine Form der Antwort, auch wenn sie ein gewisser Abstand oder Anführungszeichen davor bewahren, eine direkte Antwort zu sein. Aufgrund der schriftlichen Qualität jeglicher Freundschaft, das heißt der Tatsache, dass ein Brief oder eine sprachliche Äußerung nie so ankommt, wie er adressiert oder sie intendiert war, ist eine Antwort immer schon fehlgeleitet. Gemeinsamkeit ist nur durch und aufgrund einer dritten Instanz, die aber nicht als Existenz oder Sein gefasst wird, sondern eher in Bezug auf konkrete weitere Begegnungen und Erfahrungen. Wenn Freundschaft in dieser Form möglich sein sollte, so besteht sie in einer Ko-respondenz. Es wird gemeinsam auf einen Verlust geantwortet, auf eine Abwesenheit, die in der Freundschaft ständig wieder präsent gemacht wird, durch Erinnerungspolitiken. Das Gemeinsame, scheint mir also, gibt es, nur besteht es in gemeinsamem Handeln in Bezug auf jenes, dessen Bedeutung uns entgeht, nicht nur weil es heilig oder ideologisch vorausgesetzt sein könnte, sondern auch, weil alles Handeln innerhalb seiner bestimmten Zeit vollzogen wird, die vorbei ist, sobald wir darüber schreiben. Innerhalb der Freundschaft als Ko-respondenz soll der Bindestrich oder das Minuszeichen betonen, dass Freundschaft vor allem zwei Dinge braucht: eine Zeit und einen Ort. Dabei ist aber die Zeit immer eine Zeit der partikularen Freundschaft, wie auch der Ort und jedes Mal einzigartig. In diesem Sinn wäre Freundschaft dann möglich, wenn Menschen einander Zeit und Raum geben und diesen für sich – auch gegenüber Politiken, in die sie eingebunden sind – einfordern. Dieses annehmend, gibt es ganz verschiedene Arten der Freundschaft, die sich nur derart zu einem Bild versammeln lassen, als dass dieses Bild ihre Vielfalt betont. Wenn es einen Ort für die Freundschaft gibt, dann innerhalb einer Gesellschaft, die pluralistisch ist. Aus dem Gewöhnlichen, in das wir immer eingebunden sind, kann sich dann die Freundschaft ungewöhnlicherweise abheben, indem zum Beispiel zwei Menschen sich Raum und Zeit geben.
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Durch Zeit und Raum entsteht, wie mit Derrida und Althusser vorgeschlagen wurde, innerhalb der Welt eine Welt zwischen Freunden. Diese Welt scheint sich nicht lediglich auf Menschen zu beziehen. Freundschaft, wenn sie geschrieben ist, ermöglicht das Denken mit Abwesendem, welches wiederum Dimensionen des Möglichen für das eigene Leben eröffnet. So ist die geschriebene Freundschaft auch als eine Freundschaft des Denkens zu erweitern, und kann somit auch Bataille und Derrida in eine Nähe rücken, auch wenn sie sich nicht – einem anderen Verständnis der Zeit folgend – begegnet sind. Durch die Möglichkeit, Derridas Briefe lesen zu können und die vielen Briefe, die zu ihm gelangten, wurde deutlich, dass sein Denken – wenn es darin etwas Wesentliches gibt – in einem Raum des Denkens stattfindet, der sich durch den Briefwechsel mit Freundinnen und Freunden erhält und ergibt. Dieser Raum des Denkens hat weder den Ort noch die Zeit des Gewöhnlichen. Vielmehr erlaubte es dieser Raum, in der als alltäglich wahrgenommenen Zeit eine Gegenzeit zu etablieren, die zwar nicht gänzlich unberührt von den Fragen jener ersten Zeit bleibt, aber die doch auch selbstvergessen macht. So war Derrida vielleicht nichts als ein gewöhnlicher Briefeschreiber, der gegen die Zeit anschrieb. Kommen wir nun abschließend auf die Dimension des Geschriebenen zurück. Derrida nennt einen Abschnitt der Grammatologie das »geschriebene Sein«.1 Zu Beginn wurde sich darauf bezogen, dass Derrida seine eigenen Texte als geschriebene bezeichnet. Im Laufe dieser Arbeit wurde vorgeschlagen, die Freundschaft bei Derrida als geschriebene zu bezeichnen. Zu Beginn wurde eine kurze Referenz auf Platon gemacht. Wie mir scheint, bleibt Derrida in seiner Nähe des Denkens. Und diese Präferenz des Denkens wiederum ist Eigenheit des Geschriebenen. Wenn Derrida die Differenz von Schrift und Mündlichkeit zugunsten einer neuen Schrift entscheidet, dann müsste diese neue Schrift2 in der Nähe des Denkens und damit in der Nachbarschaft Platons verstanden werden.3 Was aber zeichnet die geschriebene Freundschaft aus?
1
GRA, 35.
2
Vgl. BLD 2, Le Mesnil Saint-Denis, 1976, zit. a. a. O.
3
Gadamer schrieb zum scheinbaren Gegensatz zwischen Schrift und Mündlichkeit bei Platon: »Wenn Sokrates davor warnt, Geschriebenes als höchsten Ernst gelten zu lassen, statt es mit spielerischer Distanz anzusehen, und wenn Plato ihm im siebenten Brief mit gleicher Entschiedenheit folgt und tatsächlich in seinem ganzen Dialogwerk das Reden im eigenen Namen vermieden hat, so liegt darin gewiß ein radikales Bekenntnis zum Dialog und zum inneren Dialog der wahrheitssuchenden Seele, den Plato ›Denken‹ nennt« (Gadamer, Unterwegs zur Schrift, in: Assmann et al., Schrift und Gedächtnis, 14).
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Folgende Schlussfolgerungen möchte ich für diese besondere Art der Freundschaft ziehen. Geschrieben ist die Freundschaft, weil sie sich chiastisch in zwei verschiedene Perspektiven auffaltet, die einander herausfordern und bedingen. Bei dieser chiastischen Verbindung ergibt sich zudem, dass das Element, welches die jeweils eine Seite bedingt, der anderen immer abwesend ist. Dieses Abwesende oder Dritte ist jedoch das Element, welches es überhaupt erst erlaubt, auf eine Frage oder einen Ruf der Freundschaft zu antworten. Wenn Freundschaft zwischen zweien entsteht, so braucht sie das sich entziehende Dritte, welches sich im Herzen der Freundschaft, in ihrem Konfliktherd, im Denken oder in der Fiktion ergibt. Es gibt also mindestens zwei Seiten der Freundschaft, die von einer minimalen Gemeinschaft so weit zusammen und auseinander gehalten werden, wie der genaue Abstand einer différance es erfordert. Vielleicht haben Sie einmal eine Freundin adressiert und glauben zu wissen, wie das geht, sich an sie so zu richten, dass sie eine Freundin bleibt. Sie wiederholen also das, was Sie aus der Erfahrung zu wissen glauben. Wenn Sie aber in dieser Wiederholung verbleiben, könnte diese Freundschaft schnell einer Starre verfallen, als ginge es dabei um eine reine Technik. Denn viel mehr, als dass Sie sich an die Freundin richten, würde ihre Freundin beschrieben, es wäre, als wollten Sie sie zum Abbild dessen machen, was Freundschaft für Sie vor dem Kennenlernen dieser Freundin schon gewesen ist. Aber durch die Wiederholung könnte die Anrede auch die Form eines Gebets annehmen, auch wenn sie kein Gebet ist. Sie wiederholen Ihre Anrede und Sie sprechen ihre Freundin an, als wäre da nichts vorausgesetzt, worüber Sie sprechen könnten. Sie wiederholen Ihre Techniken, aber in Gedanken wünschten Sie, dass etwas zu ihr hinüber trete. Und mit etwas Glück geht es ihr ähnlich, und auch sie antwortet auf etwas (nichts) gegenüber Ihnen. Wenn auch diese Gemeinschaft des Einvernehmens schweigend vor sich geht und wohl am schönsten ist, wenn über Gründe und Bedingungen geschwiegen wird, wissend, dass das nicht möglich ist, und sogar darüber gesprochen werden muss, wird gerade diese Gemeinschaft überdauern, weil diese Art der Freundschaft weder stumm noch redselig, sondern geschrieben ist. Ich komme nun zum Fazit meiner Lektüre Derridas. Angenommen, man könnte die Freundschaft in zwei Dimensionen spalten, die in einem widersprüchlichen Verhältnis aneinander gebunden sind. Ohne Derrida zu jener geliebten Freundin machen zu wollen, die im Schweigen am besten zu adressieren wäre, schlussfolgere ich, dass er sich von der philosophischen Tradition eines Denkens über Freundschaft nur dadurch entfernt, dass er versucht, besonders kunstvoll zu schweigen. Er verschweigt Worte wie Brüderlichkeit, familiäre Nähe, Gemeinschaft, Asymmetrie oder Öffentlichkeit, um solche Worte mit Freundschaft in
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Verbindung zu bringen, die die Diskussion in ein anderes Licht stellen: aimance, Gabe, différance, Spur. Diese würde ich wie das Schweigen bei Bataille als Grenz-wörter bezeichnen.4 Sie scheinen in erster Linie und vor allem wenn man noch nicht über sie gelesen hat, nicht verständlich. Deshalb bieten diese Worte einen Vorteil, dass sie nicht zugänglich sind und somit nicht berühren können. Sie handeln im Entzug. Die Unterscheidung zweier Ebenen bei Derrida macht es möglich, analytisch zu trennen, dass er beschreibt und dass er etwas tut, wenn er schreibt. Nun wäre es möglich dafür zu argumentieren, dass Derrida in der Nachbarschaft von Aristoteles zu verorten ist, für den die bevorzugte Art der Freundschaft die tugendhafte ist, eine, die nicht berührt und die weder Handel noch im kürzeren Sinne Nutzen bringt. So könnte Derridas Weise zu schweigen als tugendhaft gelesen werden. Und zielen diese geheimen oder gespenstischen Dimensionen des praktischen Lebens, auf die Derrida mit den genannten Grenzwörtern hinweist, nicht auf neue Tugenden?5 Man müsste nach dem Gedachten handeln können, sämtliche Regeln befolgen, die die Geschichte eines Denkens über Freundschaft mitgibt, sie aber im Moment des Handelns vergessen können und sie einer Freundin auch nicht in Form von Bedingungen mitteilen. Darin würde ein Handeln tugendhaft, und bräuchte sich nicht mehr zu rechtfertigen, als nur vor sich selbst. Denn in dieser Stille, die durch das gemeinsame ›Schweigen‹ entsteht, werden Lesen und Schreiben überhaupt erst möglich. Und das eröffnet Derrida Handlungsspielräume. Freundschaft ist – vertritt man eine Vorstellung der geschriebenen Freundschaft – nur möglich, solange sie sich schreiben und lesen lässt. Sie wird schreibbar gewesen sein und sie ist immer schon geschrieben.
4
»Das Schweigen ist ein Wort, das kein Wort ist, und der Atem ist ein Gegenstand, der kein Gegenstand ist…« (Bataille, Die innere Erfahrung, 31). Hier erinnert Bataille auch an den Atem der Hindus.
5
Derrida sprach davon, dass es sich bei Nietzsches neuen Art, sich in Freundschaft an andere zu richten, um eine neue Tugend handeln könnte (vgl. PdF, 95). Man müsste sich fragen, ob Derridas Projekt, das Gespenstische wieder in die Politik einzuführen (vgl. SP, 121), nicht auf die antike Tugend zu beziehen ist.
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Jacques Derrida erhalten hat. Das Inventar kann online nicht aufgerufen, aber vor Ort eingesehen werden. Um die Briefe zu konsultieren, benötigt man die Genehmigung der Rechteinhaber. Die freundschaftliche und berufliche Korrespondenz Derridas befindet sich vor allem in 219DRR/1 bis 219DRR/142. Jacques Derrida Papers (MS-C01): Critical Theory Archive, University of California, Irvine (UCI) Special Collections & Archives [online] http://hydra.humanities.uci.edu/derrida/uci.html [15.08.2016]. UCI, Jacques Derrida Papers, MS-C01, Box 19, Folder 18. UCI, Jacques Derrida Papers, MS-C01 Box 91, Folder 1 »Télépathie«. UCI Jacques Derrida Papers, MS-C01 Box 117, Folder 7 »1991-1992 ›Répondre du sécret‹ séance 3–4«. UCI Jacques Derrida Papers, MS-C01, Box 121, Folder 3 »Religion and postmodernism«. Fonds Althusser (20ALT): Institut Mémoires de l’édition contemporaine (IMEC) [online] http://www.imec-archives.com/fonds/althusser-louis/ [06.02.2018]. In diesem Bestand finden sich Dokumente der Jahre 1936–1990. Auf dieser Website findet sich auch ein Inventar der Sammlung. Der Bestand kann mit Genehmigung des IMEC konsultiert werden. Zitierte Briefe von Derrida zitiert mit freundlicher Genehmigung der Rechteinhaber und des IMEC. Lettres de Jacques Derrida, in: Fonds Louis Althusser, IMEC 20ALT/72.68 DA 2, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Paris, 25. April 1956, Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. DA 4, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, El-Biar, 30. August 1956, Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. DA 5, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Cambridge, 11. Februar 1957, Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. DA 6, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Koléa, 04. September 1959, Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. DA 7, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Alger, 08. Oktober., o.J., Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. DA 8, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Koléa, 05. Oktober, o.J. [ca. 1957–1959, nt], Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. DA 13, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Koléa, 21. Oktober 1959, Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68.
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DA 15, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Nice, 01. September 1964, Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. DA 16, Brief von Jacques Derrida an Louis Althusser, Fresnes, 02. August 1965, Fonds Louis Althusser, IMEC, 20ALT/72.68. Lettres de Derrida à Blanchot, in: IMEC, Fonds Jacques Derrida, 219DRR/9.2 [DBL 26] Brief von Jacques Derrida an Maurice Blanchot, o.O., 29. März 2001, 219DRR/9.2. Lettre de Derrida an Canguilhem, in: IMEC, Fonds Jacques Derrida / 219DRR/23.3 [DC 1], o.O., 31.10.1969, 219DRR/23.3. Lettre de Derrida à Granel, in: IMEC, Fonds Jacques Derrida / DRR47.1 [DGR 3.3] 04.02., o.O, o.J. [muss vor 1971 sein], 219DRR/47.1. Briefe und Postkarten von Derrida an Nancy, aus: Privatbesitz Jean-Luc Nancy DN 1, Postkarte von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, Granada, o.D., Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 4, Postkarte von Jacques Derrida et al. an Jean-Luc Nancy, Cerisy-la-Salle, 15. Juli 1997, Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 10, Postkarte von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, Kyoto, o.D., Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 12, Postkarte von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, Prag, 30. Dezember 1981 bis 18. Januar 1982 [sic], Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 15, Brief von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, o.O., Dienstag, 10. Mai o.J., geschätzt von JLN auf Januar 1991 (da es in dem Brief um den Tod seines Vaters geht, allerdings müsste er von 1988 sein, wenn es sich beim 10.05. tatsächlich um einen Dienstag handelte, wie auf dem Brief vermerkt ist. Außerdem war der Tod von Derridas Vater war 1970 und er rekurriert im Brief darauf, dass dieser vor 20 Jahren war), Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 17, Briefkarte von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, Japan, o.D., Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 19, Brief von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, o.O., 12. Mai 1981, Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 22, Brief von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, o.O., o.D., Privatbesitz Jean-Luc Nancy. DN 24, Brief von Jacques Derrida an Jean-Luc Nancy, Nice, 09. Juli 1990, Privatbesitz Jean-Luc Nancy.
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AD 10, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, Paris, 06. Oktober 1959, IMEC, 219DRR/1.7. AD 13, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, Paris, 15. Juli 1959, IMEC, 219DRR/1.7. AD 19, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, o.O., 14. Mai 1964, IMEC, 219DRR/1.7. AD 21, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, o.O., 03. August 1964, IMEC, 219DRR/1.7. AD 24, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, o.O., 24. August 1964, IMEC, 219DRR/1.7. AD 26, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, Paris, 21. August 1965, IMEC, 219DRR/1.7. AD 28, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, o.O., 14. August 1966, IMEC, 219DRR/1.7. AD 33, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, Gordes, 21. Juli 1967, IMEC, 219DRR/1.7. AD 38, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, o.O., 29. Oktober 1971, IMEC, 219DRR/1.7. AD 43, Brief von Louis Althusser an Jacques Derrida, o.O., 04. November 1987, IMEC, 219DRR/1.7. Lettres de Balibar à Derrida, in: IMEC, Fonds Derrida / 219DRR/6.2 In 6.2 finden sich 29 lettres manuscrites, 7 lettres dactylographiées, 5 cartes postales, 2 faire-part von 1966–2004 BALD 1, Brief von Étienne Balibar an Jacques Derrida, Paris, 12.09.1966, 219DRR/6.2. BALD 8, Brief von Étienne Balibar an Jacques Derrida, Paris, 10. September 1984, 219DRR/6.2. BALD 39, Brief von Étienne Balibar an Jacques Derrida, Irvine, 05. Februar o.J. [vermutlich 2002], 219DRR/6.2. BALD 42, Brief von Étienne Balibar an Jacques Derrida, Paris, 23. August 2004, 219DRR/6.2. Lettres de Bauchau à Derrida, in: IMEC, Fonds Derrida / DRR.6.6 In 6.6 finden sich 21 lettres manuscrites, 1 lettre dactylographiée, 2 cartes de voeux, 1 carte de visite, 1966–1983. BAUD 1, Brief von Henri Bauchau an Jacques Derrida, o.O., 02.03.1983. BAUD 7, Brief von Henri Bauchau an Jacques Derrida, Gstaad, 23. April 1969, Fonds Derrida, 219DRR/6.6.
Quellenverzeichnis | 303
BAUD 14, Brief von Henri Bauchau an Jacques Derrida, Gstaad, 11. Juli 1968, Fonds Derrida, 219DRR/6.6. BAUD 25, Brief von Henri Bauchau an Jacques Derrida, chalet Beausoleil, 11. Februar 1972, Fonds Derrida, 219DRR/6.6. Lettres de Blanchot à Derrida, in: IMEC, Fonds Derrida / DRR 9.2 In 9.2 finden sich 42 lettres manuscrites vers 1968–1995. BLD 2, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, Le Mesnil Saint-Denis, o.T., o.M., 1976, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 4, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 17. Juni 1980, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 7, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 21. Juni 1982, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 9, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 21. August 1985, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 10, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 10. März 1986, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 11, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 24. April 1988, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 13, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 05. J. 1990 [sic], Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 14, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 02. Dezember 1990, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 16, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 12.12.1991, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 18, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 16. November 1994, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 20, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, o.O., 15.01.1993, Fonds Derrida, 219DRR/9.2. BLD 22, Brief von Maurice Blanchot an Jacques Derrida, ohne Datum, geschätzt 1986–1988 [Parages erschien 1986, Heidegger- und de Man-Affäre waren 1987–1988], Fonds Derrida, 219DRR/9.2. Brief von Maurice Blanchot an Derrida, angehängt an das Buch «L’Écriture du désastre« (Ausgabe von 1980, Paris Gallimard, o.O., o.D.) Lettres de Canguilhem à Derrida, in: IMEC, Fonds Derrida, 219DRR/23.3 In 23.3 befinden sich 15 lettres manuscrites, 2 cartes de visite, 1 télégramme 1969–1994.
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CD 9, Brief von Georges Canguilhem an Jacques Derrida, Marly-le-Roi, 01. Januar 1963, 219DRR/23.3. CD 18, Brief von Georges Canguilhem an Jacques Derrida, Marly-le-Roi, 12. November 1994, 219DRR/23.3. Lettres de Granel à Derrida, in: IMEC, Fonds Derrida, DRR 47.1 In 42.1 befinden sich 15 lettres et cartes manuscrites, 2 lettres dactylographiées, 5 cartes postales, 1966–1992. GRD 2, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, o.O., 06.01.1967, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 6, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, o.O., 16.01.1968, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 7, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, St Sauveur, 08. September 1967, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 11, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Toulouse, 20. Oktober 1967, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 14, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Toulouse, 22. Februar 1968, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 17, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Toulouse, 04. Februar 1968, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 25, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, St Sauveur, 21. Oktober 1970, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 27, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Toulouse, 28. September 1971, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 28, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Toulouse, 01. März 1972, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 29, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Toulouse, 27. April 1972, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 38, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Bramepan, 10. November 1987, Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 40, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Bramepan, undatiert [mercredi] [1987 geschätzt, da von Psyché und De l’esprit die Rede ist, für deren Sendung er sich hier bedankt], Fonds Derrida, 219DRR/47.1. GRD 44, Brief von Gérard Granel an Jacques Derrida, Bramepan, 22. November 1986, Fonds Derrida, 219DRR/47.1.
Quellenverzeichnis | 305
Lettres de Nancy à Derrida, in: IMEC / 219DRR/96.3 bis 219DRR/96.5 DRR 96/3 enthält 76 lettres manuscrites, 9 lettres dactylographiées, 1 carte postale zwischen 1969–1979. DRR96.4 enthält 61 lettres manuscrites, 9 lettres dactylographiées, 8 cartes postales, 1 photographie zwischen 1980–1989. DRR 96.5 enthält Lettres de Jean-Luc Nancy à Jacques Derrida zwischen 1990– 2004, 46 lettres manuscrites, 3 lettres dactylographiées, 11 cartes postales, 11 photographies. ND 1, Brief von Jean-Luc Nancy an Jacques Derrida, Colmar, 09. Mai 1969, Fonds Derrida, 219DRR/96.3. ND 7, Brief von Jean-Luc Nancy an Jacques Derrida, o.O., 14. Mai 1970, Fonds Derrida, 219DRR/96.3. ND 12, Brief von Jean-Luc Nancy an Jacques Derrida, Straßburg, 07. November 1970, Fonds Derrida, 219DRR/96.3. ND 18, Brief von Jean-Luc Nancy an Jacques Derrida, o.O., 08. April 1971, Fonds Derrida, 219DRR/96.3. ND 95, Brief von Jean-Luc Nancy an Jacques Derrida, Straßburg, 19. Juli 1980, Fonds Derrida, 219DRR/96.4. ND 130, Brief von Jean-Luc Nancy an Jacques Derrida, o.O., 22. (Samstag], o.M., o.J. (geschätzt auf 1980], Fonds Derrida, 219DRR/96.4. ND 233, Postkarte von Jean-Luc Nancy an Jacques Derrida, Fes (Marokko), 24. Dezember 2003, Fonds Derrida 219DRR/96.5. Lettre de Ukai à Derrida, in: IMEC / 219DRR/134.1. Hier gibt es 6 lettres manuscrites, 17 lettres dactylographiées, 4 cartes postales zwischen 1983–2004 UD 3, Brief von Satoshi Ukai an Jacques Derrida, Kyoto, 06. Dezember 1983, Fonds Derrida, 219DRR/134.1. UD 4, Brief von Satoshi Ukai an Jacques Derrida, Tokyo, 18. April 1993, Fonds Derrida, 219DRR/134.1. UD 10, Brief von Satoshi Ukai an Jacques Derrida, Asaka, 03. September 2003, Fonds Derrida, 219DRR/134.1. UD 13, Brief von Satoshi Ukai an Jacques Derrida, Tokyo, 10. März 2003, Fonds Derrida, 219DRR/134.1. UD 21, Brief von Satoshi Ukai an Jacques Derrida, Paris, 06. Januar 1986, Fonds Derrida, 219DRR/134.1.
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314 | Geschriebene Freundschaft
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ABBILDUNGEN Abb. 1: »Chiasmus der beiden Formen der Freundschaft« Abb. 2: »Nancy über den Brief von Derrida gebeugt«, Fotografie: Nicola Tams, 2015. Abb. 3: »Nancy mit undatierter Postkarte Derridas aus Spanien (Alhambra) und Briefen Derridas«, Fotografie: Nicola Tams, 2015.
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