Geschichtstransformationen: Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption [1. Aufl.] 9783839428153

Re-interpreting history: This interdisciplinary anthology puts media, procedures, and utilization of re-interpreting his

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German Pages 542 Year 2015

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Table of contents :
Editorial
INHALT
Danksagung
Vorwort
Geschichtstransformationen Medien – Verfahren – Funktionalisierungen
I. Bedingungen, Modi und Funktionalisierungen von Geschichtstransformationen
Narrative Transformations in Cultural History
Nach dem Schreiben Abschreiben und Umschreiben von Geschichte in der Frühen Neuzeit
Autopsie und Convivium Wissenskulturen des 16. Jahrhunderts als Beispiel für kulturelle Transformationen
Historismus in der Literatur des 19. und des 21. Jahrhunderts Verwandlungsformen abstrakter Teleologie in konkreten Sinn im historischen Erzählen
Strategien der Geschichtstransformationen in Themenparks
II. Narrative und Narrativisierungen von Geschichtstransformationen zwischen Fakt und Fiktion
Approaching History and Fiction Daniel Defoe’s Fiction and Writings on the Great Storm
Von der Paralogie zum Widerstreit Jean-François Lyotard und die Geschichtswissenschaft im Spiegel der (Post)-Moderne
María Teresa Andruettos La mujer en cuestión (2003) als Erzählung verwobener Geschichtsstränge
„Es war einmal...“ historische Authentizität – Tarantinos Inglourious Basterds (2009): eine filmische Absage an die Dominanz des Faktischen? Narrative Geschichtstransformationen durch Märchen und Märchenmotivik
Was anfangen mit der verlorenen Zeit?“ Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) als Beispiel einer Geschichtstransformation in der deutschen Gegenwartsliteratur
III. Geschichtstransformationen im Kontext von Gesellschaftskritik und Erinnerungskultur
Between Fact and Fiction: Transforming the Past in George Psalmanazar’s Forged Histories of the Orient
Verlebendigung der Antike Zur Funktionalisierung von Geschichte in der Kulturkritik um 1900 am Beispiel von Stefan George und Alfred Schuler
„... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“ H. G. Adlers poetische Transformationen erlebter Geschichte
The Relationship between History and Fiction in the Folie Tristan de Berne and the Folie Tristan d’Oxford
Milton als Modell und Medium Schlaglichter eines Diskurses des englischen 18. Jahrhunderts
Politisch konstruiert, filmisch demontiert Der Diskurs des Glücks in der spanischen Konsumgesellschaft der 50er Jahre: Esa pareja feliz (1951) und La vida por delante (1958)
„Und herrlich tagt der Kosmos Geschichtstransformationen in Adolf Schottmüllers Lyrikanthologie Klio (1840)
Geschichtstransformationen im Drama der Weimarer Republik: Ernst Toller – Emil Ludwig – Alfons Paquet
IV. Interkulturelle und postkoloniale Geschichtstransformationen
Verräter und Verbrecher? Kulturelle Mittler in der kolonialen Historiografie und in postkolonialen Relektüren: Geschichtstransformation am Beispiel der iberischen Expansion
Prophesying the Future, Replotting the Past: The ‘Blonds’, the Last Constantine, and the Revision of the Fall of Constant inople in Russia and Greece
Toussaint Louverture in der französischen Romantik Die Transformation des haitianischen Revolut ionsführers zum Widerpart Napoleon Bonapartes
Lumina Sophie dite Surprise – die Konstruktion einer karibischen Jeanne d’Arc in der Literatur und Historiografie des 21. Jahrhunderts
Autorinnen und Autoren
Auswahlbibliografie
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Geschichtstransformationen: Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption [1. Aufl.]
 9783839428153

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Sonja Georgi, Julia Ilgner, Isabell Lammel, Cathleen Sarti, Christine Waldschmidt (Hg.) In Zusammenarbeit mit Matthias Emrich, Dorothea Flothow, Svenja Frank, Marcel Hartwig, Jacqueline Hylkema, Uta Miersch und Dominik Schuh. Geschichtstransformationen

Mainzer Historische Kulturwissenschaften | Band 24

2015-01-21 10-30-49 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235818304|(S.

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4) TIT2815.p 388235818312

Editorial In der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften werden Forschungserträge veröffentlicht, welche Methoden und Theorien der Kulturwissenschaften in Verbindung mit empirischer Forschung entwickeln. Zentraler Ansatz ist eine historische Perspektive der Kulturwissenschaften, wobei sowohl Epochen als auch Regionen weit differieren und mitunter übergreifend behandelt werden können. Die Reihe führt unter anderem altertumskundliche, kunst- und bildwissenschaftliche, philosophische, literaturwissenschaftliche und historische Forschungsansätze zusammen und ist für Beiträge zur Geschichte des Wissens, der politischen Kultur, der Geschichte von Wahrnehmungen, Erfahrungen und Lebenswelten sowie anderen historisch-kulturwissenschaftlich orientierten Forschungsfeldern offen. Ziel der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften ist es, sich zu einer Plattform für wegweisende Arbeiten und aktuelle Diskussionen auf dem Gebiet der Historischen Kulturwissenschaften zu entwickeln. Die Reihe wird herausgegeben vom Koordinationsausschuss des Forschungsschwerpunktes Historische Kulturwissenschaften (HKW) an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz.

The Mainzer Historische Kulturwissenschaften [Mainz Historical Cultural Sciences] series publishes the results of research that develops methods and theories of cultural sciences in connection with empirical research. The central approach is a historical perspective on cultural sciences, whereby both epochs and regions can differ widely and be treated in an all-embracing manner from time to time. Amongst other, the series brings together research approaches in archaeology, art history, visual studies, literary studies, philosophy, and history, and is open for contributions on the history of knowledge, political culture, the history of perceptions, experiences and life-worlds, as well as other fields of research with a historical cultural scientific orientation. The objective of the Mainzer Historische Kulturwissenschaften series is to become a platform for pioneering works and current discussions in the field of historical cultural sciences. The series is edited by the Co-ordinating Committee of the Research Unit Historical Cultural Sciences (HKW) at the Johannes Gutenberg University Mainz.

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Sonja Georgi, Julia Ilgner, Isabell Lammel, Cathleen Sarti, Christine Waldschmidt (Hg.)

Geschichtstransformationen Medien, Verfahren und Funktionalisierungen historischer Rezeption

2015-01-21 10-30-49 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 03e2388235818304|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2015 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat & Satz: Cathleen Sarti Printed in Germany Print-ISBN 978-3-8376-2815-9 PDF-ISBN 978-3-8394-2815-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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I NH ALT Danksagung ..............................................................................11 Vorwort............................................................................... ......13 MORITZ BASSLER Geschichtstransformationen. Medien – Verfahren – Funktionalisierungen ....................... ......17

I. Bedingungen, Modi und Funktionalisierungen von Geschichtstransformationen Narrative Transformations in Cultural History ..................... ......31 ANU KORHONEN Nach dem Schreiben. Abschreiben und Umschreiben von Geschichte in der Frühen Neuzeit .......... ......53 SUSANNE RAU Autopsie und Convivium. Wissenskulturen des 16. Jahrhunderts als Beispiel für kulturelle Transformationen ................................................ ......69 ALBERT SCHIRRMEISTER

Historismus in der Literatur des 19. und des 21. Jahrhunderts. Verwandlungsformen abstrakter Teleologie in konkreten Sinn im historischen Erzählen ...........107 ANDREA JÄGER Strategien der Geschichtstransformationen in Themenparks ............................................................... ......131 FILIPPO CARLÀ & FLORIAN FREITAG

II. Narrative und Narrativisierungen von Geschichtstransformationen zwischen Fakt und Fiktion Approaching History and Fiction. Daniel Defoe’s Fiction and Writings on the Great Storm ... ......153 AINO MÄKIKALLI Von der Paralogie zum Widerstreit. Jean-François Lyotard und die Geschichtswissenschaft im Spiegel der (Post)-Moderne ......................................... ......169 CHRISTIAN STERNAD María Teresa Andruettos La mujer en cuestión (2003) als Erzählung verwobener Geschichtsstränge .................. ......193 VERÓNICA ABREGO „Es war einmal...“ historische Authentizität – Tarantinos Inglourious Basterds (2009): eine filmische Absage an die Dominanz des Faktischen? Narrative Geschichtstransformationen durch Märchen und Märchenmotivik .......................................... ......213 SABRINA GEILERT & JULIANE VOORGANG

„Was anfangen mit der verlorenen Zeit?“ Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) als Beispiel einer Geschichtstransformation in der deutschen Gegenwartsliteratur ................................................................239 ISABELLA FERRON

III. Geschichtstransformationen im Kontext von Gesellschaftskritik und Erinnerungskultur Between Fact and Fiction: Transforming the Past in George Psalmanazar’s Forged Histories of the Orient............259 JACQUELINE HYLKEMA Verlebendigung der Antike. Zur Funktionalisierung von Geschichte in der Kulturkritik um 1900 am Beispiel von Stefan George und Alfred Schuler ..........................................281 EVA WIEGMANN-SCHUBERT „... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“. H. G. Adlers poetische Transformationen erlebter Geschichte .............................................................................303 MARTIN MODLINGER The Relationship between History and Fiction in the Folie Tristan de Berne and the Folie Tristan d’Oxford.............325 FIONA SUSLAK Milton als Modell und Medium. Schlaglichter eines Diskurses des englischen 18. Jahrhunderts ...........................343 KERSTIN MARIA PAHL

Politisch konstruiert, filmisch demontiert. Der Diskurs des Glücks in der spanischen Konsumgesellschaft der 50er Jahre: Esa pareja feliz (1951) und La vida por delante (1958)......................................................367 JULIA BRÜHNE „Und herrlich tagt der Kosmos der Geschichte“. Geschichtstransformationen in Adolf Schottmüllers Lyrikanthologie Klio (1840) ............................................... .....393 NIKOLAS IMMER Geschichtstransformationen im Drama der Weimarer Republik: Ernst Toller – Emil Ludwig – Alfons Paquet ...... .....417 CHRISTOPHER MEID

IV. Interkulturelle und postkoloniale Geschichtstransformationen Verräter und Verbrecher? Kulturelle Mittler in der kolonialen Historiografie und in postkolonialen Relektüren: Geschichtstransformation am Beispiel der iberischen Expansion ....................................................... ......441 CORNELIA SIEBER Prophesying the Future, Replotting the Past: The ‘Blonds’, the Last Constantine, and the Revision of the Fall of Constantinople in Russia and Greece .......................... ......461 MICHEL DE DOBBELEER & EUGENIA RUSSELL Toussaint Louverture in der französischen Romantik. Die Transformation des haitianischen Revolutionsführers zum Widerpart Napoleon Bonapartes ............................... ......481 ISABELL LAMMEL

Lumina Sophie dite Surprise – die Konstruktion einer karibischen Jeanne d’Arc in der Literatur und Historiografie des 21. Jahrhunderts .................................. .....501 SARAH GRÖNING Autorinnen und Autoren ................................................... .....527 Auswahlbibliografie ............................................................... 535

Danksagung Der vorliegende Sammelband vereint die Ergebnisse der transdisziplinären internationalen Konferenz Geschichtstransformationen – Transformations of History der gleichnamigen Nachwuchsforschergruppe Geschichtstransformation|en,1 die im Frühjahr 2013 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz dank der großzügigen Unterstützung durch die inneruniversitäre Forschungsförderung der Universität Mainz sowie den Forschungsschwerpunkt Historische Kulturwissenschaften stattfinden konnte.2 Hinsichtlich seiner konzeptuellen Ausrichtung basierte das Kolloquium auf den zweijährigen Vorarbeiten des Mainzer Netzwerks, die nicht zuletzt Veranstaltungsreihen mit wechselnden auswärtigen Referenten umfassten, worin der eigene theoretisch-methodische Ansatz diskutiert und konturiert werden konnte. Besonderer Dank gilt daher unseren Gastwissenschaftlern Prof. Dr. Moritz Baßler (Münster), Prof. Dr. Susanne Rau (Erfurt) und Prof. Dr. Matías Martínez (Wuppertal) für ihre uneingeschränkte Gesprächsbereitschaft – auch über den jeweiligen Arbeitskontext hinaus – sowie für die zahlreichen konstruktiven Hinweise. Dass das Lektorat vor allem im Sommersemester 2014 so zügig voranschreiten konnte, verdankt sich der redaktionellen Mitarbeit aller Netzwerkmitglieder, vornehmlich Matthias Emrich (Mainz), Drs. Jacqueline Hylkema (Leiden), Uta Miersch (Mainz) und Dominik Schuh (Mainz). Die kompetente Betreuung fremdsprachiger Beiträge übernahmen zusätzlich Dr. Dorothea Flothow (Salzburg), Svenja Frank (Oxford/Göttingen), Dr. Sonja Georgi 1 2

Für weiterführende Informationen siehe: http://www.historische.kulturwissenschaft.uni-mainz.de/756.php, 30.9.2014. Geschichtstransformation(en) – Transformations of Histories, internationale Konferenz an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, 28.2.-1.3.2013. Das Tagungsprogramm ist einsehbar unter: http://www.historische.kulturwissenschaft. uni-mainz.de/Dateien/Flyer_Tagung_GeTrans.pdf, 30.9.2014.

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Danksagung

(Mainz), Dr. Marcel Hartwig (Siegen) und Isabell Lammel (Germersheim/ Mainz). Gesonderter Dank gebührt Cathleen Sarti (Mainz) für die unermüdliche Koordinations- und Kommunikationsarbeit, die das Projekt und alle Beteiligten fortwährend im Dialog hielt. Diese erste Synthese in gedruckter Form wäre nicht möglich gewesen ohne die Diskussionskultur früherer Workshops und Arbeitstreffen mit weiteren assoziierten sowie ehemaligen Mitgliedern, darunter Dr. Álvaro Ceballos Viro (Lüttich), Paul Friedl (Mainz), Dr. Kathleen Loock (FU Berlin), Dr. Monika Pietrzak-Franger (Braunschweig), Dr. Isabelle Stauffer (Mainz), Alexandra Schäfer (Mainz), Dr. des. Martin Seidl (Mainz) und Dr. Pia Wiegmink (Mainz). Für die Aufnahme des Bandes in die Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften (MHK) und die Übernahme der Druckkosten sind wir dem Koordinationsausschuss des FSP Historische Kulturwissenschaften, namentlich Prof. Dr. Jörg Rogge, Prof. Dr. Jan Kusber sowie Prof. Dr. Elisabeth Oy-Marra, nachdrücklich verbunden. Gero Wierichs vom Bielefelder transcript Verlag begleitete das Manuskript in jeder Entwicklungsphase mit größter Sorgfalt. Alle begleitenden Texte wie Auswahlbibliografie und Danksagung verantworten die Herausgeberinnen gemeinsam. Unser abschließender Dank gilt allen Autorinnen und Autoren für ihre unerschütterliche transdisziplinäre Diskussionsbereitschaft und die anregenden Beiträge zur Konferenz sowie zum vorliegenden Tagungsband mit dem sie nun auch ein breiteres Publikum erreichen mögen. Mainz, im Herbst 2014

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Die Herausgeberinnen

Vorwort MORITZ BASSLER „[J]ede Zeit schafft sich ihre Geschichte, durch die ihr gemäße Auswahl“ 1 wusste Carl Einstein bereits 1910. Inzwischen dürfte die Erkenntnis von der diskursiven Bedingtheit jeglicher Faktizität zum Konsensbestand der Geisteswissenschaften gehören, auch wenn die Zeit, in der Foucault nur unter dem Ladentisch erhältlich war, jüngeren Historikern durchaus noch erinnerlich sein mag. Wenn somit das Grundsätzliche geklärt ist, kann man sich Spannenderem zuwenden: den je konkreten Fällen. Was wird zu einer gegebenen Zeit, in einem gegebenen kulturellen Zusammenhang jeweils ausgewählt und zu Geschichte gemacht? Nach welchen Kriterien? Welchem Kontext wird es dabei entnommen, was bleibt dabei auf der Strecke, und welche Auswirkungen hat seine Transformation in dem neuen Zusammenhang? Solche Fragen behandelt die Literaturwissenschaft seit Langem unter dem Stichwort der Intertextualität. Wenn aber (Inter-)Textualität der Modus ist, in dem auch kulturelle und historische Formationen am besten lesbar werden, dann verlangt das neben der sorgfältigen Analyse konkreter Einzelfälle vor allem einen systemischen Zugriff. Geschichtstransformierende Umkodierungen und Neuformatierungen – nicht zufällig Metaphern aus jenem medialen Bereich, in dem die systemische Intertextualität in Gestalt des World Wide Web Form geworden ist – werden, jenseits künstlerischer Einzelfälle, ja nur relevant, wo sie systemische Wirkung entfalten, in kollektive Wissensbestände eingehen, mit anderen Worten: an kultureller Poiesis teilhaben. 1

„Es ist notwendig, das Gedankenwerk einer einheitlichen Historie zu zerstören, jede Zeit schafft sich ihre Geschichte, durch die ihr gemäße Auswahl.“, zit. n. CARL EINSTEIN, Arno Waldschmidt [1910], in: DERS., Werke, 5 Bde., Bd. 1: 19081918, hg. von ROLF-PETER BAACKE, Berlin u. a. 1980, S. 36-40, S. 37.

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Moritz Baßler

Um solche Vorgänge aber methodisch in den Blick zu bekommen, ist es nötig, die altbekannten Texte der Geschichte, also die Quellen und den eigenen Text, der diese kritisch ‚versteht‘, zu ergänzen um jenes größere Textarchiv der jeweils untersuchten Kultur, in dem neben den Quellentexten auch deren Bedeutungsmöglichkeiten in Form historischer Paradigmen analysierbar werden. Genauer gesagt braucht man sogar mindestens zwei synchrone Archive, um eine Geschichtstransformation zu analysieren, denn neben dem Ausgangsarchiv ist ja auch das Zielarchiv von Bedeutung, jener kulturelle Kontext, in dem die neue Geschichte formuliert wird und sich schließlich als gängiges Narrativ, als common knowledge und idée reçue festsetzt. Hier kommt das vermeintlich Vergangene zu einer neuen Gegenwart, mit neuen Paradigmen im kulturellen Archiv, die ihm einen neuen und womöglich sehr anderen Sinn verleihen als im Ausgangsarchiv. Die Bibel des 18. Jahrhunderts ist ein Text des 18. Jahrhunderts und nicht der Antike. Man kann sich das so vorstellen wie bei Coverversionen in der Popmusik. Wenn Brian Enos Projekt 801 im Jahre 1976 das Beatles-Stück Tomorrow Never Knows (1966) covert, dann erscheinen im Kontext der musikalischen Experimente Enos bestimmte musikalische Eigenschaften des Songs, vor allem die Loops, als signifikant, andere, etwa die buddhistischen Elemente, die in den Sixties wichtig waren, treten in den Hintergrund oder verschwinden ganz. Das Vergangene erscheint auf diese Weise plötzlich als Teil der Vorgeschichte des Eigenen, hier einer nicht mehr songförmigen elektronischen Musik. Dann erscheint es auch besonders signifikant, dass Paul McCartney damals jene Tonbandschleifen, die in dem von John Lennon geschriebenen Stück zum Einsatz kamen, angeregt von der Musik Stockhausens gebastelt hatte: So entsteht Geschichte als eine der Gegenwart gemäße, sie legitimierende und erklärende Auswahl aus den Archivbeständen. Die hätten sicher auch unzählige andere Kombinationen und Pfade hergegeben, von denen einige bei zukünftigen Geschichtstransformationen Berücksichtigung finden mögen. Tomorrow Never Knows. Zu feilen ist also, am je konkreten Fall, an einer Methode jenseits von Hermeneutik und Paranoia (die Übertragung des hermeneutischen Intentionsmodells auf systemische Vorgänge produziert ja gern Verschwörungstheorien; und die großen historischen Figuren – Cäsar, Jeanne d’Arc, Napoleon – bevölkerten lange nicht nur die populären Geschichtstransformationen, sondern auch die psychiatrischen Anstalten). Wenn Geschichte aber auf allen Ebenen, von der Wissenschaft über die Literatur und Politik bis hin zum Themenpark,

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Vorwort

transformatorisch angeeignet wird, dann nicht bloß im Dienste einer womöglich dubiosen Legitimation des Eigenen, sondern vor allem als eine Quelle von Energie und Relevanz, auf die keine Kultur verzichten kann. Es ist eine ebenso knifflige wie lohnende Aufgabe, solche Prozesse auf der Höhe ihrer Komplexität zu erforschen und zu beschreiben.

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Geschichtstransformationen Medien – Verfahren – Funktionalisierungen 1 Das Wesen der Geschichte ist die Wandlung.2 (Jacob Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen)

Das Bewusstsein von ,Geschichte‘ sowie das Bedürfnis ihrer memorialen Tradierung3 und ihrer variierenden, ,transformierenden‘ Umschrift kennzeichnen seit jeher den menschlichen Umgang mit Vergangenheit – sei es im religiösen Ritus, in architektonisch-materiellen Manifestationen oder in der bewussten historiografischen Aufzeichnung. Als ‚Geschichtstransformation‘ wird hier und im Folgenden mithin ein ubiquitäres, transhistorisches sowie transkulturelles Phänomen begriffen, dessen Konkretisationen, die einzelnen Geschichtstranformationen, jedoch erst in bestimmten geschichtlichen, sozio-kulturellen sowie kommunikativen Kontexten bedeutungsstiftend werden. Als Rekurs auf die Vergangenheit resp. auf ein Vergangenheitssegment handelt es sich bei einer jeden Geschichtstransformation zunächst um einen retrospektiven Vorgang. Der Akteur bzw. die Akteure perspektivieren einen Wirklichkeitsausschnitt aus einer zeitlich späteren, nachzeitigen Position, die dem vorherr1

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Die vorliegende Begriffsbestimmung und Konzeptualisierung von ,Geschichtstransformation(en)‘ rekurriert auf interne Vorarbeiten der gleichnamigen Mainzer Nachwuchsforschungsgruppe und versucht, diese unter Berücksichtigung der Ausrichtung sowie der Ergebnisse der Tagung, wenn auch nicht vollständig, so doch systematisierend zusammenzuführen. Die schriftliche Ausarbeitung hat Julia Ilgner übernommen. BURCKHARDT, 2000 [1905], S. 370. Die archivalische Leistung für das kollektive Gedächtnis eines kulturellen Kollektivs wird hier und im Folgenden als inhärenter Bestandteil jeglicher Geschichtsüberlieferung begriffen (vgl. J. ASSMANN 2013 [1992], A. ASSMANN 2010 [1999]) – im Abgrenzung zu den früheren Positionen Maurice Halbwachs’ und Pierre Noras, die das dichotomische Verhältnis von Geschichte und Gedächtnis betonten.

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Geschichtstransformationen

schenden Geschichtsbewusstsein sowie den geschichtskulturellen Wertvorstellungen der jeweiligen Zeit verpflichtet sind.

Forschung Da sich die einzelnen Perspektiven sowohl im Rahmen der Netzwerkarbeit als auch bei der sich anschließenden Tagung auf den Akt sowie die einzelnen Realisationen der Geschichtstransformation als dominant inter- bzw. transdisziplinär erwiesen, gründen die folgenden Ausführungen auf Anleihen bei der Kulturtransfertheorie (Espagne, Werner) 4 , dem New Historicism (Baßler) 5 sowie philologischen Diskurs- und Rezeptionskonzepten: Die primär historisch-kulturwissenschaftliche Transfertheorie wurde vor allem um literaturund medienwissenschaftliche Ansätze einer intermedialen Rezeptions- 6 und Erzähltheorie (u. a. Fludernik, Klein/Martínez, Wolf) ergänzt:7 Zugrunde liegt ein erweiterter Text-Begriff, der es erlaubt, jenseits des konventionellen Schriftzeugnisses auch historisch-kulturelle Texturen sowie materielle Konkretisationen diskursiv zu analysieren. Mit dem Berliner SFB 644 Transformationen der Antike8 teilt das hier skizzierte Konzept die Annahme einer grundlegenden Reziprozität des Transferprozesses, einer gegenseitigen Bedingtheit und Einflussnahme von Referenz- und Aufnahmebereich (Allelopoiese).9 Nicht 4 5 6 7

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Vgl. ESPAGNE/WERNER, 1985. Vgl. BASSLER, 2001 [1996], 2002 und 2003. Vgl. RAJEWSKY, 2002; SIMONIS, 2009. Vgl. FLUDERNIK, 2001 und 2013; KLEIN/MARTÍNEZ, 2009; KOSCHORKE, 2012; NÜNNING, 1995 und SCHMID, 2014 [2005]. Nachdem in den 1970er und 80er Jahren bereits verstärkt philologische Methoden wie textimmanente und rhetorischsprachliche Analysen Eingang in die us-amerikanische und angelsächsische Geschichtswissenschaft gefunden haben (LACAPRA, 1987 [1985], WHITE, 2008 [1973] und 1990 [1987]; in der deutschsprachigen Forschung u. a. RÜSEN 1976), konzentriert sich die Aufnahme in jüngerer Zeit auf dezidiert narratologische Konzepte, so u. a. bei ECKEL 2007 und JÄGER, 2002 und 2009. Vgl. BÖHME, 2011, darin insbesondere die Einführung von BERGEMANN u. a., 2011, S. 39-56, sowie den Beitrag von ALBERT SCHIRRMEISTER in diesem Band. Die im Kontext des Berliner SFB entwickelte Zentralkategorie der Allelopoiese bezeichnet „das Prinzip wechselseitiger Konstitution, Konstruktion und Modellierung“ (S. 40) zwischen Referenz- und Aufnahmekultur und bestimmt die Auffassung von Transformationen als „bipolare Konstruktionsprozesse“ (S. 43). Entscheidend für die hiesigen Ausführungen ist hingegen das überindividuelle Wissen resp. das imaginierte Bild, das eine Aufnahmekultur zu einem spezifischen Zeit-

Geschichtstransformationen

jedoch die Prozessualität selbst, also die abstrahierte konstitutive Wechselwirkung und Produktivität der am Transformationsprozess beteiligten Elementen stehen im Fokus der nachfolgenden Beiträge, sondern die ganz konkreten Subjekte, Intentionen sowie die spezifischen Ergebnisse der jeweiligen Transformation.

Begriff und Konzept Das diesem Band zugrundeliegende Konzept von Geschichtstransformation – als Kompositum der historischen resp. ästhetischen Grundbegriffe ,Geschichte‘ und ,Transformation‘ (von lat. transformare = umwandeln, umformen) – bezeichnet den Prozess der produktiven Rezeption sowie der formal wie inhaltlich variierenden Reproduktion von Geschichte als verifizierbarer faktischer Entität in unterschiedlichen Medien, Epochen, sozialen, kulturellen sowie kommunikativen Kontexten. Dabei liegt der Auffassung von ,Geschichte‘10 ein enger Wahrheitsbegriff zugrunde: ,Wahr‘ sind solche Transformationen, die ein außersprachliches Realitätskorrelat, also eine Entsprechung zur historischen Wirklichkeit, aufweisen und die ein Wissenskollektiv intersubjektiv als ‚wahr‘ begreift. Damit sind Geschichtstransformationen einem Faktizitätsgebot verpflichtet, demzufolge die einzelnen Konkretisationen einen (zumindest punktuell oder partiell validen) faktualen Aussagestatus besitzen müssen – unabhängig davon, ob deren Geltungsbereich faktual oder fiktional ist.11 Vom Begriff der ,Rezeption‘ in seiner klassisch-philologischen Prägung12 unterscheidet sich die Geschichtstransformation zum einen hinsichtlich ihrer grundsätzlichen medialen und materiellen Offenheit des zu transformierenden Spenderbereichs, zum anderen hinsichtlich der kategorischen funktionalen punkt über die Referenzkultur hat und unter dessen Voraussetzungen die Aneignung und Deutung erfolgt. Vgl. BERGEMANN u. a., 2011, S. 40-43. 10 Im Bewusstsein der Komplexität des Schlüssel- und Grundbegriffs ,Geschichte‘ als kontingenter, da selbst historisch herausgebildeter, und semantisch instabiler terminus technicus, sei ,Geschichte‘ in diesem Kontext primär als szientifisch überprüfbare, empirisch beglaubigte Größe verstanden. Vgl. KOSELLECK, 1975. 11 Dass nicht allein die historisch-faktuale, sondern in literarischen Kontexten vielmehr die ,dichterische‘ Wahrheit zur epistemischen Geschichtsschau eignet, zeigt MARTIN MODLINGER exemplarisch anhand der autobiografischen Romane H. G. Adlers auf. 12 Im Sinne einer primär textbezogenen Aneignung und Auseinandersetzung durch den rezipierenden Modellleser.

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Geschichtstransformationen

Hinterfragung des transformatorischen Akts sowie der beteiligten variablen Faktoren. Die Anverwandlung historischer Sujets erfolgt nicht zu artifiziellem Selbstzweck im Sinne einer L’art pour l’art-Ästhetik, sondern ist – als anthropogener und somit interpretativer Akt – intentional motiviert, denn „mit Geschichte will man etwas“13. Gleichwohl ist das transformatorische Spektrum prinzipiell unendlich und reicht von der bloßen archivalisch-konservatorischen Tradierung14 über kreativ-schöpferische Remodulierungen (nicht zuletzt auch in wissenschaftlichen Repräsentationsformen) 15 bis hin zur zergliedernden Demontage. Darunter fallen zeitgebundene Aktualisierungen ebenso wie szientifische Geschichtsrevisionen und -korrekturen sowie wissentlich manipulative ,Geschichtsklitterungen , Geschichtsfälschungen bzw. Geschichtslügen 16 . Da sich die transformatorischen Ergebnisse in der Praxis selten taxonomisch verorten lassen, können Bewertungen nur auf Grundlage einer Transformationsanalyse erfolgen. Diese müsste idealiter all diejenigen Aspekte des Rezeptionsobjektes bzw. Spenderbereichs systematisch erfassen, die im Zuge der Aneignung einer Transformation unterzogen werden, um sodann anhand der graduellen Abweichung bzw. dem Differenzzustand (hinsichtlich Auswahl, Umfang, eingesetzten Medien und Darstellungsverfahren) eine Zuschreibung vorzunehmen. Da die Geschichte als transformativer Spenderbereich genuin unendlich ist, besitzt jeder Rezeptionsakt notwendig selektiven Charakter. 17 Das heißt, aus der ideell gedachten Gesamtheit historischen Geschehens erfolgt eine motivisch, gehaltlich oder kompositorisch motivierte Auswahl, die Art und Verfahrensweise der jeweiligen Adaptation bedingt. Auch wenn prinzipiell jegliche verbürgte Vergangenheit tradiert und damit variierend fortgeschrieben 13 In Anlehnung an KITTSTEIN, 2006. 14 Dass bereits die manuelle Abschrift in der Frühen Neuzeit nicht als identischreproduktiver Vorgang im Sinne einer bloßen Kopie, sondern vielmehr als textund bedeutungsverändernder Prozess zu verstehen ist, belegt der Beitrag von SUSANNE RAU. 15 Vgl. exemplarisch ANU KORHONENS Plädoyer für eine historiografische Erneuerung durch alternative Emplotment-Strukturierungen. 16 Zum Phänomen der Geschichtsfälschung vgl. die Ergebnisse der MGH-Tagung Fälschungen im Mittelalter (darin insbesondere FUHRMANN, 1988), die historischsystematische Übersicht bei HOFFMANN, 2001 sowie die Beiträge von JACQUELINE HYLKEMA sowie MICHEL DE DOBBELEER/EUGENIA RUSSELL im vorliegenden Band. 17 Dies gilt auch für vermeintlich polyhistorische Perspektivierungen, wie sie der Berliner Gelehrtendichter Adolf Schottmüller in seiner universalhistorischen Lyrikanthologie Klio (1840) vornimmt. Vgl. dazu NIKOLAS IMMER.

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Geschichtstransformationen

werden kann, ist die Fähigkeit zur rezeptiven und vor allem transformatorischbedeutungsverändernden Remodulation nicht universell jedem historischen Sujet eigen. Aufnahme finden zumeist Stoffe des kollektiven Wissens, die von identifikatorischer Funktion sind, beispielsweise historische Persönlichkeiten wie Barbarossa, Wallenstein, Napoleon oder die hier verhandelten John Milton, der haitianische Revolutionsführer Toussaint Louverture und die ‚karibische Jeanne d’Arc‘ Lumina Sophie sowie geschichtliche ,Schlüssel-ereignisse wie die Ermordung Cäsars, Luthers Thesenanschlag oder Kennedys Berlinrede. Die daraus resultierende Geschichtsrepräsentation ist zwangsläufig unvollständig und partikular, denn die Vergangenheit gelangt niemals in ihrer ganzheitlichen Komplexität zur Darstellung, sondern immer nur in einem bewusst gewählten, punktuellen Ausschnitt – sei es als verdichtete Ereignisgeschichte oder als individuelle Biografie. Auswahl und Akzentuierung der Wiedergabe richten sich nach dem Standpunkt der jeweiligen partiellen Perspektivierung. Je größer die Distanz zwischen dem Transformationsakt und seinem avisierten Referenzbereich, dem zu adaptierenden historisch-faktischen Gegenstand, ausfällt, desto intensiver ist zugleich der Grad der Vermittlung. Der zeitliche Abstand erhöht die Wahrscheinlichkeit für frühere, vorangegangene Transformationen desselben Geschichtsausschnitts, sodass nicht mehr allein das ursprüngliche Ereignis resp. der ursprüngliche Ereigniskomplex, sondern auch dessen diskursive Tradierung mitrezipiert wird. Auch bedingt die ausersehene Referenzgeschichte mitunter bereits die Modi und Verfahren der Umschrift, da der Akteur in der Regel keinen Zugang zum ,eigentlichen Ereignis (etwa als Augenzeuge) erlangt und stattdessen auf die Tradierung und deren genuine Erzähl- und Deutungsmuster angewiesen ist. Verfügen die vorgefundenen Schemata über eine universelle Lesbarkeit oder große Prägekraft, so erweisen sie sich zumeist auch für die transformatorische Aneignung als attraktiv und werden entsprechend transponiert. Ähnlich verhält es sich mit der Dauer und Intensität der Aufnahme: Ein singulärer, individueller Rezeptionsakt wird tendenziell über eine erhebliche gestalterische Freiheit verfügen, während eine wiederholte oder gar periodisch wiederkehrende Transformation durch die ihr vorangegangenen Zugriffe in ihrem Modulationsspielraum limitiert, gleichzeitig jedoch für die Rezeption weniger voraussetzungsreich sein wird. Die sporadische oder gar einmalige Adaptation eines tendenziell unkonventionellen, wenig bekannten Geschichtssujets hingegen riskiert, nicht verstanden zu werden, da sie die rezeptiven Annahmen und/oder das Wissen des Adressaten unterläuft. Akteure, die um

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Geschichtstransformationen

die Gefahr des Missverstehens und damit Misslingens ihrer Geschichtstransformation wissen, bedienen sich daher eines strategischen Kunstgriffs, indem sie ihrem exzeptionellen Sujet ein stofflich oder motivisch verwandtes (und bekanntes) Pendant von kollektiver Resonanz beigeben: Durch die Implementierung einer solchen adressatenbezogenen ,Surrogattransformation wird die eigentliche Umdeutung ,lesbar , lässt sich die fremde Geschichte in das eigene Werte- und Kultursystem einfügen.18

Medien Als Träger der Transformation können die unterschiedlichsten Medien fungieren, die konventionell-wissenschaftliche Zugriffsweisen auf die Vergangenheit ebenso umfassen wie die populäre, nicht-akademische Geschichtsrezeption.19 Neben der Historiografie als disziplinär autorisierte, in der Regel schriftliche Fixierung gedeuteter Vergangenheit in pluralen Repräsentationsformen (von den antiken Historien des Herodot über die Herrschafts-, National- und Staatsgeschichtsschreibung im 19. Jahrhundert bis hin zur Kultur- und Mentalitätsgeschichte) besitzen auch Literatur, Film und Hörfunk (Geschichtsdichtung, Historienfilm, historisches Hörspiel) sowie digitale Medien (history-themed games, history blogs, soziale Netzwerke20) grundsätzlich transformatorisches Potenzial. Hinzu kommen vermeintlich ,amediale Aneignungsprozesse im materialkulturellen oder performativen Feld. Dazu zählen bildkünstlerische und architektonische Rezeptionsakte (Historiengemälde, Denkmäler) ebenso wie museale oder performative Formen (Ausstellungen, öffentliche Reden und Debatten, Historical Reenactment) und schließlich der Unterhaltungssektor (Histotainment, Themenparks21).

18 Vgl. die Bezugnahme der Figurenmythen Toussaint Louvertures sowie Lumina Sophies auf die ,ureuropäischen‘ Stellvertreterschaftsmythen Napoleon und Jeanne d’Arc in den Beiträgen von SARAH GRÖNING und ISABELL LAMMEL. 19 Vgl. dazu den facettenreichen Sammelband von GOERTZ, 2005 sowie zuletzt aus primär anglistischer Perspektive KORTE/PALETSCHECK, 2012. 20 Allerdings gilt es hier, die Besonderheit der nicht-dauerhaften Verfügbarkeit, der Modifizierbarkeit (Nutzerkommentare) sowie der Intermedialität (Ergänzung durch Bild- und Filmmaterial) zu berücksichtigen. 21 Vgl. stellvertretend den Beitrag von FLIPPO CARLÀ/FLORIAN FREITAG.

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Verfahren Neben einer quantitativen Perspektivierung geschichtstransformatorischer Prozesse und Resultate rücken mit der Frage nach qualitativen Kriterien die Modi und Verfahrensweisen der Geschichtsaneignung in den Blick. Dies sind, wenngleich varianten- und kombinationsreich, medial und generisch ebenso konditioniert wie durch die jeweilige sujetbezogene Auswahl und die ihr zugedachten Funktionalisierungen. Da es grundsätzlich keine strukturelle Homologie zwischen geschichtlicher Wirklichkeit einerseits und ihrer wie auch immer gearteten ‚codierten‘ Reproduktion (in Schrift, Bild, Ton oder weiteren Zeichensystemen) andererseits geben kann, bedarf jeder Transferprozess zwangsläufig der Konstruktion. Die daraus resultierende semantische Differenz zwischen Aneignung und historischem Korrelat ist nicht nur konstitutiver, sondern mitunter auch bewusst kalkulierter (und programmatisch postulierter) Teil einer jeden Anverwandlung. Die geschieht etwa, wenn Akteure eine formale, verfahrenstechnische Transformationsautonomie für sich beanspruchen,22 aus der im besten Fall – jenseits deskriptiver Wirklichkeitsbeschreibung, konventionalisierter Authentizitätssignale23 und faktualem, ,zuverlässigen‘ Erzählen – gestalterisch-formale Innovationen und Transgressionen24 hervorgehen. Allerdings birgt die Verfahrensfreiheit zugleich auch Risiken und nicht immer glückt die Umwandlung: Dass die gewählten Wiedergabeverfahren den Gegenstand oder die intendierte Zielsetzung bisweilen auch verfehlen können, zeigen Fälle gescheiterter Geschichtstransformation, in denen entweder irrtümlich ein falsches Bezugsobjekt gewählt wird25 oder der mimetische Charak-

22 Ein solcher literarische Autonomieanspruch kennzeichnet etwa die gattungskonstitutiven Vorreden des Historischen Romans, so auch im Falle von Wilhelm Hauffs Lichtenstein (1826), in welchen sich der Dichter gegenüber der Historie positioniert und das eigene Darstellungsziel herausstellt. Vgl. dazu den Beitrag von ANDREA JÄGER. 23 In Anlehnung an MARTÍNEZ 2004, S. 15. 24 Exemplarisch sei auf die geschichtsreflexive Umschrift des Familienromans zu einem montierten, polyphonen Interaktionsgefüge bei ISABELLA FERRON sowie die intermedial evozierte ahistorische Erzählweise in Quentin Tarantinos Inglourious Basterds (2009) nach GEILERT/VOORGANG verwiesen. 25 Der Fall einer gescheiterten Bezugnahme liegt beispielsweise mit der Einführung der Antiqua-Schrift durch die Humanisten vor, die anstatt auf die antike römische Schrift versehentlich auf die karolingische Minuskel zurückgriffen.

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ter einer pseudo-historischen oder historisierenden Reproduktion allzu offensichtlich zu Tage tritt.26

Funktionalisierungen Die hier betrachteten Geschichtstransformationen sind in aller Regel adressatenbezogen und damit auf ein bestimmtes Rezipientenkollektiv, ein Zielpublikum hin konzipiert – sei es zum Zwecke didaktischer Unterweisung, affektivsuggestiver Einwirkung, politisch-ideologischer Vereinnahmung oder visionärer Zukunftsentwürfe. 27 Das Spektrum der potentiellen Wirkungsabsichten erweist sich dabei als beinah so umfassend wie die Modulationen selbst. Auch variiert das Verfahren der jeweiligen medialen Inkludierung: Verfasserintentionen können – traditionell im Rahmen eines Vorworts oder eines poetologischen Subtexts – programmatisch artikuliert oder implizit in die Transformation eingeschrieben sein. Die nicht offen thematisierten, camouflierten Absichten erschließen sich erst aus den applizierten Verfahren (z. B. einer persuasiven Darstellungsstrategie oder der bewussten Vorenthaltung von Informationen) und dem vorgesehenen Wirkungskontext. Vorsicht ist geboten, wenn eine Geschichtsaneignung mehrere Absichten verfolgt oder im Dienste komplexer Wirkungsgefüge steht. Solche Doppel- und Mehrfachfunktionalisierungen 28 sind entweder häufig exemplifikatorischen Darstellungen (etwa historischer Heldenfiguren) mit dominant handlungsaktivierender Appellstruktur eigen oder Indiz parodistischer Geschichtstransformationen, deren verschiedenartige Instrumentalisierungen auch ,plurale‘ Deutungen des transformierten Geschichtssujets zulassen.

26 Die ,Als-ob‘-Ästhetik, die auf eine imitative Wiedergabe des äußeren Erscheinungsbildes, des discours, zielt, kennzeichnet wesentlich die Dichtung des simulierenden Historismus. Vgl. BASSLER 1996, S. 25-32. 27 Ein eindrückliches Beispiel für die interpretative Umschrift des Geschichtsverlaufs (bis hin zur Kontrafaktur) im Dienste christlich-heilsgeschichtlicher Wirkabsichten zeichnen MICHEL DE DOBBELEER und EUGENIA RUSSELL mit der Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen. 28 Vgl. stellvertretend die motivationale Dynamik der bildkünstlerischen Aneignung John Miltons im diskursiven Interessenfeld des englischen Enlightenment, die KERSTIN MARIA PAHL kenntnisreich nachzeichnet.

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Aufbau und Konzeption des Bandes Auch wenn die hier skizzierten Aspekte von Geschichtstransformation als eines funktionalisierten produktiv-variierenden Reproduktionsakts notwendig vorläufig und schematisch geblieben sind, dienen sie doch als heuristische und begriffliche Hilfsmittel, die es erlauben, die einzelnen Transformationsfälle miteinander in Beziehungen zu setzen und innerhalb eines potentiellen Spektrums historischer Rezeption zu verorten, denen die vier Sektionen des Bandes Rechnung tragen. Dies ist umso wichtiger, als ein wesentliches Anliegen darin bestand, die Vergangenheitsaneignung in ihrer historischen Breite sowie ihrer formalen Variabilität zu erfassen: So reichen die Beispiele von der Vormoderne bis in die jüngste Gegenwart – mit Konzentration auf Zeiten intensivierter Geschichtsbezogenheit wie Renaissance und Frühe Neuzeit (RAU, SCHIRRMEISTER), Vormärz und Historismus (IMMER, JÄGER) oder Klassische Moderne (MEID, MODLINGER, WIEGMANN-SCHUBERT). Der Verfahrens- und Funktionsvielfalt entsprechen die gewählten methodisch-theoretischen Paradigmen: Dass sich die einzelnen Konkretisierungen aus der Perspektive des Linguistic Turn (DE DOBBELEER/RUSSELL) ebenso erschließen wie im Rekurs auf narratologische (GEILERT/VOORGANG, SUSLAK), mythentheoretische (LAMMEL) oder postkoloniale (SIEBER) Ansätze, indiziert die spezifische Anschlussfähigkeit des transdisziplinären Kulturphänomens ,Geschichtstransformation‘.

Editorische Hinw eise Um der konzeptuellen Ausrichtung der Konferenz als internationales, transdisziplinäres Kolloquium gerecht zu werden, erfolgt auch die schriftliche Publikation der Ergebnisse in bilingualer Wiedergabe. Die im Folgenden versammelten Beiträge sind demgemäß zum Teil in deutscher, zum Teil in englischer Sprache ohne ergänzende Übersetzungen gehalten. Quellen und längere Passagen in anderen Sprachen wurden ins Deutsche bzw. ins Englische übertragen, ebenso literarische Werke und Primärquellen, wenn möglich, unter Angabe des Originaltitels und des Erscheinungsjahrs der Erstausgabe zitiert. Um dem Leser einen punktuellen Zugriff auch jenseits der Sektionsgliederung zu ermöglichen, wurden den Beiträgen deutschsprachige Abstracts vorangestellt, die den Untersuchungsgegenstand und die wesentlichen Arbeitsthesen paraphrasieren. Querverweise erlauben zusätzlich eine rasche Orientierung, während die beige-

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fügte Auswahlbibliografie über diejenige Forschungsliteratur informiert, die für die theoretische Fundierung des ,Schlüsselkonzepts‘ Geschichtstransformation von übergeordneter Relevanz ist. Dass der Band – gemäß dem Leitbild der Reihe Mainzer Historische Kulturwissenschaften – für eine im weitesten Sinne kulturwissenschaftliche Leserschaft zugänglich bleibt, war uns ein besonderes Anliegen. Ihr sind die formalen Vereinheitlichungen, die den Konventionen einzelner Fachdisziplinen nicht immer gerecht geworden sein mögen, geschuldet.

Literatur Quellen BURCKHARDT, JACOB, Weltgeschichtliche Betrachtungen [1905], in: DERS., Werke. Kritische Gesamtausgabe, 29 Bde., Bd. 10: Aesthetik der bildenden Kunst. Über das Studium der Geschichte, aus dem Nachlass hg. von PETER GANZ, Basel/München 2000, S. 349-558.

Forschungsliteratur ASSMANN, ALEIDA, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, 5. durchges. Aufl., München 2010 [1999]. ASSMANN, JAN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, 7. Aufl., München 2013 [1992]. BASSLER, MORITZ, Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996. DERS. (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, 2. Aufl., Tübingen/Basel 2001 [Frankfurt a. M. 1996]. DERS., Zwischen den Texten der Geschichte. Vorschläge zur methodischen Beerbung des New Historicism, in: Literatur und Geschichte. Ein Kompendium zu ihrem Verhältnis von der Aufklärung bis zur Gegenwart, hg. von DANIEL FULDA/SYLVIA SERENA TSCHOPP, Berlin/New York 2002, S. 87-100. DERS., New Historicism und Textualität der Kultur, in: Kulturwissenschaften. Forschung – Praxis – Positionen (Edition Parabasen 1), hg. von LUTZ MUSNER/GOTTHART WUNBERG, 2. Aufl., Freiburg 2003 [2002], S. 319-340. BERGEMANN, LUTZ u. a., Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturel-

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len Wandels, hg. von HARTMUT BÖHME u. a., München/Paderborn 2011, S. 39-56. BÖHME, HARTMUT, Einladung zur Transformation, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. von DEMS. u. a., München/Paderborn 2011, S. 7-38. ECKEL, JAN, Der Sinn der Erzählung. Die narratologische Diskussion in der Geschichtswissenschaft und das Beispiel der Weimargeschichtsschreibung, in: Neue Zugänge zur Geschichte der Geschichtswissenschaft, hg. von DEMS./THOMAS ETZEMÜLLER, Göttingen 2007, S. 201-229. ESPAGNE, MICHEL/WERNER, MICHAEL, Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahrhundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C.N.R.S., in: Francia 13 (1985), S. 502-510. FLUDERNIK, MONIKA, Fiction vs. Non-Fiction. Narratological Differentiations. In: Erzählen und Erzähltheorie im 20. Jahrhundert. Festschrift für WILHELM FÜGER, hg. von JÖRG HELBIG, Heidelberg 2001, S. 85-104. DIES., Factual Narrative, A Missing Narratological Paradigm, in: GermanischRomanische Monatsschrift 63 (2013), S. 117-134. FUHRMANN, HORST, Von der Wahrheit der Fälscher, in: Fälschungen im Mittelalter, 5 Bde., Bd. 1: Kongressdaten und Festvorträge. Literatur und Fälschung (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 33), Hannover 1998, S. 83-98. GOERTZ, HANS-JÜRGEN, Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung im 20. Jahrhundert, in: Geschichte für Leser. Populäre Geschichtsschreibung in Deutschland im 20. Jahrhundert, hg. von WOLFGANG HARDTWIG, Stuttgart 2005, S. 11-34. HOFFMANN, ARND, Klios ‚doppeltes Herz‘. Zur Bedeutung von Lüge und Fälschung in der Geschichtswissenschaft, in: Geschichtslügen. Vom Lügen und Fälschen im Umgang mit der Vergangenheit, hg. von TILMANN BENDIKOWSKI u. a., Münster 2001, S. 15-53. KITTSTEIN, ULRICH, „Mit Geschichte will man etwas.“ Historisches Erzählen in der Weimarer Republik und im Exil (1918-1945), Würzburg 2006. KLEIN, CHRISTIAN/MARTÍNEZ, MATÍAS, Wirklichkeitserzählungen. Felder, Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, in: Wirklichkeitserzählungen. Felder Formen und Funktionen nicht-literarischen Erzählens, hg. von DENS., Stuttgart/Weimar 2009, S. 1-13. KORTE, BARBARA/PALETSCHECK, SYLVIA (Hg.), Popular History Now and Then. International Perspectives (Historische Lebenswelten in populären

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I. B EDINGUNGEN , M ODI

UND

F UNKTIO N ALI SIERUNGEN

VON

G ESCHICHTSTR AN SFORM ATIO NEN

Narrative Transformations in Cultural History ANU KORHONEN Dieser Artikel perspektiviert Ansätze von Geschichtswissenschaftlern und -theoretikern, die Historiografie zu erneuern, und diskutiert, inwieweit diese Vorschläge unsere Art und Weise, Kulturgeschichte zu schreiben, ändern könnten. Kulturhistorische Erzählungen basieren, so die Annahme, anstatt auf einem kausalen oder chronologischen Emplotment wie viele Theoretiker narrativer Geschichte behaupten, auf einer Logik des Kontextes. Die aktuellen Diskurse haben das Bewusstsein für den konstruktiven Charakter jeglicher Geschichtsschreibung geschärft. Ausgehend von Elizabeth Ermarths theoretischen Maximen, Michel de Certeaus, Greg Denings und anderen Arbeiten plädiert dieser Artikel für die Nutzung narrativer Verfahrensweisen und Strategien, die beeinflusst sind von unserem gegenwärtigen Verständnis der Beziehung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, und dafür, experimentelle Repräsentationsmodi von Vergangenheit zu erproben.

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Anu Korhonen You don’t need to know everything. There is no everything. The stories themselves make the meaning. The continuous narrative of existence is a lie. There is no continuous narrative, there are lit-up moments, and the rest is dark. Jeanette Winterson Lighthousekeeping (2005)

How are we to write history? What are the conventions that signal a text’s belonging within the sphere of historical scholarship, and what should we think about these conventions? In recent years, discussions about the nature of historical writing have not only charted the techniques and logics of creating historical narratives but have also called for active subversion, inventive and creative approaches that tell about the past in new ways. But what might this subversion look like in practice? In this essay, I will consider suggestions made by both practising historians and historical theorists about how to renew historiography, and discuss how these might change our ways of writing cultural history. The challenges posed to historiography have been attributed to various interlinked intellectual trends, such as the cultural turn and the combination of poststructuralist and postmodern epistemologies that, within history, is recognised as the linguistic turn. If, as Joan Scott suggested in 1988, the (then) new epistemology “relativizes the status of all knowledge, links knowledge with power, and theorizes these in terms of the operations of difference”, what was to happen to the writing of history?1 Scott’s call has been felt, as Geoff Eley has explained, as both empowering and disabling. For many, the linguistic turn has appeared as empowering because it has allowed us to question profoundly the cultural, social and political construction of meaning, and to take on an anti-essentialist programme that questions the fixed, foundational and natural knowledge and truth regimes that we live by. But on the other hand, it has been hard to bypass its disabling effects, for the radical forms of the new epistemology seem to undermine the very idea of historical knowledge itself. As Eley again explains, it “reduces the historian’s task to more or less elaborate forms of historiographical critique 1

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SCOTT, 1988, p. 4.

Narrative Transformations in Cultural History

(history not as the archival reconstruction of what happened but as the continuous contest over how the past is approached or invoked)”.2 While many historians, of course, have continued writing and teaching as if nothing much had happened, others have taken the challenges very seriously. Cultural history, for example, would not exist as a disciplinary field if the above-mentioned debates had not called it into being. And yet the contests over the meanings of history and its operations still continue today. Tensions between polarized stances have not abated. Perhaps surprisingly, at least from a cultural historian’s point of view, some have now thankfully pronounced the death of the postmodern, expecting a return to ‘business as usual’. Cultural historians have no such luxury: there is no way back to the realist nationalist epistemologies that privilege the white, male and Western vantage point, and there is no escape from the theoretical advances that have transformed history, too, from “an experimental science in search of law” into “an interpretative one in search of meaning”, as Clifford Geertz suggested for anthropology in the early 1970s.3 The challenge from postmodernity has also engendered a school of historical theorizing that we now know as narrative theory of history, a field of study taking its inspiration – often in surprisingly fawning terms, I might suggest – from Hayden White, advocating the position that history has no access to the past in any real sense, that history has no scientific value, only a moral one, and that historical writing, in fact, is nothing more than fiction. While I sympathize with many of the viewpoints of narrative theory of history, its insistent but often implicit deployment of the rather specific concept of narrative that derives from Hayden White bothers me, and its narrow views about what fiction is bother me as well. Narrative theory of history, while looking at (and criticizing) the more ‘traditional’ spheres of historical practice, assumes that we can understand historical narratives as sequences of causally linked, chronologically emplotted events, arranged as a progression with a beginning, a middle and an end. Their further characteristics, as narrative theorists describe, are narrative closure and lack of an explicit authorial presence, a technique applied to give the (false)

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ELEY, 1999, p. 214. GEERTZ, 1973, p. 5. The various challenges history has faced are neatly summarized in RADDEKER, 2007, p. 33.

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impression that the past is writing itself, without the interpretative actions of a historian.4 ‘Practising historians’, a term sometimes used by the narrative theorists to refer to those of us who still try to engage with the past, tend to see things slightly differently. The concept of narrative that these historians employ, more or less consciously, is significantly wider than White’s formulation that comes to a large extent from classical rhetoric and does not make extensive reference to narratology nor to other more recent debates on narrativity.5 The heightened interest in narrative within historiography may actually be more closely linked with French cultural theory, especially poststructuralist and postmodern critiques of knowledge, than the Whitean tradition.6 Cultural or intellectual historians, for example, rarely present their own stories in the way depicted by White and his followers, because they rarely understand the craft of the historian as simple faithful representation of past events. 7 White’s statements about narrative were not only closely linked with the topic he was mostly studying, nineteenth-century French historiography, but also with the wider problem of whether history could be called a science, a question more acute in the 1970s and early 1980s than for the cultural and intellectual historians of today. After the cultural turn, attempting to evaluate historiography through the traditional cognitive models of the natural sciences would seem a futile exercise. Rather, the narrativity of history is now taken to refer to a mode of experiencing temporality, following Paul Ricœur, or in wider terms to the value of narrative as a mode of understanding and the production of meaning in general.8 The value of White’s contribution for historians, then, has mostly lain in an increased awareness of the constructed nature of all historiography. 4 5

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8

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WHITE, 1987, p. 2f., 24; WHITE, 1999, p. 8f.; see also MUNSLOW, 2007, p. 3f.; MUNSLOW, 2003, p. 13, 20-23. Matti Hyvärinen’s work on the conceptual histories of narrative helpfully traces the genealogies of the different usages of the term and can also help historians redefine their understanding of narratives, see for example HYVÄRINEN, 2006 and 2012. GUNN, 2006, p. 27. Alun Munslow calls historians who represent this position culturalists or deconstructionists, as opposed to the more traditional constructionists and reconstructionists. His terms differ somewhat from the wider epistemological debates on constructionism, raging over all human sciences. See MUNSLOW, 2003, p. 142-144; ID., 2007, p. 10-15. PARTNER, 1986, p. 91-94; KANE, 2000, p. 315f.; SEWELL, 2005, p. 218f.; GUNN, 2006, p. 34.

Narrative Transformations in Cultural History

One of the pet hates of narrative theory of history has been the naïve belief adopted by most historians, as the narrative theorists would have it, that their stories immediately represent the past. Narrative theory of history has not, overall, been as interested in the narrative practices of historiography – what kinds of stories do we actually now write – as in debating whether the past takes the form of a grand narrative – “does the story of the past actually exist to be ‘found’”, as Alun Munslow puts it. 9 But who is the opponent in this debate? Do historians really assume that the past itself arranges itself into a narrative, or do they see themselves as the organizers of the narratives they posit? I would argue that very few historians are as naïve as the theorists like to think, but the debate itself has been useful. Positing that historical stories are just stories, as fabricated and crafted as any works of fiction, serves as a healthy reminder that historians’ work is much more complicated than it seems. The debates about the fictiveness of historical writing have been important for many reasons, but among them is surely an intense interest in how we write what we write, and what we think we are doing when we attempt to represent the past. It is not particularly newsworthy to announce that historians are creative writers and that they should be able to write well, but these days the demands for writing creatively and unconventionally go much deeper. After everything that the linguistic turn forced us to think about, no one can be ignorant about form carrying content, too, and thus our creative efforts must also address the problem of what our writing does with the thing represented, the past itself. It is now widely acknowledged that historians cannot hide behind the belief that when writing about the past they are referring to a reality ‘out there’, unorganized by discourse – this gesture would let what is thoroughly representational masquerade as purely referential.10 And yet, even when we abandon the assumption that the past is out there to be found, we continue to refer to traces surviving from the past, and anchor our interpretation on these traces. Referential practices still shape historical discourse and representations, and must continue to do so for as long as we believe in history as a mode of knowledge at all.11 It is important to maintain, however, that in a sense our histories 9

Keith Jenkins, for one, consistently argues that this is still the case, see JENKINS, 2003; and MUNSLOW, 2007, p. 3; MUNSLOW, 2003, p. 77f. 10 My formulation comes from HALTTUNEN, 1999, p. 166f. 11 PIHLAINEN, 2002, p. 50-54. In his article, Pihlainen also usefully discusses the historian’s role as narrator in historiography.

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are not as much about the past as such; rather, they are attempts to make sense of its textual and material traces. These remnants are only infused with historical meaning through the historical operation, including its storifying function. 12 The fundamental challenge for historical writing, then, is how we understand and construct the relationship between historical traces and their vanished temporal contexts. The form that historical narratives now often take is a negotiation between two imagined temporal layers, and this is perhaps true of cultural history narratives in particular: the historian’s present where his or her story is told, and the reported past, represented by its traces. On the level of the historical narrative, these traces are not just something we talk about – we bring them to bear directly on the narrative itself, letting them intervene in our story, as if they were a partner in discussion. In terms of what we want to talk about, the traces have no interests or intentions – they do not particularly want to tell us anything, and they have no control over what we imagine or describe. However, at least partly, we act as if they had. We imagine them to at least have an interest in being represented truthfully, which is why we let their voices be heard in the midst of our own narratives. We write footnotes and references, collect lists of texts cited and use heaps of quotations. It is crucial to the textual arrangement of historical stories that they are anchored in other texts. No amount of linguistic, cultural, discursive or postmodern turning has changed this, although we can, of course, think of new and exciting ways to arrange and shape that anchoring.

Context and articul ation As I claimed earlier, the organizing principle of most cultural, social and intellectual history narratives now tends to look rather different from the chronologically emplotted narratives of Whitean theorists. But if stories in cultural history are not structured by a logic of causality and chronology, how are they organized? In post-linguistic turn histories, the logic that characterizes both thinking and writing more accurately is contextual framing. Indeed, in much theoretical writing by practising historians, contextualization in its

12 FULBROOK, 2002, p. 107.

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Narrative Transformations in Cultural History

various guises has been a constant call for action in the last 20-30 years. But what do we mean by context, and how are contexts constructed? Abandoning the realist epistemologies that conflate the past and its historiographical representation have also called into question many of the critical procedures traditionally counted amongst historical source criticism. This has highlighted the status of contextualization as history’s method, forcing us to look for characterizations that would sustain its place in the newer cultural epistemologies. Here, cultural history can learn from cultural studies, where a lot of energy has been spent on discussing the notion of articulation, the practice of making connections that facilitate networks and flows of meaning. Lawrence Grossberg, for example, cites the notion of articulation as the only possible method in his field: “cultural studies […] does not have a ‘method’, unless one thinks of articulation – the reconstruction of relations and contexts – as a method”. 13 This is one of the key strengths of cultural analysis: by making connections, by bringing to light the processes of articulation, we can reach interpretations that have the potential to be both innovative and enlightening. But here, I think, also lies one of the potential weaknesses not only of cultural studies but also of cultural history: how to theorize the articulations between cultural phenomena, texts and discourses, and processes of signification? If there is no grand narrative of historical development, then there is no unified past either, and not all our texts, materials and contexts are perhaps connected quite as strongly as we may like to think. What, then, constitutes the basis for articulations and connections, or contexts, within historical interpretation? A wealth of examples and anecdotes does not necessarily amount to a strong argument,14 and here, I would suggest, we need to think about our theories of meaning more closely. The problem, to my mind, is that in more traditional historical thinking the idea of context has been envisioned referentially. For such historians, a context would be constituted by ideological and material divisions in an assumed reality that their sources represent. The studied detail or fact becomes understandable by reflecting it against the reality of the past, by surrounding it by interpretative bits and pieces, collecting evidence and proving its connectedness to the topic in terms of ‘critical procedures’. All this takes place in neutral time, in a temporal context of periods and chronologies that is assumed 13 GROSSBERG, 2010, p. 52. The concept of articulation typical of cultural studies derives from Ernesto Laclau and Stuart Hall, see SLACK, 1996, esp. p. 115-117. 14 SEWELL, 2005, p. 11f.

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to govern not just the discourse of historiography but the past itself. The contextual matter that the evidence constitutes then turns, as needed, both into the specific focus of the work and into a perspectival light-beam that reveals and explains it. A cultural historian, I would argue, should envision her context in a different way. Emerging from a thorough immersion in the linguistic and cultural turns, she would be more interested in following the play of meaning that her texts take part in and see them as constituents of contestations within – to use Foucauldian concepts – specific discourses, epistemes or genealogies. She would find it central to ask what ways of reading and interpretation the studied cultural details or texts allow and what they resist. She would read for interpretative possibilities, alternative ways of knowing, internal inconsistencies, aporias, fractures and ambiguities.15 And what she would come up with would again be possible ‘readings’ of a text and the processes of signification it may have helped to construct. In this way, a context, or a range of articulations, would offer itself as an aid to different interpretations, but it would not penetrate the focus of the study itself, nor masquerade as a raw fact of the past. In sum, if meanings are born differentially in signifying practice, following these operations of difference through our sources should enable us to reconstruct complex fields and frames of meaning – this is the practice we could call contextualization. Now what would this mean in terms of how we construct our narratives? It would certainly entail putting into words a prism of fractured and sometimes contradictory bits of story, refusing closure and doing away with the smooth surfaces of emplotment. Could this be seen as an unconventional narrative within current historical writing? Perhaps. But it would also be standard practice for cultural historians, whose books and articles are often arranged into chapters that offer a perspectival prism from which their topic could be made sense of, and whose endings are left open not only in terms of sequences of chronological change but also in terms of which of the different interpretations will finally win the day. Cultural historians are trained to feel comfortable with ambiguity and contradiction, and their stories rarely have the beginning, the middle and the end of the causal chronology criticized by narrative theorists. It is perhaps necessary to note that although cultural historical narratives do not proceed in chronological sequence, no historian could abandon chronology as a basis of their temporal ontology. Time does, 15 FULBROOK, 2002, p. 104.

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however, appear as “fateful, contingent, complex, eventful, and heterogeneous”, as William Sewell has suggested.16 In terms of the kind of history that narrative theory of history describes, then, the standard cultural history narrative must be seen as unconventional, because, while the events of the past that it describes may well have happened in a chronological sequence, they do not follow that sequence in the interpreted form that is the historian’s writing, and while its themes are emplotted contextually, they do not follow one from another causally. If cultural historical narratives are made up of events following one another, we have to think about events as knots of discourses coming together and generating meaning, or as sets of actions where discursive codes are instantiated. Our events are not, for example, traditional political events whose place and meaning is always-already defined and known. In cultural history, contexts open from the differential operations of meaning: if meaning is always generated by differentiation, it is by charting the discourses in which that play of signification takes place and by pinpointing where meaning strains against its boundaries that contextual confines, too, can be envisaged. Mapping the differential operations of meaning, the core problems that we focus on will open towards their manifold cultural manifestations and articulations, and, if culture is the web in which all meanings are suspended, then outlining these operations also means spinning the web of culture.

Invention and imagi nation Many historians talk about how the traces from the past, too, often present themselves to us as ready-made narratives, as stories people told about real or imagined events, while, at the same time, fashioning discrete symbols into intelligible sequences in order to construct an understanding of the world they were living in. The people of the past, as much as we now, made use of preconceived tropes and narrative structures that could offer them a basis for making meaning, a basis that would tie together different aspects and interpretations of what was happening in an always-already apprehended form. Robert Darnton and Natalie Zemon Davis both already contemplated this when writing their classic studies of new cultural history: Darnton on a Parisian cat

16 SEWELL, 2005, p. 11.

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massacre, Davis on the return of Martin Guerre. Both used sources that had already been fashioned into stories by their informants and were in that sense already interpreted versions of events. As such the stories entailed a communicative framework where the anticipated listeners, tellers and characters of the narrative had their own cultural settings; the raw material of experience had already been turned into a meaningful sequence and shape. Darnton commented on the reluctance of traditional historiography to confront the narrative situation – where could we find ‘the truth’ if everything was already a story, a version, an interpretation? According to Darnton, if we are looking for understanding from the outset, we should be happy if the past reaches us in the narrative form that expressly communicates interpretations and understandings. It is exactly by treating all narratives from the past as ‘fiction’, as meaning-making fabrication and interpretive craftsmanship, that we can develop our own methods of interpreting and understanding.17 This idea has been a fruitful starting point for many historians who frame their interest not as “the traditional question: what was the true story of what actually happened”, but instead want to “write a history of the accounts, narratives, stories built around” the topic they are researching and ask “what does this story mean, and why did it take a particular form at a particular time”. 18 These formulations come from John Brewer’s book Sentimental Murder, an analysis not just of a murder case in the eighteenth century but of the accumulation of stories about that case, a study that Brewer expressly frames as a partial answer to the demands that narrative theory has posed to historical writing: If we (including historians) are all implicated in the stories we tell, then I, too, have an obligation to explain my own narrative. What am I up to in writing about more than two centuries of stories about a crime of passion which, though terrible for those immediately involved […] hardly seems the stuff of ‘history’? The answer to this lies, I believe, in my response to the sometimes rather brutal debates that have taken place over the last twenty years or so between two very different notions of history: one that emphasizes that history is the recovery of what actually happened in the past; the other that history is made in the present, the plotted and imaginative construct of a modern historical narrator.19 17 DARNTON, 1984, p. 82; see also DAVIS, 1983. 18 BREWER, 2005, p. 4f. 19 IBID., p. 7.

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Even though the negotiations about the historian’s role in manipulating the stories surviving from the past and in constructing the past culture only through their own narrativizing efforts have taken many forms, Brewer’s answer is typically self-aware: for many, these debates have meant adopting a more clearly delineated stance towards theories of meaning and the concept of culture, as well as a more consciously problematized relationship with the historian’s object itself. Some experiments represent this questioning in rather drastic form, testing the very truth value of historiographical statements. Simon Schama was among the first to do so: in 1991, he published Dead Certainties (Unwarranted Speculations), seeking to point out that almost nothing about historical analysis and writing is ever dead certain, and that many of historians’ big conclusions on closer inspection turn out to be unwarranted speculations. In his own narrative, Schama combined standard empirical analysis with pure fiction, but presented it all as if it were gold-standard scholarship. Without going through his evidence, we would never have been able to tell which parts of the story were true and what was only a product of his imagination. In his conclusion, Schama lets us in on the game: the aim of this exercise was to follow the broken and interrupted narratives that the past presents us with, and “play with the teasing gap separating a live event and its subsequent narration”: These are stories then, of broken bodies, uncertain ends, indeterminate consequences. And in keeping with the self-disrupting nature of the narratives, I have deliberately dislocated the conventions by which histories establish coherence and persuasiveness. Avoiding the framing of time-sequences supplied by historical chronologies, the stories begin with abrupt interventions – like windows suddenly opened – and end with many things unconcluded. (The ‘Conclusion’ that every doctoral adviser urges on his students as a professional obligation has always seemed to my notoriously inconclusive temperament to be so much wishful thinking.)20

Events in history rarely end, especially the kinds of discursive events that cultural, intellectual and social histories are mostly concerned with; historical writing, however, is usually limited by numbers of characters and pages. The stories of the people we write about seldom end with our endings.

20 SCHAMA, 1991, p. 321f.

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This impression of events and stories of the past rarely conforming to the structures of the historian’s argumentation also troubled David Cressy, a social historian working on early modern Britain, who immersed himself in the “sea of stories” that formed the evidence for his book Birth, Marriage and Death (1997). He was confronted with so many interesting but marginal cases, narratives which did not fit the frame of his overall argument, that he felt he also had to do something with the strangely inspiring oddities. He contemplated three different possibilities that may help us differentiate between competing research strategies more generally: first, he could summarize the incident or the narrative, then relate it to “mainstream history” and to a standard historical interpretation, where it would shed “an unusual sidelight” on the standard frame. Second, he could “impose a specialized interpretative framework” of, say, local history, legal history, history of childhood or history of sexuality, and explicate his case through the conceptual workings of that frame, however violent that might seem in terms of what the stories themselves seem to say. Third, he could “lay out the information, in as complete a form as possible, and follow where it leads”. Vague as the proposal seems, it is the third option that allows most room for unconventional ways of presenting the fruits of the historian’s findings, Cressy suggests: We may […] find ourselves dealing with a fractal narrative, with endlessly multiplying connections and connotations, thickening layers of significance, and no clear sense of closure. Madness may lie in that direction, but so too might a richer sense of the complex culture of early modern England.21

What Cressy came up with can be witnessed in Travesties and Transgressions (2000). Despite his inspiring speculations, the book appears to a specialist reader more as a random collection of intriguing anecdotes than an especially good example of a new paradigm of history writing. One of his suggestions, however, is especially interesting for our purposes: discussing the case of one Agnes Bowker and her cat in 1569, Cressy thinks about the ways in which stories from the past intertwine with stories of today. As the most fruitful strategy for historical interpretation he posits “a double set of negotiations, a nested epistemology, involving present and past”, where both the level of the past and the level of the present involve processes of making and deciphering meanings. For the analyst in the present, however, the past will remain “alien 21 CRESSY, 2000, p. 7-9.

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and elusive”; it will take “us into the realms of uncertainty, indeterminacy, and ambiguity, the shifting grounds of bewilderment and wonder”. 22 It is this engagement with the other that also has the potential to change the self, that can be recorded in the histories we write, not the elusive past itself. A better known example of this technique is Michel de Certeau’s discussion of demonic possession in the seventeenth century, The Possession at Loudun, published in 1970 – earlier than my other examples and indeed before the current debates about narrative were even started. Certeau’s narrative choices may at first seem somewhat perplexing, but on closer inspection they start to take the shape of an imaginative reformulation of the relationship between past traces and their readings in the present. Certeau, too, gives us plenty of quotations from his sources, but he refuses to analyze his excerpts; on the contrary, he uses them to astound the reader by their strangeness and incomprehensibility. He will not tell us a story but instead concentrates on whichever character or event seems to take his fancy – thus showing us that there indeed is no consistent, unbroken story in the past to be found. He does not look for a totality of meaning, but presents us with aporetic tensions and impasses in past discourses that will not take clear shape even under the organizing gaze of the historian. The inconsistencies and contradictions of the past are no basis for a unified interpretation, then, but for a multiplying and perspectival series of questions that one can pose when confronting its traces. The whole dramatis personae and the series of events at Loudun seem to serve, in the end, as an attempt to delineate the boundaries and the epistemological structures of historical scholarship, rather than of what was going on with the possession cases themselves. By its very representation, the Loudun case refutes our belief that the past can be intelligible in and of itself, and instead suggests that it is the historical operation that organizes and constructs past events into intelligible sequences and narratives.23 What all these exceptional epistemological and narrative choices have in common is that they do not facilitate a satisfying reading experience for someone who is used to traditional historical narratives. We seem to be deceived, even though these writers in actual fact expressly refuse to deceive us in the ways that we are accustomed to. Their texts do not follow the analytical and argumentative structures that we are all taught – and by which we are also judged when our theses are examined or our articles peer-reviewed 22 IBID., p. 26. 23 CERTEAU, 2000.

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for academic journal publication. Doing what they do would quite probably not give us a doctoral degree, and it might well keep us from getting our efforts published – most peer reviewers are notoriously unenthusiastic about experimental narrative choices. It may be hard to find evidence for this in published work, but Thomas Cohen, a historian who habitually trespasses on the narrative grounds of literary prose and pushes the boundaries of conventional historical expression, comments on the problems of finding an outlet for more unconventional work in his Love and Death in Renaissance Italy (2004), a book we will soon return to: I tried my draft on a solid journal. Two assessors opined, firmly and unhappily, that, clearly, this was a beginner’s lame effort. A sobering day for me! Clearly, I fumed, follies such as mine should be a sign of longer aging. I gnashed my teeth, lamented with my colleagues, and gamely tried another learned publication. The assessor’s word came back: good stuff, but I wager the board will never have it. Prophetic! And it is too long; why not, the reader asked, make a book of it?24

Cohen’s always inspiring work has been published both in journals and in books, of course, and indeed there are a few journals that expressly pursue experimental work. 25 Still, chances are that if an author’s aim is to try out something different from straight academic history, it may be hard to find a place for publication. Where peer reviewers guard professional standards, the texts I have cited expressly flaunt them: not only do they subvert narrative conventions, they also may not focus or present traditional research problems, or guide their reader towards totalizing interpretations in the way that feels comfortable to us. In terms of both historical theory and historical narration, they continuously draw the carpet from under our feet. The past no longer seems accessible and distinct, a problem to be solved or an object to be described – it cannot be reached with the sleight of hand that we are accustomed to performing 24 COHEN, 2004, p. 69. 25 One such example is Rethinking History, a journal that identifies itself as an arena that “allows historians in a broad range of specialities to experiment with new ways of presenting and interpreting history. Rethinking History challenges the accepted ways of doing history and rethinks the traditional paradigms.”, https:// www.facebook.com/RethinkingHistory, 13.09.2014. See also the special issue on Unconventional Histories in History and Theory 41, 4 (2002).

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ourselves. Instead, these writers struggle to reveal the fictive, crafted nature of historical storytelling – but not as abstract theoretical statements, in the manner of narrative theorists of history, but through their own narrative choices and the epistemological structure of their work. This is why their stories seem fragmentary, dissolving into the unbridgeable gap between the past and the present.

Performance The historians I have drawn from hardly intended their experiments as examples of a whole new paradigm that their colleagues were supposed to follow; rather, they meant to reflect on the small print in the contract of ‘how we do things’, partly as a learned game and partly as questions posed to the community of historians. But if our conception of the ontological status of the past within historiography has changed, our narratives, too, seem open to reworking. One aspect where a change has definitely occurred across a broad spectrum is the amount of self-reflexivity: the authorial role of the historian no longer needs to be hidden, whether it emerges as an explicit narrator or works from behind the scenes like a stage director. It has indeed been a theatrical metaphor that has guided some of the bravest attempts at a new kind of writing. Many now recognize that history-writing is a kind of performance, both in the sense inspired by Judith Butler – we start to recognize it as a discrete discursive activity when its gestures and operations are repeatedly performed – but also in the sense described by Greg Dening, a historian and anthropologist whose books and articles explore the various meanings of performance in a strikingly imaginative way while also questioning the most fundamental principles of historical presentation. Dening’s book Mr Bligh’s Bad Language: Passion, Power and Theatre on the Bounty (1992) is deservedly often cited as a prime example of historical experimentation. In Dening’s hands, what in many ways represents all the hallmarks of meticulous scholarship – an array of historical sources, a base in a traditionally emplotted event of the voyage of the Bounty and a solid focus on what happened and why – takes the form of a play. Starting with a prologue followed by acts and scenes, its narrative resembles the fractured chronology, disruptive reflexivity and interwoven webs of relations of modern prose. Dening himself

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enters his story from the beginning, in the disguise of the deliverer of the prologue, and proclaims his intentions as a historian intrepidly if metaphorically: [T]he deliverer of the prologue enters by a ‘stage door’ that is not part of the scenery but marks a special entry place of someone who for the moment is neither actor nor audience, but in between, distant by being a didact, dangerous by being an ironist, disturbing by being a relativist. On him or her there traditionally focused a deep antitheatrical prejudice. The imagination he or she sparked was dialogic and by that the audience was enticed into the conspiracy of its own engagement in making realism. For those convinced by religion or politics or philosophy that realism was not their own making, this representative of representing was a very dangerous clown.26

The irony, didacticism and relativism here are not just qualities of the deliverer of the prologue but of the historian, who also has a special entry place of someone neither actor (in the past) nor audience (of his histories) and who can, at times, become a dangerous clown, with a dialogic imagination filled with cultural theory. Dening’s is indeed a virtuoso performance, but other historians, too, have made use of theatrical effects. Natalie Zemon Davis, always a courageous explorer of historical performances, imagined herself in conversation with her protagonists in the prologue of Women on the Margins (1997) and Thomas Cohen acted as a stage director when presenting the sixteenth-century case of The Last Will of Vittoria Giustini, a chapter included in Love and Death in Renaissance Italy. Cohen was first drawn in by a female member of the Giustini family, Silvia, but, accommodating for all the different voices in his source material, he needed even more creative ‘carpentry’ than usual to get the story right: To make sense of her, and the whole story, I played my usual tricks, building a list of characters, with their assembled traits, and filling out a time-line of speeches, entreaties, curses, and blows. But, this time, so many were the witnesses that description thickened to the point that, for much that happened, my time-line acquired long strings of dialogue. It is a soap opera, I thought, and presented it that way, speaking in some two dozen voices, for a seminar. I had planned to slide my whole running commentary into the stage directions. But 26 DENING, 1992, p. 3.

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Narrative Transformations in Cultural History since I knew too much, observations spilled over into a prologue, an epilogue, and two entr’actes.27

Davis’s and Cohen’s theatrical effects are not just echoes of Dening’s investigative performativity but playfully serious attempts to rethink the historical operation and particularly its storytelling function. History is about relation-ships set in a complicated temporal frame, where the author translates other voices through his own narrative arrangement but also with anticipated readers in mind. Dening has indeed stressed the dialogic nature of academic writing; for him, it needs to be performed with an audience in mind, as a conversation, and it needs to be performed not according to the formalities of professional rules but by consciously twisting the rules to test their function and purpose. In Beach Crossings (2004), a book that again represents a voyage – this time revisiting the beaches of Oceania and the notion of the beach as limes, as well as the intellectual autobiography of this major scholar – Dening summarizes his legacy to his students and advices us all on how to write history. “Be mysterious”, he says, “be experiential”, “be entertaining”, “be compassionate”, “be performative” and “be reforming”. The reason for writing is a will to change the world, even if writing “is like dropping a rose petal into the Grand Canyon and waiting for a bang”. For Dening, the justification for history writing can be found in the present.28 If these formulations necessarily evoke the idea of a creative writer, Dening also turns the tables and evokes the partner in crime, the creative reader, for whom we write: We have to liberate the creative reader, I say. Stir the exegete, make the critic, let them hear the global discourse that is the white noise behind all our disciplines. What tricks do we have for that? Aphorisms? Riddles? Perspectives of Incongruity? Metaphors? All of those. Our readers need to be rid of their fear of flying. They will not lose theirs if they catch ours.29

It is brave performances that Dening is calling for, then, but performances that also aim to make a difference both in our acts of writing and in the world at large. 27 DAVIS, 1997, p. 9-13; COHEN, 2004, p. 69-73. 28 DENING, 2004, p. 265 and 268. 29 ID., 1996, p. 116.

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Even if Dening’s metaphors, riddles and incongruities are a good start, it has been patently difficult to suggest new shapes and models for a radically new kind of history writing, not least because, as Keith Jenkins has pointed out, looking for such models must itself be interpreted as a continuation of the modernist project that postmodern history has been looking to condemn. 30 Consciously flouting these threats, the literary theorist Elizabeth Ermarth has presented us with the most detailed and imaginative programme so far for a new kind of writing, in her many articles and in her book History in the Discursive Condition (2011). Her characterizations bring to mind many of the examples cited above, but they should inspire us to think even further. Guided by her favourite novelist Vladimir Nabokov, Ermarth calls her thought-provoking model “anthematic narrative”, evoking the Greek word for an especially complicated, many-layered and intertwining floral design. Many of the characteristics of Ermarth’s anthemion we have already encountered, but rather than a theatrical metaphor, she gives her textual organization a visual shape. By collecting together so many of the diverse elements that a new way of history writing might want to employ, the anthemion will serve here as a summing up of how we might want to proceed. There are many facets to Ermarth’s argumentation that we may want to discuss, but let us concentrate here on just a few. When she takes up the linguistic forms we use to hatch our plots and research themes, Ermarth wants to replace our typical research agenda based on standard emplotment and characters with a new thematic alphabet where symbols and details would be considered as systemic elements, as constituents of the code of our discursive understanding. In Ermarth’s opinion, our representation or image of the past should be replaced with patterns and designs through which we aim to understand it. She advises us to look for new narrative solutions through the rhythms, rhymes and melodious qualities of language. She asks us to bend our thematic sequences rather than organizing them into sequential causal plots. Difference and differentiation are more important than similarity or sameness, if we want to face the alterity of meanings that the past necessarily represents. Like most of the historians I have mentioned, she desires breakages, disturbances and noise in the narrative to interrupt our customary interpretative flow – narrative here would advance as a kind of straying, stepping off the path and returning, taking detours into new views and propositions. Ermarth’s historian would make his or her reader, too, 30 JENKINS, 2003, p. 6.

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conscious of the constructed nature or scholarly narrative and refuse to present it as natural or foundational – she would not just attempt to represent the past but would stress the inventive, creative quality of her craft. Ermarth’s most fundamental proposition is that the past should not be presented spuriously as something that can be simply found or as a temporal underpinning that supports our present but as a product of an active interpretative gesture. The past exists to us as our speech about the past, as what and how we say about it; it cannot present itself to us in and of itself, despite the traces that it has left for us to decipher. The past is gone; and history is a dimension of the present. Lastly, she stresses the necessity to keep on searching, to continue with the imaginative quest – this can show itself, for example, in broad-minded interdisciplinarity and in the many encounters that happen, more by accident than by design, when different semantic systems and different discursive codes acknowledge each other.31 Ermarth’s quirky, complex, reiterative, layered anthematic narrative opens up into several directions, moves on several temporal levels and positions the past and the present in overlapping folds. As a theoretical design, it represents a new way of describing and visualizing what historiography does and how it works. But we have already seen it put to practice in different ways by several historians who have refused a traditionalist agenda and experimented with their ways of telling. It is not a final solution, but it is a novel formulation that can set us thinking. In all its abstract visuality, it is among the most concrete of suggestions of a way forward.

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31 ERMARTH, 2004, p. 81f.; ID., 2011, p. 111-113.

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Nach dem Schreiben Abschreiben und Umschreiben von Geschichte in der Frühen Neuzeit SUSANNE RAU* Der Essay thematisiert eine in der Frühen Neuzeit noch weit verbreitete Praxis des Schreibens: das Abschreiben von Texten. Bei näherer Betrachtung dieser Schreibpraxis im Kontext von Geschichtsschreibung zeigen sich unterschiedliche Motivationen und Funktionen des Abschreibens von Texten. Nach der ersten Fixierung einer Geschichte treten eine Reihe weiterer Schreibertypen in Erscheinung, die die Geschichte durch unterschiedlich starke Eingriffe in den Text, durch Kommentare oder auch durch Fortsetzungen transformieren. Die Praxis des Abschreibens selbst wie auch dessen unterschiedliche Funktionen in einer Epoche auch noch nach Erfindung des Buchdrucks stellen nicht nur eine klare Unterscheidung zwischen legitimer Nachahmung und illegitimem Plagiat in Frage, sondern relativieren auch die heute verbreitete Bewertung von Texten mit Begriffen wie Originalität und Kreativität.

‚Geschichte schreiben‘ hat viele Facetten,1 darunter auch diejenige der Transformation. Der Vorgang des Geschichteschreibens reicht von der Notation der Ereignisse – ob direkt als Augenzeuge oder indirekt durch das Befragen von * 1

Für kritische Lektüre und hilfreiche Hinweise danke ich herzlich Julia Ilgner und Cathleen Sarti. Vgl. RAU/STUDT, 2010. Das Studienbuch gliedert sich nach den Aspekten ‚Orte‘, ‚Prozesse‘ und ‚Erzählungen‘, die zugleich analytische Kategorien darstellen. Der Begriff der Geschichtstransformation wurde hier nicht als Analysekategorie verwendet; der Bedeutung nach sind ‚transformatorische‘ Aspekte jedoch sowohl unter ‚Prozessen‘ (z. B. des Redigierens) als auch unter ‚Erzählungen‘ (die zugleich deuten und legitimieren) zu finden.

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Augenzeugen oder durch das Exzerpieren von Berichten – über die Konstruktion einer Geschichte im Sinne einer historischen Erzählung2 bis hin zur Interpretation. Alle diese Schreibanlässe können zugleich als Transformationen gesehen werden: Transformation eines Phänomens oder einer mündlichen Überlieferung in einen Text (Verschriftlichung), Zusammenfügen von Einzelerscheinungen zu einer kohärenten Erzählung (Narrativierung) oder durch Übertragung in ein anderes Medium (Medienwechsel3). Im Kontext der aktuellen Plagiatsproblematik in der Wissenschaft wie in der wissenschaftlichen Publizistik wird man daran erinnert, dass auch das Abschreiben eine Form des wissenschaftlichen Schreibens ist, wenngleich eine deviante. Um die Situationen und jeweiligen Auswirkungen des Schreibens besser unterscheiden zu können und damit letztlich auch die unterschiedlichen Schreiber und Schreiberinnen (als Aktanten dieser Prozesse), möchte ich im Folgenden anhand einiger Beispiele vor allem des 16. und 17. Jahrhunderts verschiedene Situationen des Abschreibens und Umschreibens von Geschichte thematisieren und nach ihren jeweiligen soziokulturellen Funktionen fragen. Dies wird zugleich eine Gelegenheit sein, an die heute fast vergessene Kulturtechnik des Abschreibens zu erinnern.

Schrei ben Wer Aussagen über den Vorgang des Schreibens von Geschichte macht, muss auch eine Antwort auf die Frage haben, wann wir es eigentlich mit Geschichte zu tun haben. Mögliche Antworten orientieren sich an der Qualität der Ereignisse, an dem zeitlichen Abstand zum Ereignis und an der Voraussetzung der Verschriftlichung (oder anderweitiger Narrativierung). Viele frühneuzeitliche Geschichten haben sich, zumindest intentional, an dem ersten Kriterium, an der Qualität der Ereignisse orientiert. Vielen Schreibern und Schreiberinnen ging es darum, erinnerungswürdige Ereignisse aufzubewahren wie in einem 2

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‚Historische Erzählung‘ verstehe ich als eine Form der mündlichen oder schriftlichen, in der Regel prosaisch verfassten Vergangenheitsdarstellung in Abgrenzung zu ikonografischen und performativen Darstellungsformen; vgl. dazu auch den Abschnitt ‚Schreiben‘. Der Begriff bezeichnet die Übertragung einer Erzählung von einem Medium (mit seinen spezifischen medialen Voraussetzungen) in ein anderes Medium; vgl. BOGNER, 2001, S. 420. Die Intermedialitätstheorie verwendet hierfür den Begriff der Transposition; vgl. RAJEWSKY, 2002, S. 83-117.

Nach dem Schreiben

kulturellen Gedächtnis avant la lettre.4 Die Rhetorik-Tradition wie auch der theologische Diskurs haben eine solche Denkweise ermöglicht. So lässt sich selbst in einer niederdeutschen chronikalischen Handschrift des 16. Jahrhunderts lesen: „Dit hebbe ik to einer klenen gedechtenisse geschreuen von anfank der stat Hamborch“. 5 Ähnliche Formulierungen finden sich in Amtsbüchern und Familienbüchern. In diesen Absichtserklärungen steckt nicht nur ein Überlieferungswille, sondern häufig auch die Beteuerung, dass sich die Geschichten aus glaubwürdigen Schriften und manchmal auch eigenen Beobachtungen und Erfahrungen zusammensetzen. 6 Dieses ‚Zusammensetzen‘ oder ‚Zusammenziehen‘, also Kompilieren, aus anderen Schriften hat natürlich noch nichts mit einer konstruktivistischen Position zu tun, aber die Schreiber waren sich bewusst, dass sie eine Geschichte erzählen, die auf einer Auswahl des Geschehenen (Selektion), auf der Grundlage von Beweisen (Authentizität) und auf der Zusammenfügung von Elementen (Konstitution) beruht. Die meisten waren sich auch bewusst, dass das Schreiben – gegebenenfalls auch das Drucken – ihrer Geschichtserzählung dem Geschehen Nachhaltigkeit verleiht. Hieraus ergeben sich zwei Voraussetzungen von Geschichte: Um etwas als ‚historisch‘ begreifen zu können, benötige ich zum einen die Vermittlungsinstanz eines Erzählers (der identisch mit dem Akteur sein kann), der die Geschehnisse in einen vergangenen Modus transponiert. Die in mündlichen Erzählungen oder schriftlichen Überlieferungen verstreuten Ereignisse müssen zum anderen erst noch in eine bedeutungstragende Erzählung zusammengeführt werden, was sich aus narratologischer Perspektive auch als Konfiguration eines Plots bezeichnen ließe.

Abschreiben Abschreiben war in der Frühen Neuzeit eine weit verbreitete Praxis. Die These mag in ihrer Allgemeinheit etwas übertrieben klingen, für die Geschichtsschreibung ist sie es nicht. Es geht hierbei allerdings auch nicht um den ‚absichtlichen Täuschungswillen‘, wie diese Praxis heute im Fall des Diebstahls 4 5

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Vgl. ASSMANN, 1992. Zit. n. RAU, 2002, S. 36. („Dies habe ich für ein kleines Gedächtnis zum Beginn der Stadt Hamburg geschrieben“), wobei Gedächtnis sinngemäß mit Gedenken oder Erinnerung wiedergegeben werden kann. Sofern nicht anders angegeben, wurden alle hier angeführten Übersetzungen von der Verfasserin angefertigt. Zu Stellenwert und Rhetorik von Augenzeugenschaft: vgl. SAWILLA, 2011.

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von geistigem Eigentum bezeichnet wird. Ein Blick in den poetologischen Bereich vermag die Problematik einer klaren Unterscheidung zwischen legitimer Nachahmung und illegitimem Plagiat zu verdeutlichen. Denn lange Zeit – von der Renaissance bis weit ins 17. Jahrhundert – galten sowohl die imitatio, also die Nachahmung von für Vorbilder gehaltenen Autoren, als auch die aemulatio, also die Überbietung der Vorbilder, in der Literatur als legitime Maximen europäischer Dichtung. 7 Auch in den bildenden Künsten und der Architektur galt die Nachahmung als Prinzip künstlerischen Schaffens. Ganz allmählich zeichneten sich jedoch Veränderungsprozesse ab. Immerhin wurde die Fußnote (als Zitatbeleg) in der Frühen Neuzeit erfunden, wie Anthony Grafton aufgezeigt hat.8 Auch das Plagiat als Gedankenklau gibt es als Vergehen definitiv seit Jacob Thomasius’ Schrift De plagio literario von 1673. 9 Seitdem ist eigentlich klar, dass man fremdes Wissen nur unter Nachweis der Quelle heranziehen darf, d. h. die Herkunft der Texte und Gedanken angeben muss. Dennoch lässt sich die These aufrechterhalten, dass die Frühe Neuzeit im Bereich der Geschichtsschreibung ein abschreibefreudiges Zeitalter war. Noch bis ins 18. Jahrhundert hinein wurden längst nicht alle Geschichten gedruckt. Und selbst wenn, dann war es nicht unüblich, dass weiterhin, also parallel, handschriftliche Exemplare zirkulierten. Dies betrifft vor allem Stadtgeschichten, bisweilen auch Landesgeschichten und Bistumschroniken.10 Die Praxis der frühneuzeitlichen Historiografie zeigt, dass sich ‚abschreiben‘ keineswegs nur auf literarischen Diebstahl bezieht, sondern primär auf das Abschreiben von Handschriften oder auch auf die Reinschrift eines Entwurfs. Daneben gab es freilich noch andere Bedeutungen des Begriffs ‚abschreiben‘: es wurde aus der Natur abgeschrieben (im Sinne von übertragen, nachbilden, abmalen), Kaufleute haben in einer Rechnung abgeschrieben (d. h. einen Betrag abgerechnet), man konnte einer Person abschreiben (d. h. einen Termin absagen) und eine Feder konnte abgeschrieben, nämlich abgenutzt

7 8 9

Vgl. BUCK, 1991; ENTNER, 2000. Vgl. GRAFTON, 1998. Ich verdanke den Hinweis einem Artikel von Volker Rieble (Die Zeit 4/2013), dem Autor des Buchs Das Wissenschaftsplagiat. Vom Versagen eines Systems (2010), das bezeichnenderweise Gegenstand einer Gerichtsdebatte wegen falscher Anschuldigungen gegen einen Münchner Kollegen wurde und in der Folge nicht mehr nachgedruckt werden darf. 10 Vgl. RAU, 2002, S. 417-425; LAUSSAT/SCHNEIDER, 2010, S. 232. Laußat und Schneider verweisen in diesem Zusammenhang auf lateinische, gereimte oder Prosafassungen als parallele handschriftliche Fassungen.

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werden.11 Im Grunde bezeichnet ‚abschreiben‘ also entweder den Aspekt der Doppelung (ein Original kopieren) oder denjenigen der Subtraktion (etwas von einem Ganzen abziehen, abnutzen). Das Abgeschriebene ist jedenfalls das zeitlich Nachfolgende, das Sekundäre; es existiert entweder neben dem Erstentwurf bzw. Original oder es ist eine minderwertige, ältere, schon benutzte Version. Die Figur des Sekundären mag in vielen Fällen des Abschreibens mitschwingen, in der Chronistik sind die Abschriften in der Regel nicht von geringerem Wert als das Original. Abschriften wie auch deren Fortsetzungen beziehen sich aber meist auf ein Referenzwerk, in dessen Schatten sie stehen. In Hamburg war dies bspw. die Tratziger-Chronik, die in über 100 Abschriften bis um 1700 nachgewiesen werden konnte und erst im 19. Jahrhundert ediert wurde. 12 Eine ähnliche Verbreitung der Handschriften konnte kürzlich für schlesische und lausitzische Chroniken aufgezeigt werden. 13 Sie wurden in Rats-, Bürger- und Schulbibliotheken aufbewahrt oder verblieben vielfach im Besitz der Familien. Dort wurden sie abgeschrieben und, wenn nicht kontinuierlich, so doch sukzessive und in Schüben aktualisiert und an die nächste Generation weitergegeben. Abschreiben, so ließe sich vom heutigen Standpunkt aus vermuten, musste man in Zeiten praktizieren, als es noch keinen Kopierer gab oder noch nicht digital gedruckt werden konnte. Es ging damals jedoch nicht einfach um quantitatives Vervielfältigen. Im Bereich der historiografischen Handschriften war das Abschreiben auch von anderen Motiven geleitet: Abschreiben konnte – im Gegensatz zu einer mechanischen Vervielfälti gung – eine Art mimetische Anverwandlung von Geschichte durch körperliches Aneignen im Akt des Schreibens bedeuten. Abschreiben diente ferner der inhaltlichen Einordnung des neuen Gesche hens; neben dem Abschreiben des Alten war hier die Chance des Fortschreibens der Geschichte bis zur aktuellen Gegenwart, wenn sie nicht zu ‚heikel‘ war, gegeben. Abschreiben konnte bisweilen auch eine Gelegenheit zur Neudeutung des  Geschehenen sein: neben philologischen Anpassungen und Auslassungen

11 Vgl. Deutsches Wörterbuch, abschreiben, http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle= DWB&mode=Vernetzung&lemid=GA01307, 26.3.2014. 12 Tratziger’s Chronica, 1865. 13 Vgl. DANNENBERG/MÜLLER, 2013 und darin insbesondere die bibliografischen Beiträge von Mario Müller, Axel Kriechmus und Tino Fröde.

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findet sich hier zeitgemäßes Anpassen oder auch taktisches, d. h. bewusstes Umdeuten. Frei nach einer rezeptionsästhetischen Betrachtungsweise, die davon ausgeht, dass neue Leser neue Texte machen, ließe sich analog für die handschriftliche Historiografie sagen, neue Schreiber machen neue Texte, eben weil das Abschreiben durch Umformulierungen oder Auslassungen leichte Umdeutungen und mithin einen semantischen Spielraum zulässt, ohne dass es sich immer gleich um eine volle Transformation oder – inhaltlich gesprochen – um eine Fälschung handeln muss.14 Um auf wenigstens zwei Arten vertiefter einzugehen: Die körperliche Aneignung von historischen Inhalten scheint sich in einem frühneuzeitlichen Lernsystem wiederzufinden. Von Philipp Melanchthon (1497-1560) ist überliefert, er habe seine Studenten aufgefordert, Texte abzuschreiben.15 Dies sei eine Möglichkeit, sowohl Ausdruck und Rechtschreibung zu üben als auch sich Inhalte durch eine Form des Auswendiglernens anzueignen. Er berief sich dabei auch auf Johannes Reuchlin, der gesagt habe, dass die Menschen vor der Erfindung des Buchdrucks deshalb gelehrter gewesen seien als zu seiner Zeit, weil sie in jedem Fach die Texte noch eigenhändig abschreiben mussten. Dieses Lernkonzept hat eine haptische Komponente. Offenbar wird davon ausgegangen, dass man durch das Erfassen und ‚Anfassen‘ des Buchstabens und der Worte durch die Feder auch den Sinn erfasse. Die zweite Art des Fortschreibens betrifft das mit dem Abschreiben verbundene Fortschreiben einer Chronik, also deren Aktualisierung bis auf die neueste Zeit. Mein Beispiel stammt aus einer Abschrift und Fortsetzung der Tratziger-Chronik in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Der Schreiber, Ulrich Wiese, richtet sich an seine Kinder: Undt weiln ich Ulrich Wiese solche in diesem buch geschriebene sachen mit sehr großer mühe alß vor einem gutten freunde das eine an dem andern gutten freunde das andere und so vort erbetten und erhalten habe, welches des theils durch frembde mit großen kosten habe abcopiiren und in diesen format bringen laßen, theiles aber durch euch meine kindere und das theils mit eigener handt mit nicht schlechter beschwernüß geschrieben worden alß wil euch meine liebe 14 Zum Phänomen der historischen Fälschung vgl. auch den Beitrag von Jacqueline Hylkema im vorliegenden Band. 15 Vgl. SCHEIBLE, 1997, S. 50.

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Nach dem Schreiben kindern hirmit erinnert, vermahnet und erbetten haben sie laßen sich auff keinerley weyse sie haben nahmen wie sie wollen alß durch freundschafft, gutte wohrte, hohe versprechung oder vor geldt neben die bücher so vor mir außwendig mit meiner handt genohmeriret und gezeichnet mit n° A: B: C: und derengleichen matterien auff solche ahrt zusamen gebracht seys auß ihrn hendn kommen, besonders behaltet sie unter euch ins commun und continuiren solches arbeit, weil euch verführen es sol die davor gewandt zeit und getahne mühe euch nicht verdrießlich seyn oder gereuen das Gott berueffe euch in welchen stand es ihnen gefellet, so wirdt ihr allemahl hirinnen etwas finden, welches euch dienlich und zu stattn kommen kann. Dieses is mein veterliche vermahnung, erinnerung, ersuch und bitte, endtlich auch mein gans ernstliche will und begehr, wirdt ihr das solches erfüllen, wirdt ihr den lohn von Gott darvon haben.16

Auch wenn das Vorwort topisch geprägt ist, so spiegelt sich darin doch eine allgemeine Praxis des Abschreibens, Fortsetzens und Tradierens wider. Für das „Abcopiieren“ werden weder Mühen noch Geld gescheut, auch Freunde werden zu Rate gezogen. Selbst die Kinder, also die, die den Auftrag erhalten, die Chronik zu „continuiren“, werden zu Schreibarbeiten herangezogen. Dass Geschichte von Nutzen sei („dienlich“ heißt es hier), entspricht dem damaligen Konsens, doch es geht bei der Fortschreibung auch um eine Aneignung des rezenten Geschehens durch Aufzeichnung und anschließend um die Neuordnung des gesamten Wissens (durch die Nummerierung „A: B: C:“). So kam es beim Fortschreiben gelegentlich auch zu Umdeutungen, die ich im Folgenden mit dem Begriff des ‚Umschreibens‘ bezeichne.

Umschreiben Auch das Umschreiben der Geschichte hat unterschiedliche Bedeutungsfacetten. Ulrich Raulff hat sich vor vielen Jahren im Kontext seiner Überlegungen zur Formierung einer ‚neuen Geschichte‘ (wie Mentalitätsgeschichte, Mikrogeschichte oder intellectual history) Gedanken über die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs gemacht: Umschreiben bedeute erstens Andersschreiben, zweitens Circumscribere (als ‚Abfahren‘, also Bestimmung der Grenzen, an

16 WIESE, Vorwort.

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denen Geschichtsschreibung heute stehe), drittens Metaphorisieren oder Übersetzen in andere Redeweisen, viertens Übertragen als Abschreiben (die Kopistentätigkeit), fünftens Gekritzel (engl. scribble).17 Das Umschreiben von Geschichte war schon mehrfach notwendig, z. B. nach gesamtgesellschaftlichen Umbrüchen insbesondere im 20. Jahrhundert. So hat die Sozialgeschichte im Westdeutschland der 1960er Jahre nicht nur die Geschichte umgeschrieben, sondern auch allmählich das gesamte Fach umgeformt.18 In weitaus schnellerem Rhythmus, dafür aber insgesamt pluraler, gilt dies für die diversen Wenden (linguistic, cultural, spatial, visual, material turn etc.), welche die Geschichtswissenschaft insbesondere als Kulturwissenschaft seit den 1980er Jahren erfassen. ‚1989‘ leitete ebenfalls eine geschichtsinterpretatorische Wende ein, nicht zuletzt hinsichtlich der Curricula-Gestaltung und der Neubesetzung der Lehrstühle, wenngleich dieser Umbruch nicht von allen Seiten gleich erfahren wurde.19 Interessanterweise wurde auch schon in vormodernen Chroniken die Geschichte umgeschrieben. ‚Interessant‘ ist dies deshalb, weil die theoretische Grundüberzeugung der humanistischen wie der konfessionell geprägten Geschichtsschreibung von einem Wahrheitsbegriff geleitet war, der sich an Fakten, Ereignissen, einem gottgewollten Verlauf der Geschichte orientierte, sicherlich aber nicht Interpretationen oder Standpunkte als Kategorien zur Findung von Wahrheit oder Glaubwürdigkeit gelten ließ.20 In der Praxis aber gab es durchaus Ausdeutungen bzw. ein Aushandeln der Gottgewolltheit der Ereignisse. Dies möchte ich anhand von zwei Beispielen aus der Hamburger Chronistik eingehender erläutern. Im ersten geht es um die glättende Darstellung einer innerstädtischen Krise nach der Reformation. Dazu muss man wissen, dass die Reformation in Hamburg zwar relativ zügig eingeführt wurde, dass dies allerdings keineswegs ohne den Widerstand der altgläubigen Partei geschah. 21 So wollten sich auch die Nonnen des Klosters Harvestehude zunächst nicht der Reformation anschließen. Dennoch mussten sie sich entschei17 Vgl. RAULFF, 1986, Vorwort S. 7. 18 Vgl. LANGEWIESCHE, 2006. 19 Vgl. HETTLING, 1998; ZIMMERMANN, 1998: In einem religiös und politisch gespaltenen Land wie Israel ist ein einheitliches Geschichts-Curriculum sogar ausgeschlossen; entsprechend kompliziert ist dann auch das Umschreiben der Curricula nach bedeutenden politischen Ereignissen, wie Moshe Zimmermann dargelegt hat. 20 Zum Wissens- und Wissenschaftsbegriff in der Frühen Neuzeit vgl. VÖLKEL, 2006, S. 195-206. 21 Generell zur Einführung der Reformation in Hamburg vgl. POSTEL, 1986.

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den: gehen oder die reformatorische Lehre annehmen und anschließend heiraten oder in ein Damenstift eintreten. Das Kloster selbst wurde abgerissen. Dass die Reformation andererseits mit „Keulen und Spießen“ durchgesetzt wurde, wie einige katholische Stimmen der Zeit behaupteten, ist zwar nicht wirklich nachweisbar, 22 aber offenbar existierte auch diese Wahrnehmung eine Zeit lang, die durch den Kontext der Klosterschließungen, des Stadtverweises der Prediger, die sich nicht der Reformation anschließen wollten, und die Veränderungen in den Bereichen Gottesdienst, Schulwesen und Diakonie für manche sicher bestätigt wurde.23 In der Tratziger-Chronik aber ist dann zu lesen: Anno 1528 donnerstags nach dem sontage Quasimodogeniti versambleten sich zu S. Johan achtundvierzig burgere und entschlossen sich, an den rat zu schreiben und zu begeren, daz die widerwertige predigen zwischen den pastorn der caspelkirchen und den andern theologen, so der bepstlichen religion verwant, mochten abgestellet und die lere des euangelii eintrechtiglich geprediget werden. Nachfolgende tage kamen sie aber zusamen. Montags und nach dem sontage Misericordias Domini versambleten sich die burger in großer anzal; da lief zu alt und jung; kamen also fur den rat und teten ire begern, des sie sich wie obgemelt entschlossen, dem rate furtragen. Darauf vereiniget sich der rat mit den burgern, daz sie volgendes tages widerumb solten zusammen kommen; so wolte der rat alle prediger bescheiden und einen iden seine predigten und lere aus der schrift beweren horen. Als nu in jegenwardigkeit des rates die alten prediger und die pastorn der caspelkirchen zusamen kamen, wurt ob etzlichen articuln disputiret. Darnach verglich sich der rat mit den burgern, daz funf pfaffen [...] der stat sollten verweiset werden, den sie hetten ire predigen und leren mit der heiligen schrift nicht beweren [beweisen, S.R.] konnen.24

Adam Tratziger (um 1523-1584) war Syndicus der Stadt, hatte die Reformation selbst gar nicht miterlebt, war dann jedoch eine Generation danach sehr darum bemüht, die bereits realisierte Kirchenreformation der Stadt der Nachwelt in bestem Licht zu zeigen. Der Text jedenfalls beschreibt eine friedliche Versammlung, ausführliche Beratungen mit anschließender Konsensfindung und verschweigt alle Formen von Gewalt. Es werden lediglich die „funf pfaf-

22 Vgl. RAU, 2002, S. 286. 23 Vgl. dazu RAU, 2013, S. 1-3. 24 Tratziger’s Chronica, 1865, S. 262f.

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fen“ erwähnt, die sich nicht der Lehre des Evangeliums hätten anschließen wollen und aus diesem Grund aus der Stadt verwiesen worden seien. Fast 150 Jahre später brachte der Kirchenschullehrer und Publizist Wolfgang Heinrich Adelungk (1649-1710) eine historische Beschreibung der Stadt heraus. Geschrieben war sie im Auftrag des Ratsbuchdruckers Conrad Neumann (gest. 1723), also eines dem Stadtrat nahestehenden Druckers. Auch diese Chronik enthält vielerlei Glättungen, die partiell auch der Kürze der Darstellung der Ereignisse geschuldet sein mögen. In dem letzten, zeithistorischen Teil aber ist die Chronik eine klare Beschwichtigung. Die sog. JastramSnitgerschen Wirren hatten am Ende des 17. Jahrhunderts in Hamburg zu großen politischen Verwerfungen geführt, im Zuge derer auch der alte Rat abgesetzt wurde. Durch eine kurzfristige Koalition mit dem dänischen König, die sich dann doch nicht als besonders vorteilhaft für die Stadt herausgestellt hatte, da der König als holsteinischer Herzog immer noch die Landesherrschaft über Hamburg beanspruchte, wurde die gesamte Verfassungsstruktur der Stadt aufs Spiel gesetzt. Am Ende dieser Phase bürgerlicher Unruhen, die durch eine Auseinandersetzung zwischen protestantischer Orthodoxie und Pietismus überlagert wurde, half nur noch eine kaiserliche Kommission (1708-1712), um in der Stadt wieder Ordnung herzustellen. Um den Schutz des Reichsoberhaupts zu erhalten, war es natürlich günstig, die Stadt und ihr Regiment in einem guten Licht darzustellen. Dies ließ sich am besten dadurch erreichen, dass der Chronist die Aufwiegler Cord Jastram (1634-1686) und Hieronymus Schnitger (1648-1686) an den Pranger stellte und gleichzeitig die politische Einheit in der Stadt behauptete. Adelungk fasst die Situation folgendermaßen zusammen: Daruff [nach den Verurteilungen, S.R.] wurden sie beyde am 4. Octobr. auff dem Köpffel-Berge alhier vor dem Stein-Thor / unter einer unzahlbaren Menge frembder und einheimischer Zuschauer / erstlich geköpffet / Jastram hernach geviertheilt / die Leiber auff dem Richt-Platz verscharret / und die Köpffe auff einer eisernen Stangen / Jastrams zwar vor dem Altonaer / Schnitgers aber vor dem Stein-Thor zu einem ewigen Andencken außgestecket worden. Am 30. Octobr. kam Hr. Bürgermeister Meurer wieder in die Stadt / und dirigirte seine Sache / daß in allgemeiner Bürgerschafft per Majora er am 14. Novemb. hernach restituiret wurde / wie er dann auch / in der folgenden Wochen / würcklich seine vorige Dignität wieder bekleidet hat. GOTT gebe / daß hiemit

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Nach dem Schreiben alle dieser Stadt Irrungen gäntzlich gehoben / und die Wurtzel der innerlichen Unruhe ein für allemahl außgereutet bleiben möge.25

Auch diese Verarbeitung der Situation lässt sich als Umschreiben bezeichnen. Hier werden – noch relativ zeitnah – die politischen Gegner des Rates „hingerichtet“ und im Medium der Chronik aus dem offiziellen Gedächtnis der Stadt ausradiert – wenngleich ihre Köpfe noch eine Weile als Schandmal vor den Toren der Stadt ausgestellt waren. Dass Hamburg eine kaiserliche Stadt (also Reichsstadt) sei, war schon gleich dem Titelblatt der Chronik zu entnehmen. Nicht nur politische Unruhen, sondern, wie oben gezeigt, auch religiöse Veränderungen in der städtischen Gesellschaft führten in der Frühen Neuzeit zum Umschreiben der Stadtgeschichte. Eine weitere Wende konnte die Geschichtsdarstellung in Städten erfahren, die im Zuge der Rekatholisierung, etwa im Kontext des Dreißigjährigen Krieges, eine abermalige Veränderung in der städtischen Gesellschaft erfuhr. Die Randnotiz eines katholischen Lesers in einer von lutherischer Hand geschriebenen Chronik der Stadt Breslau kommentiert die Schilderungen mehrfach mit: „mera[e] fabula[e] et mendacia“.26 Die Notiz zeugt von einer konfessionellen Gegnerschaft, die möglicherweise eine Gegengeschichte nach sich zog. Freilich dauert es nicht mehr lange, bis sich auch eine katholische Geschichtsschreibung herausbildete, die in Schlesien durch den Juristen Gottfried Ferdinand Buckisch (1641-1698) verkörpert wurde. Dieser schrieb in seinen (publizierten) Prolegomena zu einer (unpublizierten) Quellensammlung zur schlesischen Reformationsgeschichte, er wolle den bislang ausschließlich evangelischen Darstellungen der Kirchen- und Reformationsgeschichte eine katholische Sichtweise zur Seite stellen.27 Offenbar war man am Ende des 17. Jahrhunderts in die Lage gekommen, die Religionsgeschichte nicht mehr umschreiben zu müssen, sondern mehrere Sichtweisen nebeneinander gelten zu lassen.

25 ADELUNGK, 1696, S. 210. 26 Universitätsbibliothek Breslau IV F 118: Im nahmen der heiligen dreyfaltigkeit amen hebet sich diese breslische cronika an, wass sich alhier in Schlesien, Pohlen, Behmen, Mehrherrn, Ungern zuegetragen, besonderß aber in dieser stadt Bresslaw von 965, Randkommentare auf folgenden Blättern: 152v, 153v, 154v u. ö. Übersetzung des Zitats: („lauter Fabeln und Lügen“). 27 BUCKISCH, 1685.

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Transf ormateur e Abschließend soll ein kurzes Fazit im Hinblick auf die ‚Aktanten‘ der geschichtlichen Transformationen gezogen werden: In der keineswegs marginalen historiografischen Handschriftenkultur der Frühen Neuzeit lassen sich Transformateure der Geschichte auf verschiedenen Ebenen bzw. in verschiedenen Stadien ausmachen: 1. Zunächst fertigt der Erstschreiber die Geschichte an. Er transformiert die empirische Erfahrung, Ereignisse, Beobachtetes, Gelesenes oder anderweitig Rezipiertes in einen historiografischen Text. 2. Der einfache Abschreiber oder Kopist schreibt einen Text ab, ohne größere Veränderungen, es sei denn sprachliche, vorzunehmen. 3. Der produktive Kopist schreibt einen historiografischen Text ab und verändert z. B. durch Ergänzungen, Präzisierungen oder auch durch Auslassungen, ohne jedoch den Sinn des Textes gänzlich zu verändern. 4. Der fortschreibende Kopist verhält sich wie der produktive Kopist, fügt der Geschichte aber noch eine Fortsetzung (bis zur Gegenwart) hinzu. Umschreiber greifen dagegen stärker in den Bedeutungsgehalt der Geschichte ein. 5. Der ausschließende Umschreiber schreibt eine Gegengeschichte vom eigenen Standpunkt aus oder mit eigenen Interessen. Da die Neuperspektivierung konkurrenziell motiviert ist, wird die Referenzgeschichte dadurch negiert. 6. Der pluralisierende Umschreiber schreibt möglicherweise auch eine Gegengeschichte, schreibt sie jedoch ohne Konkurrenzabsicht; die Geschichten sind daher parallel und gleichwertig existent. Vor dem Hintergrund der an Beispielen des 16. und 17. Jahrhunderts entwickelten Typologie wird das Fazit in ein Plädoyer überführt, die Schreibpraktiken mit ihren jeweiligen Funktionen genauer zu unterscheiden, um dadurch auch den Kreis der Transformations-Akteure mit ihren unterschiedlichen Rollen, Motivationen und Intentionen zu erweitern. Wie zu sehen ist, gibt es nach der ersten Aufzeichnung der Geschichte noch eine Reihe weiterer Schreibertypen, die sich die erste Version in unterschiedlicher Weise aneignen und diese dadurch mehr oder weniger stark verändern können. Im Kontext der aktuellen Plagiatsproblematik in der wissenschaftlichen Publizistik vergisst man im Übrigen allzu leicht, dass das Abschreiben auch eine nützliche Funktion hatte

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und haben kann. Es hängt von den jeweiligen technischen Möglichkeiten der Reproduktion und von der Lernkultur ab, ob das Abschreiben erlaubt oder unerlaubt ist. Abschreiben muss zudem nicht immer gleichbedeutend mit mangelnder Kreativität sein. Mit dem Buch Day (2003) hat der Dichter und Hochschullehrer Kenneth Goldsmith eine komplette Transkription einer Ausgabe der New York Times (1. September 2003) vorgelegt.28 Sein Ziel bestand nicht nur darin, das Alltägliche zur Kunst zu machen, sein Motto lautet auch: ‚uncreativity as creative practice‘. Im Abschreiben selbst liegt also die kreative Praxis.29

Literatur Quellen ADELUNGK, WOLFFGANG HENRICH, Kurtze Historische Beschreibung der UhrAlten Kayserlichen und des Heil. Römischen Reichs Freyen An-See-Kauffund Handels-Stadt Hamburg, Hamburg 1696. BUCKISCH, GOTTFRIED FERDINAND, Prolegomena Schlesischer Kirchen Historien, Neyß 1685. GOLDSMITH, KENNETH, Day, Great Barrington, MA, 2003. Tratziger’s Chronica der Stadt Hamburg, hg. von JOHANN MARTIN LAPPENBERG, Hamburg 1865. WIESE, ULRICH, Tratziger-Abschrift und Fortsetzung bis 1680 (Commerzbibliothek Hamburg S/643). N.N., Im nahmen der heiligen dreyfaltigkeit amen hebet sich diese breslische cronika an, wass sich alhier in Schlesien, Pohlen, Behmen, Mehrherrn, Ungern zuegetragen, besonderß aber in dieser stadt Bresslaw von 965 (Universitätsbibliothek Breslau IV F 118).

Forschungsliteratur ASSMANN, JAN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992.

28 GOLDSMITH, 2003. 29 Vgl. dazu auch den Beitrag von Anu Korhonen im vorliegenden Band.

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BOGNER, RALF GEORG, Medienwechsel, in: Metzler Literatur- und Kulturtheorie. Ansätze – Personen – Grundbegriffe, hg. von ANSGAR NÜNNING, 2. Aufl., Stuttgart/Weimar 2001, S. 420. BUCK, AUGUST, Imitatio (Humanismus), in: Lexikon des Mittelalters, 9 Bde., Bd. 5, 1991, Sp. 385f. DANNENBERG, LARS-ARNE/MÜLLER, MARIO (Hg.), Studien zur frühneuzeitlichen Geschichtsschreibung in den böhmischen Kronländern Schlesien, Oberlausitz und Niederlausitz (Beihefte zum Neuen Lausitzischen Magazin 11), Görlitz/Zittau 2013. ENTNER, HEINZ, Imitatio, in: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, 3 Bde., Bd. 2, Berlin/New York 2000, S. 133-135. GRAFTON, ANTHONY, Die tragischen Ursprünge der deutschen Fußnote, München 1998. GRIMM, JACOB/GRIMM, WILHELM, Deutsches Wörterbuch, 16 Bde. in 32 Teilbdn., Leipzig 1854-1961. HETTLING, MANFRED, Umschreiben notwendig? Die Historiker und das Jahr 1989, in: Doppelte Zeitgeschichte. Deutsch-deutsche Beziehungen 19451990, hg. von ARND BAUERKÄMPER u. a., Bonn 1998, S. 391-402. LANGEWIESCHE, DIETER, Über das Umschreiben der Geschichte. Zur Rolle der Sozialgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft, Sonderheft 22 (2006), S. 67-80. LAUSSAT, CORNELIA/SCHNEIDER, JOACHIM, Schreiben und Redigieren, in: Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350-1750), hg. von SUSANNE RAU/BIRGIT STUDT, Berlin 2010, S. 230-234. POSTEL, RAINER, Die Reformation in Hamburg 1517-1528 (Quellen und Forschungen zur Reformationsgeschichte 52), Gütersloh 1986. RAJEWSKY, IRINA O., Intermedialität, Tübingen 2002. RAU, SUSANNE, Geschichte und Konfession. Städtische Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung in Bremen, Breslau, Hamburg und Köln (Hamburger Veröffentlichungen zur Geschichte Mittel- und Osteuropas 9), Hamburg/München 2002. DIES., Lutherische Konfessionalisierung in Hamburg. Zur Verstetigung eines kulturellen Ordnungsmusters (ca. 1550-1750), 2013, http://www.db-thueringen.de/servlets/DocumentServlet?id=22398, 29.3.2014.

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DIES./STUDT, BIRGIT (Hg.), Geschichte schreiben. Ein Quellen- und Studienhandbuch zur Historiografie (ca. 1350-1750), Berlin 2010. RAULFF, ULRICH (Hg.), Vom Umschreiben der Geschichte. Neue historische Perspektiven, Berlin 1986. SAWILLA, JAN MARCO, Das Zeugnis des Historiographen. Anwesenheit und gestufte Plausibilität in der Geschichtsschreibung der Frühen Neuzeit, in: Zeugnis und Zeugenschaft. Perspektiven der Vormoderne (Trajekte), hg. von WOLFRAM DREWS/HEIKE SCHLIE, München 2011, S. 311-335. SCHEIBLE, HEINZ, Melanchthon. Eine Biographie, München 1997. VÖLKEL, MARKUS, Geschichtsschreibung. Eine Einführung in globaler Perspektive, Köln u. a. 2006. ZIMMERMANN, MOSHE, Geschichte umschreiben: Was ist Zionismus?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 14 (1998), S. 11-18.

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Autopsie und Convivium Wissenskulturen des 16. Jahrhunderts als Beispiel für kulturelle Transformationen ALBERT SCHIRRMEISTER Ziel des Artikels ist es, die Produktivität der Transformationstheorie, die am Berliner SFB 644 Transformationen der Antike zur Analyse kulturellen Wandels entwickelt wurde, zu belegen. Zu diesem Zweck werden Phänomene des kulturellen Wandels in den Wissenskulturen des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit untersucht. Aus der Sicht der Berliner Transformationstheorie ist ein hervorstechendes Charakteristikum kulturellen Wandels seine allelopoietische Struktur: Jede kulturelle Transformation setzt sich aus bidirektionalen, interagierenden, reziproken Phänomenen des Wandels in einer Aufnahmekultur und einer oder mehreren Referenzkulturen zusammen. Der Artikel behandelt deshalb soziale, epistemische und lehrende Praktiken und bezieht sich dabei zuvorderst auf convivia und Akademien, Autopsie als besondere wissenschaftliche Methode und Disputationen und Deklamationen als akademische, universitäre Praktiken im 16. Jahrhundert. In all diesen Bereichen werden die Transformationen in einem andauernden Kampf um kulturelle und soziale Geltung verwirklicht, die durch die agency einer Vielzahl vielfältiger Akteure und Agenten (wie Medien, Gattungen usw.) beeinflusst werden.

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Albert Schirrmeister Atque utinam in rixosarum disputationum vicem quibus nunc ubique gymnasia perstrepunt, veterem illam declamandi consuetudinem revocari contingat1

Eine solche Klage über die Disputationen vermittelt das stereotype Bild, wie sich die (angeblich so neue) humanistische Gelehrtenkultur von der alten, scholastischen und pedantischen universitären Wissenskultur des Mittelalters unterschieden haben soll – jedenfalls nach ihrem Selbstverständnis und der ihr allzu lange folgenden Forschung. Die Aufgabe dieses Beitrags muss es nun nicht sein, gegen die Windmühlenflügel von Konzepten einer trockenen, weltfernen Scholastik anzukämpfen, die im Gegensatz zu einer lebens- und individualitätsbejahenden humanistischen Gelehrtenkultur gestanden habe, da diese Revision in einer Reihe detaillierter und differenzierender Studien besser geleistet worden ist, als es in einem Aufsatz gelingen könnte.2 Ziel des Beitrags ist es vielmehr, anhand der Gelehrtenkultur im Deutschland des 16. Jahrhunderts die Transformationstheorie des Berliner SFB 644 Transformationen der Antike als ein Konzept vorzustellen, mit dem kulturelle Wandlungsprozesse genauer erforscht und besser erklärt werden können.3 Die gelehrten Praktiken eignen sich paradigmatisch dafür, den allelopoietischen4 Charakter kulturellen Wandels zu belegen, die eben jene Wechselwirkungen unserer Auffassung nach antreibt. In den Blick genommen werden mithilfe dieses Konzepts die jeweiligen Komponenten eines Wandlungsprozesses: Die menschlichen, institutionellen oder auch materiellen Akteure und Agenten des Wandels; die in jedem Wandlungsprozess notwendige Medialität zur Vermittlung zwischen den kulturellen Referenzen und den kulturellen Aufnahmebereichen sowie die in dem Wandlungsprozess verhandelten (epistemischen, sozialen oder kulturellen) Geltungsansprüche. Mit diesen hier knapp benannten Elementen, die der jeweili1

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MAXIMUS TYRIUS, 1519, hier S. 3. (Mögen doch statt der lächerlichen Disputationen, von denen jetzt in allen Universitäten viel Geschrei gemacht wird, die alte Gewohnheit des Deklamierens wieder eingeführt werden.) Sofern nicht anders angegeben, wurden alle hier angeführten Übersetzungen vom Verfasser angefertigt. Vgl. SCHIRRMEISTER, 2009; zuletzt insbes. SCHUH, 2013. Das Konzept wurde in einem Sammelband formuliert, der es zugleich in Fallstudien erprobt: BÖHME u. a., 2011. Der Begriff ,Allelopoiese leitet sich von griech. allelon (gegenseitig) und poiesis (Herstellung, Erzeugung), ab.

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gen Materialität ebenso wie der sozialen und der ästhetischen Fundierung kultureller Wandlungsprozesse Rechnung tragen, sieht sich das aus der interdisziplinären Forschung entwickelte Konzept in der Lage, den unterschiedlichen Fragestellungen kulturwissenschaftlicher Disziplinen 5 dienen und zugleich einem fächerübergreifenden Gespräch eine gemeinsame Basis bieten zu können. Gleichzeitig befähigt gerade dieser inter- und transdisziplinäre Charakter das Transformationskonzept dazu, genauere und umfassendere analytische Beschreibungen von Phänomenen kulturellen Wandels in ihrer dynamischen Wechselseitigkeit zu liefern. Damit ist die grundlegende Annahme hinsichtlich des Verlaufs kulturellen Wandels angesprochen: Transformationen generieren Dynamiken der kulturellen Produktion, in denen immer auch das verändert wird, was der Transformation vorausliegt, worauf sie sich reflexiv bezieht und was erst im Laufe des Transformationsprozesses spezifiziert wird. Ausgehend von den kulturellen Objekten können drei substantielle Modi der Transformation unterschieden werden: Inklusion, Exklusion und Rekombination kultureller Inhalte. Als motivierende Auslöser können äußerst unterschiedliche Bezugnahmen auf kulturelle Referenzen benannt werden – zwischen Idealisierung und Distanzierung bzw. Negation. Dies sind wohlgemerkt idealtypische Beschreibungen, die zur analytischen Differenzierung beitragen: Im Normalfall können unterschiedliche Transformationsprozesse als interagierend, sich gegenseitig verstärkend oder abschwächend beobachtet werden. Aus diesen Interaktionen erwächst eine nicht vorherbestimmbare und nicht-intentionale Dynamik. Aus diesem Grund hilft eine differenzierende Typologie von Transformationen, die jeweiligen Faktoren der einzelnen Transformationen unterscheiden zu können. Es ist keinesfalls gedacht, diese Typologie als Ersatz einer historischen Analyse einzusetzen, sondern lediglich als funktionales Arbeitsinstrument. Mit dem Blick auf die Gelehrtenkultur des 16. Jahrhunderts wird ein bereits vergleichsweise spezialisierter Teilbereich der europäischen vormodernen Gesellschaften fokussiert, um anhand seiner Differenzierungsprozesse und der Anpassungsvorgänge an politische, kulturelle und soziale Gegebenheiten paradigmatisch Wandlungsprozesse zu analysieren. Konkret heißt dies, dass ich das Verhältnis humanistischer Wissenschaften und universitärer, institutioneller Gelehrsamkeit bestimmen und den Zusammenhang kultureller Formen und 5

Am Berliner SFB sind u. a. verschiedene Philologien, Archäologie, Kunst-, Wissenschafts- sowie allgemeine Geschichte beteiligt.

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epistemischer Praktiken im geschichtlichen Wandel diskutieren werde: Welche kulturellen Handlungen erhielten in den sozialen Räumen der Wissenschaften welche Geltung? Welche kulturellen Referenzen wurden durch epistemische und soziale Handlungen neu konturiert und konstruiert? Der Beitrag behandelt in diesem Sinne zunächst erstens anhand von Convivium und Akademie soziale Räume der Gelehrsamkeit, dann zweitens unter der Überschrift Autopsie spezifische epistemische Praktiken und epistemologische Aussagen sowie drittens mit Blick auf die universitären Lehrformen vor allem disputatio und declamatio.

Convivium und Akademie: Gelehrte, Di chter, Uni versität und Hof „Für mich selbst und der dankbaren Nachwelt“ bestimmte der Olmützer Kanoniker Augustin Käsenbrot im Jahr 1508 durch eine Inschrift auf der Rückseite eine goldene Schale: AVG. OLOM. SIBI. ET. GRATAE. POSTERITATI. MDVIII. Augustin Käsenbrot nannte sich Augustinus Olomucensis bzw. Moravus (1467-1513).6 Sein Wappen unter dem Text bekräftigt die Zueignung. Ende des 19. Jahrhunderts ging der Philologe Karl Wotke (ohne klaren Beleg) davon aus, dass die Schale der Wiener Sodalitas litteraria Danubiana geschenkt worden sei.7 Ob nun in Wien oder doch eher in Olmütz, bei solchen gelehrten und freundschaftlichen Zusammenkünften hatte die Bacchus-Schale sicherlich verwendet werden sollen. Moravus hatte nach einem Krakauer Artes-Studium (1484-1488, abgeschlossen mit dem Magister) in Padua kanonisches Recht studiert und war 1494 in Ferrara zum decretorum et artium doctor promoviert worden. Ab 1496 war er beim böhmisch-ungarischen König Vladislaus in Buda, zunächst als Schreiber, dann als Sekretär; er hatte zudem mehrere kirchliche Ämter in Brünn, Breslau, Prag und seiner Heimatstadt Olmütz inne, in die er 1511 zurückkehrte. Der Kunsthistoriker Lubomir Koneny plädierte in einer detaillierten Auseinandersetzung dafür, Moravus habe die in Italien gefertigte Schale von dort nach Nordeuropa mitgebracht.8 In die Schale des Münzsammlers sind antike Kaisermünzen eingearbeitet, von denen allerdings nur wenige Originale erhalten sind. Im Inneren der Schale findet 6 7 8

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Zu Moravus vgl. CZAPLA, 2008. WOTKE, 1898, hier S. 64. Die Ausführungen zur Herkunft und Gestalt der Schale folgen KONENY, 2003.

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sich eine geflügelte Bacchus-Figur mit einer Umschrift, die ihn als poetischen Bacchus ausweist. Er sitzt auf einer mit Girlanden geschmückten cista praenestina, die für rituelle Opfer genutzt wurde. Ohne die Schale im Detail zu interpretieren, ermöglicht sie es doch, mehrere Charakteristika humanistischer Convivien in Deutschland nachzuzeichnen. Zum einen ist der Weg des kulturellen Transfers vergleichsweise typisch: Als erstes ist die unmittelbare Italienerfahrung des Moravus zu nennen: sein Studium in Padua, von wo aus er die Schale nach Böhmen bringt, dann der ungarische Hof und Krakau als Orte, die von der kulturellen Peripherie nach Wien wirken.9 Denn die nordalpinen Gelehrtentreffen sind keine Erfindung des sog. Deutschen Erzhumanisten Conrad Celtis (1459-1508), sondern verdanken sich italienischer Anregungen, die Celtis insbesondere bei Pomponius Laetus (d. i. Pomponio Leto, 1428-1498) empfangen hat, an dessen römischer Akademie er teilnehmen konnte. Prägend für das nordalpine Reich scheinen neben der Florentiner Akademie des Marsilio Ficino (1433-1499) die römischen Treffen beim Luxemburger Juristen Johannes Goritius (ca. 1455-1527) zu sein.10 Ferner ist ein mehrfacher, jeweils ostentativer Rekurs auf die römische Antike in den Kaisermünzen ebenso wie in der Bacchus-Figur zu erkennen: Es sind also ebenso politische wie kulturelle Bezugssysteme, die evoziert und hier zu einer neuen Einheit zusammengeführt werden. Die Schale ist der wichtigste nichtliterarische Beleg für die rituell und quasi-sakral gestalteten Convivien des Celtis-Kreises, bei denen Dichtergeburtstagen ebenso gedacht wurde wie Apoll- und Bacchus-Feierlichkeiten abgehalten wurden. Wichtig ist in diesem Kontext, dass in der Gestaltung dieser Treffen durch die Inanspruchnahme antiker Referenzen ein reziproker Prozess abläuft. Einerseits wird Antike in einer Art verändert, die man als Disjunktion11 auffassen könnte: Die sakralen

9 Vgl. KAUFMANN, 1998; FÜSSEL/PIROZYNSKI, 1997. 10 Allgemein zu den Convivien der italienischen Humanisten vgl. DE CAPRIO, 1982; Zu Goritius und den Coryciana vgl. mit weiterführenden Literaturangaben IJSEWIJN, 1996; Zu Ficino vgl. unten bei Anm. 19; grundlegend die Arbeiten von HANKINS, 2004. 11 Das Transformationskonzept schlägt vor, diesen Ausdruck nach Panofsky folgendermaßen zu verstehen: „Transformation, bei der ein Inhalt der Referenzkultur in die Form der Aufnahmekultur gekleidet wird oder ein Inhalt der Aufnahmekultur eine in der Referenzkultur verwendete Form erhält. Ausgehend von inkludierenden wie exkludierenden Selektionsprozessen kann das Verfahren der Legitimation der jeweiligen Kunstform durch sanktionierte Inhalte (z. B. antik-heidnische Dichtungsformen mit christlichem Inhalt) dienen oder der Aufnahme paganer Inhalte

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Feierlichkeiten für die paganen Götter wurden als gemeinschaftliche Feste dargestellt, die auf poetischen Regeln beruhten und eine soziale Hierarchie ausblendeten. Zum andern werden die eigenen Zusammentreffen modifiziert: Die Sodalitäten können in ihrer ehrgeizigsten gewissermaßen ,platonisierenden Form durch ihre eigenen Riten und durch eigene Feiertage (wie Geburtstage von Marsilio Ficino, das römische Neujahrsfest bei Goritius), weniger aber durch vereinsmäßige Statuten versuchen, dem geltenden sozialen Herrschaftssystem ein eigenes Regelwerk gegenüberzustellen, eine eigene soziale und kulturelle Welt aufzubauen.12 Dass damit nicht zugleich die realen sozialen und politischen Wertesysteme verabschiedet werden können, ist angesichts der frühneuzeitlichen Gesellschaft mit ihrem umfassenden Patronagesystem nahezu selbstverständlich. Umso wichtiger scheinen mir solche Ansätze zu sein, die behaupten, ein autonomes System herzustellen, denn sie ignorieren und substituieren soziale und kulturelle Einbindungen der eigenen Gegenwart. Die humanistischen Praktiken greifen zusätzlich nordalpine mittelalterliche Bezüge auf und überschreiben sie durch antike Referenzen. Als prominentestes Beispiel könnte im Zusammenhang mit der Bacchus-Schale die sog. Hallesche Ottoschale dienen. Diese um 1200 vermutlich in einer Magdeburger Werkstatt angefertigte Bronzeschale ist hier lediglich als die bekannteste derjenigen Schalen genannt, die als liturgisches Gerät eine sakrale Verwendung (als Handwaschbecken oder zum Auffangen des Salbungsöls) fanden – diese Art von Schalen waren im kulturellen Umfeld der humanistischen Sodalitäten präsent, ihre religiöse Bedeutung, ihr kultureller Wert konnte für die eigenen Verwendungen in Anspruch genommen werden.13 Solche Substitutionen implizieren allerdings keinesfalls eine allein destruktiv-negative Haltung gegenüber den kulturellen Referenzen: In der Geste der Substitution werden die kulturellen Referenzen vielmehr wieder aufgegriffen durch eine (zumeist inhaltliche Umdeutungen begleitende) formale Assimilierung an die zeitgenössische Aufnahmekultur.“ BERGEMANN u. a., 2011, hier S. 49. 12 Vgl. SCHIRRMEISTER, 2003, insbesondere S. 169-194. 13 Die Ottoschale ist sorgfältig aus heller Bronze getrieben, der Boden aufgewölbt und ihre Innenflächen sind reich mit gravierten und gestanzten Ornamentbändern verziert. Sie hat bei einer Höhe von 8,2 cm einen Durchmesser von 31 cm. Auf der Wölbung des Bodens befindet sich ein als einseitiger Brakteat geprägtes Medaillon mit der Darstellung eines gekrönten Herrschers, der mit dem Namen OTTO bezeichnet ist. Alle Angaben nach: http://www.museum-digital.de/san/index.php?t= objekt&oges=5227, 1.8.2014; vgl. http://www.museum-digital.de/san/index.php? t=listen&type=6&zeit=637&style=browse&startwert=0&oges=13317, 1.8.2014.

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und als Folie präsent gehalten – sie geben damit dem eigenen kulturellen Handeln die Möglichkeit, in einem kulturellen System mit konkurrierenden Handlungsmodellen in Geltungsauseinandersetzungen einzutreten. Diese Funktion wird umso deutlicher, wenn der Blick auf universitäre Bezugsmöglichkeiten für humanistische Convivien gelenkt wird. Dann fällt nämlich auf, dass der Terminus ,convivium zwar auch gebraucht wird, aber eben in spezifischen Zusammenhängen, die eine deutliche semantische Differenz zu den humanistischen Convivien markieren. Im Rahmen zweier rites de passage ist von ‚Convivien‘ die Rede: Zum einen im Akt der Deposition und zum andern bei Promotionsfeiern. Die Deposition ist wohl etwas überspitzt als ein Fügbar-Machen in einer Art Initiationsfolter mit abschließendem Festmahl in „heiter ausgelassener Stimmung“14 zu beschreiben und – auch angesichts des Alters der ihr unterworfenen Studenten – eher zur Jugendkultur zu rechnen. Aber auch das Convivium im Rahmen der Promotionen bleibt ohne jeden gelehrten Ertrag – dies gilt für das gesamte 16. Jahrhundert, wie z. B. Michael Maaser zur Praxis an der Universität Helmstedt ausführt, die an dieser Stelle ihre Statuten von 1576 eher unbeachtet ließ: Nach der Feier in der Kirche krönte der mehrstündige Doktorschmaus (convivium) – besser gesagt: ein Gelage – den Tag der Promotion. Zu Wildbret, Rind-, Kalbs- und Lammfleisch sowie gebratenen Hühnern trank die Festgesellschaft Bier oder Rheinwein. Stiftete der Herzog keinen Wein, durfte nur Bier getrunken werden. Aus landesherrlichen Ermahnungen lässt sich schließen, dass so oder so exzessiv gefeiert wurde. Also keine Spur von der in den Universitätsstatuen geforderten Einfachheit.15

Die Formen des humanistischen Conviviums kontrastieren also deutlich mit den universitären Gemeinschaftsformen, die mit einer gewissen Strenge wissenschaftliche Lehre von Feiern trennen. An die Stelle eines Integrationsversuchs rückt das Bestreben, eigene Gruppierungen einzuführen. In der ostentativen Bezugnahme auf die Antike in den Convivien der Humanisten liegt – transformationstheoretisch gesprochen – zugleich eine Negation der universitären akademischen Praxis: Aus der Exklusion der Poeten gestalten diese eine genuine Exklusivität. Die Kombination 14 MÜLLER, 1996, S. 282. 15 MAASER, 2007, hier S. 124.

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dieser beiden Transformationsvorgänge führen im Effekt zu einer Hybridisierung: Im sozialen Umfeld der mittelalterlich geprägten, universitären Convivien und unter Aneignung von als antik verstandenen Vergemeinschaftungsformen entstehen die humanistischen Convivien. Dass neben der Referenz auf akademische Gastmähler oder allgemeiner festliche Mahle auch eine religiöse Referenz – nämlich auf die christliche Agape – durch die antike Referenz überschrieben werden könnte, darauf wird man dadurch aufmerksam, dass an keiner anderen relevanten Stelle kulturell gestaltete Convivien nachweisbar sind. Dass die Schale des Augustinus Moravus existiert und den Gelehrtentreffen zugeordnet werden kann, hilft zudem, der intermedialen Dimension der Convivien gerecht zu werden: Die performativen Elemente, wie Gedichtrezitationen und rituelle Feiern, werden in gedruckten Zeugnissen und brieflichen Einladungen präsent gehalten. Dass Johannes Cuspinian genau auf die Schenkung der Schale mit der Widmung seiner Edition des Liber de lapidibus des Marbod von Rennes antwortete, ist zwar ein Missverständnis16, doch bietet der dort 1511 ausgesprochene Dank für ein Neujahrsgeschenk dennoch einen adäquaten Beleg für die Verbindung gelehrter Handlungen mit Praktiken der Geselligkeit und Gemeinschaftsbildung. Zu einem von Augustinus Moravus herausgegebenen Bischofskatalog von Olmütz steuerten die Wiener Humanisten Cuspinian (1473-1529), Joachim Vadian (1484-1551) und Petreius Aperbach (um 1480-1531) Gedichte bei, die in ihren Formulierungen Anspielungen auf die Patera enthalten. 17 Erst im Zusammenspiel der speziellen Gebrauchsgegenstände mit gelehrt-kulturellen Medien kann die Wirksamkeit von Transformationen, ihre soziale und kulturelle Geltung durchgesetzt werden. Die Convivien benötigen diese vielseitigen Medien, da sie eben keine klare institutionelle Form besaßen und es für sie keinen etablierten eigenen Ort gab. Auch dies teilen die nordalpinen Zusammenkünfte mit ihren italienischen Modellen. James Hankins hat die Existenz einer neuplatonischen Akademie in Florenz in fester institutionalisierter Form als Mythos bezeichnet, konnte aber zugleich aufzeigen, dass dieser Mythos auf konkreten Belegen fußt. So spricht Ficino 16 CZAPLA, 2008, hier Sp. 63. Dagegen der Text der Widmung in: CUSPINIAN, 1933, Nr. 8, S. 16-20. Zu Cuspinian vgl. umfassend ANKWICZ-KLEEHOVEN, 1959, aufbauend auf vielen Quellen- und Detailstudien; Neuere Ansätze dokumentiert GASTGEBER/KLECKER, 2012. 17 ANKWICZ-KLEEHOVEN, 1959, S. 98f. Vgl. EBD., S. 90: Gerade Cuspinian exponierte seine sodalitas unter Verwendung humanistischer gelehrter Praktiken durch eine an seinem Haus angebrachte Inschrift.

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von einer Gelehrtenzusammenkunft in Florenz und in der Medici-Villa in Careggi im Herbst 1468. Und in einem Brief an Johannes Reuchlin heißt es ferner: „Scribitis ad nos vestroque nomine Germaniae principes Florentiam adolescentes erudiendos tamquam academiam mittere. Sed ea interim elegantia scribitis, ut non ad academiam filios, imo ex academia mittere videamini, atque apud exteras nationes perquirere vobis iam domesticam disciplinam.“18 Hankins hat des Weiteren – immer vornehmlich mit Bezug auf Florenz – die Vieldeutigkeit des Begriffs ,Akademie hervorgehoben.19 Die Florentiner Akademie steht in charakteristischer Weise zwischen dem institutionalisierten studio und einem interesselosen Freundeskreis. Aber wenn hier Akademie als Ort des gelehrten Gesprächs mit einem Ort des Unterrichts oder vielleicht besser der Unterweisung zu konvergieren scheinen, so muss im Gegenzug betont werden, dass bei Pomponius Laetus, der im Rom Ende des 15. Jahrhunderts gerade für die Sodalitäten im Heiligen Römischen Reich die wichtigste Referenz bildete, in Briefen, Ankündigungen und anderen Äußerungen eine Trennung von Sodalität und Akademie zu erkennen ist, wobei die erste die gelehrten Treffen, die zweite mehr auf die öffentlichen Vorlesungen zielt. So weist Concetta Bianca nach, dass bei Pomponius Laetus und in seinem Umkreis eine terminologische und personale Differenzierung zwischen der einer universitären Institutionalisierung zustrebenden accademia und der einen informellen Freundeskreis beschreibenden sodalitas gefunden wurde, während noch bei Poggio Bracciolini (1380-1459) accademia eben genau diesen informellen Freundeskreis und die Gespräche im otium beschrieben hatten.20 Die institutionelle Offenheit der Akademien selbst und die terminologische Offenheit des ,Akademie -Begriffs im 15. und 16. Jahrhundert erklären sich durch

18 BRANDT, 2000, S. 51; HANKINS, 2004b, S. 243, Anm. 77. („Du schreibst uns, und in deinem Namen schreiben uns deutsche Fürsten, dass ihr Jugendliche zur Erziehung nach Florenz wie zu einer Akademie senden wollt.“) 19 HANKINS, 2004a, S. 357: „One plausible reading of the word [academia] is as an equivalent to ‚the literati of Florence‘. This seems a natural reading of the words apud nos literati, qualifying academia, as addresses to someone living in Venice. The usage would then be similar to the modern usage which speaks of ‚the American academy‘, i.e. American college and university teachers. But the more likely reading is that it refers to the group of Ficino’s pupils, as is suggested by a parallel letter from Ficino to Bembo in which the latter is represented as paying a visit to Ficino’s gymnasium.“. 20 BIANCA, 2008, hier S. 32 und 42. Vgl. auch FARENGA, 2008 sowie BEER, 2008.

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die Transformation des antiken, athenischen Modells. Nördlich der Alpen zeigt sich eine ähnliche terminologische Flexibilität.21 Ein weiteres Charakteristikum der gelehrten Convivien ist das bereits angeklungene changierende Verhältnis von Hierarchie und Egalität: Die in den Convivien dargestellte Freundschaft verschleiert soziale Hierarchien und behauptet eine soziale Egalität und eine nach gelehrt-kulturellen Meriten geordnete Hierarchie. In den humanistischen Publikationen wird – nicht zuletzt in der Adressierung der Leser als Freunde – ein „Theater der Freundschaft“ (Éric Méchoulan) aufgeführt. Wieder werden antike Freundschaftskonzepte hybridisiert mit zeitgenössischen, eher als genossenschaftlich zu bezeichnenden Konzepten, die auf eine Korporalität zielen.22 Eine historische Semantik des Begriffs ,Freundschaft kann die Transformation sowohl des aktuellen, korporativen Freundschaftsbegriffs zugunsten einer emotional aufgeladenen Konnotation als auch des antiken Freundschaftsbegriffs durch den Kontakt mit der aktuellen Begriffsverwendung zeigen: Ein neues Bild der antiken Freundschaft entsteht, die das eigene soziale Leben verändert. Vielleicht erklärt sich diese dissimulierende Überschreibung sozialer Hierarchien durch egalisierende Freundschaftskonzepte gerade aus der Herrschaftsnähe, ja: Herrschaftsbindung von Akademien, die sich im 16. Jahrhundert und im Zuge der zunehmenden Verfestigung von Akademien verstärkt. Dies ist zumal in Frankreich zu beobachten23, aber ebenfalls in anderen europäischen Ländern, so z. B. in Spanien. 24 Neben institutionalisierten Akademien, die Orte von gelehrten Gesprächen und convivium werden, hat Christine Bierbach zugleich die große Zahl von academias de ocasión im Spanien des späteren 16. Jahrhunderts hervorgehoben, deren Existenz häufig nicht leicht zu 21 MERTENS, 1998, S. 203: Conrad Celtis „sprach anfangs zwar von einer academia Platonica (nach Florentiner Vorbild), doch später stets von sodalitas bzw. regionalen sodalitates, was genossenschaftlicher getönt ist und eine Form literarischer und geselliger Kommunikation meint, durch die die humanistischen Bestrebungen für den Wettstreit mit dem italienischen Humanismus gebündelt und auch der nächsten Generation vermittelt wurden.“ 22 So betont Hankins, dass es sich in Florenz weniger um eine ,platonische Akademie als um eine Akademie nach ,Art Platons handele, in der Ficinos Apostolat von Freundschaft verwirklicht werde: Vgl. HANKINS, 2004b, S. 252. 23 Vgl. z. B. die Beiträge in: DERAMAIX u. a., 2008. 24 BIERBACH, 1996, S. 523: Rein quantitativ sind es Madrid als Hauptstadt (seit 1550) und fester Sitz des königlichen Hofes sowie Valencia und Saragossa als Hauptstädte der ehemaligen Krone von Aragon, die als „die Synthese aus höfischen und intellektuellen Zentren das Florieren der neuen academias begünstigen.“

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belegen, die untereinander nicht immer gut abzugrenzen und in vielerlei Hinsicht mit den Treffen der humanistischen Gelehrten um Conrad Celtis in Deutschland zu vergleichen sind. Ebenso wie Bierbach für Spanien die Rolle der höfischen Umgebung für den neuen gelehrten Stil hervorgehoben hat und die Synthese aus „poetischer Übung und humanistischer Gelehrsamkeit“ als Ziel der spanischen Renaissance-Akademien bezeichnet25, zeigt sich die offensichtlich entscheidende Rolle höfischer Kontexte auch im Reich. Der Geltungsanspruch gerade der heterodoxen Wissenschaften kann durch die Bindung an den Hof Gewicht gegenüber den universitären Wissenschaften erlangen. Es ist auffällig, dass noch im 17. Jahrhundert gerade Wissen, das nicht auf universitäre Disziplinen festgelegt werden kann und an der Universität nicht so hoch angesehene Disziplinen in den Akademien bevorzugt wurden: Juristisches und theologisches Wissen sowie ihre Akteure besetzten unangefochten die dominierenden Positionen an den Universitäten, während Höfe nicht akademisch-disziplinär festgelegt waren. Auch bot die höfische Repräsentationskultur für viele einander ergänzende Facetten gelehrten Wissens Platz, was eine wechselseitige Beeinflussung befördern konnte.26 Handwerker, Wissenschaftler und ,Amateure bewegen sich hier buchstäblich auf engem Raum und in engem Kontakt miteinander. Die Abhängigkeit einer ,humanistischen Atmosphäre in Stadt und Universität vom inspirierenden Wirkungskreis höfischer Kontexte wird bei der Verlegung des Hofes Kaiser Rudolfs von Wien nach Prag deutlich: Ein Hof vermag es auch ohne Universität und urbane Größe eine humanistische Gelehrtenkultur zu etablieren. Umgekehrt gilt das nur in weitaus eingeschränkterem Maße:27 Der Hof kann, vornehmlich gilt dies

25 EBD., S. 527. 26 Vgl. MOUT, 2000, S. 57; KAUFMANN, 1998; BORGGREFE, 1997. 27 Einer solchen exklusiven und exkludierenden Wissenschaftspraxis stellte bemerkenswerterweise ausgerechnet der Chemiker und Alchemiker Andreas Libavius Ende des 16. Jahrhunderts die Forderung entgegen, ein guter Wissenschaftler solle sein Haus in der Stadt bauen, um dort die ,humanitas in einer Bürgergesellschaft zu pflegen: „in societate civili humanitatem colere“, um dort die Ehrbarkeit seines Berufes und seiner Familie zu zeigen. Libavius wendet sich hier, wie Owen Hannaway gezeigt hat – unter gut humanistischer Anwendung des Vitruv auf ein deutsches Stadthaus – gegen Tycho de Brahes astronomische Burg auf der Insel Hven. Während Brahe in seiner Astronomiae instauratae mechanica explizit bekräftigt, er wolle diese Dinge lediglich mit Adligen, Prinzen und Gelehrten diskutieren, ansonsten aber geheim halten, vertrat Libavius das Ideal eines offenen Austauschs, das sich eben auch in der Konstruktion seines Hauses, das zwar Platz für einen zurückgezogenen Arbeitsplatz, aber auch Raum für Gespräche mit anderen Bürgern

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im späteren 16. Jahrhundert für den Landgrafen von Hessen, Moritz den Gelehrten und Kaiser Rudolf II., als Ort heterodoxen Wissens erscheinen, an dem Alchemie, bildende Kunst, Poesie und Wissenschaften zusammengeführt werden können. Das entspricht dem frühen Anspruch der Humanisten, für alle Wissensgebiete zuständig zu sein. Das Bemühen um Exklusivität wird sozial verbunden mit der Orientierung am Hof und fördert die humanistischen Bemühungen um Hermetik, Hieroglyphen, Magie und Kabbala. So zeigen insbesondere die Studien von Bruce Moran zum Kasseler Hof der Landgrafen Wilhelm IV. (1532-1592) und Moritz des Gelehrten (15721632) von Hessen-Kassel, dass einerseits die Patronage empirischen und technischen Wissens, andererseits paracelsistische Mediziner, Alchemisten und mystischen Kabbalisten das Profil des Hofes als ein kommunikatives Zentrum der gelehrten Kultur prägen.28 Moritz der Gelehrte wusste seinem Beinamen auch dadurch gerecht zu werden, dass er an der Universität Marburg durch extemporierte Disputationen mit den Professoren beeindruckte.29 Die Offenheit der Akademien, die in Verbindung mit den Autonomiepostulaten akademischer Prozeduren den neuen Disziplinen und Wissensbereichen in der Frühen Neuzeit ihren Status als ars und scientia zu sichern suchen, strebten nach einer Dauerhaftigkeit30 ihrer im Vergleich zur Universität prekären Position. Denn, wie Barbara Marx betonte, müssen im Unterschied zur professoralen Universität die Mitglieder der Akademien ihren formalen und inhaltlichen Zusammenschluss jeweils erst einmal ausformulieren. Die Zweckbindung der Akademien muss, auch wenn sie zumeist ‚von oben‘ dekretiert wird, unter ihren Mitgliebieten und die Teilnahme an politischen Beratungen ermöglichen sollte. Vgl. und zit. n. HANNAWAY, 1986, S. 599. 28 MORAN, 2000, S. 216: Wilhelm IV. von Hessen-Kassel (1532-1592) als Astronom und Prinz. 29 Dazu MORAN, 1991, S. 35: „For Moritz’s point of view, however, a complete understanding of the operations of nature would never be possible so long as occult learning, which offered special insight into natural philosophy, was kept split apart from the study of the traditional arts. To recover the unity of knowledge which would reveal the secrets of nature, Moritz fashioned academic links between occult philosophy and traditional disciplines at his university in Marburg.“ Er zitiert Henry Pecham, The Complete Gentleman, 1622 (S. 220f), der Moritz als brillanten Fürsten schildert, der, wann immer er die Universität in Marburg besuchte, extemporierte Disputationen mit den Professoren hielte. Dabei verschweige er noch seine medizinisch-chirurgischen Fähigkeiten. 30 MARX, 2009, hier S. VIII.

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Autopsie und Convivium dern immer wieder neu ausgehandelt werden. Die personelle Zusammensetzung des akademischen Korpus ist immer heterogen, und da die Akademien beständig um ihre korporative Außendarstellung ringen, sind sie notwendigerweise Foren andauernder Diskussionen und erbitterter Konkurrenzen. Aus dieser spezifischen institutionellen Gemengelage entsteht die besondere Dynamik des akademischen Diskurses, die zwischen dem Streben nach normativer Verfestigung und häretischem Experiment oszilliert. Anders gesagt: die Akademien formieren sich an eben den historischen Schnittstellen, an denen die Sozialität der einzelnen Kunstdisziplinen und der experimentellen Wissenschaften jeweils neu und kontrovers verhandelt werden muss.31

Diese Unsicherheit kann dann vice versa auch zur Universität zurückführen – das ist der von Conrad Celtis vorgeführte Weg, der die humanistische Soziabilität in eigener institutionalisierter Form in die Universität hineinzuführen suchte. Er lässt sich 1501 von Kaiser Maximilian ein Collegium poetarum et mathematicorum gründen, das Teil der Universität wird und dort ganz eigene Förmlichkeiten (im Sinne Michel de Certeaus32) entwickelt, die jede soziale und professionelle Komponente bestimmen: so etwa den Unterricht, die Theateraufführungen als Prüfung sowie die eigenen Insignien wie Ring, Lorbeerkranz, Siegel und Zepter. 33 Von diesen Insignien, deren Existenz Celtis in einem Druck selber bekannt machte 34 und die in einer eigenen, äußerst schmuckvoll gestalteten ,Celtis-Kiste aufbewahrt werden sollten, ist allein das silberne Typar erhalten geblieben. Das Siegelfeld zeigt den Gott Apollo mit Strahlenkrone, einen Pfeil auf die am Boden liegende Phytonschlange gerichtet, ihm gegenüber den flötespielenden Merkur mit Flügelhelm und Botenstab. Die Umschrift in Majuskelschrift lautet: „SIGILLVM : COLLEGII : POETARVM : VIENNAE**“. Zwischen Beginn und Ende der Umschrift schwebt der einköpfige Königsadler mit dem Brustschild Maximilians. Die Verbindung königlicher Macht und apollinischer Berufung durchzieht die ganze Inszenie31 EBD., S. VII. 32 Die deutsche Übersetzung des grundlegenden Aufsatzes erfolgte durch Xenia von Tippelskirch: CERTEAU, 2008. Vgl. die Beiträge im selben Band, die sich mit dem Konzept aus deutscher und französischer Sicht beschäftigen. 33 Vgl. MÜHLBERGER, 2007, S. 113-119 zu den Insignien des Kollegs: Wiederauffindung der Kiste 1876, schon vor 1737 ohne Lorbeerkranz, unsicher ob das Zepter existiert hat, einzig erhaltenes Relikt das silberne Siegeltypar des Poetenkollegs und die Stiftungsurkunde. 34 Abbildung z. B. bei SCHIRRMEISTER, 2003, Abb. 14.

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rung des Poetenkollegs 35 , dessen akademischer Abschluss auch kein hergebrachter universitärer Titel, sondern die Dichterkrönung sein sollte. Humanistische Gelehrtenpraxis prägt allerdings auch deswegen die Untersuchungen zur Gelehrtenkultur der Frühen Neuzeit, weil das Mitteilungsbedürfnis über ihre Convivien deutlich ausgeprägter ist als im universitären Kontext. Die grundlegende Studie von Marian Füssel über Rituale und Zeremonien in den Universitäten der Frühen Neuzeit hat sehr wohl gezeigt, dass das universitäre Leben nicht allein aus Vorlesungen, Exerzitien, Repetitionen und Disputationen besteht, und dass diese auch in ihren Formen gewinnbringend untersucht werden können,36 doch gibt es weniger Quellen zu anschaulichen, aber alltäglichen Lebensformen.37

Autopsie als Methode: Philologie, Medizin, Natur Doch worüber wurde in den Convivien überhaupt gesprochen? Inwiefern waren sie Teil der Wissenskultur? Die gedruckten Sermones convivales des Augsburger Juristen und kaiserlichen Rates Conrad Peutinger (1465-1547) geben ein vielgestaltiges Bild der politischen, theologischen und literarischen Themen. 38 Gleiches gilt für die Briefwechsel humanistischer Gelehrter, in denen grammatische Einzelfragen neben den sog. großen Zeitfragen behandelt werden. Doch zeichnen sich die Gespräche und Briefe vor allem durch eine Gemeinsamkeit aus: Die philologische Herangehensweise und den Vergleich mit den jeweiligen antiken Quellen: Es gilt durch eigene Inaugenscheinnahme, mithin durch Autopsie, eine korrekte Beschreibung oder einen fehlerlosen und möglichst präzisen Text herzustellen. Als spezifische epistemologische Praxis humanistischer Wissenschaften hat Brian Ogilvie das herausragende Interesse an Einzelheiten im Gegensatz zu den mittelalterlichen Interessen an den Universalien bezeichnet. Der empirische Fokus humanistischer Naturwissenschaft könne von ihrer Sprachbeschäf35 MÜHLBERGER, 2007, S. 90: Celtis beruft sich wegen der Vorlesungszeit auf seine Berufung durch Maximilian: er lese „auctoritate regentum“. 36 Vgl. FÜSSEL, 2006: Zu den Disputationen als „rite de passage“ S. 152-154. 37 MORAW, 1993, hier S. 567: Peter Moraw hat für das Spätmittelalter so beobachtet: „Eher Defensive, ja Ängstlichkeit charakterisiert vermutlich mehrheitlich das gelehrte Verhalten von damals, auch das Anklammern an das bisher gültig Gewesene, nicht so sehr offensive Gesten.“ 38 Zu Peutinger bietet Müller einen hervorragenden Überblick: vgl. MÜLLER, 2014.

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tigung abgeleitet werden. 39 Ogilvie hat aus dem Bericht eines italienischen Gelehrten, der sich mit seinen Lehrern an der Universität Padua (Antonio Cotuso und Prosper Alpina) über naturalia ausgetauscht hat, drei Begriffe herausgearbeitet, die diese gelehrte Praxis kennzeichnen, nämlich contemplatio, cognitio und conversatio. Als wichtigste Fähigkeit für diese epistemischen Verfahren bezeichnet er das Sehen, weil im Augenschein die notwendigen Unterscheidungen getroffen würden. 40 Entsprechend können die Beschreibungstechniken in der frühneuzeitlichen Naturwissenschaft nur innerhalb eines Systems von Differenzen verstanden werden (so z. B. die Abgrenzung des Bärlauchs von Knoblauch und Maiglöckchen). Die Autopsie als Beweis einer Aussage erhält dabei einen dermaßen hohen Wert, dass die für eigene Aussagen zugrunde gelegte Lektüre mittelalterlicher Autoren zu ihren Gunsten verschwiegen wird.41 Kaum zufällig entwickelt sich dieser humanistische Kult der Autopsie aus der philologischen Editionspraxis, wird die Textkritik in Auseinandersetzung mit antiken Schriften in die Naturwissenschaften getragen. Einer der meistedierten Autoren der Humanisten war Plinius, um dessen Historia naturalis auch die ersten Kontroversen kreisten.42 Ermolao Barbaro, einer der geachtetsten Editoren der humanistischen Buchkultur, kann sich die Abweichungen in den Schriften von seiner eigenen Anschauung nur durch Abschreibefehler erklären.43 Er geht davon aus, dass Plinius (wie er selber auch) die Pflanzen alle selber beobachtet hat. Die Beobachtung der Natur allein allerdings genügte den wissenschaftlichen Ansprüchen nicht – daneben steht weiterhin die Lektüre.44 39 OGILVIE, 2006, S. 116. 40 EBD., S. 26. 41 So fällt Konrad Gessner bei der Kollationierung der unterschiedlichen Quellen für die Gestalt der nordischen Fauna auf, dass Olaus Magnus für seine Geschichte der nordischen Völker Albertus Magnus nicht benannt aber benutzt habe – obwohl er Autopsie für sich in Anspruch nimmt; vgl. hierzu EBD., S. 199. 42 Vgl. MONFASANI, 1988. 43 Vgl. OGILVIE, 2006, S. 122-126, hier S. 125. 44 So mit dem Beispiel des Leoniceno OGILVIE, 2006, S. 130; vgl. auch zur Vesalius LEMBKE, 2005. 1534 hat Euricius Cordus, der in dieser Zeit als Medizinprofessor in Marburg lehrte, in Köln sein Botanologicon drucken lassen, das in Form eines Dialogs eine botanische Expedition von Marburg durch die Gärten der Vorstadt und entlang der Lahn präsentierte. Cordus, der mit einigen anderen und v. a. seinem Sohn Valerius unterwegs war, der ihn als Botaniker im Rang deutlich übertreffen sollte, bestimmte die Pflanzen vor allem mithilfe der lateinischen Übersetzung von Dioscorides De materia medica. Es vollzieht sich zwischen Empirie und

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Die Kombination der Lektüre von Texten, deren Wahrheit nicht prinzipiell angezweifelt wird, mit dem Verfahren der Autopsie fördert transformatorische Prozesse. Durch einen solchen Abgleich der eigenen Naturanschauung mit einem als unvollständig erkannten antiken Text hat Georg Agricola (15301575) in Amberg in der Oberpfalz gewissermaßen den Basalt erfunden. Bei Plinius (Naturalis Hist. 36, 58) hatte er von einer Marmorart gelesen, welche die Ägypter in Äthiopien gefunden hätten und die von Plinius mit den Kennzeichen eisenfarbig und eisenhart beschrieben worden war. Im Versuch, seine eigene Anschauung mit der Lektüre antiker Autorität abzugleichen, identifiziert er eine Gesteinsart des Meißner Landes mit dem ägyptischen seiner Plinius-Lektüre: „Mancher Marmor ist eisenfarbig. So ist der Basalt, den die Ägypter in Äthiopien gefunden haben. Hinter ihm steht der Meißner nicht zurück, weder in der Farbe – er ist besonders stark eisenfarbig – noch in der Härte; diese ist so groß, daß ihn Schmiede als Amboß verwenden.“ Doch dann fügt er einen Satz hinzu: „Die Säulen sind eckig.“ Und obwohl dies, wie er sagt, über die aschgrauen und schwarzen Marmorarten und den Basalt genügen solle, führt er später weiter aus: „Die Natur erzeugt auch Säulen, bald ohne Ecken, wie die aus Syenitz in der Thebais zwischen Syene und Philai zu beiden Seiten der Straße, bald eckig wie die Basalte im Meißner Land […]. Eckig sind sie aber nicht nur auf einerlei Weise, sondern sie haben mindestens vier, höchstens sieben Ecken. An beiden Orten sind sie enger untereinander verbunden.“45 Der antike Ausgangspunkt wird mithin verlassen, die Autopsie ergänzt die philologische Arbeit durch neue Eigenschaften, die konkreten Einzelheiten. Die sinnlich wahrnehmbaren Merkmale, also Farbe, Geschmack und Geruch sind durch Tastsinn besser erkennbar als ihre „Kräfte und Mängel“46. Doch die Geschichte des Basalt geht noch ein entscheidendes Stück weiter: Aufgrund der neuen Beschreibung von Agricola wird nicht nur die Lesart ‚basaltem‘ im Text des Plinius in ihrer Gültigkeit gestützt, sondern es wurde zusätzlich in den Schriften des Isidor von Sevilla im 18. Jahrhundert durch Johann Vossius, Alexander von Humboldt und schließlich vor allem den Edi-

Autorität ein kompliziertes Wechselspiel, bei dem eine besondere „experientia“ der Akteure ausschlaggebend war. 45 AGRICOLA, 2006, hier S. 240, 247 (1546: S. 310, 315f.), zuvor S. 27 (1546: S. 181). 46 EBD., S. 12 (1546: S. 171).

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tor Arevalo Basanites zu ‚Basalt‘ geändert.47 Autopsie und Philologie gehen hier eine Verbindung ein, die zur Neukonstruktion eines antiken Autors und zur Erfindung eines Gegenstands der Natur führen. Aus dem Anspruch, das Wissen durch Autopsie zu gewinnen, ergibt sich eine Zusammenarbeit mit anderen Akteuren als praktische und intellektuelle Notwendigkeit. Humanistische Gelehrtenwerke treten daher häufig als kollektive – dialogische – Projekte auf. Die Zusammenarbeit wird dann explizit genannt, nicht zuletzt, um die Integration des Gelehrten in die Netzwerke zu belegen. So schreibt Georg Agricola in seinem Widmungsbrief: Unsere Bergwerke erzeugen freilich nicht alle Mineralien. Ich habe mir daher die bei uns fehlenden nicht nur aus den Gegenden Deutschlands, wo sie reichlich vorhanden sind, sondern aus fast allen Gegenden Europas, ja, aus etlichen Asiens und Afrikas bringen lassen. Um die Erledigung dieser Aufträge haben sich Gelehrte, Kaufleute und Bergleute für mich bemüht. (…) Z. T. haben diese Dinge noch keinen Namen, weil die Alten nichts darüber geschrieben haben. Ich mußte ihnen deshalb neue Namen gegen, und zwar öfter griechische, weil ich wirklich geeignete lateinische nicht geben konnte.48

Gleichfalls gilt dies für Inschriftensammlungen, historische Texte und philologische Fragen, nicht allein, weil die große Menge an Informationen von Einzelpersonen nicht zu bewältigen war,49 sondern auch – und meines Erachtens vor allem – als eine Wirkung der gemeinschaftlichen Praktiken in humanistischen Gelehrtengemeinschaften. Hierin sehe ich das Proprium humanistischer Wissenschaftspraxis beschrieben: Die informellen Gelehrtengemeinschaften erweitern das Wissen in dialogischer Form und in einer Berufung auf Autopsie. Doch die informellen Gelehrtengemeinschaften und die sich aus ihnen entwickelnden neuen institutionalisierten Akademien sind nicht die alleinigen Orte der neuen wissenschaftlichen Methoden: Wie insbesondere die Aufzeichnungen des Studenten 47 KRAFFT, 2006, S. XLVII. Zu AGRICOLA, 2006, S. 27, 240, 259; Arevalo Etymologiae XVI, 5, 6; Rom 1797-1803; Der Basalt wird mit Agricola identifiziert: „ferrei coloris sive duritae, unde et nomen ei datum est“. 48 AGRICOLA, 2006: Widmungsbrief an Moritz von Sachsen, S. 5-10, hier S. 8 (1546: 167-170). 49 OGILVIE, 2006, S. 52: „They collaborated because they were aware that they had to identify and describe an enormous swiftly growing number of plants and animals species; no one naturalist, no matter how indefatigable, could suffice.“

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Baldasar Hesseler von den universitären Sektionen des Andreas Vesalius (1514-1564) in Bologna 1540 zeigen, fanden die autoptischen und eigenhändigen Verfahren in der Medizin ihren Weg in die Universität, ebenso wie in Theologie und Jura die neuen editorischen, quellenkritischen Grundsätze humanistischer Gelehrter Anwendung fanden. Es sind also weniger die epistemischen Praktiken, die die humanistischen Gelehrtenzirkel und die Akademien von den Universitäten unterscheiden, sondern vielmehr die in ihnen angelegte Neuordnung der disziplinären Hierarchie, teilweise eine Negation oder Ignoranz bestehender sozialer Hierarchien in den gemeinschaftsbildenden Praktiken sowie vor allem der Verzicht auf ausbildende, lehrende Praxis. Eine Transformation dieser Praktiken muss innerhalb der Universitäten erfolgen, die nach wie vor der einzige Ort akademischer Ausbildung bleibt.

Uni versität: Lectio, Disputatio, Declamatio Vorlesungen Für die Vorlesungen als wesentlichen Bestandteil der akademischen Lehre können drei grundsätzliche Möglichkeiten unterschieden werden, durch welche die mittelalterliche Praxis transformiert wird. Eine erste Möglichkeit, in der die prekäre Stellung der humanistischen Gelehrten an den Universitäten besonders sichtbar wird, besteht darin, zusätzliche Vorlesungen anzubieten, die nicht zum Kern- und Pflichtbereich der zu belegenden bzw. der zu lesenden Vorlesungen gehören. Ein markantes Beispiel für eine solche Ergänzung bietet die Abschiedsrede des humanistischen Poeten Johannes Aesticampian aus Leipzig, in der der Verfasser aufzählt, worüber er im Einzelnen gelesen hat.50 Sein zugleich selbstbewusst und beleidigt klingender Rechenschaftsbericht nennt fast ausschließlich Schriften, die neben dem normalen Lehrprogramm der Artes stehen, wie die Germania des Tacitus oder die Briefe des Hieronymus, die Dekaden des Livius oder die Aeneis des Vergil – zum Kernprogramm sind Cicero, Martianus Capella und mit Einschränkung Plinius zu zählen. Aesticampian hebt dies als seine besondere Leistung hervor und verweist darauf, dass er seine Vorlesungstätigkeit durch editorische Arbeit 50 Die Rede ist in einem fehlerhaften Druck des 17. Jahrhundert überliefert, vgl. dazu auch die Übersetzung bei CLEMEN, 1899.

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ergänzt hat. Das ist der einfachste Weg, um auch bei anderen Humanisten die Schwerpunkte der Vorlesungstätigkeit zu rekonstruieren. So lassen sich z. B. bei Johannes Cuspinian und Joachim Vadian in Wien ähnliche Schwerpunkte belegen.51 Die zweite Möglichkeit besteht darin, sich die vorgegebenen Vorlesungsthemen durch eigene Lehrbücher anzueignen und die alten Bücher zu ersetzen: Hier möchte ich als ein Beispiel eine Aristoteles-Vorlesung anführen, bei der nicht allein die textliche Grundlage überliefert ist, sondern auch die Mitschrift eines Hörers, die Einblick in die konkrete Vorlesungssituation gewährt: Der Baccalaureus Bartholomäus Metzler hat an der Universität Freiburg i. Br. um 1549/50 eine Vorlesung über die Naturphilosophie des Aristoteles mitgeschrieben und kommentiert. 52 Gehalten wurde die Vorlesung von Heinrich Glarean (1488-1563), beteiligt waren aber auch noch zwei weitere Freiburger Dozenten, nämlich sein späterer Nachfolger Apollinaris Burckhart und der junge Magister Valentin Pistoris. Grundlage war der in Freiburg erschienene Druck Totius Naturalis Philosophiae Aristotilis Paraphrases per Iacobum Fabrum Stapulensem.53 Das gedruckte Werk enthält also weder den griechischen Text der Naturphilosophie des Aristoteles noch eine lateinische Übersetzung, sondern lediglich eine lateinische Paraphrase des Textes, verfasst vom französischen Gelehrten Jacques Lefèvre dEtaple (d. i. Jacobus Faber Stapulensis, 1450 oder 1455-1536). Für die Form der Vorlesung möchte ich hier nur auf zwei Dinge hinweisen: Eröffnet wurde sie von einem Gedichtvortrag des poeta laureatus Glarean In Naturalem Philosophiam Exortatorium. Henrici Glareani Philosophi et poetae clarisimi Friburgensium. Hierunter ist nun keinesfalls eine Inhaltsangabe, ein Argumentum des Aristoteles oder der Vorlesung gemeint, vielmehr stellt das Gedicht eine poetische Ergänzung dar. Aus der Vorlesungsmitschrift Metzlers wird deutlich, dass Glarean, Burckhart und Pistoris nicht über den gesamten Aristoteles gelesen haben. Selbst also bei der humanistisch geprägten Vorlage des Faber Stapulensis können durch Fokussierungen Inhalte ausgeblendet werden. Für die dritte Möglichkeit kann die Botanik als Beispiel angeführt werden: Sie lagert sich, aufbauend auf autoptische Verfahren und die philologisch51 Vgl. hierzu die Artikel im VLH, zu Vadian: SCHIRRMEISTER, 2013, hier insbesondere Abschnitt II.G, Sp. 1218-1224; zu Cuspinian: STELZER, 2008, hier Sp. Abschnitt II.A, Sp. 526-529. 52 BURMEISTER, 2007. Alles weitere hiernach. 53 Freiburg 1540, VD16 L 962.

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editorische Beschäftigung mit Plinius54 als neues Themenfeld an die medizinische Fakultät an. Eine Streitschrift Pufendorfs rühmt im Rückblick die Medizin, die sich von Aristoteles gelöst und, statt sich an neue Autoritäten zu klammern, empirisch-experimentelle Forschungen an ihre Stelle gerückt habe, während die Philosophie durch ihr Zusammennähen von Aristoteleskommentaren keinen Deut weitergekommen sei. 55 Diese empirische Erneuerung der Medizin vollzog sich nicht zuletzt in Ergänzung von Vorlesungen – wie die Mitschrift des Baldasar Heseler in Padua belegt, der die anatomischen Vorlesungen des Matthaeus Curtius und die Sektionen des Andreas Vesalius besuchte. 56 Dass aber nicht die Performanz der Sektion erkenntnissichernd wirkt, sondern die Autopsie auch in der Vermittlung durch den Buchdruck, dafür bieten dann die Verwendung des anatomischen Werks des Vesalius und der botanischen Werke von Cordus in der Vorlesungspraxis hinreichende Belege. Universitäre Vorlesungspraxis bleibt folglich ans Buch gebunden.57 An den Transformationen der Vorlesungen werden jedoch eigene Strategien sichtbar: Während die Akademien und Convivien als neue Orte der Gelehrsamkeit und als Negation der mittelalterlichen Praxis neu zu besetzen sind, bleiben die Universitäten ,alte Orte, in denen weiter agiert werden muss, da sie beherrschend für die soziale Welt der Gelehrsamkeit sind. An diese Orte müssen sich die Gelehrten assimilieren und ihre innovativen Elemente einfügen. Neue Referenzbereiche, also neue Texte und eine Assimilation der Medien, d. h. der Vorlesungstexte und -praxis, an die eigenen Prinzipien, zählen zu den hervorstechenden Verfahren, die zugleich die universitäre Praxis erneuern und die humanistische Gelehrsamkeit an die institutionellen Gegebenheiten anpassen sowie das Bild antiker und mittelalterlicher Autoritäten modifizieren.

Disputatio und Declamatio Für den Alltag der universitären Lehre sind aber die vielgestaltigen Disputationen, deren Zerrbild das Eingangszitat zeichnete, entscheidender. Die Fülle ihrer Formen steht zugleich in einer engen Wechselbeziehung zur dynamischen Entwicklung des Habitus der Gelehrten. Ich möchte hier nicht, wie Anita Traninger das vorbildlich gemacht hat, die Disziplinen ,Rhetorik und ,Dialektik als miteinander konkurrierende agonale Techniken in den Wissen54 55 56 57

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S. dazu oben bei Anm. 44. DÖRING, 2006, hier S. 317f. HESELER, 1959. Vgl. LEMBKE, 2005.

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schaften einander gegenüberstellen58, sondern zeigen, dass unter Anwendung des Transformationskonzeptes besser begründet werden kann, weshalb sich die Humanisten an dieser durch und durch dialogischen Form, die ihrem Wissenschaftsverständnis deswegen eigentlich entgegenkommen müsste, derart ostentativ gestört haben. Denn die Disputation ist wie der Brief als dialogischer Akt ein formalisiertes Gespräch, in dem sich in der Wechselrede zwischen Opponenten und Respondenten die akademische Gruppe einer gemeinsamen Wahrheit vergewissert. Disputationen sind somit eminent soziale Akte, die gleichzeitig als Gelehrsamkeitsbeweis und Repräsentationsakt dienen können – dies vor allem in den Disputationen pro gradu und solemne: „Als formalisiertes öffentliches Geschehen umfaßte die akademische Disputation die Universität im geistigen und institutionellen Sinn zugleich“ 59 , so betont Martin Gierl für die Frühe Neuzeit und ergänzt zur gesellschaftlichen Relevanz des akademischen Aktes: „Disputation ist die Bühne, auf der Positionen vorgestellt und bestritten, abgesteckt und behandelt werden. Zugleich aber ist sie auch öffentlicher politischer Akt, nah dem juristischen Verfahren, an dessen Horizont die auch praktisch gültige Entscheidung steht.“60 Damit beschreibt Gierl eine Funktion, die die mittelalterlichen Disputationen in dieser Form noch nicht besitzen konnten, weil sie ausschließlicher auf die universitären Funktionen bezogen waren. Unter den unterschiedlichen spezifischen Aspekten, die diese Funktionen umfassten, hat die wohl beste Kennerin des mittelalterlichen Disputationswesens, Olga Weijers, zwei grundsätzliche Elemente beschrieben, die sich in einer allgemeinen Definition der Disputation wiederfinden: Zuerst diene die Disputation der Klärung von Fragen, die bei der Lektüre aufkämen (Widersprüche, konfligierende Interpretationen). Die Disputation solle lehren, Wahrheit zu erkennen und die richtige Antwort auf eine Frage zu finden. Kurz und bündig: „It is a method of teaching and research that uses dialectical argumentation, especially syllogisms, only to this end.“61 Allerdings gilt offenbar für die verschriftlichte Disputation, dass ab der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts die Universitäten mehr und mehr auf be-

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Vgl. TRANINGER, 2011. GIERL, 2004, hier S. 425. EBD., S. 421. Vgl. auch FREEDMAN, 2010, S. 107. WEIJERS, 2010, hier S. 23.

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stimmte Formen wie die quaetio disputata verzichteten, während andere, wie die quodlibeta ihre Attraktivität eher steigern konnten.62 Das unentschiedene Verhalten der disputatio zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit, ihre ständige Veränderung durch Hinzufügung neuer Elemente und Verlust alter63, ließ Raum und Möglichkeit zum Eindringen der declamatio und zur rhetorischen Umgestaltung der disputatio. So legen die Statuten der Helmstedter Universität aus dem Jahr 1576 ganz konsequent Wert darauf, dass ,disputieren nicht ,zanken heiße. Disputationen, die in Helmstedt um 1580 im Vergleich mit allen anderen Universitäten offenbar die herausragende Unterrichtspraxis darstellten, werden als freundlich und sanftmütig beschrieben.64 Die hergebrachte Form bleibt erhalten, die Praxis ändert sich. Doch auch die humanistischen Transformationen der scholastischen Wissenschaftspraxis blieben selbstverständlich nicht unveränderlich und wurden wiederum transformiert. Wilfried Barner hat bereits 1970 das Disputationswesen nach der jesuitischen Übernahme der theologischen und philosophischen Fakultäten im 17. Jahrhundert als einen ,geistigen Turniersport be62 BAZAN, 1982, hier S. 37: „Les causes de ce phénomène sont complexes et difficiles à déterminer. Il y a d’abord la professionalisation progressive des universités [...] Il y a ensuite le fait que le grand travail de mise au point de disputes ait pu être perçu comme une réduplication superflue face à la rédaction de sommes et de traités. Le nombre croissant de maîtres est aussi à compter parmi les causes de la décadence de la dispute ordinaire [...]. Par ailleurs, d’autres disputes attiraient leurs efforts et leur attention : les quodibeta leur fournissaient un cadre solennel et un public très large devant lequel ils pouvaient mieux faire briller leur talents ; les actes de maîtrise (aulique, vespéries), auxquels ils étaient obligés d’assister, absorbaient beaucoup de leur temps. Ces facteurs sont tous d’ordre institutionnel, et c’est peut-être leur confluence qui a provoqué la disparition progressive de la quaestio disputata.“ („Die Gründe für dieses Phänomen sind komplex und schwierig zu bestimmen. Da ist zunächst die zunehmende Professionalisierung der Universitäten [...] Dann ist da die Tatsache, dass die große Arbeit, die Disputationen auszuarbeiten, wie eine überflüssige Verdopplung der Redaktion der Summen und Traktate wahrgenommen werden konnte. Die wachsende Zahl der Magister muss ebenfalls zu den Gründen für den Niedergang der quastio ordinaria gezählt werden […] Des Weiteren konnten andere Disputationen ihre Aufmerksamkeit und ihre Anstrengungen auf sich ziehen: Die quodlibeta boten ihnen einen feierlichen Rahmen und ein breites Publikum, vor dem sie besser mit ihren Fähigkeiten brillieren konnten, die Promotionsakte (aulica, vespera), an denen sie teilnehmen mussten, beanspruchten einen Großteil ihrer Zeit. Diese Faktoren gehören alle zu einem institutionellen Bereich und es ist vielleicht ihr Zusammenwirken, dass für das fortschreitende Verschwinden der quaestio disputata gesorgt hat.“) 63 EBD., S. 31. 64 So die Zusammenfassung bei MAASER, 2007, S. 122.

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zeichnet, der einen Großteil der akademischen Arbeitszeit in Anspruch nahm65 (oder zumindest, um es vorsichtig zu formulieren, pflichtgemäß hätte nehmen müssen). Die ,ursprüngliche Funktion der disputatio, Wahrheit im Streitgespräch zu ermitteln, machte sie zur quasi-natürlichen Gattungsbezeichnung für die Religionsgespräche und ließ sie für reformatorische Anliegen nützlich erscheinen, worin Barner den Grund für eine explizite Bestätigung der wöchentlichen Disputationen in der reformierten Universitätsordnung Tübingens von 1533 sah.66 Das Disputationswesen wird neugeordnet, ohne auf die Disputationen zu verzichten, sondern indem es ergänzt wird durch Brief-, Gedichtund Redeübungen.67 Die zugleich vielfältige und formalisierte Praxis der Disputationen des Spätmittelalters erleichterte die Transformationen der Humanisten, die gewissermaßen neue Themen für die alte Form fanden und neuen Wein in alte Schläuche gossen. Es ist die Förmlichkeit (wieder im Sinne Michel de Certeaus) der Disputationen als Praktiken in der Institution Universität, deren agency68 Transformationen ermöglicht, vielleicht mitunter suggeriert, andere (denkbare) Transformationen aber auch verbietet. Sichtbar wird diese starke Wirksamkeit der institutionellen Bindung besonders in zwei Transformationstypen.

65 BARNER, 1970, S. 393f. 66 „So dekretiert z. B. die ‚Reformation vnd newe ordnung der Universitet zu Tübingen 1533‘, ‚das die disputationes hebdomadales in Artibus, wie die von alter gewest sind, on abgang gehalten werden.‘“: Urkunden zur Geschichte der Universität Tübingen, Tübingen 1877, S. 176ff, hier S. 182, zit. n. EBD., S. 396. 67 Vgl. EBD., S. 397f. 68 Agency im Verständnis des Transformationskonzeptes: „Jedes Ding, das einen Zustand eines anderen Gegenstandes oder von Angelegenheiten verändert, indem es einen Unterschied verursacht, ist somit als Agent zu bezeichnen. Dieses Verständnis von agency ermöglicht einen präziseren Blick auf Wechselwirkungen und Zusammenhänge zwischen Einzelnen und einer Gruppe, zwischen materieller Welt, Institutionen und menschlichen Akteuren. Über determinierende und kausale Beziehungen hinaus kann damit die Wirkmächtigkeit nicht-menschlicher Realitäten analysiert werden, berücksichtigend, dass auch die Dinge autorisieren, erlauben, suggerieren, beeinflussen, blockieren, verbieten etc. können. Gleichwohl ist agency nicht als quasi-magische Eigenschaft der Medien und Materialien zu verstehen: Diese werden – ebenso wie die menschlichen Akteure der Transformation – erst im Transformationsprozess zu Agenten des kulturellen Wandels.“ BERGEMANN u. a., 2011, hier S. 44.

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1. Persiflagen und polemische Umgangsformen führen als Inversionen der universitären Disputationen bezeichnenderweise aus dem institutionellen Rahmen der Universität hinaus. Sie nehmen in einem allgemein gelehrt-unterhaltsamen Kontext die Disputation als vorherrschende Lehrform zum pars pro toto der hergebrachten Wissenschaftspraxis. Die Andeutung eines Beispiels soll hier genügen: Im Herbst 1513 verfasste der in Wien tätige St. Galler Humanist Joachim Vadian sein, durch eine Reise nach Buda und die dortigen Hahnenkämpfe angeregtes, satirisches Theaterstück Gallus Pugnans. Einerseits behauptet er, ihn hätten diese Kämpfe an die Berichte des Plinius und des Aelianus über ähnliche Sitten in Pergamon und Athen erinnert. Andererseits ist „Hahnenkampf“ gleichzeitig aber eine an unterschiedlichen Universitäten gebräuchliche spöttische Bezeichnung für (theologische) scholastische Disputationen. Neben der legitimierenden, gelehrten antiken Referenz ist die nicht explizit benannte zeitgenössische Disputation der form- und inhaltsbestimmende Bezug, dem es nachgebildet ist: Auf eine Eröffnung durch den Magister mit der Quaestio (Philolaus) folgen der erste Respondent (Philonicus) und ein zweiter Respondent mit entgegengesetztem Schluss (Euthymus). Der Lösung der quaestio durch den vorsitzenden Magister entspricht dann der Schiedsspruch durch die Kapaune. Am Ende tritt eine ,Hanswurst -Figur Li-chenor auf, die das Verfahren und die Verfahrensbeteiligten lächerlich macht: Da keiner die Prozesskosten bezahlen könne, seien sie zum Wohle aller zu schlachten und zu braten. Die Rolle Lichenors besteht darin, die Kompetenz des Gerichtes zu bestreiten und die Lächerlichkeit der scholastisch disputierenden Hennen und Hähne, die sich noch nicht einmal untereinander verständigen können, vor Augen zu führen.70 2. Als Negation71 der Disputationen im universitären Lehrbetrieb können die Deklamationen 72 aufgefasst werden, die bestrebt sind, hergebrachte aka69 Der Definitionsvorschlag des Transformationskonzeptes zur Inversion, EBD., S. 53: „Transformation, die Elemente der Referenzkultur als solche erkennbar bleiben läßt, zugleich aber semantische Verschiebungen erzeugt. Die Inversion erscheint als radikale Form der Umdeutung an der Grenze zur Negation.“ 70 Ioachimi Vadiani Helvetii mythicum syntagma, cui titulus Gallus pugnans, Wien 1514. Vgl. zusammenfassend mit Literaturangaben: SCHIRRMEISTER, 2013, Sp. 1189-1191. 71 Die Definition des Transformationskonzeptes zur Negation vgl. BERGEMANN u. a., 2011, hier S. 52): „Transformatorisches Verfahren der aktiven und expliziten Ausgrenzung. Das Objekt wird zurückgewiesen, bleibt aber gerade in der negativen Bezugnahme stets präsent bzw. wird dadurch erst konstruiert. Im Unterschied zur Ignoranz ist das Verhältnis ein demonstrativ ablehnendes.“

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demische Verfahren zu substituieren und diesen Vorgang durch eine Appropriation antiker Praktiken zu legitimieren. Ausgeblendet wird bei dieser antiken Genealogie der Deklamationen die ebenfalls antike Genealogie der Disputation, für die allein der mittelalterliche Referenzbereich, die etablierte universitäre Kultur als Bezugsgröße präsent gehalten wird.73 In diesen Kontext gehört der eingangs zitierte Ausruf: Der angesehene humanistische Gelehrte Beatus Rhenanus (1485-1547), selbst nie in der universitären Lehre tätig, hat 1519 beim renommierten Druckhaus Froben in Basel die von Cosimo Pazzi angefertigte lateinische Übersetzung der Sermones des Maximus Tyrius herausgegeben.74 Die Vorrede ist an Jean Grolier de Servières, Vicomte dAguisy gerichtet, einen Bücherliebhaber und -sammler in Diensten des französischen Königs, der zur Zeit der Publikation als Botschafter in Italien wirkte. Die Einbände seiner Bücher ließ er mit der Aufschrift Io. Grolieri et Amicorum prägen, wodurch eine nicht institutionalisierte, informelle Gelehrtengemeinschaft konstruiert wurde.75 Rhenanus geht im programmatischen Widmungsbrief von der Nützlichkeit der öffentlichen Deklamation als Redeübung oder Vortrag aus, die gewissermaßen dem lydischen Probierstein vergleichbar sei.76 Denn – so die Begründung des Rhenanus – durch die Reaktionen des Publikums erfahren wir, ob eine Idee, ein Einfall überzeugend und kunstvoll ist. Er bezieht sich deutlich auf eine mündliche Deklamation, wenn er bemerkt, dass die Zuhörer die Sorgfalt der Ausarbeitung steigerten, da sie Ruhm oder Tadel verteilen können.77 Rhenanus hebt hervor, dass die Bücher des Apuleius verschriftlichte 72 Die umfassendsten Studien zur humanistischen declamatio stammen von Marc van der Poel, die niederländischen intensiven Forschungen zusammengefasst in einer englischen Fassung: VAN DER POEL, 1989. In kritischer Auseinandersetzung mit ihm neuerdings TRANINGER, 2012 mit vielen ergänzenden und präzisierenden Beobachtungen. 73 Vgl. hierzu GILBERT, 1963, insbes. S. 517 und S. 522-524 mit Nachweisen zum ciceronianischen Gebrauch von disputatio als philosophischen Begriff. 74 Maximi Tyrii Philosophi Platonici Sermones e Graeca in latinam linguam versi Cosmo Paccio interprete, Basel: Froben 1519. 75 Ähnliches kann man bei deutschen Humanisten beobachten. Vgl. die Exlibris von Pirckheimer und Cuspinian, dazu SCHIRRMEISTER, 2003, S. 146f. mit Abb. 9 und 10. 76 Wie Anm. 1. 77 Paraphrase von RHENANUS, 1886, hier S. 133: „Quoties enim apud multitudinem dicimus, facile experimur, num felix sit inventio, num dispositio concinna, num apposita elocutio, et quanquam taceant auditores, ex illorum tamen vultibus intelligere licet, album an atrum (quod aiunt) calculum recitantibus nobis aut dicentibus adiiciant.“

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in Karthago gehaltene Vorträge seien und weist darauf hin, dass der von ihm herausgegebene Tyrius seine Vorträge gesprochen habe – und zwar nicht vor einer zusammengelaufenen Menge, sondern vor Gelehrten und Freunden: 78 Das antike Publikum wird auf diese Weise mit den zeitgenössischen humanistischen Gelehrtenzirkeln parallelisiert. Kennzeichnend für die declamatio ist jedoch ihr uneindeutiger, vielfältiger Gebrauch79, der teilweise synonym mit anderen Redebegriffen (vor allem mit oratio, aber auch, wie hier durch Rhenanus und Maximus Tyrius, mit sermo), teilweise von diesen abgrenzend gedacht zu werden scheint und sich somit einer definitorischen Reduktion auf bestimmte Redeformen entzieht. Die Differenzierung zwischen ,erwachsenen und propädeutischen declamationes, wie sie Traninger vorschlägt, anhand ihrer Medialität vorzunehmen und dabei der philosophischen declamatio die Schriftlichkeit und der Übungsrede die Mündlichkeit zuzuweisen, scheint wenig überzeugend. 80 Die Schriftlichkeit der declamationes muss wohl eher als eine Verschriftlichung der jeweiligen konkreten Mündlichkeit gedacht werden: Ein Auf-Dauer-Stellen der allzu flüchtigen Mündlichkeit, deren Charakter gleichwohl beibehalten werden soll. Die gedruckte Veröffentlichung ist also vielmehr Folge einer Orientierung humanistischer Gelehrter an einem nicht-institutionalisierten, nicht-ortsgebundenen Publikum. Diese Ergänzung der Mündlichkeit durch den Druck wird umso deutlicher, wenn es sich um Reden handelt, die tatsächlich in der und für die Universität gehalten worden sind, anschließend aber auch gedruckt werden. So sind z. B. die Reden Joachim Vadians an der Universität Wien transformationstheoretisch und hinsichtlich der funktionalen Analyse der universitären Gattungen äußerst aufschlussreich. Gedruckt liegen zwei Reden von 1510 und 1511 vor, die als Predigten gehalten worden sind: Einmal zum Patronatsfest der rheinischen Nation, das andere Mal als Weihnachtsrede.81 Unge78 Paraphrase von EBD.: „Et hic noster Tyrius hos sermones non tam perpetua oratione conscripsisse quam declamasse videtur: non quidem apud promiscuam plebem, sed apud doctos et amicos, qui in hoc a dieturo vocabantur, ut recitantem audirent.“ 79 Vgl. dazu MACK, 2007. 80 Vgl. TRANINGER, 2012: Das gilt insbesondere für ihre terminologischen Überlegungen, dass aus einer oratio im Druck eine declamatio werde (so S. 195) – das könnte nur funktionieren, wenn es eine einheitliche Gattungsvorstellung der declamatio gegeben hätte, wovon Traninger aber selber zu Recht nicht ausgeht (z. B. S. 172). 81 Joachim Vadian, Oratio de undecim milibus Virginum, Wien: Vietor 1510; Ders., Oratio de Iesu Christi die natali, Wien: Vietor 1511, Ed.: Vadian, 1953; Die Weihnachtsrede ist in den Akten der Theologischen Fakultät unter der Rubrik

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druckt geblieben (und wohl deshalb verschollen) ist eine Rede, die Vadian 1516 im Namen der medizinischen Fakultät gehalten hat: Ihm wurde die Aufgabe übertragen, zu Ehren der Schutzpatrone der medizinischen Fakultät zu sprechen, den Heiligen Cosmas und Damian, wodurch er von der Disputationspflicht zur Erlangung des Baccalauraeats entbunden gewesen wäre.82 Mit dieser Funktionalisierung der Deklamationen im Rahmen des Prüfungs- und Promotionswesens geht die Wiener medizinische Fakultät den von der Forschung für die deutschen Universitäten als einschneidend gewürdigten melanchthonisch beeinflussten Studienordnungen an den (protestantischen) Universitäten Wittenberg und Tübingen voraus. In Wittenberg warb Philipp Melanchthon 1523 in Plänen zur Studienreform für einen alterierenden Rhythmus zwischen Disputationen und Deklamationsübungen der Studenten.83 Dreizehn Jahre später verzichten die Tübinger Statuten ebenfalls nicht auf die Disputationen, sondern wollen sie nach Wittenberger Vorbild durch Deklamationen ergänzen.84 Deklamationen haben somit im 16. Jahrhundert an Universitäten im Heiligen Römischen Reich sowohl Übungs- als auch Repräsentationscharakter, wozu nicht zuletzt Lobreden auf die einzelnen wissenschaftlichen Disziplinen zählen.85 Was allerdings nicht hätte gelingen können, wäre eine Ablösung der Disputationen als vorherrschende akademische Praxis gewesen. Angenommen, die polemischen Umgangsweisen mit Disputationen in humanistischer Literatur hätten tatsächlich eine vollständige Aufhebung der Disputation als universitärer Praxis intendiert, wovon angesichts der Statutenvorschläge und der Aktualität auch außerhalb der Universität nicht auszugehen ist, müsste wohl tatsächlich ein Scheitern intendierter Transformationen konstatiert werden. Aber kulturelle Transformationen gehen nicht in den Intentionen einzelner Akteure

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Sermones assignati nicht nur verzeichnet, sondern ausdrücklich „Predigt“ genannt: Festo Natalis Domini. M(agister) Ioachimus sermonem faciet. Daneben müssen auch mehrere gedruckt vorliegende Fürstenreden angeführt werden, die im Namen der Universität gehalten wurden, vgl. hierzu SCHIRRMEISTER, 2013, Sp. 1197-1200. So MÜLLER, 2012, hier S. 715 mit den Nachweisen aus den Statuten, die allerdings erst von 1518 stammen. Vgl. BAUCH, 1900, hier S. 9, 12. Vgl. BARNER, 1970, hier S. 423. Vgl. lediglich als Beispiele: MELANCHTHON, 1999; MÖNCKE, 2001: Seitz hielt seine Rede offenbar, um als auswärtig promovierter Mediziner in die medizinische Fakultät der Basler Universität aufgenommen zu werden; Johannes Regiomontanus, Oratio Iohannis de Monteregio, habita in Patavii in praelectione Alfragani, 1464 gehalten, zu ihr vgl. BYRNE 2006.

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auf, sondern sind, wie gezeigt, von einer Vielzahl unterschiedlicher Agenten abhängig. In ihrem Zusammenspiel werden die Geltungsansprüche ausgehandelt, die über die soziale und kulturelle Reichweite von Transformationen entscheiden.86 Disputation und Deklamation sind somit in der langdauernden Auseinandersetzung für kulturelle Transformationsprozesse aufschlussreiche Beispiele, weil in ihnen die agency sehr unterschiedlicher Elemente sichtbar wird: Neben vielen anderen z. B. die (institutionelle und gattungsmäßige) Förmlichkeit der Praktiken der disputatio, die zum retardierenden Moment und zum dauerhaften Rahmen sich verändernder Ausfüllungen werden und die mit der declamatio die Entgegensetzung einer neuen Praktik fördern, die statt der Wahrheitsfindung der rhetorischen Wirksamkeit verpflichtet ist. Die mediale Präsenz humanistischer Gelehrsamkeit hat die Durchsetzung der declamatio als neue Gattung gefördert und die Veränderung der disputatio nachhaltig beeinflusst.

86 BERGEMANN u. a. 2011, S. 45: „Mit dem Begriff der Geltung ist in diesem Zusammenhang keine ahistorische Wahrheit oder atemporale Gültigkeit gemeint, sondern er hebt auf die Wertigkeit oder Wirkung ab, die einer Transformation durch den Akteur oder sein Umfeld zugesprochen wird. Es ist deshalb sinnvoller, von Geltungsansprüchen oder -behauptungen zu sprechen, um die vielfältigen Bedingungen, die zur Legitimierung und Autorisierung von Transformationen führen, analysieren zu können. Diese existieren auf allen Ebenen der Transformation, auch auf derjenigen des wissenschaftlichen Beobachters. Die Berücksichtigung von Geltungsansprüchen dient gerade nicht dazu, die Transformation auf ihr Gelingen, ihre Korrektheit oder ihre Adäquatheit hin zu überprüfen, sondern hebt vielmehr darauf ab, die Adäquatheitskriterien im Aufnahmebereich, denen Transformationen unterliegen, zu untersuchen und für die Analyse fruchtbar zu machen. Transformationen sind also stets in historische Kontexte eingebettet und damit an spezifische Geltungsansprüche gebunden: Auswahl und Anordnung des Referenzmaterials sind auch von dem Anspruch bestimmt, der ihm zu einem historisch bestimmbaren Zeitpunkt von spezifischen Geltungsinstanzen oder Institutionen zugesprochen wird. Geltungsbehauptungen können aber auch in weniger institutionalisierter und unausgesprochener Form aufgestellt und verhandelt werden, ein Kunstwerk etwa stellt ebenfalls einen (ästhetischen, politischen o. ä.) Geltungsanspruch dar. Die Transformationsanalyse widmet sich deshalb neben den expliziten nicht zuletzt auch den impliziten Geltungsansprüchen auf der Gegenstandsebene und verhandelt sie im Licht der jeweiligen historischen Geltungsmaßstäbe.“

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Transf ormationen Die Transformation der mittelalterlichen Gelehrtenkultur der Universitäten, wie sie mit den Humanisten verbunden wird, erscheint als ostentative Negation universitärer Praxis, tritt mit dem Anspruch der Substitution herkömmlicher Praktiken auf und legitimiert dies durch die Berufung auf antike Referenzen. Mit der analytischen Hilfe des Transformationskonzepts können die verschiedenen Bestandteile des größeren Transformationsprozesses der Entwicklung der frühneuzeitlichen Gelehrtenkultur als einzelne, eigenständige Elemente mit unterschiedlichen Bezugssystemen sozialer und kultureller Art sichtbar gemacht, differenziert und zugleich miteinander in Zusammenhang gebracht werden. Die von den Humanisten als Substitution akzentuierte Transformation wird realisiert als Montage unterschiedlicher Referenzen. Als Charakteristikum kultureller Wandlungsprozesse, wie sie die Transformationstheorie versteht, wird die Intermedialität erkennbar: Das doppelte ,Dazwischen der Intermedialität87 wird durch den allelopoietischen Charakter der Transformationen wiederum verdoppelt: Diese spielen sich in einem Aushandlungsprozess in einem synchronen Raum mit vielfältigen Medien als Agenten ab und beziehen sich zugleich diachron auf divergierende kulturelle, zeitlich vorausliegende Referenzbereiche, die sie in der Wahrnehmung modifizieren bzw. erst konstituieren. Denn jedwede kulturelle Handlung ist darauf angewiesen, einen sozialen Raum vorzufinden, in dem sie Interesse erwecken kann (inter-esse), um Anerkennung und Geltung zu erlangen. Die Wahl der Referenzbereiche durch die Humanisten wird in den Transformationen somit als nicht-arbiträr sichtbar, sie ist zunächst banal gebunden an erreichbare, dann an angesehene und schließlich vor allem an kulturell anschlussfähige Referenzen. Die starke Präsenz antiker Kultur im Mittelalter in politischen und kulturellen Kontexten ist dabei unabdingbare Voraussetzung für die Konstruktion einer Antike als legitimierende Referenz für gelehrte Praktiken. Den Geltungsansprüchen wird medial, mündlich, im Druck und performativ sowie nicht zuletzt durch soziale Elemente Gewicht verliehen: Die Teilnahme sozial herausgehobener Personen an den humanistischen Convivien bietet hierfür in der ständischen Gesellschaft eine sichere Gewähr. Um dieser Praktik kulturelle und soziale Geltung zu verschaffen, wird in einer allelopoietischen Wendung sowohl das Bild der antiken Athener Akademie als auch das 87 Auf diese Dopplung macht besonders aufmerksam: MÉCHOULAN, 2010, hier insbes. S. 38-41.

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Verständnis von Freundschaft retroprojektiv verändert, um es der ständischen Gesellschaft und der gelehrten Kultur der Frühen Neuzeit anzupassen, wodurch sich diese wiederum verändern. Im umfassenden Transformationsprozess der Gelehrtenkultur erhalten auch die Gattungen als kulturelle Objekte mit genuinen Reizen mediale Bedeutung, die auf die Transformationen wirken und sich selber auch retrospektiv verändern – beispielhaft war hier die Disputation genannt.88 Die allelopoietische Wendung der Transformationstheorie ernst zu nehmen bedeutet: Erst in der Wahrnehmung entsteht die ansonsten unwiderruflich untergegangene Zeit – die jede Zeit für sich neu wieder erschaffen muss. Pointiert ließe sich sagen: Die Antike gibt es in toto immer wieder, in der Zeit der Antike jedoch hat es sie nicht gegeben. In ihrer Gegenwart hat es Rom gegeben, den politischen Betrieb, die Literaten und ihre Werke in Aufführungen und in schriftlichen Zeugnissen usw. Erst in der nachträglichen Konstruktion entsteht eine Antike. Jeder Stein ist da, jeder Buchstabe, jedes Werk. Aber das Werk ist kein Werk, solange es nicht betrachtet und damit interpretiert, also verstanden wird: ob richtig oder nicht, entscheidet sich für den jeweiligen Augenblick. Die Typologie als Arbeitsinstrument lenkt den Blick auf die Mehrdeutigkeit eines jeglichen Transformationsprozesses, der zugleich verschiedenen Typen zugeordnet werden kann, je nach Perspektive des analysierenden Wissenschaftlers, dessen eigene Rolle in dem fortlaufenden Transformationsprozess auf solche Art markiert wird. Unter den Transformationstypen lohnt ein besonderer Blick auf die fundamentale Rolle von Negation und Ignoranz, die zugleich in der etablierten kulturgeschichtlichen Forschung häufig unterbewertet bleibt. 89 Ihre Funktion scheint es vornehmlich zu sein, neue kulturelle Elemente zu legitimieren. Werden solche Elemente eingeführt, deren ,Neuartigkeit durch eine negative Referenz beglaubigt wird, lässt sich die kulturelle Akzeptanz und der Wert ihrer Innovation in Geltungsauseinandersetzungen leichter beurteilen. Die Markierung von Untergängen und Brüchen, von Neuanfängen durch die Akteure in Transformationsprozessen, ermöglicht es, Epochen zu erzählen und zu definieren: Vergangenheit wird als abgeschlossene Einheit identifizier88 Auch Florilegien sind z. B. eine durchaus etablierte mittelalterliche Gattung, die humanistisch neuerlich erfunden werden, mit anderen Autoren, anderen Fachgebieten bzw. einem Neuzuschneiden der Fachgebiete. 89 Vgl. aber BARNER, 1987.

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bar, als eine verfügbare kulturelle Bezugsgröße. Transformationen können umgekehrt auch als Adhäsionsprozesse fungieren, wenn sie die Vorstellung einer kontinuierlichen und gemeinsamen kulturellen (oder politischen) Epoche befördern. Ein transformationstheoretisch geschulter Blick auf kulturellen Wandel ermöglicht des Weiteren Aussagen über die kulturelle Konstitution einer Epoche: Transformationen umfassen sowohl positive als auch negative und ignorierende Referenzen. Es scheint nicht möglich zu sein, kulturell zu agieren, ohne kulturelle Referenzen zu transformieren. Auch hat es in unterschiedlichen Epochen vermutlich vorherrschende Transformationstypen gegeben. Aus den Modi und Typen bzw. der Intensität der gewählten Referenzen und ihrer historischen Dimension lassen sich Aussagen über die Konstitution einer Gesellschaft gewinnen: Wenn sich eine Gesellschaft in intensiven und extensiven Beziehungen zu zeitlich vorgängigen (nicht jedoch notwendig abgeschlossenen) Kulturen verhält und definiert, eine Kultur also diachron orientiert ist, erhält sie ein anderes, vielleicht auch tiefenschärferes Relief als eine vornehmlich synchron orientierte Gesellschaft, die das Verhältnis zu zeitlich früheren Gesellschaften vornehmlich ignorierend definiert. In diesem letzteren Fall können Transformationsketten abgeschnitten und historische Differenzen eingeebnet werden. Im Extremfall werden die Faktizität von Vergangenheiten und die Fiktionalität von Repräsentationen tendenziell ununterscheidbar, wie es in sog. historischen Themenparks ebenso sichtbar wird wie in der Aussage einer heutigen Schülerin: „Je ne crois pas au Moyen âge“.90

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Historismus in der Literatur des 19. und des 21. Jahrhunderts Verw andlungsformen abstrakter Teleologie in konkreten Sinn im historischen Erzählen ANDREA JÄGER Den wissenschaftlichen Historismus seit Leopold von Ranke und den ästhetischen Historismus des klassischen historischen Romans seit Walter Scott, der bis heute etwa im Wenderoman von Uwe Tellkamp seine Fortsetzung findet, scheint eher ein Verwandtschafts- als ein Transformationsverhältnis zu verbinden. Etablierte sich der historische Roman gerade dadurch als Gattung, dass er an der Geschichtswissenschaft und ihrem Wahrheitskriterium Maß nehmend Ebenbürtigkeit reklamierte, relativiert die postmoderne Historiografieforschung umgekehrt den Gültigkeitsanspruch der wissenschaftlich ermittelten Sinnhaftigkeit der Geschichte als Produkt narrativer Verfahren ihrer Darstellung. Die Transformation der Geschichtswissenschaft in den historischen Roman, so die These dieses Aufsatzes, betrifft weniger die Erzählverfahren als vielmehr die Sinndeutung: Die abstrakten Sinnzusammenhänge, die die Wissenschaft konstruiert, übersetzt der Roman zurück in konkreten Sinn, der der Geschichte die Aura von Subjektgemäßheit und Zustimmungswürdigkeit verleiht.

In den historischen Disziplinen steht der Historismus nicht nur für den Beginn der modernen Geschichtswissenschaft, mit ihm sind wesentliche Merkmale des historischen Denkens fixiert: Der Historismus verlangt als Verfahren der Geschichtsanalyse das kritische Quellenstudium, er beharrt auf wissenschaftlicher

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Distanz gegenüber seinem Gegenstand und er steht für die Gewissheit, dass bei Anwendung dieser Verfahren sich die Geschichte in ihrem Sinn erschließt.1 Zur gleichen Zeit wie die moderne Geschichtswissenschaft und der Historismus entsteht auf dem Gebiet der Literatur eine neue Romanform, die wir auch heute noch als den Anfang des modernen historischen Romans verstehen und als dessen Prototyp bis heute Walter Scotts Waverley (1814) gilt. Aus der Sicht der damaligen Literaturkritik zeichnete sich dieser neue Romantypus durch die Überwindung der Charakteristika vorheriger Geschichtsromane aus, wie etwa bei Wolfgang Menzel zu lesen ist: Zwar gab es schon vor ihm [Walter Scott] genug historische Romane, aber ihre Tendenz war doch eine andere. Das Geschichtliche war nur Vehikel für gewisse philosophische und moralische Ideen. Man bediente sich der Geschichte, um ideale Charaktere daraus hervorzuheben, oder hineinzutragen, und um sie gleich der Natur zum bloßen Hintergrunde für einzelne Helden- und Familiengruppen zu machen. Die Romantik nahm ein historisches Gewand an, aber das hatte man noch nicht begriffen, daß die Geschichte selbst eingeborne Romantik sey. Man hatte geschichtliche Romane, wie man bürgerliche, ländliche und Familienromane hatte, aber man besaß keine romantische Geschichte. Der Held des Romans war eine historische Person, und hätte eben so gut nur eine gedichtete seyn dürfen, weil es nur darauf ankam, in ihm ein Ideal aufzustellen. Wunderbare Begebenheiten aus der wirklichen Welt wurden geschildert, aber auch nur, weil sich eine Lehre daraus ziehen ließ.2

Ob diese Behauptung stimmt, ob es überhaupt so etwas wie einen nichtinstrumentellen Bezug auf die Geschichte im Medium der Literatur gibt, ist an dieser Stelle erst einmal nicht von Belang, ebenso wenig die Frage, was eigentlich so schlimm daran sein soll, in der Literatur die Geschichte als Kostüm zu gebrauchen. Interessant an Menzels Lob ist der Maßstab, den er für dieses ins Feld führt: Er misst den Roman an der Geschichte, genauer an der durch Quellen belegten Geschichtsschreibung. An früheren literarischen Bearbeitungen missfällt Menzel dementsprechend die Abweichung und der freie Umgang mit der Geschichte, die er offenbar nicht nur für ein historisches, sondern auch für ein ästhetisches Manko hält. Für die zentrale Frage nach Art und Weise der 1 2

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Eine ausführliche Darstellung zur Entwicklung des ästhetischen Historismus findet sich in: JÄGER, 1998. MENZEL, 1828, S. 167f.

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Geschichtstransformation kann man Menzels Äußerung eine Auffassung entnehmen, die bis heute zwar nicht unwidersprochen, aber bedeutend geblieben ist: Seit Bestehen des historischen Romans gibt es eine Diskussion über sein Verhältnis zur Geschichte und Geschichtswissenschaft, die davon lebt – und dafür ist Menzel ein erstes Beispiel –, die Differenz von fiktionaler Literatur und Historiografie aufzulösen. Wer nach der Transformation von Geschichte in Literatur fragt, unterstellt die Existenz einer selbstständigen Ausgangsform, einer selbstständigen Endform und dazwischen einen Prozess der Umwandlung, der zu einer wesentlichen Veränderung führt. Aber gerade die Wesentlichkeit der Veränderung von Geschichte, genauer von Geschichtsschreibung hin zum historischen Roman wurde von Beginn an zumindest bezweifelt, wenn nicht gar vehement bestritten. Vorgebracht wurde der Anspruch auf ein Verwandtschaftsverhältnis von Geschichte und Roman und somit der Zweifel an einem Vorgang der substantiellen Umwandlung anfangs vor allem vonseiten der Schriftsteller. So unterschiedliche Autoren wie Wilhelm Hauff, der 1826 mit Lichtenstein einen ersten deutschsprachigen Roman im Scottschen Muster vorgelegt hat, Joseph Victor von Scheffel mit seinem Roman Ekkehard (1855), Hermann Kurz mit dem Sonnenwirt (1855), Adalbert Stifter mit seinem Witiko (1867) oder spätere Verfasser der sog. Professorenromane wie der Ägyptologe Georg Ebers3 – sie alle beharren mit ihren historischen Romanen darauf, dass die literarische Darbietung des historischen Materials der wissenschaftlichen Geschichtsschreibung zumindest ebenbürtig sei, wenn nicht gar besser geeignet, die Vergangenheit zu verlebendigen. Man kann in ihren Romanen nachweisen, wie sie nicht nur in den Vorworten, sondern auch im Erzählverlauf Strategien anwenden, die Fiktionalität des Romans zu dementieren. 4 Schützenhilfe für diese Argumentation erhalten sie (ironischerweise) vonseiten der Geschichtsphilosophie. So bestimmt etwa Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik das Verhältnis von historischem Roman und Geschichtsschreibung wie folgt: In der Geschichtsschreibung lag das Prosaische vornehmlich darin, daß, wenn auch ihr Gehalt innerlich substantiell und von gediegener Wirksamkeit sein konnte, die wirkliche Gestalt desselben dennoch vielfach von relativen Umständen begleitet, von Zufälligkeiten umhäuft und durch Willkürlichkeiten ver3 4

Der Rechtswissenschaftler und Historiker Felix Dahn hat sich hingegen von diesem Konzept immer abgegrenzt. Siehe ausführlich zu diesem Dementi JÄGER, 2011.

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Andrea Jäger unreinigt erscheinen mußte, ohne daß der Geschichtsschreiber das Recht hatte, diese der unmittelbaren Wirklichkeit schlechthin zugehörige Form der Realität zu verwandeln. […] Das Geschäft dieser Umwandlung nun ist ein Hauptberuf der Dichtkunst, wenn sie ihrem Stoffe nach den Boden der Geschichtsschreibung betritt. Sie hat in diesem Falle den innersten Kern und Sinn einer Begebenheit, Handlung, eines nationalen Charakters, einer hervorragenden historischen Individualität herauszufinden, die umherspielenden Zufälligkeiten aber und gleichgültigen Beiwerke des Geschehens, die nur relativen Umstände und Charakterzüge abzustreifen und dafür solche an die Stelle zu setzen, durch welche die innere Substanz der Sache klar herausscheinen kann, so daß dieselbe in dieser umgewandelten Außengestalt so sehr ihr gemäßes Dasein findet, daß sich nun erst das an und für sich Vernünftige in seiner ihm an und für sich entsprechenden Wirklichkeit entwickelt und offenbar macht.5

Für Hegel betrifft der Transformationsprozess von Geschichte zum Geschichtsroman lediglich etwas Äußerliches, die Form, während der Kern, die Substanz der Geschichte – ihre Vernünftigkeit – unberührt bleibt. Worin er diese Substanz sah, dazu später. Zunächst einmal muss man festhalten, dass ebenso oft und nicht minder vehement, wie die Verwandtschaft von Roman und Geschichte behauptet, diese auch bestritten wurde. Unzählige Interventionen verwerfen den historischen Roman als Gattung insgesamt, weil er weder Fisch noch Fleisch, genauer ein unseliges ‚Zwittergeschöpf‘ sei.6 In der Negativform ist das Argument aber dem vorigen ähnlich, denn die Kritik lebt selbst von der Behauptung der Identität von Roman und Geschichtsschreibung, insofern der Roman, wenn er sich auf die reale Geschichte einlässt, den Boden der Literatur verlasse. Dieser Vorwurf, der bis weit ins 20. Jahrhundert reicht, veranlasste seinerzeit Hans Vilmar Geppert in seinem einschlägigen Buch über den „anderen“ historischen Roman zu einer Ehrenrettung des Genres. Er sortierte die historischen Romane in ästhetisch minderwertige und eben „andere“ entlang der Frage, inwiefern diese selbst den „Hiatus von Fiktion und Historie“7 bewusst halten, inwiefern sie also Abstand von den Maximen des Historismus nehmen. Die Verteidigung geht mit der Unterstreichung der Selbststän5 6

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HEGEL, 1973b [1835-1838], S. 266f. Der Schriftsteller Carl Nicolai fasst in seinem Versuch einer Theorie des Romans von 1819 polemisch zusammen: „Der Zweck des Romans ist Unterhaltung; der Zweck der Historie ist Wahrheit. Der historische Roman, als Aftergattung, hat also eigentlich weder Vater noch Mutter.“ NICOLAI, 1819, S. 161. GEPPERT, 1976, S. 34.

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digkeit des historischen Romans gegenüber der Geschichte einher, der von dieser eher kluftartig unterschieden, als mit ihr transformatorisch verknüpft sei. In der aktuellen Diskussion über das historische Erzählen und das Verhältnis von Historie und Fiktion dominiert aber noch eine andere Auflösung, die wieder stärker die Identität von beiden in den Vordergrund stellt. Nun wird freilich nicht mehr die Faktizität des Romans, sondern die Fiktionalität der Geschichtsschreibung thematisiert. Allgemein bekannt sind die schon im 19. Jahrhundert einsetzenden und mit Nietzsche polemisch vorgebrachten Einwände gegen den Objektivitätsanspruch historischer Quellenforschung und historischer Darstellung. 8 Dass Geschichtsschreibung selbst die Geschichte konstituiert, die sie beschreibt, ist inzwischen eine weit verbreitete Erkenntnis, oder schwächer: eine Auffassung, die ja bekanntlich nicht einmal neu ist, sondern nur ältere Einwände neu systematisiert, wie sie etwa schon Voltaire vorbrachte, als er die Geschichte höhnisch als die Lüge, auf die man sich geeinigt habe, bezeichnet hatte. Die Geschichtswissenschaft hat sich seit Max Webers Relativierung der historischen Erkenntnis einiges an ‚Dekonstruktion‘ gefallen lassen müssen.9 Für unseren Zusammenhang sind die Arbeiten des Gießener Anglisten Ansgar Nünning einschlägig, der in seinem zweibändigen Werk Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion (1995) eine Gattungsbestimmung des historischen Romans unternimmt, und zwar ausgehend von den Positionen des New Historicism, denen zufolge, so laut Nünning die „weithin akzeptierte Einsicht“, der „Diskurs des Historikers nicht vergangenes Geschehen objektiv abbildet, sondern […] auch die Geschichtsschreibung narrative Konstrukte erzeugt.“10 Folglich sei man sich darin einig, dass auch „Literatur nicht eine vorgegebene außersprachliche Wirklichkeit nachahmt 8

„Und sollte nicht selbst bei der höchsten Ausdeutung des Wortes Objectivität eine Illusion mit unterlaufen? Man versteht dann mit diesem Worte einen Zustand im Historiker, in dem er ein Ereigniss in allen seinen Motiven und Folgen so rein anschaut, dass es auf sein Subject gar keine Wirkung thut: man meint jenes ästhetische Phänomen, jenes Losgebundensein vom persönlichen Interesse, mit dem der Maler in einer stürmischen Landschaft, unter Blitz und Donner, oder auf bewegter See sein inneres Bild schaut und dabei seine Person vergisst. Man verlangt also auch vom Historiker die künstlerische Beschaulichkeit und das völlige Versunkensein/in die Dinge: ein Aberglaube jedoch ist es, dass das Bild, welches die Dinge in einem solchermaassen gestimmten Menschen zeigen, das empirische Wesen der Dinge wiedergebe. Oder sollten sich in jenen Momenten die Dinge gleichsam durch ihre eigene Thätigkeit auf einem reinen Passivum abzeichnen, abkonterfeien, abphotographiren?“ NIETZSCHE, 1922 [1874], S. 277f. 9 Zum Verhältnis von Max Weber zur Geschichtswissenschaft siehe: KOCKA, 1986. 10 NÜNNING, 1995, S. 52.

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oder vergegenwärtigt, wie es mimetische Vorstellungen von Repräsentation suggerieren, sondern etwas Neues erzeugt.“11 Mit seinem Buch, das er provozierend Wissenschaft aus Kunst (1996) nannte, knüpfte der Germanist Daniel Fulda an die Arbeiten von Hayden White an und arbeitete sie zu einer systematischen Entstehungsgeschichte der modernen Historiografie aus. Hayden White hatte in seiner bahnbrechenden Schrift Metahistory (1973, dt. 1991) nicht nur den Objektivitäts- und Authentizitätsanspruch der wissenschaftlich erzählten Geschichte bezweifelt, er hatte an der Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts dargelegt, inwiefern die Entscheidung für ein bestimmtes narratives Verfahren, genauer für einen Tropus den gesamten Sinncharakter des Werks präformiert. Der historische Sinn ist in der Lesart von White nicht Resultat der Analyse des historischen Materials, sondern unwillkürliche Folge des Erzählverfahrens. Dieser kurze Streifzug durch neuere Untersuchungsansätze soll vor Augen führen, dass die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Geschichtswissenschaft und historischem Erzählen in den unterschiedlichen Varianten immer eher dazu tendiert, eine Identität zwischen ihnen zu konstatieren, die z. T. so dezidiert ausgearbeitet ist, dass gar nicht mehr ersichtlich wird, inwiefern hier noch die Voraussetzungen für Transformation(en) gegeben sein sollen. Wenn aber die Differenz nicht so ohne Weiteres in den Verfahren liegt, mit denen Geschichte erzählt und beschrieben wird, dann bleibt die Frage, ob denn tatsächlich dasselbe erzählt wird? Wenn sich im Vorgang des Erzählens Sinn konstituiert – und zwar als ein funktionelles Konstrukt –, dann besteht dieser Sinn ja nicht nur in dem Formalismus seines Zustandekommens, sondern er hat einen Inhalt, den es zu beschreiben gilt. Es scheint sogar, dass in der inhaltlichen Fassung des Sinns eine wesentliche Transformationsleistung des historischen Erzählens liegt.

Abstrakte Sinnkonstruktion des Histori smus Wie also war die Sinnkonstruktion des wissenschaftlichen Historismus inhaltlich beschaffen, auf die sich das literarische historische Erzählen des 19. Jahrhunderts bezogen hat? Der Ausgangspunkt des Historismus war eine Kritik an der Geschichtsphilosophie. Der Vorwurf lautete: Das geschichtsphilosophisch

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teleologische Denken sei bloße Spekulation. Dagegen stellte der Historismus die Vielfalt der historischen Erscheinungen und die mannigfaltigen Beziehungen und Einflüsse, die in ihnen wirken. Gegen die spekulative Teleologie wurde das Postulat errichtet, Geschichte müsse voraussetzungslos so beschrieben werden, wie sie wirklich gewesen sei (Leopold von Ranke). Das schloss freilich eine universalhistorische Perspektive nicht aus. Der supraepochale Blick auf das Ganze des Geschichtsprozesses galt auch Ranke weiterhin als eine wichtige Aufgabe für Historiker. In seinem Essay Die großen Mächte. Fragment historischer Ansichten (1833) hielt er die Absicht, die Geschichte als Einheit zu betrachten, nicht nur für ein legitimes, sondern auch für eines der höchsten Ziele der Historiografie. 12 Das Resultat einer solchen Betrachtung entspricht dem Bedürfnis, dem sie entsprang: Es zeigte sich eine Einheit, die sich hinter den Turbulenzen des Weltgeschehens verbirgt: Nicht ein solch zufälliges Durcheinanderstürmen, Übereinanderherfallen, Nacheinanderfolgen der Staaten und Völker bietet die Weltgeschichte dar, wie es beim ersten Blicke wohl aussieht. Auch ist die oft so zweifelhafte Förderung der Kultur nicht ihr einziger Inhalt. Es sind Kräfte und zwar geistige, Leben hervorbringende, schöpferische Kräfte, selber Leben, es sind moralische Energien, die wir in ihrer Entwickelung erblicken. Zu definieren, unter Abstraktionen zu bringen sind sie nicht; aber anschauen, wahrnehmen kann man sie; ein Mitgefühl ihres Daseins kann man sich erzeugen. Sie blühen auf, nehmen die Welt ein, treten heraus in dem mannigfaltigsten Ausdruck, bestreiten, beschränken, überwältigen einander; in ihrer Wechselwirkung und Aufeinanderfolge, in ihrem Leben, ihrem Vergehen oder ihrer Wiederbelebung, die dann immer größere Fülle, höhere Bedeutung, weiteren Umfang in sich schließt, liegt das Geheimnis der Weltgeschichte.13

Ranke geht davon aus, dass sich die Geschichte, der Auf- und Niedergang der Staaten und Herrschaftsformen, als eine Geschichte vereinheitlichen und sich 12 „Ohne Zweifel hat in der Historie auch die Anschauung des einzelnen Momentes in seiner Wahrheit, der besonderen Entwicklung an und für sich einen unschätzbaren Wert; das Besondere trägt ein Allgemeines in sich. Allein niemals läßt sich doch die Forderung abweisen, vom freien Standpunkte aus das Ganze zu überschauen; auch strebt jedermann auf eine oder die andere Weise dahin; aus der Mannigfaltigkeit der einzelnen Wahrnehmungen erhebt sich uns unwillkürlich eine Ansicht ihrer Einheit.“ RANKE, 1958 [1833], S. 3. 13 EBD., S. 41f.

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als Ausdruck einer geistigen Macht begreifen lässt, welche die Regie führt und die Geschichte mit Sinn erfüllt. Insoweit entspricht seine Vorstellung derjenigen der Geschichtsphilosophie, von der er sich abgrenzt. Im Gegensatz zu ihr hält er es aber für unzulässig, diesen Geist der Geschichte, ihren Sinn in begrifflichen Kategorien zu fixieren. Der im Namen wissenschaftlich kritischer Methoden gebotene Verzicht auf vorgefasste Abstraktionen, seine Forderung nach einer Betrachtungsweise, die der Lebendigkeit der historischen Phasen entspricht und gerecht wird, verpflichtet das historische Denken auf Anschauung und Mitgefühl, und zwar dafür, dass sich in den historischen Prozessen eine höhere Kraft als real wirksame manifestiert.14 Diese geistige Macht überhaupt in eine abstrahierende, begriffliche Form zu bringen, wäre ein Verstoß gegen sie. 15 Der Objektivitätsanspruch, den die historische Schule Rankes gegen die Geschichtsphilosophie geltend gemacht hat, bewirkt eine Verwissenschaftlichung der Historiografie gerade insofern, als der Sinn der Geschichte nicht mehr in konkreten Idealen von Humanität, wie etwa bei Herder, oder der bürgerlichen Gesellschaft, wie bei Kant, ausgedrückt wird, sondern inhaltlich unbestimmt bleibt. Stand die Geschichtsphilosophie der Aufklärung noch unter dem Beweiszwang, an der Geschichte mit ihrem offensichtlich negativen Verlauf zu zeigen, dass ihr eine gesetzmäßige Bewegung hin zur Realisation einer befriedeten Gesellschaft und einem friedlichen Miteinander innewohne, ein Beweis, der sie notwendig angreifbar machte, so hat sich die Historiografie Rankes von dieser Beweispflicht emanzipiert, und zwar in zweifacher Hinsicht: Der Sinn besteht überhaupt nur noch aus der abstrakten Idee des Geistes als Quelle allen Seins – an anderen Stellen setzt er sie mit Gott gleich, ohne den Inhalt christlich-religiös auszuführen –, und beweisen lässt sich diese Idee per se nicht, sondern nur anschauen. So liegt in der Ästhetisierung der Ge14 Diesen Zusammenhang haben bereits Rankes Zeitgenossen sehr deutlich erkannt. So etwa Heinrich von Sybel in seiner Gedächtnisrede zum Tod Rankes. Vgl. besonders SYBEL, 1956 [1886], S. 287 und S. 289. 15 Gegen Auffassungen, welche die historiografische Leistung Rankes aufteilen in die kritischen Methoden, die maßstabsetzend für die ganze Zunft geworden seien, und das historische Ideal, das sich überlebt habe, wendet Hayden White ein: „All dies trifft zu, aber es macht nicht hinreichend klar, in welchem Ausmaß Begriffe wie ‚Objektivität‘, ‚kritisches Studium‘, ‚Durchdringung der Details‘ sowie die Formulierung von allgemeinen Aussagen anhand der Betrachtung des ‚Ausgangsmaterials‘ bestimmte Vorstellungen von Wahrheit und Realität voraussetzen, durch die jene ‚umfassenderen Schlußfolgerungen‘ begründet werden, die Ranke aus seinem Studium des Materials abgeleitet zu haben behauptet.“ WHITE, 1994 [1973], S. 218.

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schichte als Veranschaulichung geistiger Kräfte gerade der Fortschritt der Verwissenschaftlichung und Objektivierung der Geschichtsbetrachtung.16 Diese Abstraktion vom bestimmten Sinn, der die Geschichte teleologisch determiniert, hin zu einer Vorstellung von Sinnhaftigkeit, deren geistige Qualität den universellen Ordnungsgedanken abgibt, ohne dass dieser noch in den Kategorien gesellschaftlicher oder sittlicher Ideale beschrieben wird, perfektioniert Hegel in seiner Geschichtsphilosophie. Er hält es nicht nur im Rahmen der Philosophie für bewiesen, dass die Geschichte eine Bewegung des Geistes zu sich sei – „wer die Geschichte vernünftig ansieht, den sieht sie auch vernünftig an“17 –, er führt außerdem eine radikale Trennung vom Geschichtsgesetz des Geistes und den Akteuren der Geschichte ein. Nicht sie realisieren dieses Gesetz, es setzt sich vielmehr in einer „List der Vernunft“18 hinter ihrem Rücken durch, ungeachtet, was sie sich auf die Fahnen geschrieben haben. Hegel beharrt darauf, dass der Geist, der die Geschichte regiert, nicht abhängig sei vom Geist, den die historischen Menschen aufbringen, und auch nicht in ihm aufgehe: Wohl liegen darin auch allgemeine Zwecke, ein Guteswollen, edle Vaterlandsliebe; aber diese Tugenden und dieses Allgemeine stehen in einem unbedeutenden Verhältnisse zur Welt und zu dem, was sie erschafft.19

Beruht die Wissenschaftlichkeit der Historiografie gerade darauf, dass sich die Gewissheit einer Sinnhaftigkeit der Geschichte trennt von der Beweisbarkeit einer solchen Sinnhaftigkeit, und zwar weil sie immer schon als bewiesen gilt, dann liegt genau hier der Ausgangspunkt für einen entscheidenden Unterschied zum historischen Erzählen im Roman. Die im Zeichen des Historismus entstandenen historischen Romane leisten wesentlich eine Rückübersetzung von Sinnhaftigkeit in Sinn, der in Kategorien der bürgerlichen Moral und Sittlich-

16 Insofern gilt auch für Ranke, was Hayden White allgemein über das vermeintlich gegensätzliche Verhältnis von Geschichtsphilosophie und Historiografie ausgeführt hat: „Doch im plot der Philosophie der Geschichte erweisen sich die plots der Historien, die uns von bloß regional begrenzten vergangenen Begebenheiten erzählen, als das, was sie wirklich sind: Bilder jener Autorität, die uns zur Teilnahme an einem moralischen Universum aufruft.“ WHITE, 1990 [1987], S. 34f. 17 HEGEL, 1973a [1837], S. 23. 18 EBD., S. 49. 19 EBD., S. 34.

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keit beschrieben wird, und darin liegt auch eine ihrer wesentlichen Transformationsleistungen.

Moralisierung des Sinns im historischen Erzählen Anders als die Historiografie rückt die Literatur den Gesichtspunkt der Zustimmungswürdigkeit wieder ins Zentrum, und zwar nach Maßgabe eigener Werte. Dass diese Rückübersetzung gelingt, davon ist der historische Roman des 19. Jahrhunderts überzeugt, daran schreibt er und in seinem Schreiben liefert er den Beweis für die Gültigkeit dieser Rückübersetzung, für die Transformierbarkeit der Geschichte in konkreten Sinn. Zwei Beispiele sollen kurze Hinweise darauf geben, wie dies geschieht, nämlich Hauffs Roman Lichtenstein (1826) und Die Lüge der Geschichte (1862), eine historische Erzählung von Wilhelm Heinrich Riehl. Hauffs Lichtenstein verfügt ganz klassisch für Romane des ästhetischen Historismus über einen mittleren Helden. Das ist seit Walter Scotts Roman Waverley, or, ‘tis sixty years since (1814) eine Figur, die als Augenzeuge fungiert und der es aufgrund ihrer sozialen Stellung erlaubt ist, einen internen Blick sowohl auf die Herrschaft des Landes zu werfen wie auf die von ihr Betroffenen. Dabei verfolgt die Figur selbst kein eigenes Kalkül oder ist zumindest nicht parteigebunden. In Lichtenstein besetzt diese Rolle der junge Georg von Sturmfeder, der aus einem alten und ehrbaren, aber verarmten fränkischen Adelsgeschlecht stammt. Der auktoriale Erzähler des Romans nimmt häufig seine Perspektive ein, ergreift für Sturmfeder von Beginn an Partei und erläutert dem Leser immer wieder dessen Gedanken und Einstellungen. Die Figur des mittleren Helden wurde schon oft untersucht, und zwar vor allem im Hinblick auf ihre narrativ-strategische Funktion, die sie zweifellos besitzt.20 Bei Hauff dient sie aber nicht nur dazu, die Erzählung, sondern auch die gesellschaftlichen Gegensätze zu vermitteln. Diese Figur verknüpft die Geschichte der geschichtsmächtigen Subjekte – die höheren Stände, die Fürsten, Staaten und Staatenbünde und ihre Feldherren – mit der Bevölkerung, die das Instrument dieser Herrschaften ist, und zwar so, dass die Geschichte als die gemeinsame der Herrschaften und dem von ihnen beherrschten Volk erscheint. 20 So bestimmt etwa Barbara Potthast den Scott’schen mittleren Helden als „Integrationsfigur [...], durch die das ganze Spektrum der Gesellschaft wahrnehmbar wird.“ POTTHAST, 2007, S. 61.

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Der Krieg um Württemberg – es geht immerhin um Krieg, und was dies bedeutete, war 1826 in Deutschland noch sehr präsent – erhält in der Erzählung menschlich verstehbare Gründe. Als Wirkmächte der Geschichte betätigen sich aus dieser Perspektive psychologisch-moralische Motivationen, die – weil sie allgemein menschliche sind – den Gegensatz der befehlshabenden Obrigkeit zur Bevölkerung nivellieren, sodass es sogar moralisch nachvollziehbar erscheint, wenn sich Untertanen freiwillig für sie aufopfern. Der Krieg war unvermeidlich, denn es stand nicht zu erwarten, daß man Ulerich, nachdem man so weit gegangen, friedliche Vorschläge tun werde. Hierzu kamen noch die besonderen Rücksichten, die jeden leiteten. Der Herzog von Bayern, um seiner Schwester Sabrina Genugtuung zu verschaffen, die Schar der Huttischen, um ihren Stammesvetter zu rächen, Dieterich von Spät und seine Gesellen, um ihre Schmach in Württembergs Unglück abzuwaschen, die Städte und Städtchen, um Reutlingen wieder gut bündisch zu machen, sie alle hatten ihre Banner entrollt und sich mit blutigen Gedanken und lüstern nach gewisser Beute eingestellt.21

Und auch Georg Sturmfeder bewegen vor allem Gefühle, die der Erzähler immer wieder explizit als welche einführt, die jedermann bekannt seien: Wohl schlug auch Georgs Herz höher bei dem Gedanken an seine erste Waffenprobe; aber wer je in ähnlicher Lage sich befand, wird ihn nicht tadeln, daß auch friedlichere Gedanken in seiner Seele aufzogen und ihn Kampf und Sieg vergessen ließen.22 Georg, dessen Wunsch schon lange war, dem Kriegsobersten bekannt zu werden, stand freudig auf, um dem alten Freunde zu folgen. Wir werden ihn nicht tadeln, daß sein Herz bei diesem Gange ängstlich pochte, seine Wangen sich höher färbten, seine Schritte, je näher er kam, ungewisser und zögernder wurden. Wen haben nicht in seiner Jugend, wenn er einem glänzenden, ruhmbekränzten Vorbild nahte, ähnliche Gefühle bestürmt?23

21 HAUFF, 1993 [1826], S. 21. 22 EBD., S. 25. 23 EBD., S. 33.

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Die Transformationsleistung des historischen Erzählens bezieht sich freilich nicht nur auf die Sinnstiftung für Herrschaftsverhältnisse und staatliche Gewalt, indem allgemeinmenschliche Motivationen als Triebkräfte der Geschichte inszeniert werden. Die Transformation kann auch abstrakter sein. Das wird deutlich an der Novelle Die Lüge der Geschichte. Diese Novelle hat ihren besonderen Reiz darin, dass sie etwas macht, was angeblich nur im ‚anderen‘, also im nichthistoristischen Roman zu finden ist: Sie reflektiert die Geschichtsschreibung selbst. Es geht um die Frage nach der geschichtlichen Wahrheit, genauer um Voltaires Polemik, Geschichte, das seien die Lügen, auf die man sich geeinigt habe. Riehls Geschichte ist rasch erzählt: Ein junger vornehmer Mann mit besten Karriereaussichten geht im Herbst in ein bayrisches Kloster zur ‚Meditation‘. Die Mönche sind ausgesprochen angetan von der Einheit von Anmut und Geist, die er zu verkörpern scheint: Seine einzigen Fehler aber teile er mit allen vornehmen Leuten, nämlich fortwährend zu fragen und niemals das Ende der Antwort abzuwarten; in diesem Stücke sei er ein geborener Graf. […] Wenn Kenntnisse, Forschenstrieb und schneidend scharfes Urteil den Gelehrten machen, dann gebührt dieser Titel dem Grafen. Allein er ist dazu gar so ein feiner Herr, so schön von Gesicht und Gestalt, so glänzend glatt in Form und Ton, und dies alles pflegen Professoren keineswegs zu sein. Innwendig sitzt der Gelehrte und auswendig der Kavalier.24

Nur ein als „sauertöpfisch“ apostrophierter Mönch fährt diesen Hymnen in die Parade: Nur ein einziger Freund – als sauertöpfischer Sittenprediger übel berufen – fügte zu all jenen prophezeiten Größen das zweifelnde Wort: ‚vorausgesetzt, daß sich etwas Großes denken läßt ohne sittliche Größe. Denn diese Kleinigkeit ausgenommen, besitzt der Graf allerdings zu jeglicher Größe das Zeug.‘25

Die Novelle prüft die Behauptung, dass Geist und Schönheit erst durch die entsprechende Sittlichkeit zur Größe führten, am exemplarischen Fall – und die Antworten kommen klar und unmittelbar. Die asketische Haltung des Grafen erweist sich als bloße Maske, hinter der sich ein Lebemann verbirgt, der 24 RIEHL, 1904 [1862], S. 62. 25 EBD.

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noch im Sommer in Paris „allen Sinnenreiz […] durchtrieben ausgekostet hat“, so „als wäre er selbst ein Franzose“26. Mit den Mönchen führt er zwar tiefschürfende Streitgespräche über die Wahrheit in der Geschichte. Doch vertritt er dabei grundsätzlich und mit spielerischem Unernst, als sei er ein früher Postmoderner, die Seite des Zweifels. Im wirklichen Leben hingegen spielt er mit einer schönen Sennerin, der er Versprechungen macht, die er nicht hält. Er lässt sie sitzen, sie bekommt ein Kind von ihm, wartet ihr restliches kurzes Leben auf seine Rückkehr und stirbt. Erst nach Jahrzehnten erfolgreicher Karriere besucht der Graf den Ort erneut und auch die Alpe. Er trifft dort auf eine Sennerin, die seiner früheren Geliebten wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Er erkennt seine Tochter, erkennt in ihr – buchstäblich mit Schrecken, denn er verletzt sich bei seinem Bergausflug schwer – die Wahrheit der sittlichen Ernsthaftigkeit der deutschen Berggesellschaft und diese Erkenntnis führt ihn schnurstracks zur Erleuchtung, dass die Sittlichkeit die wahre Triebkraft der Geschichte sei: Wie im Traume sprach der kranke Mann: ‚So lauteten ihre Worte vor zwanzig Jahren: Es gibt Dinge, die so wahr und so klar in unserem Herzen stehen, daß wir sie mit der Wurzel nicht herausreißen können, wenn wir auch tausendmal heute nicht wissen, was wir gestern gethan, ja die uns heute, wo sie geschehen, nicht ganz wahr und klar waren, aber in Jahr und Tag werden sie uns so wahr, daß wir vergehen möchten, so leibhaftig schrecken und quälen sie uns. Genau so lauteten ihre Worte. Ob ich dieselben gleich oft bei mir zu verdrehen gesucht, weiß ich sie doch noch Silbe für Silbe. Dem Gedächtnis wären sie entfallen, wenn sie nicht das Gewissen zu Protokoll genommen hätte. Es gibt eine thatsächliche Wahrheit, die können wir nicht verrücken, wenn uns auch jeder Tag das Alte neu erfassen, neu erzählen lehrt: das ist der sittliche Kern unseres Handelns, den das Gewissen zu Protokoll nimmt, die Thaten, welche uns vor Gott entschuldigen oder verdammen. So gibt es auch eine unvertilgbare thatsächliche Wahrheit in der Weltgeschichte. Die großen sittlichen Kämpfe der Völker leben treu im Gedächtnis der Nachkommen, wenn auch tausend Einzelzüge, die den Mitlebenden wichtig deuchten, verdunkelt, verzerrt, vergessen werden. Es gibt eine historische Wahrheit, die dem Gedächtnis nicht entfällt, weil sie das Gewissen der Nationen zu Protokoll nimmt. Wer sie leugnen will, der leugnet Gottes Walten; denn unser Herrgott läßt uns viel lügen, im Großen

26 EBD., S. 63.

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Andrea Jäger und Kleinen, aber wie und wohin Er die Herzen der Menschen und der Völker lenkt, das läßt er sich nicht hinweglügen.‘27

In solchem Geschichtskitsch, der Implantation von bürgerlicher Moral in die Geschichte als deren Bewegungsgesetze, äußert sich ein wesentliches Moment der Transformationsleistung des historischen Erzählens im 19. Jahrhundert.

Fiktionalisierung des Sinns im modernen Geschichtsverständnis Die Modernisierung des historischen Romans, die im letzten Drittel des Jahrhunderts einsetzte, äußerte sich häufig wie etwa im Odfeld (1888) von Wilhelm Raabe als Zweifel in den Objektivitätsanspruch des Historismus, führte damit aber zugleich einen umfassenderen Angriff auf den bürgerlich-moralischen Sinn, den das historische Erzählen im Geiste des Historismus der Geschichte eingeschrieben hatte. Prägend für die Sinnkritik waren Gedanken, wie sie Nietzsche in seiner frühen Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) gegen die Konstruktion von Sinnhaftigkeit in der Geschichte formuliert hatte. Nietzsche kritisierte die Geschichtsphilosophen und Historiker, insofern sie dem empirischen Verlauf der Geschichte eine höhere Notwendigkeit zusprachen, wodurch die Geschichte selbst als eine moralische und richtende Instanz und damit das jeweils historisch Gegebene als gerechtfertigt erschiene. An dieser Weise, Wirklichkeit und Moralität in eins zu setzen, entdeckte Nietzsche nicht nur die Heuchelei, die in der Pose des neutralen Beobachters liegt. Polemisch wandte er sich auch gegen die mit der Geschichte untermauerte und im Bismarck-Deutschland zur schlagkräftigen politischen Ideologie gewordene moralische Macht des Faktischen. Hegel, den er als einen der wichtigsten geistigen Urheber dieser Apologie der Wirklichkeit ansah, habe: […] in die von ihm durchsäuerten Generationen jene Bewunderung vor der ‚Macht der Geschichte‘ gepflanzt, die praktisch alle Augenblicke in nackte Bewunderung des Erfolges umschlägt und zum Götzendienste des Thatsächlichen führt: für welchen Dienst man sich jetzt die sehr mythologische und ausserdem 27 EBD., S. 87f.

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Historismus in der Literatur des 19. und des 21. Jahrhunderts recht gut deutsche Wendung ‚den Thatsachen Rechnung tagen‘ allgemein eingeübt hat. Wer aber erst gelernt hat, vor der ‚Macht der Geschichte‘ den Rücken zu krümmen und den Kopf zu beugen, der nickt zuletzt chinesenhaftmechanisch sein ‚Ja‘ zu jeder Macht, sei dies nun eine Regierung oder eine öffentliche Meinung oder eine Zahlen-Majorität, und bewegt seine Glieder genau in dem Takte, in dem irgendeine ‚Macht‘ am Faden zieht. Enthält jeder Erfolg in sich eine vernünftige Nothwendigkeit, ist jedes Ereigniss der Sieg des Logischen oder der ‚Idee‘ – dann nur hurtig nieder auf die Kniee und nun die ganze Stufenleiter der ‚Erfolge‘ abgekniet! Was, es gäbe keine herrschenden Mythologien mehr? Was, die Religionen wären im Aussterben? Seht euch nur die Religion der historischen Macht an, gebt Acht auf die Priester der IdeenMythologie und ihre zerschundenen Kniee!28

In Hegels Geschichtsphilosophie erkannte Nietzsche ein theoretisches System, das auf nichts anderes als die ideell überhöhte Unterwerfung unter die jeweils erfolgreichen Mächte hinausläuft.29 Diese Kritik setzte das historische Erzählen vor allem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts fort und zwar in seiner Kritik der tradierten Sinndeutung. Ob man an Döblins Die drei Sprünge des Wang-Lun (1915), an die historischen Romane von Feuchtwanger, an den Henri Quatre (1935) von Heinrich Mann oder auch an Brechts Romanfragment Die Geschäfte des Herrn Julius Caesar (geschrieben 1938/39) denkt, sie alle thematisieren weniger die Quellenskepsis, sie zeigen vielmehr eine Geschichte, die – fasst man es plakativ zusammen – Anlass ihrer Gesellschaftskritik ist und nicht einfach Berufungsinstanz für die prinzipielle Zustimmungswürdigkeit des sog. Laufs der Zeit.

Narrati ve Sinnaufladung der Geschicht e nach der Wende 1989 Der kritische Vorbehalt gegen eine die Gegenwart rechtfertigende Sinngebung blieb zumindest in der Bundesrepublik bis Anfang der 1980er Jahre maßgeblich für das historische Erzählen. In den achtziger Jahren allerdings mehrten sich die Stimmen, die nach einer Rückkehr zum sinnstiftenden Geschichtsden28 NIETZSCHE, 1922 [1874], S. 298f. 29 Zu Nietzsches Kritik an Hegel siehe auch: DELEUZE, 1985, S. 170-176.

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ken riefen, gegen alle Tendenzen der Postmoderne. Diese Stimmen kamen nicht nur von Historikern und Politikern – in Erinnerung sind die einschlägigen Debatten und Gesten, mit denen klargestellt werden sollte, dass man allmählich doch den Nationalsozialismus und die Thematisierung der deutschen Schuld hinter sich lassen könne. Auch die germanistische Literaturwissenschaft hat sich an dieser Debatte beteiligt wie etwa Fritz Martini in seinem Aufsatz Über die gegenwärtigen Schwierigkeiten des historischen Erzählens (1984). Er beklagte darin, dass es in Deutschland keine historischen Romane mehr gebe, insofern jene Romane, die sich mit Geschichte befassen, diese immer nur als schreckliche darstellen. Er forderte die Historiker nachgerade dazu auf, sich erneut der Idee der Sinnhaftigkeit von Geschichte zu widmen, damit die Literatur endlich wieder Vorlagen für historische Romane alten Musters erhalte.30 Weniger die Historiker freilich haben diese Vorlagen geschaffen, als vielmehr die Geschichte selbst mit dem unwiderruflichen Niedergang der sozialistischen Staaten und dem Anschluss der DDR an die Bundesrepublik. Damit war die Nachkriegszeit zu Ende. Schon der Ruf nach dem Wenderoman, der ab Mitte der 1990er Jahre immer lauter wurde, war unmissverständlich ein Ruf nach literarischer Würdigung dieses historischen Erfolgs des kapitalistischen Systems und der bürgerlichen Gesellschaft über den ,historischen Großversuch‘ des Realen Sozialismus. Knapp zwanzig Jahre nach dem Systemumbruch lag er dann vor, der große Roman über den Untergang der DDR, schwerdekoriert mit dem Nationalpreis: Uwe Tellkamps Der Turm (2008). In diesem Werk wird nicht nur der Objektivitätsanspruch, das Erzählen, „wie es wirklich geschehen sei“, sondern auch das teleologische Prinzip des ästhetischen Historismus wiederbelebt, demzufolge in der Geschichte ein objektiver zustimmungsfähiger Sinn walte, der sich mit determinierender Kraft im historischen Prozess Geltung verschaffe. Tellkamp aktualisiert diese Geschichtslesart, indem er die geschichtsphilosophischen Universalien Vernunft, Geist und Fortschritt reaktiviert und ihnen Anschauung verleiht. Im Folgenden geht es weniger um den Nachweis, dass Tellkamp teleologisch verfährt, denn das ist nicht schwierig zu erkennen: Der Turm will nicht nur eine Geschichte aus dem Dresden der 1980er Jahre erzählen, vielmehr soll sich hier zeigen, was die gesamte 40jährige Geschichte der DDR bestimmt: Dem Realen Sozialismus ist die (selbst in den 1980er Jahren wohl kaum absehbare) historische Niederlage als sein unausweichliches Gesetz eingeschrie30 MARTINI, 1984, S. 216f.

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ben. Diese Teleologie ist offensichtlich und bedarf keines Nachweises. Interessant ist aber, wie Tellkamp diese nachträgliche Sinnaufladung der Geschichte ästhetisch plausibilisiert und welchen Sinn er dem Untergang gibt. Dabei gilt es zu bedenken, dass es sich beim Turm und seinen Geschichten um narrative Konstruktionen handelt und nicht einfach um Abbildungen des empirischen Geschehens. Das wird häufig von jenen übersehen, die dem Buch politisch beipflichten, aber auch von den zahlreichen Kritikern, die dem Buch seine vielen historischen ‚Fehler‘ ankreiden.31 Der Turm verfügt ganz klassisch über einen mittleren Helden: den Lektor Meno Rohde. Die narrative Funktion dieser und einer weiteren Figur besteht darin, die Darstellung des Erzählers durchgängig zu beglaubigen. Seine Glaubwürdigkeit ist durch drei Momente verbürgt: Er ist Augenzeuge, er verschriftlicht das Erlebte in seinem Tagebuch (im Roman ein Ort unverstellter, weil absolut unkontrollierter Reflektion), und außerdem hinterfragt er die Wahrnehmungsform des Beobachtens. Den Gedanken, dass der Geschichte eine gerechte Tendenz innewohne, führt der Roman bereits am Anfang ein. Er beginnt mit einem Tagebucheintrag von Meno. Dieser Eintrag entwirft ein großes allegorisches Bild eines absoluten Stillstandes, womit die Vorstellung verbildlicht ist, die DDR sei ein gigantischer Verstoß gegen das gültige und von ihr in der Propaganda selbst geteilte Geschichtsgesetz des Fortschritts gewesen. Die Stillstandsmetapher 32 bringt einen Grund für das Scheitern des Systems ins Spiel, der sich aus einem Vergleich mit dem leeren, weil universellen Fortschrittsgedanken speist und der als ein historisches Sollen erscheint, von dem ein Staat nur um den Preis des eigenen Untergangs abweichen könne. Die Stillstandsmetapher ist also alles andere als eine Tatsachenbeschreibung; sie beinhaltet vielmehr eine Diagnose, die sich nicht aus der Betrachtung der Symptome, 33 sondern aus dem von 31 In Rezensionen und im Internet finden sich eine Fülle von Hinweisen auf die Dresdner Örtlichkeiten des Romans wie auch der stete Hinweis auf die Realitätstreue des Werks. Erst diese Rezeption rundet das Bild über den Roman ab, er sei eine wahre Geschichtsdarstellung. 32 Ausführlicher ist die Stillstandsmetapher erläutert in: JÄGER, 2013. 33 Die Reihenfolge des Gedankens ist insofern wichtig, weil die Vorstellung, die 1980er Jahre der DDR seien eine Periode des Stillstandes gewesen, bekanntlich eine eingängige Formel, aber tatsächlich nichts anderes als eine sehr oberflächliche Ausdrucksweise dafür ist, dass sich die Lebensverhältnisse der Bevölkerung zunehmend verschlechtert haben. Die Übersetzung dieser Verschlechterung in die „Erfahrung“ des Stillstands beruhte noch auf der Hoffnung, dass mit der Benennung der materiellen Misere der Menschen in der DDR zugleich auch ein Mangel

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vornherein anvisierten und unterstellten Grund ableitet, nämlich die DDR als Verstoß gegen ein Geschichtsgesetz namens Fortschritt aufzufassen. Wie manifestiert sich dieses Geschichtsgesetz an der Oberfläche der erzählten Geschichte? Eine Variante dieser Manifestation besteht darin, dass der Roman beinahe durchgängig ein triviales Figurenmuster bedient, das die Figuren in positive und negative Charaktere scheidet. Positiv sind fast alle Figuren des Turms gezeichnet, und zwar dadurch, dass sie eine Individualität haben,34 d. h. sie beziehen ihre sie kennzeichnenden Eigenschaften und Eigenarten nicht aus den sozialen Rollen, die sie ausüben, sondern sie bilden eine quasinatürliche individuelle Besonderheit aus, die sich – zur Verdeutlichung ihrer wesenhaften Fremdheit gegenüber dem Sozialismus – in ihren Bestimmungsmomenten an kulturelle Traditionen des Bürgertums aus der Zeit vor dem Faschismus anlehnt. Die Figuren sind sozialisiert jenseits der Gesellschaft, in der sie leben. Spiegelbildlich konstruiert der Roman die Figuren, die den Machtapparat verkörpern oder sich der Ideologie des Apparats verschrieben haben. Diese erscheinen durchweg als nicht individuell und nicht authentisch. Sie sind Charaktermasken entweder ihrer politischen Mission, falsch und aufdringlich, oder ihrer elitären Eitelkeit, in der sich ihre Nähe zur Macht manifestiert. Die Leistung dieses Positiv/Negativ-Musters der Figurenschilderung liegt nicht nur in der moralischen Delegitimation des Sozialismus. Es ist mehr gesagt: Der Sozialismus vergeht sich an einer quasinatürlichen Humanität und moralischen Wesenheit, die er zugleich gar nicht außer Kraft setzen kann. Dieses Wesen behauptet sich als die wahre authentische Existenz der Figuren. Damit bestätigt sich das Telos auch hier ex negativo als Verstoß gegen ein natürliches Prinzip, ein Verstoß, der letzten Endes nur erfolglos sein kann, insofern er die meisten Leute nicht erreicht. Ähnlich wie mit den Personen geht es mit den Dingen. Auch hier gibt es alte Gegenstände wie die Zehnminutenuhr, die unverändert die politischen Zeiten überdauern. Andererseits sind die Dinge empfindlicher als die Menschen, sie verfallen, verschimmeln, verrotten. Daneben gibt es Gegenstände, die Produkte der DDR-Wirtschaft sind. Diese sind von Haus aus fehlkonstruiert: Ob in der Umsetzung der Staatsräson des Realen Sozialismus benannt sei, an dessen Kurierung das System selbst noch ein Interesse hätte haben müssen. 34 Die positive Bewertung der Figuren ergibt sich nicht daraus, dass der Roman alle Handlungen des Einzelnen gutheißen würde. Ihr liegt ein prinzipiellerer Maßstab zugrunde. Die Figuren werden unterschieden an der Frage, ob sie eine authentische Individualität haben oder nicht.

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Wäscheschleuder oder Dampfabzug – sie funktionieren nicht richtig. Wo immer sich die DDR des materiellen Lebens bemächtigt, versagen die Dinge ihren Dienst. Dabei geht es prinzipiell um mehr als das bloße Nichtfunktionieren von Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs, denn die Dinge, mit denen sich die Türmer umgeben, haben für sie immer eine höhere Bedeutung, wie etwa das Werkzeug für Richard, das ihm gleich viel bedeutet wie Meno ein Eichendorff-Gedicht. Analog zum Verhältnis der sozialistischen Gesellschaft zur authentischen Individualität der Turmbewohner erscheinen der materielle Verfall der Dinge und die Produktion von Mangelware somit als unmittelbarer Angriff auf diese Wesenheit, diese Sinnaufladung der Dinge. Das Resultat eines solchen Verstoßes ist die Allgemeinheit und Allgegenwärtigkeit der Zerstörung: Das System untergräbt seine eigenen Fundamente. Die Darstellung der Mängel hat aber noch eine weitere Funktion. In ihrer massiven Häufung in jedem Lebensbereich – eine Häufung, die zum narrativen Selbstzweck gerät – wird eine Erklärung für sie nahegelegt, die jede Frage nach einem Grund für das Phänomen überflüssig macht: Mangelhaftigkeit erscheint als ein regelrechter Selbstzweck des Systems. Die Erklärung des einzelnen Mangels erübrigt sich im Verweis auf den Mangel daneben. Ein prinzipiell widersinniger Zweck regiert das materielle Leben. Den Widersinn, der im selbstzweckhaften Angriff auf jegliche menschliche Wesenhaftigkeit besteht, überführt der Roman zunehmend in das Bild von Krankheit. Die Figuren erkranken und dies ist nur ein Symptom für eine Krankheit, an der das Land leidet: „Land in seltsamer Krankheit, Jugend war alt, Jugend wollte nicht erwachsen werden, Bürger lebten in Nischen, zogen sich im Staatskörper zurück, der, regiert von Greisen, in todesnahem Schlaf lag.“35 Und dann beginnen die Menschen, sich des Sozialismus, der Krankheit, zu entledigen. Dabei werden sie wie von einer höheren Macht ergriffen: [...] die Menschenströme schienen behutsamsten Witterungsänderungen zu folgen, möglicherweise nur einem im Halbton weitergetragenen Gerücht, einem korrigierten Magnetismus (Stoßen, Hoffen), und dabei ziellos zu sein, aufgescheuchte Bienen, denen man ihren Bau genommen hat. Geschrei und Stöhnen, Rufe über die dunklen Straßen, Glasklirren [...]36

35 TELLKAMP, 2008, S. 890. 36 EBD., S. 894.

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Wie das Telos des philosophischen Historismus nimmt sich das Tellkampsche Telos die Menschen zu Hilfe, um sich durchzusetzen. Sie sind nicht Subjekt der Geschichte, sondern Instrument eines höheren Geschichtsgesetzes. So passt es auch, dass sich der Roman relativ belustigt zeigt über die revolutionären Akte der Bevölkerung. Die Opposition verstrickt sich in recht absurde, der revolutionären Situation unangemessene Debatten 37 und verliert sich darin, von „irgendwelchen Gesellschaftsmodellen mit Emphase zu schwadronieren“.38 Die Revolution selbst vollzieht sich dann als eine Art dionysischer Eruption, die rauschhafte Entäußerung einer Urkraft der Masse Mensch, die sich als lebensspendende heilende Kraft des sich als „Papierrepublik“ erweisenden Sozialismus entledigt. Ein geradezu expressionistisches Heilungspathos löst – literarhistorisch in richtiger Chronologie – den behäbigen Buddenbrookstil des Erzählers zu Beginn des Romans ab: [...] eiterweiße Rinnsale suchen sich ihren Weg zu den Rohröffnungen, die auf Rohreingänge weisen, die auf Rohrausgänge weisen, Mund übergibt sich in Mund, und aus den Traufen quillt der Preßsaft, Flüssigkeit kostbar wie Blut und Sperma, aus den Papieren der Archive – … aber dann auf einmal … schlugen die Uhren, schlugen den 9. November, ‚Deutschland einig Vaterland‘, schlugen ans Brandenburger Tor:39

Der offene Schluss des Romans, der mit einem Doppelpunkt endet, verweist auf die Fortsetzung der Geschichte und der Geschichtserzählung. Tatsächlich hat – wie das Werk von Eugen Ruge In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) zeigt40 – die erzählende Literatur über die DDR-Geschichte die wesentlichen Momente des Historismus, Teleologie und Objektivitätsanspruch, wiederbelebt, und zwar mitsamt ihrer Transformation in einen ‚guten‘ und zustimmungsfähigen Sinn, in dem die erfolgreiche Macht als Erfolg geistig-sittlicher Prinzipien erscheint. Dies freilich mit einem entscheidenden Unterschied: Der historische Roman des 19. Jahrhunderts konnte seine Transformationsleistung noch unter Berufung auf die zeitgenössische Geschichtswissenschaft erbringen. In heutigen historischen Romanen, wie sie Tellkamp und Ruge über die 37 38 39 40

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EBD., S. 912. EBD., S. 938. EBD., S. 973. Siehe dazu auch den Beitrag von Isabella Ferron im vorliegenden Band.

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DDR geschrieben haben, findet hingegen die Verwandlung von historischem Material in die narrative Vergegenwärtigung eines den Geschichtsprozess determinierenden Sinns neben, wenn nicht gar im Widerspruch zur geschichtswissenschaftlichen Praxis mit ihrer Skepsis gegenüber teleologischen Konstruktionen statt. Doch dieser Widerspruch führt nicht dazu, den Fiktionalitätscharakter des historischen Erzählens zu unterstreichen, sondern ganz im Gegenteil: Die Literatur übernimmt hier mit ihrem Erzählen vom geschichtlichen Sinn den von der Historiografie relativierten Objektivitätsanspruch und transformiert den wissenschaftlichen Zweifel in Sinngewissheit, für die sie die Anschauung stiftet.

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Historismus in der Literatur des 19. und des 21. Jahrhunderts

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Strategien der Geschichtstransformationen in Themenparks FILIPPO CARLÀ & FLORIAN FREITAG Ausgehend von einer Definition von Themenparks als Heterotopien entwickelt der Beitrag ein vierstufiges Modell geschichtstransformatorischer Strategien, die in Themenparks einen affektiven Zugang zu einer ideologisierten, kommodifizierten und präsentifizierten Vergangenheit ermöglichen. Diese grundlegende Neukonzeption von Vergangenheit, die sich allenfalls punktuell an Maßstäben von Authentizität orientiert, gleichwohl jedoch als ungemein wirkmächtig erachtet werden muss, verortet der Beitrag in einer breiteren ästhetischen und kulturellen Entwicklung der Postmoderne, die als ‚affective turn‘ bezeichnet worden ist. Das Modell der geschichtstransformatorischen Strategien wird in der Folge anhand von zwei Fallbeispielen – Main Street, U.S.A. in Disneyland und Grecia in Terra Mítica – illustriert, wobei besonders auf den historischen und kulturellen Kontext der Parks eingegangen wird, der bei Geschichtstransformationen in Themenparks eine kaum zu überschätzende Rolle spielt.

Einleitung „Here You Leave Today and Enter the World of Yesterday, Tomorrow and Fantasy“: Mit diesen Worten auf einer Tafel am Eingang begrüßt Disneyland in Anaheim, Kalifornien, seit mehr als 50 Jahren seine Besucher. Was damit verdeutlicht wird, ist die Existenz einer Welt jenseits des Eingangs, die der normalen Zeitlichkeit enthoben ist. Ein zentraler Bestandteil dieser anderen Welt ist – wie auch das Motto nahelegt – die Darstellung vergangener Epochen. Diese Darstellungen orientieren sich jedoch nur punktuell an Maßstäben

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von Authentizität; Ziel ist vielmehr die Erschaffung einer Gelegenheit, Geschichte direkt zu begegnen und zu erleben. Wie wir im Folgenden zeigen werden, kommt es in diesem Prozess zu klaren Formen der ‚Geschichtstransformation‘. In Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels (2011) definieren Lutz Bergemann, Martin Dönike, Albert Schirrmeister, Georg Toepfer, Marco Walter und Julia Weitbrecht ‚Transformationen‘ als komplexe Wandlungsprozesse [...], die sich zwischen einem Referenz- und einem Aufnahmebereich vollziehen. Aus dem Referenzbereich wird durch einen (nicht notwendig personal zu verstehenden) Agenten ein Aspekt ausgewählt, wobei im Akt der Aneignung nicht nur die Aufnahmekultur modifiziert, sondern insbesondere auch die Referenzkultur konstruiert wird. Diese enge Beziehung von Modifikation und Konstruktion ist wesentliches Merkmal transformatorischer Prozesse, die sowohl diachron als auch synchron verlaufen können.1

Laut Laura Bieger ist Transformation darüber hinaus eine der zwei Komponenten, aus denen die Bildpolitik thematisierter, immersiver Räume (zu denen auch Themenparks zählen) besteht: (1) dem Transfer von kulturellem Material und (2) dessen Transformation gemäß den Anforderungen und Bedürfnissen des neuen Kontextes, in dem dieses Material wirksam werden soll; zwei Aspekte, die sich in ihrer Produktivität nicht voneinander trennen lassen, sondern unauflöslich ineinander greifen und sich gegenseitig hervorbringen.2

Mit Bergemann u. a. und Bieger lassen sich Geschichtstransformationen (speziell in Themenparks, aber auch generell) somit als zweite Komponente der Bildpolitik immersiver Themenräume begreifen, die wiederum als Produkt zweier Mechanismen gefasst werden kann: (1) einer Modifikation spezifischer historischer Ereignisse oder narrativer Überlieferungen und (2) einer generellen Neukonzeptionalisierung von Vergangenheit. Letzterer Bestandteil entspricht einer verbreiteten ästhetischen und kulturellen Entwicklung der Postmoderne, die sich auch in neueren Konzeptionen 1 2

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BERGEMANN u. a., 2011, S. 39. In diesem Sinne kann man Rezeptionsprozesse auch als „transkulturelle Dynamiken“ (CARLÀ, 2014, S. 33-38) oder als „Übersetzung“ (BIEGER, 2007, S. 18) bezeichnen. BIEGER, 2007, S. 52.

Geschichtstransformationen in Themenparks

von Museen findet und die von Vanessa Agnew als „affective turn“ identifiziert worden ist.3 Laut Agnew bezeichnet dieser „the collapsing of temporalities and an emphasis on affect, individual experience and daily life rather than histor-ical events, structures and processes“4. Genau deshalb sind die Begriffe der Authentizität und der historischen Genauigkeit bei solchen Rezeptionsformen auch irrelevant – diese Aneignungen sind immer ‚echt‘, aber „their realism is not that of a lost, real past but of real sensual impressions and emotions in the present, which engage visitors and engender meaningful feelings“5. Der affective turn ist generell in den postmodernen Prozessen eines Verlusts der linearen Zeitwahrnehmung (und der Wahrnehmung der Gegenwart als vorläufigen Punkt zwischen Vergangenheit und Zukunft) und einer ‚Sehnsucht‘ nach einer kompletten ‚Präsentifizierung‘ zu verorten; Phänomene, die u. a. von Frederic Jameson, Lucian Hölscher und Hans Ulrich Gumbrecht beschrieben worden sind.6 Dieser Verlust der Linearität der Zeit und das Interesse für eine präsentifizierte Vergangenheit sind keinesfalls gleichbedeutend mit einem sinkenden Interesse an der Vergangenheit per se; ganz im Gegenteil scheint die ‚Leidenschaft‘ für vergangene Epochen heutzutage verbreiteter zu sein als je zuvor.7 In diesem Sinne sind Themenparks von der Vergangenheit inspiriert; ihr Besuch stellt jedoch nicht, wie es Disneys Motto nahelegt, eine Reise in die Vergangenheit dar, sondern eine echte Vergegenwärtigung, einen Teil der gegenwärtigen Erfahrung. Es ist deshalb wichtig, die Relevanz der Themenparks in der Konstruktion der Vergangenheit sowie im Verständnis des postmodernen Ansatzes zur Geschichte nicht zu unterschätzen – auch aufgrund des postmodernen Verlusts einer klaren Differenzierung zwischen ‚Hoch‘- und ‚Populärkultur‘. Die spezifischen Formen, die die Darstellung der Geschichte hier einnimmt, erzielen eine immense Wirkung und beeinflussen nachhaltig das Geschichtsbild eines 3 4 5

6 7

Vgl. AGNEW, 2007. Vgl. auch Raphael Samuels Definition von „Retrochic“, der ihm zufolge die Unterscheidung zwischen Original und Kopie verwischt (SAMUEL, 2012, S. 112). AGNEW, 2007, S. 299. Für eine Definition des Authentizitätsbegriffs in Bezug auf die ‚Pastness‘, vgl. jetzt HOLTORF, 2013. Vgl. auch DERS., 2005, S. 135f.; DERS., 2010, S. 28f. Zur ‚Unerheblichkeit‘ des traditionellen Authentizitätsbegriffes in Studien der popular history, vgl. auch DE GROOT, 2009, S. 110-112. Vgl. u. a. JAMESON, 1996, S. 16-25; HÖLSCHER, 2002, S. 140-142; GUMBRECHT, 2004, S. 118-125. Vgl. auch SAMUEL, 2012, S. 190, der die Geburt der living history in die späten 1960er Jahre datiert. Vgl. SAMUEL, 2012, S. 25.

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breiten Publikums.8 Sie spielen so, laut Jerome de Groot, eine zentrale Rolle in den Prozessen der „Kommodifizierung der Geschichte“ 9 , die die Historiker immer betrachten sollten, im Bewusstsein, dass die akademische Perspektive nur eine partielle ist und dass Formen der leisure history einen wichtigeren Beitrag zur Konstruktion der verbreiteten Bilder der Vergangenheit leisten.10 Man sollte in diesem Zusammenhang nicht vergessen, dass die Besucherzahlen der Themenparks (allein Disneyland hat etwa 14 Millionen Gäste pro Jahr) ihrem Geschichtsbild eine Popularität geben, „with which professional historians are unable to compete in terms of either the mode of presentation or the numbers of people touched by it.“11 Ziel dieses Aufsatzes ist es zunächst, Themenparks zu definieren, um sodann die Strategien, die den im Themenpark stattfindenden disjunktiven geschichtstransformatorischen Prozessen zugrunde liegen,12 genauer darzustellen und ihre soziale und politische Relevanz zu erörtern. Im Anschluss werden wir diese Strategien anhand zweier konkreter Fallbeispiele, Disneyland, Kalifornien sowie Terra Mítica in Spanien, zu verschiedenen historischen Epochen näher vorstellen, um einen Einblick in die zur Verfügung stehenden methodologischen Instrumente einer solchen Untersuchung zu geben. Im Zentrum der Untersuchung stehen somit nicht einzelne historische Epochen selbst, sondern vielmehr die zwei Seiten der Allelopoiese oder der wechselseitigen Produktion historischer Epochen in Themenparks: die Konstitution der Gegenwart durch die Vergangenheit und die Konstruktion der Vergangenheit durch die Gegen-

8

Vgl. SAMUEL, 2012, S. 160: „The new version of the national past [...] is inconceivably more democratic than earlier ones, offering more points of access to ‚ordinary people.‘“ 9 Vgl. DE GROOT, 2009, S. 4f. 10 Vgl. auch JORDANOVA, 2006, S. 33f. Eine konservativere Sicht der Trennung zwischen ‚professioneller‘ und ‚populärer‘ Geschichte ist auch heute noch z. T. vertreten. So bezeichnete etwa Samuel noch 1996 die living history als „offensive for the professional historian“ (SAMUEL, 2012, S. 197), auch wenn er ein Interesse von professionellen Historikern für verschiedene Geschichtsformen als notwendig ansieht (vgl. EBD., S. 15). 11 BRYMAN, 1995, S. 142. Für Daten bezüglich der Verkaufszahlen populärwissenschaftlicher historischer Publikationen in England, vgl. z. B. DE GROOT, 2009, S. 31f. 12 BERGEMANN u. a., 2011, S. 49 verwenden den Begriff ‚Disjunktion‘ zur Bezeichnung einer „Transformation, bei der ein Inhalt der Referenzkultur in die Form der Aufnahmekultur gekleidet wird oder ein Inhalt der Aufnahmekultur eine in der Referenzkultur verwendete Form erhält“.

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wart, 13 d. h. die Funktionen historischer Epochen „in den kulturellen und künstlerischen, politischen und wissenschaftlichen Selbstpositionierungen von Nachfolgekulturen“ 14 sowie die Mittel und Strategien, die insbesondere in Themenparks verwendet werden, um historische Epochen für solche Selbstpositionierungen fruchtbar zu machen.

Themenparks: Eine Definition Themenparks sind „abgeschlossene, großflächig angelegte, künstlich geschaffene, stationäre Ansammlung[en] verschiedenster Attraktionen, Unterhaltungsund Spielangebote, die sich fast immer außerhalb großer Städte/Metropolen befinde[n], die ganzjährig geöffnet und kommerziell strukturiert [sind]“. 15 Themenparks zählen zu den Erlebniswelten16 und insbesondere zur Unterkategorie der themed environments, deren konstitutives Merkmal „die thematische Geschlossenheit [darstellt], d. h., dass entweder der ganze Vergnügungspark oder aber einzelne, in sich geschlossene Teile auf bestimmte Motive, Themata, Figuren usf. sowie deren Wiedererkennbarkeit angelegt sind“.17 Aus architektonischer und stadtplanerischer Sicht wurden Themenparks darüber hinaus häufig als ‚Utopien‘ bezeichnet.18 Auch Historiker wie Michael Wallace verwendeten aufgrund ihrer bereinigten Versionen von Vergangenheiten diese Beschreibung. 19 Themenparks zeichnen sich jedoch gerade nicht durch alternative Projekte zur Konstruktion einer verbesserten Gesellschaft aus, die für die Utopie konstitutiv sein sollten. Eine Definition als Utopie ist deshalb nur in einem sehr breiten Sinne annehmbar; zutreffender scheint es dagegen, Michel Foucaults Begriff der Heterotopie bzw. der Heterochronie heranzuziehen. 20 Foucault beschrieb in der Tat Heterotopien in Kontrast zu Utopien als eine bestimmte Art von lokalisierbaren Orten, die von der übrigen

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Vgl. EBD., S. 43. EBD., S. 41. KAGELMANN, 1993, S. 407. Vgl. STEINECKE, 2000. KAGELMANN, 1993, S. 408. Vgl. z. B. KING, 1981. Vgl. WALLACE, 1985. Vgl. PHILIPS, 1999, S. 91.

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Welt strikt abgetrennt sind, trotzdem jedoch Bezug auf die Welt nehmen – alles Eigenschaften, die auf Themenparks zutreffen.21 Auch die von Foucault zur Beschreibung von Heterotopien entwickelten Prinzipien der Heterotopologie lassen sich größtenteils auf Themenparks anwenden.22 Insbesondere sind folgende Prinzipien zutreffend: die Möglichkeit der Vereinigung mehrerer normalerweise zeitlich und räumlich getrennter Kontexte (etwa durch die Präsenz mehrerer Themenbereiche in einem Park); eine strikte Abtrennung von der übrigen Welt und Zeit(lichkeit); der beschränkte Zutritt, der durch den Kauf einer Eintrittskarte ritualdynamisch markiert wird. Schließlich haben laut Foucault Heterotopien eine illusorische oder eine kompensatorische Funktion, d. h. entweder entlarven sie die reale Welt als Illusion oder entwerfen eine ideale Gegenwelt zur realen Welt – beide Funktionen sind Themenparks zugeschrieben worden.23

Strategien der Geschichtstransformati onen in Themenparks Geschichtstransformationen in Themenparks beruhen auf vier Modifikationsstrategien: 1. Selektion. Zunächst werden die im Themenpark darzustellenden Epochen und die innerhalb dieser Epochen darzustellenden Elemente ausgewählt. Sie sind im Normalfall (auch durch andere Formen der modernen Rezeption) schon bekannt und deshalb einfach rezipierbar. Häufig werden auch Epochen und Themen ausgewählt, die implizite oder explizite Anknüpfungspunkte zu gegenwärtigen Identitätsfragen bieten und eine besondere Rolle im kulturellen Gedächtnis der jeweiligen Zielgruppe des Parks spielen. Außer in Fällen von dark theming24 werden politisch und sozial sensitive Themen wiederum mit Blick auf das Zielpublikum ausgeblendet.25 Der Themenpark greift so vorhandene Stereotype auf und perpetuiert diese weiter.26 21 Vgl. FOUCAULT, 2005, S. 1574f. 22 Vgl. EBD., S. 1575-1580. 23 Zur illusorischen Funktion vgl. BAUDRILLARD, 1981, S. 12f. Der Fokus auf die kompensatorische Funktion hat zur bereits erwähnten Klassifizierung von Themenparks als Utopien geführt. 24 Vgl. LUKAS, 2007, S. 276-280. 25 BERGEMANN u. a., 2011, S. 51 bezeichnen diese Form der Transformation als „Ignoranz“, eine „Transformation, die Tatsachen oder Sachverhalte nicht beachtet.

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Ein Beispiel bietet die Darstellung Griechenlands im Europa-Park in Rust. Griechenland wird hier, anders als viele andere Länder, nicht als moderner europäischer Staat dargestellt, sondern als antiker Kulturraum. So wird einerseits das Bild Griechenlands als Ursprung der europäischen Kultur betont und damit wird die Rolle des Landes im kulturellen Gedächtnis der ganzen EU aufgewertet; andererseits werden dadurch aber auch politisch problematische Themen im Zusammenhang mit der modernen Geschichte Griechenlands (Unabhängigkeitskriege, Konflikte mit der Türkei, militärische Diktatur) ausgeblendet. Die Entscheidung des Europa-Parks, Griechenland durch seine antike Kultur darzustellen, fußt auch auf der großen Bekanntheit dieser Kultur und ihrer Formen (Architektur, Epen, Mythen) und auf der bereits existierenden medialen Rezeption – etwa in Filmen oder Gemälden. Auch innerhalb des gewählten Zeitraums kam es zu einer Selektion der Materialien, die nach Rust „transferiert“ wurden: Ausgeblendet wurden Themen wie z. B. die Sklaverei, die allesamt als nicht ‚familienfreundlich‘ gelten würden. 2. Abstraktion. Der Themenpark übersetzt diese Stereotypen in multimediale thematische Darbietungen, die in ihrer Typik möglichst viele Menschen ansprechen. In der Themenparkarchitektur z. B. werden durch das Aufgreifen bzw. die Amalgamierung historischer Originale visuelle kleinste gemeinsame Nenner bzw. echte architektonische ‚Piktogramme‘ geschaffen, die evokativer sein sollen als einfache Kopien bekannter Gebäude. Dies stellt nicht notwendigerweise eine neue Entwicklung dar: Gerade im Hinblick auf visuelle Rezeption stellt etwa Samuel fest, dass „historical illustration is [...] one of the most conservative of art forms. The same stock figures seem to appear in an astonishing variety of contexts“.27 Um bei dem Beispiel des griechischen Themenbereichs in Rust zu bleiben: Die Station der dortigen Wasserachterbahn Poseidon stellt einen altgriechischen Tempel dar, der von den Fronton-Skulpturen zu den dorischen Kapitellen alle Bestandteile enthält, die gemeinhin einem griechischen Tempel zugeschrieben werden (ohne einen konkreten altgriechischen Tempel zu reproduzieren), auch wenn dieses verbreitete Bild ein modernes Produkt ist, das im Widerspruch zu archäologischen Rekonstruktionen steht. Es ist insbesondere

Dies kann entweder den bewussten Verzicht auf eine Auseinandersetzung oder auch die (unbewusste) Unfähigkeit meinen, etwas zur Kenntnis zu nehmen“. 26 Vgl. PHILIPS, 1999, S. 106. 27 SAMUEL, 2012, S. 32.

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bekannt, dass griechische Tempel bunt bemalt waren; in dieser Form wären sie aber für ein breites Publikum nicht wiedererkennbar.28 Durch die Kombination von Selektion und Abstraktion kommt es Bieger zufolge zu einer „Fiktionalisierung“, die, wie erwähnt, z. T. fälschlicherweise als ‚Utopisierung‘ empfunden worden ist: „Störendes wird ausgeblendet oder verklärt, Vorhandenes wird nach bestimmten Vorgaben inszeniert, affirmativ mit Bedeutung und Vorstellungen aufgeladen und in einem neuen, komprimierten Bezug räumlich verdichtet.“29 3. Immersion. Die Vergegenwärtigung verschiedener Zeitebenen wird dadurch erreicht, dass diese nicht wie etwa im Museum in einer fragmentarischen Form dargeboten, sondern dass alle Sinne gleichzeitig angesprochen werden und Besucher damit z. B. gezielt durch Musik, Architektur, Geruch, Geschmack in eine andere Zeit versetzt werden. Geschichte wird dadurch ‚affektiv‘ am eigenen Körper erfahrbar und erlebbar gemacht.30 Eine weitere wichtige Voraussetzung für die Immersion der Besucher stellt die strikte visuelle Abgrenzung der Themenwelt von anderen Themenbereichen des Parks und von der Außenwelt dar. Themenparks sind selbstverständlich nicht die einzigen immersiven Medien; in ihnen fällt jedoch der Grad an Immersivität besonders hoch aus,31 da etwa im Gegensatz zum Film oder zum Videospiel Rezeptionsort und thematischer Raum – und damit auch Rezeptionszeit und dargestellte Zeit – zusammenfallen. Die Vergangenheit im Themenpark ist eine vergegenwärtigte Vergangenheit. 4. Transmedialisierung. Zur Immersion der Besucher setzt der Themenpark andere immersive Medien wie z. B. Theater oder Film ein. Auch weniger immersive Medien wie etwa Skulptur oder Malerei werden im Kontext des Themenparks zu Teilen der immersiven Umwelt. Die einzelnen Medien werden im Themenpark zu einem sog. Intermedia Text verflochten. In einer Reihe von Publikationen von 1992 bis 2007 unterscheidet Claus Clüver zwischen Multimedia, Mixed-Media und Intermedia Texten. Themenparks sind in diesem Modell zu der letzten Kategorie zu zählen, da ihre einzelnen Elemente nicht voneinander getrennt werden können, ohne ihre Kohärenz und Selbstgenügsamkeit zu verlieren.32 28 29 30 31 32

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Vgl. HOLTORF, 2013, S. 433f. BIEGER, 2007, S. 153. Vgl. SAMUEL, 2012, S. 175f. Vgl. EBD., S. 177f. Vgl. CLÜVER, 2007.

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Durch diese Mechanismen der Modifikation werden den Besuchern bestimmte Botschaften, häufig mit einem starken politischen bzw. ideologischen Inhalt, vermittelt; das Produkt ist eine völlige Neukonzeptionalisierung von Vergangenheit. Da die Inhalte dieser Botschaften dem Publikum jedoch nicht explizit und argumentativ, sondern in einer direkt erlebbaren, affektiven Form vorgestellt werden, werden sie ‚verschleiert‘, naturalisiert und objektiviert. Es ist ein typisches Merkmal der ‚populären‘ und ‚kommodifizierten‘ Geschichte, teleologische, erklärende, positivistische Ansätze zu bevorzugen und sich dadurch u. a. mit Fragen der nationalen und ethnischen Identität zu befassen, die von akademischen Historikern als ‚problematisch‘ empfunden werden.33 Anders als häufig behauptet, 34 schließen sich somit affektive Ansätze und die Existenz von zugrunde liegenden master narratives in Geschichtsdarstellungen – und damit auch master narratives und Postmodernität – nicht grundsätzlich aus. Ein Beispiel, das all dies verdeutlichen kann, sind die Parks, die die nationale Identität bestimmter Länder, die sehr starke regionale Identitäten aufweisen, untermauern, indem sie Merkmale, Denkmäler und sogar Traditionen der verschiedenen Regionen zusammenfügen, um den Besuchern eine explizite Botschaft der ‚Einheit in der Vielfältigkeit‘ zu vermitteln. Was in Themenparks konstruiert wird, ist die Idee einer gemeinsamen Geschichte, die sich durch die Summe der lokalen Geschichten und im Respekt für die lokalen Traditionen aufbaut. Zu dieser Kategorie gehören u. a. sowohl Taman Mini Indonesia Indah, ein Park, den Präsident Sukarto persönlich förderte und der 1975 in Jakarta eröffnet wurde,35 sowie Italia in Miniatura, ein Park, der 1970, im Zuge einer Debatte über das angeblich mangelhafte nationale Identitätsgefühl der Italiener, in der Nähe von Rimini eröffnet wurde.

Fallbeispiel 1: Main Street, U.S.A. (Di sneyland, Kalifornien) Bei unserem ersten Fallbeispiel handelt es sich um einen Themenbereich von Disneyland in Kalifornien, ein Park, der nicht nur ähnlich wie Taman Mini Indonesia Indah und Italia in Miniatura mit regionalen Identitäten einer Nation spielt, sondern mit seiner über 55jährigen Geschichte und seinen bis zu 33 Vgl. DE GROOT, 2009, S. 21. 34 Vgl. z. B. SAMUEL, 2012, S. 195f. 35 Vgl. SCHLEHE/UIKE-BORMANN, 2010, S. 73-82.

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14 Millionen Besuchern jährlich zu den ältesten und erfolgreichsten Themenparks überhaupt zählt. Der Park ist nach dem Magic Wand-Prinzip aufgebaut,36 d. h. der Haupteingang ist durch einen Korridor mit dem Zentrum des Parks verbunden, von dem aus sich verschiedene Themenbereiche gleich Tortenstücken abspreizen. Bei dem Korridor handelt es sich im Fall von Disneyland um die sog. Main Street; das Zentrum des Parks wird markiert durch das Sleeping Beauty Castle, das auch als Wahrzeichen des Parks fungiert; bei den einzelnen Themenbereichen handelt es sich um Adventureland, Frontierland, Fantasyland und Tomorrowland. Aus operationeller Sicht nimmt Main Street innerhalb des Parks mehrere Funktionen ein: Sie kanalisiert den Besucherstrom vom Eingang in das Zentrum des Parks und stellt damit den einzigen Themenbereich dar, den alle Besucher zumindest beim Betreten und Verlassen des Parks betreten müssen. In Main Street finden sich zudem wesentliche Besucherservices wie das Fundbüro oder die Erste-Hilfe-Station des Parks und sie bietet den Besuchern auch die größte Anzahl an Shops und Restaurants. Attraktionen und Fahrgeschäfte sind dagegen nur spärlich vorhanden und beschränken sich vor allem auf Paraden und Street Entertainment. Thematisch rekurriert Main Street auf die amerikanische Kleinstadt des Mittelwestens um die Jahrhundertwende. Zeitlich lässt sich Main Street genauer zwischen 1896 und 1908 verorten, denn die zahlreichen Flaggen, die die Gebäude schmücken, zeigen 45 Sterne, ebenso wie die amerikanische Flagge vom 4. Juli 1896 (dem Jahr des Beitritts Utahs als 45. Staat zu den Vereinigten Staaten) bis zum Wechsel der Anzahl der Sterne am 3. Juli 1908 anlässlich des Beitritts von Oklahoma als 46. Staat. Geografisch wird Main Street in Disneyland-Metatexten in der Region des Mittelwestens verortet, indem betont wird, der Themenbereich sei von der Kleinstadt Marceline, Missouri, inspiriert, in der Walt Disney einen Teil seiner Kindheit verbrachte.37 Im Park selbst jedoch finden sich keinerlei Hinweise, die eine genaue geografische Verortung in den Vereinigten Staaten zulassen würden. Vielmehr verweist der Namenszusatz „U.S.A.“ darauf, dass es sich um eine typisch amerikanische Kleinstadt handeln soll, unabhängig von regionalen Differenzen. Main Street fungiert in der Tat sowohl operationell wie auch thematisch als ein sozialer Schmelztiegel, der die Besucher unabhängig von ihrer Herkunft, Ethnie oder Klasse vor allem als (weiße, protestantische, bürgerliche) US36 Vgl. MITRASINOVIC, 2006, S. 127. 37 Vgl. z. B. SHANNON, o. J., S. 42.

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Amerikaner anspricht. Dies wird in etwas anderer Akzentuierung auch in der Pariser Version von Main Street deutlich, wo den Besuchern nicht mehr ihre jeweils unterschiedlichen Heimatländer, sondern Disneyland identifikatorisch als gemeinsamer Bezugspunkt dienen soll.38 Einerseits werden durch das notwendige Durchschreiten der Main Street Unterschiede zwischen den Besuchern rituell nivelliert. Andererseits rekurriert Main Street mit ihrem Fortschrittsnarrativ auf die klassische Selbstdefinition der USA als Land der unbegrenzten Möglichkeiten: In thematischen Details wie dem Nebeneinander von Gaslaternen und elektrischen Leuchten sowie von pferdegezogenen Wagen und Automobilen oder Hinweisen auf die Suffragetten-Bewegung erzählt Main Street eine Geschichte des technologischen und sozialen Fortschritts. Die Jahrhundertwende in den USA wird so als eine Zeit der wirtschaftlichen Prosperität und deshalb des unbegrenzten Optimismus dargestellt und damit zu einem paradigmatischen Beispiel der amerikanischen Zivilreligion gemacht. Wie Walt Disney selbst es formuliert hat: „[F]or those of us who remember the carefree time it recreates, Main Street will bring back happy memories. For younger visitors, it is an adventure in turning back the calendar to the days of grandfather’s youth.“39 Dafür jedoch werden nach den schon erwähnten Mechanismen der Strategie der Selektion zahlreiche Auslassungen in Kauf genommen. So schreibt etwa der Historiker Mike Wallace in Bezug auf Main Street: The decades before and after the turn of the century had their decidedly prosperous moments. But they also included depressions, strikes on the railroads, warfare in the minefields, squalor in the immigrant communities, lynching, imperial wars, and the emergence of mass protests by populists and socialists. This history has been whited out, presumably because it would have distressed and repelled visitors.40

Außer den von Wallace genannten Aspekten wurden außerdem noch das problematische Verhältnis der Kleinstadt zum landwirtschaftlichen Hinterland 38 Vgl. die Beschreibung der Pariser Main Street, U.S.A. in einem Souvenirbuch von 1994: „You have come from all over the world. Whether you have left behind the hum and drone of bus and train, or parked your car under the watchful eyes of Alice, Bambi or Donald in Guest Parking, the moment you reach Euro Disneyland Resort you are in a different world.“ (SHRAGER, 1994, S. 5). 39 Zit. n. SHAFFER, 2010, S. 126. 40 WALLACE, 1985, S. 137.

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oder die repressiven, ultrakonservativen Sozialstrukturen der amerikanischen small town, wie sie etwa in der sog. Revolt of the village-Literatur der 1920er und 1930er Jahre zum Ausdruck gebracht wurden,41 völlig ausgeblendet. Die Idealisierung des ‚Goldenen Zeitalters‘ der Jahrhundertwende wird visuell durch die Mechanismen der Abstraktion weiter verdeutlicht. Die hyperviktorianische Architektur der Main Street, in der bestimmte Elemente, wie die ornamentale Dekoration der Häuser, überhöht, bestimmte Gegenstände (etwa Strommasten) entfernt und weitere Bestandteile, die damals nicht vorhanden waren, aber zum zeitgenössischen Bild einer sauberen und geordneten Stadt gehören (z. B. Bäume), hinzugefügt wurden, hat mit dem tatsächlichen, ungeplanten Erscheinungsbild amerikanischer Kleinstädte um 1900 wenig gemein. Stattdessen ergibt sich durch eine Abstimmung der Gebäudedimensionen und der Farbpalette ein äußerst harmonisches Gesamtbild. Die Kleinstadtatmosphäre in Main Street wird jedoch nicht nur durch Architektur erschaffen, sondern auch durch eine klare Abgrenzung von der Außenwelt und von den anderen Themenbereichen, die von Main Street aus nicht zu sehen sind. Dieses erste Mittel der Immersion wird darüber hinaus durch gezielt ausgewählte Hintergrundgeräusche, Gerüche und Geschmäcke ergänzt. Neben einem Soundtrack, der u. a. Stücke der von Randy Newman komponierten Filmmusik zu Miloš Formans Film Ragtime (1981) enthält, hören die Besucher etwa verschiedene Stimmen aus den Gebäuden, die offensichtlich den Bewohnern von Main Street zugeordnet werden sollen sowie das Geklapper von Pferdehufen. Die Luft ist erfüllt vom Geruch von Kaffee, Backwaren, Popcorn und Zuckerwatte, den zahlreiche, gleichmäßig über den Themenbereich verteilte Verkaufsstände und Geschäfte ausströmen und der zum Verzehr anregen soll (der Pferdemist hingegen wird schnellstmöglich beseitigt). In der Gestaltung dieser immersiven Darbietung greift Main Street auf verschiedene Medien zurück, von denen hier exemplarisch der Film herausgegriffen werden soll. Zahlreiche Forscher haben erläutert, wie sich Disneyland insgesamt und Main Street im Besonderen Elementen der filmischen mise-enscène (erzwungene Perspektive in der Architektur der Gebäude), mise-encadre (geschlossene Bildformen durch geschickte Landschaftsgestaltung und Anordnung der Gebäude) und der mise-en-chaîne (die bereits erwähnte Film-

41 Vgl. HILFER, 1969.

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musik sowie das an eine filmische Eröffnungssequenz erinnernde rituelle Durchqueren der Main Street auf das zentrale Schloss hin) bedienen.42 Die multisensorische, transmediale und immersive Repräsentation der amerikanischen Kleinstadt der Jahrhundertwende schafft eine radikal neue Vergangenheit, eine Vergangenheit, so Jon Wiener, „without tenements or poverty or urban class conflict“,43 die den Trend zur Suburbanisierung amerikanischer Städte und insbesondere Los Angeles’ zur Zeit der Entstehung Disneylands in den 1950er Jahren aufgreift und dessen Wurzeln in der amerikanischen Kleinstadt der Jahrhundertwende verortet.44 Dass es sich hierbei um eine Disneyspezifische Neukonzeptionalisierung der Vergangenheit handelt, wird im Park durchaus angedeutet: Bei den auf den Fenstern der Main Street aufgemalten Namen der ‚Bewohner‘ der Gebäude handelt es sich allesamt um die Namen von Designern, Komponisten und Künstlern, die an der Entstehung von Disneyland beteiligt waren, darunter auch Walt Disney selbst. Die Vergangenheit der Vereinigten Staaten wird hier gleichsam zur Vergangenheit Disneylands.

Fallbeispiel 2: Grecia (Terra Mítica, Spanien) Das zweite Fallbeispiel, das hier untersucht werden soll, stellt der Park Terra Mítica dar, der 2000 in Benidorm, Spanien, eröffnet wurde. Weniger erfolgreich als Disneyland (der Park hatte bereits mehrfach erhebliche finanzielle Probleme, wurde z. T. geschlossen und hält sich nur mit Schwierigkeiten über Wasser: 2012 wurde er für einen äußerst niedrigen Preis verkauft und in zwei verschiedene Parks geteilt),45 erreichte er mit seinen Geschichtsbildern in den ersten Jahren nach der Eröffnung dennoch ca. 2 Millionen Menschen pro Jahr – viel mehr als die Leser eines erfolgreichen wissenschaftlichen Buchs. Im Jahr 2010 war die Besucherzahl allerdings auf 520.000 abgesunken.46 42 Vgl. MARLING, 1991, S. 197; KING, 1981, S. 127; FJELLMAN, 1992, S. 257; LAINSBURY, 2000, S. 83; LUKAS, 2008, S. 157; FINCH, 2011, S. 456; LEE/MADEJ, 2012, S. 98. 43 WIENER, 1994, S. 134. 44 Vgl. AVILA, 2004. 45 Diese Schwierigkeiten haben mehrere Änderungen und Umgestaltungen des Parks verursacht; was hier beschrieben wird, bezieht sich auf den Stand des Parks während unserer Feldforschung im November 2012. 46 http://www.parksmania.it/2011/12/28/terra-mitica-la-regione-vende-la-sua-quotadi-proprieta/, 15.8.2013.

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Thema des Parks sind die Kulturen des Mittelmeerraums – insbesondere die Antike. Die fünf als Rundgang 47 angeordneten Themenbereiche bilden eine grobe chronologische und geografische Annäherung an die spanische Kultur, deren ‚Entstehungsgeschichte‘ damit thematisiert wird. So findet man am Eingang Egipto, danach Grecia, Las Islas, einen zweiten griechischen Bereich, der einen stärkeren Bezug auf das Mittelmeer, Kolonisationsphänomene und Reisen nimmt, Roma und letztlich Ibéria, wo Spanien im Mittelalter und in der frühen Neuzeit dargestellt wird. Das Geschichtsbild, das hier angeboten wird, und seine identitätsstiftende Funktion werden so sehr deutlich: Genau um das Jahr 2000 – zu einem Zeitpunkt, als die Diskussionen über die Existenz und die Bestandteile einer ‚europäischen Identität‘ und über die Rolle der einzelnen Nationalkulturen innerhalb dieser Identität besonders heftig waren48 – setzte der Park gegen die Idee einer solchen gemeinsamen Identität die Homogenität bzw. Einheit der Kulturen des Mittelmeers – deren Höhe- und teleologischen Endpunkt Spanien darstellt. Parallel zum vorherigen Fallbeispiel wird auch hier ein besonderer Bereich näher analysiert, um die Formen und Funktionen der dort operierenden Geschichtstransformationen besser zu definieren. Es handelt sich um den griechischen Bereich, ein zentrales Bindeglied in der Anlage, das nicht vermieden werden kann und auch schon vom Eingang aus aufgrund seiner erhöhten Lage und seines Farbschemas als visueller Magnet wirkt. Der Bereich zeigt eine besonders hohe Attraktionsdichte und hat keine Abzweigungen – lässt deshalb den Besuchern keine Freiheit, ihren Weg frei zu gestalten. Die Kultur Altgriechenlands wird chronologisch dargestellt: Der Eingang zu dem Bereich stellt die mykenische und die minoische Kultur dar; danach führt der Weg der Besucher bergauf, um eine Art Akropolis zu erreichen, die die Welt der klassischen Polis repräsentiert. Die Strategie der Selektion operiert hier zweifach: Einerseits, indem die architektonischen und dekorativen Formen eine Auswahl berühmter griechischer Gebäude und Statuen (z. B. die Statue der Athena Promachos, das Erechtheion oder den Dornauszieher) darstellen, schon existierende und stereotypisierte Rezeptionsformen bestätigen und damit einen hohen Grad an Wiedererkennbarkeit erreichen. Andererseits dadurch, dass unter den verschiedenen Aspekten der antiken griechischen Kultur ein klarer Fokus auf religiöse und mythologische Aspekte gesetzt wird. Wie im Falle von Main Street werden politische und soziale Themen (hier 47 Dieses Modell wird von MITRASINOVIC, 2006, S. 139, als Loop Pattern bezeichnet. 48 Vgl. SHORE, 1996.

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z. B. Demokratie, Sklaverei, Krieg) ausgeklammert; stattdessen dient als Brücke zur heutigen Welt die Repräsentation des antiken Sports mit einem eindeutigen Verweis auf die Olympischen Spiele. Dieser Verweis materialisiert sich durch die Gruppierung der Attraktion Templo de Kinetos, einer Reproduktion des Tempels des Zeus von Olympia (in der sich auch eine Rekonstruktion der Phidias-Kultstatue befindet), mit einer photo opportunity (einer Kulisse, vor der sich die Besucher fotografieren können), die aus einem Gewinnerpodest und einer Exedra mit Reproduktionen antiker Statuen besteht. Das Podest macht eine antike Idee in einer modernen Form greifbar: Auch wenn solche Podeste in der Antike nie existierten und das Podest mit seinen römischen Ziffern bestenfalls einen antiken, keinesfalls aber griechischen Eindruck erweckt, 49 verweist es dennoch direkt auf die antike Welt des Sports. Diese Referenz wird durch die Auswahl der Statuen verstärkt, die den Hintergrund des Podests bilden. Jede der neun Statuen stand entweder bereits in der Antike im Zusammenhang mit sportlichen Aktivitäten (Lysippos’ Anaxyomenos, Polykletos’ Diadumenos, Naukydes’ Diskophoros sowie eine Statue, die stark an den Athleten des Stephanos erinnert) oder referiert in der modernen Wahrnehmung darauf, indem sie ein Ideal des männlichen Körpers thematisiert. Wenn für Polykletos’ Doryphoros, vielleicht die berühmteste griechische Statue, in der Tat eine Interpretation als athletische Figur von einigen Forschern vorgeschlagen worden ist,50 gilt dies keinesfalls für die anderen Statuen, den Kasseler Apollo, Harmodios aus der Gruppe der athenischen Tyrannenmörder und zwei Skulpturen, die kein Modell erkennen lassen, aber dennoch mit den anderen Statuen harmonisieren. Dadurch bildet die photo opportunity eine besondere Form der Abstraktion, die durch eine Mischung von antiken (Statuen, klassische Architektur der Exedra, römische Ziffern) und modernen Elementen (Podest) ein Piktogramm des Sports konstruiert. Ein weiteres Beispiel für die Strategie der Abstraktion und die Gestaltung visueller Piktogramme stellt das Restaurant Acrópolis im Herzen des Themenbereichs dar. Das Gebäude ist ein architektonisches Amalgam, das das bereits angesprochene paradigmatische Modell eines klassischen griechischen Tempels (in diesem Fall eines ionischen exastilos prostylos-Gebäudes) mit einer Reproduktion der Vorhalle der Karyatiden aus dem athenischen Erechtheion verbindet. 49 Diese Ikonografie ist von Astérix aux Jeux Olympiques (1968) popularisiert worden. 50 Vgl. WESENBERG, 1998, S. 61.

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Die Ansammlung der einzelnen Gebäude und dekorativen Elemente bildet insgesamt ebenfalls ein Piktogramm, nämlich das der griechischen Polis. Dabei handelt es sich weder um Athen noch um eine andere griechische Stadt, sondern um eine ‚synthetische‘ Polis, in der Elemente aus der archaischen, klassischen und hellenistischen Zeit zusammenkommen. Um ein möglichst hohes immersives Potenzial zu erreichen, ist der Themenbereich visuell von den anderen so weit wie möglich abgegrenzt. Aufgrund der Hügellage unvermeidbare Ausblicke werden thematisch integriert: Die erhöhte Lage der Polis wird als Akropolis konstruiert, von der man einen Ausblick auf das Mittelmeer hat, genau wie von der Akropolis Athens. Wie auch in Disneyland wird zusätzlich Musik eingesetzt, um möglichst viele Sinne anzusprechen. Selbstverständlich handelt es sich dabei nicht um eine Rekonstruktion antiker griechischer Musik, da diese nur Spezialisten bekannt sein dürfte und von einem breiteren Publikum kaum erkannt werden würde. Stattdessen wurden Stücke und Gattungen ausgewählt, die vom zeitgenössischen Besucher sofort als griechisch klassifiziert werden können, vor allem Sirtaki und insbesondere (und wie zu erwarten) Theodorakis Soundtrack zu Michael Cacoyannis’ Film Zorba il Greco (1964). Durch diesen Verweis auf einen bekannten Film wird auch der transmediale Aspekt des Themenbereichs deutlich, der sich aber besonders durch visuelle Rahmungen wie bspw. im Falle der photo opportunity oder der geschickten Eingliederung des Mittelmeer-Panoramas in Grecia äußert. Anders als Disneyland arbeitet Terra Mítica jedoch häufig mit offenen Bildformen, was vor allem auf die Grundstruktur des Parks als Rundgang zurückzuführen ist. Vom Eingang des Themenbereichs bis zur Akropolis werden die Besucher ständig mit Perspektiven konfrontiert, die sie weiter in den Park hineinziehen. Einige der dekorativen Elemente werden darüber hinaus gleichzeitig als Kulissen und Bühnenrequisiten verwendet. Während der Show Troya, la Conquista etwa verwandelt sich so ein Teil des Themenbereichs in eine Freiluft-Theaterbühne. Die Verwendung multi- und transmedialer Mittel (hier insbesondere in der Form der Shows) erlaubt es auch, auf den paradigmatischen und identitätsstiftenden griechischen Kulturraum bestimmte konservative Wertvorstellungen (Ehre, Rache, Maskulinität, kriegerische Tugenden) zu projizieren und dadurch zu universalisieren und zu naturalisieren. Dieser Wertekanon, der so etabliert wird, konsolidiert sich in den anderen Bereichen und erweist sich letztendlich als explizit auf die spanische Identität bezogen. Griechenland wird deshalb durch diese Formen der Geschichtsdarstellung in seiner Rolle als zentraler

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Entwicklungsschritt und elementarer Grundpfeiler der westlichen, europäischen und spanischen Identität bestätigt.

Fazit Geschichtsdarstellung in Themenparks ist ein komplexes Phänomen, das intensiv an den kulturellen Rezeptionskontext gebunden ist. Demzufolge werden nicht nur verschiedene Epochen, Motive, Themen bevorzugt oder vernachlässigt, sondern es werden auch dieselben Elemente unterschiedlich gedeutet und rezipiert. Dies lässt sich bspw. bei Themenparkketten (wie Disneyland oder den Universal Studios) beobachten, die ein ähnliches Grundmuster an verschiedene Publikumskontexte anpassen. Main Street, U.S.A. in Disneyland, Kalifornien hat so eine ganz andere Funktion als etwa der entsprechende Themenbereich in Tokyo Disneyland, der World Bazaar. Auch wenn dieselbe Epoche oder derselbe Kulturraum in verschiedenen Parks, die nicht ökonomisch miteinander verbunden sind, dargestellt werden, kann man eine stetige Umdeutung und Anpassung an die Ziele und Prinzipien (und an die kulturellen und politischen Kontexte) der einzelnen Anlagen feststellen. Während Grecia in Terra Mítica zur Konstruktion einer spanisch dominierten ‚Mittelmeeridentität‘ in Abgrenzung von der ‚europäischen Identität‘ beiträgt, wird der griechische Bereich im Europa-Park in Rust zur Identifizierung eines Grundpfeilers der gemeinsamen europäischen Kultur funktionalisiert. Was synchron wie auch diachron beobachtet werden kann, sind deshalb immer geschichtstransformatorische Dynamiken, die Neukonzeptionalisierungen von konstruierten Vergangenheiten, teilweise sogar die Konstruktion von ‚neuen‘ Vergangenheiten, und deren direkte Erlebbarkeit produzieren. Diese Produkte müssen jeweils in ihrem Entstehungskontext untersucht und verstanden werden, wobei nicht vergessen werden darf, dass ihre Existenz die nachfolgenden Formen der Rezeption und Transformation beeinflussen werden.

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Geschichtstransformationen in Themenparks

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II. N ARR ATIVE

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Approaching History and Fiction Daniel Defoe’s Fiction and Writings on the Great Storm AINO MÄKIKALLI Der vorliegende Aufsatz stellt Daniel Defoe als Geschichtsschreiber und als Autor fiktionaler Texte in den Mittelpunkt. Er untersucht, wie sich Defoe als Historiker definierte und wie die experimentellen narrativen Techniken seiner geschichtlichen Texte schließlich seine Prosa beeinflussten. In Der Sturm (1704) nutzt Defoe Verfahren, die eine historiografische Darstellung implizieren: detaillierte Zeitangaben, komplexe Strukturen von Zeit und Raum sowie unterschiedliche Erzählerstimmen und –perspektiven. Diesen Erzählstil wandte er später auch in Robinson Crusoe (1719) und anderen fiktionalen Texten an. Der Realismus, genutzt von Historikern um Alltagsleben zu beschreiben, wird von Defoe in fiktionale Erzählungen transformiert und zeigt damit die Nähe von historiografischen und fiktiven Diskursen.

Over the past few decades, literary scholars as well as historians have addressed some of the fundamental issues of their scholarship, namely referentiality, narrativity and fictivity. How should we understand the relation between truth and falsehood, fact and fiction, real and unreal, the modes of writing and narrating about the past or the practice of using fiction to make about real life? After the so-called linguistic turn in historic scholarship, the discussion has focused on the problem of referentiality and meaning both in the interpretations of the past and in historical texts.1 There are arguments that emphasize the narrativity of history and underline the idea of historiography as 1

Cf. KALELA, 2000; KAARTINEN/KORHONEN, 2005.

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Aino Mäkikalli

part of fictive discourse. 2 In literary studies, on the other hand, the relation between the fictitious world and the world outside it is nothing but meaningless. On the contrary, first, the fictitious world can refer directly to the world outside the text, and secondly, fiction also is a historic source, in the sense that it is one particular representation of its own time and culture. The differences and sameness of the discourses of history and fiction are discussed in this essay in the context of one key period of literary transformation, the turn of the eighteenth century, when a new literary genre, that which we now call the novel, was developing in England. On the one hand, the new discourse of writing visibly brought forward the question of truth and falsehood, that is, if the stories were ‘fact’ or fiction. On the other hand, the discourse of historiography included aspects, such as hearsay and rumors, that were not watertight evidence. I shall examine the transformation between the novelistic and historiographical discourse in Daniel Defoe’s (1660-1731) prose fiction and in his historiographical writings on the Great Storm which were published in 1704, right after the extraordinary tempest in England and Wales. Defoe is an interesting literary figure in that sense that after writing primarily political, economic and social essays, pamphlets and travelogues for many years and A Review of the Affairs of France (commonly known as the Review) newspaper for nine years, he began to write fictional prose stories, which were later regarded as some of the first modern novels published in England. Moll Flanders (1722), A Journal of the Plague Year (1722) and Roxana (1724) all became well known and Robinson Crusoe (1719) was even among the best- sellers in eighteenth-century England. Defoe’s prose fiction proclaimed to be “factual stories”: the title page of Robinson Crusoe claims that the book is “a just History of Fact” and Defoe’s other novels made similar assertions.3 Defoe’s prose narratives played a significant role at least in three respects: in the history of the novel genre, in historical writing, and in the development of reportorial journalism. As the writer of eight novels and several historical accounts, such as The Storm (1704), Defoe represents to us a highly versatile writer and a political, economic, social, religious and cultural agent, who in many ways wrote in-between different phases and discourses. 2

3

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Hayden White writes: “[T]he very distinction between real and imaginary events that is basic to modern discussions of both history and fiction presupposes a notion of reality in which ‘the true’ is identified with ‘the real’ only insofar as it can be shown to possess the character of narrativity.” WHITE, 1987, p. 6. DEFOE, 1994 [1719], p. 3.

Approaching History and Fiction

The focus of this article will not only be on fiction but also on Defoe’s writings on the Great Storm, on which Defoe produced not one but three pieces of writing. In chronological order, these are The Lay-Man’s Sermon upon the Late Storm (published in February 1704) and The Storm: or, a Collection of the Most Remarkable Casualties and Disasters which Happened in the Late Dreadful Tempest, Both by Sea and Land, (a combination of prose and letters) and The Storm: An Essay, both published in the summer of 1704. The purpose of this article is to explore how Defoe saw himself as a historian and how his experiment in narrative techniques gradually transformed into the techniques used in his prose fiction. I shall first discuss the two shorter pieces of writing on the storm and then turn to an analysis of the longer prose narrative The Storm: or, a Collection of the Most Remarkable Casualties and Disasters, one of Defoe’s first book-length works. Finally, I shall analyse, how Defoe’s narrative technique was applied in fictional form in his novels.

Writing Storm y Hist or y: Religious and Historical Appr oaches The most destructive tempest in living memory hit Wales and England on November 26 and 27, 1703 (according to Julian calendar). A cyclone of over seventy miles per hour slammed into Britain from the North Atlantic, causing damage and demolition across southern and central England and Wales before moving on to Scandinavia and the Baltic Sea. The storm claimed the lives of more than 8,000 people on land and sea and, as many observers noted at the time, left London looking like a city in the aftermath of a battle.4 Queen Anne spoke to the people and declared that the storm was as terrible as “a Calamity of this Sort so Dreadful and Astonishing, that the like hath not been Seen or felt, in the Memory of any Person Living in the Our Kingdom, and which Loudly Calls for the Deepest and most Solemn Humiliation of Us and Our People.”5 The tempest touched large communities by the physical damage it caused and the spiritual awe it inspired. Defoe had been released from Newgate prison a few days before the extraordinary natural phenomenon and as a journalist and a pamphleteer, he 4 5

For more historical information about the storm, see e.g. BRAYNE, 2002. The London Gazette, number 3975 (13-16 December 1703).

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became interested in the unusual event. He began taking notes, and finally published a request in newspapers for people to send him reports, accounts and descrip-tions of their personal experiences during the storm. Defoe put these accounts to use in his writings about this natural disaster. As noted earlier, the Great Storm gave Defoe reason, which we can only speculate, to compose three different pieces, which were supposedly produced alongside each other. The first of these, a pamphlet entitled The Lay-Man’s Sermon, focused on interpreting the storm as an act of God, “that the Lord has a way or an end in the Whirle-wind, and in the Storm,”6 as a punishment for the misbehavior of the nation; “That if a Nation does wickedly they shall be destroy’d both they and their King.” 7 Defoe continues: “The design of this Discourse therefore, is to put the Nation in general upon proper Resolutions; […] we cannot but allow this Extra-Pulpit admonition to be just.”8 The LayMan’s Sermon presents a variety of reasons and assumptions why the judgement was handed down to the people of England. Every person or group has a particular reason: W— the Carpenter was knock’d on the head with a Stack of Chimneys, and his Wife saved; all the Neighbours cried out ’twas a judgement upon him for keeping a Whore; but if Stacks of Chimneys were to have fallen on the Heads of all that keep Whores, Miserere Dei [God have mercy].9

The author’s focus is largely on politics and society in general as he puts the blame for the storm on rulers and politicians: “When ever our rulers think fit to see it, and to employ the men and the Methods which Heaven approves, then we may expect success[.]”10 The style of The Lay-Man’s Sermon is accusative and straightforward, and in the end defends the dissenters: why do the authorities attack dissenters when they ought to be concerned with the danger from France, “the threatning Growth of a Conquering Popish Enemy.” 11 Although he never practiced the profession, Defoe was trained as a dissenting

6

DEFOE, 2005a [1704], p. 185. Unless marked otherwise, all the emphasis in quotations are in the original texts. 7 IBID., p. 187. 8 IBID., p. 185f. 9 IBID., p. 188. 10 IBID., p. 197. 11 IBID., p. 198.

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Approaching History and Fiction

minister and would continue, throughout his career as a writer, to present sound and compelling arguments about religious matters. It is therefore no surprise that one of Defoe’s writings, The Lay-Man’s Sermon, depicts the Great Storm primarily as a judgment from heaven. According to Paula R. Backscheider, the pamphlet exhibits one of the primary functions of a sermon: to explain a message from God.12 This idea reflects a strong sense of the different essence and function of earthly time and the eternal hereafter; our actions and deeds on the earth are judged and rewarded hereafter. Moreover, although the idea of the end of the world is not explicitly described, the implication is that the nation and the people should better their behavior or the ultimate and final punishment will occur. Hence, the future orientation is limited, although the author incites the readers to change. The same political and religious rhetoric, only now in verse, continues in The Storm: An Essay: Let me be where I will I heard the Storm, From every Blast it eccho’d thus, REFORM; I felt the mighty Shock, and saw the Night, When Guilt look’d pale, and own’d the Fright; And every Time the raging Element Shook London’s lofty Towers, at every Rent the falling Timbers gave, they cry’d, REPENT. […] the tempest comes from the “First Cause”: Existing to and from Eternity, Of His Great Self, and of Necessity. This I call God, that One great Word of Fear[.] […] If Living Poets Dare not speak, We that are Dead must Silence break; And boldly let them know the Time’s at Hand. When Ecclesiastick Tempests shake the Land.13

In February 1704 Defoe also wrote the first issue of his newspaper Review, which mainly consisted of political commentaries. In his biography of Defoe, John Richetti points out that in the Review Defoe covered a wide range of 12 BACKSCHEIDER, 1989, p. 144. 13 DEFOE, 2005c [1704], p. 203; IBID., p. 209f. and 212.

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subjects, including history, economics and the social and moral issues of the day. 14 Notable in Defoe’s writings is his continued interest in social issues, economic themes, political topics, and events connected to issues that touched the whole of society. It appears that throughout Defoe’s writing career, he was not so much interested in how individuals lived and acted in society, as in how they experienced their society, nation and country. Given Defoe’s interest in political and religious issues and his proposals for social improvements in England, collected in An Essay Upon Projects (1697), it is not surprising that Defoe thought it important to collect and write down unusual material for the future generations to know and to remember the devastating storm that had demolished the physical structures of great parts of the country. If Defoe’s first and the third account of the storm consisted notably of religious interpretations and spiritual assertions, his first full-length experiment in narrative technique (as well as a move away from the outright polemic of his early works) The Storm: or, a Collection of the Most Remarkable Casualties and Disasters is considered to mark a new turn in Defoe’s writing career. Richard Hamblyn notes that many of the lessons learned during the months of its composition would prove invaluable in the writing of his novels. One of these lessons was how to handle complex structures of space and time and to use varied voices and multiple points of view in the context of a shared moment of intense historical import. 15 Defoe concentrated on collective suffering as well as individual survival in The Storm. He responded to events in both public and private life, as shown later in his historical novel A Journal of the Plague Year (1722), which depicts the life in London during the period of the Great Plague in 1665. A few days after the storm, Defoe placed an advertisement in The Daily Courant and The London Gazette newspapers, requesting that firsthand observations of the storm be sent to him. The value of truth is emphasized in the advertisement: “an exact and faithful Collection is preparing” and the author wishes only accounts that “are well satisfied to be true” and these will be then “faithfully Recorded.”16 Defoe thus intends to compile an account that is to be read as a chronicle rather than a legend, 17 and interestingly in the preface to The Storm, he relates his writing to the work of the historian: 14 15 16 17

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RICHETTI, 1987, p. 9. HAMBLYN, 2005, p. xiv. The London Gazette, number 3972 (2-6 December 1703). Cf. HAMBLYN, 2005, p. xxiii-xxiv.

Approaching History and Fiction ‘Tis the Duty of an Historian to set every thing in its own Light, and to convey matter of fact upon its legitimate Authority, and no other […] [I]f I tell a Story in Print for a Truth which proves otherwise, unless I, at the same time give proper Caution to the Reader, by owning the Uncertainty of my Knowledge in the matter of fact, ‘tis I impose upon the World: my Relater is innocent and the Lye is my own.18

Defoe underlines the historian’s task to show people what happened, to set everything “in its own light” and “to convey matter of fact”. The letters Defoe received were firsthand accounts of ordinary people, and he also aimed to show, like a proper historian, directly, what had happened, what kind of damage and havoc the tempest had caused in peoples’ houses and minds. The Storm is divided into two sections. The first section of four chapters consists of the origins and history of winds and the general depiction and extent of the storm. The second and longer section, entitled Of the Effects of the Storm, consists mostly of the letters and accounts sent to Defoe. The first section seems to be important because it provides the narrator’s own depictions of the natural phenomenon, in his own voice. The second section largely demonstrates a strategy used by diarists in setting forth detailed depictions of the force and effects of the storm. Defoe’s account in the first section of The Storm depicts the history of the storms and argues that British islands are more subject to storms than other parts of the world. In the third chapter, Of the Storm in General, the narrative technique changes as the author begins to depict in detail the most horrible days of the tempest. It is worth quoting this technique in length: On the Wednesday Morning […] being the 24th of November, it was fair Weather, and blew hard; but not so as to give any Apprehensions, till about 4 a Clock in the Afternoon the Wind encreased, and with Squauls of Rain and terrible Gusts blew very furiously. The Collector of these Sheets narrowly escap’d the Mischief of a Part of a House, which fell on the Evening of that Day by the Violence of the Wind; and abundance of Tiles were blown off the Houses that Night: the Wind continued with unusual Violence all the next Day and Night; and had not the Great Storm follow’d so soon, this had pass’d for a great Wind.

18 DEFOE, 2005b [1704], p. 4f.

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Aino Mäkikalli On Friday Morning it continued to blow exceeding hard, but not so as that it gave any Apprehensions of Danger within Doors; towards Night it encreased: and about 10 a Clock, our Barometers informe’d us that the Night would be very tempestuous; the Mercury sunk lower than ever I had observ’d it on any Occasion whatsoever, which made me suppose the Tube had been handled and disturb’d by the Children. […] It did not blow so hard till Twelve a Clock at Night, […] But about One, or at least by Two a Clock, […] most people expected the Fall of their Houses. […] From Two of the Clock the Storm continued, and encreased till Five in the Morning; and from Five, to half an Hour after Six, it blew with the greatest Violence: the Fury of it was so exceeding great for that particular hour and half, that if it had not abated as it did, nothing could have stood its Violence much longer.19

The narrative gives details and exact times to mark the progress of the tempest. The chapter resembles a private diary form, which was a relatively new form of writing in Defoe’s time.20 What is interesting here is the emphasis placed on the notions of clock time and the idea of presenting a precise depiction of the moves and changes of the weather. As a result of the use of dates and clock times, and therefore particular and physical time, the narration proceeds continuously and reflects the real day-to-day time. We do not meet vague expressions, such as “in the evening” or “sometime in the middle of the night”, but are offered exact clock times, which refer to the modern mode of sensing time in daily life. This same strategy continues in the second section of the book – the letters sent to the author, although the writers of the letters also use more details to describe the damage. A church-warden from Slimbrige near Severn writes on December 28, 1703: The Dreadful Storm did this Church but little Damage, but our Houses were terribly shaken hereabouts, and the Tide drowned the greatest part of the Sheep on our Common; as it likewise did, besides many Cows, […] it brake down part of Chepshow Bridge, o’er the Wye.21

19 DEFOE, 2005a [1704], p. 26, 30, 33. 20 SHERMAN, 1996; Cf. Samuel Pepys’s (entries from 1660 to 1669) and John Evelyn’s (entries from 1640 to 1706) diaries. 21 DEFOE, 2005b [1704], p. 72.

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In addition to this kind of general description, the texts also include accounts of particular incidents. A Vicar from Fairford, Gloucester writes: One instance of Note ought not to be omitted; on Saturday the 26th, being the day after the Storm, about 2-a-Clock in the Afternoon, without any previous warning, a sudden flash of Lightning, with a short, but violent clap of Thunder, immediately following it like the Discharge of Ordnance, fell upon a new and strong built House in the middle of our Town, and at the same time disjointed two Chimneys, melted some of the Lead of an upper Window, and struck the Mistress of the House into a Swoon[.]22

It would be interesting to know if Defoe was inspired to use the diary technique in his own chapters that he had seen in the letters he had received from the eyewitnesses to the tempest. In the first years of the Review’s publication, Defoe’s main subject was European history, but John Richetti emphasizes that Defoe’s work as a journalist ultimately gave day-to-day issues precedence over anything else. 23 Maximillian E. Novak observes that in the Review Defoe was following through his efforts to write an authentic version of present-day history. 24 Defoe’s interest in history and everyday life makes it possible to understand why he became preoccupied with the storm and its effects. As noted earlier, Defoe presents himself as an historian in The Storm. In the preface he discusses the historian’s role as an editor and commentator. He is no longer the universal narrator of a unified story, but a person who has selected materials from the available sources and presents the facts as they are known. The historian becomes a collector of incidents and observations, which he puts before his readers. 25 Defoe also addresses the difference between speech and writing as he compares sermons to books: The Sermon is a Sound of Words spoken to the Ear, and prepar’d only for present Meditation, and extends no farther than the strength of Memory can convey it; a Book Printed is a Record; remaining in every Man’s Possession, always ready to renew its Acquaintance with his Memory, and always ready to

22 23 24 25

DEFOE, 2005b [1704], p. 74. RICHETTI, 1987, p. 20f. NOVAK, 2001, p. 220. SUERBAUM, 1990, p. 269.

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Aino Mäkikalli be produc’d as an Authority or Voucher to any Reports he makes out of it, and conveys its Contents for Ages to come, to the Eternity of mortal Time, when the Author is forgotten in his Grave.26

Here he prefers the form of the written word to the spoken word, as the former will continue to exist in the future and can be approached again, unlike the spoken sermon. Defoe’s method of collecting his material and presenting it to the reader resembles the approach of an empiricist, who observes his topic closely, collects first-person materials and then records his observations. According to Richetti, when he wrote An Essay Upon Projects Defoe’s point of view was already empirical, as he offered arguments from experience and observed fact.27 Novak argues that Defoe was attempting to provide something along the lines of a scientific account of the course and effects of the storm. 28 As a result, Defoe began to write history and in doing so, he created a new narrative technique. This raises the question how history and the past are conveyed and understood and how the empirical “matters of fact” are structured within the narrative. At the turn of the eighteenth century, historiographers’ narratives emphasized chronology and truth-telling, or ‘facts’, thus emphasizing the exactness and realism of temporal narrative presentation. 29 However, these historians also used fiction as a form of historical representation. In the preface to The Storm Defoe refers to this practice: I confess here is room for abundance of Romance [fiction], because the Subject may be safer extended than in any other case, no Story being capable to be crowded with such Circumstances, but Infinite Power, which is all along concern’d with us in every Relation, is suppos’d capable of making true.30

Nevertheless, Defoe also knows his limits: “Yet we shall no where so Trespass upon Fact, as to oblige Infinite Power to the shewing [sic] more Miracles than it intended.”31 26 27 28 29 30 31

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DEFOE, 2005b [1704], p. 3. RICHETTI, 1987, p. 20. NOVAK, 2001, p. 220. SHAPIRO, 2000, p. 34-62. DEFOE, 2005a [1704], p. 6. IBID.

Approaching History and Fiction

In fact, one of the characteristics of The Storm is the use of a personal authorial voice, which presents the general notions of the tempest as well as the private letters of the eyewitnesses. As Ulrich Suerbaum has argued, the main instrument to make the text readable and to bind the various sections together is the narrator’s own persona, which is variously called “The Collector of these Sheets” (26), “the Editor of this Account” (30), “The Author of this Relation” (30) and “an Eye-witness and Sharer of the Particulars” (64). The narrator is thus a mediator between the witnesses and the reader. 32 This is not so far removed from the idea of the narrator in a novel. Robert Mayer maintains that Defoe increasingly used a fictionalized narrator in his historical texts, but The Storm does not yet have such a fictionalized narrator.33 In his first historical account Defoe basically followed the method of the antiquarian historiographers, but later gradually shifted to long, detailed historical narratives in which the issue of fact and fiction became more distinct.

Fiction as If It Were True In the first half of the eighteenth century the word fiction had several meanings. In Samuel Johnson’s Dictionary (1773 edition) the word literature is defined as “learning”, some kind of skill, which was represented by “the men of letters”. 34 Fiction is defined in three ways by Johnson: as action – inventing, pretension, fabling –, as “a fable” and as “a lie”. 35 The word ‘imagination’, or ‘imaginary’, is not mentioned anywhere in these definitions. It was not until the last half of the eighteenth century that the concepts of literature and fiction stabilized to refer to narratives and their imaginary contents. The authors who wrote imaginary stories began to feel disturbed with the label of “liar”, which they were sometimes called.36 Earlier writers of imaginary narratives had described amazing events in their stories, miraculous escapes and other unbelievable incidents that could not possibly happen in real life. At the beginning of the eighteenth century this changed as the writers of 32 33 34 35 36

IBID. MAYER, 1997, p. 160, 163. JOHNSON, 1852 [1773], p. 704. IBID., p. 457. For instance, Jean LeClerc claims poets to be pleasant but dangerously seductive liars. See STEWART, 1968, p. 112.

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prose narratives focused more and more on everyday life, ordinary people and events that could be true and happen in reality. Prose narratives should have vraisemblance, verisimilitude. The events should be placed in locations that were familiar to the readers, such as London or Paris, and the chosen periods of narration grew closer to the readers’ own time. In other words, the action took place in the near past and in milieus the readers knew. The narratives also focused on a single hero or heroine, which emphasized the role of the individual as the central figure of the novel.37 These characteristics are clearly present in Defoe’s novels. His stories are set in well-known locations in London and its surroundings as well as in England, Holland and France. They also focus on one central character, also mentioned in the titles of the novels. The stories take place in the near past, in the late seventeenth or early eighteenth century. This makes time and place in Defoe’s novels particular; they are not unreal and beyond historical reality but familiar to contemporary readers. Even the overseas lands described in Robinson Crusoe (1719) were known to the public from the existing travelogues, newspaper articles and increasing colonial trade. The first pages of these narratives often claimed the stories to be true, or histories of fact. Aphra Behn’s prose narrative Oroonoko, or the Royal Slave: A True History (1688) provides an early example of this practice. The title itself announces the story to be true, although it presents an invented love story between an African prince and princess written in the manner of romance narratives. Yet the first pages of the book claim: “I was my self an EyeWitness to a great part, of what you will find here set down; and what I cou’d not be Witness of, I receiv’d from the Mouth of the chief Actor in this History, the Hero himself”.38 Behn’s narrative is mostly placed in the Dutch colony of Surinam, the nature and culture of which are depicted in detail at the beginning of the story. Similarly, the prefaces of Defoe’s novels claim the stories to be true, rather than imaginary. In Robinson Crusoe there is a note: “The Editor believes the thing to be a just History of Fact; neither is there any Appearance of Fiction in it”.39 Roxana’s preface announces: “[T]his Story differs from most of the Modern Performances of this Kind, […] Namely, That the Foundation of This is 37 About the realism and vraisemblance in the early eighteenth-century novels, see WATT, 1983 [1957]; DAVIS, 1983, p. 28-30. 38 BEHN, 1997 [1688], p. 8. 39 DEFOE, 1994 [1719], p. 3.

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laid in Thruth of Fact; and so the Work is not a Story but a History”.40 Moll Flanders brings forward the worry of being taken seriously: “The World is so taken up of late with Novels and Romances, that it will be hard for a private History to be taken for Genuine”. 41 These prefaces demonstrate how the questions of truth and fiction became reevaluated. Although the historian had the duty of telling the truth, thus Defoe, and historical “matter of fact” implied the rejection of fable, myth, and fiction, a clear demarcation between history and fiction did not yet exist at the turn of the eighteenth century. For instance, some of the romances and Arthurian tales were often presented as history and it was not unusual for historians to borrow ‘ornaments’ and some of their substance from poets. 42 But the distinction between history and fiction was gradually becoming sharper. Historians characterized themselves as witnesses who provided eyewitness testimony. In General History of the Pyrates (1713) Defoe wrote: “Facts which he himself was not an Eye-witness of, he had taken from the authentick Relations of the Persons concerned in taking the Pyrates, as well as from the Mouths of the Pyrates themselves.”43 Historians demanded eyewitnesses, but imagined events became the source of prose fiction. The two discourses of fiction and history thus began to separate and signify their modern meaning of imaginary and ‘factuality’. Literary scholar Robert Mayer has presented an astute analysis of the development of the novel in England in the eighteenth century. According to his study History and Early English Novel. Matters of Fact from Bacon to Defoe (1997), the modern novel developed when the historiographical discourse developed into two separate discourses, the “matter of fact” discourse of history and the fictional discourse of the novel. Mayer bases this theory of the rise of the novel on Baconian historiography, which was grounded on memory but also on sources which could be true, such as polemic, gossip, and possible events.44 Mayer claims that Defoe’s writings manifest this detachment. Defoe was an accomplished Baconian historian, which meant that he recorded facts but he was also a writer who used fiction in his works of history.45 Gradually Defoe developed his historiographical method towards a narrative that told a 40 41 42 43 44 45

DEFOE, 1974 [1724], p. vii. DEFOE, 1973 [1722], p. 3. SHAPIRO, 2000, p. 40. Cit. IBID., p. 43. MAYER, 1997, p. 4. IBID., p. 160.

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story. And in his prose fiction he began to tell stories that only could be true. The novel thus developed into the direction of the verisimilitude and realism that were familiar from contemporary historiography. In The Storm, Defoe practiced with a narrative technique that put forward the particularized temporality, the handling of complex structures of space and time, and a use of varied voices and multiple points of view. The Storm presents firsthand eyewitness accounts, “matters of fact” that can be seen as a signal of the modern historiographical representation. However, in this work Defoe also claims that “the Winds are a Part of the Works of God by Nature”.46 Yet this particular narrative does not clearly put forward the idea that the storm could and perhaps ought to be taken as a token from heaven and as a sign of the final judgment. Instead, it’s a historiographical work, with the purpose of recording, for future generations, extraordinary things that happened to ordinary people. This day-to-day, hour-by-hour method of narration was adapted for Defoe’s fictional writing. His novels reveal how the realism of everyday life written by historians transformed into fictional narratives, which could be true and happen to contemporary people. Defoe’s writings thus reveal the close relationship between historiography and fiction.

Works Cited Primary Sources BEHN, APHRA, Oroonoko, or, The Royal Slave. A True History, NewYork/ London 1997 [1688]. DEFOE, DANIEL, An Essay upon Projects. The Project Gutenberg Ebook no. 4087, ed. by HENRY MORLEY, 2014 [1697]. ID., The Lay-Man’s Sermon upon the Late Storm, in: The Storm, ed. by ID., London 2005a [1704]. ID., The Storm: or, a Collection of the Most Remarkable Casualties and Disasters which Happened in the Late Dreadful Tempest, Both by Sea and Land, in: The Storm, ed. by ID., London 2005b [1704]. ID., The Storm: An Essay, in: The Storm, ed. by ID., London 2005c [1704].

46 DEFOE, 2005b [1704], p. 17.

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Von der Paralogie zum Widerstreit Jean-François L yotard und die Geschichtsw issenschaft im Spiegel der (Post)-Moderne 1 CHRISTIAN STERNAD Der vorliegende Artikel befasst sich mit der Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die sog. Postmoderne. Um ein besseres Verständnis über die Begrifflichkeit und die konkreten Herausforderungen zu gewinnen, konzentrieren sich die Ausführungen auf jene theoretisch konsistente Theoriebildung, wie sie von Jean-François Lyotard in seinen zwei maßgeblichen Werken Das postmoderne Wissen und Der Widerstreit formuliert wurde. Die Postmoderne ist für Lyotard durch eine Skepsis gegenüber den großen Erzählungen gekennzeichnet, welche jegliche Form des Wissens legitimieren. Im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen steht die Geschichtswissenschaft in einem besonderen Verhältnis zu diesen Erzählungen, was zugleich die Chancen wie auch die Schwierigkeiten anzeigt. Die entscheidende Herausforderung der Geschichtswissenschaft betrifft dabei jedoch weniger die narrative Darstellung historischen Wissens, als vielmehr den Status der Geschichte als Wissenschaft.

1

Die Zurückhaltung gegenüber dem uneingeschränkten Gebrauch des Begriffs der Postmoderne soll anzeigen, dass der dadurch implizierte Bruch zwischen Moderne und Post-Moderne keineswegs als ausgemacht gilt. Vielmehr erscheint es plausibler, die kritische Wendung der Moderne auf sich selbst noch als Akt bzw. Effekt der Moderne zu begreifen.

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Einleitung In der Landschaft der Geschichtstheorie ist mancherorts von einer „Herausforderung“ 2 der Geschichtswissenschaft durch die sog. Postmoderne zu hören. Diese Herausforderungen scheinen so gewichtig, dass sie in keiner Einführung über die theoretischen Grundlagen der Geschichtswissenschaft mehr fehlen dürfen.3 Stefan Jordan verwendet bspw. in seiner Theorie und Methoden der Geschichtswissenschaft von insgesamt 225 Seiten ganze 65 zur Klärung dieser Fragestellung. 4 Überdies schaukelte sich jenseits von sachlich-neutraler Diskussion der Streit um diese Thematik demgemäß hoch, sodass sogar von einem „Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft“5 die Rede war. Hans-Jürgen Goertz spricht in seiner Abhandlung Unsichere Geschichte gar von einem „Sturm der sogenannten Postmoderne“, der „von Westen her aufgezogen ist und die altehrwürdig-knorrigen Bäume der historischen Wissenschaft entwurzelt“ habe.6 Dieser Sturm scheint derart gewaltig zu sein, sodass sich so mancher Historiker zu einer „Verteidigung der Geschichtswissenschaft“7 genötigt fühlt oder sich gar am Rande des Abgrunds wähnt.8 Über Existenz und Berechtigung dieser Herausforderungen besteht jedoch keineswegs Einigkeit. So nimmt sich so mancher Historiker auch das Recht zur Frage heraus, wo denn diese angebliche Krise überhaupt sei und worin sie bestünde. 9 Andernorts erscheint die Krise dann doch nicht so fundamental, sodass von „gebremster Herausforderung“10 die Rede ist. Mancherorts scheint die Krise schließlich so klein zu sein, sodass sie sich nicht einmal in einschlägigen Publikationen zur Theorie der Geschichtswissenschaft niederschlägt. Dies mag mitunter daran liegen, dass man als Historiker nicht so genau weiß, worin diese Herausforderungen, die Krisen, die Stürme bestehen, welches die entscheidenden Stoßrichtungen sind und woher sie überhaupt kommen.11

2 3 4 5 6 7 8 9 10 11

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CONRAD/KESSEL, 1994, S. 9; GOERTZ, 2001, S. 9. Vgl. KOLMER, 2008, S. 83-92; JORDAN, 2013, S. 150-215. EBD. KIESOW/SIMON, 2000. GOERTZ, 2001, S. 8. EVANS, 1998 [1997]. GRAFTON, 2000, S. 48-58. WERNER, 2000, S. 128-141. HABERMAS, 2000, S. 59-70. Peter Schöttler hatte damals als einer der ersten versucht, diese Herausforderungen für die Geschichtswissenschaft zu verdeutlichen und im Sinne eines Gesprächsan-

Von der Paralogie zum Widerstreit

Es stellt sich nach der raschen Abfolge von linguistic turn, cultural turn, iconic turn und vielen weiteren turns ferner die Frage, welchem turn man sich denn nun zuerst zuwenden soll. Auch das Begriffsdünkel der sog. Herausforderungen verhindert ein Erfassen der Stoßrichtungen: ‚postmodern‘, ‚poststrukturalistisch‘, ‚dekonstruktiv‘, ‚postindustriell‘, ‚posthistorisch‘; oder wie JeanFrançois Lyotard diese Inflation der Neologismen gewitzt kommentiert: „Neodies, Neo-das, Post-dieses, Post-jenes“12. So ungenau diese Begriffe sind, so sehr eignen sie sich dazu, allerlei theoretische Auswüchse aufzufangen, womit Umberto Eco letztlich nicht fehl geht, wenn er die Art dieser Begriffe als „Passepartoutbegriff“13 kennzeichnet, da sie für nahezu allerlei Unbehagen an der Geschichtswissenschaft einen terminologischen Container bilden. Die ‚Herausforderungen‘ scheinen dennoch ob der Präsenz mittlerweile lang anhaltender Diskussionen von ernstzunehmendem Charakter zu sein. Leider lässt sich mit diesen Herausforderungen nur schwer umgehen, wenn man nicht weiß, womit man es genau zu tun hat. Vor diesem Hintergrund haben die folgenden Ausführungen ein bescheidenes Anliegen: Sie wollen sich der Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die sog. Postmoderne zuwenden und prüfen, worin diese Herausforderungen bestehen könnten. Dabei konzentrieren sich die Ausführungen vor allem auf jenen Begriff der Postmoderne, welcher sich weniger am Maß der feuilletonistischen Zirkulation als vielmehr dem Grad der theoretischen Durchdringung orientiert. Gemeint ist also jener Begriff der ‚Postmoderne‘, wie er von Jean-François Lyotard erstmals in La condition postmoderne (dt. Das postmoderne Wissen) theoretisch gebildet und durchdrungen wurde. Ausschließlich von jenem sicheren Fundament aus, so scheint es, lässt sich eine daraus entspringende Herausforderung der Geschichtswissenschaft durch die Postmoderne in den Blick bringen.

gebots aufzubereiten. Vgl. den allzu bekannten Aufsatz: „Wer hat Angst vor dem ,linguistic turn‘?“ (SCHÖTTLER, 1997) 12 LYOTARD, 1989 [1983], S. 12. 13 ECO, 1984 [1983], S. 77.

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Der Begriff der Postmoderne: Jean-François Lyotard und Das postmoderne Wissen Im Jahr 1979 wurde dem bisher disparaten Feld verwirrender und vor allem feuilletonistischer Postmoderne-Begriffsbildungen zum ersten Mal ein theoretischer Begriff durch Jean-François Lyotards La condition postmoderne (dt. Das postmoderne Wissen) entgegengestellt. Dabei war es keineswegs Lyotards Absicht, auf die damaligen öffentlichen, künstlerischen bzw. geisteswissenschaftlichen Bewegungen einzugehen. Vielmehr handelte es sich beim postmodernen Wissen zum einen um eine – aus Lyotards Perspektive – Gelegenheitsarbeit und überdies um eine Auftragsarbeit, welche er auf Wunsch des Präsidenten des Universitätsrats der Regierung von Québec unternahm.14 Dies zu erwähnen, ist nicht unwichtig, da sich Lyotard im Nachhinein zunehmend vom Stil dieser Arbeit distanzierte, weil die sich überschlagende Rezeption sich nicht mit dem vorläufigen Gelegenheitscharakter des Textes vereinbaren ließe. Zum anderen erschienen Lyotard selbst seine Ausführungen als noch zu wenig theoretisch fundiert15 – „es waren einfache Skizzen, eher schlechte…“16 –, was letztlich 1983 zur Ausarbeitung seines „zweiten Hauptwerks“ Le Différend (dt. Der Widerstreit) führte. Der Anspruch der Studie, welche zuerst 1982 im Rahmen einer Wiener Zeitschrift17 erschien und erst im Nachhinein in den Rang einer eigenständigen Publikation gelangte, war gemäß den Anforderungen des Universitätsrats folgender: Es sollte eine Studie vorgelegt werden, welche die Ausformungen des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften einer Analyse unterzog. Dabei sollte das Augenmerk vor allem auf zukünftige Entwicklungen und die damit verbundenen eventuellen Gefahren gerichtet werden, welche sich aus dem Komplex von Wissenschaft, Technik, Politik, Kultur, Alltag, Kunst, und vielem mehr aller Wahrscheinlichkeit nach ergeben. Lyotard geht diese umfassende Frage äußerst logisch und systematisch an: Um zu klären, welche Entwicklungen und Ausformungen dem Wissen in Zukunft wohl bevorstehen mögen, muss zuerst eine Lagebestimmung über die aktuelle Form des Wissens geleistet werden. Lyotard nimmt hierbei explizit auf die soziologischen und kulturwissenschaftlichen Analysen seiner Zeit Bezug, vor allem jedoch auf die 14 15 16 17

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LYOTARD, 1986 [1979], S. 9. Vgl. WELSCH, 2002, S. 230; LYOTARD, 1985, S. 19. LYOTARD, 1985, S. 19. Zit. n. ENGELMANN, in: LYOTARD, 1986 [1979], S. 9.

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Themenkomplexe, welche von Alain Tourraine und Daniel Bell als „nachindustriell“ bzw. „postindustriell“ gekennzeichnet wurden, ebenso auf jene Bereiche, welche von Ihab Hassan und Michael Köhler „postmodern“ bzw. „postmodernistisch“ genannt werden.18 Es ist an dieser Stelle also darauf hinzuweisen, dass es sich bei dem Begriff der ‚Postmoderne‘ in Lyotards Fall keineswegs um eine Neuschöpfung des Wortes handelt, wie bspw. Lothar Kolmer in Geschichtstheorien annimmt,19 sondern dass er ganz bewusst an die zeitgenössischen (und auch nicht ausschließlich wissenschaftlichen) Analysen anschließt. Lyotard selbst bemerkt hierzu in der Einleitung: Die Untersuchung hat die Lage des Wissens in den höchstentwickelten Gesellschaften zum Gegenstand. Man hat sich entschieden, sie ,postmodern‘ zu nennen. Dieses Wort ist auf dem amerikanischen Kontinent, bei Soziologen und Kritikern gebräuchlich. Es bezeichnet den Zustand der Kultur nach den Transformationen, welche die Regeln der Spiele der Wissenschaft, der Literatur und der Künste seit dem Ende des 19. Jahrhunderts getroffen haben.20

Nach Lyotard steht jede Form des Wissens und damit einhergehend jede Ausformung der Wissenschaft stets unter dem Anspruch der Legitimation.21 Zum einen muss Wissen, sofern es Wissen sein will, seinen Status als solches legitimieren können. Es muss zeigen können, dass es sich um ‚Wissen‘ handelt und nicht lediglich um Meinung oder bloße Erzählung22 – gerade dies wird dann für die Geschichtswissenschaft besonders zentral. Zum anderen muss sich auch die Methode, welche zu diesem Wissen gelangen will, als solche 18 19 20 21

LYOTARD, 1986 [1979], S. 19. KOLMER, 2008, S. 88. LYOTARD, 1986 [1979], S. 13. Es ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass Lyotard zwischen dem Wissen und der Wissenschaft einen Unterschied macht. Er schreibt hierzu: „Das Wissen im allgemeinen reduziert sich nicht auf die Wissenschaft, nicht einmal auf die Erkenntnis. Die Erkenntnis wäre bei Ausschluß aller anderen die Menge jener Aussagen, die Gegenstände bezeichnen oder beschreiben und fähig sind, als wahr oder falsch erklärt zu werden. Die Wissenschaft wäre eine Teilmenge der Erkenntnis.“ (EBD., S. 63f.) Es scheint mir jedoch dennoch gerechtfertigt, in Bezug auf die Legitimation diese beiden Begriffe zusammenzunehmen, da sie meines Erachtens beide unter derselben Legitimationsanforderung stehen. 22 Im Sinne der im Kontext des linguistic turn geführten Diskussion um Geschichte als ‚Wissenschaft oder Erzählung‘.

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legitimieren. Kein Wissen und keine Wissenschaft sind frei von diesem Anspruch der Legitimation, damals wie heute, in der Moderne wie in der Postmoderne. Damit soll gesagt sein, dass sich die heutige Zeit nicht durch die fehlende Legitimation auszeichnet, sondern durch die Art und Weise der Legitimation. Lyotard schreibt: „[D]er auffallende Zug des postmodernen Wissens besteht in der […] Immanenz des Diskurses über die Regeln, die seine Gültigkeit ausmachen.“23 Lyotard zufolge zeichnet sich somit die heutige Wissenschaft dadurch aus, dass sie in der Besprechung ihrer Themen stets zugleich auch die Gültigkeit der Art der Themenbesprechung verhandelt. Dies ist deshalb der Fall, da kein Wissen und keine Wissenschaft jemals frei von dieser Legitimation sind, da sich das Wissen bzw. die Wissenschaft nicht immanent legitimieren kann. Diese Einsicht ist gleichzeitig banal wie weitreichend: Wenn sich nun kein Wissen immanent und mit den Mitteln seiner selbst rechtfertigen kann, so bedarf es stets einer externen Instanz, die zum einen das Wissen und zum anderen die Methode, um zu diesem zu kommen, legitimiert. Lyotard zufolge wird dies durch sog. „Metaerzählungen“ 24 bzw. „Metadiskurse“ 25 geleistet. Unter „Metaerzählungen“ versteht Lyotard kurzum Erzählungen – er nennt sie an einer Stelle auch ein wenig untergriffig „Fabeln“26 –, welche in gewisser Hinsicht transzendentale Leitlinien darstellen, an welchen sich das Wissen und insofern die Wissenschaft orientiert und ausrichtet. Als Beispiele solcher großen Erzählungen fasst Lyotard „die Dialektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden Subjekts“27. Diese Aufzählung darf dabei nicht als vollständig oder letztgültig aufgefasst werden, da Lyotard immer wieder neue Versuche der Identifizierung von Großerzählungen unternommen hat.28 Die Moderne, gegen welche sich nun Lyotards Begriff der Postmoderne bzw. seine Deskription der heutigen Geistesverfassung als postmoderne Verfassung29 absetzt, ist also jene, welche diesen großen Erzählungen noch Glau23 24 25 26 27 28 29

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EBD., S. 159. EBD., S. 102. EBD., S. 109. EBD., S. 13. EBD. Vgl. exemplarisch LYOTARD, 1987 [1986], S. 40. Ich interpretiere hier die französische Wendung der condition postmoderne etwas freier mit ‚postmoderner Verfassung‘. Die deutsche Übersetzung gibt die Bezeichnung vielleicht etwas irreführend mit Das postmoderne Wissen wieder. Auch Welsch spricht in seinen Ausführungen manchmal von einem „Geistes- bzw. Ge-

Von der Paralogie zum Widerstreit

ben schenkt: „Wenn dieser Metadiskurs explizit auf diese oder jene große Erzählung zurückgreift […], so beschließt man, ,modern‘ jene Wissenschaft zu nennen, die sich auf ihn bezieht, um sich zu legitimieren.“30 Als ‚postmodern‘ firmiert in der Folge nun jene geistige Verfassung, welche den großen Legitimationserzählungen mit Skepsis begegnet bzw. für welche geistige Verfassung jene großen Erzählungen „ihre Glaubwürdigkeit verloren“ 31 haben. Lyotard schreibt: „Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den Metaerzählungen für ,postmodern‘.“32 Was hat nun diese Skepsis gegenüber den Metaerzählungen zur Folge? Da sich Wissen immer legitimieren muss und sich nicht immanent legitimieren kann, ist es stets auf eine externe Instanz angewiesen, die jedoch selbst wiederum nicht den Regeln der Wissenschaft entspricht: „Das wissenschaftliche Wissen kann weder wissen noch wissen machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen – die Erzählung – zurückzugreifen, das ihm das Nicht-Wissen ist“33. Ist nun diese Instanz, sei es in Form einer Erzählung, in Form einer Ideologie oder ganz praktisch in Form einer Institution, verloren gegangen oder zumindest in Zweifel gezogen, so kommt es zu einer umfassenden „Delegitimierung“34 des damit verbundenen Wissens und der damit verbundenen Wissenschaft. Kann keine neue Instanz gefunden werden, welche als Legitimationsgeberin fungieren kann, so werden in jenem Moment alle Formen des Wissens gleich richtig bzw. gleich falsch und es gibt keine verbindliche Organisationsmitte des Wissens mehr. Kennzeichnend für die postmoderne Verfassung ist also nach Lyotard ein Zustand, in welchem eine Vielzahl der Erzählungsformen und Legitimationsmodelle nebeneinander bestehen können, ohne sich gegenseitig auszuschließen, die allesamt gleichermaßen legitim sind, weil sie auf keiner höheren Ebene verhandelt werden können. Diesen Zustand der Vielsprachigkeit nennt er gegen Ende von La condition postmoderne die „Paralogie“35. Die Frage, was diese Paralogie bedeutet und wie mit diesem Zustand umzugehen ist, wird in seinem späteren Hauptwerk Le Différend genauer expliziert, worauf jedoch

30 31 32 33 34 35

mütszustand“ (WELSCH, 2002, S. 148) oder auch von der „Verfassung“ (EBD., S. 4). LYOTARD, 1986 [1979], S. 13f. EBD., S. 112. EBD., S. 14. EBD., S. 90. Vgl. EBD., Kap. 10. EBD., S. 173.

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erst an gegebener Stelle ausgiebiger eingegangen werden soll. Wichtig ist somit nun, dass der Begriff der ‚Postmoderne‘ bei Lyotard einen Zustand des momentanen Wissens bzw. der momentanen Geistesverfassung beschreibt, in welcher das Wissen und die Methode, zu Wissen zu kommen, in einer Legitimationskrise stecken und es in der Folge zu einer Vielsprachigkeit gleichberechtigter Legitimationsmodelle kommt. Wolfgang Welsch hat diesen Verfassungszustand in Lyotards Analyse, auf welche er sich in seiner Bestimmung der Postmoderne hauptsächlich beruft und an welche er inhaltlich anschließt, als eine Verfassung „radikaler Pluralität“36 gekennzeichnet. Dies sei an dieser Stelle abschließend nur deshalb angemerkt, weil Welsch vor allem für die Rezeption im deutschen Sprachraum prägend war und viele der deutschen Kritiker sich auf die Vermittlung der Postmoderne durch Welsch beziehen. 37 Mithin handelt es sich bei Welschs Konzept der Postmoderne also keineswegs um eine creatio ex nihilo. Vielmehr hat diese ihren wohlbegründeten Ursprung in Lyotards Analysen in La condition postmoderne und dann weiterführend in Le Différend gefunden.

Von der Paralogie zum Widerstreit Lyotard ging in der Studie La condition postmoderne von der Annahme aus, dass jede Form von Wissen unter dem Anspruch der Legitimation steht. Das Wissen muss, wenn es übergreifende und nicht lediglich regionale Gültigkeit beanspruchen will, stets seine Legitimität unter Beweis stellen können. Wenn Wissen transzendentalen, also übergreifenden Anspruch erheben will, so muss seine Legitimation ebenso transzendental ansetzen. Natürlich wäre es ein Leichtes, regionales Wissen regional zu begründen. Es dürfte bspw. kaum Mühe bereiten, einen Holocaust-Forscher inmitten der Dokumente von der Tatsächlichkeit der Gaskammern zu überzeugen; jedoch wird dies schon schwieriger, wenn es darum geht, die darzustellenden Umstände Menschen näherzubringen, die sich nicht innerhalb desselben Erklärungskontextes befin36 WELSCH, 2002, S. 4. 37 So rekurriert etwa der Sammelband Geschichte schreiben in der Postmoderne von Christoph Conrad und Martina Kessel auf die Postmoderne als jene „Verfassung radikaler Pluralität“ (CONRAD/KESSEL, 1994, S. 16f). Leider verzichten die Verfasser dabei auf einen expliziten Verweis auf Wolfgang Welschs Arbeit – vermutlich deswegen, weil diese Begriffsbildung zum Zeit der Abfassung dieser Einleitung 1994 omnipräsent war.

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den. Nicht umsonst setzt Lyotards Le Différend direkt – für so manchen Leser eines philosophischen Buches ein wenig unvermittelt und zu direkt – mit der sog. Faurisson-Debatte und dessen Leugnung der Existenz der Gaskammern ein.38 Damit also Wissen auch transzendentale Gültigkeit besitzen kann, muss es sich auch transzendental legitimieren können. Eine solch transzendentale Legitimation ist Lyotard zufolge nur anhand übergreifender Erzählungen möglich, welche Lyotard „Metaerzählungen“ 39 nennt. Den Analysen Lyotards in La condition postmoderne zufolge zeichnet sich jedoch gerade die postmoderne Geistesverfassung dadurch aus, dass diese übergreifenden „Metaerzählungen“ ihre Glaubwürdigkeit verloren haben. Lyotard hebt diesen Umstand in einem Interview hervor: „Diese Veränderung ist grundlegend. Die Gelehrten erzählen Geschichten, die überhaupt nicht vereinheitlicht sind. […] Es gibt nur lokale Determinismen, es gibt nur kleine Erzählungen.“ 40 Dies bedeutet natürlich nicht, wie oft fälschlicherweise angenommen wird, dass das Zeitalter der postmodernen Geistesverfassung keine Metaerzählungen mehr kennt – es bedeutet vielmehr, dass diese Großerzählungen ihre Überzeugungskraft verloren haben. Haben nun jene Metaerzählungen ihre Glaubwürdigkeit verloren, so kommt es zu einer umfassenden „Delegitimation“ 41 aller Wissensbereiche, weil eine transzendentale Gültigkeit nicht mehr beansprucht werden kann. Die Wissensbereiche schrumpfen sozusagen auf ihre kleinsten Einheiten zusammen, ohne dass sie in ein übergreifendes Netz eingesponnen werden könnten. Die verschiedenen Wissensbereiche greifen damit nicht mehr wie ein Rad in das andere und vervollständigen sich zu einem höheren Zweck, sondern stehen sich vielmehr entweder unvermittelt im Sinne der Para-Logie, im schlimmsten Fall feindlich im Modus einer prinzipiellen „Agonistik“42 gegenüber. Es gibt nun also eine Situation grundlegender Vielfalt, welche nicht auf einer höheren Ebene in eine Einheit gebracht werden kann. Die anti-hegelsche Stoßrichtung dieser Konzeption ist hier mehr als deutlich. Gegen Ende von La condition postmoderne hatte Lyotard diesen Umstand noch als „Paralogie“43 bezeichnet und inhaltlich grob angedeutet; ein Zustand, in welchem eine Vielzahl von 38 39 40 41 42 43

LYOTARD, 1989 [1983], S. 17-25. LYOTARD, 1986 [1979], S. 102. LYOTARD in ENGELMANN, 1985, S. 122. Vgl. LYOTARD, 1986 [1979], Kap. 10. EBD., S. 40. EBD., S. 173.

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Aussagen nebeneinander bestehen kann, ohne sich dabei auszuschließen, da die höhere Ebene fehlt, auf welcher dieser Ausschluss stattfinden könnte. Zusammenfassend kann man sagen, dass Lyotard diesem Zustand in La condition postmoderne noch eher wohlwollend begegnet, da die dadurch freigegebenen Möglichkeiten eröffnende Wirkungen (sozial, politisch, künstlerisch etc.) in Aussicht stellten. In seinem zweiten Hauptwerk Le Différend scheint Lyotard diese Agonistik der Paralogie zu radikalisieren. Die Paralogie schien in La condition postmoderne noch einen Zustand zu bezeichnen, in welchem die „Para-Aussagen“44 nebeneinander bestehen konnten, ohne sich gegenseitig zu tangieren. Dabei konnte zwar die Verfassung „radikaler Pluralität“45, in welcher alle Formen des Wissens und in der Folge jeglicher darauf basierende Lebensentwurf als gleich legitim zu bewerten sind, erklärt werden. Offen geblieben ist jedoch die Frage, wie im Falle eines Konfliktes (und nicht eines reibungslosen Nebeneinanders) zu handeln ist. Welsch beurteilt Lyotards Le Différend somit folgerichtig als „Bearbeitung eines im Postmodernen Wissen offen gebliebenen Problems“46 und interpretiert Lyotards angestrebten Versuch als eine „postmoderne Gerechtigkeitskonzeption“47. Diese Auslegung scheint mehr als berechtigt: Lyotard versucht sich dem Problem zu stellen, wie in konkreten Konflikten unter der Prämisse der „Unmöglichkeit der Vermeidung von Konflikten“48 einerseits und angesichts des gleichzeitigen „Fehlens einer universalen Diskursart“49 andererseits zu handeln ist. Um dies zu erklären, geht Lyotard den Weg einer sprachphilosophischen Analyse, in welcher er sich hauptsächlich auf die späteren Ausführungen Ludwig Wittgensteins in dessen Philosophischen Untersuchungen50 und den Nachlassschriften bezieht. 51 Die in Le Différend zugrundeliegende methodische 44 45 46 47 48 49 50 51

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LYOTARD in ENGELMANN, 1985, S. 119. WELSCH, 2002, S. 4. EBD., S. 227. Vgl. EBD., Kap. VIII. LYOTARD, 1989 [1983], S. 11. EBD. WITTGENSTEIN, 1999. LYOTARD, 1989 [1983], S. 12. Da Lyotard diesen ‚Wink‘ explizit in dem Le Différend vorangestellten „Merkzettel“ (EBD., S. 9-16) erwähnt, verwundert es umso mehr, dass Welsch in der sonst so scharfen Analyse behaupten kann: „Lyotard entfaltet das Thema der Pluralität wiederum auf sprachphilosophischer Basis, aber jetzt in eigenständigerer, nicht mehr an Wittgenstein orientierter Form.“ (WELSCH, 2002, S. 230).

Von der Paralogie zum Widerstreit

Herangehensweise besteht darin, die überall auftretenden Agonismen aus Perspektive der Sprachwissenschaft zu veranschaulichen und auszudrücken. Entscheidend ist dabei, dass immer Sätze geäußert werden bzw. werden müssen. Es ist somit ein Faktum, dass „[e]in Satz ,geschieht‘“52, wobei es keine Sicherheit über die Verkettung der veräußerten Sätze gibt. Kurz und vielleicht klarer ausgedrückt: „die Verkettung [der Sätze] ist zwingend, die Art und Weise [der Verkettung] kontingent.“53 Es gibt verschiedene Regelsysteme und in jedem Regelsystem werden Sätze anders miteinander verknüpft; Lyotard nennt diese Regelsysteme „Diskursarten“54. Eine übergeordnete Verkettungsregel existiert ebenso wenig wie die Möglichkeit, die Verkettung nicht fortzusetzen. Äquivalent dazu gibt es keinen Universaldiskurs, sondern vielmehr eine Vielfalt partieller Diskursarten. Es muss immer fortgesetzt werden und es wird immer fortgesetzt, denn selbst das Schweigen ist ein Sprechen, das wiederum Folgen hat.55 Abseits einer anscheinend ‚gelingenden‘ respektive in einer Diskursart legitimen Verkettung von Sätzen sind bei Konflikten zwei Arten von Streit zu unterscheiden. Gleich der erste Satz von Le Différend legt ohne Umschweife diesen Unterschied offen: „Im Unterschied zu einem Rechtsstreit wäre ein Widerstreit ein Konfliktfall zwischen (wenigstens) zwei Parteien, der nicht angemessen entschieden werden kann, da eine auf beide Argumentationen anwendbare Urteilsregel fehlt.“56 Der Rechtsstreit also ist ein Streit, in welchem auf eine beide Parteien umschließende Instanz rekurriert und somit der Streit ausverhandelt werden kann – mit all den Schwierigkeiten natürlich, welche dieser Prozess mit sich bringt (Befangenheit der Richter, Rechtssituation, etc.). Beim Widerstreit fehlt jedoch diese übergreifende Instanz und der Streit kann nicht auf höherer Ebene entschieden werden, denn „der Widerstreit ist keine Streitsache“57. Lyotard unterzieht sein eigenes früheres Denken somit einer entscheidenden Prüfung: Wie ist unter dem Anspruch nach Entscheidung zu handeln, wenn es keine übergreifende Legitimation für die Entscheidung gibt? Der Widerstreit ist somit der „instabile Zustand“, in welchem etwas nach Setzung verlangt, dabei jedoch darunter leidet, „nicht sofort ,gesetzt‘ werden zu kön52 53 54 55 56 57

LYOTARD, 1989 [1983], S. 10. EBD., S. 58. EBD., S. 9-16. Vgl. EBD., S. 9f. und 28f. EBD., S. 9. EBD., S. 28.

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nen“.58 Es nimmt daher kaum Wunder, wenn Lyotard sich gerade in der Mitte der 1980er Jahre, als es zu einer Reihe von Leugnungen und Revisionen des Holocausts kam, die nicht zuletzt auch im Kontext des Historikerstreits verhandelt wurden, diesem Kardinalproblem eines historischen Anspruchs stellt. Angesichts der Situation und der darin impliziten Verantwortung gegenüber der Geschichte muss gehandelt werden; es besteht jedoch keine Regel für die entsprechende Art und Weise dieser Reaktion. Das ist die grundsätzliche Disposition von Le Différend.

Die Legitimation der Geschichtsw issenschaft Vor dem Hintergrund der Lyotard’schen Ausführungen stellt sich folglich zum einen das Problem der Legitimation der Geschichtswissenschaft als solcher, nicht nur der in ihr geäußerten Argumente. Die Frage ist also, wie die Geschichtswissenschaft unter der Prämisse des Fehlens einer universalen Diskursart ihre Legitimität sichern kann. Die Ausführungen in La condition postmoderne legten den Verdacht nahe, dass die Geschichtswissenschaft angesichts der Legitimation durch Metaerzählungen in einen performativen Widerspruch geraten würde. „Die Wissenschaft“, so führt Lyotard dort aus, „ist von Beginn an in Konflikt mit den Erzählungen.“59 Sie muss im Rückgriff auf die großen Erzählungen ihre Legitimation unter Beweis stellen, sich zugleich aber in ihrer Verfahrensweise von der „Unwissenschaftlichkeit“ bloßer Erzählungen distanzieren. Dies ist die prinzipielle Widerspruchssituation einer jeden Wissenschaftsform, dass sie sich also nicht immanent legitimieren kann, wenn sie zugleich transzendentale Gültigkeit beanspruchen will. Im Falle der Geschichtswissenschaft scheint sich dieses Problem aufgrund ihres narrativen Grundcharakters60 zu verdoppeln. Abseits von geschichts- und wissenschaftstheoretischen Feldern – bspw. der historischen Diskursanalyse61 – leistet der Großteil der Geschichtswissenschaft Erzählungen. Die pejorative Konnotation des Begriffs der „Erzählung“ ist dabei zurückzuweisen, denn diese ist Ergebnis der Diskussion um den Geschichtsbegriff im Kontext des

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EBD., S. 33. LYOTARD, 1986 [1979], S. 13. Vgl. VEYNE, 1990 [1971]; RANCIÈRE, 1994 [1992]; WHITE, 2008 [1973]. LANDWEHR, 2004 [2001] und 2009.

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linguistic turn.62 Die Erzählung selbst hat dabei durchaus positiven Charakter. Sie ermöglicht und konstituiert ein Verhältnis zur Vergangenheit, ohne dabei die Vergangenheit als solche gleichsam herzustellen. Goertz weist zu Recht auf diese entscheidende Differenz hin: „Geschichte ist ein Versuch, ein Verhältnis zur Vergangenheit herzustellen (historia rerum gestarum), nicht die Vergangenheit als solche (res gestae).“63 Die Art und Weise jedoch, in der sie dieses Verhältnis zur Vergangenheit herstellt, ist geleitet durch die großen Erzählungen, die von Lyotard als „Metaerzählungen“ bezeichnet werden. Das Verhältnis zur Vergangenheit wird in dieser Hinsicht insofern nur demgemäß unterhalten, wie die strukturierende Kraft der Metaerzählungen dies zulässt. Dabei ist also die Legitimationsbewegung der Geschichtswissenschaft im Vergleich zu den sog. positiven Naturwissenschaften aufgrund ihres narrativen Grundcharakters eine doppelte. Sie muss ihre Erzählungen unter Rückgriff auf große Erzählungen leisten, welche den spezifischen Erzählungen der Geschichtswissenschaft wiederum ihre Legitimität zuweisen; zugespitzt könnte also formuliert werden: Erzählungen legitimieren sich durch Erzählungen. In Bezug auf die Naturwissenschaften ist dieses Verhältnis weniger greifbar, jedoch im selben Maße vorhanden und dabei nicht weniger problematisch. Der Vorteil der Geschichtswissenschaft besteht jedoch darin, dass sie mit ihren eigenen Mitteln und Werkzeugen die Metaerzählungen verunsichern kann, während bspw. die Mathematik hierzu weniger in der Lage zu sein scheint. Fasst man mit Lyotard etwa die fortwährende Emanzipation des Menschen zugleich als eine der Metaerzählungen auf, so ist mit geschichtswissenschaftlichen Methoden an dieser Metaerzählung entscheidende Kritik möglich, während dies mit naturwissenschaftlichen Methoden ungleich schwerer fallen würde. Man darf zudem an dieser Stelle nicht vergessen, dass auch jene naturwissenschaftlichen Wissensformen der Erzählung bedürfen, da, wie Lyotard zu Recht hervorhebt, die Erzählung die Form des Wissens par excellence ist.64

62 Hier ist vor allem auf die Debatten des sog. linguistic turn hinzuweisen: RORTY, 1992; für die Geschichtswissenschaft weiterführend siehe GOERTZ, 2001, Kap I. In der Geschichtswissenschaft erreichte diese Debatte ihren Höhepunkt in der Diskussion um Hayden Whites gewichtiges Buch Metahistory: WHITE, 2008 [1973]. In Bezug auf White empfiehlt sich zur Weiterverfolgung der Implikation für die Geschichtswissenschaft vor allem GOERTZ, 2001, Kap. II und PLASCHY, 2009. 63 GOERTZ, 2001, S. 118. 64 Vgl. LYOTARD, 1986 [1979], S. 67.

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Keine Form des Wissens ist nach Lyotard mehr oder weniger legitim, sondern das Problem (und gleichzeitig die Chance) ist gerade das fehlende transzendentale Kriterium für die Bewertung der Legitimation. Der zunehmenden, einseitig ausgerichteten ‚Verwissenschaftlichung‘ aller Wissensbereiche ist dahingehend mit Skepsis zu begegnen, weil dadurch Wissensbereiche anderer Diskursarten unter die vermeintliche Allgemeinverbindlichkeit der empirischen Naturwissenschaften gezwungen werden. Paul Veyne hat dies prägnant auf den Punkt gebracht: „Geschichte ist nicht diese Wissenschaft und wird es auch nie sein. […] Geschichte ist keine Wissenschaft und hat von den Wissenschaften nicht viel zu erwarten.“ 65 Die Geschichtswissenschaft kann nur schwerlich ihre Legitimität mit den Mitteln einer anderen Diskursart unter Beweis stellen, ebenso wenig wie sich die Mathematik mit den Mitteln ihrer selbst oder gar mit den Mitteln einer anderen Diskursart ausreichend legitimieren kann. Lyotard spricht in Le Différend letztlich eine entscheidende Warnung an die Geschichtswissenschaft aus, welche die Besinnung auf ihre eigene Diskursart zum Ziel hat: Negierte der Historiker diesen Umstand, so würde er sich damit selbst die Möglichkeiten zur Legitimierung aus den Händen schlagen: „Wenn der Historiker diesen Weg fortsetzt [eine andere Diskursart zu spielen], wird er sich als Opfer wiederfinden.“66

Geschicht sw issenschaft im Widerstreit Führt man diese Gedanken weiter, so befindet sich die Geschichtswissenschaft im Widerstreit mit anderen Disziplinen, wobei sie dabei weder weniger noch mehr Legitimität besitzt. Anstatt diesen Umstand zu beheben und eine universale Diskursart einzurichten, diesen Streit also auf die Ebene des ‚Rechtsstreits‘ zu bringen – was Lyotard zufolge „überaus problematisch“67 wäre –, gilt es, diesem Zustand des Widerstreits Rechnung zu tragen. Jene „Gerechtigkeitskonzeption“, wie sie Welsch bei Lyotard entwickelt sieht, scheint gerade in jenem Moment schlagkräftig zu werden, weil dadurch kein Bereich unter die Diskursgewalt eines anderen subsumiert werden kann. Die Gerechtigkeit, welche durch Lyotard anvisiert wird, ist demnach jenem Begriff von Gerechtigkeit im rechtlichen Kontext entgegengesetzt, denn die Gerechtigkeit bestün65 VEYNE, 1990 [1971], S. 10. 66 LYOTARD, 1989 [1983], S. 43. 67 LYOTARD in ENGELMANN, 1985, S. 122.

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de laut Lyotard gerade darin, den Streit nicht auf höherer Ebene auszuhandeln, sondern umgekehrt lediglich darin, den „Widerstreit zu bezeugen“68 und dabei die Autonomie der einzelnen Diskurse zu sichern. Lyotard sieht nur in dieser Vorgehensweise die Möglichkeit, „die Integrität des Denkens zu retten.“ 69 Diese Bezeugung des Widerstreits tangiert konsequenterweise nicht lediglich die Wissenschaftsdisziplinen als solche, sondern auch alle Argumentationen innerhalb der einzelnen Disziplinen und allen restlichen Wissensfeldern (sozial, politisch, kulturell etc.). Der Widerstreit kann überall dort auftreten, wo etwas „an den Nahtstellen zwischen den Sätzen auf dem Spiel“ 70 steht, wo Sätze geäußert werden und es infolgedessen zu Konflikten kommt. Nun hat diese vermeintlich gerechte Konzeption einen dementsprechend ungerechten Haken. Ist jede Diskursart immanent legitim, so scheint alles erlaubt. Manövriert sich diese Theoriebildung hier nicht guten Gewissens selbst in die „Sackgasse der Inkommensurabilität“71, wie es Lyotard formuliert? Steht in der Folge nicht Faurissons Leugnung der Gaskammern direkt neben Raul Hilbergs Versuch, die Vernichtung der europäischen Juden72 erstmals zu erfassen und zu belegen? Wie Walter Reese-Schäfer in seiner Einführung zu Lyotard zu Recht hervorhebt, ist der „Widerstreit kein Buch, das eine Lösung anbietet.“73 Lyotard hatte sich in seiner Analyse, wie er selbst schreibt, „die Prüfung von Fällen des Widerstreits aufgegeben, ebenso die Suche nach den Regeln ungleichartiger Diskursarten, die diese Fälle verursachen.“74 Obgleich Reese-Schäfer in seiner Einschätzung richtig liegt und Lyotard dem Leser tatsächlich keine ausgefertigte Lösung an die Hand gibt – was für Lyotard vermutlich äußerst problematisch wäre – lässt sich argumentieren, dass Lyotard in der Ernsthaftigkeit seiner Besprechung dennoch Lösungsmöglichkeiten in Aussicht stellt. Zur Verdeutlichung dessen sei hier noch einmal auf das Faurisson-Beispiel verwiesen: Faurisson argumentierte, dass er an die Existenz der Gaskammern nicht glauben könne, da er niemals ein Opfer zu Gesicht bekommen habe, welches ihm die Existenz dieser bestätigen konnte. Der offensichtliche Widerspruch in der Argumentation ist deutlich: Es kann kein Opfer der Gaskammern gefunden 68 69 70 71 72 73 74

LYOTARD, 1989 [1983], S. 12. EBD., S. 11. EBD. EBD., S. 276. HILBERG, 1999. REESE-SCHÄFER, 1995, S. 74. LYOTARD, 1989 [1983], S. 13.

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werden, da Opfer zu sein, bedeuten würde, durch Vergasung ermordet worden zu sein. Umgekehrt können keine noch lebenden Opfer gefunden werden, weil dann erwiesen wäre, dass die Überlebenden die ‚Unwahrheit‘ sagen würden. Die Argumentation Faurissons lautet also in aller Kürze, wie Reese-Schäfer herausarbeitet: „Zeugen müßten tot sein oder die Unwahrheit sagen.“75 Lyotard beschäftigt sich mit dieser Argumentation äußerst genau, weil sie seines Erachtens eine klassische und äußerst gewichtige Form des Widerstreits darstellt, die kein Ablassen von der Problematik erlaubt; für Reese-Schäfers Begriffe sogar „zu ernsthaft, weil es offenkundig ist, daß Opfer nicht mehr aussagen können und Spuren beseitigt wurden.“76 Dennoch scheint Lyotard in seiner Analyse dieses Widerstreits eine Möglichkeit zu fokussieren, die sich jenseits der bloßen Diskreditierung der Argumentation Faurissons einerseits und der bloßen Bestärkung einer anderen Diskursart andererseits bewegt. Laut Lyotard ist jede Diskursart in sich ein „Satzuniversum“ und dabei stets abhängig von vier Instanzen: dem Empfänger, dem Referenten, der Bedeutung und dem Sender.77 Zwar können also Sätze im gleichbleibenden SatzRegelsystem vermeintlich richtig verknüpft werden, jedoch kann keine transzendentale Validität beansprucht werden, in welcher der Satz in einem anderen Regelsystem als umgehend gültig erwiesen werden könnte. Faurissons Argumentation mag sich immanent bejahen, wird jedoch in einer anderen Diskursart auf Widerstand stoßen. Ohne dies darauf hinauslaufen zu lassen, dass nun jede Argumentation in sich schlüssig und insofern berechtigt ist, warnt Lyotard davor, einerseits einen Ausschluss zu praktizieren, der ob des Fehlens einer universalen Diskursart lediglich politisch sein kann, 78 oder andererseits sich

75 REESE-SCHÄFER, 1995, S. 75. 76 EBD. Man könnte an dieser Stelle auch mutmaßen, dass Lyotard deswegen so genau auf die Argumentation Faurissons eingeht, um dem Leser somit mit „Händen faßbar zu präsentieren“ (LYOTARD, 1989 [1983], S. 14), in welche Schwierigkeiten man kommt, wenn man sich nicht auf die dabei gespielte Diskursart besinnt. Die Sackgasse der spezifischen Diskursart Faurissons wird insofern dem Leser greifbar. Ähnlich sieht das auch Sven Kramer, wenn er in seiner Darstellung von einem „kalkulierten Skandal“ spricht: Vgl. KRAMER, 1999, S. 89-106. 77 Vgl. LYOTARD, 1989 [1983], S. 34. 78 Man wäre an dieser Stelle gezwungen, Faurisson zur Wahrung der ‚adäquaten‘ Diskursart zu ermahnen, ein Akt der in sich politisch ist und ihm und allen anderen Holocaust-Leugnern umgekehrt nur wiederum neuen Antrieb verleihen würde. Entsprechend könnten sie argumentieren, dass die sachliche Diskussion durch willkürliche politische Setzung verhindert würde – eine paradigmatische Argumentation des politisch rechten Lagers.

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auf die Diskursart Faurissons einzulassen und sich dabei jegliche Möglichkeit der Widerlegung dieser These aus der Hand zu schlagen. Lyotard strebt einen anderen äußerst interessanten Weg an, welcher sich als ‚diskursive Intervention‘ bezeichnen ließe: „Dem Widerstreit gerecht zu werden bedeutet: neue Empfänger, neue Sender, neue Bedeutungen, neue Referenten einsetzen, damit das Unrecht Ausdruck finden kann“79. Kann also in einer Diskursart das Unrecht nicht angemessen repräsentiert werden, so drängt die Situation zur Kreativität im wörtlichen Sinne, nämlich zur Schaffung eines Diskursraums, in welchem das Unrecht repräsentiert werden kann. Damit wäre zum einen der Widerstreit also solcher bezeugt und zum anderen eine Möglichkeit gefunden, in einer neuen Diskursart die Argumentation Faurissons bloßzustellen. Natürlich wäre man in mancherlei Fällen zur stetigen Neuordnung des Diskurses genötigt, jedoch scheint dadurch zumindest eine Möglichkeit an die Hand gegeben, welche sich nicht in die schon erwähnte „Sackgasse der Inkommensurabilität“ 80 manövrierte. Abseits der Faurisson-Debatte ist damit eine allgemeine Stoßrichtung hinsichtlich der Methoden der Geschichtswissenschaft gewonnen: Die Geschichtswissenschaft müsste sich stets nach neuen Repräsentationsmodi umsehen, sich sozusagen stets neu erfinden, um dem Darzustellenden und dem mit den vorhandenen Möglichkeiten NichtDarstellbaren, entsprechen zu können. 81 Das würde eine Infragestellung der Grenzen und Möglichkeiten der klassischen historiografischen Methode und zugleich die Öffnung hin zu alternativen Repräsentationsmöglichkeiten bedingen.

Die Geschi chte und das Bedürfnis nach Geschicht e Angesichts der bisherigen Ausführungen wird deutlich, dass es sich bei der Geschichtswissenschaft und in weiterer Folge bei der Wissenschaft insgesamt keinesfalls um einen monolithischen Block handeln kann, welcher durch die Einheitlichkeit einer Methode normiert würde. Jede Wissenschaftsform folgt ihren eigenen Regeln, jeder Teilbereich der Geschichtswissenschaft wiederum 79 EBD., S. 33. 80 EBD., S. 276. 81 Ein Versuch, welcher durch vor allem durch Paul Veyne seinen Ausdruck fand: VEYNE, 1988 [1976].

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den je eigenen Regeln wie auch jede partikulare Argumentation ihrerseits wiederum spezifischen Regeln unterworfen ist. Dies ist insofern wenig problematisch, als eine andere Art der Argumentation gar nicht vorstellbar wäre. Man müsste wohl argumentativ schielen oder gespalten denken, um mithilfe der eigenen Logik die eigenen Prämissen außer Kraft zu setzen oder gar generell von mehreren Standpunkten aus gleichzeitig starten zu können. Problematisch wird diese fragmentierte Form der Wissenschaft nur im Falle des transzendentalen Gültigkeitsanspruchs. In jenem Moment muss die Logik der eigenen Diskursart überstiegen und auf eine transzendentale Legitimation zurückgegriffen werden, welche Lyotard zufolge a priori unmöglich scheint. Dabei tut sich ein weiteres Problem auf, welches in der Diskussion zwischen Habermas und Lyotard Konturen erlangt hat.82 Es scheint nämlich, dass diese Grundverfassung der Wissenschaft als Widerstreit das wissenschaftliche Streben als solches für absurd zu erklären droht. Glaubt man nämlich nicht an die fortschreitende, stets sich präzisierende und sich vervollständigende Forschung, so scheint die Praxis der Forschung insgesamt in Frage gestellt. Der sog. Postmodernismus hat somit das Problem, wissenschaftlichen Fortschritt nicht erklären zu können, weil ein Kriterium für den Begriff des ‚Progresses‘ nur in einer übergeordneten Diskursart angesiedelt sein könnte – eine übergeordnete Ebene freilich, welche der Postmoderne zufolge nicht existiert bzw. nicht erreicht werden kann. Damit fallen alle wissenschaftlichen Erklärungen in den Status partikularer Modelle herab, welche keine transzendentale und vor allem keine überhistorische Gültigkeit besitzen können. Gerade im Bereich der Geschichtswissenschaft droht also die Gefahr, dass es zu einer regelrechten Inflation der Mikrogeschichten kommt, welche allesamt unvermittelt und ohne Geltungsanspruch auf höherer Ebene zum Stehen kommen. Lyotard schildert diese Konsequenz folgendermaßen: „Die spekulative Hierarchie der Erkenntnisse macht einem immanenten, sozusagen ,flachen‘ Netz von Forschungen Platz, deren jeweilige Grenzen nicht aufhören,

82 Vgl. FRANK, 1988. Habermas wertet Lyotards Position als Aufgeben des Projektes der Moderne, welche er als Projekt der Vernunft fasst. Wolfgang Welsch entwickelt gerade deswegen in Unsere postmoderne Moderne ein vermittelndes Konzept, welches er „transversale Vernunft“ nennt. Bezüglich der Vernunft-Debatte siehe: WELSCH, 2002, Kap IX und X; bezüglich der Konzeption der „transversalen Vernunft“ siehe: EBD., Kap XI. Gerade das Konzept der „transversalen Vernunft“ wurde dann in einer eigenständigen Publikation äußerst umfassend ausgearbeitet. Siehe hierzu: WELSCH, 1996.

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sich zu verschieben.“83 Dabei handelt es sich um eine grundsätzliche Infragestellung des wissenschaftlichen Progresses als solchen, denn diese unaufhörliche Erosion führt Lyotard zufolge zu einer „Lockerung der enzyklopädischen Verkettung“84, insofern eine ständige Verschiebung einen gewissen Corpus des Wissens außer Möglichkeit zu stellen scheint. Es ist auch hier wiederum deutlich, warum die Postmoderne vielerorts als Versuch der Abkehr vom Hegel’schen System verstanden wird, denn eine ‚Weltgeschichte‘ ist unter der Prämisse einer fehlenden Hierarchie und mithin ohne teleologische Ausrichtung schwerlich zu schreiben. Dennoch verurteilt dies nicht dazu, wissenschaftlichen Progress zu denken; er muss nur anders und u. a. Vorzeichen gedacht werden, was somit einen Mittelweg zwischen der Dichotomie der spekulativen Hierarchie und der horizontalen Verflachung zu denken nötigt. Obgleich unter postmoderner Perspektive der konventionelle Geschichtsbegriff85 entscheidenden Revisionen unterzogen werden müsste, die vielleicht an der Geschichtswissenschaft als solcher zu rütteln versuchen, besteht dennoch ein „Bedürfnis nach Geschichte“86, wie Lyotard hervorhebt, insofern sie trotz aller epistemologischen Fragestellungen Orientierung bieten kann und muss. Der Unterschied in dieser neuen postmodernen Situation besteht lediglich im Unterschied des Status des von ihr hervorgebrachten Wissens und der Art und Weise, wie dieser Status eingelöst werden kann. Wissen kann ausgehend von den Analysen Lyotards nicht mehr als Wissen im klassischen Sinne gedacht werden. Wie schon erwähnt, formuliert Lyotard diesen Umstand sehr deutlich: „Das wissenschaftliche Wissen kann weder wissen noch wissen machen, daß es das wahre Wissen ist, ohne auf das andere Wissen – die Erzählung – zurückzugreifen, das ihm das Nicht-Wissen ist“87. Geschichte kann davon ausgehend, auch wenn sie sich als GeschichtsWissenschaft begreift, nicht mehr auf ein ausschließlich positives Verständnis von Wissen zurückgreifen und insofern nur mehr als ständige Neu-, Wiederund Überschreibung verstanden werden, welche eine asymptotische Annäherung an einen archimedischen Nullpunkt der für sich selbst sprechenden Quelle a priori außer Möglichkeit stellt. Der Status des darin generierten ‚Wissens‘ 83 LYOTARD, 1986 [1979], S. 117. 84 EBD., 116. 85 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass ungeachtet der Verständnisse von Historikern und Geisteswissenschaftler aller Fachbereiche sich der allgemeine Geschichtsbegriff doch an einer ereignisgeschichtlichen Chronologie orientiert. 86 EBD., S. 88. 87 EBD., S. 90.

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ist dabei prekärer, stets kontextuell bedingt und keineswegs von transzendentaler Geltung. Dies mag vielleicht den Großteil der Berufshistoriker kalt lassen, weil es in gewisser Weise seine Alltagssituation und sein wissenschaftliches Grundverständnis ausmacht. Dennoch scheint gerade diese Frage an der Situation der Bildung im öffentlichen Raum eminente Brisanz zu erreichen. Schulbücher sind insofern nämlich keineswegs unproblematisch und stellen kaum zweifelsfreie Wissensquellen dar, selbst wenn sich der Historiker in aller Bescheidenheit so gut als möglich zurücknimmt und in seiner Besprechung der Quellen einen gewissen „stilistischen Nullpunkt“88 zu erreichen sucht. Ausstellungen, Museen, Lexika, kurzum alle Figuren der Repräsentation geschichtlichen ‚Wissens‘ sind streitbar, weil sie stets das zu Problematisierende unter der Hand und ohne es zu wollen als ‚Faktum‘ ausgeben (müssen). 89 Dieser Umstand weist dann in die geschichtswissenschaftlichen (und z. T. dezidiert öffentlich geführten) Diskussionen der ‚Erinnerungskultur‘- und ‚Gedächtnis‘Debatten, auf die an dieser Stelle nur paradigmatisch verwiesen werden kann. Sie alle führen auf jenen Umstand zurück, dass das von der Geschichtswissenschaft generierte Wissen – wie auch jede andere Form von Wissen – stets nur prekären und zeitweiligen Status beanspruchen kann, weil die übergeordnete und transzendental begründete Universalregel fehlt und auch nicht errichtet werden kann. Obgleich Lyotards Überlegungen zunächst als theoretischer Frontalangriff interpretiert werden könnten, bergen sie fundamental produktive Implikationen für die Geschichtswissenschaft. Anstatt allergischer, hysterischer oder gar agnostischer Reaktionen sollte vielmehr versucht werden, „das Wasser auf die eigenen Mühlen zu leiten“,90 wie Goertz treffend formuliert hat. Die Konstatierung der Unmöglichkeit einer totalen Geschichtsschreibung mit festgelegten Methoden fordert nämlich gerade zu einer ständigen Erneuerung auf, zur kontinuierlichen Redefinition und Neuerfindung ihrer selbst und ihrer Methoden. Alles, was sich auf diesem Weg durch die postmodere Theoriebildung geändert hat, ist der Status des Wissens selbst, denn er kann nicht mehr für sich letztgültige Legitimität beanspruchen, sondern muss sich stets gegenüber den Ansprüchen seiner Zeit rechtfertigen. Die durch diese Gedanken angezeigte 88 LYOTARD, 1989 [1983], S. 14. 89 Darin liegt keine Böswilligkeit, sondern eine prinzipielle Bedingtheit einer jeden Geschichtsschreibung durch die kontextuellen Umstände. Besonders scharf hat dieses Problem Arthur C. Danto herausgearbeitet: DANTO, 1980 [1965], siehe bes. Kap. III. 90 GOERTZ, 2001, S. 10.

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entscheidende Transformation betrifft somit nicht nur die unterschiedlichen historiografischen Darstellungen historischer Gegenstände, sondern vielmehr den Status des historischen Wissens als solchem. Wissen wird hierbei nicht mehr gemäß dem Bilde einer spekulativen Hierarchie begriffen, sondern im Gegensatz gerade anhand dezentraler Genesen und rhizomatischer Verknüpfungen, 91 welche sich an manchen Stellen verdichten, an manchen Stellen lockern, welche allesamt an einer in sich fragmentierten Geschichte schreiben, die sich von Zeit zu Zeit neu wird erfinden müssen, um den Ansprüchen ihrer Zeit gerecht werden zu können. Sie ist gerade nicht in Stein gemeißelte Enzyklopädie oder eiserne Methode, sondern stets neu-, er- und überschriebenes, von den Spuren der Vergangenheit gefurchtes Palimpsest.

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91 DELEUZE/GUATTARI, 1977.

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María Teresa Andruettos La mujer en cuestión 1 (2003) als Erzählung verwobener Geschichtsstränge VERÓNICA ABREGO Im Rahmen der argentinischen Staatsrepression zwischen 1975 und 1983 wurden Frauen auf Grund der Annahme einer vorhandenen ‚subversiven‘ politischen Aktivität Ziel tabubrechender misogyner Gewalt. María Teresa Andruettos La mujer en cuestión (2003), zu Deutsch Wer war Eva Mondino? (2009), erzählt in der Form eines detektivischen Berichtes die Geschichte einer solchen Frau und rekurriert dabei auf eine Gattung, die in besonderem Maße die ‚allgemeine Meinung‘ reproduziert. Mit seinem polyphonischen aber auch fragmentarischen Charakter, bei dem unterschiedliche Meinungen in Wandel der Jahren zum epochalen Bild zusammengesetzt werden können, bietet sich dieses herausragende Werk einer von Frauen geschriebenen Literatur des erzwungenen Verschwindens exemplarisch für eine intersektionelle Analyse unter besonderer Berücksichtigung der Anlässe der Erinnerung an. Dieser analytische Textzugang wird hier als ‚verwobene Dichte‘ oder ‚dichte Verwobenheit‘ verschiedener Geschichtsstränge benannt und vorgestellt.

Dreißig Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur, die zwischen 1976 und 1983 mit der geballten Kraft des argentinischen Staates alle Formen der Kritik und des Widerstandes gewaltsam unterdrückte, kann bereits vom Bestand einer Literatur des erzwungenen Verschwindens, einer Literatur der desapariciones forzadas, gesprochen werden. In allen Sparten künstlerischer Tätigkeit und 1

La mujer en cuestión ist in der Übersetzung von Susanna Mende unter dem Titel Wer war Eva Mondino? beim Züricher Rotpunktverlag 2010 auf Deutsch erschienen.

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auch in der Publizistik setzten sich Kulturschaffende in vielfältiger Weise mit den Spuren der Staatsrepression jener Zeit auseinander, trugen seitdem dazu bei, die Perspektiven auf das geschehene Unrecht zu mehren, und agierten damit der lang anhaltenden offiziellen Politik des Vergessens (1989-2004) entgegen. In der Konstellation des Kalten Krieges und im Rahmen der Zusammenarbeit der regionalen lateinamerikanischen Diktaturen im sog. Plan Cóndor hatte die argentinische Junta-Regierung geschätzte 30.000 Menschen (bis heute sind erst etwa 12.000 namentlich rekonstruierte Biografien zu verzeichnen) verschleppt, gefoltert, getötet und ihre Überreste für immer verschwinden lassen. Verschleppt-verschwunden wurden Männer, Frauen und Minderjährige; von den 30 % Frauen waren 3 % schwanger.2 Die Literatur der Erinnerungsarbeit befasst sich mit dieser extremen Erfahrung der Staatswillkür und holt jenen Homo sacer3 aus der Vergessenheit. Im Mittelpunkt der Narrative steht das nackte Menschenleben, das bei der Aufhebung jeglichen Rechtsrahmens im Ausnahmezustand nicht geopfert, aber trotzdem getötet werden kann. Im Fall Argentiniens nimmt der Homo sacer in dem Menschen Gestalt an, der durch systematische Folter in den illegalen, geheimen Lagern dazu gebracht werden sollte, seine Überzeugungen und seine Freunde zu verraten. Der erzählte Raum der Narrationen ist daher nicht das Gefängnis, sondern das Folterlager, ein Ort geheimer Todesqualen außerhalb jeglicher Rechtsprechung, der parallel zur Normalität des Alltags der Mehrheit der Argentinierinnen und Argentinier existierte und aus dem nur wenige Personen4 zurückkehrten. Auf die Spur einer solchen Lagerrückkehrerin begab sich die argentinische Autorin María Teresa Andruetto in ihrem Roman La mujer en cuestión. Geboren 1954 ist Andruetto eine Zeitgenossin und selbst Teil jener rebellischen Jugend der 70er Jahre, der ein nie vor Gericht erwiesenes Verbrechen – sondern lediglich der Verdacht eines revolutionären Engagements – die gewaltsame Verschleppung einbrachte, die fast ausnahmslos mit dem Tod endete. Mit ihrer fiktionalen Frauenbiografie La mujer en cuestión malt Andruetto das Porträt einer ehemaligen Anhängerin Che Guevaras und heutigen Überlebenden der Staatsrepression als ein Puzzle der Meinungen anderer. Sie gewann damit im Jahr 2002 den renommierten argentinischen Preis Novela Fondo Nacional de las Artes. Zehn Jahre später wurde die Autorin mit der höchsten internationalen Anerkennung für ihre zahlreichen und inspirierten Beiträge zur 2 3 4

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Vgl. CONADEP, 1984, „Víctimas“. Nach AGAMBEN, 2002. Inés Izaguirre schätzt sie auf 700, vgl. IZAGUIRRE, 2009, S. 93.

María Teresa Andruettos La mujer en cuestión

Kinderliteratur, dem Hans Christian Andersen Preis 2012, gefeiert; ihre Qualität als Literatin wusste inzwischen eine wachsende argentinische Leserschaft jenseits von Vorstellungen der Altersstufe der Adressaten zu schätzen, denn nicht nur mit La mujer en cuestión, sondern auch mit Lengua Madre (2010) hatte María Teresa Andruetto sie unter Beweis gestellt. Ein Interview mit der Autorin zeigt auf, warum immer noch die Notwendigkeit besteht, ihr literarisches Wirken in ein helleres Licht zu stellen. Ihre Texte zeugen von der anhaltenden Bedeutung der Literatur als Medium des kommunikativen Gedächtnisses und von einer Erinnerungsliteratur von Frauen, die trotz Hindernissen zirkuliert. Der (globalisierte) Büchermarkt und seine Pressekampagnen tragen nicht immer dem Interesse der Leserschaft Rechnung: Mis libros han funcionado de abajo hacia arriba – reflexiona la autora de dos magníficas novelas para adultos como La mujer en cuestión y Lengua madre –. Yo tengo 58 años, empecé a escribir antes de los 20, pero publiqué a los 40 y comencé a circular a los 50. Recién a los 55 aparecí en la prensa nacional. Todo lo han hecho los lectores. Los libros se empezaron a leer, los pedían en las librerías y las librerías a las editoriales. Mis libros han circulado mucho de boca en boca. Yo puedo decir que he tenido un cuerpo de lectores antes de tener prensa. Cuando muchas veces el camino es a la inversa.5

Bei ihrem raffiniert komponierten Werk La mujer en cuestión greift Andruetto als Zugang zu diesem bewegenden Thema der argentinischen Zeitgeschichte auf die emotionsbereinigte Gattung des Berichts zurück. Mit der Absicht zu informieren, wer Eva Mondino Freiberg war und ist, erstattet ein namenloser Privatdetektiv anhand von Interviews mit Akteurinnen und Akteuren im Leben der enigmatischen Frau Bericht an einen unbekannten Auftraggeber, bei dem es sich vermutlich um einen jüngeren Ausländer handelt − die Erklärung vieler historischer Details in den Berichten des Privatdetektivs legt diese Schlussfol5

(„Meine Bücher haben sich von unten nach oben einen Weg gebahnt, so die Autorin von La mujer en cuestión und Lengua Madre, zweier wunderbarer Romane für Erwachsene. Ich bin 58, fährt sie fort. Mit nicht einmal 20 habe ich angefangen zu schreiben, meine erste Veröffentlichung hatte ich erst mit 40, eine breitere Leserschaft mit 50. Mit 55 erschien mein Name in der nationalen Presse. Die Leser haben alles bewerkstelligt. Sie haben angefangen, meine Bücher zu lesen, sie haben die Buchhändler danach gefragt, die Buchhändler haben bei den Verlagen angefragt. Meine Bücher waren Gesprächsthema. Ich hatte also eine Leserschaft, bevor die Öffentlichkeit von mir Notiz nahm. Oft ist es ja umgekehrt.“ Maria Teresa Andruetto zit. n. FRIERA, 2012, o. S. Übersetzung: Marieluise Schmitz).

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gerung nahe. Und das ist ein wichtiges Indiz für die Motive des Auftraggebers, denn vieles deutet darauf hin, dass einige jener Neugeborenen, die Schwangeren − wie der Romanprotagonistin Eva Mondino Freiberg − geraubt wurden, im Ausland aufwuchsen, nachdem sie unter gefälschter Identität an systemkonforme bzw. ausländische Familien weitergegeben worden waren.6 Mag die Gattung des Berichtes im ersten Moment als eine sonderbare Wahl für eine Erzählung wirken, die sich ein so emotionales Thema der argentinischen Zeitgeschichte vorgenommen hat − mit der Entscheidung für eine sachbezogene Gattung und einen (anfangs) unbeteiligten Verfasser gelingt Andruetto ein doppelter Schachzug. Der detektivische Berichterstatter, der den Auftrag hat, eine verborgene Wahrheit zu enthüllen, soll als unparteiischer Dritter Garant für eine objektive Perspektive sein, die jeder Emotionalität und Sensationslüsternheit entbehrt. Damit wird der stets geforderten Sachlichkeit von (überwiegend, aber nicht nur) konservativen Kreisen im Umgang mit den argentinischen Desaparecid@s 7 entsprochen bzw. der Skepsis entgegengewirkt, die aufgrund der geänderten Umstände der Rezeption ihrer Narrationen diesem Personenkreis entgegengebracht wird. 8 Mit der Verwendung einer sachlichen Sprache und einer unbefangenen Perspektive (die nach all der Gewalt so unbeteiligte Erwachsene etwas einfältig wirken lässt) kann dem Verfasser bei der Erstellung der ‚Akte‘ über Eva Mondino keine Voreingenommenheit, keine ideologische Verstaubtheit unterstellt werden. Im Verlauf der Berichterstattung erkennt jedoch dieser (anfangs) so unbeteiligte Verfasser, dass die Meinungen anderer unbefriedigend für die Wahrheitsfindung sind und er sieht sich dazu gezwungen, sich Eva persönlich anzunähern. Er konfrontiert sie – und sich selbst – direkt mit der intimen Erzählung der Lagererfahrung. Bei diesem Höhepunkt, der auch formell durch eine dynamische Szenendramaturgie und die Kraft der Emotionalität der direkten Rede Evas die Gattung des Berichts verlässt, wird offensichtlich, wie unrealistisch und wie unangemessen der Anspruch der Sachlichkeit angesichts der Gewalttaten und ihrer Folgen ist. 6 7 8

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Vgl. den prämierten deutschen Film Das Lied in mir aus dem Jahr 2011. Die Verwendung des generischen Maskulinums wird auch im Spanischen kritisiert. Um Frauen einzubeziehen, wird der Klammeraffe für die Pluralform verwendet. Der Testimonio-Forscher John Beverley macht auf die Schwierigkeiten aufmerksam, die sich aus der zeitlichen und gesamtdiskursiven Verschiebung bei der Rezeption dieser Texte ergeben (vgl. BEVERLY, 2004, S. X): Mit dem Fall der Mauer, dem Ende der revolutionären Bewegungen in Lateinamerika und dem globalen Einzug des Neoliberalismus sind die zeitlichen und diskursiven Koordinaten, in denen die Verbrechen begangen wurden und in die diese Narrationen eingebettet sind, für viele unverständlich geworden.

María Teresa Andruettos La mujer en cuestión

Der Berichterstatter verfehlt sein Ziel und es wird von da an immer wieder seine persönliche Betroffenheit gegenüber Eva durchscheinen. Und auch die Leserschaft wird feststellen, dass sie, obwohl sie mehr Fragen als Antworten in Bezug auf Evas Leben und Verhalten hat, mit Eva (mit)fühlt. Doch unter der Vorgabe der Objektivität hatte der Verfasser dieses bis dorthin sachlichen Berichtes − und das ist der zweite Trick in der ausgeklügelten Perspektivierung Andruettos − unpersönliche Angaben in einer Sprache voller Floskeln wiedergegeben. Ansgar Nünning hat beobachtet, dass Häufungen von Verallgemeinerungen als stilistisches Mittel eingesetzt werden, um gesellschaftliche Vorstellungen, die einen hohen Grad an Akzeptanz genießen, zu illustrieren. 9 So zeichnet der Sachbericht nicht von Eva, sondern von der argentinischen Gesellschaft ein detailliertes und epochales Porträt für die Zeit zwischen 1976 und 2002. Vergangene und gegenwärtige Selbstverständnisse werden hier reproduziert und in persönliche Kommentare über Eva Mondino eingebettet. Diese Selbstverständnisse, die üblichen Stellungnahmen in Bezug auf diejenigen, die extreme politische Gewalt seitens des argentinischen Staates am eigenen Leib erlebt und überlebt haben, rücken im Roman über Eva Mondino Freiberg in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Erinnerung wird so zu einer Bezugnahme aus gegenwärtigem Anlass, bei der gleichzeitig aufgespürt werden kann, wie persönliche Meinungen in diskursive Ströme eingebettet sind und wie hartnäckig diese durch die Zeit reproduziert werden. Die (oft unbewusste) Mitwirkung von Meinungsträgerinnen und Meinungsträgern an den Schäden an Eva Mondinos Person nimmt vor diesem Hintergrund deutliche Konturen an und damit auch der Anteil der argentinischen Gesellschaft an der menschengemachten Katastrophe der desapariciones forzadas. Auf verfolgte Frauen wirkten damals, so meine These, vielfache Diskriminierungsdiskurse, die sich in der Verfolgung amalgamierten. In diesem Roman, der eine mujer en cuestión, eine gewisse, in Frage gestellte Frau als zu lösendes Enigma fokussiert und so die Überlappung von Diskriminierungsdiskursen herausarbeitet, zeigt sich nicht nur deutlich, wie sich politische Diskriminierung artikuliert(e), sondern auch, wie diese sich im Zusammenhang mit gängigen geschlechtsabhängigen Abwertungen konjugiert(e). Waren Frauen die großen Protagonistinnen des Widerstands gegen die Militärdiktatur und die spätere Politik des Vergessens, wie die Geschichte und das Wirken der Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo beweisen, so standen Überlebende nach den systematischen Folterungen (und überlebende Frauen speziell nach den allseits bekannten und 9

Vgl. NÜNNING, 1989, S. 338.

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verschwiegenen prozeduralen Vergewaltigungen) durch den bloßen Fakt des Überlebens unter dem Generalverdacht des Verrats. Erst ihr Beitrag bei der Aufklärung der Verbrechen brachte ihnen zunehmend Anerkennung. Denn die spezifische Gewalt gegen Frauen während der Staatsrepression war lange kein Gegenstand der Anklage und wurde erst 2005 nach der so viele Jahre verhinderten strafrechtlichen Aufklärung der Delikte mit der Wiederaufnahme der Ermittlungen zum Thema gemacht. María Teresa Andruettos La mujer en cuestión bezeugt auf subtile Weise die diskursiven Grundlagen für dieses Versäumnis und zeichnet sich als ein Beispiel für eine integrierte Strategie der Autorenschaft, die als ‚dicht verwoben‘ bezeichnet werden kann. Eine erinnerungsdiskursive und intersektionelle Analyse zeigt, wie bekannte Strategien des writing back und der réécriture féminine bei einem Aufruf vergangenen und aktuellen Unrechts in der erzählten Gegenwart als engmaschiges Geflecht zusammenwirken.10

Soziale Zeit, erlebt e Zeit – ein kurzer Einblick in die erinnert e Zeit der argentinischen Staatsrepression Wie oben angerissen, ist, wenn Bezug auf die Aufarbeitung der argentinischen Staatsrepression genommen wird, sogleich vom lange auf sich warten lassenden Prozess der strafrechtlichen Verfolgung der Menschenrechtsverletzungen der letzten argentinischen Militärdiktatur die Rede. Die Praxis des erzwungenen Verschwindens und der Schweigepakt der involvierten argentinischen Militärs und Zivilisten hinterließen Tausende von ungeklärten Verbrechen und verbanden in den letzten etwa 35 Jahren die Erinnerung an die Desaparecid@s Argentiniens stets eng mit der Frage um das Wissen um die Umstände ihrer Verschleppung und ihres Aufenthalt in den Folterlagern, um den Verbleib ihrer geraubten Kinder und ihrer geschundenen Überreste. Das massenhafte Verschwindenlassen Einzelner prägte nicht nur die Staatsrepression in Argentinien, es setzt(e) sich als Krise des Todes ohne Leichnam11 durch fehlende Aufklärung des Mordes unentwegt bei den Angehörigen bis in die Gegenwart

10 Vgl. ABREGO, 2012 und DIES., 2013, Kap. 4.1. 11 ABREGO, 2013, Kap. 1.2

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fort.12 Einen besonderen Fall ungeheuren Unrechts stellen die etwa 500 Neugeborenen dar, die den verschleppten Müttern geraubt wurden. Nicht nur für ihre leiblichen Familien sind sie heute immer noch Desaparecid@s, die leben. Sie zu finden treibt die Großmütter der Plaza de Mayo bis heute unermüdlich an. Dabei hatte die Postdiktatur im Zeichen der Aufklärung und der Wiedergutmachung begonnen. Von der demokratischen Regierung Raúl Alfonsíns wurden die Junta-Mitglieder zunächst für eine kleine Gruppe von Verbrechen13 angeklagt, was zur Verurteilung von zwei Dritteln der Regierungskommandantur im Jahr 1985 führte. Als die nachfolgenden Ermittlungen weitere Kreise einschlossen und zunehmend höhere und mittlere Offiziere kompromittierten, rebellierten die Militärs und erzwangen mit den sog. Straflosigkeitsgesetzen der Demokratie jene Amnestie, die sie sich vor der Machtübergabe selbst gegeben hatten und die die demokratische Regierung Alfonsíns gleich nach ihrem Antritt aufgehoben hatte. Als excesos hatten die Repressionsinvolvierten euphemistisch die damals noch nicht als solche eingestuften Verbrechen gegen die Menschlichkeit bagatellisiert. In der nachfolgenden Regierung bestätigte 12 Vgl. KORDON/EDELMAN, 2007. 13 Das schwerwiegende Verschwindenlassen von Personen war vor der massiven Anwendung in der argentinischen Repression zwar aus der Nazizeit (Nacht-undNebel-Erlass) und aus dem Algerien-Krieg international bekannt, aber nicht als Straftatbestand im Völkerrecht erfasst. Da eine Grundlage der Rechtsprechung darin besteht, nur nach Delikten zu fahnden, die als solche eingestuft sind, wenn sie begangen werden, musste die Figur des erzwungenen Verschwindens als Verbrechen gegen die Menschlichkeit (und diese sind Verbrechen, die nicht verjähren) erst in den internationalen und dann in den argentinischen Gesetzeskorpus aufgenommen werden, um danach ermitteln zu können. Das Verbrechen des erzwungenen Verschwindens wurde von Argentinien mit der Ratifizierung der interamerikanischen Konvention gegen das Verschwindenlassen von Personen (OAS, 1994) und des internationalen Statuts zur Gründung des Internationalen Gerichtshofs 1998 in Rom anerkannt. Erst am 20. Dezember 2006 verabschiedete die Generalversammlung der Vereinten Nationen das internationale Übereinkommen zum Schutz aller Personen vor dem Verschwindenlassen, das endlich das erzwungene Verschwinden als schwerwiegendes, nicht verjährendes Verbrechen gegen die Menschheit einstuft. Argentinien ratifizierte es ein Jahr später und schaffte damit die Voraussetzungen für die Wiederaufnahme der Ermittlungen im eigenen Land. Im Jahr 1985 war das Verschwindenlassen kein Tatbestand, weder in der argentinischen noch in der internationalen Rechtsprechung. Bei den Junta-Juicios konnte (u. a.) aus dem Grund lediglich das Delikt der Freiheitsberaubung geahndet werden, das in der argentinischen Rechtsprechung nach sechs Jahren verjährt. Diese Tatsache sollte die Fahndung nach den Tätern zum Erliegen bringen.

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Carlos Menem 1989 und 1990 trotz entgegengesetzter Wahlversprechen diese Amnestie durch weitere Präsidentenerlasse und Freilassungen am Parlament vorbei. Diese Entscheidungen erweckten den Eindruck, der Weg zur Aufklärung der Verbrechen im Land selber sei endgültig versperrt. Als ausländische Gerichte argentinische Verbrecher anzeigten und ihre Ausweisung verlangten, schob der Nachfolger Menems, de la Rúa, allen Deportationsgesuchen mittels Präsidentenerlassen einen Riegel vor. D. h. von 1987 bis 2005 waren die genocidas, so fasst der Volksmund inkriminierend nach dem heutigen Konsens über diese Menschenrechtsverbrecher zusammen, nirgendwo sicherer als in dem Land, in dem sie die Verbrechen begangen hatten. Erst nach der Krise der argentinischen Institutionen im Jahr 2001 und nach der tiefen Rezession von 2002 wählte die politikverdrossene argentinische Bevölkerung eine Regierung, die sich am 24. März 2004 bereit erklärte, die illegale Staatsrepression offiziell zu verurteilen und damit einen Neuanfang in der Beziehung zu den Bürgerinnen und Bürgern herzustellen. Denn die Wunden, die die massenhafte Gewalt und das gesellschaftliche Enigma der desapariciones forzadas hinterlassen hatten, waren noch offen und bei all den unterschiedlichen Phasen der strafrechtlichen Verfolgung blieb die Frage nach dem Verbleib der Überreste der Detenid@s-Desaparecid@s stets eng mit der Erinnerung an sie verflochten. Und sie wurden inzwischen ganz anders erinnert. Während die strafrechtliche Verfolgung ein Weg voller Hindernisse war, vollzog sich in dieser Zeit im Hinblick auf Opfer und Täter der Staatsrepression eine diskursive Transformation, die sich z. B. in der zunehmenden Verbreitung der Täter-Bezeichnung genocidas zeigte. Das Eigenbild der Täter und der diskursive Ausgangspunkt waren allerdings messianisch, sie gaben an, Retter des Vaterlandes zu sein, salvadores de la patria. Die Verfolgung von Andersdenkenden hatte im Militärprogramm des Proceso de Reorganización Nacional und nach den Maßstäben einer sociedad occidental y cristiana auf den polaren Vorstellungen des Kalten Krieges aufgebaut. Das Schreckensszenario eines nahen Weltkrieges wurde ins Innere übertragen und so wurde ein allgegenwärtiger und im Verborgenen wirkender Feind ausgemacht: der/die subversiv@. Mit der Bezeichnung subversión war nicht nur der bewaffnete Kampf von Guerillagruppen gemeint, sondern auch vieles, was für die Protestbewegung und die Jugendkulturen der 60er und 70er Jahre kennzeichnend war: Neben der verbreiteten Adhäsion zu den Idealen der Revolution eines Che Guevara waren in dieser Zeit auch neue Lebenswelten entstanden. Konventionen wurden gebrochen, Kleidungsstile und (sexuelle) Beziehungsformen ver-

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vielfältigt, rebellische Frauenrollen nicht zuletzt dank der Pille erobert, kulturelle Manifestationen hatten die etablierte Hochkultur längst in Frage gestellt und rüttelten an den Vorstellungen tradierter hierarchischer sozialer Ordnungen. Die Bevölkerung Argentiniens, und vor allem seine Jugend, die während der Regierung Onganías (1966-1970) Ziel einer Disziplinierung nach dem Muster des katholischen Integrismus wurde, hatte die europäische 68erBewegung und die Frauenemanzipation, das Aufbegehren der Afroamerikaner, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg und die Hippiebewegung rezipiert und fand in den ungelösten sozialen Fragen des Landes genügend Inspiration für die eigene Revolte. Die rechtsgerichtete Untergrundorganisation Triple A initiierte die illegale Repression mit der Rückendeckung der Perón-Regierung. Sie machte Jagd auf Mitglieder der bewaffneten linken Organisationen, die seit Anfang der 70er Jahre ebenfalls gewaltsam agierten, auf Gewerkschaftler und Persönlichkeiten der Kultur und zwang noch vor dem Militärputsch mit Morddrohungen viele ins Exil. Juan Peróns Witwe und Präsidentin nach dessen Tod, María Estela Martínez de Perón, ermächtigte die Streitkräfte bereits 1975 zur Anwendung illegaler Mittel im Operativo Independencia. Als sich die Militärregierung die Repression zueigen machte, führte sie unter der ständig rezitierten erradicación de la subversión die massenhafte Ausrottung des so ausgemachten Feindes durch. Um nicht von Guerillakämpfern zu sprechen und um vom Verdacht eines sich vollziehenden Vernichtungszuges abzulenken (der auch internationale Beobachter auf den Plan gerufen hätte), nannten die Militärs ihren Gegner delincuente subversivo und mieden es tunlichst, von Krieg zu sprechen. Das Verdachtsmoment für subversión war schwach umrissen und Verschleppte wurden, ohne je vor Gericht gestellt zu werden, pauschal der Täter- und Komplizenschaft für schuldig befunden. Menschenrechtsorganisationen (MRO), anfangs vornehmlich von den Angehörigen der Detenid@sDesaparecid@s gebildet und in den Diktaturjahren hauptsächlich durch die hochverdienten Mütter und Großmütter der Plaza de Mayo repräsentiert, stellten Habeas-Corpus-Anträge, die das nackte Menschenleben der Verschleppten notwendigerweise in den Vordergrund stellten. So wuchs ein humanitärer Diskurs der Anklage, der seinerseits – wenn auch unter einem ganz anderen Vorzeichen – ebenfalls die Umrisse und Maßstäbe des politischen Engagements der Verfolgten verwischte. Aus rebellischen politischen Aktivisten, was die Mehrheit der Verschleppt-Verschwundenen war, wurden entpolitisierte und quasi passive Opfer irrationaler Staatsgewalt.14 Dieser Prozess der Entpoli14 Vgl. CRENZEL, 2010, S. 65-83.

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tisierung der Verschleppt-Verschwundenen, heute bekannt als angelización de los desaparecidos, hing mit dem Umstand zusammen, dass internationale Hilfe nur Repressionsopfern angeboten wurde, die sich nicht in bewaffneten Organisationen (wie Montoneros/Peronismus oder ERP/PRT u. a.) engagiert hatten. Der humanitäre Diskurs erfüllte jedoch auch darüber hinaus eine wichtige Funktion: Er entlastete Familien im schwierigen Umgang mit der Negativität der Ereignisse und ermöglichte eine Anerkennung der Trauer innerhalb einer noch vom Diskurs der Ausrottung feindlich gestimmten Umgebung. Diskursive Bilder passiver Opfer standen des Weiteren in enger Verbindung zu weiteren Bezugspunkten für die Deutung der Staatsrepression im Zeichen eines Genozids: Der überdurchschnittlich hohe Anteil an Detenid@s-Desaparecid@s mit jüdischen familiären Wurzeln, der Parallelen zur Shoah so nachvollziehbar machte, aber auch die bekannten Nazianhängerschaften innerhalb der Streit- und Sicherheitskräfte sowie die Eckdaten für die Art und Weise der Repression (Stichwort Nacht-und-Nebel-Erlass) vergegenwärtigten einerseits stark die persönliche Erinnerung an die Shoah und gaben anderseits dazu Anlass, von politischer Massenvernichtung zu sprechen. Als die Streitkräfte 1983 nach dem Debakel auf den Falklandinseln die Macht abgeben mussten, stellten sie die Repressionsverbrechen als Fehler, errores, bei einem vorgeblichen und bis dahin nie als solches deklarierten inneren „dreckigen“ Krieg, der infamen guerra sucia, dar. Doch als der tödliche Ausgang der Verschleppungen und damit das Ausmaß der Verbrechen klar wurde, sprachen die MRO von Genozid. Die Entscheidung, wie die vergangene Staatsrepression zu deuten sei − als Krieg oder Genozid −, bestimmte von da an den Blick auf Ereignisse und Akteure. An den Überlebenden des argentinischen Staatsterrors – wie die Figur der Eva Mondino Freiberg illustriert – haftete nach der Vorstellung des Krieges, die auch von den bewaffneten Linksorganisationen vertreten wurde, der Verdacht des Verrats, der Aufgabe heroischer Ziele. Vor den Erkenntnissen der Genozidforschung beleuchtet, waren und sind die im Rahmen der argentinischen Staatsrepression ausgeübten Verbrechen bezeichnend für Vernichtungspraktiken totalitärer Gewalt, die den massenhaft Einzelnen in seinem familiären Umfeld, in seiner Körperlichkeit und seinem Geschlecht treffen. In diesem Zusammenhang zeigt sich die Lage von Frauen in postgenozidalen Gesellschaften (wie der argentinischen) als extrem prekär: Einzelne Frauen werden von der Vernichtungsmacht zu Botschafterinnen der Niederlage der Männer und der Gruppe gemacht, als Rückkehrerinnen aus den Lagern werden sie nicht nur vom Feind ‚entsorgt‘, sondern vom früheren Freund ver-

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achtet, sie werden in die Armut getrieben, auf möglichst ewig zu Außenseiterinnen verdammt und auch ihre Kinder treffen nicht selten demütigende Erfahrungen. 15 Diese Lebenssituation überlebender Frauen wird von La mujer en cuestión zwischen den Zeilen dargelegt, womit auch ein anderer Umgang mit der Staatsrepression im kommunikativen Gedächtnis sichtbar wird. Denn Mitte der 90er Jahre hatten die oben dargestellten diskursiven Opferbilder eine Wandlung erfahren, die hauptsächlich durch drei Ereignisse eingeleitet wurde. Erstens trat 1995 mit der Organisation HIJOS (Hijos e Hijas por la Identidad y la Justicia contra el Olvido y el Silencio) die Generation der Kinder der Verschwundenen in die Öffentlichkeit und sorgte für eine Aufwertung der Erinnerung an ihre Eltern. Das Leben – und nicht der Tod − der Detenid@sDesaparecid@s wurde durch die Kindergeneration aus dem Vergessen herausgeholt und ihr soziales Engagement für eine andere Ordnung positiv gewertet. Zweitens brach ein Mitglied der mit der Repression beauftragten Grupos de Tareas, Korvettenkapitän Adolfo Scilingo, im Fernsehen das Schweigen und beschrieb vor einem ungläubigen Publikum seine Mittäterschaft bei den vuelos de la muerte (Flüge zur Beseitigung der Körper der Detenid@s-Desaparecid@s über dem Rio de la Plata). Die ungelöste Tragödie der desapariciones forzadas und die Empörung angesichts der Straflosigkeit der Täter erreichte in der allgemeinen Wahrnehmung und vor dem Hintergrund sozialer Not eine neue Dimension. Denn drittens warfen die im Washington-Konsensus verabschiedeten neoliberalen Maßnahmen für Lateinamerika inzwischen ihre Schatten auf das Leben vieler Argentinierinnen und Argentinier, mit der daraus resultierenden Entstehung neuer Armut und der (erneuten) Unterdrückung des sozialen Protests seitens des Staates. Viele sahen darin eine Fortsetzung der menschenverachtenden Politik der Militärdiktatur und sprachen dann von genocidio de ayer y hoy. In einem Prozess, der durch den tiefen Bruch zwischen einer als abgehoben wahrgenommenen politischen Kaste und der allgemeinen Bevölkerung gekennzeichnet wurde und der 2001 in der größten Krise in der Geschichte Argentiniens gipfeln sollte, wird das diskursive Bild der Detenid@s-Desaparecid@s neu bewertet und umgedeutet. In ihnen werden wahre Idealisten und leuchtende Beispiele für die verlorenen Tugenden der Gemeinschaft gesehen; bei den zahlreichen Kundgebungen wird nicht von Menschen die Rede sein, denen das nackte Leben in den Folterlagern geraubt wurde, sondern von Märtyrern, die ihr Leben großzügig für die soziale Revolution gaben. 15 Vgl. JOEDEN-FORGEY, 2010.

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La mujer en cuestión und die verw obenen Stränge der Geschichte Die Romanfigur Eva Mondino Freiberg bietet keinen Raum für Verklärung: Zu persönlich trafen sie die Eckdaten der argentinischen Zeitgeschichte und zu schwer wiegen in ihrem Leben die persönlichen Erfahrungen des Lagers, des Verrats unter Folter und des Verlustes ihres Kindes. Wie oben dargestellt liegt es nahe anzunehmen, dass die anhaltende Diskriminierung der Überlebenden der zentrale Anlass der Erinnerungsarbeit ist, und der Bezug dazu ist in der Erzählgegenwart zu finden. Die Autorin beschrieb ihre Erzählabsicht in einem Interview so: Me interesaba que las voces de lo social entraran a actuar en la novela. Más que Eva en sí, quería que se vieran los matices del cuerpo social y una idea que persiste en mí: la dictadura es algo que construimos entre todos. Más allá de que haya responsables, una buena parte de la población, y me incluyo porque no quiero salir del cuerpo social que generó la dictadura, fue haciendo caso omiso de la situación, repitiendo lo que otros decían. Diría que hubo una suerte de inercia social que acríticamente apoyó la dictadura. Aún hoy estamos todo el tiempo negando situaciones sociales difíciles o reproduciendo acríticamente ciertos conceptos.16

Gesellschaftliche Stimmen werden in diesem literarischen Text zu zentralen Akteuren gemacht und sie gewähren in einer kulturwissenschaftlichen Analyse, die das diskriminierende Verhalten fokussiert, Einblicke in die intersubjektive Ebene, in der die die Diktatur begleitenden Diskurse transportiert werden. 16 („Mir kam es darauf an, den Stimmen der Gesellschaft in meinem Roman Raum zu geben. Eva als Person war natürlich wichtig, ich wollte aber vor allem, dass man die Schattierungen der Gesellschaft sieht und einen Gedanken, den ich verinnerlicht habe: Die Diktatur wurde von uns gemeinsam geschaffen. Natürlich hat es Verantwortliche gegeben, aber ein großer Teil der Bevölkerung – und ich schließe mich da ein, weil auch ich ein Teil der Gesellschaft bin, die die Diktatur hervorgebracht hat – hat sich aufs Nichtbeachten verlegt und einfach wiederholt, was andere gesagt haben. Ich würde sagen, dass eine Art sozialer Trägheit die Diktatur kritiklos unterstützt hat. Auch heute noch verschließen wir ständig die Augen vor schwierigen gesellschaftlichen Situationen oder verbreiten kritiklos bestimmte Meinungen.“ María Teresa Andruetto zit. n. FRIERA, 2009, o. S., Übersetzung: Marieluise Schmitz).

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Für diese Analyse wird auf das Konzept der Intersektionalität zurückgegriffen. Demnach wirkt das Diskriminierungsverhalten auf verwobene Weise, und für die argentinische Staatsrepression bedeutet dies, dass politische Ansichten, Zugehörigkeiten oder Zuordnungen – die Grundlage für die Verfolgung waren − mit anderen Differenzkategorien interagierten. Die deutschen Theoretikerinnen Degele und Winker schlagen die Differenzkategorien Klasse, Geschlecht, Ethnizität/‚Rasse‘ und Körper als zentrale Ausgangspunkte der intersektionellen Analyse vor. Sie nehmen die Kategorie Körper deswegen auf, weil sie körperliche Merkmale wie Gesundheit, Attraktivität und Alter als Erfolg- und Misserfolg-Messer der neoliberalen Leistungsgesellschaft ansehen. 17 Anhand der Differenzkategorien werden in der Folge die Aussagen über Eva Mondino mit der Absicht geordnet, herauszuarbeiten, wie sich die politische Verfolgung diskursiv darauf stützte und wie sich die Marginalisierung der ehemals politisch Verfolgten als transkriptive Bezugnahme18 auf die Staatsrepression in der Textgegenwart weiterhin artikuliert. Diese Analyseaspekte werden auf ihre gemeinsame Wirkung hin hinterfragt. Evas Profil wird im Text permanent an der Norm gemessen und es weicht immer wieder ab: Mide un metro con setenta y cinco, una altura superior a la media de las mujeres argentinas de su tiempo. Pesa actualmente ochenta kilos, unos cinco por encima de su peso ideal. Tiene los ojos verdes, no del que habitualmente se prefiere para los ojos...19

Diese Aussage zu Evas Aussehen/Erscheinung/Körper leitet die Erzählung ein und derartige Statements haben generell im Text ein großes Gewicht. Ihre Bedeutsamkeit liegt darin, dass sie ein Verhalten exemplifizieren, das nach der Sozial- und Genderforscherin Barbara Sutton vom Erbe der Diktatur geprägt ist. Nach ihrer Auffassung steht die Konstruktion von Weiblichkeit stark unter dem Einfluss eines in jener Zeit zementierten Modells, das auf einer Form (oftmals unbewusst wirkender) sozialer Kontrolle aufbaut, die angepasste 17 DEGELE/WINKER, 2009, 10. 18 In Anlehnung an das Konzept von LUDWIG JÄGER, 2010. 19 ANDRUETTO, 2009 [2003], S. 11. („Sie ist einen Meter fünfundsiebzig groß, was über dem Durchschnitt der argentinischen Frauen ihrer Zeit liegt. Derzeit wiegt sie achtzig Kilogramm, ungefähr fünf Kilogramm über ihrem Idealgewicht. Ihre Augen sind grün, nicht von dem Grün, das man sich gewöhnlich für Augen wünscht…“ DIES., 2010, S. 9).

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Bürgerinnen und Bürger einer hierarchisierten, nach dem heterosexuellen Begehren kodierten Gesellschaft hervorbringen und reproduzieren sollte.20 Evas (un)doing gender 21 und nicht-konformes Verhalten gingen in ihrer Jugend Hand in Hand und lassen sich anhand von Aussagen bezüglich des Aussehens herausfiltern. Die Performanz von Weiblichkeit und die Zugehörigkeit zum Bürgertum werden in einem Kommentar eines Eva gegenüber eigentlich wohlwollenden Bekannten, Alberto Delfino, dargestellt: „De haber usado minifaldas [...] hubiera impresionado como una chica de ciudad de buena condición.“22 Er kritisiert heute immer noch Evas nachlässigen Umgang mit dem hochgewerteten (ver)männlich(t)en Blick: „si se pusiera un pantalón un poco más ajustado y se maquillara, enseguida vería lo linda que todavía es.“23 Mit den Kategorien Klasse und Gender im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung der 70er Jahre kann die Darstellung von Evas anhaltendem gesellschaftlichem Abstieg aufgespürt werden. Evas Studium der Sozialpädagogik und ihre Beschäftigung als Verlagslektorin sprechen für einen bürgerlichen Bildungshintergrund der Hauptfigur, wie auch die Tatsache, dass Eva mit ihrem eigenen Geld auf Aldos Grundstück ein Haus errichtete. Doch als Folge ihrer Inhaftierung und nach dem Verlust ihres Lebensgefährten Aldo während der Staatsrepression veränderte sich auch Evas finanzielle Lage nachhaltig. In der Erzählgegenwart zu Beginn des 21. Jahrhunderts hat Evas Status schwer gelitten: Aldos Eltern behielten das Grundstück ihres Sohnes, inklusive Evas 20 Vgl. SUTTON, 2010, 67-69. 21 Die Begriffe Doing Gender bzw. Undoing Gender haben ihre wichtigste Referenz in den Arbeiten von Judith Butler. In ihrem Werk von 1990 Gender Trouble (dt. Das Unbehagen der Geschlechter, 1991) stellt Butler auf Michel Foucaults Überlegungen zur Biopolitik aufbauend den diskursiven Charakter des Geschlechtes und ihre performative Dimension heraus. Demnach werden Männlichkeit und Weiblichkeit als kulturelle Praktiken verstanden, die stetig konstruiert und wiederholt werden und so die sexuelle Normierung gesellschaftlich perpetuieren. Mit den prekären Lebensbedingungen der Menschen jenseits dieser Norm weiterhin im Auge, nimmt sie 2004 ihre Thesen in ihrem Buch Undoing Gender (dt. Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen) wieder auf. Mit ‚(un)doing Gender‘ wird hier auf die Wiederholung der Norm und auf die gleichzeitige Möglichkeit der Unterbrechung dieser Performanz hingewiesen. 22 ANDRUETTO, 2009 [2003], S. 27. („Hätte sie Miniröcke getragen, die damals, Anfang der Siebzigerjahre, ebenfalls in Mode waren, hätte sie als Stadtmädchen mit guten Referenzen Eindruck gemacht.“ DIES., 2010, S. 22.) 23 DIES., 2009 [2003], S. 63. („Wenn sie sich etwas engere Hosen anzöge und sich schminkte, würde man sofort sehen, wie schön sie immer noch ist.“ DIES., 2010, S. 53).

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Haus, denn dieses galt ja nicht als gemeinschaftlich erworbenes Eigentum, weil Eva und Aldo nicht verheiratet waren. Der fehlende Ehevertrag ist auch der Grund, warum Eva nie die Entschädigung des argentinischen Staates für die Hinterbliebenen der Desaparecid@s erhielt, denn jene war Personen vorbehalten, die ihre Beziehung staatlich bescheinigt hatten. Damit wird im Roman die Lebenssituation vieler setentistas (alternder Mitglieder jener rebellischen Jugend der 70er Jahre) dargestellt, für die nicht nur die politische Verfolgung einen biographischen Bruch darstellte, sondern deren unangepasstes Verhalten ihnen Nachteile einbrachte. Frauen wurde ein hoher Preis abverlangt, denn die Rebellion gegen gesellschaftliche Konventionen und die Suche nach neuen Beziehungsmodellen wirkte sich auf die wirtschaftliche Situation unverheirateter Frauen langfristig negativ aus und sie wurden für ihre Adhäsion zur Frauenemanzipation von der Gesellschaft und ihren Gesetzen rein materiell mit einer mangelhaften Altersabsicherung bestraft. Ein weiterer Punkt ist der Verarmungsprozess der Mittelschicht und der fallende Marktwert von Bildung durch die wirtschaftlichen Krisen Argentiniens. In diesem Prozess wurde die Erwerbsarbeit von Frauen zu einer Variablen wirtschaftlicher Flexibilität, während öffentliche Einsparungen in Gesundheit und Bildung Familien und speziell Frauen, traditionell mit Pflegeaufgaben betraut, stärker belastete.24 Nach dem Lageraufenthalt gelingt Eva trotz ihrer höheren Bildung der Wiedereinstieg in die Berufswelt nicht mehr ganz. In der Erzählgegenwart ist sie auf die Unterstützung der ehemaligen Hausangestellten ihrer Familie, Frau Petrona, angewiesen, die einen Gemüse- und Obstgarten besitzt, aus dem sie Eva mitversorgt. Das macht deutlich, wie die Wirtschaftskrisen die Mittelschicht pauperisierten und wie wenig sich für sie die Investition in Bildung amortisierte. Einzig durch die Intervention von Guillermo Rodríguez in den ersten Demokratiejahren bekam Eva einen festen Job, der mit der Auflösung der Ehe mit dem Junta-Kollaborateur auch verloren ging. Alleinstehend und arbeitslos sieht sich Eva gezwungen, einen Teil ihres Hauses unterzuvermieten und nach und nach alles von Wert zu verkaufen, bis sie schließlich komplett verarmt aufs Land zieht. Eva Mondino lebt in der Erzählungsgegenwart vom Verkauf ihrer Handarbeiten und von dem kleinen Ertrag, den ein Gelegenheitsjob als Haus-zu-Haus-Verkäuferin von Papeterieartikeln abwirft. Eva Mondino Freibergs Biografie enthält ein wichtiges Detail für eine intersektionelle Analyse: Ihre Großmutter war eine Mainzer Jüdin, eine Feldarbeiterin bei der Kartoffelernte. Im Roman wird die kulturell-ethnische Zugehö24 Vgl. BERGER, 2010, S. 116.

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rigkeit zum Judentum von Evas Familie mütterlicherseits jedoch nicht als Ursache einer pauschalen Diskriminierung jüdischer Bürgerinnen und Bürger unterstrichen. Der Eindruck, Eva sei pauschal Zielscheibe von Antisemitismus, wird immer wieder relativiert, z. B. als ihre (dem Namen nach jüdischstämmige) Kindheitsfreundin Alicia Finchelman betont, Eva sei schon immer ‚anders‘ gewesen: „Tenía el aspecto de una hippie, no era como nosotras.“25 Diskriminierung wird vielmehr als Ergebnis des subtilen Zusammenspiels kulturell-ethnischer Zugehörigkeit mit anderen Aspekten dargestellt. Evas Aussehen wird auch aufgrund ihrer Herkunft als von der argentinischen Norm abweichend beschrieben, „como si se tratara de una africana, pero de piel blanca y ojos verdes; aunque muchas judías, y éste es el caso, judía de parte de madre, tienen el pelo de esa manera.“26 Dieses Aussehen wird ihr gerade im Lager auf schmerzhafte Weise zum Verhängnis, wie sie im Interview mit dem Verfasser beteuert: „[Nos pegaban] mucho, a las que teníamos cara de judía nos pegaban más.“27 So zeigt sich die Affinität der Exekutoren der Repression zur Naziideologie und ihnen wird deutlich Antisemitismus unterstellt. Im selben Zusammenhang agiert der sinistre Professor Milovic, ein Ustaše, dessen Mitverantwortung für Evas Aufenthalt im Lager unklar ist, der aber für den Einfluss jener Nazis und Naziverbündeten steht, die nach Argentinien geflohenen sind.28 Die Frage der ethnischen Zugehörigkeit spielt im Zusammenhang mit der politischen Verfolgung an einer weiteren Stelle eine wichtige Rolle, als die Verweigerung von Zuflucht genau damit begründet wird: Evas ehemalige Kinderfrau Petrona versteckte die Hilfesuchende nicht, da sie Angst hatte, ihr Nachnahme Petronovich könnte als jüdisch angesehen werden und sie selbst unter Kommunismusverdacht geraten.29 So zeigt sich der (stille) Anteil vieler 25 ANDRUETTO, 2009 [2003], S. 17. („sah sie aus wie ein Hippie, war nicht eine von uns“, DIES., 2010, S. 22). 26 DIES., 2009 [2003], S. 12. („wie eine Afrikanerin, aber mit weißer Haut und grünen Augen; auch wenn viele Jüdinnen, denn mütterlicherseits war sie Jüdin, solche Haare haben“, DIES., 2010, S. 10). 27 DIES., 2009 [2003], S. 122. („[und sie verprügelten] heftig, diejenigen, die ein jüdisches Aussehen hatten, wurden besonders schlimm geschlagen“, DIES., 2010, S. 105). 28 Vgl. hierzu GOÑI, 2002, S. 243-274. 29 Als rusos wurden in Argentinien pauschal Einwanderer aus Osteuropa bzw. aus Ländern bezeichnet, die keine romanische Sprache beherrschten. Rusos und moishes (mosaisch) waren tatsächlich viele Einwanderer, die aus Osteuropa nach Argentinien kamen und zur Genesis dieser Bezeichnung beitrugen. Ein weiterer Stereotyp in diesem Zusammenhang ist die Zusammensetzung judío comunista.

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Zivilisten: Angst vor Ansteckung und Denunziation trieben die Vernichtung an. Hinterhergerufen wurde Eva, Anhängerin des Che Guevara und FARAktivistin (Fuerzas Armadas Revolucionarias), „comunista“ 30 , „bolche“ 31 , „zurda“ 32 , denn die Propaganda während der polarisierten Welt des Kalten Krieges vereinfachte den revolutionären Eifer der Jugend der 70er Jahre zu einem einzigen Feindbild. In der Erzählgegenwart wird sie aufgrund des Makels, überlebt zu haben, und des Verdachts, ihr Überleben mit Sexualdiensten erreicht zu haben, manchmal als „puta comunista“33, „traidora“ und „botona“34 beschimpft, womit einmal mehr politische Stigmatisierung und genderabwertender Blick vereint werden. Doch genau genommen bergen diese pauschalen Rufe ebenso wie die Floskelsprache des Berichts die Chance der Karnavalisierung und der Unterbrechung der naturalisierten Performanz dieser epochalen diskursiven Bilder in sich. Überkommene Vorstellungen und veraltete Frauenbilder werden benannt, lächerlich gemacht und so angeprangert. Die ganze Schönheit, die Traurigkeit und der alltägliche Mut der mujer en cuestión, die ein würdiges Leben trotz und nach alldem zu leben versucht, heben sich vor diesem Hintergrund umso deutlicher ab. Nur der Schmerz, der scheint geblieben zu sein. Denn wie andere schwangere Detenidas-Desaparecidas wurde der Romanfigur, jener jüdischen Rebellin, die Eva war und vielleicht noch ist, Unfähigkeit unterstellt, ein Kind im Sinne der argentinischen Nation und der westlichen christlichen Werte zu erziehen. Der Diskriminierungsdiskurs hatte für Eva – femina sacra – die Gestalt einer vernichtenden Realität angenommen: Ihr wurden ihr Kind und das Recht genommen, Mutter zu sein. De todo lo que le ha sucedido a Eva en la vida, y no parece que le hayan sucedido pocas cosas, lo que más dolor le provoca es – según los numerosos testimonios recabados – haber tenido un hijo y no saber dónde está, ni tampoco si está vivo o muerto.35

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ANDRUETTO, 2009 [2003], S. 38f. und 48. EBD., S. 48. EBD., S. 101. EBD., S. 39. EBD.: 39; botona entstammt der Rio de la Plata-Mundart Lunfardo und bedeutet ‚Verräterin‘. 35 ANDRUETTO, 2009 [2003], S. 93. („Von allem, was Eva im Leben Schlimmes widerfahren ist, und das scheint nicht wenig zu sein, ist das, was sie am meisten schmerzt – wie zahlreiche Zeugen bestätigen –, ein Kind bekommen zu haben und

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Wer diese Figur war und ist, bleibt wohl am Ende der Erzählung ein Enigma, doch die Fragen, was ihr angetan wurde, wo ihr geliebter Partner geblieben und was aus ihrem Baby geworden ist, haben im realen Leben vieler nichts an Aktualität verloren. Der Anteil der zivilen Bevölkerung an der Radikalisierung des Diskurses gegen die revolutionäre Jugend der Siebzigerjahre sowie an den persönlichen Katastrophen des erzwungenen Verschwindens wird dreißig Jahre nach dem Ende der Militärdiktatur überaus deutlich. Erst seit der Wiederaufnahme der Ermittlungen im Jahr 2005 und nach den Massenvergewaltigungen in Exjugoslawien und Ruanda und den damit verbundenen Änderungen im Völkerrecht hat die Gewalt gegen Frauen im Rahmen der argentinischen Staatsrepression an sozialem Gehör gewonnen, dreißig Jahre danach hat die Aufklärung dieses Unrechts nichts an Priorität eingebüßt. Es wurde an einzelnen Individuen ausgeübt und solange es ungeahndet und unbestraft bleibt, ist es hier und heute immer noch ein andauernder Akt der Staatswillkür. Als deren Gegendiskurs und während sie das negative Gedächtnis der Verfolgung zeichnet, fokussiert die Literatur des erzwungenen Verschwindens (oft mit bemerkenswerter Sachlichkeit) die Staatsrepression der Siebziger- und Achtzigerjahre und wehrt sich gegen vereinfachte Formeln postdiktatorischer Erklärungsdiskurse. La mujer en cuestión als herausragendes Werk dieser von Frauen geschriebenen Literatur vergegenwärtigt in ihren Figurationen der Vergangenheit jene mehrschichtigen Feindbilder, die damals die politische Massengewalt (nicht nur) gegen Frauen entfesselten und die Diktatur überdauernd die Politik des angeordneten Schweigens argumentativ unterfütterten. In einem raffinierten Zusammenspiel von individuellen Schicksalen und kollektiven Meinungen rückt sie subtil und nachhaltig die Frage nach dem Grad der Mittäterschaft eines/r Jeden an der Denunziation und der massiven Gewalt von damals sowie am nachträglichen Verschweigen der Verbrechen gegen die wiederholt vergessene und tausendfach einzelne Frau in den Mittelpunkt der aktuellen Debatte.

weder zu wissen, wo es ist, noch ob es überhaupt noch am Leben ist.“ DIES., 2010, S. 81).

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„Es war einmal...“ historische Authentizität – Tarantinos Inglourious Basterds (2009): eine filmische Absage an die Dominanz des Faktischen? Narrative Geschichtstransformationen durch Märchen und Märchenmotivik SABRINA GEILERT & JULIANE VOORGANG Das Märchen und seine Einbettung in den postmodernen Gegenwartsfilm avancieren insbesondere seit den 1990 Jahren zu einem Strukturelement des Genres. In Quentin Tarantinos Inglorious Basterds (2009) erzeugt die Eingliederung des Märchens und der Märchenelemente in die Motivik nicht nur einen metatextuellen Verweis, sondern ermöglicht mit der stiltypischen Ahistorizität eine Form des transformativen Geschichtserzählens, die nicht mehr an Authentizität gebunden ist. Mit einer medialen ‚Bastardisierung‘ oder Vermischung von Genres generiert der Film einen Aufarbeitungs- und Erinnerungsdiskurs, der sich von Realgeschichte löst und der eine analytische und metahistoriografische Position zu Geschichtlichkeit einnimmt: Im beständigen Zitat, im Pastiche und im Cross-Over transformiert er historische Narrative (wie Militärgeschichte und Nationalgeschichten) und bezieht sich dabei auf die Geschichte des Kinos. Das Reservoire an Bildern, Stilen, Narrationen und Genrephrasen, das die Form der filmischen Erinnerung bildet, erlaubt es die Konstruktion der Bilder und Geschichte(n) zu erkennen und eröffnet somit den Raum für ein hohes Maß an Selbstreferentialität in der ‚Operation Kino‘.

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Das Märchen und die Einbettung zahlreicher Märchentopoi im postmodernen Gegenwartsfilm avancieren, insbesondere seit den 1990er Jahren, zu einem Strukturelement des Genres. Die Film- und Literaturwissenschaften konstatieren gerade für die Filme der 1990er und der frühen 2000er Jahre – wie David Lynchs Wild at Heart (USA 1990), Jean-Pierre Jeunets Die fabelhafte Welt der Amélie (Frankreich/Deutschland 2001), Baz Luhrmanns Moulin Rouge (Australien/USA 2001) sowie Tim Burtons Big Fish (USA 2003) – „einen postmodern-spielerische[n] Umgang mit Märchenelementen“ 1 , der mit weiteren postmodernen Strukturmerkmalen „wie Ironie, Mehrfachcodierung, Autoreflexivität und Intertextualität – in der Kombination mit Märchenhaftem sehr offensichtlich Metatextualität“2 erzeugt. In der zunehmenden Popularität der Märchenfilmproduktionen der vergangenen Jahre ist jedoch neben der filmästhetischen Inszenierung von Metatextualität eine produktive Auseinandersetzung mit der Reziprozität von märchenhafter Fiktion und kultureller Erfahrungswirklichkeit zu beobachten, mit der eine Hinwendung vom Kunstmärchen zum klassischen Volksmärchen einherzugehen scheint.3 Die Vielzahl aktueller Kino- und Fernsehproduktionen Grimm’scher Provenienz transformieren hierbei die klassischen Märchentopoi insofern, dass sie kulturelle Übersetzungen vollziehen (z. B. Ron Clements/ John Musker: Küss den Frosch, USA 2009), normativ wirkende Geschlechterdarstellungen aufbrechen (z. B. Tarsem Singh: Spieglein, Spieglein, USA 2012; Rupert Sanders: Snow White and the Huntsman, USA 2012), genreübergreifende Beziehungen herausstellen (z. B. Tommy Wirkola: Hänsel und Gretel: Hexenjäger, USA 2013) und selbstreflexiv auf Funktionsweisen von Märchen und Märchenfilmen, deren popkulturelle Inszenierung sowie inhärente Grenzziehungsmechanismen verweisen (z. B. Andrew Adamson/Vicky Jenson: Shrek – Der tollkühne Held, USA 2001)4. Zudem lassen sich für die filmi-

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KREUZER, 2007, S. 282. EBD., S. 285. Vgl. HARMS, 2012. Gleichzeitig exponiert Shrek – Der tollkühne Held die normative Setzung dieser Grenzziehungsmechanismen. Besonders deutlich wird dies, wenn in der als Themenpark inszenierten Stadt das Informationslied darauf hinweist, dass für die „Superwelt“ DuLoc spezifische Regeln zu befolgen seien. Kontrastiert wird dies dadurch, dass das Lied die Melodie von It’s a small world aufgreift und damit auf gerade der Attraktion des Disneylands beruht, die Freundschaft und Versöhnung sowie die Abkehr von Ausschlussmechanismen propagiert. Die Vermarktung und Transformation von Märchen durch Themenparks ist dabei Teil der ästhetischen

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sche Aneignung von Märchentopoi transformative Verschiebungen der klassischen Moraldidaxe und der poetischen Gerechtigkeit konstatieren: Die Dichotomisierung in ‚gut‘ und ‚böse‘ weicht oftmals zu Gunsten einer Mehrdimensionalität in den Wahrnehmungsperspektiven, die eindeutige Zuschreibungen verweigert (z. B. David Slade: Hard Candy, USA 2005). In den Auseinandersetzungen des modernen Gegenwartskinos mit Märchenelementen, die ihre Transformationsleistungen aus einer produktiven Inszenierung der Wechselwirkungen von märchenhafter Fiktion und zeitgenössischer Erfahrungswirklichkeit beziehen, verhandeln auch einige dieser Filmproduktionen die Divergenz des fiktionalen und faktualen Erzählens neu. Bereits im Jahr 2006 probierte sich Guillermo del Toro mit Pans Labyrinth (Spanien/Mexiko 2006) an der filmischen Umsetzung des eigentlich Unvereinbaren und zwar mit der Problematik, dass „in der Geschichte [...] das Genre und im Genre [...] die Geschichte nicht funktioniert“5. Angesiedelt im ereignisgeschichtlichen Kontext des faschistischen Spaniens im Jahr 1944, setzt sich der Film mit dem reziproken Verhältnis zwischen historischen und poetischen Erinnerungsformen auseinander, indem er einer historisierenden Erfahrungswirklichkeit die ahistorische Verortung des Märchens gegenüberstellt. 6 Durch Öffnungs- und Schließungssysteme werden filmästhetisch die wechselseitigen Bedingungsmöglichkeiten von Märchenwelt und realgeschichtlichem Kontext erprobt. Zugang zum Märchenkosmos, in dem die Protagonistin Ofelia der klassischen Motivik zufolge mehrere Prüfungen durchläuft, gewähren Kreidetüren, ein Märchenbuch sowie ein Tor zum Labyrinth. Diese dichotomische Konzeption von Märchen und historischem Kontext stellt Ofelias alltägliche Erfahrungswirklichkeit der artifiziellen Fiktion gegenüber, deren einzige Verbindung jene Öffnungen bleiben. Eine Brüchigkeit der dichotomischen Anordnung zeigt sich jedoch in der Analogie der inszenierten Grausamkeit und Düsternis beider Welten, womit sich der Märchenkosmos von den üblichen hellen, farbenprächtigen und fantastischen Elementen des postmodernen Kinos ablöst und sich zunehmend im Horror-Genre verortet. In dieser Reziprozität von märchenhafter Fiktion und historisierender Faktizität legt Pans Labyrinth die Mechanismen von Geschichtskonstruktionen und Erinnerungsmythen of-

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Narration des Animationsfilms. Vgl. hierzu auch den Beitrag von Filippo Carlà und Florian Freitag im vorliegenden Band. SEESSLEN, 2011, S. 50. Vgl. BAUSINGER, 1990b.

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fen, die als poetisches Narrativ erkennbar werden und über die der Film kulturelle Wahrnehmungsbedingungen von historischer Authentizität verhandelt.7 Im Gegensatz zu Pans Labyrinth, der durch Öffnungs- und Schließungssysteme die Problematik einer filmischen Darstellbarkeit der überzeitlichen Verortung des Märchens im Rahmen realgeschichtlicher Kontexte zu lösen versucht, vollzieht Quentin Tarantinos Inglourious Basterds (USA/Deutschland 2009) von Beginn an eine strukturelle „Bastardisierung“8 oder Vermischung aus historischen, poetischen und vor allem filmhistorischen Erinnerungsformen. Die für Tarantinos Filme stiltypische Technik der mehrfach codierten Bilder evoziert ein anachronistisches Überblenden verschiedener historischer Ereignisse. Neben dem Erinnern an das ‚Dritte Reich‘ verknüpft er vor allem in seiner Bildästhetik die amerikanische Geschichte der Sklaverei und die der Indianervertreibung mit der deutschen nationalsozialistischen Vergangenheit. Hierdurch konstituiert der Film ein mehrfach codiertes Erinnern, das in einem überaus selbstreferenziellen Verfahren die Mediengeschichte des Films mit seinen Repräsentationen geschichtlicher Darstellbarkeit als Gegenstand einer filmhistorischen Auseinandersetzung heranzieht.9 In der beständigen Zitation seiner eigenen medialen Traditionen, im Offenlegen seiner artifiziellen Gemachtheit und im anachronistischen Überblenden der verschiedenen Ereignisgeschichten vollzieht er eine Enthistorisierung seiner historischen Sujets und wird mithin zum „Medium einer schwerelosen Erinnerung“10 der Geschichte. Dieser Prozess der Enthistorisierung des Historischen ermöglicht eine narrative Transformationsleistung hin zu einer ahistorischen Verortung der erzählten Ereignisse. Insofern traditionelle Volksmärchen sowohl durch ihre Tradierung und Überlieferung als auch durch ihre histoire ahistorisch geprägt sind,11 erlaubt die Konzentration auf die Märchenspezifik in der Differenz zu anderen klar referenzierbaren Prätexten, den Blick auf die poetisch-transformativen Leistungen des Films zu richten, der auf diese Weise als metahistoriografisch lesbar wird. In Anlehnung an klassische Märchenstrukturen konzipiert Inglourious Basterds eine narrative Form des Geschichte(n)erzählens, die nicht mehr an die Dominanz des Faktischen gebunden bleibt.

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Vgl. GEILERT/VOORGANG, 2013. SEESSLEN, 2011, S. 15-18. Vgl. zum Zitationsverfahren und den zahlreichen intertextuellen Verweisen in Inglourious Basterds EBD. 10 KAPPELHOFF, 2009, S. 282. 11 Vgl. NEUHAUS, 2005, S. VII.

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Die prologische Einblendung „Once upon a time…in Nazi occupied France“12 ist in diesem Zusammenhang nicht nur als „Geste des Märchens“13 zu verstehen, die ausschließlich Metatextualität erzeugt. Sie etabliert darüber hinaus eine strukturelle Einbindung von klassischen Märchen und Märchenelementen, anhand derer der Film die historische Ereignisgeschichte als märchenhafte Narration lesbar macht. Auf semiotischer Ebene vollzieht er somit durch Prozesse der Enthistorisierung des Historischen und der hieraus resultierenden narrativen Aneignung von Märchen eine Auflösung des historischen Signifikats. Im Verweisungsnetz eines mehrfachcodierten Erinnerns oszillieren die nun unabhängigen Signifikanten zwischen kulturellen Zeichen der Geschichtskonstituierung, wodurch sie Verortungen des Authentischen als diskursive Praktiken ausweisen. In der Auseinandersetzung der Kinoproduktionen, wie bspw. Pans Labyrinth und im Besonderen Inglourious Basterds, die das märchenhafte Erzählen als strukturellen Bestandteil zur wissenspoetischen Aneignung und Ausdeutung historischer Prozesse nutzen,14 scheint es somit weniger um eine klare Differenzierung zwischen historischer und poetischer Erinnerung zu gehen,15 als vielmehr darum, das kulturerzeugende Potenzial des Märchenhaften mit seinen tradierenden und archivierenden Funktionsweisen im ‚kollektiven Gedächtnis‘16 auszuloten. Deshalb setzt sich Inglourious Basterds in seinem filmästhetischen Verfahren einer strukturellen ‚Bastardisierung‘ aus historischen, poetischen und filmhistorischen Erinnerungsformen mit der Mediengeschichte des Films und den Konstitutionsmechanismen medialer Vermittlungen von historischer Authentizität auseinander. Im filmischen Aufarbeitungsdiskurs der eigenen nationalsozialistischen Vergangenheit ist die Erwartungshaltung im deutschsprachigen Kino insbesondere auf jene Mechanismen der Erinnerungsvermittlung ausgerichtet, die historische Authentizität über Augenzeugenschaft, Quellengebundenheit, eine 12 TARANTINO, 2008, S. 3. 13 SEESSLEN, 2011, S. 50. 14 Vgl. zu Wechselwirkungen von märchenhaften und filmischen Narrationen in Kontexten des Holocausts die Analyse von Waldhof zu Das Leben ist schön (1997) und Inglourious Basterds. WALDHOF, 2010. 15 Vgl. zur derzeitigen Diskussion über die kulturellen Deutungsmachtverhältnisse zwischen historischer und poetischer Erinnerung BRAUN, 2013 [2010]. Braun vertritt hier jedoch die Position von der Souveränität der Fiktion. 16 Vgl. das durch Jan und Aleida Assmann erweiterte Konzept des kollektiven Gedächtnisses von Maurice Halbwachs. Dieses nimmt ein auf Langzeit angelegtes Gedächtnis von Körperschaften und Gruppen an, welches mithilfe symbolischer Zeichen und Praktiken konstruiert wird.

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differenzierte Sicht auf die Ereignisse, die Geschichte, ihre Opfer und die Deutschen verbürgen können. Gerade in der Medialität künstlerischer Darstellungen des Holocausts entscheiden in der kulturellen Wahrnehmung authentische Referenzen über die Qualität von Gestaltungsverfahren und Funktionsweisen.17 Autoren, Regisseure und Produzenten, die nicht als Zeitzeugen einen authentischen Zugang verbürgen, sind in ihren artifiziellen Erzeugnissen deshalb mehr denn je auf die Vielzahl historisch überlieferter Bilder und Narrative angewiesen, die zur Legitimation des geschichtlichen Sujets dienen. Das historische Erinnern zielt hierbei auf die Herstellung „eine[s] Wirklichkeitseffekt[s]“18, der oftmals über die Konstituierung einer Augenzeugeninstanz jene bestimmte „Art des Umgangs mit Kunstwerken“ 19 hervorbringt, die als konsensfähiges Zeugnis der Vergangenheit wahrgenommen wird. Darüber hinaus rekurrieren Filme wie Steven Spielbergs Schindlers Liste (USA 1993) und Oliver Hirschbiegels Der Untergang (Deutschland/Italien/Russland/Österreich 2004) in den Dimensionen ihrer Ästhetik auf Techniken einer visuellen Vermittlung, die als diskursive Konstante im kollektiven Gedächtnis den Vorstellungsrahmen des Vergangenen bis in die Gegenwart tradiert. Neben der dezidierten Verwendung von Schwarz-Weiß-Bildern in Schindlers Liste erzeugt Der Untergang über dargestellte Referenzen des überlieferten Bild- und Filmmaterials eine auf scheinbar mimetischen Darstellungsweisen basierende Hitlerfigur. Problematisch bleibt die Deutung der Hirschbiegel’schen Führergestalt, da der Film auf der Grundlage propagandistischer Selbstinszenierungen des charismatischen Führerbildes eine mythologisch aufgeladene, historische Überlieferung zur scheinbar unangreifbaren geschichtlichen Wahrheit umschreibt.20 Die Herstellung von Wirklichkeitseffekten ermöglicht im deutschsprachigen Kino die auf Konsensfähigkeit basierenden Authentifizierungen des Vergangen, die jedoch erst kulturelle Vorstellungen einer reflektierten Aufarbei-

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Vgl. MARTÍNEZ, 2004. EBD., S. 15. EBD., S. 16. Vgl. zur Remythologisierung der Hitlerfigur in Der Untergang HISSEN, 2011, S. 159-176; SCHULTZ, 2012, S. 371-387. Im Gegensatz zur mythologisch aufgeladenen Hirschbiegel’schen Führergestalt inszeniert Inglourious Basterds seine Hitlerfigur als artifizielles Konstrukt. In der Szene, in der er das erste mal zu sehen ist, vollendet gleichzeitig ein Maler im Bildhintergrund ein überlebensgroßes Gemälde von ihm, wodurch deutlich wird, dass es sich bei der Darstellung Hitlers immer nur um eine künstlich überformte Repräsentation der Führerfigur handeln kann.

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tung der eigenen Geschichte erzeugen.21 Der filmhistorische Erinnerungsdiskurs an die nationalsozialistische Geschichte wird gerade durch Filme wie Der Untergang und die überaus populären ZDF-Dokumentationsreihen von Guido Knopp mitbestimmt.22 In der intendierten Setzung von scheinbar unangreifbaren historischen Referenzen, wie Augenzeugen und in weiten Teilen nur wenig reflektierten Bildmaterialien, etablieren diese Filme symbolische Zeichensysteme einer historischen Wirklichkeitsvermittlung, die im kollektiven Gedächtnis Wahrnehmungen historischer Authentizität mitformen. Es wundert daher kaum, wenn in der deutschsprachigen Rezeption an Inglourious Basterds oftmals Verharmlosung von Gewalt, mangelndes geschichtliches Bewusstsein, ein ungenügend differenzierter Blick auf die Ereignisgeschichte sowie ein unauthentischer Zugang zur nationalsozialistischen Vergangenheit kritisiert werden.23 Der Teaser, der den Film bewirbt, scheint diese Lesart vordergründig zu unterstützen.24 Reduziert auf den Minimalplot führt der Trailer eine paramilitärische Einheit vor, deren einziges Ziel das Töten von Nazis ist: „Die historische Situierung des Stoffes [wirke] in Wahrheit nur wie die Rahmenhandlung in einem Porno: ein Vorwand, um zur Sache zu kommen.“ 25 Die Generalisierung und gleichzeitige Entindividualisierung der Deutschen als Nazis und Kollektivschuldige, denen Facetten von Menschlichkeit abgesprochen werden – denn „[w]er wollte sagen, irgendetwas ginge zu weit, wenn es gegen die Nazis geht?“26 – verweigere eine mehrdimensionale Perspektivierung auf das Täter-Opfer-Verhältnis in den historischen Zusammenhängen. Bildmontagen von Gewalt und Terror der Basterds, das „fröhliche[] Nazischlachten“27, weisen ihn mehr als Splatter- denn als Geschichtsfilm aus, „in dem er nun, gegen alle Einwände geschützt, beliebig herumsauen und -metzeln kann.“ 28 Die scheinbare Abwesenheit eines authentischen Zugangs führt darüber hinaus zu einer Mischung diverser Genrekinos, die Formen der Komödie, des Gangstermovies, des Comics sowie des Kriegsfilms zusammenfügt und den Film für den Zuschauer schwerer zuordenbar macht. 21 Vgl. BARON, 2005. 22 Vgl. SCHWABE, 2007; FRAHM, 2002. 23 Vgl. zur kulturellen Wahrnehmung und Erwartungshaltung im amerikanischen Kino HIRT, 2013, S. 596-606. 24 Vgl. den offiziellen Trailer: http://www.youtube.com/watch?v=-2cRY4p7KIk, 5.7.2013. 25 JESSEN, 2009. 26 EBD. 27 LUEKEN, 2009, S. 33. 28 JESSEN, 2009.

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Die divergierende Wirkung auf das deutschsprachige Publikum liegt zu weiten Teilen darin begründet, dass Inglourious Basterds zwar auf filmische Mechanismen historischer Wirklichkeitsvermittlung rekurriert, diese jedoch in die Fiktion des Märchens transferiert und somit kulturell konsensfähige Zeichensysteme einer authentischen Aufarbeitung entzieht. Durch diese Strategie wird „die Grenze zwischen dem Wunderbaren und dem Wahrscheinlichen [...], zwischen dem Wirklichen und dem Mythischen, zwischen der bürgerlichen Welt [...] und dem [...] Märchen“29 permanent aufgehoben. Grenzüberschreitend transferiert „Once upon a time…in Nazi occupied France“ 30 daher zu Beginn die historische Ereignisgeschichte in die Dimensionen einer märchenhaften Narration. Dadurch wird die Frage nach der Konstituierung von Augenzeugeninstanzen, Identitäten und tradierten Bildreferenzen als Zeichensystem zur Identifizierung von Authentizitätseffekten des Historischen im Märchen fortgeführt. Das weitgehend flüchtige Konzept einer Augenzeugenschaft verhandelt Inglourious Basterds hauptsächlich im ersten Kapitel. SS-Oberst Hans Landa wird hier als „The Jew Hunter“31 eingeführt, der dem französischen Milchbauern LaPadite anhand einer Fabel von Falken und Ratten eine angebliche Analogie zu Deutschen und Juden erläutert. Diese legt mit biologistischen Auslegungen das instinkthafte Verhalten des Jagens als allgemeingültige Moral fest. Seinen Spitznamen „Jew Hunter“ versteht er daher nicht als Diskreditierung seiner Person, sondern als dezidierte Bezeichnung seiner Position im NSRegime. Das Motiv des Ratten fangenden Jägers verbindet der Film auf Bildebene mit dem Pfeife (engl. Pipe) rauchenden Landa, womit die Szene ein Verweisungsnetz eröffnet, das die Ereignisgeschichte in die Narration der Legende des Pied Piper of Hamelin, also jener der Kinder zu Hameln32, überführt. Im Gespräch mit LaPadite fallen weitere intertextuelle Referenzen auf die Grimm’sche Version der Legende, in welcher der Rattenfänger bspw. „in Gestalt eines Jägers“33 auftritt und nicht nur Ratten, sondern auch Menschen ins Verderben zieht. Die Verweise zur Erzählung bleiben jedoch nicht nur auf Bildebene und in intertextuellen Referenzen präsent, sondern werden im Diskurs der ‚unvollständigen Zeugenschaft‘ durch überlebende Kinder in der filmischen Erzählstruktur weitergeführt. Nachdem der Rattenfänger die Kinder 29 30 31 32 33

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FIELDER, 1988. TARANTINO, 2008, S. 3. EBD., S. 13. GRIMM, 1993. EBD., S. 217.

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entführt hat, besagt die Überlieferung der geschilderten Ereignisse in Die Kinder zu Hameln: Zwei sollen, wie einige sagen, sich verspätet und zurückgekommen sein, wovon aber das eine blind, das andere stumm gewesen, also daß das blinde den Ort nicht hat zeigen können, aber wohl erzählen, wie sie dem Spielmann gefolgt wären; das stumme aber den Ort gewiesen, ob es gleich nichts gehört.34

Die Legende verhandelt in beiden überlebenden Kindern die Problematisierung des Verhältnisses von Augenzeugenschaft, Sichtbarmachung und Tradierung der Ereignisse. Unvollständige Wahrnehmungen stellen das Konzept der Augenzeugenschaft als Garant zur Authentizitätsvermittlung als unspezifisch heraus, sodass das historisch verortete und aufgezeichnete Geschehen als kreativer Akt historischer Rekonstruktionen erscheint, das zwischen Faktizität und Fiktion oszilliert. In der Figur Shosannas, die als einziges überlebendes Kind der jüdischen Familie Dreyfus der Ermordung durch den „Jew Hunter“ entkommt, sind das blinde sowie das taubstumme Kind der Legende repräsentiert, welche ebenso wie sie selbst dem Unglück entrinnen. In dem Versteck unter dem Fußboden hält sie sich den Mund zu, um nicht gehört zu werden, weiterhin kann sie weder das Geschehen über ihr visuell verfolgen, noch die Unterhaltung zwischen Landa und LaPadite verstehen, die in einer ihr fremden Sprache geführt wird. Eine mögliche Zeugenschaft zur Hervorbringung von historischen Wirklichkeitseffekten führt in dem Verweisungsnetz der erzählerischen Filmstruktur zu einer unvollständigen Wahrnehmung Shosannas im Nichtsehen, -hören und -sprechen. Indem in ihr eine unvollständige Zeugenschaft angelegt ist, verschiebt Inglourious Basterds die potenzielle Zeugenschaft an den Zuschauer. Durch die auktoriale Erzählperspektive einer Grenzen überschreitenden entfesselten Kamera und die untertitelten Übersetzungen in die eigene Sprache erzeugt der Film für den Rezipienten scheinbar vollständige Wahrnehmungsbedingungen, die ihm einen Reflexionsrahmen eröffnen, um die Reziprozität von Fiktion und Faktualität als kulturelle Praktiken historischer Rekonstruktionen zu erkennen. Das etablierte Verweisungsnetz aus historischen, poetischen und filmhistorischen Erinnerungsdiskursen legt hierzu Indizien aus, die das historiografische und forensisch-kriminologische Interesse35 des Zuschauers auf das Spurenle34 EBD. 35 Vgl. ECHTERHOFF, 2001.

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sen kulturell erzeugter Wirklichkeitsvermittlungen richten. In den Dimensionen der mehrfach codierten Bilder bleibt der Pfeife rauchende Landa nicht nur in dem Referenzrahmen zu Die Kinder zu Hameln präsent, sondern verweist mit seiner s-förmigen Calabash auf das, im filmhistorischen Gedächtnis, populärste Attribut des Meisterdetektivs Sherlock Holmes. Holmes Analysetechnik des „Indizienparadigmas“ 36 basiert auf der Tätigkeit des Spurenlesens und Zeicheninterpretierens, um ein bereits vergangenes Geschehen rekonstruieren zu können. Zentrales Anliegen des Detektivs ist dabei, zwischen Wahrheit und Fiktion zu differenzieren, um so den faktualen Tathergang zu erschließen. Die zu interpretierenden Indizien weisen dabei auf etwas Vergangenes oder Historisches hin, insofern die Spur etwas anzeigt, „was zum Zeitpunkt des Spurenlesens irreversibel vergangen ist“37. Von einer Spur kann nur dann gesprochen werden, wenn die Spur tatsächlich als solche gelesen wird. Erst der Akt ihrer Entdeckung und Rezeption bringt sie als solche hervor. Als Figur der Abwesenheit dient die Spur allerdings nicht der Reproduktion der Vergangenheit, sondern ermöglicht lediglich deren Rekonstruktion, die ebenso sehr vom Interpreten der Spur abhängt wie von ihrem Urheber.38 Das kriminalistische Vorgehen, das der Film mit der bildlichen Überblendung zur Legende Die Kinder zu Hameln und der Referenz auf Sherlock Holmes exponiert, bildet die Rezeptionsanleitung für den Zuschauer, der als Zeuge des Geschehens einen Akt der Vergangenheitskonstruktion vollzieht, in dessen Zentrum Zeichen-„Systeme zur Identifizierung“39 von historisierenden Authentizitätseffekten stehen. Zeichen zur Identifizierung von Identitätskonzepten werden in Inglourious Basterds immer wieder thematisiert und scheinen für den Zuschauer leicht authentifizierbar zu sein, insofern das figurale Personal in direkten oder indirekten Referenzen auf stereotype Märchenfiguren hin konzipiert ist, welche sich auf den ersten Blick nicht aus definierten Grenzen lösen. In der Inszenierung der Schauspielerin Bridget von Hammersmark als Aschenputtel wird ihr verlorener Schuh, der motivisch und strukturell das Grimm’sche Märchen aufgreift, zum bezeichnenden Gegenstand, wenn ihn ihr Hans Landa zur Feststellung des Verrats anpasst. 40 Indem Shosanna als Rotkäppchen mit rotem 36 37 38 39 40

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GINZBURG, 2002, S. 7. KRÄMER, 2007, S. 17. Vgl. EBD. GINZBURG, 2002, S. 41. Inglourious Basterds spielt dabei insofern mit dem Aschenputtel-Märchen, dass Bridget eine Mischfigur aus Cinderella selbst und deren Schwestern darstellt. Durch Bridgets Verletzung bedient der Film das Motiv des blutigen Schuhs, dem

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Kleid auftritt, während General Fenech ihr Kino zum „basket“ stilisiert, in dem sich „rotten eggs“ 41 befinden, werden beide Märchenfiguren insofern transformiert, dass ihre Identifizierung nicht zu Rettung oder Erlösung, sondern in den Tod führt. An der Oberfläche etabliert der Film in Fortführung der erzählten Geschichte als märchenhafte Narration stereotype, nicht individuell ausgeformte Charaktere wie „Die Basterds“, „Die Nazis“ und die von Hans Landa immer nur entindividualisierend mit „Hermann“ bezeichneten deutschen Soldaten. Eine Entgegensetzung von ‚gut‘ und ‚böse‘, in der das Gute belohnt und die zeitweise gestörte Ordnung wieder hergestellt wird, intendiert jene Unumgänglichkeit moralischer Wertung und Entscheidung,42 die den Film oftmals in das Genre des ‚Revenge Movies‘ rücken lässt. So erläutert Lt. Aldo Raine: „Nazi ain’t got no humanity. There [sic] the foot soldiers of a Jew hatin [sic], mass murderin [sic] manic [sic], and they need to be destroyed.“43 Ebenso klassifiziert Hans Landa mehrfach ethnische Gruppierungen wie die Basterds als „enemies of the state“44. Identitäten und Selbstverortungen der Figuren werden auf diese Weise vor allem durch Formen der Inklusion und Exklusion generiert. Auf der Ebene der Semiotik sind es aufrecht erhaltene Sprachbarrieren, die Zugehörigkeiten zu Nationalitäten verbürgen sowie Uniformen oder Hautfarben als sichtbare Identifizierungszeichen. Das symbolische Bezeichnen durch das Einschneiden eines Hakenkreuzes in die Stirn überlebender Nazis, bildet ein brandmarkendes Verfahren der Basterds, welches „um den Körper, oder besser noch: am Körper des Verurteilten Zeichen ein[gräbt], die nicht verlöschen dürfen.“45 Eine Gegenüberstellung von ‚gut‘ und ‚böse‘ wird jedoch in bildästhetischen Parallelisierungen unterlaufen, indem intratextuelle Verweise die ‚Bastardisierung‘ der scheinbaren Oppositionen aufzeigen. Auf Bilderserien der Erschießung von alliierten Soldaten in dem im Film uraufgeführten Propagandafilm Stolz der Nation folgen exakte Nachinszenierungen des Maschinengewehrfeuers der Basterds im Kino selbst. Landas Verhör des Milchbauern La-

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die Identifizierung als ‚rechte Braut‘ gegenübergestellt wird, sodass es in diesem Gegenstand bereits zu einer Mischung der dichotomisch-märchenhaften Anordnung kommt. TARANTINO, 2008, S. 82. BAUSINGER, 1990a. TARANTINO, 2008, S. 21. EBD., S. 17. FOUCAULT, 1994, S. 47.

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Padite, das zur Identifizierung der eigenen Person dient und Reflexionen über Spitznamen, Darlegungen zu ideologischen Vorstellungen sowie Feststellungen zur Lage der Feinde beinhaltet, erhält sein genaues strukturelles Äquivalent im Verhör der deutschen Soldaten Rachtmann und Butz durch Lt. Raine. Bis hin zum Wechsel der Sprachen und dem Entkommen eines einzigen Überlebenden inszeniert Inglourious Basterds in diesen und weiteren Szenen ein parallelisiertes Spiegelbild mit vertauschten Positionen. Verortungen von Identitäten als authentische Repräsentationen einer Wirklichkeitsvermittlung der Vergangenheit werden weiterhin durch die Bezeichnung der Raine’schen Gruppe als ‚Bastarde‘ in Frage gestellt. Denn seine Einheit besteht – verstanden im etymologischen Sinne des Wortes – aus illegitimen Nachkommen, die keinen Platz in der Genealogie ihrer Väter finden. Der Begriff ‚Bastard‘, der in seiner ursprünglichen Bedeutung ein Kind einer illegitimen Verbindung meint, dient seit dem 19. Jahrhundert mit seiner Transformation in den Bereich der Zoologie und Botanik auch zur Benennung eines Hybrids. Mit der Übernahme des Begriffs in die Evolutionstheorie und Genetik des 20. Jahrhunderts verschärfen sich rassistische Konnotationen. 46 Im Rahmen der Konstruktion sog. menschlicher Rassen stellt der Bastard im Sinne nationalsozialistischer Ideologien eine Gefährdung eines reinen binären Systems dar. Solchermaßen herkunfts- und abstammungslos sind sie per definitionem Ausgeschlossene und gerade im ‚Dritten Reich‘ Stigmatisierte, die über keine gesicherte Identität verfügen. In der Doppelcodierung von Ausgrenzung einerseits und Hybridität andererseits sind die Bastarde jedoch ein mögliches Identifikationsmodell mit kreativem Potenzial, insofern sie sich über Grenzen hinwegbewegen und Identitäten als flüchtiges Konzept inszenieren. Im Rollenspiel der Basterds als deutsche Soldaten oder italienische Filmschaffende, in der Verkleidung des englischen Agenten und Filmkritikers als deutscher Hauptsturmführer sowie in Shosannas namentlicher Transformation zu ‚Emmanuelle Mimieux‘ werden Identitäten sowie Oppositionen des Eigenen und Fremden in einem hybriden Schwellenraum angesiedelt. Problematisch erweist sich für die Figuren jedoch, dass in diesem Raum kulturelle Differenzen nicht nivelliert, sondern sichtbar gemacht werden, 47 wodurch die Gefahr einer Entlarvung ihrer Identität besteht. In der Kellerszene, die als theatrales Kammerspiel inszeniert ist, entwickelt sich ein komplexer, dynamischer Interaktionsprozess in dialogischen Konfron46 Vgl. GLÜCK, 2010. 47 Vgl. BHABHA, 1990, S. 211.

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tationen, der kulturell normierte Verhaltensweisen in Frage stellt. Identitäten werden zum Zentrum eines mehrfachcodierten Theaterspiels, das auf den Ebenen der Präsenz und der Repräsentation beständige Transformationen von Schein und Sein vollzieht. Major Hellstrom, der sich ebenfalls des detektivischen Indizienparadigmas bedient, durchschaut den als Deutschen verkleideten Engländer, da er diesen nicht vollständig im deutschen Sprachsystem verorten kann: „Ich habe nicht mit Ihnen gesprochen, Hauptsturmführer ‚München‘ und auch nicht mit Ihnen, Hauptsturmführer ‚Frankfurt‘. Ich spreche mit dem Hauptsturmführer ‚Heimatlos‘.“48 Durch die Herkunfts- und Abstammungslosigkeit und der somit fehlenden Verortung seiner Identität, die sich in diesem Fall im semiotischen System der deutschen Sprache niederschlägt, entlarvt der Major den englischen Agenten als einen der Basterds. Während die Gruppe die Kammerspielszene betritt, befindet sich die Schauspielerin Bridget von Hammersmark, die ihre Doppelrolle als britische Geheimagentin verbirgt, inmitten deutscher Soldaten bereits in einem Identitäts-Spiel. Die Idee des Spiels ist es, den Namen einer berühmten Person auf eine Karte zu schreiben. Fiktiv oder real spielt dabei keine Rolle. Sie können z. B. Konfuzius schreiben oder Dr. Fu Manchu. [...] Wenn Sie fertig sind, legen Sie die Karte verdeckt auf den Tisch, schieben sie der Person ihrer Rechten zu. [...] Mit zehn Ja- oder Nein-Fragen müssen Sie erraten, wer Sie sind.49

In diesem Spiel verfügt jede der anwesenden Personen über wenigstens eine weitere Identität, die symbolisch auf einer Spielkarte an der Stirn befestigt wird. Die Bezeichnungen der zu erratenden Identitäten sind insbesondere auf jene Figuren gerichtet, die „[f]iktiv oder real“ historische, poetische und filmhistorische Erinnerungen in ein Verweisungsnetz aus amerikanischer und deutscher Nationalgeschichte transferieren. So wird einer der Soldaten während des Spiels als Winnetou inszeniert. Der Ratende kommt zu der Erkenntnis: „Ich bin also kein Deutscher.“ Und fragt weiter: „Bin ich Amerikaner?“ Die daraus resultierende Diskussion kann als Metatext zur Identitätsbildung und nationalen Mehrfachcodierung der Figuren in Inglourious Basterds gelesen werden. Einer der Soldaten erklärt: „Er ist kein Amerikaner. Er soll Amerika48 Filmszenen, die nicht auf Englisch gedreht wurden, werden in ihrer Originalsprache zitiert. Vgl. TARANTINO, 2008, S. 100. 49 Vgl. EBD., S. 102f.

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ner sein, ist aber keine amerikanische Erfindung. In Wahrheit ist er ganz was anderes“, woraufhin Bridget entgegnet: „Die Nationalität des Autors hat doch nichts mit der Nationalität der Figur zu tun. Die Figur ist die Figur.“50 Charaktere werden in diesem latenten Verweisungsspiel als komplexe Konstruktionen ausgestellt, die sich eindeutigen Zuschreibungen und authentifizierbaren Verortungen entziehen, indem sie als hybride Gebilde hervortreten. Auf diese Weise stellt der Film zwar kulturelle und historische Differenzen einander gegenüber, jedoch überführt er sie in denselben Referenzrahmen, sodass die deutsche NS-Geschichte immer wieder mit der amerikanischen Nationalgeschichte zusammengefügt wird. Die Vermischung oder ‚Bastardisierung‘ der historischen, poetischen und filmhistorischen Diskurse besitzt in diesem Kontext grenzüberschreitendes Potenzial, insofern die Vergangenheit nicht mehr als möglichst authentisch repräsentiert wird. Vielmehr verweist Inglourious Basterds mit seinem ‚Bastardisierungsverfahren‘ auf das kulturerzeugende Potenzial in der Reziprozität von fiktionalen und faktualen Narrativen, die tradierende und archivierende Funktionsweisen im kollektiven Gedächtnis besitzen. Neben der Geschichte der Ureinwohner Amerikas wird im Rahmen des Identitätsspiels auch die Geschichte der Sklaverei verhandelt. Zwar ist der rassistische Blick auf Afroamerikaner mit der Figur des Filmvorführers Marcel während des gesamten Films latent vorhanden, die historische Relevanz zeigt sich aber vor allem dann, wenn der deutsche Major Hellstrom für sein Rollenspiel die Zuschreibung der Figur ‚King Kong‘ erhält. Nachdem auch er zunächst erfragt, ob er Deutscher sei, verfolgt er die Spur, gegen seinen Willen in Ketten nach Amerika gebracht worden zu sein und vermutet daraufhin, er sei „die Geschichte des Negers in Amerika“51. Durch diese Vermischungsstrategien verschiedener Identitäten transferiert Inglourious Basterds unterdrückte Rassen und Ethnien in filmhistorische Kontexte. Zu Beginn wird daher in der Mehrfachcodierung zu „Once upon a time“ nicht nur die erzählte Geschichte als märchenhafte Narration etabliert, sondern gleichzeitig ruft die akustische Einspielung der Filmmusik von Ennio Moricone zu Once upon a time in the west (Sergio Leone: Spiel mir das Lied vom Tod, Italien/USA 1968) das amerikanische Westerngenre auf. Die Überblendung aus historischen, poetischen und filmhistorischen Erinnerungen, aus fiktionalen und faktualen Narrativen wird besonders dann deutlich, wenn die Jüdin Shosanna, die gleichzeitig als 50 Vgl. EBD., S. 93. 51 Vgl. EBD., S. 106.

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Rotkäppchen und Rothaut inszeniert wird, ihr Rouge in Form einer indianischen Kriegsbemalung aufträgt, während im Bildhintergrund die Naziflagge weht. Die Verknüpfung aus deutschen und amerikanischen Erinnerungsdiskursen geschieht hier im bildlichen Nebeneinander von deutscher Geschichte im bezeichneten Symbol des Hakenkreuzes und der Hybridisierung von Jüdin, Indianer und Märchenfigur. Die Filmtechnik der mehrfach codierten Bilder evoziert ein anachronistisches Überblenden verschiedener historischer Ereignisse, die in der ahistorischen Verortung des Märchens ein poetisches Narrativ bilden, das ‚Bastardisierungen‘ von Faktizität und Fiktionalität erlaubt. Mit dem Erinnern an das ‚Dritte Reich‘ verknüpft der Film, vor allem in seiner Bildästhetik, die amerikanische Geschichte der Sklaverei und die der Indianervertreibung, die hauptsächlich durch Filmzitation des Westerngenres aufgerufen wird. Diese Form des Anachronismus durchzieht den Film auch auf inhaltlicher Ebene, insofern die jüdisch-amerikanischen Basterds mit ihrem Anführer, Aldo dem Apachen, die Nazis skalpieren. Die Figuren sind zudem mit zahlreichen westerntypischen Insignien ausgestattet; Shosanna bedroht den Filmentwickler mit einem ‚Kriegsbeil‘, die Basterds bedienen sich der für Cowboys stiltypischen Technik des Brandings und Bridget bricht in indianisches Kriegsgeheul aus, um Beifall zu spenden. Auf diese Weise eröffnet Inglourious Basterds ein Feld gesellschaftlicher Interaktionen, die permanente Kulturübersetzungen verlangen und von den Filmfiguren Transformationen des Ichs. Das Rollenspiel, in dem Mechanismen von Ausgrenzung und Integration zusammentreffen, ist dabei ein mehrdimensionales Konstrukt. Denn das Spiel, bei dem die Akteure in die Rolle von ‚Winnetou‘ oder ‚King Kong‘ schlüpfen, wird nicht nur durch verschiedene nationalhistorische Narrative erweitert, sondern auch dadurch, dass sich die Basterds bereits mit der Rolle von deutschen Soldaten tarnen. Die detektivische und semiotische Entlarvung führt deshalb nicht zum Ende des Identitätsspiels, sondern zu dessen Fortsetzung auf einer weiteren Ebene. Nach der Schießerei ruft Wilhelm zu Aldo: „Wer seid ihr? Engländer? Amerikaner, oder was?“ – „Amerikaner“, antwortet Aldo, „und was bist du?“ – „Ich bin Deutscher, Idiot.“52 Diesem Rollenspiel zweiter Ordnung lässt der Film jedoch noch eine weitere Reflexionsebene zukommen. Als Aldo die verletzte Bridget nach Absprache mit Wilhelm aus dem Keller holen will, erkennt er, dass dieser immer noch seine Maschinenpistole hält. Aldo protestiert, dass ein Mexican 52 Vgl. EBD., S. 111.

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Standoff nicht der Abmachung entspreche. Mit dieser filmtechnischen Referenz auf den Italowestern legt Inglourious Basterds erneut seine eigene Konstruktion offen. Die Szene deckt so nicht nur das Rollenspiel der berühmten Figuren sowie das der Basterds und der Geheimagentin auf, sondern ebenfalls das der Schauspieler selbst und des Films an sich. Schon die Figur des ‚King Kong‘ oder die der Schauspielerin Bridget zugeschriebene Figur des NSRegisseurs ‚G. W. Pabst‘ zeigen, dass neben den Geschichts- und den damit verbundenen Identitätsdiskursen permanent ein filmgeschichtlicher Diskurs mitgeführt wird. Auf diese Weise begründet Inglourious Basterds ein mehrfach codiertes Erinnern, das in einem überaus selbstreferenziellen Verfahren die Mediengeschichte des Films mit seinen Repräsentationen geschichtlicher Darstellbarkeit zum Gegenstand einer filmhistorischen Auseinandersetzung macht. In der beständigen Zitation seiner eigenen medialen Traditionen, im Offenlegen seiner Artifizialität und im anachronistischen Überblenden der verschiedenen Ereignisgeschichten ermöglicht er eine Enthistorisierung seiner historischen Sujets und somit eine Auflösung des historischen Signifikats. Im Verweisungsnetz eines mehrfach codierten Erinnerns oszillieren die dadurch unabhängigen Signifikanten zwischen kulturellen Zeichen der Geschichtskonstituierung, wodurch sie Verortungen des Authentischen als komplexe Gebilde und diskursive Praktiken ausweisen. Das Verweisungsnetz aus mehrfachcodierten Erinnerungen, mit dem Inglourious Basterds in das schwerelose Spiel der Signifikanten eintritt, hat vor allem das Ziel, die Gemachtheit und Artifizialität historischer Meistererzählungen sichtbar zu machen. Jede strukturelle ‚Bastardisierung‘, die er vornimmt zeigt, dass historisierende Authentizitätseffekte abhängig bleiben von der medialen Diskursivität ihrer Produktion, Rezeption und Wirkungsästhetik. Nicht nur auf Bildebene wird dies vorgeführt. In der letzten Episode beschreibt Hans Landa am Beispiel der narrativen Beschaffenheit von Militärgeschichte, wie scheinbar historische Ereignisse durch Prozesse des Aufschreibens zum Interpretationsgegenstand werden: So, when the military history of this night is written, it will be recorded, that I was part of ‚Operation Kino‘ from the very beginning, as a double agent. Anything I’ve done in my guise as a SS Colonel, was sanctioned by the O.S.S., as a necessary evil to establish my cover with The Germans. And it was my place-

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„Es war einmal...“ historische Authentizität ment of Lt. Raines dynamite in Hitler and Goebbels opera box that assured their demise. By the way, that last part is actually true.53

Mit seiner im gleichen Kontext gestellten Frage: „What shall the history books read?“54 kennzeichnet Landa Geschichtsschreibung als kreativen Akt komplexer Konstruktionsleistungen, der zwischen Fiktionalität und Faktizität oszilliert. Konzepte von Authentizitätsvermittlung exponiert der Film als poetisches Erzeugnis, sodass kulturelle Postulate wie „Wahrhaftigkeit, moralische Integrität und Beglaubigung durch Autorschaft“ 55 nicht mehr die Produktion und Rezeption historischer Erinnerungsdiskurse des Holocaust bestimmen. Welche explosive Wirkungsmacht mediale Vermittlungen von historischer Authentizität besitzen, führt der Film vor allem an seiner eigenen kinematografischen Beschaffenheit vor. ‚Operation Kino‘ 56 ist nicht nur der Codename, unter dem die Basterds das Kino inklusive Hitler und seiner Entourage vernichten, sondern bezeichnet ein überaus selbstreferenzielles Verfahren. Mit diesem löst der Film seine eigenen Traditionen filmgeschichtlicher Semiotik von historischer Wirklichkeitsvermittlung auf, indem er sie in der Narration des Kunstmärchens Der Zauberer von Oz verhandelt. Dadurch greift er erneut Konzepte von Identität, Illusionsbildung sowie Zeugenschaft auf und erprobt diese in Kontexten divergierender Narrationen. Im Schnittverfahren des Propagandafilms Stolz der Nation, der in Shosannas „message for Germany“ 57 übergeht, fungiert das ‚Revenge of the Giant Face‘ als bildlicher Intertext zu Victor Flemings Verfilmung The Wizard of Oz (USA 1939), in dem der angebliche Zauberer in Gestalt eines riesigen Kopfes erscheint. Strukturelle Referenzen entstehen weiterhin dadurch, dass in Frank L. Baums Kunstmärchen Oz nicht nur in Figur einer schönen Dame, sondern auch als Feuerball sowie als entkörperte Stimme auftritt. 58 Diese flüchtige Identität inszeniert Inglourious Basterds in einer äquivalenten Struktur, wenn Shosannas ‚Giant Face‘ als Projektion auf der Leinwand des Kinos in Flammen aufgeht und ihre Stimme die einzige räumliche Präsenz bleibt.

53 54 55 56 57 58

TARANTINO, 2008, S. 149. EBD., S. 146. MARTÍNEZ, 2004, S. 9. TARANTINO, 2008, S. 78. EBD., S. 162. Vgl. BAUM, 1992, S. 141.

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The Wonderful Wizard of Oz entwirft zudem einen Wechsel von Masken durch Trickbetrügereien und Projektionen,59 sodass die Erzählung ein Spiel mit Identitäten etabliert. Das Kunstmärchen diskutiert in diesem Kontext gleichzeitig, wie mediale Illusionstechniken und Verfahren ihrer Dekonstruktion mit Konzepten der Zeugenschaft in Zusammenhang stehen. Erst die Sichtbarmachung des Zauberers als Trickbetrüger ermöglicht eine Dekonstruktion der Illusionswirkungen, die Oz zur Produktion von Wirklichkeitseffekten nutzt, womit die Feststellung seiner wahren Identität einhergeht.60 Inglourious Basterds verhandelt diese Referenzen thematisch und intertextuell, indem auch Shosannas Identität zunächst nur als bloße Projektion auf der Leinwand besteht. Diese wird jedoch enthüllt und entzaubert, wenn die Figur der Emmanuelle Mimieux verbrennt und darunter das Gesicht der „Jewish Vengeance“61 zum Vorschein kommt. Der Film greift damit selbstreflexiv die im Kunstmärchen verhandelte Frage nach Illusionsbildung durch visuell erzeugte Bildprojektionen auf. Indem Inglourious Basterds auf Semiotiken von Film und Kino rekurriert und hierdurch sein eigenes mediales Potenzial ausstellt, ist es ihm möglich, Identitäten zu inszenieren, die ausschließlich als audiovisuelle Repräsentation bestehen und damit anders als Oz kein authentifizierbares Ich mehr aufweisen. Dementsprechend kann die Funktion der Augenzeugenschaft, als Instanz zur Authentifizierung faktualer Ereignisse, in Inglourious Basterds nicht mehr an einzelne Figuren rückgebunden werden, wie es in The Wonderful Wizard of Oz geschieht. Jede mögliche Zeugenschaft der Zuschauer von Stolz der Nation, der ‚Operation Kino‘ und der ‚Revenge of the Giant Face‘ wird deshalb in der Explosion des Kinos ausgelöscht. Identitäten, nationalsozialistische, märchenhafte und kinematografische Zeichen sowie die Differenz von Faktizität und Fiktionalität verflüchtigen sich im Feuer. Die Position der erinnerungsgeleiteten Wahrnehmung, der prozessualen Verarbeitung des Geschehens und ihrer Konservierung scheint damit wieder an den Rezipienten rückgebunden,62 da für ihn auf den ersten Blick vollständige Wahrnehmungsbedingungen bestehen. Ästhetisch durchkreuzt Inglourious Basterds jedoch diese Funktion, insofern sowohl das Kunstmärchen The Wonderful Wizard of Oz als auch seine Verfilmung jene Konstruktionsleistungen ausstellen, die medial inszenierte Illusionen und Simulationen erst hervorbrin59 60 61 62

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Vgl. EBD., S. 139-146. Vgl. EBD. TARANTINO, 2008, S.163. Vgl. SCHMOLINSKY, 2011, S. 304.

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gen. Der ‚objektive‘ Blick des Zuschauers auf das Geschehen erweist sich als durch die auktoriale Kameraperspektive gesteuert und ideologisch überformt. Mit der Premiere von Stolz der Nation rekurriert der Film deshalb auf die propagandistische Lenkung des kinematografischen Blicks durch konstruktivistische Überformung und auf dessen semiotische Hervorbringung. Inglourious Basterds stellt dabei kulturelle Symbolisierungsleistungen und Ikonisierungen kulturhistorischer Kontexte aus, die sich im filmischen Narrativ und seiner ästhetischen Inszenierung verdichten. Das Kino, das zunächst als leerer und somit auch ideologisch unbesetzter Raum inszeniert wird, ist am Abend der Filmpremiere mit nationalsozialistischen Zeichen und Symbolen ausgestattet. Seine Kennzeichnung von außen als ‚Stolz der Nation‘ bezeichnet das Kino als einen Kulturraum, in dem diskursive Praktiken nicht nur erprobt, sondern hervorgebracht werden. Die Parallelisierung des Kinos mit dem Propagandafilm exponiert, wie filmische Praktiken Mythisierungen von Heldenfiguren erzeugen. Während der Verweis auf The Wonderful Wizard of Oz eine Entzauberung des Wunderbaren durch Zeugenschaft und damit eine Dekonstruktion des Phantastischen leistet, stellt der fiktive Propagandafilm Stolz der Nation dieser Bewegung die Produktion einer mythisch-märchenhaften Narration in der Figur Zollers gegenüber, sodass die Szene in ihrer Mehrfachcodierung zwischen Fiktionalität und Faktizität oszilliert. Weitere Parallelisierungen des Films-im-Film mit dem Repräsentationsort kulturell erzeugter Wirklichkeitsvermittlung entstehen dadurch, dass Zoller ein Hakenkreuz in den Kirchturm ritzt und diesem heiligen Ort nationalsozialistische Zeichen einschreibt, wie es auf Bildebene am Kino selbst vorgeführt wird. Die Mission der alliierten Soldaten im Propagandafilm scheitert jedoch daran, dass der kommandierende Offizier das Heiligtum, auf dem sich Frederik Zoller verschanzt, aufgrund der kulturhistorischen Bedeutung des Denkmals nicht in die Luft sprengen kann. Genau dies vollzieht jedoch Inglourious Basterds mit seinem eigenen ‚heiligen‘ Repräsentationsort – dem Kino – selbst. Das Kino wird in einem Akt der Selbstzerstörung von Authentizitätseffekten wie Augenzeugeninstanzen, Identitäten und tradierten Bildreferenzen gereinigt. Diese setzten dem etablierten Erinnerungsdiskurs an die nationalsozialistische Vergangenheit ein „Zerstörungsfest entgegen[], das sich gegen die Konventionen des Retrokinos und gegen die faschistischen Inszenierungen selbst richtet.“63

63 SCHULZ, 2012, S. 476.

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In Auseinandersetzung mit dem filmischen Aufarbeitungsdiskurs der nationalsozialistischen Vergangenheit geht es Inglourious Basterds, in der Aneignung und Ausdeutung historischer Prozesse über Märchen und Märchenelemente, weniger um eine klare Trennung von historischer und poetischer Erinnerung, als vielmehr darum, das kulturerzeugende Potenzial des Märchenhaften mit seinen tradierenden und archivierenden Funktionsweisen im kollektiven Gedächtnis zu erproben. Dabei zeigt er, inwiefern sich jede mediale Vermittlung historischer Wirklichkeit als kreativer Akt einer komplexen Konstruktionsleistung erweist. Die Erzeugung von Wirklichkeitseffekten, die vor allem im deutschsprachigen Kino die Rezeptionserwartungen eines authentischen Zugangs zur Geschichte verbürgen, transferiert der Film in die Fiktion des Märchens, womit er kulturell konsensfähige Zeichensysteme einer authentischen Aufarbeitung des Vergangenen transformiert und als märchenhafte Narrationen lesbar macht. Konzepte von Zeugenschaften und Identitäten als Garant einer historischen Wirklichkeitsvermittlung etabliert er besonders durch seine intertextuellen Referenzen zu Die Kinder von Hameln und The Wonderful Wizard of Oz als flüchtige Konstruktionen, die zwischen Fiktionalität und Faktualität oszillieren. Das filmästhetische Verfahren einer strukturellen ‚Bastardisierung‘ aus historischen, poetischen und filmhistorischen Erinnerungen ermöglicht hierdurch Formen der Geschichtstransformation im anachronistischen Überblenden verschiedener Ereignis- und Nationalgeschichten. Auf semiotischer Ebene vollzieht der Film somit Prozesse der Enthistorisierung seiner historischen Sujets und eine hieraus resultierende Auflösung des historischen Signifikats. Im Verweisungsnetz eines mehrfachcodierten Erinnerns bewegen sich die nun unabhängigen Signifikanten zwischen kulturellen Zeichen der Geschichtskonstituierung, wodurch sie Verortungen des Authentischen als diskursive Praktiken kennzeichnen. Deshalb setzt sich Inglourious Basterds in seinem filmästhetischen Verfahren einer strukturellen ‚Bastardisierung‘ und mehrfachcodierten Erinnerungsformen mit der Mediengeschichte des Films und den Konstitutionsmechanismen medialer Vermittlungen von historischer Authentizität auseinander. In Kombination eines transformierten märchenhaften und geschichtlichen Erzählens erprobt der Film somit die Möglichkeiten seiner eigenen Repräsentationsform. Inglourious Basterds poetisiert in seiner Enthistorisierung also nicht nur das Geschichte(n)erzählen, sondern nimmt eine analytische und metahistoriografische Position zu Geschichtlichkeit ein, die nicht zuletzt die Geschichte des geschichtlich-filmischen Erzählens selbst zum zentralen

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Bezugspunkt macht. Das Reservoir an Bildern, Stilen, Narrationen und Genrephrasen, das die Form der filmischen Erinnerung bildet, erlaubt es, die Konstruktion der Bilder zu erkennen und eröffnet somit den Raum für ein hohes Maß an Selbstreferentialität in der ‚Operation Kino‘. Eine historisierende Zeichenhaftigkeit sowie deren Repräsentationssysteme sprengt der Film bildlich; sie werden ausgelöscht und bis zur Unkenntlichkeit zerstört. Shosanna und Marcel nutzen Nitrofilmrollen als Brandstoff, um die Leinwand anzuzünden, während zwei der Basterds in die Ehrenloge eindringen, in der sie Hitler erschießen und sein Gesicht bis zur Unkenntlichkeit durch einen Gewehrfeuerhagel entstellen. Das Gleiche geschieht mit dem Repräsentationsort medial vermittelter Praktiken des Films. Das Kino geht mit all seiner Zeichenhaftigkeit, seinen Diskursen und Filmästhetiken samt filmischer Authentizitätserwartung an die realgeschichtlichen Kontexte unter. Durch die tabula rasa, die der Film damit herstellt, scheinen zunächst sämtliche Traditionen, historische Narrative und kulturelle Zuschreibungsmechanismen ausgelöscht. An dieser Stelle wäre der Frage nachzugehen, welche Konzepte und Zeichensysteme der Film anstelle der nun durchstrichenen Diskurse etabliert. Als alternatives filmhistorisches Narrativ setzt er sich selbst als ‚Inglourious Basterd‘ ein, indem er nicht nur inhaltlich mit der aus Halbblütern bestehenden Partisanengruppe Entwürfe einer hybriden Kultur entwirft, die das Konzept der Reinheit unterlaufen, sondern sich zudem durch seine hybride Ästhetik auszeichnet. Mit dem Verweisungsnetz aus unterschiedlichen Genrekinos wird der Film selbst zu einem Bastard, dessen Hybridität die Ästhetik der Narration bestimmt. Das Vermischte und Heterogene stellt dabei das poetische Instrument der filmischen Reflexion dar, das nicht nur auf mannigfaltige Prätexte rekurriert, sondern seine eigene Bastardisierung in Shosannas ‚Zusammenkleben‘ unterschiedlicher Filme ausstellt. Deshalb etabliert der Film in der letzten Szene auch eine alternative Zeichenhaftigkeit, die vollständig auf Rezeption und Wirkungsästhetik hinzielt und die vermeintliche Augenzeugenschaft des Zuschauers als kameraperspektivisches Konstrukt enthüllt. Parallel zur Bezeichnung des Kinos mit dem Hakenkreuz und Zollers Akt einer Nazifizierung der Kirche durch das Einritzen des Symbols schreibt Aldo der Apache in der letzten Szene Hans Landa das nationalsozialistische Zeichen in die Stirn ein. Die Narbe soll Landa auf Lebenszeit als das bezeichnen, was er ist, ohne die Möglichkeit eines Identitätsspiels – eine Spielkarte einfach von der Stirn zu entfernen – wie es die Kellerszene vorführte. Die Kamera

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schwenkt aus einer auktorialen Perspektive in die personale Landas, weshalb der Rezipient in diesem Identitätsspiel die Rolle Landas übernimmt und Aldo sowie Utivich mit dem Messer in der Hand über sich selbst stehen sieht. Der Film entwirft mit diesem ästhetischen „masterpiece“ 64 einen ‚rezeptionellen Imperativ‘ an den Zuschauer; und zwar selbst einen Akt der Zerstörung zu vollziehen, um den eigenen faschistisch geprägten Blick auf die Vergangenheit auszulöschen – zugunsten eines alternativen historischen Narrativs mit dem Titel Inglourious Basterds.

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„Was anfangen mit der verlorenen Zeit?“ 1 Eugen Ruges In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) als Beispiel einer Geschichtstransformation in der deutschen Gegenw artsliteratur ISABELLA FERRON Der vorliegende Artikel untersucht die Thematik ‚Geschichtstransformationen‘ in einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Hinsicht durch die Analyse von Eugen Ruges Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011). In diesem Buch beschäftigt sich Ruge mit der deutschen Geschichte des 20. und anfänglichen 21. Jahrhunderts mittels einer Beschreibung der Interaktionen zwischen den Individuen und einer lebendigen Vergangenheit. Ruge vermittelt kein kristallisiertes Bild von Geschichte, diese wird vielmehr als eine Art gesellschaftliches und demzufolge kulturelles Konstrukt, als Entfaltung und Entwicklung einer personalen Identitätsfindung verstanden. Ruges fokussiert sich auch auf das Wechselspiel zwischen dem Individuum und der Kultur einer bestimmten Zeit, um dessen Zugehörigkeitsgefühl zu schildern. Die Geschichte einer (ost-)deutschen Familie, die im Mittelpunkt des Romans steht, wird zu einer aus historischen Ereignissen bestehenden sinnbildlichen Welt: Durch diese Familiensaga will Ruge keinen Familienkampf präsentieren, sondern er versucht, die unterschiedlichen Generationen in ihren wechselseitigen Handlungen darzustellen. Damit ergibt sich eine vielstimmige Erzählung eines Stücks deutscher Geschichte. 1

RUGE, 2011, S. 16. An dieser Stelle möchte ich den Organisatoren und den Teilnehmern der Tagung danken. Danken möchte ich auch Herrn Stefan Jaunich für seine Vorschläge und präzisen Korrekturarbeiten an meinem Text.

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Vorbemerkungen Der vorliegende Beitrag verfolgt das Ziel, das Thema ‚Geschichtstransformationen‘ unter einer literatur- und kulturwissenschaftlichen Perspektive zu diskutieren und analysiert zu diesem Zweck den Roman In Zeiten des abnehmenden Lichts (2011) von Eugen Ruge. Das Buch, das 2011 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, bietet in diesem Zusammenhang ein erhellendes Beispiel für Tendenzen in der gegenwärtigen deutschen Literatur. Die deutsche Geschichte des 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts wird in diesem Roman in spezifischer Weise dargestellt: Ruge versucht, die deutsche Geschichte aus der Perspektive der Alltagskommunikation durch die Beschreibung der Interaktionen zwischen den Individuen, der gemeinsamen Lebensformen und der geteilten Erfahrungen zu erzählen. Er schildert Momente einer lebendigen Vergangenheit, die die von ihm beschriebenen Figuren mit ihren Zeitgenossen teilen. Da die Individualitäten dieser Menschen von den kollektiven Identitäten abhängen, versucht Ruge, die Geschichte nicht kristallisiert, als eine Art gesellschaftliches und somit kulturelles Konstrukt wiederzugeben,2 sondern eher als Prozess einer personalen Identitätsfindung. Er interessiert sich dafür, die Interaktion des jeweiligen Ich mit der Kultur und Gesellschaft einer bestimmten Epoche zu zeigen, um dessen Zugehörigkeitsgefühl zu beschreiben. Die Familiensaga wird demzufolge zu einer symbolischen Sinnwelt, die aus historischen Ereignissen besteht, welche in der literarischen Narration sublimiert werden. 3 Diese Geschichte vollzieht sich nicht in einem Kampf gegen die ältere Generation, sondern im Versuch, deren Handlungen und Motive zu reflektieren und zu akzeptieren, da oft ein wirkliches Verständnis nicht möglich ist. Durch die Technik des Montageromans bietet Ruge eine vielstimmige Erzählung eines Stücks deutscher Geschichte. Erzählt wird die Geschichte einer (ost-)deutschen Familie zwischen 1952 und 2001; erzählerische Rückblenden reichen bis in die Zeit des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Dabei werden vier Generationen in ihrer Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit dargestellt. Der Roman beginnt 2001 mit dem Besuch von Alexander (Sascha) bei seinem dementen Vater Kurt. Bei Sascha ist kurz zuvor eine unheilbare Krebserkrankung diagnostiziert worden: Die niederschmetternde Nachricht bildet den Erzählanlass. Er 2 3

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Vgl. ASSMANN, 1992, S. 48-66. Vgl. EBD., S. 52; CYPRIAN, 2003, S. 9-19; KARAMINOVA, 2012, KOSELLECK, 2007 [1976], S. 39-54.

„Was anfangen mit der verlorenen Zeit?“

wird mit der Endlichkeit seines Lebens konfrontiert und fasst daraufhin einen radikalen Entschluss: „…Schluss damit. Er musste an etwas anderes denken. Er hatte einen Entschluss gefasst, es gab nichts mehr zu denken, nichts zu beschließen.“4 Während dieses letzten Besuchs bei seinem Vater entscheidet er sich dafür, eine Reise nach Mexiko zu unternehmen, wo seine Großeltern während des Zweiten Weltkriegs und der Nachkriegszeit im Exil gelebt haben, bevor sie wieder nach Deutschland zurückkamen, um sich am Aufbau der DDR zu beteiligen. Die Geschichte Saschas kreuzt sich mit derjenigen seines Vaters Kurt, eines Historikers in der DDR, der seiner Mutter Irina, die russische Wurzeln hat, der Geschichte seiner Großeltern Charlotte und Wilhelm sowie Nadjeshda Iwanowna wie auch der seines Sohns Markus. Die Lebensgeschichten dieser Figuren, die durch exemplarische Momentaufnahmen wiedergegeben werden, erfolgt nicht in chronologischer Schilderung; zudem wechselt die Erzählperspektive in jedem Kapitel. Beginnt das Buch im Jahr 2001, führt das zweite Kapitel ins Jahr 1952 zurück: Die Geschichte spielt nicht mehr in Deutschland, sondern in Mexiko. Die Protagonisten sind nicht mehr Alexander und Kurt, sondern Charlotte und Wilhelm, die sich in ihrem mexikanischen Exil nach Deutschland zurücksehnen. Zu Beginn des Romans distanzieren sich die Figuren, vor allem diejenigen der neuen Generation, von tradierten Ansichten und Werten der Familie, da sie durch diesen Abstand von der Familie über ihre jeweilige Position innerhalb der Familie selbst nachdenken.5 Alexander, der eine kritische und abwertende Gegenposition einnimmt, akzeptiert z. B. seinen Platz innerhalb der Familie nicht und fragt sich, welche Rolle diese im Leben seines Sohns spielt: Wieder musste er [Sascha] an Markus denken: an seinen Sohn. Musste sich vorstellen, wie Markus hier umging, mit Kapuze und Kopfhörern in den Ohren – so hatte er ihn das letzte Mal, vor zwei Jahren, gesehen –, musste sich vorstellen, wie Markus vor Kurts Bücherwand stand und die Regalbretter mit den Stiefelspitzen anstupste; wie er die Dinge, die sich in vierzig Jahren hier angesammelt hatten, durch seine Hände gehen ließ und auf Gebrauchswert oder Ver-

4 5

RUGE, 2011, S. 23. Vgl. NEUSCHÄFER, 2010, S. 164-203.

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Isabella Ferron käuflichkeit prüfte: Kaum jemand würde ihm den Lenin abkaufen; für das klappbare Schachbrett bekam er womöglich noch ein paar Mark.6

Alexanders Gedanken führen den Leser in eine Narration, in der er die Geschichte sowohl der Familie wie auch Deutschlands auf eine zirkuläre Weise erfährt, in der Ereignisse aus verschiedenen Epochen parallelisiert werden. Alles wird auf einer einzigen Narrationsebene dargelegt, sodass es scheint, als gäbe es kein Zuvor und kein Danach. Erinnern und Vergessen, Vergängliches und Bleibendes, Geschichtliches und Privates stehen in einer Balance, die sich auch durch die Annahme der Pluralität auf der Ebene der Geschichte und der Erzählung zeigt. Durch die Integration der Zeithistorie in die Familienchronik wird die Vergangenheit differenzierter und in ihrer Komplexität dargestellt. Die Erinnerungen an Gerüche, Alltagsrituale 7 und Laute bilden das Spannungsfeld zwischen Fiktionalität und Referentialität und somit auch eine diachrone Dimension der erzählenden und erzählten Identität in der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Zukunft. Der ständige Perspektivwechsel wie auch die Abschweifungen in die fernere Vergangenheit produzieren ein neues Bild von Geschichte, in dem alles gleichsam ineinander geschachtelt erscheint. In diesem Erinnerungs- bzw. Familienroman spiegelt sich die Geschichte Deutschlands in der Geschichte einer Familie anhand der Beziehungen zwischen verschiedenen Generationen wider:8 Die vier Generationen setzen sich 6

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RUGE, 2011, S. 19f. Saschas Nachdenken über die Reaktion seines Sohns auf die Besitztümer seines Großvaters impliziert nicht nur eine emotionale Auseinandersetzung mit der Geschichte, sondern es weist auf ein besonderes Verfahren in Bezug auf die Geschichte hin. Die Worte „Gebrauchswert“ und „Verkäuflichkeit“ beziehen ein nützliches, praktisches Verhältnis zur Geschichte mit ein. Oft fragt sich Ruge in seinen Interviews, ob die Geschichte uns etwas lehren kann (vgl. KLIPINGAT, 2011), und in Saschas Hinsicht sollte sie etwas Konkretes bringen. Sascha bewertet Geschichte, die kleine Geschichte seines Vaters, die die große Geschichte Deutschlands gewissermaßen symbolisiert, nach der marktwirtschaftlichen Mentalität, die für den Kapitalismus typisch ist und Deutschland nach der Wiedervereinigung prägt. Jedoch interessiert sein junger Sohn sich für Geschichte nicht in praktischer und wirtschaftlicher Perspektive, sondern eher aus einer emotionalen Distanz, die nicht unbedingt als Gleichgültigkeit anzusehen ist. Vielmehr versucht Markus, die Geschichte seiner Familie und somit die allgemeine Geschichte nicht zu erklären und zu verstehen, sondern anzuerkennen und zu akzeptieren. Vgl. dazu auch die Episode, in der Markus über die Veränderungen in seinem Leben und im Leben seiner Mutter nach der Wende nachdenkt (RUGE, 2011, S. 372f.). Vgl. EBD., S. 81. Vgl. dazu LAUER, 2010, S. 2-22.

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auf jeweils unterschiedliche Art mit den Gegebenheiten der DDR und ihrer Vorgeschichte auseinander. Kurzum: Es geht um eine geschichtliche Narration, um eine ‚rekonstruierte‘ Geschichte, die polyphon durch verschiedene Stimmen und Perspektiven wiedergegeben wird. 9 In diesem Roman, der als „Aufarbeitungsort“ 10 oder „Reaktion auf die sich auflösende Sozialform der Familie“ 11 angesehen werden kann, formt jede Generation ihre Identität in Auseinandersetzung mit und in Abgrenzung zu den vorgefundenen Codes ihrer Elterngeneration und knüpft dadurch auch an diejenigen der Eltern an. Jede Generation entspricht einer bestimmten Phase der Zeitgeschichte (des Zweiten Weltkriegs, des Gulags in der Sowjetunion, der Aufbaugeneration der DDR, der Generation, die in der DDR aufgewachsen ist und zu ihr eine konfliktäre Beziehung hat sowie der Generation nach der Wende). Hintergrund dieser Familienchronik ist der Verfall einer sozialen Bewegung, die sich im 19. und 20. Jahrhundert die Verbesserung der Lebensbedingungen der Arbeiterklasse zum Ziel gesetzt, sich jedoch ins Gegenteil verwandelt hatte. Im Modus des stream of consciousness bietet sich die Narration als eine Möglichkeit, literarisch und ästhetisch über die Geschichte sowohl individuell (die Protagonisten) wie auch kollektiv (das Leserpublikum) nachzudenken. In seinem Versuch, die Erzählung der Realität anzunähern, in dem Zirkel von Vergessen und Vonvorne-wieder-Anfangen will Ruge die Zeit durch das unmittelbare Erzählen fest- und zurückhalten und die Erfahrungen sichern. Im Vergleich zur Postmoderne, die immer auf Infragestellung und Wahrheitsergründung aus ist und die sich nach Ruge als Falle erwiesen habe,12 stellt er das Prinzip der Fiktion nicht in Frage, sondern glaubt an die Kraft der Erfindung und inszeniert die von ihm, jedoch mit autobiografischen Hintergrund, erfundene Geschichte medial. Es geschieht im Roman ein Spiel mit der Grenzüberschreitung, ohne dass diese Grenze definiert wird, sodass der Text außerhalb seiner selbst reflektiert wird. Über die Auseinandersetzung der verschiedenen Generationen versucht Ruge das vergangene Geschehen aus heutiger Perspektive darzustellen. Bei ihm beschränkt sich der Akt der Geschichtsschreibung weder auf den Akt des Schreibens noch auf das Produzieren eines Textes als Repräsentation der

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Ruge hat mehrmals behauptet, dass man ‚realistisch‘ zu erzählen habe, auch wenn das nicht immer möglich sei, weil die komplexe Wirklichkeit immer im Hintergrund stehe. (vgl. BAUER, 2014; vgl. auch FUGMANN, 2012; KUMPFMÜLLER, 2011). 10 LAUER, 2010, S. 2-22. 11 EBD. 12 Vgl. KÖHLER/KÖHLER, 2012.

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Vergangenheit: Das Erzählen wird zum kommunikativen Akt mit sich selbst oder mit den anderen. Meine Auseinandersetzung mit dem Roman fokussiert mithin folgende vier narrative wie motivisch-gehaltliche Elemente, die in Ruges Erzählpoetik koinzidieren und wechselseitig miteinander verbunden sind:13 1. Distanz: Es geht vor allem um eine emotionale Distanz, die als Zusammenspiel zwischen der Vergangenheit und derjenigen Zeitebene und Figurenperspektive zu verstehen ist, aus der die Ereignisse erzählt werden. 2. Zirkularität der Narration: Ruge zeigt eine räumlich-strukturelle Narration, in der er sich dem chronologischen Erzählen entzieht. Wie in einem Film bestimmt er, in welcher Reihenfolge die Ereignisse geschehen, sodass der Leser das Neben- und Übereinander der Erzählung konkreter, sinnlich – quasi visuell – wahrnehmen kann. Die Ereignisse aus verschiedenen Jahren werden auf demselben Niveau platziert, sodass kein Zuvor und kein Danach mehr zu existieren scheint. 3. Generationenkonflikt: Dadurch werden verschiedene Zugänge zur Geschichte aufgezeigt. 4. Krankheit: Sie verkörpert das Verfahren der Aufarbeitung des Vergangenen.

Die Distanz (postm oderne und historische) Auch wenn Ruges Roman als postmodern bestimmt werden kann, unterscheidet er sich meines Erachtens von dieser Definition grundlegend, da er keine für postmodern gehaltene Vorstellung von Welt bzw. Wirklichkeit mitteilen will. Die Protagonisten setzen sich zwar mit ihrer Geschichte auseinander, jedoch nicht um die Sinnhaftigkeit des eigenen Schicksals zu erkennen. Demzufolge wird die Distanz, aus der die Narration erzählt wird, zum konstitutiven Be13 In diesem Zusammenhang kann man Analogien zu Brussigs Roman Wie es leuchtet (2004) erblicken. Auch in diesem Roman wird die jüngste deutsche Geschichte aus der Distanz wiedergegeben, bedenkt man den Anfang des Romans (S. 13), wo behauptet wird, man erfahre die Geschichte durch „verschwommen[e]“ Bilder. Sowohl Ruge wie auch Brussig verwenden ein großes Panorama von Personen (bei Brussig wird das noch deutlicher), um die historischen Gegebenheit aus den unterschiedlichsten Perspektiven darzustellen. Zudem lässt sich auch eine Analogie in den Romantiteln erkennen: beide verwenden Lichtmetaphorik und ihre Ambivalenz von Positivem und Negativem.

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standteil des Romans. Ruge interessiert es nicht, seinen Figuren die Möglichkeit zu geben, sich zu selbstbestimmten Subjekten zu entfalten, sondern er will sie nur als Stück, als Beispiel des Lebens in der jüngsten deutschen Vergangenheit schildern. Sein Roman unterscheidet sich also auch von den Romanen des Realismus, da er die Wirklichkeit nicht künstlerisch wiederzugeben versucht. Ruge beschreibt die Fakten demnach aus einer gewissen Distanz durch eine klare, an einigen Stellen ironische Sprache. Diese Distanz ermöglicht es zunächst, dass der Fokus der Erzählung nicht auf einer einzelnen Figur liegt. Im Roman gibt es keinen ausschließlichen Protagonisten, sondern sieben Reflektorfiguren, die durch ihre Geschichte, ihre Gedanken und ihre Taten dargestellt werden und die in dem jeweils aus ihrer Perspektive geschilderten Kapitel Protagonist/in sind. Somit entstehen verschiedene Positionen. Durch diese Zusammenschau überwinden die Individualperspektiven den rein familiären, privaten Bereich jedoch und leiten zu allgemein historischen Themen über. Ein Beispiel dafür bieten die Ereignisse auf Wilhelms Geburtstag, die im Roman sechsmal anders aus der Perspektive des jeweiligen Protagonisten (Wilhelm, Charlotte, Irina, Nadjeshda, Kurt und Markus) berichtet werden und das „geheime Zentrum“ 14 des Romans darstellen. Wilhelm steht – zusammen mit seiner Frau Charlotte – für den Idealismus der Aufbaujahre: Am 1. Oktober 1989 werden sein 90. Geburtstag und sein 70. Jahr in der kommunistischen Partei gefeiert. Die Handlung spielt in seinem Haus, wo, wie jedes Jahr, die Feierlichkeiten stattfinden. Dieses Haus, das einem historischen Monument gleicht 15 und eine Gedankenwelt wie auch eine besondere Weltanschauung bewahren will, die nicht mehr zu realisieren sind, symbolisiert in seinem progressiven Verfall das Scheitern einer sozialen Ordnung. Das Geschehen auf der Geburtstagsfeier ist so wichtig und zentral für die Entwicklung des Romans, weil nicht nur ein Stück jüngster Vergangenheit beschrieben wird, sondern die Geschehnisse von einem jeweils anderen Gesichtspunkt aus erzählt werden, die unterschiedliche Reaktionen auf die historischen Ereignisse der Zeit repräsentieren:

14 KEGEL, 2011. 15 Vgl. dazu ASSMANN, 1992.

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Charlotte Powileit, Wilhelms Ehefrau, fühlt sich als Frau im gesellschaftlichen System erniedrigt, hasst nicht nur ihren Mann, den sie am Ende des Festes vergiftet, sondern auch seine SED-Genossen und ist von der Ideologie enttäuscht, der sie ihr ganzes Leben gewidmet hat. Wilhelms Parteigenossen, die ihm den Verdienstorden verleihen, symbolisieren die untergehende SED-Diktatur und halten wider besseren Wissens den Glauben an diese aufrecht. Nadjeshda Iwanowna, Irinas Mutter, welche die Geburtstagsgesellschaft nicht nur wegen sprachlicher Barrieren missversteht, bewertet alles durch den Filter ihrer Erinnerungen an ihr vergangenes Leben in Russland und dann in Deutschland.16 Kurt, Wilhelms Stiefsohn, ärgert sich, wenn er hört, wie die Biografie Wilhelms geschönt wird, behält jedoch seine Vorbehalte für sich. Er ist einer der bedeutendsten Historiker der DDR, aber auch das Symbol einer Generation, die Opfer des Kriegs war (er wurde im Gulag interniert, sein Bruder Werner dort ermordet), die aber den Mut oder die Kraft nicht aufbringt, entweder gegen das System zu rebellieren oder es umzugestalten. Er fühlt sich als „Ex-Sträfling“ oder als ein „Auf ewig Verbannte[r]“.17 Die Abwesenden: Irina, Kurts Frau und Saschas Mutter, bleibt betrunken zu Hause, nachdem sie erfahren hat, dass ihr Sohn in den Westen geflohen ist. In dieser Lage erinnert sie sich an die vergangenen Jahre, als Sascha sein Studium aufgegeben, seine Frau und sein Kind verlassen hat. Zudem bedroht das kritische Verhältnis zu seinem Vater das fragile Gleichgewicht Irinas, die glaubt, ihren Sohn nicht mehr wiederzusehen. Mit zunehmender Alkoholsucht wächst auch ihr Unbehagen gegenüber der DDR als ihrer designierten Heimat. Irina hat sich in Deutschland nie richtig zu

16 RUGE, 2011, S. 159: „Sie hatte keine Ahnung […] und am Ende wars auch nicht viel anders als hier, man konnte ja rübergucken beinahe, oder war das noch Deutschland, was man da sah, übern See, oder war Deutschland Amerika, also ein Teil davon, also der Teil von Deutschland, der ein Teil von Amerika war, zum Verrücktwerden das Durcheinander, und wozu, wenns am Ende das Gleiche war [...] Dort in der Heimat würde sie sterben, dort wollte sie begraben sein, wie denn anders, ein Glück, dachte sie, während die Deutschlaute in ihren Ohren schnarrten, ein Glück, dass ihr das jetzt noch eingefallen war, hier auf der Geburtstagsfeier von Wilhelm, aber sagen sagte sies keinem, so dumm war sie nicht und das Geld, das sie im Kopfkissen aufbewahrte, das tauschte sie bei der Bank gegen Rubel.“ 17 EBD., S. 162.

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Hause gefühlt und die jährliche Wiederholung von Wilhelm Geburtstagsparty bestärkt in ihr dieses Gefühl des Unbehagens.18 Der andere Abwesende ist Sascha, Wilhelms Enkel, der seit Jahren gegen das politische und soziale System der DDR opponiert und nun versucht, ein neues Leben im Westen zu führen. Im Roman verkörpert er die Generation der Kriegsnachgeborenen, die vollständig in der DDR aufgewachsen ist, eine Generation, die neue Regeln und neue Perspektiven sucht, die sich der Ordnung nicht unterwirft, sondern ihren eigenen Platz finden will. Markus, Alexanders Sohn, repräsentiert schließlich die vierte Generation des Romans. Seine Großeltern bezeichnet er als „komische Leute“19, die sogar in seiner Klasse gewesen sind, um von der DDR und anderen Dingen zu erzählen: „verstanden hatte es keiner, aber gewundert hatten sie sich doch, was für einen berühmten Urgroßvater er hatte.“20 Auf Wilhelms Geburtstagsfeier empfindet er diese alten Leute als ‚Dinosaurier‘. Ihm ist das Verhalten der SED-Genossen völlig fremd; er versucht jedoch durch die ironische Beschreibung der Gruppe, sich dem Verständnis einer ihm fernen Vergangenheit anzunähern.21

Die Distanz artikuliert sich nicht nur in der Erzählweise Ruges, sondern auch im Verhalten der Protagonisten. In diesem Durcheinander familiärer Verhältnisse nimmt man die Figuren wahr, als ob sie in der Handlung nicht direkt mitspielten, sondern Zuschauer des eigenen Lebens seien. Ärger, Gefühle des Betrogenseins und der Erniedrigung beherrschen das Leben der Akteure, die, alle jeweils auf ihre Art, eine Zufluchtsmöglichkeit suchen. Insbesondere die sechsmalige Wiederholung der Episode von Wilhelms Geburtstag aus unter18 EBD., S. 58: „Alles erinnerte sie an ihre Leidenszeit […] Nie im Leben war sie so hilflos gewesen: der Sprache nicht mächtig, wie eine Taubstumme, die verzweifelt in den Gesten und Blicken der anderen Orientierung sucht.“ 19 EBD., S. 271. 20 EBD. 21 EBD., S. 280: „Gleich beim Betreten des Raums musste er wieder an das Naturkundemuseum denken, so ausstellungshaft war alles, so irgendwie prähistorisch, und es roch auch so: staubig und ernst und nach großem Ernst; […] es waren zumeist alte, uralte Leute, die hier am Tisch saßen und diskutierten, eine Saurierversammlung […] Nur einer hockte abseits der großen Tafel, ganz links in der Ecke […] ein Saurier, der die Wiederauferstehung nicht ganz geschafft hatte – tatsächlich erinnerte die ineinandergeschobene Knochengestalt mit ihren bis zu den Ohren aufragenden Knien, den über die Seitenlehnen hängenden Flügelarmen und der riesigen langen Schnabelnase an den fossilen Abdruck jenes ausgestorbenen Reptils, das Markus immer am meisten fasziniert hatte: Pterodactylus, Flugsaurier.“

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schiedlichen Perspektiven legt nahe, dass letztlich niemand alleinigen Anspruch auf die Wahrheit bzw. die wahrheitsgetreue Darstellung besitzt und dass es keine monoperspektivische historische Wahrheit geben kann. Distanz ist notwendig, weil auch Wahrheit nach Ruge als Erfindung beschrieben werden kann. Somit stellt sich eine gewisse Distanz als grundlegend heraus, um die Ereignisse objektiv und emotionslos zu beschreiben, um Figuren nachzubilden, die lebendig erscheinen.

Zirkularität der Erzählung Diese Familiengeschichte und demzufolge die Geschichte Deutschlands wird nicht linear und chronologisch erzählt: Die Kapitel werden mit einer Jahreszahl bzw. einem Datum überschrieben und schon an der Abfolge der Kapitelüberschriften ist erkennbar, wie Vergangenheit und Gegenwart sich kreuzen und ergänzen und sich somit nie gegenseitig ausschließen. Im Zentrum steht das Datum des 1. Oktober 1989, Wilhelms Geburtstag, der im Roman die Mittelachse bildet und um den sich die gesamte Handlung dreht, ohne den sowohl die Vergangenheit als auch die Gegenwart und der Ausblick in die Zukunft, mit dem der Roman endet, keinen Sinnzusammenhang hätten. Das Postulat einer Geschichte mit offenem Ende setzt ein antiteleologisches Konzept von Geschichtlichkeit voraus. Es geht in diesem Roman um eine multiperspektivische Erzählung, die nicht zu einer Reduzierung der Handlung führt und als Thema die Relativierbarkeit menschlicher oder moralischer Werte hat. Der Akzent verbleibt auf der Handlung, auf der Geschichte, er wird nicht auf den Diskurs verschoben. Die Zirkularität erweist sich nicht nur in der Perspektivstruktur der Narration durch vielfältige Verbindungen zwischen den Kapiteln. Auch in den Kapiteln selbst gibt es immer wieder Abschweifungen zu zeitlich entfernten Ereignissen, die auf derselben Ebene der Erzählung angesiedelt sind.

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Die Auseinander set zung zw ischen den Generationen Im Roman gibt es keinen diskursiven Zusammenhang zwischen den Generationen der Eltern, Großeltern und Urgroßeltern, aber auch keinen absichtsvollen Bruch. Die verschiedenen Altersklassen leben aneinander vorbei, ohne sich zu verstehen oder verstehen zu wollen. In dem Wechselspiel zwischen der Kollektivität der Nationalgeschichte und dem individuellen empirischen Erfahren dieser Geschichte entfaltet sich die eigene Identität für die ersten Generationen nicht als Abgrenzung von bestimmten Codes der Eltern oder der Großeltern, sondern als kritische Ablehnung oder Umdeutung. 22 Die Generation, die im sozialistischen System im wörtlichen und übertragenen Sinne gefangen ist (Kurt, Irina), unterscheidet sich von der vorhergehenden Generation der Idealisten (Wilhelm, Charlotte) nicht durch bestimmte Codes. Eine Ideologie beherrscht ihr Leben: Wilhelm und Charlotte haben in Eintracht mit dieser Ideologie gelebt, Kurt und Irina haben dagegen versucht, im System zu überleben. Kämpfen Wilhelm und Charlotte um die eigene Anerkennung in der Partei, so betrachten Kurt und Irina das Leben im Sozialismus aus der Distanz. Oft vergleicht Kurt die jüngste Vergangenheit des Nationalsozialismus und der Gefangenschaft im russischen Lager mit der aktuellen Situation, um Anzeichen eines nicht nur technischen, sondern vor allem sozialen Fortschritts sehen zu können. Entmutigt von dem Stand der Dinge kann er die Gegenwart aber nur mit Sarkasmus und einer bissigen Ironie kommentieren: Er wollte nachdenken, doch in dem stehenden Zug schienen auch seine Gedanken blockiert zu sein. Er stieg aus, überquerte unvorschriftsmäßig die Bahngleise und machte sich auf den Weg. […] Statt jedoch der Straße zu folgen, […] nahm Kurt von Schenkenhorst aus einen Fahrweg, der ihn ein Stück nordwestlich wieder zur Straße führen würde […] Der Weg führte jetzt direkt in den Wald. Hier war es schon deutlich dunkler […] Doch was war das schon für ein

22 Es könnte wohl behauptet werden, dass Charlotte ihre eigene Identität in Abgrenzung zu ihrer Familie und insbesondere zu ihrer Mutter entwickelt, wenn man an die Bilder ihrer Kindheit denkt (vgl. RUGE, 2011, S. 117f.). Diese Bilder sind meines Erachtens aber nicht so stark, um von einer Abgrenzung wie im Fall von Alexander reden zu können. Prägender sind ihre Erfahrungen als SED-Mitglied, die ihre bittere Enttäuschung durch das Ideal, dem sie lebenslang die Treue gehalten hat, am besten verdeutlichen.

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Isabella Ferron Wald. Ein Wäldchen war das. Wie oft war er durch die Taiga marschiert. Wie oft hatte er in der Taiga übernachtet. […] jetzt war ihm der weiche Waldboden unter den Füßen auf einmal unangenehm. In der Ferne glaubte er das Bellen der Bauchsägen zu hören. […] Und nach einer Weile kamen auch Bilder, flüchtig, zusammenhanglos. […] Nein, er war hier nicht in der Taiga. Weder gab es hier Arbeitslager noch Braunbären, stattdessen standen blaue Trabbis im Wald, in denen die Leute fickten. Wenn das kein Fortschritt ist, dachte Kurt. Und war es nicht ein Fortschritt, wenn man die Leute – anstatt sie zu erschießen – aus der Partei ausschloss? Was erwartete er? Hatte er vergessen, wie mühsam die Geschichte sich vorwärtsbewegt?23

Irina setzt sich mit der Vergangenheit kaum auseinander. Vor dem Auseinanderbrechen ihrer Familie stehend 24 nimmt sie langsam Abschied von einer Welt, zu der sie sich nicht zugehörig fühlt. Die nachfolgende Generation hingegen, die den Zweiten Weltkrieg nur aus Erzählungen kennt, empfindet den Kalten Krieg und das Leben in der DDR als Begrenzung der Persönlichkeitsentfaltung: [...] niemals, dachte Alexander, […] niemals würde er Paris oder Mexiko sehen, niemals Woodstock, noch nicht einmal Westberlin mit seinen Nacktdemos und seinen Studentenrevolten, seiner freien Liebe und seiner Außerparlamentarischen Opposition, nichts davon, dachte Alexander […] nichts davon würde er miterleben, […] zwischen hier und dort, zwischen der einen Welt und der anderen, zwischen der kleinen, engen Welt, in der er sein Leben würde verbringen müssen, und der anderen, der großen, weiten Welt, in der das große, das wahre Leben stattfand […]25

Oft beschwert sich der junge Alexander über sein restringiertes Leben in der DDR und sehnt sich nach der freien westlichen Welt jenseits der Mauer. Er versucht, in Abkehr von dem Verhalten der Großeltern und der Eltern einen eigenen Weg zu gehen.26 Das bedeutet Rebellion gegen ein gesellschaftliches 23 RUGE, 2011, S. 183-185. 24 Kurt hat sie mehrmals mit anderen Frauen betrogen, sie hat zu Charlotte ein sehr schlechtes Verhältnis gehabt, da sie sich nie akzeptiert gefühlt hat. Zudem macht sie sich Sorgen über die heftige Auseinandersetzung Kurts mit Alexander und dessen Flucht in den Westen, die sie als eine Katastrophe ohne Rettung erlebt. 25 EBD., S. 212. 26 Siehe die Episode über Weihnachten 1979, EBD., S. 290-306.

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und politisches System durch Rebellion gegen die eigene Familie: „Weiß ich nicht, sagte Sascha. Aber ich weiß, was ich nicht will: Ich will nicht mein Leben lang lügen müssen […] Du, schrie Sascha und zeigte mit dem Finger auf Kurt, du rätst mir ab, Geschichte zu studieren, und bist selbst Historiker! Wer ist hier verrückt?“27 Die jüngste Generation schließlich, von Markus verkörpert, erlebt alles als verschwommen, die Details sind nicht mehr zu erkennen und alles erscheint sinnlos. Die Identität der zukünftigen Generationen bildet sich somit nur durch selektive Negation im Fall Alexanders und Umdeutung im Fall von Markus, d. h. durch Abgrenzung von den identitätsrelevanten Codes der vorangegangenen Generation, demzufolge durch Auseinandersetzung und Konfrontation. Das symbolisiert meines Erachtens den Versuch der neuen Generationen, zuerst die Geschichte zu verstehen, um sie sodann anders erzählen zu können. ‚Anders erzählen‘ bedeutet aber nicht, die Geschichte umzudeuten, sondern sie durch ein modifiziertes narratives Verfahren einem breiteren Publikum, das sie nicht unmittelbar empirisch als Zeitzeuge erfahren hat, zugänglich zu machen. Es geht um die Art der Vermittlung: ohne Lüge, wie sich Kurt gewünscht hatte, aber zeitbezogen. D. h.: Man muss die Vergangenheit zugänglich machen und um das zu tun, muss sie durch die Medien verständlich gemacht werden, die in der Gegenwart verwendet werden. Ein Beispiel dafür ist die zirkuläre Erzählweise, die die geschichtlichen Ereignisse, sowohl privat wie auch öffentlich, auf die gleiche Ebene stellt und so eine Simultaneität einer unmittelbaren Erfahrung von Ereignissen suggeriert.

Krankheit Die Krankheiten einzelner Figuren durchziehen den Roman wie ein roter Faden. Schon der Beginn exponiert dieses Motiv mit dem Besuch des an Krebs erkrankten Alexander bei seinem dementen Vater Kurt. Zugleich werden von Anfang an zwei Gesichter der Krankheit gezeigt, die wiederum zwei Aspekte der Auseinandersetzung mit der Geschichte symbolisieren: Der tödliche Krebs, der das Leben Alexanders gefährdet, symbolisiert die Unveränderbarkeit der Geschichte und die existentielle Aussichtslosigkeit:

27 EBD., S. 299f.

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Isabella Ferron Das Absurde war, dass es sich um Abwehrzellen handelte. Um Zellen seines Immunsystems, eigentlich zu Abwehr fremdartigen Gewebes bestimmt, die sich aber, soweit Alexander verstanden hatte, nun selbst in feindliche Riesenzellen verwandelten. […] Es gab nichts herauszuschneiden, nichts zu lokalisieren. Es kam aus ihm selbst, aus seinem Immunsystem. Nein, es war sein Immunsystem. Es war er selbst. Er selbst war die Krankheit.28

Alexander fliegt nach Mexiko und begibt sich auf die Suche nach seinen Wurzeln. Dort bemerkt er, dass das Land nicht dem Bild entspricht, das ihm seine Großmutter Charlotte vermittelt hatte: „Er ist betrogen worden, sein Leben lang. Man hat ihn an der Nase herumgeführt (er kichert vor Freude über diese Erkenntnis). In Wirklichkeit ist alles Betrug.“29 Das Gefühl, einer Lebenslüge aufgesessen zu sein, beherrscht seine neue Existenz, es wird ihm dadurch bewusst, dass man den Lauf der Ereignisse nicht ändern und sich von dem eigenen Schicksal nicht losreißen kann.30 Er versteht langsam, dass die Geschichte nicht als identitätsstiftende, einigende Kraft verstanden werden darf. Sie gibt keine konstante oder zielgerichtete Entwicklung und somit kein Fundament. Geschichtliche Ereignisse, Entwicklungen sollen nicht von ihrem Endpunkt aus erklärt werden, sondern in ihrer Einmaligkeit. Ganz anders ist die Krankheit Kurts oder Wilhelms zu bewerten: Kurt wird als ein dementer Greis beschrieben, der sein Redetalent im Zuge des Fortschreitens der Krankheit verloren hat und dazu verurteilt ist, den Rest seines Lebens in einer Art Parallelwelt zu verbringen: Eigentlich ein Witz, dachte Alexander, dass Kurts Verfall ausgerechnet mit der Sprache begonnen hatte. Kurt, der Redner. Der große Erzähler. […] wie alle an seinen Lippen hingen, wenn er seine Geschichten erzählte, der Herr Professor […] Kurt konnte nichts mehr.31 28 EBD., S. 98f. Der Hinweis auf das Immunsystem als Schutz des Körpers kann meiner Ansicht nach als eine Anspielung auf die Berliner Mauer und ihre Rolle im Leben der Ostdeutschen zwischen 1961 und 1989 angesehen werden. Statt sie zu schützen, wird sie selbst zu einer Gefahr, zum Symbol einer zerfallenden Gesellschaft. 29 EBD., S. 103 und 111. 30 Alexanders Haltung der Geschichte gegenüber nähert sich Foucaults Behauptung, „hinter der Wahrheit, die immer neu und einfach ist, liegen tausendfache und tausendjährige Irrtümer“, FOUCAULT, 1987, S. 72. 31 RUGE, 2011, S. 10f.

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Wilhelm ist im Alter geistig verwirrt. In seinen Selbstgesprächen bemerkt er, dass er sich an die Vergangenheit erinnert, aber er ist nicht mehr imstande, Einzelheiten seines Lebens zu rekapitulieren und vor allem zu artikulieren. Das verursacht in ihm ein Gefühl des Unbehagens, er will etwas sagen, aber ihm fehlen die Worte, um seine Gedanken auszudrücken: „Er ging in sein Zimmer und schloss die Tür. Wusste auf einmal nicht weiter – wieder so ein Moment. […] Die Angst, das Gedächtnis zu verlieren. […].“32 Und worin das Problem bestand, hätte er gern gesagt, aber seine Zunge war zu schwer und sein Kopf war zu alt, um aus dem, was er wusste, Worte zu machen. Er schloss die Augen und lehnte sich in seinen Ohrensessel zurück. Hörte nicht mehr die Stimmen. Nur noch Grummeln in seinem Kopf, wie das Badewasser am Morgen. Und aus dem Grummeln kam eine Melodie. Und aus der Melodie kamen – Worte. Da waren sie plötzlich, die Worte, die er gesucht hatte: einfach und traurig und klar, und so selbstverständlich, dass er im selben Augenblick schon vergaß, dass er sie vergessen hatte.33

Die Demenz Wilhelms und Kurts kann somit auch als eine Art Rettung angesehen werden: Ihre Unfähigkeit, sich mit der Welt bewusst auseinanderzusetzen, ermöglicht es ihnen, das Scheitern sowohl ihrer Lebensweise wie auch ihres kommunistischen Weltbildes zu ignorieren bzw. zu vergessen. Es gibt z. B. im Leben Wilhelms wenige Tage, an die er sich erinnern kann und die an die Umgebung gebunden bleiben, wo er etwas Bestimmtes erlebt hat. Wilhelm kann sich an etwas erinnern, aber er kann nicht genau sagen, was an einem bestimmten Tag passiert ist; er lebt sozusagen in einer post-traumatischen Welt. So erinnert er sich bspw. nicht an die Namen seiner Geburtstagsgäste. Das Bild des alten Kurt, der einer der bedeutendsten Historiker der DDR war, welcher an einem geistigen Verfall leidet und dessen Gesamtwerk zur „Makulatur“ 34 verurteilt wurde, steht für das Scheitern des sozialistischen Systems der DDR. In diesem Zusammenhang erscheint ein Vergleich mit einer Episode aus Don DeLillos Roman Falling Man (2006) interessant: In seinem Roman erwähnt DeLillo eine Gruppe von Alzheimer-Patienten, die sich noch in der

32 EBD., S. 189. 33 EBD., S. 207. 34 EBD., S. 21.

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ersten Phase der Krankheit befinden. Sie bemerken, dass sie Tag für Tag ihre Erinnerungsfähigkeit verlieren.35 Lianne, die Krankenschwester, die diese Patienten pflegt, versucht, durch die Therapie ihre Erinnerungen zu speichern, da sie ihnen vorschlägt, ihre Erinnerungen aufzuschreiben. Diese Episode ist in diesem Zusammenhang wichtig, weil sie eine besondere Haltung der Geschichte gegenüber darstellt, d. h. das Schwanken zwischen dem Nicht-Vergessen-Können und dem NichtVergessen-Wollen, das auch Ruges Roman beherrscht.

Fazit Im Roman fragen sich die Protagonisten oftmals: „Was anfangen mit der verlorenen Zeit?“36 Wie kann man mit der Geschichte umgehen? Man muss immer – auch mit einer „gefährliche[n] Melancholie“ – „den Blick auf die Welt im Bewusstsein ihrer Vergänglichkeit“ 37 richten. Man wird die Geschichte nicht los, man kann lediglich versuchen, sie auf der Suche nach Sinnzusammenhängen zu problematisieren. Private Erinnerungen werden kollektiv, die Gegenwart wird im letzten Augenblick gebildet, bevor man die Zeit verliert. Ruge zeigt durch seine Protagonisten, dass man weder von der eigenen Geschichte noch von der großen Geschichte unabhängig ist; deswegen betont er die Funktion der Erinnerung als Bewahrung nicht nur der Welt, sondern auch der eigenen Identität. Unsere Gegenwart kann nur als solche begriffen werden, wenn wir es schaffen, das Vergangene anzunehmen und somit zu verarbeiten. Dadurch wird auch gezeigt, wie eine kontinuierliche Rehabilitierung des Ereignisses ablaufen könnte. Es liegt auf der Hand, dass es um eine narrative Anordnung geht, die sich nicht mehr auf den Satz „es ist nicht mehr, wie es war“ komprimieren lässt. Es ist nicht mehr die Rede von einem Davor und einem Danach, sondern von einer Relativierung des Ereignisses, der Krise der westlichen Welt, die das Gefühl vermittelt, alles könne auch anders sein und werden. Somit wird der Leser mit der Wirklichkeit konfrontiert; durch die 35 DELILLO, 2007, S. 16: „Sometimes it scared her […] the losses and failings, the grim prefigurings that issued now and then from a mind beginning to slide away from the adhesive friction that makes an individual possible […] But there were a thousand high times the member experience, given a chance to encounter the crossing points of insight and memory that the act of writing allows.“ 36 RUGE, 2011, S. 16. 37 EBD., S. 97.

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Narration betritt er einen konkreten Raum, wo er sich mit der jüngsten Geschichte Deutschlands auseinandersetzen kann. Demzufolge versucht Ruge, auch wenn er meines Erachtens von Assmanns Konzept der Geschichtsschreibung beeinflusst ist, die Geschichte nicht zu sublimieren und zu ästhetisieren, sondern mit konkretem Bezug auf Zeit, Raum und eine soziale Gruppe zu erzählen.

Literatur Quellen BRUSSIG, THOMAS, Wie es leuchtet, Frankfurt a. M. 2004. DELILLO, DON, Falling Man, New York 2007. RUGE, EUGEN, In Zeiten des abnehmenden Lichts, Reinbek bei Hamburg 2011.

Forschungsliteratur ASSMANN, JAN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. BAUER, ULRIKE: Interview mit Eugen Ruge, http://ecx.images-amazon.com/ images/I/41NI8Ih3bXS.pdf, 2.9.2014. CYPRIAN, GUDRUN, Familienbilder als Forschungsthema, in: Ein Herz und eine Seele? Familie heute, hg. von WOLFGANG E. WEBER, Stuttgart 2003, S. 9-19. FOUCAULT, MICHEL, Nietzsche, die Genealogie, die Historie, in: DERS., Von der Subversion des Wissen, hg. und aus dem Frz. und Ital. übers. von WALTER SEITTER, Frankfurt a. M. 1987, S. 69-90. FUGMANN, TOM, In Zeiten des abnehmenden Lichts. In: NDR, 10.10.2012. KARAMINOVA, ANA/JUNG, MARTIN (Hg.), Visualisierungen des Umbruchs. Strategien und Semantiken von Bildern zum Ende der kommunistischen Herrschaft im östlichen Europa, Frankfurt a. M. u. a. 2012. KEGEL, SANDRA, Ein deutsches Jahrhundert im Roman. Der Untergang des Hauses Ruge, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.8.2011, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/ein-deutsches-jahrhundertim-roman-der-untergang-des-hauses-ruge-11125457.html, 8.9.2013. KLIPINGAT, MILENA G., Eugen Ruge – der gereifte Schriftsteller, November 2011, http://www.goethe.de/ins/gr/de/lp/kul/dug/lit/avb/8472374.html, 2.9.2014.

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KÖHLER, ANJA/KÖHLER, DANIEL, Im Gespräch mit Eugen Ruge. Eugen Ruge über die Arbeit an seinem ersten Roman, literarische Traditionslinien und Dinge, die ihn beim Schreiben fast irre machen. In: Die Berliner Literaturkritik, 11.2.12, http://www.berlinerliteraturkritik.de/detailseite/artikel/imgespraech-mit-eugen-ruge.html, 5.3.2014. KOSELLECK, REINHART, Fiktion und geschichtliche Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2007) [1976], S. 39-54. KUMPFMÜLLER, MICHAEL, Das Wunder eines Romans, in: Die Welt, 24.9.2011. LAUER, GERHARD (Hg.), Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung (Göttinger Studien zur Generationsforschung 3), Göttingen 2010. NEUSCHÄFER, MARKUS, Vom doppelten Fortschreiben der Geschichte. Familiengeheimnisse im Generationenroman, in: Literaturwissenschaftliche Beiträge zur Generationsforschung (Göttinger Studien zur Generationsforschung 3), hg. von GERHARD LAUER, Göttingen 2010, S. 164-203.

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III. G ESCHICHTSTR AN SFORM ATIO NEN VON

IM

G ESELLSCH AFTSKRI TI K E RINNERUNGSKULTUR

K ONTEXT

UND

Between Fact and Fiction: Transforming the Past in George Psalmanazar’s Forged Histories of the Orient JACQUELINE HYLKEMA Sowohl Literatur als auch Geschichtsschreibung beschäftigen sich mit der ständigen Neuerfindung von Vergangenheit; dies gilt auch für verschiedene Arten von Fälschung. 1704 publizierte der Betrüger George Psalmanazar den erfolgreichen Traktat Eine historische und geographische Beschreibung von Formosa mit zahlreichen erfundenen Vergangenheitsbeschreibungen. In seiner Darstellung dieser Vergangenheiten spielte Psalmanazar auf komplexe Art und Weise mit den Dynamiken von Wahrheit und Fiktion sowie mit dem Wissen seiner Leser über die Konventionen von Historiografie und Literatur. Sein Werk reflektiert so die wahrgenommenen Unterschiede zwischen der Ars Poetica und der Ars Historica und Entwicklungen der Genres der Geschichtsschreibung, besonders der Biografie, im England des frühen 18. Jahrhunderts. Diese erfundenen Vergangenheiten von Psalmanazar sind relevant für das Verständnis von frühneuzeitlicher Wahrnehmung über die Art und Weise, in welcher Geschichte und Fiktion die Vergangenheit transformieren und für das Verständnis von den Grenzen, welche Wahrheit und Fiktion am Beginn des 18. Jahrhunderts trennten.

In the summer of 1703, a young man called George Psalmanazar arrived in England, claiming to be a native of the still little-known Formosa, the presentday Taiwan. The news of his arrival caused a sensation and Psalmanazar soon became the toast of London. He found himself frequenting the best dinner tables and most fashionable coffee houses and fascinated London society with outrageous accounts of Formosan life, told in a curious mixture of fluent Latin,

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broken English and snippets of what appeared to be his native Formosan tongue. Less than a year later Psalmanazar published these and many more accounts of Formosa in the treatise An Historical and Geographical Description of Formosa, an Island Subject to the Emperor of Japan (1704). The book was highly successful and quickly followed by a second edition, in 1705, as well as French, Dutch and German translations. Many of his contemporaries, including Sir Hans Sloane, Jonathan Swift and Gottfried Wilhelm von Leibniz, were highly suspicious of Psalmanazar and his claims – and rightly so. Psalmanazar was indeed an imposter but the general lack of reliable knowledge about Formosa made it extremely difficult to expose him as a fraud. The full truth would not be revealed until 1764, when Psalmanazar’s memoires were published posthumously. In Memoirs of ****, Commonly Known by the Name of George Psalmanazar; a Reputed Native of Formosa, Psalmanazar not only explicitly confessed to his deceptions but also offered a very detailed account of them, in an attempt to “undeceive the world, by unravelling that whole mystery of iniquity”.1 The narratologist Tzvetan Todorov discusses Psalmanazar’s An Historical and Geographical Description in his The Morals of History (1995) but then dismisses it, rather abruptly: What does Psalmanazars story, as I have related it, tell us about the border that separates truth and fiction? The description of Formosa possesses neither truthadequation nor truth-disclosure. And, because it presents itself not as fiction but as truth, it is not fiction but rather lies and imposture.2

Todorov therefore concludes: “As a historical text, Psalmanazars Description does not deserve respect because it is false. As a fiction, it is not worthy of admiration because it does not present itself as such.”3 Whether or not Psalmanazar’s treatise deserves respect or even admiration is a subjective matter but the fact that An Historical and Geographical Description is a forgery most certainly does not render the work useless in the context of the border that separates truth and fiction. Psalmanazar’s deceptions included several forged pasts, all of which were very carefully constructed as part of a highly sophisticated game with the dynamics of truth and fiction and 1 2 3

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PSALMANAZAR, 1764, p. 6. TODOROV, 1995, p. 99. IBID.

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reflect a number of early modern perceptions of how truth was represented in historical texts. In addition, Psalmanazar used the generic conventions of historical narrative as an extensive strategy to persuade his readers of his lies. As a result of this many aspects of An Historical and Geographical Description reflect the discussions found in early modern historiography about the distinctions between the ars poetica and the ars historica as well as early eighteenth-century developments in historical genres, most notably that of the biography. As such, Psalmanazar’s invented pasts are highly relevant to the understanding of the early modern perception of the different ways in which history and fiction transformed the past as well as the border that separated truth and fiction at the beginning of the eighteenth century.

Psalmanazar’s Past s Todorov dismisses Psalmanazar’s deceptions mainly on the basis that they are neither truth nor fiction whereas it actually was essential, on several levels, to their success that they contained both. Textual forgery is a rhetorical genre: regardless of the forgery’s ultimate goal, the text is always designed to persuade the reader of its authenticity and truths and lies are equally important tools in achieving this objective. This principle also applies to other narratives involved in the practice of forgery. The most notable of these is the backstory, the account that provides a forgery, whether it concerns a persona, object or story, with an invented past. This backstory is crucial to the credibility of any forgery and Psalmanazar’s imposture and forged accounts were no exception to this rule. If his deceptions were to be successful, he needed to be able to explain who his Formosan persona was and how he had ended up in London. As the Memoirs show, the development of this backstory started long before the summer of 1703. The book starts with a description of Psalmanazar’s youth and his education at unspecified Dominican and Jesuit schools, somewhere in France. Although Psalmanazar had excelled at rhetoric and languages, his poverty prevented him from becoming a scholar and, while still in his teens, he started wandering around France and Germany. He soon discovered that his quick wit, excellent memory and talent for rhetoric and languages enabled him to create and assume exotic identities, a practice that he found both lucrative and fascinating. Psalmanazar eventually created the

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persona of a Japanese heathen, which he named, for unknown reasons, after the Assyrian King Salmanazar in II Kings 17:3.4 Psalmanazar’s exotic character enlisted in the regiment of the Duke of Mecklenburg in Cologne in 1702 and remained with the Buchwald regiment when it moved to the Netherlands. In the spring of 1703, Psalmanazar arrived in the Dutch town of Sluys, where the young Japanese soldier found a warm welcome in the Scottish regiment of General George Lauder. Not everyone was convinced by Psalmanazar’s deceptions: the regiment’s chaplain, William Innes, soon became suspicious of Psalmanazar and managed to catch him out. However, realizing the potential of the deception, Innes decided to become an accomplice and helped Psalmanazar to tailor the deception to its next target: London. Their plan was to turn Psalmanazar’s existing imposture into a readymade piece of Anglican propaganda and under the guidance of Innes, the young Japanese heathen converted to Christianity. Psalmanazar and Innes then made several further changes to the deception, the most important of which was that Psalmanazar’s persona became a native of Formosa. The reason behind the change was simple: Japan had been visited by the English and reliable information about the Japanese empire was readily available in London. Formosa however was still much more obscure as only Dutch merchants and French Jesuits had ever visited the island. The English knew relatively little about Formosa and this lack of knowledge would not only make it more difficult to disprove Psalmanazar’s lies but also generate interest in his Formosan persona. Psalmanazar’s backstory was developed into a highly detailed account of how the young Formosan had been tricked into running off to Europe with his Latin tutor, who turned out to be a French Jesuit in disguise. After their arrival in France, this Father de Rode had taken Psalmanazar to the Jesuit College in Avignon where numerous attempts were made to convert and recruit him. Suspicious of the rituals of the Catholic faith, Psalmanazar resisted and, in fear of his life, he managed to escape to the Netherlands. There the Formosan heathen found the friendship of Innes and the Anglican faith, both of which he readily embraced. Like any good backstory, Psalmanazar’s account of his Formosan persona’s past was based on facts. It was for instance well known in England 4

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In his Memoirs, Psalmanazar explains that after his arrival in England, he added the P to his invented surname, “to make it somewhat different from that mentioned in the book of Kings”, PSALMANAZAR, 1764, p. 169.

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that the Jesuits had visited Formosa and the story of Psalmanazar’s abduction strongly echoed elements of a true story involving a Jesuit named De Rhodes.5 In 1645, the Jesuit priest Alexandre de Rhodes had travelled back from Macao to Europe with a young Cantonese boy, Cheng Wei-hsin. In Europe, the boy entered the Society of Jesus and as Emmanuel de Siqueira became the first Chinese Jesuit priest. 6 Although Psalmanazar never explicitly referred to Emmanuel de Siquiera, he most definitely implied that Alexandre de Rhodes had been the very Jesuit who had tried to abduct his Formosan persona. These facts provided the strands through which Psalmanazar could weave his deceptions. The fact that very little was known about Formosa in Britain provided him with a large degree of freedom in the creation of his fabric of lies and truths. He could, as he would later remark in his memoires, make something “wholly new and surprising” – after all, who would be able to argue with him? 7 Psalmanazar and Innes were also aware that the distinctly antiJesuit slant of the backstory would be helpful in persuading their British audiences of the veracity of their lies. As a result of the abundant early modern tradition in anti-Jesuit Anglican propaganda and forgery, like the Monita Secreta (1614) and Thomas Chaloner’s A True and Exact Relation of the Strange Finding out of Moses his Tombe (1656), the English were highly suspicious of the Society of Jesus and many of them would gladly have believed Jesuits to be capable of abduction, forced conversion and death threats. The invented past of Psalmanazar’s Formosan persona was to be crucial to his imposture and would provide the most important foundation of An Historical and Geographical Description, the treatise so readily dismissed by Tzvetan Todorov. The main argument that Todorov raises against Psalmanazar’s fabricated pasts is that they are neither truth nor fiction but Psalmanazar’s carefully woven backstory shows that they are in fact both. This essentially hybrid nature makes historical forgery particularly relevant in the discourse of truth and truth-telling as it not only very deliberately selects which elements of truth to include but also carefully reflects on what a particular society perceives to be the markers of truth-disclosure. In Psalmanazar’s case, the most important of these markers was the concept of the eyewitness, which in the course of the seventeenth century had become the 5 6 7

FOLEY, 1968, p. 26 (in footnote). IBID., p. 34. PSALMANAZAR, 1764, p. 217.

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key concept in the discourse of truth-telling. The introduction of Samuel Purchas’ Purchas his Pilgrimes (1625), for instance, emphasized the particular reliability of ‘eye evidence and assured readers that the information in the book was a world that “travellers have by their own eyes observed”. 8 His invented Formosan past firmly established Psalmanazar as a source of ‘eye evidence, which provided the native of Formosa with authorial authority and his stories, even the more lurid ones about cannibalism and child sacrifice, with credibility. Nevertheless, Psalmanazar’s stories soon aroused the suspicions of the Royal Society and he was invited to Gresham College to answer some questions about his claims. The Royal Society however quickly realized that it would be very difficult to catch Psalmanazar out as its members simply lacked the necessary knowledge to check the veracity of Psalmanazar’s replies. The astronomer Edmund Halley, for instance, asked Psalmanazar how long the sun shone down Formosan chimneys, to which Psalmanazar calmly replied that it did not shine down them at all since all Formosan chimneys were crooked.9 It was a ludicrous answer but also impossible for Halley to disprove: how was he to know whether Formosan chimneys were crooked or not? The Royal Society’s minutes also state that the blond and blue-eyed Psalmanazar “looked like a young Dutch man” but who could tell – as Psalmanazar would point out whenever the issue of physical appearance came up – what Formosans actually looked like?10 On 2 February 1704, the Royal Society changed its strategy and forced Psalmanazar into a debate with the French Jesuit Jean de Fontaney, one of the few people in Europe who had travelled to Formosa and was therefore an actual eyewitness. At the end of the debate, the Royal Society had seen enough: although Father Fontaney had not been able to provide conclusive evidence, the Royal Society was now fully convinced that George Psalmanazar was an imposter. In June 1705, Fontaney would clinch the matter in a private letter to Hans Sloane. This letter contained an appendix with affidavits by a number of French Jesuits that crushed one of the factual elements of Psalmanazar’s invented past: Father Alexandre de Rhodes had died in Persia in 1660 and the only other Jesuit called De Rhodes had never travelled outside

8 PURCHAS, 1625, p. i-iii. 9 FOLEY, 1968, p. 19. 10 KEEVAK, 2004, p. 38.

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France.11 Sloane never made this information public, possibly because by this stage, Psalmanazar had changed tactics too. An Historical and Geographical Description was published only months after the confrontation between Psalmanazar and Fontaney but its impact on the book is clear from its very beginning. The title page states that Psalmanazar has added a preface to the book “in Vindication of himself from the Reflections of a Jesuit lately come from China, with an account that passed between them.” However, in his dedication to Henry Compton, the Bishop of London, Psalmanazar turns the tables on the Society of Jesus by using his ability to forge pasts as a weapon against them. The main reason for writing the treatise, he notes, was “because the Jesuits I found had impos’d so many Stories, and such gross Fallacies upon the Public, that they might better excuse themselves from those base Actions, which deservedly brought upon them that fierce Persecution in Japan.”12 However, his intention to write a true history of the Jesuits’ actions in Japan means that “this wicked society”13 is now persecuting him. He repeats this claim at the start of his account of his confrontation with Father Fontaney: This Man is now in London, and some Body had told him I was publishing a Book, in which I speak much against the Roman Church, and especially against the Jesuits: This has so enrag’d him, that he endeavours by all means imaginable to destroy my Credit.14

Psalmanazar’s account of his encounters with Fontaney is riddled with lies but thanks to Psalmanazar’s pre-emptive strike, any protest by Fontaney would only have served to confirm Psalmanazar’s claim that the Jesuit was out to destroy his credit, if only out of revenge for revealing ‘the true history’ of the Jesuit order’s actions in Japan. This account is found at the very end of the book, in chapter XXXV, and here too Psalmanazar cleverly mixes fact and fiction. Although Psalmanazar does not mention any specific sources, he presents the history of the Jesuits’ presence in Japan between 1549 and 1615 from a distinctly Formosan perspective and uses phrases like “tis commonly believed in Formosa” to add authority to his statements.15 Many of the dates 11 12 13 14 15

FOLEY, 1968, p. 34. PSALMANAZAR, 1704, p. A3. IBID. IBID., p. vi. IBID., p. 299.

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and more general facts presented by Psalmanazar are in fact correct and his account of Francis Xavier’s 1549 mission and the initial “perfect Harmony between the Jesuits and the Japannese” appear objective and sincere.16 However, he then plunges into a catalogue of crimes committed by the Jesuits – including espionage, forgery and murder – that is more closely related to antiJesuit forgeries such as the Monita Secreta (1614) and A True and Exact Relation of the Strange Finding out of Moses his Tombe (1656) than anything that might actually have taken place in Japan. However, this is exactly what Psalmanazar’s history attempts achieve: to confirm and reinforce British prejudices regarding the Society of Jesus and to gather support against any further Jesuit attempts to expose him. He clinches this attempt at the very end of the chapter by explicitly weaving the remembrance of an event from England’s past into his own account: And this Relation of the Conspiracy of the Jesuits and other Popish Priests against the Pagans, and the great Slaughter of the Christians, which follow’d upon the Discovery of it, is as firmly believ’d in Formosa, by Tradition from Father to Son, as the Gunpowder-Plot is believ’d here in England, to have been contriv’d by the Jesuits and other Papists.17

The Passage An Historical and Geographical Description of Formosa is a highly complex book. Psalmanazar’s attack on Father Fontaney is followed by a detailed account of Psalmanazar’s childhood on Formosa and his abduction to Europe, a long essay on Anglican theology and extensive scholarly descriptions of Formosa, its people and their language and religion. Although modern studies of the book have focused on its ethnographical, linguistic, religious and geographical aspects, history plays a key part in An Historical and Geographical Description. The book includes several historical narratives, the most important of which are Psalmanazar’s description of his confrontation with Father Fontaney at Gresham College, the Formosan persona’s extended backstory, the history of Formosa and the history of the Jesuit presence in Japan from 1549 to 1616. Like the backstory Psalmanazar and Innes devised in 16 IBID., p. 301. 17 IBID., p. 310f.

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Sluys, these histories are all a combination of truth and fiction in which the truth is provided to anchor the lies and make them appear more credible. However, one specific and more formal aspect of the treatise is particularly relevant to Todorov’s question of what Psalmanazar’s story tells “us about the border that separates truth and fiction”.18 A first step towards an answer to this question is found in the historiographical treatise De l’Histoire (1670) by the French Jesuit poet and historian Pierre le Moyne. Published in English as Of the Art of both Writing and Judging History in 1694, the book is an elaborate exploration of the nature of history and the characteristics that set it apart from literary fiction. When first setting out to write history, this was initially a strange land to the poet Le Moyne: “Nevertheless, having with Care discovered the Passage, I have neither found it so Long nor so Painful, as many imagine not knowing the Country, but by ill Maps and false Representations made of It.”19 The crucial distinction between history and literature, Le Moyne argues, lies in the objectives behind their respective transformations of the past. Heroic poetry, the highest form of literature, reinvents the past to suit the poem and its ultimate aim, “to take the just Measure of Humane Life”. 20 History also transforms the past, but what separates the two is the truth: history is “where the hero may not be found in Imaginations and Semblances of Truth, but in Effects True and Solid.”21 In other words, whereas literature has poetic licence, history must always be accurate in its facts. The historian, Le Moyne writes, must leave to the poets “to amuse the idle youth with representations of feigned Wars and imagined Loves [...] His office is to represent his matter founded on truth”.22 Le Moyne’s distinction between the ars historica and the ars poetica was of course anything but new. The discussion about what separates these two goes back to Cicero and the notion that this boundary is defined by truth echoes Cicero’s first law of history, “not to tell anything but the truth”23. However, what does set Le Moyne’s observations apart from those made by his classical predecessors as well as the many authors engaged in the early modern ars poetica versus ars historica controversy, is his particular 18 19 20 21 22 23

TODOROV, 1995, p. 99. LE MOYNE, 1694, p. 2f. IBID., p. 2. IBID., p. 28. IBID., p.111. CICERO, 1996, p. 245. “Nam quis nescit, primam esse historiae legem, ne quid falsi dicere audeat?”

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representation of the distinction itself, for rather than the traditional representation of history and literature as sisters or direct neighbours, he invokes the image of “the passage” – or trajet in the original French – between the two. The notion that history and literary fiction are separated by a space rather than the distinct boundary suggested by Todorov, evokes the question of what exactly occupies this no-man’s land. The answer, I propose, is forgery and in particular the type of textual forgery that claims, explicitly or implicitly, to be a truthful account of a genuine historical event. To be even more particular, this space is occupied by creative forgery, which does not copy existing objects, events or personae but constructs unique ones. These forgeries are very similar to works of art, in the sense that they are constructs, created by a maker for a particular audience. However, whereas works of art, like poems, are presented within a representational frame, this is not the case for forgeries. In order to be accepted as authentic, they must be presented as what they claim to be, without any trace of their maker or fictionality. In order to achieve this objective, early modern forgers like George Psalmanazar learned how to avoid the characteristics of literary fiction and instead imitated that which in the eyes of their readers constituted authenticity and truthfulness. In the case of fabricated historical events, this meant that for a forgery to be successful, it had to adhere to what their readers perceived as the truthful narration of genuine historical events. In other words, its creator had to think very carefully what his or her readers would recognize and trust as the markers of truthful history and it is exactly this quality that makes historical forgeries like Psalmanazar’s particularly relevant in discussions about the early modern perception of what separated history from literary fiction in the early modern period.24 Psalmanazar certainly was aware of the crucial role of truth in the perceived distinction between history and literary fiction. He tackles it head-on in his dedication to Henry Compton, stating that in England he “had met with so many Romantic Stories of all those remote Eastern Countries, especially of my own, which had been impos’d upon you as 24 This is not to imply that forgery is the only textual genre that reflects the development of the eighteenth-century perception of the border between history and literary fiction. As the article Approaching History and Fiction. Daniel Defoe’s Fiction and Writings on the Great Storm by Aino Mäkikalli in this volume shows, journalism too was preoccupied with the exploration of the distinction between history and fiction, and the same applies to satire, the genre that deliberately played with the conventions of both and owed much to the textual strategies of forgery.

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undoubted Truths, and universally believed”.25 As “Truth ought to dispel these Clouds of fabulous Reports”, Psalmanazar felt himself “indispensably oblig’d to give you a more faithful History of the Isle of Formosa”.26 He refers several times to the distinction between romance and history in the treatise and always emphasizes that his is a proper history.27 But what exactly constitutes such a history? According to Le Moyne, ideal history is marked by a factually accurate representation of the past and its authors by sincerity. The historian must convey his facts, Le Moyne insists, “Pure and Sincere, as the Publick Faith and the Truth of History demands from him”.28 Psalmanazar emphasizes this exact combined notion of sincerity and truthfulness in his preface: The second thing I wou’d have you take notice of, is, That I pretend not to give you a perfect and complete History of my Island, because I was a meer Youth when I left it, but nineteen Years of Age, and therefore uncapable to give an exact Account of it: Besides I have now been six Years from home, so many things of moment may perhaps flip my Memory, which would have adorn’d the Description of my Country. But whatsoever I can recollect, I have freely publish’d; and I assure you, I have not positively asserted any thing which is not as positively true.29

Psalmanazar repeats this point on numerous occasions, for instance when he admits that he is not entirely certain of a particular fact: “But I must confess that I cannot positively determine the time when it happen’d; only I think it most probable, that it was about the Year 1616”.30 As the fact in question was fabricated, Psalmanazar’s uncertainty is feigned and the remark is primarily made to present him as a sincere and responsible historian and to suggest that all the other facts in the chapter are absolutely correct. Psalmanazar’s historical accounts in An Historical and Geographical Description also closely resemble many of the other ideals of historical narrative presented by Le Moyne. They are brief, to the point and mainly objective. In addition, Psalmanazar is careful to refer to sources and mention names, dates and places and he constantly emphasizes that he is writing for instruction rather than entertainment. 25 26 27 28 29 30

PSALMANAZAR, 1704, p. i. IBID., p. i. See for instance IBID., p. iv. LE MOYNE, 1694, p. 76. PSALMANAZAR, 1704, p. v. IBID., p. 310f.

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The main part of Psalmanazar’s Formosan history is found in the second chapter of the treatise, Of the great Revolutions which have happen’d in the Island Formosa. Most of this chapter’s thirteen pages are taken up by “short and true Account as it is to be found in our Histories, and is firmly believed by all the People of Formosa” of how Formosa was subjected by Meryaandanoo, the Emperor of Japan and “by Nation a Chinese”. 31 According to this account, Meryaandanoo managed to win the affection of the Japanese Emperor Chazadijn and the heart of his empress. However, after being promoted to the position of Chief General of the Imperial Forces, he devised a list to kill both the emperor and empress and become the Emperor of Japan himself. He then used another list to invade Formosa, by taking advantage of the kindness and generosity of its king, and subject it to Japanese rule. The story is a complete fabrication: there have never been any Japanese emperors by the names of Meryaandanoo and Chazadjin nor can these names be found in any Western sources. However, the account is highly important to the book as it attempts to explain away a major flaw in Psalmanazar’s backstory. As Father Fontaney had – correctly – pointed out during his confrontation with Psalmanazar at Gresham College, Formosa belonged to China but Psalmanazar had to maintain that it was Japanese. As Psalmanazar was well aware, it is crucial for any forger never to change his story. In Sluys he had initially claimed to be Japanese so he had to find a way to be both Japanese and Formosan. The past he invented for Formosa in An Historical and Geographical Description does exactly this, while Meryaandanoo’s Chinese origin explains why anybody, including Father Fontaney, would think that Formosa might belong to China. However, the story of Meryaandanoo also serves another purpose. To some extent forgers of Oriental histories, like Psalmanazar and Thomas Chaloner, had a much greater freedom to weave fictional elements into their narratives. The relative lack of knowledge about Asian history and the relatively limited speed with which information could be verified provided them with greater safety than forgers who fabricated native pasts, such as Curzio Inghirami and James Macpherson. In addition, those forging Oriental histories were aware that their readers’ knowledge of the Orient was very much based on the often lurid Orientalist fictions that had become increasingly fashionable in early modern Europe. Psalmanazar shows this awareness explicitly in his dedication when he states that the “many Romantic Stories of all those remote Eastern Countries” have been imposed on the English “as undoubted Truths, and [are] 31 IBID., p. 150.

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universally believed” and promises to “dispel these Clouds of fabulous Reports” with truth.32 Despite these honourable intentions, Psalmanazar’s invented Formosan past is very much such stuff early modern romances were made on, with secret garden assignations, plots, disguises and the “Bloody Villain” Meryaandanoo.33 To some extent Psalmanazar must have been aware that his readers were keen to see Orientalist fantasies reflected in and confirmed by ‘genuine’ accounts and knew that the English’ limited amount of reliable knowledge about Formosa gave him the freedom to include narrative elements more usually associated with literary fiction. However, he did make sure that he presented these elements with several of the historiographical conventions that were beginning to be perceived as exclusive to historical writing. The story is told without any transgressions and its real objective, to explain why Formosa is Japanese rather than Chinese, keeps it focused enough to make it appear like a political history. Some of Psalmanazar’s readers however appear to have pointed out that “this tragical Story of Meryaanandoo is so full of wonders, that it can scarce be credited”.34 In the second preface of the 1705 edition of the book, Psalmanazar provides these readers with a very clever response, by arguing that sometimes truth appears stranger than fiction: This is such a silly Objection, that I should not have taken notice of it, had it not given me a fair opportunity of putting the People of this Kingdom in mind of a far more wonderful Trajedy; I mean their falsely accusing, condemning, and at last contrary, directly contrary to their natural and and sworn Allegiance, murthering King Charles the First before his own Palace. So that if the tragical and wonderful Circumstances in the story of Meryaandanoo be Arguments against the truth of it, certainly after-Ages, and far distant Countries, will never believe the most unreasonable Murther of King Charles the First.35

Finally, it must be noted that Psalmanazar makes no attempt whatsoever to weave true facts into his story of Meryaandanoo. In the other parts of the treatise, he emphatically mentions, uses and discusses Western sources, most notably George Candidius’ A Short Account of the Island of Formosa (1704) 32 33 34 35

IBID., p. i. IBID., p. 151. PSALMANAZAR, 1705, The Second Preface (unnumbered), objection 16. IBID.

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and Bernard Varenius’ Descriptio Regni Japoniae et Siam (1673) with the intention of using known and verifiable facts to make his lies look more credible.36 The historical chapter, however, relies solely on Formosan sources and begins with: “We find in our Chronicles that above 200 years ago …”.37 The phrase “our Chronicles” is highly relevant to the notion of ‘eye evidence, which Le Moyne identifies as a crucial aspect of historiography: Because [the historian’s] Office is Reporter and Witness, it were to be wish’d it might be from his own View; but since Nature cannot permit a man to live twice, or more than in one Age, it must at least be prop’d by the Testimony of those that have seen the things they recount.38

In the accounts of recent events, Psalmanazar very much emphasizes and capitalizes on the notion of having been an eyewitness to the pasts he is describing. In the case of Meryaandanoo’s story however he cannot, for obvious reasons, provide such an eyewitness perspective. “Our Chronicles” however is the next best thing and fully in line with the type of sources recommended by Le Moyne. In the chapter, he repeats this notion several times, for instance when he writes that the story of Meryaandanoo is found in “our Histories, and is firmly believed by all the People of Formosa”. 39 The consensus in this phrase provides the account with authority and the notion of “our Histories” sounds reassuringly official. However, the phrase also emphasizes and reinforces the notion that Psalmanazar is ‘one of the People of Formosa and has exclusive access to these histories. This notion of exclusive knowledge added to Psalmanazar’s authority but also meant that his sources were unverifiable. The use of accessible and verifiable sources was beginning to emerge as requirement of historical writing; Le Moyne notes that it is the principal duty of a historian to select his facts carefully and “as much as he can

36 Psalmanazar addresses this point explicitly in the second preface to the 1705 edition. After noting that some of his readers have remarked that his history of Meryaandanoo cannot be found in any Western sources, most notably Candidius’ A Short Account of the Island of Formosa, Psalmanazar argues that if he were a fraud, then surely he would have made sure “to read Candidius and others, and frame his Tale so that he may not be contradicted by the Romantick Authors that have already written of these Countries”. IBID., p. B2. 37 PSALMANAZAR, 1704, p. 147. 38 LE MOYNE, 1694, p. 26. 39 PSALMANAZAR, 1704, p. 150.

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Publick”40. Psalmanazar must have realized this for in one notable instance he provides his source in full by quoting an entire letter from Meryaandanoo to the King of Formosa.41 The letter is, of course, forged but it shows, once again, that Psalmanazar was very well aware of the conventions of history and what made historical texts reliable in the eyes of his reader.

Biography The most extensive historical section in An Historical and Geographical Description of Formosa concerns the account of Psalmanazar’s Formosan childhood and the period between his departure from the island and his arrival in London. Here too Psalmanazar demonstrates a great understanding of his readers’ perception of the difference between literary fiction and historical writing and his application of this knowledge is particularly relevant in the context of one particular type of text that was only just beginning to emerge as a historical genre, the biography. In her article Biography and Modernity: Some Thoughts on Origins (2008), historian and biographer Stella Tillyard writes that life stories were so rife in all kinds of different English texts that it is difficult to speak of biography as a separate genre in early eighteenth century England. Also, as Tillyard remarks, the boundaries between fact and fiction in the narration of lives were still porous and left readers in “a kind of genre soup”.42 This however was about to change. In The Art of Biography in England (1941), Donald Stauffer argues that during the course of the eighteenth century “truthfulness became, in fact as well as in repeated avowals, a criterion for biography”.43 As a historical genre, biography was still in its infancy when An Historical and Geographical Description appeared – the work commonly acknowledged to be the first proper modern English biography, Samuel Johnson’s Life of Mr Richard Savage, would not be published until 1744.44 However, as it was crucial for Psalmanazar that his readers would fully believe his accounts to be true, the biographical sections of the book deliberately adhere to the same historio40 41 42 43 44

LE MOYNE, 1694, p. 68. IBID., p. 156. TILLYARD, 2008, p. 32. STAUFFER, 1941. SHARPE/ZWICKER, 2008, p. 32.

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graphical markers as the other histories in the book and carefully avoid any of the devices used in literary fiction. As in the other historical sections, his narration is to the point and factual: from the moment Psalmanazar and his tutor set off for Europe to the moment he is baptised, the story is littered with facts and punctuated by time markers. They for instance spend six weeks at a Jesuit monastery on Goa, the journey from Goa to Gibraltar takes nine months, and then have to stay on Gibraltar for five weeks because the change of climate and diet is making Psalmanazar ill.45 It is not uncommon for a travel account to mention details like these, but the abun-dance and specificity found in Psalmanazar’s account is remarkable. The reason for this, of course, is that Psalmanazar needed to account for all the time that had allegedly passed between his departure from Formosa and his arrival in London and make sure that all details were correct. The details of how long a specific journey between two points would take were very well known – any mistakes in this would have looked suspicious while getting it right added to the probability that Psalmanazar really was who he said he was. In its insistence on truthfulness and factuality, Psalmanazar’s account closely resembles the historiographical biographies that would be published much later in the eighteenth century but it also engaged with the conventions of biography in different ways. Tillyard identifies an emphasis on childhood and social origins as typical of English biography and these are exactly the two aspects Psalmanazar focuses on in the account of his persona’s Formosan life.46 He furnishes his reader with only a handful of details about his origins, but together they create a clear image of a young man born into a very wealthy and well-respected Formosan family. The most important aspect of this wealth is that it gave the young Psalmanazar access to a private education. This education too is only conveyed in a few brushstrokes, but the picture that emerges is that of exactly the kind of education prescribed by the highly popular seventeenth-century genre of the didactic manual and described in the perhaps even more popular exemplary lives of the late seventeenth century: a thorough instruction in Classical Greek and Latin. Psalmanazar’s image of eighteenth-century Taiwanese children fluently conversing in classical Greek may seem odd to modern readers, but many of his contemporary readers would have found this quite plausible. After all, English children were taught to read Cicero, so why would this be any 45 PSALMANAZAR, 1704, p. 13. 46 TILLYARD, 2008, p. 32.

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different for Formosan children? With his descriptions of a childhood spent reading the classics, Psalmanazar not only managed to present an explanation for his exceptional fluency in Latin, the language in which he communicated when he first arrived in England but also a childhood that his readers could relate to. This aspect highlights a crucial aspect of Psalmanazar’s imposture: its cultural duality. Most early modern Orientalist imposters, such as Padre Ottomano and Joannes Michael Cigala, focused exclusively on their otherness, turning themselves into exotic spectacles.47 Psalmanazar however emphatically chose another approach and forged a past for his persona that included exotic aspects as well as elements that his British readers could identify with, such as his education and his Christian faith. The autobiographical part of the description that deals with Psalmanazar’s life before he is taken to the Jesuit College in Avignon only covers a few pages but the part covering the period between his stay at the Jesuit college in Avignon and his baptism in Sluys takes up nearly five times as many pages and is followed by an extensive discussion of his perception and experience of the Anglican faith. These two parts closely adhere to the generic conventions of a biographical subgenre that was still particularly popular in early eighteenth-century England, the exemplary life. Closely related to hagiography, these texts were presented as instructions for how the ideal Christian (Protestant or Catholic) life should be lived. These parts of the book are in fact the most recognizable form of biography in the context of Psalmanazar’s period. It is striking just how much this spiritual development is written along the lines of the Protestant conversion biography, which was still widely read at the turn of the eighteenth century. 48 The development of encounter, doubt, insight, acceptance and conversion closely follow the pattern of these works, as does its discussion and rejection of Roman Catholicism. This part of the book is almost certainly the work of Psalmanazar’s accomplice, Alexander Innes, who as an Anglican clergyman would have been familiar with the genre of protestant conversion biography. The fact that Psalmanazar presented the development of his conversion according to generic conventions that his readers would recognize, probably made it easier for them to accept his religious journey and subsequent identity as a Christian as genuine. 47 For an extensive contemporary discussion of these particular two imposters, please see EVELYN, 1669. 48 HUNTER, 1997, p. 298-318.

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Conclusion If history, as Johan Huizinga wrote in his essay The Task of Cultural History (1929), is “the interpretation of the significance that the past has for us”, then historical forgery is the ultimate expression of that significance – histories not merely interpreted but fabricated to suit their own time’s perceptions, expectations and demands of the past.49 In the case of George Psalmanazar, it is important to note that his deception was originally created as religiouspolitical propaganda and that his invented pasts only served to support this. Psalmanazar did not set out to forge a national history for Formosa, like Curzio Inghirami did for Tuscany in the 1630s and James Macpherson would for Scotland in the 1760s, but the historical accounts in An Historical and Geographical Description do reflect English perceptions of what an Oriental past should be like and how the Society of Jesus was expected to have behaved in seventeenth-century Japan. As such, they do reflect the discourses of their period and can, and should, be studied in the context of the history of Orientalism and religious politics in the early modern period. Perhaps more importantly, Psalmanazar’s fabricated pasts are highly relevant in the context of historiography and the development of the perceived differences between history and literary fiction in the early eighteenth century. It must be noted that these differences were somewhat nebulous, particularly in terms of the truthfulness that historiographers such as Le Moyne identified as the main characteristic of historical writing. Many eighteenth-century literary fictions muddied the waters considerably by claiming truthfulness for fictitious narratives and presenting them as historical accounts. Daniel Defoe’s fictional novel Robinson Crusoe (1719), for instance, was emphatically presented as a faithful autobiographical account written by Crusoe himself. It also remains to be seen whether any historian can ever faithfully and correctly represent the past without transforming it and much of what was offered and perceived as faithful historical writing in eighteenth-century England was indeed highly unreliable. However, what makes the historical accounts in Psalmanazar’s treatise particularly relevant in this context is that they occupy Le Moyne’s passage between literary fiction and history. Again, this textual type of creative forgery is similar to fiction, in the sense that both are fictitious constructs that

49 HUIZINGA, 1929, p. 58.

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transform existing pasts (such as Psalmanazar’s history of the presence of the Society of Jesus in Japan between 1549 and 1615) and create completely new ones, like the story of Meryaandanoo. They share the same medium and the simple fact that they have authors and readers but what sets them apart is that literary fiction is explicitly offered as a fictional text whereas the forgery must hide its fictitious status. Again, these are murky waters, especially in the context of the eighteenth century: Robinson Crusoe initially veered dangerously towards forgery and some of its readers did believe that the novel was a factual account of authentic events. Psalmanazar knew Defoe well and shared his fascination for the border between truth and fiction. Defoe however used his understanding of the stylistic markers of truthfulness to create rhetorical effects within his works of fiction and blended them with markers that identified their fictional status. Most of Defoe’s readers would have known and recognized these markers and this sufficiently contained his fictions within their artistic boundaries. Psalmanazar however went far beyond this border by claiming that his account was genuine. He not only explicitly mentioned the difference between romance and history again and again in his treatise but also avoided any markers of fictionality and embraced every opportunity to deploy what were perceived as the markers of truthful history. Psalmanazar’s treatise therefore shows that his readers did distinguish fictional from historical narratives and were aware of the conceptual and stylistic characteristics that were thought to define history. And with this, to return to Todorov’s question, An Historical and Geographical Description really does tell us something about the border that separates truth and fiction, or at least about how it was perceived in early eighteenthcentury England.

Works Cited Primary Sources CANDIDIUS, GEORGE, A Short Account of the Island of Formosa, in: A Collection of Voyages and Travels, ed. by AWNSHAM CHURCHILL/JOHN CHURCHILL, London 1704. CHALONER, THOMAS, A True and Exact Relation of the Strange Finding out of Moses his Tombe, London 1656.

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CICERO, MARCUS TULLIUS, De Oratore, trans. by E. W. SUTTON, Cambridge, Mass. 1996 (reprint 1948 edn) [55 B.C.]. DEFOE, DANIEL, The Life and Strange Surprizing Adventures of Robinson Crusoe, Of York, Mariner, London 1719. EVELYN, JOHN, The History of the Three Late Famous Impostors, viz Padre Ottomano, Mahomed Bei, and Sabatai Sevi, London 1669. JOHNSON, SAMUEL, An Account of the Life of Mr Richard Savage, London 1744. LE MOYNE, PIERRE, De l’Histoire, Paris 1670. ID., Of the Art of both Writing and Judging History, London 1694. PSALMANAZAR, GEORGE, An Historical and Geographical Description of Formosa, London 1704. ID., An Historical and Geographical Description of Formosa, 2nd rev. ed., London 1705. ID., Memoirs of ****, Commonly Known by the Name of George Psalmanazar, a Reputed Native of Formosa, Written by Himself, London 1764. PURCHAS, SAMUEL, Purchas his Pilgrimes, London 1625. VARENIUS, BERNHARDUS, Descriptio Regni Japoniae et Siam, Cambridge 1673. ZAHOROWSKI, JEROME (attr.), Monita privata Societatis Jesu, Krakow 1614.

Secondary Sources FOLEY, FREDERIC J., The Great Formosan Impostor, Taipei 1968. HUNTER, J. PAUL, Protesting Fiction, Constructing History, in: The Historical Imagination in Early Modern Britain: History, Rhetoric, and Fiction, 15001800, ed. by DONALD R. KELLEY/DAVID HARRIS SACKS, Cambridge 1997, p. 298-317. HUIZINGA, JOHAN, The Task of Cultural History, in: Men and Ideas: History, the Middle Ages, the Renaissance, trans. by JAMES S. HOLMES/HANS VAN MARLE, New York 1959 [ID., De Taak der Cultuurgeschiedenis, in: ID., Cultuurhistorische verkenningen, Haarlem 1929, p. 1-85], p. 17-76. KEEVAK, MICHAEL, The Pretended Asian. George Psalmanazar’s Eighteenth Century Formosan Hoax, Detroit 2004. SHARPE, KEVIN/ZWICKER, STEVEN, Introducing Lives, in: Writing Lives: Biography and Textuality, Identity and Representation in Early Modern England, ed. by ID., Oxford 2008, p. 1-28.

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STAUFFER, DONALD A., The Art of Biography in Eighteenth Century England: Bibliographical Supplement, Princeton 1941. TILLYARD, STELLA, Biography and Modernity: Some Thoughts on Origins, in: Writing Lives: Biography and Textuality, Identity and Representation in Early Modern England, ed. by KEVIN SHARPE/STEVEN ZWICKER, Oxford 2008, p. 29-34. TODOROV, TZVETAN, The Morals of History, trans. by ALYSON WATERS, Minneapolis 1995.

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Verlebendigung der Antike Zur Funktionalisierung von Geschichte in der Kulturkritik um 1900 am Beispiel von Stefan George und Alfred Schuler EVA WIEGMANN-SCHUBERT Stefan George und Alfred Schuler begegnen der sog. Krise des Historismus, die den Glauben an die Einheit von geschichtlichem und kulturellem Fortschritt erschütterte, mit einer neuen Art des Historismus, die mit einer signifikanten Umcodierung der überlieferten Wissensbestände einhergeht. Vor dem Hintergrund der kulturpessimistischen Stimmungslage des Fin de Siècle knüpft die Idealisierung der Antike hier zwar an deren bildungsbürgerlich tradierte normative Setzung durch Johann Joachim Winkelmann an, das klassische Antikenverständnis wird jedoch einer zeitbedingten Transformation unterzogen und zum vitalistischen Gegenpol einer als dekadent verstandenen Gegenwart erklärt. Unter dem Einfluss von Friedrich Nietzsches Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben (1874) wird das Griechische bei George bzw. das Römische bei Schuler als ‚verlebendigte Antike‘ zum gegenwärtigen, heilsgeschichtlich aufgeladenen Kulturfaktor erhoben, der als produktive Kraft in der deutschen Gegenwart wirken soll.

Die hier im Blickpunkt stehenden Formen von Geschichtstransformation – im Sinne einer Umdeutung und kreativen Umformung historischer Wissensbestände – werden unter der Prämisse einer diachronen Interkulturalität untersucht und intendieren damit, die bislang immer noch überwiegend gegenwartszentrierte Interkulturalitätsforschung geschichtlich zu fundieren und kritisch zu

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erweitern.1 Im Zentrum steht dabei die Frage, welche Rolle die „Auseinandersetzung mit dem Fremden“ im „liminalen Findungsprozess der […] Moderne“2 spielt. Neben bestimmten Ab- und Ausgrenzungsmechanismen – etwa gegen Frankreich oder die in Deutschland lebenden Juden, die jeweils auf einer Identifikation des Fremden mit angsteinflößenden zivilisatorischen Neuerungen beruhen 3 – ist der kulturelle Selbstfindungsprozess in der deutschsprachigen Kulturkritik um 1900 wesentlich geprägt durch diachrone Analogiebildungen und Rekurse auf historische Hochkulturen. Erkenntnisleitend bei der folgenden Betrachtung der Antikenrezeption von Stefan George und Alfred Schuler ist also die Frage nach der Rolle, die der Auseinandersetzung mit einer geschichtlichen Fremdkultur im Kontext einer kritischen Reflexion des kulturellen Paradigmenwechsels zur technischen Moderne zukommt.

Ausgangslage: Krise des Hi storismus Die Lebenswege Georges und Schulers kreuzten sich zur Jahrhundertwende in München-Schwabing. Ähnlich wie das Pariser Montmartre-Viertel bildete dieser Stadtteil um 1900 einen künstlerischen Nexus mit hoher Anziehungskraft und Breitenwirkung. Zu dieser Zeit, als „München leuchtete“ 4 , wie Thomas Mann es formulierte, wimmelte es hier nur so von Künstlern, Bohemiens und esoterisch affizierten Sinnsuchern, die sich in dieser dichten Atmosphäre gegenseitig beeinflussten und Schwabing zur Geburtsstätte einer neuen künstlerischen Avantgarde in Deutschland machten. In diesem experimentierfreudigen Milieu hatten u. a. historische Hochkulturen Konjunktur. Legendär sind z. B. die Schwabinger Kostümfeste, auf denen die Gäste als mythische Fabelwesen, antike Dichter, Helden oder Götter verkleidet erschienen. Was sicherlich für viele nicht mehr war als ein Faschingsspaß, bedeutete doch einigen weitaus mehr als das. Zu nennen wären hier neben Stefan George und Alfred Schuler vor allem Karl Wolfskehl und Ludwig Klages, aber auch andere Sympathisanten und Trabanten der sog. 1

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Diese Zielsetzung liegt insgesamt dem vom Luxemburger FNR geförderten und an der Universität Luxemburg durchgeführten Forschungsprojekt Repräsentationen des Fremden in der deutschsprachigen Kulturkritik um 1900 zugrunde, dem die Ergebnisse dieses Beitrags entspringen. HEIMBÖCKEL/MEIN, 2010, S. 13. Vgl. WIEGMANN-SCHUBERT, 2013, S. 59-94. MANN, 1995, S. 192.

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kosmischen Runde wie etwa der niederländische Dichter Albert Verweyen. Die Begeisterung für die Antike und orgiastisch anmutende Festivitäten ist insbesondere bei Stefan George und Alfred Schuler nicht – wie gelegentlich behauptet – allein auf homosexuelle Neigungen zurückzuführen,5 sondern ist – so die hier vertretene These – vor allem vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund der Krise des Historismus zu sehen. In der Zeit um 1900 geriet das Postulat Hegels, dass Geschichte immer auch an einen geistig-kulturellen Fortschritt gekoppelt sei, immer mehr ins Wanken. Ein kontinuierlicher technischer Fortschritt ließ sich zwar nicht leugnen, jedoch schien vielen kulturkritischen Intellektuellen dabei etwas Entscheidendes zu kurz zu kommen, das man im Sprachgebrauch der Zeit gemeinhin ‚Seele‘ nannte. Dieser sich auf die nicht-materielle Seite des Leben beziehende Terminus meint dabei vor allem das spirituelle Moment, das in einer überwiegend materialistisch ausgerichteten Kultur immer stärker in den Hintergrund trat. Im Kontext der Suche nach diesem Anderen, das man im Lauf der Geschichte verloren gegangen wähnte, lässt sich ein vermehrtes Interesse an vormodernen Kulturen verzeichnen. Man reagierte gewissermaßen auf die Krise des Historismus mit einer neuen Art des Historismus,6 der jedoch im Zeichen der nietzscheanischen ‚Umwertung der Werte‘ stand und die Gegenwart eben nicht als kulturellen Fortschritt, sondern im Gegenteil als geschichtliches Verfallsprodukt begriff. Diese dekadente Zivilisationsform wird etwa in den Werken Stefan Georges und Alfred Schulers mit der kulturellen Blütezeit der Antike kontrastiert, die mehr oder minder das Signum eines ‚Goldenen Zeitalters‘ trägt. Inmitten einer sich immer schneller wandelnden gesellschaftlichen Umwelt, in der sich kaum mehr normative Fixpunkte menschlichen Seins ausmachen ließen, verbürgt die Antike für Schuler wie für George gleichsam metaphysische, ewig gültige Werte. Zugleich wird die Antike selbst zur Norm, an der sich die Gegenwart messen lassen muss. Beide jedoch begnügen sich nicht mit einer wehmütigen, kulturpessimistischen Klage über die Vertreibung aus dem Paradies und einem resignativen künstlerischen Eskapismus in geschichtliche Welten. Sie versuchen vielmehr „mit historischen Inszenierungen“ wieder eine „normative Symbolik“ zu be-

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So etwa bei KARLAUF, 2007, S. 70, 260 und 323f. Auch bei DÖRR, 2007, u. a. S. 202-205. „In other words, ever since ‚history‘ has been declared to be at its end, ‚historical matters‘ seem to have come back with a vengeance.“ (RÜSEN, 2005, S. vii).

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gründen7 und „neue[] religiöse[] Konzepte[] auf dem Hintergrund der antiken Kultur“8 zu entwickeln. Dies geschieht dabei nicht nur werkimmanent, sondern wird auch in der Lebenswirklichkeit praktiziert. So inszenierte Schuler römische Gastmähler9 und spazierte in togaähnlicher Kleidung durch Schwa-bing.10 Auch die Mitglieder des George-Kreises pflegten zu ihren Treffen antike Gewänder anzulegen und sich mit Kränzen zu schmücken – „aus Lorbeer für den Meister, aus immergrünem Laub für das Fußvolk“.11 George selbst inszenierte sich dabei als Platon, der seine Schüler um sich sammelt.

Verlebendigung Roms bei Schuler Als Verkörperung des ewig Gültigen schließt die Antikenrezeption bei George und Schuler durchaus an das goethezeitliche Griechenland-Bild an. Dieser Aspekt wird jedoch darüber hinaus metaphysisch ausgeweitet und unterliegt im Anschluss an Nietzsche einer vitalistischen Transformation. Die Schuler’sche Transformation des Antikenideals ist insofern interessant, als sie sich radikal von den humanistischen Bildungsinhalten absetzt. Während in der traditionellen Geschichtsschreibung und im bildungsbürgerlichen Wertekatalog gemeinhin die römische Epoche im Schatten der griechischen Antike stand und insbesondere die späte Kaiserzeit hauptsächlich als kulturelle Verfallsform galt, stellt bei Schuler gerade das Imperium Romanum die unerreichte Kulturblüte der geschichtlichen Zeit dar. Zu betonen ist hier ‚der geschichtlichen Zeit‘, weil das ursprüngliche Goldene Zeitalter für Schuler eindeutig vor den Toren der Geschichte liegt. Dieser Urzustand der Welt ist bei ihm wesentlich gekennzeichnet durch eine metaphysische Alleinheit, in der das Individuum – anders als in der modernen Zeit – nicht vereinzelt und entfremdet vom Zusammenhang der Dinge existiert. Aufgrund dieser Transzendierung der jeweiligen Ich-Identität nennt Schuler diese vorgeschichtliche Zeit auch „das offe7

OEXLE, 2007, S. 44. Dabei handelt es sich um ein Phänomen, das sich – wie Henning Ritter und Gerhard Oexle gezeigt haben – schon während der Französischen Revolution als Reaktion auf die Abschaffung von Tradition und Riten zeigte (vgl. EBD., S. 43f. bzw. RITTER, 1997). 8 DÖRR, 2007, S. 37. 9 George verfasste darüber das Gedicht A. S. (in Das Jahr der Seele, George 2003, IV). 10 Vgl. REVENTLOW, 2010, S. 22. 11 BREUER, 1995, S. 54.

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ne[] Leben“, wohingegen er die moderne Zeit als „geschlossenes Leben“ definiert. 12 Gewinn- und Machtstreben existieren in dieser durch metaphysische Verbundenheit alles Seienden bestimmten Welt nicht. Es herrscht vielmehr eine Art ‚Urkommunismus‘, wie er auch bei Johann Jakob Bachofen und Friedrich Engels beschrieben wird.13 Entsprechend würdigt der meist als Präfaschist rezipierte Schuler14 in seinen späten Rom-Vorträgen explizit die Russische Revolution von 1917, da sie seiner Ansicht nach das Potenzial birgt, die vorgeschichtliche Gleichheit aller Menschen zu restituieren. Vorerst aber repräsentiert vor allem das Imperium Romanum für Schuler jene Epoche, in der die Restauration paradiesischer Zustände möglich und sehr nahe war. Dabei ist ihm gerade die normative Abwertung dieser Zeit Ausweis für ihre tatsächliche Erhabenheit. So sagt er in den Rom-Vorträgen: Keine Zeitperiode der Menschheit ist […] so beschimpft worden wie die römische Kaiserzeit. Auf keine Zeitperiode wurde von allen folgenden Perioden soviel Kot geworfen / von keiner so furchtbare Dinge geredet / als gerade von dieser. Ich nehme an / um die Menschheit wegzulocken von den Mysterien / die sich gerade in dieser Zeit erschlossen haben.15

Was in der traditionellen Geschichtsschreibung als Epoche der Dekadenz gewertet wird, wird von Schuler einer Inversion unterzogen und als „Renaissance des urtümlichen Seins“16 gedeutet. In den Vorträgen Über das Wesen der ewigen Stadt, in denen er ab 1915 seine Weltsicht einem breiteren Publikum zu erläutern suchte, beschreibt er das Imperium Romanum als eine Kultur des blühenden Lebens. Dabei gelten ihm gerade die orgiastischen Ausschweifungen, die für gewöhnlich den Inbegriff des Sittenverfalls darstellen, als Mani-

12 SCHULER, 2007, S. 273-276. 13 Vgl. DÖRR, 2007, S. 263. 14 Diese Rezeption ist vorwiegend der von Ludwig Klages 1940 herausgegebenen Werkausgabe geschuldet, die von einer umfangreichen Einleitung des Herausgebers begleitet wird und sich bemüht, Schuler als Vorreiter des nationalsozialistischen Zeitgeistes darzustellen (KLAGES, 1940). 15 SCHULER, 2007, S. 287. Die häufige Verwendung des Schrägstrichs ist eine, mit der konsequenten Kleinschreibung Georges vergleichbare, charakteristische Besonderheit der Schriften Schulers. Dieses Zeichen markiert hier also keinen Zeilenumbruch, sondern wird anstelle eines Kommas oder zur Gliederung von Satzperioden verwendet (vgl. EBD., S. 444). 16 EBD., S. 286.

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festationen einer höheren, von Spiritualität durchdrungenen Lebensform,17 der gegenüber die rationalistisch und materialistisch orientierte Moderne radikal abgewertet und ihrerseits als dekadente Verfallsform postuliert wird. Insbesondere die opulenten Gastmähler der neronischen Ära sind seiner Ansicht nach nichts weniger als „leere[r] Luxus“18 und Sittenverderbnis. Ihre Prachtentfaltung ist für Schuler kein „Prunken mit leeren Dimensionen“ 19 [Herv. i. O.], sondern eine „grosse[ ] geheimnisvolle[ ] Seelenfeier / […] ein[ ] Allerseelenmahl“20. Hier manifestiere sich das sinnliche Erleben des Spirituellen, das den transzendental obdachlosen und in Nützlichkeitszwängen gefangenen Menschen seiner Gegenwart abgehe. Dennoch ist die Römische Kaiserzeit bei Schuler nicht identisch mit dem ‚Goldenen Zeitalter‘, das in dessen geschichtsphilosophischer Konstruktion den absoluten Gegensatz zur technischen Moderne bildet. Die Gastmähler und andere Charakteristika spätrömischer Lebensart gelten ihm nur als Anzeichen eines wieder erwachenden „offenen Lebens“21, dessen Speerspitze die römischen Cäsaren darstellen. Die scheinbar weiblichen Attribute der römischen Kaiser, die meist als Verweichlichung und Zeichen von Dekadenz gedeutet werden, 22 sind bei Schuler gerade ein Beweis dafür, dass sich in ihnen das „quintessentielle Leben“ verkörpere,23 d. h. das Leben, das alles in sich vereinigt und dementsprechend auch keine radikale Trennung zwischen Mann und Frau kennt. Das in der Lart pour lart-Bewegung beliebte Motiv des Hermaphroditen, das etwa bei Théophile Gautier als „Chiffre für die antinatürliche oder supranatürliche Schönheit“ 24 zu lesen ist, wird bei Schuler vitalistisch überformt und symbolisiert im Gegenteil die ursprüngliche, gewis17 „[W]o wir Prachtaufwand in der alten Zeit beobachten / wir annehmen dürfen / dass diese köstliche Schale auch zugleich einen köstlichen Inhalt geborgen hat.“ (EBD., S. 304). 18 EBD., S. 295. 19 SPENGLER, 2003, S. 375. 20 SCHULER, 2007, S. 300. 21 Auch „Tacitus und Cassius Dio beschreiben hier einen Zustand, wie er ansonsten nur während der Saturnalien herrscht, […]. Mit den Saturnalien lebten in den Herzen der Römer die Erinnerung an eine paradiesische, von allen sozialen und physischen Zwängen unbelastete Vergangenheit wieder auf, die man mit dem Goldenen Zeitalter des Saturns identifizierte. Die Menschen lebten damals in Frieden, soziale Unterschiede waren unbekannt.“ (KISSEL, 2006, S. 104). 22 So etwa bei Theodor Mommsen, dem wohl bedeutendsten Altertumsforscher des 19. Jahrhunderts (vgl. MOMMSEN, 1992). 23 Vgl. SCHULER, 2007, S. 321. 24 BAUER, 2001, S. 103.

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sermaßen urnatürliche Ganzheit des Menschen – etwa im Sinne der in Platons Symposion erwähnten Kugelmenschen. Als Antithese zum ‚zerteilten Menschen‘ 25 der Gegenwart steht dieses Motiv im Zentrum der Schulerschen Gnosis. In den römischen Cäsaren der Rom-Vorträge verkörpert sich aber nicht nur diese eher passive Ganzheit, sie zeichnen sich darüber hinaus auch durch eine Tatkraft aus, die Schuler notwendig scheint, um dem ‚offenen Leben‘ wieder zum Durchbruch zu verhelfen. Das herausragende Beispiel dieser paradoxen, ‚irrsinnig‘ anmutenden „Mischung“ aus „Sonnenkind[]“ und „Gewaltherrscher[]“26 ist hier Nero, mit dem er sich nach eigenen Angaben bereits seit 1889 intensiv auseinandersetzte und über den er ursprünglich einen dreibändigen Roman schreiben wollte.27 Letztendlich ist die künstlerische Produktion in diesem Punkt jedoch nicht über die fragmentarischen Neroniana und die Fragmenta Neronis Domini hinausgekommen.28 In den Vorträgen über Nero erfährt dieser Kaiser, der aufgrund der Christenverfolgungen von den Kirchenhistorikern seit dem 4. Jahrhundert als Antichrist dargestellt wurde, wiederum eine radikale, vitalistische Umdeutung. Schulers positive Wendung des Nero-Bildes wird allerdings dadurch erleichtert, dass schon die antiken Darstellungen ein ambivalentes Bild des Kaisers zeichnen, der sich insbesondere beim einfachen Volk großer Beliebtheit erfreute, da er eine volksnahe Politik betrieb und die großen Familien Roms entmachtete.29 Schuler feiert ihn entsprechend mit klassenkämpferischem Impetus als denjenigen, der die Vormachtstellung der herrschenden Klasse brach und damit einen wichtigen Schritt für die Reinkarnation vorgeschichtlicher Zustände vollzog. Nero scheiterte jedoch seiner Ansicht nach an den Intrigen der von den Aristokraten beeinflussten Stoiker, die er nicht nur für die Verleumdung dieses Kaisers, sondern auch für den angeblich von ihm gelegten Brand Roms verantwortlich macht. Als Vertreter des rationalistischen Prinzips bekleiden die Stoiker – allen voran Seneca – bei Schuler dieselbe lebensfeindliche Funktion wie die Sokratiker in Nietzsches Geburt der Tragödie. Sie personifizieren den

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Vgl. SCHULER, 2007, S. 139. EBD., S. 318. Vgl. EBD., S. 121. Baal Müller schreibt, dass Schuler „niemals ernsthaft“ an diesem Roman gearbeitet habe, ihn jedoch gewissermaßen „erlebt“ habe (SCHULER, 2007, S. 488). 29 Vgl. BAUER, 2001, S. 92 und 96. Und: KISSEL, 2006, S. 60, 89, 96 und 124-126.

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„Geist als Widersacher der Seele“ 30 , der die vollständige Wiederkunft des Goldenen Zeitalters in der neronischen Zeit vereitelte. Schulers geschichtsphilosophische Konstruktion endet jedoch nicht in einer Aporie. Er parallelisiert vielmehr seine unmittelbare Gegenwart mit der römischen Kaiserzeit. Auch im Hier und Jetzt glaubt er vermehrt „Symbole des quintessentiellen Lebens“ zu sehen, die „Freiheit“ und „Gleichheit“ ausströmen.31 Gleichsam „rücktauchend in römische Schichten“ erkennt er in allerlei Alltagsdingen „Bilder des ‚offenen Lebens‘“32. Über eine „Ästhetik des Ähnlichen“33, die das Schrifttum Schulers insgesamt prägt, konstruiert er Analogien zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Trotz der kulturkonservativen Schlagrichtung kann man Schulers Schreibstil, der aufgrund lautgestaltlicher Übereinstimmungen eine „Ähnlichkeitsbeziehung zwischen […] verschiedenen Wörtern […], unabhängig von ihrer Bedeutung“34 herstellt und darüber hinaus häufig den schönen Klang über den Sinn stellt, durchaus der avantgardistischen Stilrichtung des Symbolismus zuordnen.35 Dabei geht die Begeisterung für das Symbolische, die auch durch okkultistische Schriften geschult ist,36 denen ebenfalls eine Ästhetik des Ähnlichen zugrunde liegt,37 sogar weit über die künstlerische Produktion hinaus. Sie prägt Schulers Denken und bestimmt seine Lebens- und Erlebenswirklichkeit. Dabei ‚denkt‘ der Gnostiker Schuler „nicht nur in Symbolen, sondern glaubt sie auch entschlüsseln zu können“38. Das Sichtbarwerden römischer Symboliken in der Gegenwart kommt für Schuler, der sich in dieser Hinsicht als Seher versteht, einer Prophezeiung gleich, die eine neuerliche Annäherung an eine 30 So der Titel von Ludwig Klages Hauptwerk, in dem sich auch zahlreiche Reminiszenzen an Schuler finden. 31 SCHULER, 2007, S. 304. 32 SONJA HENTSCHEL, zit. n. FROMMEL, 1985, S. 8. 33 Vgl. FUNK u. a., 2001. 34 EBD., S. 25. 35 Baal Müller beschreibt Schulers Stil als Verbindung von „inhaltlicher Archaik und formaler Modernität“. Er sieht in ihm sogar einen „wiederzuentdeckenden Wegbereiter und Repräsentanten einer (unfreiwilligen) Modernität […], die naturalistische Elemente mit symbolistischen vereint und auf manche Züge von Expressionismus und Surrealismus vorausweist.“ (MÜLLER, 2007, S. 18f.) 36 Müller verweist u. a. auf die Rezeption von Aufzeichnungen des französischen Okkultisten Papus (EBD., S. 40-44). 37 Vgl. FUNK u. a., 2001, S. 7-34. Z. B. die Magischen Werke von Agrippa von Nettersheim oder die Tabula Smaragdina, auf die sich auch die von Schuler rezipierten Schriften von Papus beziehen (vgl. MÜLLER, 2007, S. 49). 38 EBD., S. 51.

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Restitution vorgeschichtlicher Zustände verkündet. Die postulierte allmähliche Überlagerung des gegenwärtigen Zeichengeflechts wird ihm zum Erkennungszeichen, das die Auslöschung der evolutiven geschichtlichen Zeit anzukündigen scheint. Diachrone Entwicklungslinien werden in dieser Konzeption transzendiert und die „lebendige, römische Wirklichkeit“39 im Hier und Jetzt präsent, womit sich die durch das rationalistische Prinzip verursachte Kluft zwischen den Zeitaltern schließt. Diese verlebendigte Antike lässt den „blutleere[n] Entartungszustand“40 der technischen Moderne in Schulers Wahrnehmung allmählich zu einem Schatten verblassen,41 der von der Wiederkunft des ‚offenen Lebens‘ bald vollständig überstrahlt werden soll. Im Grunde fehlt nur noch ein neuer deutscher Cäsar, der ihm durch Expansion seines Herrschaftsbereichs zum absoluten Durchbruch verhilft. Ob Schuler bei seiner Vision eines totalitären Weltherrschers und -wandlers, der ja, wie in der Nero-Figuration deutlich wird, durchaus als diktatorischer Gewaltherrscher gedacht ist, in letzter Konsequenz – wie häufig unterstellt – eher jemanden wie Hitler,42 der ja tatsächlich einige Ähnlichkeit mit dem Künstlerkaiser Nero aufwies, oder jemanden wie Stalin im Auge hatte, ist letztlich unerheblich. Die konkrete politische Schlagrichtung spielte für ihn mit Sicherheit keine signifikante Rolle und ist im Vergleich zur antithetischen Funktion zur Gegenwart als eher sekundär zu bewerten. Gesichert ist, dass Klages und Schuler zunächst den charismatischen George für den möglichen „heimlichen Kaiser“43 hielten, doch da dieser sich nur auf das „GedichteMachen“ beschränken wollte, kam es 1904 zum sog. großen Krach in Schwabing und zur Entzweiung der Kosmischen Runde. Neben der Zurückführung auf homosexuelle Neigungen wird Schulers Romfanatismus häufig durch frühkindliche Erfahrungen44 – der Vater des aus 39 HUCH, 1972, S. 27. 40 DÖRR, 2007, S. 37. Zu Schulers Abschied von der akademischen Archäologie vgl. PLUMPE, 1978, S. 142. 41 Vgl. auch das von George Schuler zugeeignete Zeitgedicht Porta Nigra (in Der Siebente Ring). 42 Dem gemeinhin als Präfaschist rezipierten Schuler wurde zeitweise ein direkter Einfluss auf das Weltbild Adolf Hitlers nachgesagt, da beide zu den gern gesehenen Gästen im Hause Bruckmann gehörten. Inzwischen wurde jedoch nachgewiesen, dass sich die beiden dort nie begegnet sein können, da Hitler erst 1924, d. h. nach Schulers Tod in den Salon Else Bruckmanns eingeführt wurde (vgl. WEGENER, 2003, S. 56). 43 LANGBEHN, 1893, S. 279. 44 Vgl. u. a. SCHULER, 1985; KALTENBRUNNER, 1967; SOMMER, 2000.

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dem pfälzischen Zweibrücken stammenden Schuler war Mitglied des historischen Vereins der Mediomatriker und nahm seinen Sohn u. a. zu den Ausgrabungsfeldern in Ixheim mit – und regressiv-eskapistische Phantasien beflügelnde psychologische Ursachen erklärt.45 Es darf aber auf keinen Fall unterschätzt werden, dass bei Schulers Antikenbegeisterung der imperiale Aspekt Roms eine ganz entscheidende Rolle spielt. Die mit dem Imperialismus verknüpfte Idee von der totalitären Weltherrschaft geht dabei auf die Logik der im ausgehenden 19. Jahrhundert populären Weltreichslehre zurück, derzufolge es für die deutsche Wirtschaftsnation im Grunde nur die Option zwischen Weltmacht oder Untergang gäbe. 46 Dieser Grundgedanke findet bei Schuler eine Übersetzung in die Dichotomie von ‚offenem‘ und ‚geschlossenem Leben‘ oder von urzeitlichen Zuständen und materialistisch-rationalistischer Moderne, wobei ein Drittes hier im Grunde nicht denkbar ist. 47 In der Kopplung von Erlösungsphantasie und imperialistischem Weltmachtdenken erweist sich Schulers vordergründig weltfremd anmutende eschatologische Konstruktion also durchaus als rückgebunden an den zeitgenössischen Hegemonialdiskurs.

Verlebendigung der griechischen Antike bei George Anders als Schuler begnügte sich George nicht mit einer passiven Prophetenrolle, sondern inszenierte sich selbst als Erlöserfigur, 48 was sicherlich auch maßgeblich zu der entsprechenden Wahrnehmung bei Klages und Schuler beitrug. Während in der geschichtsphilosophischen Konzeption Schulers die römische Antike von selbst, nach einer Art göttlichem oder Naturgesetz in die Gegenwart einbricht und er dieses Phänomen lediglich verkündet, wird bei George die Antike nur deshalb zum gegenwärtigen Kulturfaktor, weil der Dichter ihr Übersetzer ist. Genau darin begründet sich auch sein immer wieder formulierter kultureller Herrschaftsanspruch, denn er ist es, der in seiner Kunst „Stoffes gesetze“ wendet, „in den äussersten nöten“ einer scheinbar ausweglos an ihr Ende gekommenen Kultur das längst Vergangene wieder ins Leben ruft 45 Vgl. MÜLLER, 2007, S. 27 oder SOMMER, 2000, S. 6. 46 Vgl. NEITZEL, 2000. 47 Eine ganz ähnliche kulturkritische Konstruktion findet sich auch in Julius Langbehns Rembrandt als Erzieher (vgl. WIEGMANN-SCHUBERT, 2013). 48 Vgl. BREUER, 1995, S. 42.

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und „Neuen raum in den raum“ 49 schafft, wie es in Geheimes Deutschland heißt. In dem noch stark an den französischen Symbolismus angelehnten Gedichtband Algabal (1892) steht auch bei George ein römischer Kaiser im Mittelpunkt. Doch dieser ist vollkommen anders gestaltet als die Cäsaren Schulers, denn das in diesem Gedichtzyklus virulente Bild des Priesterkaisers Heliogabal ist kein vitalistisches, sondern steht ganz im Zeichen des Ästhetizismus und damit in einer Reihe mit den entsprechenden französischen NeroAdaptionen, in denen sich Nero- und Heliogabal-Rezeption mischen. 50 Hier wird der „große Kaiser […] zum großen Künstler. Seine Art zu Leben und sich zu geben wird als poetische Schöpfung und […] als vollkommenes Kunstwerk gepriesen.“ 51 Die unterirdische Kunstwelt, die sich Algabal erschafft, steht dabei nicht nur im Gegensatz zu jedwedem Postulat der Nützlichkeit, sondern auch zu allem Natürlichen und Lebendigen überhaupt.52 Sein Reich repräsentiert eine ästhetizistische Parallelwelt, die jenseits der Zeitlichkeit, jenseits der modernen Lebenswirklichkeit liegt. Von dieser Form des Eskapismus distanziert sich George jedoch zunehmend und wendet sich parallel dazu stetig einer zeit- und kulturkritischeren Perspektive zu. Das Römische, wie es im Algabal seinen Niederschlag findet, wird in dem acht Jahre später erschienen Gedichtband Teppich des Lebens zum Symbol eines dekadenten, lebensfeindlichen Ästhetizismus, von dem er sich hier in zahlreichen Gedichten explizit abzugrenzen sucht. Die ästhetizistische Weltflucht wird etwa in dem Gedicht Feld vor Rom und dem Gegengedicht Südliche Bucht von George nicht mehr als adäquate Reaktion auf die Zumutungen einer den reinen Nützlichkeitswahn kultivierenden Moderne gesehen, 53 sondern als ein resignativer Eskapismus in eine tote Künstlichkeit, den es nun im ‚verlebendigten‘ Kunstwerk – dem Teppich des Lebens – zu überwinden gilt. Die „Lebensferne des Frühwerks“ weicht „einem lyrischen Selbstverständnis, das die Frage nach der Bestimmung, dem Auftrag und dem Ort der Dichtung zulässt.“54 Diese wird gewissermaßen zu einer ‚heroischen‘ Form der Kritik

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GEORGE, 2003, IX, S. 46. Vgl. BAUER, 2001, S. 96. EBD. Ganz deutlich wird das z. B. in dem Gedicht Mein garten bedarf nicht luft und nicht wärme (GEORGE, 2003, II, S. 63). 53 Vgl. GEORGE, 2003, V, S. 68f. 54 HERRES, 2012, S. 158.

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erhoben,55 in der es zu einer Verknüpfung von poetologischer und kulturkritischer Ortsbestimmung kommt, wenn der französische Symbolismus Mallarméscher Prägung mit zivilisatorischer Dekadenz und die ‚natürlichere‘ deutsche Dichtung eines Novalis oder Hölderlin im Gegenzug mit einer lebenskräftigen, noch entwicklungsfähigen Kultur identifiziert wird.56 Du findest das geheimnis ewiger runen In dieser halden strenger linienkunst Nicht nur in mauermeeres zauberdunst. ‚Schon lockt nicht mehr das Wunder der lagunen Das allumworbene trümmergrosse Rom Wie herber eichen duft und rebenblüten Wie sie die Deines volkes hort behüten – Wie Deine wogen – lebengrüner Strom!‘57

Mit der Distanzierung von einem auf ‚Rom‘ projizierten zweckfreien französischen Symbolismus lässt sich aber nicht nur eine verstärkte Hinwendung zum Deutschtum, sondern auch zum antiken Griechentum konstatieren, das nun weit mehr ist als ein Stoff.58 Anders als bei der französischen und der römischen Zivilisation findet jedoch keine Ineinssetzung von griechischer und deutscher Kultur statt. Es wird zwar eindeutig eine Beziehung hergestellt, diese ist aber nicht ontologisch gedacht, sondern eine im wahrsten Sinne des Wortes durch den Dichter hergestellte. George ist seinem Selbstverständnis nach derjenige, der – wie es in Goethes lezte [sic] Nacht in Italien heißt – den „strahl von Hellas Heimwärts bring[t]“59 und damit einen segensreichen Kulturtransfer vornimmt. Anders als Goethe, dessen Griechenlandbegeisterung er in diesem Gedicht als fruchtlosen und sogar vaterlandsfeindlichen Eskapismus beschreibt, wendet er sich der Antike erklärtermaßen vor allem deswegen zu, 55 Vgl. Baudelaire: „Die heroische Kritik, schreibt er, ist ‚poetisch‘.“ (zit. n. KONERSMANN, 2008, S. 132) 56 In den Blättern für die Kunst wird entsprechend fortwährend gegen fremde Einflüsse auf die deutsche Sprache und Literatur gewettert (vgl. z. B. 2, 2 (1894), S. 35). Der Kunst kommt die Aufgabe zu, die Kultur zu entwickeln. 57 GEORGE, 2003, V, S. 14. 58 Griechische Motive finden sich schon in den frühen Gedichten, sind hier jedoch noch nicht kulturkritisch aufgeladen. 59 GEORGE, 2003, IX, S. 9.

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um dort „für sein volk“ einen „scheit des feuers“60 zu stehlen, das Licht in eine finstere Zeit bringen soll. Ganz im Sinne von Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, ist sein Interesse an der Geschichte also vor allem von der Frage nach ihrem möglichen Nutzen für die kulturelle Gegenwart bestimmt: „[D]enn“, so heißt es bei Nietzsche, „ich wüßte nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.“61 Hier ist also der Anspruch, in der Geschichte das Heilmittel für eine ‚kranke‘ Kultur zu finden, bereits prädiziert. In genau diesem Sinne soll auch bei Stefan George mittels eines diachron angelegten Kulturtransfers die deutsche Kultur bereichert und weiterentwickelt werden. Während man Schuler, dem es ja um die Reinkarnation urgeschichtlicher Zustände geht, im Sinne Nietzsches als einen „der Vergangenheit Verfallenen“62 bezeichnen kann, zeichnen sich Georges Gedichte durch einen „kräftigen Entschluss zu Neuem“63 aus. Georges antikisierte Dichtung (etwa in den Preisgedichten) ist dementsprechend nicht als Versuch einer „Wiedererweckung des Hellenismus“64 oder als Nachahmung im engeren Sinne zu verstehen, sondern stets von einem ausgeprägten Avantgardebewusstsein getragen. Der von Anfang an in seinem Werk höchst präsente Anspruch eine neue Kunst, eine ganz neue Dichtung zu schaffen, weitet sich im Laufe seiner künstlerischen Entwicklung in Kultur schaffende Dimensionen aus. Das Avantgardebewusstsein verbindet sich mit kulturellem Sendungsbewusstsein.65 Trotz des schon in der ersten Ausgabe der Blätter für die Kunst proklamierten Willens, etwas absolut Neues zu schaffen, sucht George die Rückbindung an die Geschichte und stellt sich in große Traditionszusammenhänge, die seine Mission legitimieren sollen. Der Rekurs auf die Antike verweist dabei auf die umfassenden kulturellen Erneuerungsprozesse der Renaissance. Ähnlich wie sich hier – durch künstlerische Entwicklung wesentlich mitbestimmt – die Wende zur Neuzeit vollzog, so soll durch die neue, ebenfalls auf die Antike rekurrierende Kunst Georges wiederum ein Umbruch kulturrevolutionären Ausmaßes initiiert werden, der die technische Moderne als das ‚neue Mittelal60 61 62 63 64 65

EBD., S. 8. NIETZSCHE, 1999 [1874], S. 247. FROMMEL, 1985, S. 22. NIETZSCHE, 1999 [1874], S. 268. ARBOGAST, 1961, S. 48. Vgl. BRAUNGART, 2012, S. 511f.

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ter‘ beendet und den Blick auf neue Möglichkeiten auch jenseits der Kunst freigibt. Inhaltlich findet dabei jedoch eine entscheidende Inversion des historischen Renaissancegedankens statt, denn die Georgesche Konzeption einer „glänzende[n] wiedergeburt“66 in der Kunst ist eng mit deren Remythisierung verbunden. Entsprechend ist auch das Antike-Bild ein anderes. Es unterliegt einer vitalistischen Transformation und repräsentiert im Gegensatz zum Antikenideal der Renaissance das Mythisch-Geistige, das in einer naturwissenschaftlich-materialistisch geprägten Moderne unterrepräsentiert ist. Das mit der metaphysischen Ideenwelt Platons identifizierte Hellas steht im Werk Stefan Georges für dieses Andere und funktioniert als metaphysisch-geistiges Komplement zur materialistischen Gegenwart. Über die Aneignung der griechischen Antike soll also ein intrakultureller Entwicklungsprozess initiiert werden, der aus dem vielfach beklagten Zustand67 einer einseitig auf ökonomisch-naturwissenschaftlichen Fortschritt fokussierten Zeit heraus und in eine ‚andere‘, ganzheitliche Moderne hineinführen soll. Das Urbild, oder wie George es nennt, das ‚Denk-Bild‘ dieser anderen Moderne formt er nach den ästhetischen Kriterien Nietzsches, der die „Fortentwicklung der Kunst an die Duplicität [sic] des Apollinischen und des Dionysischen gebunden“ sieht, die sich „gegenseitig zu immer neuen kräftigeren Geburten“ 68 reizen. Als geistiges Bildungs- und Gestaltungsinstrument wird das Griechische bei George mit dem apollinischen Prinzip identifiziert. Das Deutschtum hingegen ist eher dionysisch konnotiert. 69 Sein kraftvolles und heldisches Wesen bestimmt der zivilisationskritische George dabei nicht über die verhassten gegenwärtigen, sondern über historische Charakteristika. Seine Vorliebe gilt hier eindeutig dem, im Gegensatz zu einer von Vermassungstendenzen geprägten Moderne, noch von naturrechtlichen Herrschaftsstrukturen bestimmten Mittelalter. In der Kombination von griechischem Geist und germanischer Urkraft soll zunächst einmal in der Kunst etwas Neues, ‚Monumentales‘70 erzeugt werden, das den Anspruch auf ästhetische Vollendung erhebt. George lässt also diese „zwei Welten aufeinanderstossen / um sich zu begatten 66 67 68 69

Blätter für die Kunst, 1892, S. 2. Etwa in den Zeitgedichten im Siebten Ring. NIETZSCHE, 1999, S. 25. Auf die Polarität von antikischer Schönheit und germanischer Charakteristik sowie auf den Befruchtungsaspekt verweist auch Hubert Arbogast (ARBOGAST, 1961, S. 41 und 43). 70 Vgl. Nietzsches „Forderung einer monumentalischen Historie“ (NIETZSCHE, 1999, S. 259).

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und gleichsam // eine höhere Welt als die ihre auszugestalten.“71 In den Dichtungen geschieht dies einerseits auf inhaltlicher Ebene, in der Kombination von griechischen Mythen und Motiven – etwa von „Apollo“ und „Baldur“72 in dem Gedicht Der Krieg, das zudem mit „der Vision einer Vereinigung“ 73 schließt – oder von christlichen und hellenischen Symboliken im Vorspiel zum Teppich des Lebens, in dem die Erlösungskraft von „Engel“74 und „Kreuz“ wie von „Hellas“ 75 und den griechischen „göttern“ 76 aufgerufen und zu einem potenzierten Heilsbringer fusioniert wird.77 Die interkulturelle Befruchtung vollzieht sich aber auch auf struktureller Ebene: in der Synthese aus Formstrenge und deutscher Wortgewalt. So werden die antiken Gattungstraditionen und Dichtungsformen der Idylle, Hymne oder Elegie78 sowie Versformen und Metren79 mit der deutschen Sprache und Dichtungstradition amalgamiert,80 um in der Dichtung durch forcierte Kultursynthese eine klassizistische Modernität81 zu zeugen, die sowohl eine neue Kunst begründet als auch den „umschwung des deutschen wesens“82 initiieren soll. Die „Aneignung der antiken Form“ [Herv. i. O.] dient ihm gewissermaßen dazu, die „Welthaltigkeit“ der „deutsche[n] Dichtung“ und damit auch der deutschen Kultur „durch Aufnahme […] fremder Elemente“ zu „steigern und ihren Ausdrucksbereich“ zu „erweitern“.83 Durch die Integration des Hellenischen soll – wie bereits erwähnt – das zu einer „harmonisch gestalteten kosmischen Einheit“84 fehlende geistige Komplement in die einseitig materialistische Gegenwart implementiert werden. Vollkommenheit findet sich für George nicht mehr wie bei Winckelmann allein in der Vergangenheit der griechischen Antike, sondern kann in der Kom71 72 73 74 75 76 77 78 79 80 81 82 83 84

SCHULER, 2007, S. 323. GEORGE, 2003, IX, S. 26. KARLAUF, 2007, S. 497. GEORGE, 2003, V, S. 10. EBD., S. 16. EBD., S. 26. Dementsprechend ist auch der von George zum Gott erhobene Maximin als „echter Spross dieser Gegend“ sowohl mit einer vitalistischen Heilsfunktion als auch mit den „magischen Kräften der Antike“ ausgestattet (vgl. KARLAUF, 2007, S. 302). Vgl. OESTERSANDFORT, 2012, S. 649. Vgl. ARBOGAST, 1961, S. 51f. Und: OESTERSANDFORT, 2012, S. 649f. Vgl. OESTERSANDFORT, 2012, S. 650-655. Vgl. EBD., S. 653. Hier ist die Rede von einer „modernen Klassizität“. Blätter für die Kunst, 1897, S. 4. ARBOGAST, 1961, S. 50. STRIEWE, 2011, S. 63. Hier in Bezug auf Winckelmanns Antiken-Bild verwendet.

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bination mit dem gegenwärtigen Deutschtum aus der produktiven Vereinigung polarer Prinzipien neu entstehen. Georges Gedichte wollen wie die MaximinKonstruktion in der Synthese von Antike und Deutschtum gewissermaßen das Tote mit dem Lebendigen, das Ewige mit dem Vergänglichen verbinden und solcher Art das Bild kosmischer Totalität zeichnen. George erhebt mit der Erschaffung Maximins ebenso wie mit seinen Gedichten den Anspruch, in der entgötterten Moderne den neue Orientierung gebenden Leitstern 85 für eine kulturelle Erneuerung festzuschreiben. Dieser Anspruch muss jedoch aus der ästhetizistischen Weltsicht Georges verstanden werden, die die Kunst an sich zur neuen Religion erhebt und „das Dasein und die Welt“ im Sinne Nietzsches nur noch „als aesthetisches Phänomen […] gerechtfertigt“86 [Herv. i. O.] sieht. Nach dieser Denkfigur kann der ersehnte Umschwung von der einseitig materialistischen Zivilisation zu einer ganzheitlich-totalitären Kulturform nur über eine ästhetische Erziehung der Jugend erfolgen, damit sie das leben nicht mehr niedrig sondern glühend anzusehen beginnt: […] dass sie die steife gradheit sowie das geduckte lastentragende der umlebenden als hässlich vermeidet und freien hauptes schön durch das leben schreiten will: dass sie schliesslich auch ihr volkstum gross und nicht im beschränkten sinne eines stammes auffasst.87

Aufgrund der ästhetischen Fixierung bietet Georges Kulturkritik keinen konkreten oder gar praktizierbaren Gegenentwurf. Zwar wird der apollinische Formwille als kulturkritische Antithese zum ungestalt wuchernden Modernismus des Wilhelminischen Zeitalters formuliert, er bleibt jedoch immer dem poetologischen Diskurs verhaftet. Einzig der im Gegensatz zur gesellschaftlichen Kälte der technischen Moderne stehende platonische Eros-Gedanke findet in der sinnlichen Verlebendigung der Antike im George-Kreis eine über den Bereich des Ästhetischen hinausweisende Konkretisierung. Die hier gelebte ‚warme‘ Gemeinschaft bedeutet für die Mitglieder des George-Kreises tatsächlich – zumindest zeitweise – einen realistischen Gegenentwurf zur vereinzelten Existenz des „unbehausten Menschen“88 in der ‚kalten‘ Modernegesell85 86 87 88

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Vgl. den vielsagenden Titel des Gedichtbandes Stern des Bundes. NIETZSCHE, 1999, S. 47. Blätter für die Kunst, 1897, S. 4. Vgl. HOLTHUSEN, 1955.

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schaft. 89 Im gesellschaftspolitischen Bereich bleibt „George gänzlich uneindeutig: keine klare Zielbestimmung, kein tragfähiges Engagement, vielmehr wuchtige Unbestimmtheit, Distanz.“90 Die ästhetische Vision des ‚schönen Lebens‘ bleibt vage und öffnet mit dem „verführerischen Reiz […] ihre[r] Botschaftslosigkeit“91 verschiedensten Projektionen Tür und Tor. So war es einerseits möglich und durchaus plausibel, die Dichtung Georges faschistisch zu rezipieren, andererseits aber auch sie als Grundsteinlegung des dritten Humanismus und als ausschlaggebenden geistigen Hintergrund der Hitlerattentäter vom 20. Juli 1944 zu sehen.92 In jedem Fall ist Georges ästhetizistische Kulturkritik nicht mit einer Ideologie zu verwechseln, weil sie den im Prozess der Säkularisierung ‚leer‘ gewordenen „Platz der Wahrheit unbesetzt“ lässt. 93 In ihrem Kreisen um das konstruktive Wesen der Kunst könnte man diese „Poesie der leeren Mitte“94 vielleicht als eine Vorstufe der von Konersmann beschriebenen modernen, postrestitutiven Kulturkritik verstehen, die den Konstruktionscharakter des Kulturellen und damit dessen prinzipielle Instabilität kritisch reflektiert.95

Fazit Trotz wesentlicher Unterschiede funktionieren die kulturkritischen Ansätze Georges und Schulers in ihrem Zugriff auf Geschichte ähnlich. Beide bedienen sich eklektizistisch am humanistischen Bildungsfundus und formen die jeweiligen historischen Sachverhalte je nach ihren Bedürfnissen. Diese sind in beiden Fällen von einem grundlegenden Unbehagen in der zivilisatorischen Moderne bestimmt und getragen von der Suche nach einem Ausweg aus der „transzendentalen Obdachlosigkeit“96 und einer Sehnsucht nach einer weniger rationalistisch und materialistisch bestimmten Kulturform. In diesem Zusam-

89 Zur Differenzierung von ‚warmer Gemeinschaft‘ und ‚kalter Gesellschaft‘ vgl. TÖNNIES, 1887. 90 VITZTHUM, 2013, S. 189. 91 MOSEBACH, 2013, S. 210. 92 Vgl. auch OSTERKAMP, 2012, S. 213 und 216f. 93 KONERSMANN, 2008, S. 132. 94 OSTERKAMP, 2010. 95 Vgl. KONERSMANN, 2008, S. 44. 96 LUKÁCS, 1974, S. 32.

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menhang wird Geschichte funktionalisiert und „‚Bildungswissen‘ in ‚Erlösungswissen‘“97 transformiert. Sowohl Schulers ‚Rom‘ als auch Georges ‚Griechenland‘ erweisen sich dabei letztlich als absolut zeitbedingte Konstruktionen, die ihre Attribute aus der Antithetik zu den Merkmalen der technischen Moderne beziehen.98 Mit der Hinwendung zur Antike treten sowohl George als auch Schuler abseits von der Gesellschaft und Kultur ihrer Gegenwart. Sie markierten sich sogar selbst öffentlich sichtbar als fremd, indem sie sich im Schwabing der Jahrhundertwende als Römer und Griechen inszenierten bzw. mit der Kosmischen Runde und dem George-Kreis mystische Zirkel gründeten, die den Außenstehenden vollkommen rätselhaft blieben. 99 Das Unbehagen in der Kultur mündet bei ihnen in dem Bedürfnis nach einer maximalen Distanzgewinnung, auf die ihre Verlebendigungsversuche der Antike zurückzuführen sind, weil damit sowohl eine diachrone als auch eine (inter-)kulturelle Distanz zur Gegenwart gewonnen wird. Dabei erfolgt diese extensive Fremdstellung grundsätzlich in einer Zentrierung auf das Eigene, weil mit diesem Abseitstreten erst die für ihre radikale Zeit- und Kulturkritik notwendig kritische Distanz gewonnen wird, die es erlaubt, „aus diesem Abstand heraus, also aus einer Position der Transzendentalität oder der Apriorizität heraus die Verstrickungen zu unterlaufen, in die das falsche Leben die Menschen, ihre Vorstellungen und Erwartungen hineinzieht.“100 Von diesem funktionalistischen Standpunkt aus gesehen wäre die Wahl der historischen Fremdkultur prinzipiell variabel, wenngleich Hellas und Rom aufgrund des bildungsbürgerlichen Kanons und geistesgeschichtlicher Traditionen gewissermaßen dazu prädestiniert sind, die Projektionsflächen zeitbedingter Sehnsüchte abzugeben. Dem grundsätzlich auf den Konstruktionscharakter der Kunst rekurrierenden George scheint dieser Umstand überaus bewusst gewesen zu sein, wenn er in der Vorrede zum Buch der Hirten- und Preisgedichte schreibt: Es steht wohl an vorauszuschicken dass in diesen […] werken nirgends das bild eines geschichtlichen oder entwicklungsabschnitts entworfen werden soll: sie enthalten spiegelungen einer seele […] 97 DÖRR, 2007, S. 60. 98 Auch Osterkamp verweist darauf, „dass das ‚Neue Reich‘ all das nicht ist, was die Welt der Moderne repräsentiert“ (OSTERKAMP, 2012, S. 215, vgl. auch S. 217). 99 Vgl. u. a. REVENTLOW, 2010. 100 KONERSMANN, 2008, S. 38.

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Verlebendigung der Antike Jede zeit und jeder geist rücken indem sie fremde und vergangenheit nach eigener art gestalten ins reich des persönlichen und heutigen und von unseren […] grossen bildungswelten ist hier nicht mehr enthalten als in einigen von uns noch eben lebt.101

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101 GEORGE, 2003, III, S. 7.

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„... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“ H. G. Adlers poetische Transformationen erlebter Geschichte MARTIN MODLINGER Dieser Beitrag untersucht die Transformationen von Geschichte im Werk des deutsch-tschechisch-jüdischen Schriftstellers, Historikers und Holocaustüberlebenden H. G. Adler (1910-1988) mit besonderem Blick auf das Verhältnis von Zeugenschaft, Historiografie und die Möglichkeiten und Aufgaben der Literatur. Adlers genre- und disziplinübergreifendes Werk wird dabei als gegen einen ‚mechanischen Materialismus‘ gewandtes Gesamtprojekt begriffen, innerhalb dessen die hier untersuchten Romane (Panorama, Eine Reise, Die Unsichtbare Wand) und Kurzgeschichten insbesondere Fragen von Identität, Heimat, Erinnerung und Sprache verhandeln. In Adlers autofiktional gestalteten Texten steht die Programmatik einer ‚wahrhaftigen Dichtung‘ damit im Zeichen der Hoffnung auf die Möglichkeit eines erinnernden, reflektierenden und zugleich moralischen Sprechens und erweist sich so als ethisch begründete Transformation von Geschichte zum Zwecke der Gegenwartsbewältigung.

H. G. Adler zw ischen Literatur und Hist oriografie Das Umschreiben und Umformen von historischen Ereignissen zu Literatur wird von den Geschichtswissenschaften meist kritisch beäugt, birgt es doch nicht zuletzt die Gefahr der Reduktion von Komplexität, der Emotionalisierung von historisch und soziologisch kritisch beschreibbaren Konstellationen und Dynamiken sowie der Instrumentalisierung konkreter Ereignisse im Dien-

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ste der Unterhaltung. Der Grundvorwurf ließe sich womöglich auf denjenigen mangelnden Respekts zurückführen. Umgekehrt lässt sich von Schriftstellerseite der Historie eine Unnahbarkeit, eine Lebensferne vorwerfen, die einen allgemeineren Wahrheitsanspruch dem unbedingten Faktenbezug opfert. Die Literatur hingegen biete Wahrheiten, die die Geschichtswissenschaft nicht erzählen könne, Wahrheiten, die nur die Fiktion zu vermitteln im Stande sei.1 Greifbar werden dieses Verhältnis und die zugehörigen Transformationsprozesse dabei insbesondere dort, wo die Interessensbereiche von Geschichte und Literatur sich nicht klar getrennt darstellen. Im Folgenden sollen daher die Transformationen von Geschichte im Werk des deutsch-tschechisch-jüdischen Schriftstellers, Historikers und Holocaustüberlebenden H. G. Adler (19101988) untersucht werden, denn hier finden das Objekt der Beobachtung, der analytische Historiker und der umformende Schriftsteller in einer Person zusammen. H. G. Adler2 wurde am 2. Juli 1910 in Prag geboren, wuchs dort in bürgerlichen Verhältnissen auf, studierte Literaturwissenschaften, Philosophie und Psychologie und promovierte im Alter von fünfundzwanzig Jahren mit einer philologischen Arbeit zu Klopstock. „Das Elternhaus war jüdisch“, wie Adler in einem Nachruf bei Lebzeiten festhielt, „aber fast alles Jüdische einschließlich dem Religiösen war kaum zu spüren [...].“3 Auf schmerzliche Weise spürbar wurde ihm dies mit Beginn der nationalsozialistischen Judenverfolgungen. Die Auswanderung nach Brasilien scheiterte, stattdessen erwartete Adler zu1

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Nicht erst mit Hayden Whites Infragestellung einer solchen grundsätzlichen Opposition in Metahistory gestaltet sich dieses Verhältnis weniger gegensätzlich. White beschreibt die Historiografie „as what it most manifestly is: a verbal structure in the form of a narrative prose discourse. Histories (and philosophies of history as well) combine a certain amount of ‚data‘, theoretical concepts for ‚explaining‘ these data, and a narrative structure for their presentation as an icon of sets of events presumed to have occurred in times past. In addition, I maintain, they contain a deep structural content which is generally poetic, and specifically linguistic, in nature, and which serves as the precritically accepted paradigm of what distinctively ‚historical‘ explanation should be. This paradigm functions as the ‚metahistorical‘ element in all historical works that are more comprehensive in scope than the monograph or archival report.“ WHITE, 1973, S. ix. „H. G. steht für Hans Günther, dies die Namen zweier jung verstorbener Brüder der Mutter, die alle drei zu verleugnen er nie wünschte, ohne doch noch diese Namen voll zu führen, nachdem Adolf Eichmanns Vertreter für das ‚Protektorat Böhmen und Mähren‘ in den Jahren 1939 bis 1945 eben so geheißen hatte.“ ADLER, 1970, S. 12. EBD.

„... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“

erst ein Zwangsarbeitslager, dann die Deportation in das Konzentrationslager Theresienstadt, später nach Auschwitz, wo seine Ehefrau ermordet wurde, und in das Buchenwalder Außenlager Langenstein-Zwieberge. Adler überlebte als einziges Mitglied seiner gesamten Familie. Diese Erfahrung wurde ihm zum Auftrag: Als es zu den Deportationen kam, habe ich mir gesagt: Das überlebe ich nicht. Aber wenn ich es überlebe, dann will ich es darstellen, und zwar auf zweierlei Weise: Ich will es wissenschaftlich erforschen und in dieser Gestaltung vollkommen von mir als Individuum loslösen, und ich will es dichterisch in irgendeiner Weise darstellen.4

Beide Ziele hat Adler unermüdlich verfolgt, allerdings mit unterschiedlichem öffentlichen Erfolg: „Ich kann, glaube ich, mit Recht sagen, daß ich der erfolgloseste, unbekannteste und verkannteste deutschsprachige Autor von einiger Begabung bin.“ 5 So beklagte sich H. G. Adler in einem Interview im Jahr 1969; in der Tat ist er auch heute lediglich einer wissenschaftlichen und publizistischen Minderheit bekannt. Der Schriftsteller und Privatgelehrte wird weiterhin, wenn überhaupt, nur als Historiker und Soziologe wahrgenommen, das literarische Werk hingegen findet keine große Beachtung. Sein Buch Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft (1955) gilt als Standardwerk der Holocaustforschung, und auch andere historiografische und soziologische Studien wie Der verwaltete Mensch. Studien zur Deportation der Juden aus Deutschland (1974) waren und sind zu Recht in der Fachgemeinde äußerst einflussreich. Wie er selbst in seinem Nachruf bei Lebzeiten feststellt, ist aber „[d]er Umfang von Adlers literarischer Leistung […] im Augenblick noch nicht zu übersehen, weil zu viele Arbeiten ungedruckt geblieben sind, so daß der Nachlaß auch an reifen Werken umfangreicher ist als das bisher Veröffentlichte.“6 Zwar wurden zwischenzeitlich noch einige Gedichtbände publiziert und in der Prosa hat sich Die unsichtbare Wand (1989) zu Eine Reise (1962) und Panorama (1968) gesellt, gar Übersetzungen ins

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ADLER/KNEBUSCH, 1998, S. 45. ADLER/SCHREIBER, 1969, S. 8. Interviewer Mathias Schreiber hingegen blieb Adler verbunden: Vgl. SCHREIBER, 1975. ADLER, 1970, S. 16.

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Englische sind mittlerweile erschienen, doch hält sich die literatur- und kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit Adler weiterhin in engen Grenzen.7

Zeugenschaft, Spr ache und kafkaeske Historiografie Dabei sind Adlers Romane, teils auch seine Kurzgeschichten und in manchen Bereichen auch seine Gedichte, klare Antworten auf dieselben Fragen, die auch der Historiker Adler stellt. Künstlerische Darstellung und historische Dokumentation liegen hier in der Tat sehr nahe beieinander. „Überblickt man die Werke von H. G. Adler, die wissenschaftlichen Bücher und Essays, die literarische Prosa und die Lyrik“, so H. G. Adlers Sohn, Jeremy Adler, so wird man eine Einheit verspüren, die durch Inhalt, Sprache und Ethik bestimmt wird, durch die Suche nach Wahrheit, durch die Suche nach der exakten, gerechten Darstellung des Erfahrenen. […] Der Autor und Dichter ist Zeuge. […] Das Dichten nicht weniger als die Wissenschaft wird zu einem Akt des Gedenkens und schließlich zum ‚Vermächtnis‘.8

Ähnliches hatte auch Walter Jens festgestellt; „Adlers Dokumentationen, und zwar sowohl die vom Geist der Poesie erfüllten Protokolle als auch die dem Duktus von Chroniken angenäherten Erzählungen“ sind für Jens „immer Geschichtsschreibung und Dichtung in eins – Dichtung, die, in Aristoteles’ Sinn, wahrhaftiger und philosophischer als die Historiographie ist.“ 9 Ebenso verweist Ruth Vogel-Klein auf Adlers „Zeugenschaft als Engagement“, die sich sowohl in Wissensvermittlung und politischem Handeln als auch im Selbstzeugnis und Kunstwerk äußere.10 Es sollte mithin nicht verwundern, dass Adler selbst seine historiografischen und soziologischen Studien als Literatur konzipierte: 7

Erst in jüngster Zeit scheint eine kritische Masse an Forschungsaufmerksamkeit und -literatur zu Biografie und Werk Adlers erreicht zu sein, wie sich z. B. in der Studie von KRÄMER, 2012, der Adler gewidmeten Ausgabe der Monatshefte 103/2 (2011) und dem Band FINCH/WOLFF, 2014 andeutet. Ein komplettes Verzeichnis von Adlers Werken findet sich in HOCHENEDER, 2009. 8 ADLER, J., 1987, S. 10. 9 JENS, 1985, S. 5. 10 VOGEL-KLEIN, 2011, S. 186f.

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„... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“ [S]ogar in wissenschaftlichen Arbeiten achte ich sehr genau auf die Sprachführung. Außerdem schreibe ich meine wissenschaftlichen Werke meist so, als ob es sich formal um Dichtungen handelte. Das Theresienstadt-Buch oder Der verwaltete Mensch sind unter anderem auch groß angelegte Romane, obgleich ich sie nicht so bewertet wissen möchte.11

Insbesondere bei der Konzeption des Theresienstadt-Buchs sind ganz konkrete literarische Einflüsse auszumachen, wie Adler auch in einem Brief bestätigte: „Es ist streng wissenschaftlich angepackt, aufgrund eines geradezu ungeheuerlichen Dokumentenschatzes, den ich gesammelt habe. Dabei ist es lesbar, lebendig, ein Kafka-Roman mit umgekehrten Vorzeichen, der Wirklichkeit nachgeschrieben.“12 „Kafka“, so Adler in einem Interview, „ist für mich einer der entscheidenden Autoren gewesen”;13 dementsprechend tritt dieser in Adlers Historiografie gar direkt auf. Gleich zu Beginn seiner Geschichte des Ghettos Theresienstadt zitiert Adler die letzten Sätze aus Kafkas Ein Landarzt: „Betrogen! Betrogen! Einmal dem Fehlläuten der Nachtglocke gefolgt – es ist niemals gutzumachen“14 – und in seinem Kapitel zur Psychologie des Lebens im Ghetto, wo deren Relevanz für Adlers Studie klarer wird, nimmt er sie wieder auf. Über den Landarzt schreibt Kafka: „Nackt, dem Froste dieses unglückseligsten Zeitalters ausgesetzt, mit irdischem Wagen, unirdischen Pferden, treibe ich alter Mann mich umher,“ von Schuldgefühlen geplagt, da sein Handeln Rosa dem Pferdeburschen ausgeliefert hatte.15 Auf eine lange Passage, in der Adler den Judenältesten Jakob Edelstein zitiert, folgt denn eine an Kafka angelehnte Erklärung, wie noch die besten Absichten doch unweigerlich zur Tragödie führen konnten: Hier wird in Theresienstadt die Tragödie des Zeitalters offenbar: die Tragödie der ideologischen Starre und die Tragödie des jüdischen Volkes, gezeigt an einem Manne, der die besten Grundsätze zu haben glaubte und betrogen wurde, 11 ADLER/DANIELIS, 1982, S. 54f. 12 Brief, H. G. Adler an Wolfgang Burghart, 17.10.1947, zit. n. HOCHENEDER 2009, S. 179. 13 ADLER/FISCHER, 1987, S. 196. Im Dezember 1941, als Adler in einer Liquidationsgruppe der jüdischen Kultusgemeinde arbeitete, hatte er denn auch versucht, den Buchnachlass Franz Kafkas zu retten. Vgl. HOCHENEDER, 2009, S. 335. 14 ADLER, 2005 [1960], S. 1. 15 In KAFKA, 1996 [1918, recte 1917], S. 261.

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Martin Modlinger weil der dem ‚Fehlläuten‘ (Kafka) gefolgt war – was sich nie mehr gutmachen ließ. Hier ist die Tragödie des Mitwirkers, der sich in den Wirrnissen seiner Zeit vermaß und daran zugrundeging, ohne seine innere Freiheit retten zu können. Oft wurde dieser Scheideweg zum Unglück, gar bei Menschen, die nicht wie Edelstein noch das Gewissen befragten.16

Adlers Romane Autobiografie und Wahrheit So wie die Literatur in Adlers Geschichtsschreibung präsent ist, so zeigt sich auch die Geschichte in Adlers literarischen Werken. Beide Teile seines Werkes sind einer Zeugenschaft verpflichtet, die der Vergangenheit historisch wie auch literarisch gerecht zu werden versucht. Es lohnt mithin, die jeweilige Ausgestaltung der Zeugenschaft, der ‚wahrhaftigen Dichtung‘ und damit einer ethisch begründeten Transformation von Geschichte, auch im literarischen Werk näher zu untersuchen. Innerhalb dieses Adler’schen Projekts des Gedenkens als Gegenwarts- (und nicht als Vergangenheits-)bewältigung17 zeichnet der Roman Panorama dabei mit dem deutlich autobiografisch gestalteten Protagonisten Josef Kramer die Geschichte einer Entwicklung von der Kindheit über die Arbeits- und Vernichtungslager bis in die Freiheit nach. Eine Reise befasst sich vornehmlich mit den Lagererfahrungen in Theresienstadt, Auschwitz und Langenstein, blendet mithin eine Vor- und Nachgeschichte weitgehend aus, wohingegen Die Unsichtbare Wand ausgehend vom Londoner Exil die Vergangenheit perspektiviert und die Möglichkeit eines Weiterlebens nach dem Überleben zum Thema

16 ADLER, 2005 [1960], S. 658. Adler selbst verwendet im Übrigen den Begriff ‚Jüdische Tragödie‘ für das, was im Folgenden mit ‚Holocaust‘ oder ‚Shoah‘ beschrieben wird. 17 Vgl. Adlers Vorwort zu Der Verwaltete Mensch, wo er dessen enge Beziehung zum Theresienstadt-Buch erklärt: „Meine zwei Werke über die Verfolgung der Juden durch das nationalsozialistische Deutschland sind eng miteinander verwandt, ich nehme sie sogar als Einheit wahr: zwei Säulen oder Merk-Male um des einen Gedenkens willen errichtet […]. Hiermit ist keineswegs das gemeint, was man allzu holprig und schlicht falsch ‚Bewältigung der Vergangenheit‘ genannt hat. Vergangenheit läßt sich nicht ‚bewältigen‘, das könnte man höchstens von der Gegenwart sagen.“ ADLER, 1974, S. XXIV.

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macht. Zur Frage nach der ‚Wahrheit‘ dieser Geschichten hat sich Adler selbst wie folgt geäußert: Ich würde doch sagen, daß das ‚Panorama‘ ein mit autobiographischem getränkter Roman ist, aber keineswegs eine Autobiographie. Wenn ich genügend alt werde und Zeit finde, dann will ich einmal meine Lebenserinnerungen schreiben. Die werden z. T. ganz anders aussehen als das ‚Panorama‘, in dem auch manches geschildert ist, was ich privat überhaupt nicht erlebt habe. Wahr ist es, aber nicht immer meine private Wahrheit.18

Diese ‚allgemeinere Wahrheit‘ ist dabei keineswegs in Form klassischer Überlebendenberichte gehalten. Da Adler die grundlegenden Fakten schon in seinen historiografischen Studien präsentiert hatte, konzentriert er sich, wenn auch in unterschiedlichem Maße, in Panorama, Eine Reise und Die Unsichtbare Wand auf Fragen der Identität und Erinnerung. Ebenso greift er nicht auf die chronologische und lückenlose Erzählstruktur früher Holocaustliteratur zurück; stattdessen sind die Romane von Dissoziationen sowohl auf temporaler als auch auf topologischer Ebene geprägt. Wie Thomas Krämer dargelegt hat, mag dieser markante Unterschied zu anderen direkt nach 1945 entstandenen autobiografischen Werken der Holocaustliteratur, der deutlich experimentelle und selbstreflexive Charakter von Adlers Werk, der Entwicklungen der späteren Holocaustliteratur um Jahrzehnte vorwegnahm, mit ein Grund dafür sein, dass Adler im literarischen Betrieb kaum beachtet wurde und seine Bücher teils erst spät, teils gar nicht veröffentlicht wurden.19

18 ADLER/FISCHER, 1987, S. 192. 19 Vgl. KRÄMER, 2012, bes. S. 86-91. Diesbezüglich unterscheidet sich Adler auch von Autoren wie Primo Levi oder Jorge Semprún, deren internationale Rezeption eine Kanonisierung des Werks bereits zu Lebzeiten beförderte.

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Die Erfahrung der Vernichtung zwischen Exaktheit und Distanz Die Wahrheit, die Adler im 1948 vollendeten, aber erst zwanzig Jahre später veröffentlichten Panorama ausdrücken möchte, ist also keine historischfaktische Wahrheit, wie er sie in seinen Studien z. B. zum Ghetto Theresienstadt darstellt, aber doch eine Wahrheit der Zeit: ein paradigmatisches Schicksal, besser: ein paradigmatisches Erleben in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Zeit, der Adler sich ebenso ausgiebig wie akribisch in seinen historiografischen und soziologischen Studien zuwendet, die Zeit der Verfolgung und Vernichtung unter nationalsozialistischer Herrschaft, nimmt dabei in Panorama nur zwei von zehn Kapiteln ein. Im neunten Bild des Panoramas, dem Kapitel Lager Langenstein, wird dort nicht nur die Zwangsarbeit in Langenstein-Zwieberge, einem Außenlager Buchenwalds, sondern auch die Erfahrung von Auschwitz-Birkenau wiedergegeben. Lager Langenstein beginnt mit einem Blick in die Baracke und mit der Allgegenwärtigkeit des Todes: [E]s ist ein schweres Atmen, ein pfeifendes Röcheln, vierzig Leiber liegen schwer, die schlafen nicht und wachen nicht, die liegen da, und keine Zeit ist bei ihnen, sie sind nicht lebendig und auch nicht tot, aber man kann auch sagen, daß viele lebendig sind und einige schon tot, das weiß man in der Finsternis nicht, wer tot und wer lebendig ist.20

Hier wie an anderer Stelle wird Adler bildlich äußerst konkret und exakt – der Programmatik eines ‚Panoramas‘ entsprechend, in dem detailgetreue Schaubilder den Betrachter faszinieren sollen – dies allerdings in begrifflich abstrahierter Form. Begrifflich abstrahiert vor allem in dem Sinne, als jener von Adler für sein historiografisches Werk so akribisch zusammengetragene Begriffsapparat, in dem sich die nationalsozialistische Vernichtungs- wie auch Verschleierungstaktik so klar spiegelt, hier vollkommen beiseitegeschoben wird. An dessen Stelle tritt ein sehr viel allgemeinerer, gar verallgemeinernder Sprachgebrauch: Die Ratten schwingen Hundepeitschen, damit schlagen sie los auf die Nackten, und die Ratten brüllen, daß hier kein Sanatorium ist […]; da lernen die Nack20 ADLER, 2010 [1968], S. 487.

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„... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“ ten, daß unter den Verlorenen keine Gleichheit herrscht, denn die Helfer der Verschworenen sind mächtig, die anderen Verlorenen ohnmächtig, doch die Verschworenen des Eroberers sind fern und führen ein erhabenes Dasein, zeitweise nur erreicht es die Verlorenen sichtbar, sonst schaffen Helfer für die Verschworenen, um das unübersehbare Gewoge der Namenlosen zu erpacken und zu verwalten […].21

Die Opfer und Täter, die in dieser Passage beschrieben werden, sind so zugleich Teil der Geschichte des Holocaust und Teil einer allgemeineren, übergreifenderen Geschichte der Verfolgung und Vernichtung. In Adlers Lyrik wird der Bezug auf das ewige, nur von Phasen der vermeintlichen Sicherheit unterbrochene Exil (hebr.: Galut) und die immerwährende Vertreibung und Verfolgung noch deutlicher. Hier verliert sich der konkrete Gegenwartsbezug vollständig, er bleibt z. B. im direkt nach dem Krieg verfassten Gedicht Die Verbannten allein als Grund der Hinwendung zur Geschichte der Galut erkennbar:

Die Verbannten22 Den vergessenen Weg nimmt Jeremias In dieser Stunde auf. Seine Träne Klagt die Zerstörung, sein Trauern, sein Jammern. Die Stunde ist anders, ernster noch In der Verwirrung, in der Verfolgung. Denn es geschieht nichts mehr. Nichts und abgetan. Und die Söhne und Töchter wissen nicht. Auch ist kein Volk, auch ist kein Land. Doch die Verspäteten, Haman entkommen, Fährt der Befreier auf Planken zu Hamans Enkeln hin. Nichts geschieht. Wo ist Jeremias?23

21 EBD., S. 493. 22 In ADLER, 1979, S. 8. 23 Im Buch Esther ist Haman Wesir am Hofe Xerxes. Als sich Mordechai weigert, sich vor Haman zu verneigen, plant Haman die vollständige Vernichtung der Juden (Est 7,4.4).

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Innerhalb von Panorama ist in Bezug auf derartige Verallgemeinerungen bzw. Konkretisierungen dabei durchaus eine Entwicklung auszumachen. Frühe Kapitel verwenden fiktive oder veränderte Namen für jene Orte, an denen Adler selbst als Kind und Jugendlicher aufgewachsen war – etwa Umlowitz anstelle des nahegelegenen Deutsch-Beneschau – die späten Kapitel aber, in denen Josef Kramer die Zwangsarbeit und Lagerhaft durchlebt, schließlich auch die Freiheit, sind mit ihren wahren Namen genannt (Birkenau, Langenstein, Schloß Launceston), als verbiete hier die Geschichte eine derartige Umwandlung,24 obwohl Opfer und Täter eben nicht klar als Juden und Deutsche bezeichnet werden. Auch in der Beschreibung der Selektion ist Adler zugleich konkret (exakt schildert er die Handlungen und den Wahnsinn) und begrifflich abstrakt (die SS wird nur bei ihrem Motto genannt; der Begriff ‚Selektion‘ fällt erst am Ende): Und hier um das Lager sind die Todesfabriken, sie ersticken und verbrennen unentwegt, denn der Eroberer opfert ihm unwertes Leben, geh hin, Verlorener, geh und laß dich auswählen von dem großen schönen Mann, der ein Arzt ist, warte auf ihn, nimm deine Lumpen vom Leibe, sieh, er kommt schon, er ist ein fleißiger Mann, zu dir bemüht er sich in deine Hütte, er hat gute Augen, er kennt das Fleisch, er durchschaut deinen Wert und entscheidet im Namen des Eroberers und all seiner Verschworenen über dich, zweifle nicht an der irdischen Ordnung, der Eroberer hat sie aus dem Zufall erlöst, nach dem Tod oder Leben dem blinden Walten der Natur überlassen sind, aber der Eroberer hat den natürlichen Vorgang in die Gewalt seiner Verschworenen überliefert, er befiehlt, den sie den größten Wohltäter heißen, und seine Verschworenen folgen, ihre Ehre heißt Treue, und hier der schöne Arzt vor dir ist einer seiner Getreuen, er wählt sich aus, er selektiert dich, er beurteilt, ob Du zur Todesernte gereift bist [...].25

Das Langenstein-Kapitel ist dabei weder Höhepunkt noch Schlusspunkt der Erzählung; Adler weigert sich, der Erfahrung der Shoah oder auch deren Überwindung einen solchen Flucht- und Endpunkt zuzuweisen. Stattdessen ist das Lagererlebnis nur eine Etappe in der immer mehr zu einem untrennbaren Ganzen zusammenfließenden Bildungsgeschichte des Josef Kramer. Joachim Cam24 Allerdings gestaltet sich dies in Eine Reise (verf. 1951, veröff. 1962) anders; dort findet sich z. B. Prag als ‚Stupart‘ und auch Theresienstadt nur als ‚Ruhenthal‘. 25 ADLER, 2010 [1968], S. 502.

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pe hat festgestellt, Adler folge in seinem Bildungsroman „dem Vorbild Jean Pauls, dessen vorbildliche Helden sich an einer Welt bewähren, die ihnen ihre innere, geistige Kraft nehmen will.“ 26 Hierbei ist der Charakterisierung der Welt durchaus zuzustimmen, der „vorbildliche Held“ gewinnt aber erst im spielerischen Wortsinn seine volle Bedeutung. Josef Kramer bleibt sein Leben lang vorbildlich, selbst den eigenen Lebensbildern bleibt er seltsam fern, so wie schon der junge Josef Kramer im Eröffnungskapitel Vorbild: Der Besuch im Panorama, in dem er mit seiner Großmutter ein Panorama mit bunten Bildern aus der ganzen Welt betrachtet, diesen Bildern keine Nähe abzuringen vermag. Er stellt stattdessen beim Blick durch die Gucklöcher fest (und dies ist sicherlich als Adlers Programmatik zu verstehen): „Die sonst bekannte Welt ist ausgelöscht. Hier ist eine andere Welt, in die man nur blicken darf, anders als mit dem Blick gelangt man nicht in sie hinein.“27 Adler beschreibt damit zugleich die Position des Schriftstellers und des Lesers, die dieser „andere[n] Welt“ notwendig immer fern bleiben, die nicht in sie hinein gelangen können. Ebenso bedeutend bleibt aber diese Ferne textintern für Josef Kramer selbst. Wenn das Panorama als Konstruktionsprinzip im letzten Kapitel in einer Traumpassage wieder aufgenommen wird als ein Vorbeiziehen der Bilder beim Blick aus dem fahrenden Zug, so bleibt auch dort jedes Bild flüchtig; die Ansprache der Bilder, ihr ‚Verhör‘, ist auch dort nur kurz, sie ist nicht festzuhalten: [E]r wird in den Zug einsteigen, in Launceston hält er kurz, und Josef fährt schon, nach wenigen Minuten ist Launceston entrückt, andere Orte tauchen auf, Orte der Vergangenheit, die begangenen Taten, die abgelaufenen Ereignisse, das Spiel rollt vorwärts und rückwärts; es ist gut, daß all dies im Schlaf geschieht, es ist beruhigend, es sind Bilder, die nur kurz verweilen, ein Glöckchen erschallt, aufpassen, schon geht es wieder fort, ein neues Bild, ein altes Bild,

26 CAMPE, 1987, S. 85. Adler hat den Einfluss Jean Pauls auf sein Werk mehrfach bestätigt: „Ganz stark ist der Einfluß von Jean Paul auf mich […]. [D]ie menschliche Güte Jean Pauls hat es mir angetan gehabt und dem trachtete ich nachzueifern.“ ADLER/FISCHER, 1987, S. 196. 27 ADLER, 2010 [1968], S. 9. Auch: „Die andere Welt ist ein Programm, das ist wohl schön, aber mehr ist es nicht. Nächste Woche ändert sich das Programm und so Woche für Woche. So gibt es kein Ganzes, nur einzelne Stücke ohne Ende.“ EBD., S. 10.

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Martin Modlinger das ist ungewiß, die Übersicht geht verloren, nichts als emporgehobene Augenblicke, die einen empfangen und auch verhören.28

Der lange Blick auf die Geschichte: der mechanische Materialismus „Die Weigerung, in Panorama das Böse mit den Exzessen des Dritten Reiches gleichzusetzen,“ 29 wie John und Ann White es formuliert haben, liegt dabei in Adlers Auffassung von der europäischen Moderne als longue durée begründet. Diese begreift er als eine Geschichte des ‚mechanischen Materialismus‘, innerhalb dessen der Massenmord an den Juden zwar eine Singularität darstellt, jedoch in eine längere Entwicklung eingebettet ist. Der Entschluss, dem Lager Langenstein und damit Auschwitz keinen Sonderstatus zuzuweisen, ist programmatisch. Er verweist auf Adlers Überzeugung, der Nationalsozialismus und alle damit einhergehenden Verbrechen seien nur eine weitere, wenn auch qualitativ neue Stufe im weit längeren Prozess der Entwicklung des ‚mechanischen Materialismus‘. So argumentiert Adler etwa auch, [dass] Theresienstadt nicht mehr und auch nicht weniger war als nur ein Beispiel, allerdings ein besonders markanter und bis ins Irrwitzige grell übertriebener Sonderfall einer Gesellschaftsordnung im Zeitalter des mechanischen Materialismus, die unter dem entsetzlichen Druck übermäßigen Zwanges und doch heuchlerischer Verbergung dieses Zwanges ausgearbeitet ist.30

Den ‚mechanischen Materialismus‘ definiert Adler dabei als „ein ideenarmes, farbloses, grob sinnliches Denken in ärmlichen, starr rationalen Formen, die gar nicht die Möglichkeit des Lebens sehen können und zulassen wollen“.31 Eine Weltanschauung ohne den Glauben an eine höhere Ordnung, innerhalb der „[d]ie wenigen Ideen, die hier noch herrschen, […] zu materiellen Ideen [werden], so paradox das klingen mag.“32 Joachim Campes Beschreibung einer 28 29 30 31 32

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EBD., S. 559. WHITE/WHITE, 1987, S. 32. ADLER, 1998, S. 113f. ADLER, 2005 [1960], S. 632f. EBD. Inspiriert wurde Adler dazu durch Hermann Broch. Dessen SchlafwandlerTrilogie, die Adler als geschichtsphilosophisches Werk begriff, offerierte ihm einen Zugang zur Moderne (und ihrer Beschreibung). In einem Brief an Broch schrieb Adler: „Es war vor allem der ‚Zerfall der Werte‘ [wie er in 1918: Hugue-

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Welt, die jedem die „innere, geistige Kraft nehmen will,“33 mag hier zutreffend sein. So zeigt sich auch in Adlers literarischem Werk jene Überzeugung, die er aus dem Studium der Geschichte gewonnen hat. Dementsprechend argumentiert auch der Historiker Adler für eine absolut nüchterne Betrachtung der Geschichte. In einem Kolloquium des YIVO Instituts zur Rolle ‚Jüdischer Selbstverwaltungen‘, die auch unter Historikern hitzige Debatten ausgelöst hatten, betont Adler: I think that among us we must try to remove all bitterness for a very simple reason. We shall never be able to look at the problem as historians or as sociologists when we always dwell on our personal feelings. Those feelings are to be respected as far as they are human. But our task here is somewhat different. We should try, without any bias, to look into the problems and at what really happened.34 Hardly any of us is without emotions on subjects involving personal fate. However, we should behave like a surgeon who is absolutely cool while performing a cancer operation, despite the fact that his father died of cancer. After such a long time we must now try to be cool, even icy. It doesn’t mean that we should be heartless. On the contrary, we should try to completely separate our personal feelings from our investigations.35

Naheliegend wäre nun, dass Adler die ‚Kälte‘ der Wissenschaft mit der Wärme der Literatur auszugleichen suchte; allerdings gestaltet sich das Verhältnis von Historiografie und Literatur bei Adler keineswegs so einfach. Selbstverständlich ist Adlers schriftstellerisches Werk mehr vom emotional Erlebten geprägt als seine geschichtswissenschaftlichen und soziologischen Studien; im Besonderen gilt dies für die noch in den Lagern entstandene Lyrik. Dabei blieben jedoch die Zielsetzungen Adlers als Schriftsteller weitgehend mit denen Adlers als Historiker identisch. Die Bedeutung einer kühlen, faktengesicherten Chronik ist beiden Feldern eigen; es spricht jeweils der Zeuge, der seine persönliche nau oder die Sachlichkeit (1932) beschrieben wird, M. M.], der mir damals, und heute vielleicht noch mehr, geradezu als Schlüssel zum Verständnis des Nationalsozialismus und allgemein der Kulturkrise des Abendlandes erscheint.“ Brief, H. G. Adler an Hermann Broch (7. August 1948), in SPEIRS/WHITE, 2004, S. 8. 33 CAMPE, 2010, S. 85. 34 YIVO INSTITUTE, 1972, S. 94. 35 EBD., S. 103.

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Erfahrung nicht verallgemeinern, sondern in der allgemeinen Erfahrung verorten will. Literatur und Geschichtsschreibung unterscheiden sich bei Adler mehr hinsichtlich der Struktur und Bedeutung von Identität, Erinnerung, Schuld und Verantwortung.

Erinnerung, Heimat und die Macht der Sprache Besonders deutlich wird dies in Adlers Die Unsichtbare Wand, das von Jürgen Serke nicht unzutreffend als Antwort auf Kafkas Der Prozeß beschrieben worden ist.36 Auf den Unterschied zwischen einer ‚wirklichen Freisprechung‘ und einem ‚scheinbare[n] Freispruch‘ in Kafkas Prozeß anspielend, wobei Ersterer dem Prozess ein Ende macht und Letzterer diesen nur vorübergehend aussetzt, sieht Serke den Prozess in Die Unsichtbare Wand von Neuem beginnen: „Adlers Roman Die Unsichtbare Wand ist die Auseinandersetzung mit dem ‚scheinbaren Freispruch‘ des Opfers.“ In der Tat reflektiert der wiederum biografisch konditionierte Protagonist Artur Landau dort in einem Gespräch mit Fräulein Zinner seinen ‚scheinbaren Freispruch‘, sein Überleben, seine Zeugenschaft, das Verhältnis von Erfahrung und Erinnerung und die Notwendigkeit des Forschens: Ich weiß nicht, ob ich so unmittelbar dabei war. Ich bin doch nicht gestorben, und da weiß man es nicht. [...] Nur die Toten waren dort, weil sie allein geblieben sind. Unsereiner ist nur durchgegangen. [...] Wirklich erinnern kann ich mich nicht. Sie flüchten also? Wollen nicht? [...] Es gibt keine [Flucht], sie gelingt auch nicht. [Ich] weiß, daß ich die Verfolgung nicht los werde. Das Ungeheuer springt einem immer auf den Nacken. Aber diese Erfahrung und die Erinnerung sind nicht dasselbe. Erklären Sie! Ich meine nicht zu vergessen. Das kann ich nicht. Die Dinge sind mir gegenwärtig als Erlebnisse und als Bild, und ich will sie auch erforschen, weil ich anders gar nicht kann. Bevor nicht alles durchgedacht und aufgewiesen ist, werde ich nicht rasten, geschweige denn Ruhe finden. Also schon deshalb keine 36 „Josef K., der in Kafkas Roman von zwei Männern in einem Steinbruch hingerichtet wird, ersteht in Artur Landau wieder auf. Der dem Tod verhaftet bleibende Artur Landau, [ist] in anderer Weise ein Hingerichteter […].“ SERKE, 2003, S. 784. Jeremy Adler betont allerdings, dass die Namensähnlichkeit von Josef Kramer in Panorama und Josef K. in Kafkas Der Prozeß bloßer Zufall ist. ADLER, J., 2010, S. 620.

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„... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“ Flucht. Aber Erinnerung ist etwas ganz anderes. Sie ist die Identifikation mit der Verschickung und allen ihren Folgen, also mit der erlittenen Vernichtung. Das kann ich nicht. Ich bin bestenfalls zerbrochen worden, vielleicht zerschmettert, doch da ich hier vor Ihnen stehn [sic] kann, bin ich nicht vernichtet.37

Adler schließt die Passage mit der denkwürdigen Aussage, „nur die eigene Vernichtung wäre die wahre Erinnerung,“ 38 eine mit dem Schuldgefühl der Überlebenden zusammenhängende Idee, der bereits Primo Levi in I sommersi e i salvati (1986, dt.: Die Untergegangen und die Geretteten, 1990) Ausdruck gab: Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. [...] Wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben – Wer ihn berührt, wer die Gorgo erblickt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.39

Wieder in einem Gespräch mit Fräulein Zinner, die Artur Landau zu verstehen sucht, bestimmt der Protagonist sein Verhältnis zur Sprache und deren Bedeutung für den Überlebenden – und hier äußert sich denn auch Adlers Überzeugung: Nur durch die Sprache wird gefährlichstes Dasein verscheucht. Aber auch das ist nicht richtig gesagt, denn verscheucht kann das Übermächtige nicht werden, nur gesichert, festgestellt, damit es bestimmt wird, aus dem Unheimlichen ein wenig heimlicher gemacht. Nur durch die Sprache können wir zaubern, Rettungsversuche. Man will ein Haus haben, ein Heim, ein Dasein zwischen Wänden, wo man geschützt ist und sich verbergen kann [...]. Diesem Wunsch entspricht es nun, was ich eben nicht ganz glücklich das Verscheuchen des gefährlichsten Daseins, also des Unheimlichen nannte. Richtiger wird es, wenn ich sage: das Übermächtige bannen. Wir müssen gleichsam sprechen, um nicht fortwährend gefragt, fortwährend bedroht zu werden.40

37 38 39 40

ADLER, 2003 [1989], S. 235. EBD. LEVI, 1990, S. 82-84. ADLER, 2003 [1989], S. 367.

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Die Hoffnung auf ein Heim – schon im nächsten Halbsatz reduziert auf die viel kleinere Hoffnung, ein „Dasein zwischen Wänden“ erreichen zu können41 – ist allein durch die Sprache zu erfüllen. Eine Sprache, die ‚das Unheimliche‘ bannt, indem sie es bespricht, darüber spricht, und es, zumindest in der Literatur, doch nicht beim Namen nennt.42 Dies mag der zweite Grund neben der Einordnung in die Geschichte des mechanischen Materialismus sein, aus dem Adler sein persönliches Erleben und jenes der anderen Opfer bei aller Exaktheit aus einer begrifflichen Distanz heraus beschreibt.

Appell und Humor: Adlers Kurzgeschichten Abstrakter noch als in den autofiktionalen Romanen stellt sich die Erfahrung der Verfolgung und Vernichtung in Adlers Kurzgeschichten dar. Wo in Panorama zumindest ab und an die historisch korrekten Ortsbezeichnungen auftreten, gar an einer Stelle der sonst nur als ‚Der Eroberer‘43 bezeichnete Adolf Hitler mit Namen genannt wird, da tritt in den über die Jahre veröffentlichten Kurzgeschichten Allegorie und Allusion in den Vordergrund. In Es ist alles aus bspw. beschreibt Adler eine Stadt, deren Bewohner immer wieder vor 41 Die Idee taucht auch in Panorama wieder auf. Dort heißt es am Ende: „[Josef] soll sich nun zu guter Letzt von seinen Ausflügen verabschieden und heimkehren nach … Ja, wohin heimkehren? Diese Frage ist schwer zu beantworten, aber sie ist auch müßig, denn es ist für Josef keine Heimkehr möglich, weil das auch Rückkehr bedeutet und Heimkehr voraussetzt, die es für ihn nicht gibt, kein Zuhause, aber anders doch, eine Ordnung, in die es sich finden läßt, auch wenn das kein Zurückfinden ist, sondern eben ein Finden, ein Auffinden, und das ist ein Zustand, das setzt Gewöhnung voraus und Gewohnheit, so soll das dann sein, und dies steht dafür, was anderen Menschen Heimkehr bedeutet, das erkennt Josef an […].“ ADLER, 2010 [1968], S. 595f. Adler selbst antwortete auf die Frage, wo er sich zu Hause fühle: „Ich will mich nicht zu Hause fühlen, das ist das Entscheidende, außer innerhalb meiner eigenen vier Wände. Ich wünsche kein Heimatgefühl zu pflegen. Der Jude soll nicht glauben, irgendwo zu Hause zu sein, nicht einmal in Israel soll er es glauben.” ADLER/FISCHER, 1987, S. 194. 42 Die Verwendung des Unheimlichen in Bezug auf das Heim, auf Heimlichkeit und das ‚heimlich werden‘ ist natürlich auch als Verweis auf Freud zu verstehen. Vgl. FREUD, 1919. 43 Im Kapitel Schloss Launceston tauchen denn noch zwei weitere Eroberer auf: Wilhelm der Eroberer (William the Conqueror), der das Schloss hatte errichten lassen sowie Oliver Cromwell, der dort Georg Fox, den Gründervater der Quäker, gefangen hielt. Im Krieg, so weiß Josef zu berichten, diente Launceston als Lager für deutsche Kriegsgefangene.

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hereinbrechendem Unheil gewarnt werden, dies aber zunächst nicht recht glauben wollen: ‚Es ist alles aus, alles aus!‘ Die Stimme, die das rief, hing im Raume, doch da sich niemand nach ihr umsah, wurde sie unhörbar dünn und bog um die Ecke, wo sie langsam verhallte. Das war im Herbst, und dann wurde lange nichts mehr gehört. [...] Da wurde die Stimme wieder gehört, erst selten, dann öfter, [...] und man war noch froh, wenn die Stimme bloß in den Straßen ertönte, denn man war in seinen Stuben vor den klagenden Rufen nicht sicher. Auf einmal erhob sich die Stimme, sie war da, aber im Grunde aufgewühlt, wagte kein Mensch in die Richtung des Schalles zu blicken, jeder wendete die Augen entsetzt ab und vergrub sein Haupt in ein Tuch oder in zitternde Hände.44

Später, als die Warnungen sich mehren und dringlicher werden, entschließt sich ein ‚Bund der Beherzten‘ zum Eingreifen – wählt aber das falsche Mittel: „[Es] mußte sich jeder verpflichten, standhaft zu sein und vor der Stimme nicht zu erschrecken, sondern tapfer ihr entgegen zu blicken, sie zu stellen und, wenn möglich, dingfest zu machen.“45 So lässt Adler denn auch am Ende auf kaum verhüllte Anspielungen auf Beschwichtigungsversuche und gar Kollaboration jene Konsequenzen folgen, die auch historisch die jüdischen Gemeinden getroffen hatten. Die Prophezeiung, im eigentlichen Sinne die begründet warnende Stimme, erfüllt sich; zuerst erfolgt die Ghettoisierung, dann Vernichtung und Tod, hier allerdings umgeformt als Naturkatastrophe: Das nahe Unwetter verscheuchte die Bevölkerung von allen öffentlichen Plätzen, aber die Menschen konnten ihm nicht mehr enteilen, wo immer sie Zuflucht suchten. Jeder hörte die Stimme, die rief: ‚Es ist alles aus, alles aus!‘ Ob auch die ‚Beherzten‘ es hörten, läßt sich nicht feststellen, denn keiner von ihnen hat sich gerettet, daß er es ansage. Nur eine kleine Schar ist entronnen, als das Unwetter mit Wirbelsturm, Blitz, Donner, Wolkenbruch und Hagel die alte Stadt mit ihren herrlichen Bauwerken verheerte. Dann besiegelte das Erdbeben den Untergang. Am nächsten Tage wurde bloß ein rauchender Trümmerhaufen gesehen, der aus einem See emporragte.46 44 In ADLER, 1969, S. 247-259, Zitat S. 247. 45 EBD. 46 EBD., S. 259. Der Ruf der Stimme tönt auch noch in Adlers Die unsichtbare Wand nach. Dort ist es eine Stimme, die den Überlebenden nachruft: „Man will ein Haus haben [...], wo man geschützt ist und sich verbergen kann, daß man nicht – und da

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Es ist dabei bezeichnend, dass Adlers Kurzgeschichten und teils auch seine Romane von schwarzem Humor geprägt sind.47 Oft sind es dabei Überzeichnungen des Verwaltungsapparats, der sich einer Katastrophe entgegenstemmt, sie dabei aber zugleich befördert („Damit wäre alles so gut oder schlecht gewesen, wie es um menschliche Einrichtungen einmal bestellt ist“)48, die mit absurder Komik eine unüberwindbar scheinende Hilflosigkeit illustrieren. Ähnlich wie mit dem Bund der Beherzten in Es ist alles aus geht Adler z. B. auch in der auf den Ältestenrat Theresienstadts anspielenden und 1942 in Theresienstadt selbst verfassten Kurzgeschichte Der Älteste 49 mit ‚dem Ältesten‘ und dessen Verwaltungsapparat um, deren einziges Anliegen darin zu bestehen scheint, gegrüßt zu werden: „In nomine Domini. Es muß jejrüßt werden. [...] Jejrüßt, jejrüßt, jejrüßt!“50 Gleiches findet sich auch in der 1956 entstandenen Kurzgeschichte Kartoffeln,51 in der eine ‚Gemeinnützige Kartoffelkommission‘, ihrerseits überwacht durch ein ‚Wirtschaftsamt‘ und das ‚Magistrat‘, die Kartoffelvorräte einer Gemeinschaft von Gefangenen zu verwalten versucht. Adlers Kritik an der Theresienstädter Selbstverwaltung, an Korruption und moralischem Versagen, wird hier überdeutlich, gleichzeitig ist sie jedoch in eine absurde Komik gefasst. Das so provozierte Lachen im Angesicht der Katastrophe ist ein Lachen, das im Halse stecken bleibt und die Absurdität der Situation – geprägt durch den völligen Verlust sicher geglaubter Werte und das Unvermögen, darauf angemessen zu reagieren – vielleicht doch besser spiegelt als dies Adler in seinen geschichtswissenschaftlichen Werken gelingt.

Fazit Insgesamt lässt sich somit feststellen, dass das literarische Werk H. G. Adlers dieselben Fragen zu beantworten sucht, die auch seine historischen und soziologischen Werke prägen. Adler widmet sich auch hier der Geschichte und Wirkung des ‚mechanischen Materialismus‘, wenn auch in persönlicherer und

47 48 49 50 51

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haben wir’s ja – vom Ruf des Unheimlichen ereilt wird, der einen mit der Frage hinauszwingt: Wo bist du?“ ADLER, 2003 [1989], S. 367. Vgl. dazu insbes. WHITE, 2007. ADLER, 1969, S. 252. In ADLER, 1964, S. 81-90. EBD., S. 88. In ADLER, 1969, S. 114-143.

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zugleich allgemeinerer Form. Adler ist einer Zeugenschaft verpflichtet, die über das bloße Berichten hinausgeht, stattdessen Identität und Erinnerung zu ihrem eigentlichen Gegenstand erhebt und somit vor allem einen Versuch der Gegenwartsbewältigung darstellt. Die Transformationen von Geschichte zu Literatur folgen dabei vor allem in seinen Romanen teils deutlich der eigenen Lebens- und Leidensgeschichte, insbesondere aber verglichen mit der in seinen historiografischen Werken so präzise und detailliert zusammengetragenen Begriffs- und Faktenwelt lässt sich eine bewusste Abkehr von der historischen Spezifität des Holocaust beobachten. Adler weist der Verfolgung und Vernichtung in der Zeit des Nationalsozialismus keinen völligen Ausnahmestatus zu; vielmehr schildert er sie als Teil der untrennbar verflochtenen longue dureé des ‚mechanischen Materialismus‘, jenes Denkens also, das „gar nicht die Möglichkeit des Lebens sehen“ kann und will.52 Adler will damit die Schrecken des Holocaust keineswegs relativieren – seine sprachmächtigen Schilderungen in Wissenschaft und Literatur zeichnen ein hierfür viel zu klares Bild –, er versucht vielmehr, die Darstellung des im Menschen angelegten Bösen nicht allein auf den Zeitraum von wenigen Jahren in der ersten Hälfte des Zwanzigsten Jahrhunderts zu reduzieren. In Adlers Kurzgeschichten, vor allem jenen, die in den Lagern entstanden, bleibt der Gegenwartsbezug mithin zwar erkennbar, erreicht aber doch eine weitere Stufe der Verallgemeinerung. Die in den Romanen teils konkret bezeichneten Orte und Ereignisse weichen hier meist der Allusion und Allegorie. So verweisen die Kurzgeschichten, in stärkerem Maße wiederum auch noch die Gedichte, in denen der klare Gegenwartsbezug sich oft völlig verliert, nicht selten auf eine noch weit über den ‚mechanischen Materialismus‘ hinausreichende Geschichte der Abkehr von Werten und der Verbannung und Verfolgung, z. B. auf die lange Geschichte der Galut. In all dem, sowohl in seinem gesamten literarischen als auch seinem historiografischen und soziologischen Werk, bleibt bei Adler aber eines unbezweifelt: Die Macht und die Aufgabe der Sprache, Erfahrung zu benennen, zu sichern und zu retten. Sie ist es, die ein Heim und eine Heimat, wo diese nicht mehr existiert, schlichtweg postulieren muss. Daher lassen sich bei Adler die verschiedenen Ausprägungen der Zeugenschaft in Literatur und Historiografie auch nicht gegeneinander ausspielen. Sie sind allesamt Teile jenes Projekts, das sich dem ‚mechanischen Materialismus‘

52 ADLER, 2005 [1960], S. 632.

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entgegenzustellen versucht, jenes Projekts, das den ganzen Menschen einnimmt und den Historiker vom Schriftsteller nicht zu trennen vermag. Wenn man mich fragt, ‚was bist du eigentlich‘, dann sage ich: ‚Ich bin jüdischer Nationalität, deutscher Muttersprache, stamme aus der Tschechoslowakei, gehöre dem österreichischen Kulturkreis an, bin ein deutscher Schriftsteller, ein englischer Staatsbürger und hoffe, in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch zu sein.‘53

Es ist letztlich die Hoffnung darauf, ein, wenn auch zerbrochenes, so doch erinnerndes, reflektierendes und auch sprechendes moralisches Wesen zu sein, die bei Adler Literatur und Geschichtsschreibung verbindet. Dies ist der Anspruch, an dem sich Geschichtstransformationen zu messen haben.

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53 ADLER/FISCHER, 1987, S. 197.

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„... in all dem zusammen noch ein bißchen Mensch“

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The Relationship between History and Fiction in the Folie Tristan de Berne and the Folie Tristan d’Oxford FIONA SUSLAK Im späten 12. und frühen 13. Jahrhundert waren die Grenzen zwischen Geschichte und Fiktion nicht dieselben, die ein heutiges Publikum erwarten würde. Texte, die ein modernes Publikum als fiktional einordnen würde, wurden nicht als solche vom mittelalterlichen Publikum wahrgenommen. Dieser Artikel untersucht die genannten Grenzen anhand der altfranzösischen Erzählungen Tristan von Oxford und Tristan von Bern. In beiden Texten erzählt die Figur Tristans, getarnt als Narr, Geschichten aus seiner eigenen Vergangenheit. Im Folgenden wird erstens untersucht, wie die Autoren vorgeblich historisches Material in ihre Arbeit einbeziehen, und zweitens, wie Tristan als Erzähler seiner eigenen Geschichte repräsentiert wird. Die Analyse der Erzählerkommentare in ihren Text und der Darstellungen Tristans als Erzähler deutet darauf hin, dass Autorität eine Schlüsselfunktion für die Ziehung der Grenze zwischen Geschichte und Fiktion ist.

The boundaries between fiction and history in the late twelfth and early thirteenth centuries were not what an audience today would expect them to be. Some material that modern audiences would consider to be fictional was not necessarily seen as such by medieval audiences, who could have interpreted the content of these works as either narrating events which actually occurred, or as discussing historical figures while also inventing elements of those narrations. During this period, the boundaries between history and fiction were beginning to become more fixed and were being approached in a different way. This was largely because writers were starting to produce written work in

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vernacular languages drawing partly on oral traditions rather than producing writing in Latin and using only material from authoritative, written Latin sources. Broadly speaking, there were two main types of vernacular literary text written during this period of the Middle Ages: epics, such as stories about Charlemagne and other tales of the Crusades (e.g. La Chanson de Roland), and romances, such as stories about King Arthur and his knights (e.g. the works of Chrétien de Troyes).1 Epic texts were generally based on historical events and narrated situations that were often presented as historically accurate, but the status of medieval romances was somewhat different. The writers of some romances claimed that their works were true and they supported this by referring to their sources.2 However, there is evidence that they were beginning to destabilise these truth claims and subtly suggest that elements of their narratives were make-believe stories about characters who may or may not have been real. These writers thereby called into question the notion that the written word conveys strict historical truth and authority and they were beginning to create a new genre of vernacular romance. The boundaries between what is real and what is make-believe, and therefore the boundaries between historical and fictional material, are negotiated in romances such as the Tristan story. Due to the fact that the story in its various versions depicts an adulterous relationship, deception and the search for truth are key features of the tale. This provides the writers of these texts with opportunities to debate the relationship between truth, lies and fiction, and therefore allows them to attempt to delineate the boundaries between history and fiction. There are several different versions of the Tristan story in the French- and German-speaking worlds, including seven which were composed in the late twelfth and early thirteenth centuries. They all provide examples of the different ways that contemporary writers sought to discuss and determine the boundaries between history and fiction. This chapter will focus on two of those texts: the Folie Tristan de Berne (the Berne Folly of Tristan) and the Folie Tristan d’Oxford (the Oxford Folly of Tristan).3 Tristan is the nephew of King 1 2 3

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ANONYM, 1990. Examples of Chrétien’s work include Le Chevalier au Lion, s. CHRÉTIEN, 1994 and Le Chevalier de la Charrette, s. CHRÉTIEN, 1992. Examples of this include Béroul’s Roman de Tristan and Gottfried von Strassburg’s Tristan. Cf. LACROIX/WALTER, 1989, p. 277-305 and 229-275. All references will be to these editions, which will henceforth be referred to as Folie Berne and Folie Oxford, respectively. All translations are my own.

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Mark of Cornwall who embarks on an adulterous relationship with Iseut, Mark’s wife, after they both mistakenly drink a love potion intended for Mark and Iseut. As a corpus, Tristan stories depict the events of this adulterous relationship, eventually culminating in their tragic deaths. The Folies Tristan are short texts which narrate only one episode of the larger Tristan story, and they were both written anonymously. There is some debate about their relationship to each other and to other versions of the Tristan story. For example, Noble notes that the Folie Berne is “traditionally linked with” Béroul’s version of the romance and Bromiley has noted similarities between the Folie Oxford and Thomas’. 4 The obvious similarities between the two Folies have in the past been a matter of academic debate.5 Both narratives relate the episode in which Tristan returns to the court in Cornwall, disguised as a fool, in order to see Iseut. The background to the story, which would have been common knowledge to an audience at the time, is that Tristan, the nephew of King Marc of Cornwall, was caught committing adultery with Iseut, the queen. After many plots, deceptions and intrigues, Tristan was banished from the court. In order to see Iseut, while hiding his true identity from Marc, he returns to court disguised as a fool. So as to convince Iseut of his true identity, he tells stories as a fool, some of which refer to their shared past. Therefore, in both of these texts, Tristan becomes a narrator of his own story. He mingles narratives that are pure invention with those that emanate from his own past. The latter narrations would have been recognised by the audience receiving the Folie Oxford or the Folie Berne as part of Tristan’s personal past, as they are wellknown incidents of the Tristan story. Due to his disguise, certain members of his audience within the text itself (i.e. Marc, Iseut and others at court) react differently to these narrations, partly because they do not recognise him as Tristan, and partly because some of them know less about his personal history than others. This chapter will examine the ways that Tristan mixes narratives of his past with those which are invented, or fictional, and will also analyse the way that the intradiegetic audience reacts to these narratives, with the aim of discovering more about how the writers of these texts were entering into contemporary debates regarding the boundaries between history and fiction in written vernacular literature. Tristan’s use of his personal history as a basis for narra-tions about himself which feature invented elements reflects the attitudes 4 5

NOBLE, 1982, p. 93; cf. BROMILEY, 1986, p. 77. For a brief outline of this debate, see HUNT/BROMILEY, 2006, p. 124.

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of writers at the time towards the relationship between historical material and narrations which are make-believe. Firstly, I will discuss the boundaries between the genres of history and fiction for the writers of the Folies Tristan and will then move on to an analysis of Tristan as storyteller, ending with an examination of the way that Tristan’s audience responds to his tales.

The Boundaries bet w een Histor y and Fiction in the Folies Tristan D. H. Green, in his work on fiction and medieval romance between 1150 and 1220, argues that history was used by the writers of these texts as a basis for storytelling. Writing on Gottfried von Strassburg’s Tristan, he claims that for Gottfried “the past is a point of departure for the narration of a love-story, not for the reconstruction of history”.6 Mark Chinca, also writing on the poetics of Gottfried’s Tristan, differentiates between archival and experimental material, defining archival material as subject matter that is mostly historical.7 He states that Gottfried’s approach involved “taking material he considered archival and treating it in an experimental way”.8 Most other writers from this period of the Middle Ages refer to texts other than their own in order to provide authority for their own work. 9 For example, Gottfried discusses his use of external sources at length, stating openly that he used Thomas’s version of the Tristan story as a source for his own, affirming that Thomas wrote the correct version of the tale, and, by extension, so did he: sine sprâchen in der rihte niht, als Thômas von Britanje giht, der âventiure meister was und an britûnschen buochen las aller der lanthêrren leben und ez uns ze künde hât gegeben. Als der von Tristande seit, die rihte und die wârheit 6 7 8 9

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GREEN, 2002, p. 186. CHINCA, 1993, p. 8. IBID. p. 38. See BROWNLEE et al., p. 424-431 for a discussion on the use of sources.

The Relationship between History and Fiction begunde ich sêre suochen in beider hande buochen walschen und latînen und begunde mich des pînen, daz ich in sîner rihte rihte dise tithe.10

Similarly, Béroul, who wrote an Old French version of the Tristan story, refers to an “estoire”, or historical tale,11 that he has used as a source for his version. Brownlee et al. state that there is “evidence of a critical attitude to authoritative sources in French, German and English vernacular writing [as well as] a firm belief in the importance of individual skill in the rewriting of received matter”. 12 This can be seen in some of the other versions of the Tristan story, but is dealt with in a different way in the Folies Tristan. It is common for medieval works to feature a heterodiegetic narrator, possibly because they may have been performed orally, and these narrators often comment on the narration, for example by referring to outside sources. The narrators of the two Folies do not refer to other written works as their sources, but there is other evidence of the way that historical material may be influencing the writing of these two works. This is particularly apparent in the Folie Oxford. Firstly, the narrator of the Folie Oxford refers to his memory while setting the scene for Tristans journey back to Cornwall in disguise: Tut droit vers Engleterre curent; Dous nuiz e un jur i demurent; Al secund jur venent al port A Tiltagel, si droit record.13 10 GOTTFRIED, 2001, p. 18. (Gottfried, ll. 149-162). (“They do not speak properly and follow Thomas of Britain, who was the master of romance and who read about the lives of all the lords in British books and gave it to us as a witness. As he told us the facts and the truth about Tristan, I began to investigate books from both traditions, Romance and Latin, and began to work hard to properly tell this story according to his correct model.”) 11 BÉROUL, l. 1267, l. 1789; see also BÉROUL, 1989, p. 80 and 104. 12 BROWNLEE et al., 2005, p. 428. 13 FOLIE OXFORD, ll. 91-94. (“They went straight to England; they stayed there [at sea] for two nights and one day; on the second day they came to the port, to Tintagel, if I remember correctly.”)

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By stating that he hopes he has remembered events correctly, the narrator implies that the story exists somewhere outside of his own head. This could be referring to another story he has heard and that he hopes he has remembered correctly, such as an historical narrative he has heard or an eyewitness account. The important thing to note is that it is necessary for there to be an outside source of some kind to authorise the content of the story and to show that it has not merely been imagined by the narrator, or so at least he claims. This is the only potential reference to a source from either of the Folies Tristan. Secondly, the setting of Tintagel for this story is also grounded in history. The narrator describes Tintagel in some detail: […] ki vaille Sur la mer en Cornuaile La tur querree fort e grant. Jadis la fermerent jeant.14

A modern reader would probably assume that the idea of Tintagel being built by giants indicates that this text is fictional and is not based on history; for readers today giants are an element of fantasy literature and fairy tales. However, Wace’s Roman de Brut, generally seen as being an historical text, states that Britain was originally inhabited by giants, “En cele ille gaianz aveit”.15 Therefore, for the medieval readers and hearers of this story, it was quite reasonable to suppose that Tintagel, a real, historical location, was indeed built by giants. This situates the action of the Folie Oxford in a tangible location, albeit one that his audience would almost certainly never have visited. Thirdly, the authority on which the story is based is more complex than that of most other Tristan narratives. As has been seen, there is some evidence that the narrator of the Folie Oxford based his work on something that he had remembered, but there is no such indication in the Folie Berne. More importantly, the authority for both of these narratives comes primarily from the fact that Tristan is a character within the text who is telling part of his own story himself. Tristan becomes his own biographer, narrating his own past, his own history. This is significant because it differs sharply from the attitude of the writers of the other Tristan texts and shows that the writers of the Folies 14 FOLIE OXFORD, ll. 103-106. (“who went, over the sea to Cornwall, the strong and large keep. Giants built it long ago.”) 15 WACE, 1938, l. 1063, p. 60; (“On this island there were giants”).

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felt less need to use outside authority for their own work. Instead, they used the authority of a character within the text itself, who may (or may not) have been an historical figure. While there was a substantial tradition of narratives about him, he was also a character depicted by the writers themselves in texts they had composed.

Trist an as Stor ytell er It has been seen that elements from historical discourse are present in the narratives of the two Folies Tristan, showing that the boundaries between the two are not what a modern audience would expect them to be. Mark Chinca and Christopher Young emphasise the importance of considering “nondiscursive passages that prompt reflection on the nature and function of literature”, such as scenes “in narrative works where the characters tell stories”.16 Therefore, I will now analyse Tristan as storyteller and how he uses his own past as a point of departure in order to create stories which are to be received by some of his audience as fictional rather than factual. Iseut is supposed to interpret his narrations as a reconstruction of their past together and therefore deduce that the fool who has appeared at court is really Tristan in disguise. The rest of the characters are not supposed to receive his narrations as being either true or false. Rather, they are supposed to be entertaining. Tristan cannot return to court in any other way than in a disguise; Marc, the king, must not discover his true identity. The choice of a fool as a disguise is an appropriate one. Fools in the Middle Ages had a specific status. Sylvia Huot states that there was “a troubled suspicion that madness [...] may be more honest and genuine than sanity; that the mad are gifted with deeper insights”.17 Tristan openly discusses his adultery with the queen in front of the court, which is somewhat dangerous. He tells Marc something which is true but a dangerous claim. It is therefore possible that his disguise protects him from the potential repercussions of making that claim. Huot also argues that “[t]he madman [...] though certainly not a member of the social group, is none the less integral to its formation. It is not uncommon to see this immense and instant delight taken in the appearance of a fol manifesting absurd speech or

16 CHINCA/YOUNG, 2001, p. 614. 17 HUOT, 2003, p. 16.

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behaviour”, 18 and she cites as an example “the Cornish court’s enthusiastic reactions to the supposedly or genuinely mad Tristan in the Folie Tristan”.19 This is indeed seen in the Folie Oxford. On seeing a fool, people respond with derision, “Veez le fol! hu! hu! hu! hu!”20 Purely because of his physical appearance, Tristan is already a figure of derision, providing entertainment for the people he meets. Apparently, he is therefore not a reliable source; the characters do not expect a reconstruction of history from him. In his disguise, he enters the court and then begins telling stories in order to entertain those at court. In order to convince Iseut of his true identity while concealing it from the other members of his audience, he tells stories about their past that only he and Iseut (and on occasion Brangien, Iseut's maidservant) would know were true, mingling them with other narrations which are somewhat implausible and seem to have a fantastical element to them. Although fools could possibly be seen as more honest, in these texts that is nothing more than a “troubled suspicion”.21 In the Folie Berne, some of the courtiers express concern that the king might believe the fool,22 but this is not further developed. On the surface at least, those at court express enjoyment at the fool’s narrations. Tristan presumably intends that the fantastical and absurd narrations will thoroughly convince others of his folly, while Iseut will recognise his true identity when she hears that he knows intimate details about their lives together. It is possible that Tristan intends for this narration of his past to function as proof of his identity to Iseut. In both the Folies Tristan, the stories that Tristan tells the court can be divided into those which are based on his past and those which are inventions. The latter are so incredible that it seems unlikely that the audience within the text would accept them as factual. For example, in the Folie Oxford, Tristan, in disguise, claims to have been present at the wedding of an abbot to an abbess, a scenario which is highly unlikely to occur:

18 19 20 21 22

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IBID., p. 34. IBID. FOLIE OXFORD, l. 250. (“Look at the fool! hu! hu! hu! hu!”) HUOT, 2003, p. 16. Cf. FOLIE BERNE, ll. 260f.

The Relationship between History and Fiction Li fols respunt: ‘As noces fui L’abé de Munt, ki ben cunui. Une habesse ad espusee [...]’23

Moreover, in both texts Tristan claims that his parents were animals; in the Folie Berne he says that his mother was a whale and his father was a walrus.24 Similarly, in the Folie Oxford he claims that his mother was a whale and he was nursed by a tiger. 25 By telling these absurd stories, it seems that he is trying to make the stories based on his past, which he narrates later, sound absurd as well. Were those stories to be believed, they would implicate Iseut and indicate that she was guilty of adultery. Jacqueline T. Schaefer, in an article about Tristan’s narratives as metadiscourse, examines these claims about his parentage: Beyond the flights of fancy which these allegations appropriately represent at the diegetic level, a mediaeval listener familiar with Tristan’s “enfances” would have recognized the evocation of the extraordinary circumstances of the hero’s birth, and his upbringing by parental substitutes endeavouring to shield the threatened life of the orphan.26

Some other versions of the Tristan story show Tristan being brought up by foster parents after the death of his biological parents. 27 This is part of the Tristan tradition and would probably have been known by the audiences of the Folie Berne and the Folie Oxford. In this instance, Tristan describes his parentage in a way which seems to be completely absurd on the surface but could actually be a means of expressing his own parentage in a more poetic or aesthetic fashion. He expresses it in such a way, however, that the truth about his parentage could not be guessed. He is not merely evoking his birth but is taking something from his past (his status as an orphan brought up by foster parents) and turning it into a fiction. This is not meant to be informative. There is no indication that any of his listeners interpret this as the fool having had an obscure birth in real life. It is intended to entertain and create the impression 23 FOLIE OXFORD, ll. 229-231. (“The fool replied: ‘I was at the wedding of the abbot of the Mount, who I knew well. He married an Abbess’”). 24 Cf. FOLIE BERNE, ll. 161f. 25 Cf. FOLIE OXFORD, ll. 271-284. 26 SCHAEFER, 1993, p. 358. 27 This is seen in GOTTFRIED, vol. 1, ll. 1704-2042.

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that his narrations are not factual, even though, in this case, they are based on an event from his past. They are not a reconstruction of his past but an embellishment or adaptation of it. His past functions as inspiration for his narrative. Tristan then begins to tell stories of his time with Iseut. He does not do this chronologically, but mentions episodes of their life together (with which the extradiegetical audience would have been familiar from other Tristan narratives), interweaving them with other narrative elements, as discussed above, that do not come from the well-known Tristan legend. For example, in the Folie Berne he initially mentions his real name immediately after talking about his false parentage. He states that he wants to exchange his sister, Brunehaut, for Iseut and then says that he will build a house in the clouds for Iseut. 28 The sister, Brunehaut, is non-existent and could also be a literary reference, sug-gesting that he is intentionally creating something that is not history. This sets the tone for the rest of his narration as being something made-up or fictional. He then says, “Encor n’ai pas finé mon conte”.29 Tristan goes on to ask where Brangien, Iseut’s maidservant, is: Tien, je t’afïance en ta main, Del boivre don dona Tritan, Dont il sofri puis grant ahan, Moi et Ysiaut, que je voi ci, En beümes: demandez li!30

This refers to an episode that is very well known in the Tristan tradition: Tristan and Iseut’s adulterous relationship began after they mistakenly drank a love potion intended for Marc and Iseut. This is a clear reference to something from the lovers’ shared past. In contrast to the vaguer reference to his foster parents, the love potion is an episode that is firmly established in the Tristan tradition. However, the only characters within the Folie Berne who know that Tristan and Iseut drank a love potion are Tristan, Iseut and Brangien, and therefore the rest of his audience at court would not have realised that it was a reference to his own past. 28 Cf. FOLIE BERNE ll. 163-171. 29 IBID., l. 173; (“I have not yet finished my tale.”) 30 IBID., ll. 175-179. (“Wait, I give into your [Marc’s] hand the question of the drink that she [Brangien] gave to Tristan, from which he suffered great agony. Iseut and I, who I see here, drank of it: ask her!”)

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The Relationship between History and Fiction

He then leads into a longer narration of another well-known episode of their exile in the forest.31 In the Folie Oxford Tristan talks about his past at court in a similar way to the Folie Berne, but then has a lengthier discussion with Marc about hunting32 and his other courtly abilities: Ben sai temprer harpe e rote E chanter après a la note. Riche raïne sai amer, Si n’at suz cel amand mun per. Od cultel sai doler cospels, Jeter les puis par ces rusels. Reis, ne sui je bon menestrel? Ui vus ai servi de mun pel.33

This passage clearly describes both Tristan’s character and certain events in his past, but it does so in such a way that they would be obscure to any listener who was unaware of his true identity. Tristan’s musical skill is an important part of his characterisation in the tradition, as is the fact of his loving the queen and the fact that he is a lover without compare. The “cospels” refer to another well-known episode in which Tristan carves twigs with some form of message for Iseut and floats them down a stream in order to communicate secretly with her. It is significant that this passing reference refers to an episode in which the linguistic skill of the characters was on show. As in that episode where they both had to speak cleverly in order to conceal the truth from Marc, here Tristans references to his past are meaningless to an audience member who did not know about it and can be explained away by the character of the fool. As Schaefer states, “the alleged proofs given by the fool of his being Tristan constitute in fact a recapitulation of the Tristan saga by the hero himself”. 34 Within the text itself, Tristan is using his own past to create an aesthetic narrative. Although the purpose of his storytelling is to convince Iseut of his true identity while he is in disguise, he is nonetheless telling stories 31 Cf. FOLIE BERNE, ll. 204-222. 32 Cf. FOLIE OXFORD, l. 491-528. 33 IBID., ll. 521-528. (“I know how to tune the harp and rote and sing well. I know how to love a magnificent queen, there is no lover to compare to me under heaven. I know how to carve branches, throw them into streams. King, am I not a good minstrel? Today I have served you with my stick.”) 34 SCHAEFER, 1993, p. 356.

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which he intends to be aesthetically pleasing to the court. There is no indication that his listeners assess the truth or falsehood of his statements (with the exception of Iseut); rather it is intended that they merely enjoy the show. The narratives that he tells from his own past are true, but they are not necessarily judged as such by his audience. The issue of whether or not they are truth or lies is not ad-dressed by anyone except Iseut. The lines, “Reis, ne sui je bon menestrel?”35 and “Encor n’ai pas finé mon conte”36 are significant, as they show that, in both texts, he is characterising himself as a storyteller, as someone narrating for entertainment rather than as a chronicler or someone narrating in order to be informative. D. H. Green’s argument that Gottfried von Strassburg was using “history without historiographic intentions” 37 can also be applied to the character of Tristan in the two Folies, although here it applies to a character within the text rather than to the compiler or narrator of the text itself. The mixture of absurd narratives and stories from his own past as well as the way in which he presents the stories from his own past and deliberately characterises himself as a storyteller show that he is not attempting to reconstruct his own history, at least not for Marc and the other people at court. In his attempt to simultaneously deceive Marc and communicate secretly with Iseut, Tristan creates an aesthetic narrative for the pleasure of those at court, a narrative which is based on his own past, on his own history. Although his material comes from his own past and is, from his point of view, factual, it is not history. Tristan wants the tales he tells to be aesthetically pleasing to the rest of the court so that he can speak honestly to Iseut, but this in turn allows the writer of the texts to explore the boundaries between history and fiction. The narrators of the two Folies Tristan are using this device of Tristan telling his own story in order to tell the Tristan legend as a whole but in a shorter format than a full-length romance. It is possible to read this as a comment on the Tristan tradition as a whole. If the story that is presented here by Tristan, disguised as a fool, can be seen by his audience within the text as the invention of a fool, maybe the whole Tristan tradition is also the invention of a fool and not something that can be interpreted as being historically true. It is a reflection on the way that writers at the time were negotiating the boundaries

35 FOLIE OXFORD, l. 527; (“King, am I not a good minstrel?”) 36 FOLIE BERNE, l. 173; (“I have not yet finished my tale.”) 37 GREEN, 2002, p. 186.

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between history and fiction and questioning the authority (in the sense of historical truth) of vernacular written romances.

Audience Reaction D. H. Green’s working definition of fiction for romance composed c. 11501220 states: Fiction is a category of literary text which, although it may also include events that were held to have actually taken place, gives an account of events that could not conceivably have taken place and/or of events that, although possible, did not take place, and which, in doing so, invites the intended audience to be willing to make-believe what would otherwise be regarded as untrue.38

He emphasises the importance of the idea that readers will be aware that the text they are receiving is fictional and will be willing to make-believe something that would be regarded as untrue. Tristan has various different types of audience in this text, including Marc, Iseut, others at court, and the extradiegetical audience of both the Folies Tristan. In general, Marc and others at court are entertained by Tristan’s narrations, both of which the extradiegetical audience knows to have come from Tristan’s past and those which are invention. In the Folie Oxford, Marc plays along with the fool’s narration. When he arrives at court, the king questions him playfully: “Markes dit: ‘Ben vengez, amis! / Dunt estes vus? K’avez si quis?’”39 Tristan begins a conversation with the king. After the fool asks him to exchange Iseut for his sister, the king smiles40 and continues to participate in the fool’s narration, asking him what he would do with Iseut if he (Marc) gave her to him (Tristan). 41 Tristan then claims to be Tantris, a pseudonym that Tristan has used in the past, and states that he is the one who killed Iseut’s uncle and that his wound was subsequently cured by Iseut. This refers to an episode from earlier in the Tristan story, one which Marc knew actually occurred. He knows that Tristan was the one who 38 GREEN, 2002, p. 4. 39 FOLIE OXFORD, ll. 269f.; (“Welcome friend! Where are you from? What do you want here?”) 40 Cf. IBID., l. 285. 41 Cf. IBID., ll. 296-300.

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killed Iseut’s uncle, yet he still does not seem to realise that the fool could indeed be Tristan. His response is one of enjoyment: “Li reis s’en rit a chascun mot, / Ke mult ot bon deduit del sot.”42 Marc earlier suggested that the fool was Iseut’s lover.43 It is also important to note that this episode is set during a period in which Tristan was banished from court, meaning that Marc has already had suspicions about Tristan and Iseut’s relationship, and yet he can still participate in jokes about Iseut’s fidelity and be entertained by them. This is, of course, primarily because he does not believe that the fool is Tristan, due to his successful disguise and his ability to act like a fool. However, this is also en-abled by Tristan’s careful mingling of invented narratives and history. This particular reference to the death of Iseut’s uncle should theoretically alert Marc to Tristan’s identity, but it does not because it is performed in a context in which he expects to be entertained and is mixed with other tales which are invented by the fool. The Tristan legend as a whole is filled with episodes in which Marc attempts to work out the truth of a particular version of events, mostly of wheth-er or not Tristan and Iseut are adulterous. Unlike these other episodes of the Tristan story, Marc is not assessing this narration by the fool from the point of view of whether it is true or false, history or lies. Rather, he responds to it merely as an aesthetic narrative, and enjoys the show. Moreover, Tristan’s disguise means that Marc does not realise that his narrations are an eyewitness account and therefore, from Marc’s point of view, there is nothing to give them authority. The other writers of the Tristan story (e.g. Gottfried, Béroul) claim to rely on written sources to authorise their narrative, while destabilising that authority in other ways, for example by rejecting certain episodes which occur in their sources.44 This particular episode of the Tristan story allows the writers of the Folies to do the same but in a different way. Iseut’s reaction to the fool’s narrations is somewhat different to Marc’s. Throughout the fool’s tales, she knows that he is telling the truth in some of them and is visibly disturbed by what she hears,45 sometimes insisting that he is lying.46 As with Marc, this is largely because she does not believe that the fool is really Tristan but is 42 IBID., ll. 533f.; (“The king laughed at every word, because he had much pleasure from the fool.”) 43 Cf. IBID., l. 385. 44 Both GOTTFRIED (Vol. 1, ll. 8608-28) and THOMAS (Douce, ll. 837-886) do this. 45 Cf. FOLIE BERNE, ll. 220-225. 46 Cf. FOLIE OXFORD, ll. 319-322.

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unsettled because she knows that some of the stories are true. Tristan’s attempt to convince her of his identity using the stories alone has backfired. In the latter sections of both texts, the fool is left alone with Iseut and continues to attempt to convince her of his identity, referring once again to incidents from their relationship that only the two of them would know about.47 However, she remains sceptical until she has received other proof of his identity. In the Folie Berne, Iseut accepts that the fool is Tristan once he is recognised by his dog, who had been in her care, and because she recognises a ring that she had given him in the past.48 In the Folie Oxford, Tristan is also recognised by the dog and also gives her the ring. However, Iseut specifically rejects the ring as proof of his identity, assuming that the fact this fool has the ring is an indication that Tristan is dead.49 She only believes that he is really Tristan when he speaks to her with his own voice, which he had until this point disguised.50 Iseut’s need for extra proof is especially significant when contrasted with Marc’s response to Tristan’s narratives. Tristan wants Marc to reject the narratives he offers as nothing more than a fool’s ramblings, and it is clear that he has no suspicion that the fool is actually Tristan. As has been seen, Tristan merely wants him to be entertained by his stories. However, Tristan explicitly wants Iseut to believe the stories that he tells. In order for her to do this in both of the Folies, she needs an authority other than the stories themselves as proof of Tristan’s identity. This proof is either the ring, the dog’s recognition of Tristan, or Iseut’s recognition of Tristan’s voice. This can be compared to the way that the writers themselves related to the Tristan material. Rather than, as Green suggests, focusing on the issue of make-believe in this period, it is important to note the attitude of both the narrators and the audience to authority.51 A fictional text, one which the narrator and audience are all willing to make-believe is true although it may not be, does not require any outside authority, because it can, if necessary, be based on the imagination of the narrator. However, anything that is to be received as historically accurate requires external authority; it cannot merely have been imagined by the narrator. Iseut does not require authority for the content of the fool’s narrations, as she knows that they are true, but she does need external proof for the identity of the speaker. Proof of the identity of the narrator in this case 47 48 49 50 51

Cf. FOLIE BERNE, ll. 386-504; cf. FOLIE OXFORD, ll. 713-897. Cf. FOLIE BERNE, ll. 519-559. Cf. FOLIE OXFORD, ll. 907-968. Cf. IBID., ll. 969-978. Cf. GREEN, 2002, p. 4.

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would also provide authority for the narration, because that identity shows that the narrator is an eyewitness to, and participant in, the events narrated and is therefore reliable. This chapter has argued that the Folie Tristan dOxford and the Folie Tristan de Berne address contemporary tensions surrounding the relationship between history and material that a modern audience would define as fiction. The beginnings of vernacular romance allowed writers at the time to use history as a basis for their own narratives and therefore debate issues of fictionality and authenticity within the texts themselves. This is clearly seen in the two Folies, featuring Tristan as a character performing stories (makebelieve or otherwise) in a context where the audience within the text expects to be entertained rather than informed. From the point of view of some members of his audience, Tristan is fictionalising his own history, telling the truth about his past and turning it into an entertaining experience for his audience. As stated above, most other versions of the Tristan story from this period refer to other written narratives, or on occasion eyewitness testimony, to give authority to their works. Even if that eyewitness testimony is an invention, it is still important for the writers to refer to their sources. However, it is striking that this is not the case for the Folies Tristan. Although the narrator of the Folie Oxford states that he hopes he has remembered something correctly,52 there is no explicit statement that this version is the true one. The claim for authority in the Folies Tristan is implicit, coming instead from the fact that Tristan is a character in this text telling his own story. However, even this is called into question by the fact that his narrations are presented to those at court as being merely the inventions of a fool. Their status as truth or falsehood is only called into question by Iseut, who is asked to believe in the authority of the speaker as an eyewitness to the events he is narrating. It is this which unsettles her; she already knows that some of the stories are true but is confused because they are being told by somebody who apparently should not know them. She therefore publicly accuses the fool of lying. 53 The reception of Tristan’s narrative by Marc and Iseut shows that Green’s focus on make-believe in his definition of fictionality does not go far enough.54 On the one hand, Marc is presented as merely enjoying the fool’s narrations rather than judging them as either true or false. On the other hand, Iseut insists on having outside proof of 52 Cf. FOLIE OXFORD, l. 94. 53 Cf. IBID., l. 322. 54 Cf. GREEN, 2002, p. 4.

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the identity of the fool. Therefore, for the writers of the Folies Tristan it is apparent that, for a text which is supposed to be received as fiction, no authority is required, whereas, for a text which is intended to be received and believed as history, external proof of some description is required, particularly in relation to the authority of the speaker.

Works Cited Primary Sources ANONYM, Folie Tristan de Berne (Ph. Walter), in: Tristan et Iseut. Les poèmes français, La saga norroise, ed. by DANIEL LACROIX/PHILIPPE WALTER, Paris 1989, p. 277-305. ANONYM, Folie Tristan d’Oxford (Ph. Walter), in: Tristan et Iseut. Les poèmes français, La saga norroise, ed. by DANIEL LACROIX/PHILIPPE WALTER, Paris 1989, p. 229-275. ANONYM, La Chanson de Roland, ed. by IAN SHORT, 2nd ed., Paris 1990. BÉROUL, Le Roman de Tristan (Ph. Walter), in: Tristan et Iseut. Les poèmes français, La saga norroise, ed. by DANIEL LACROIX/PHILIPPE WALTER, Paris 1989, p. 23-227. CHRÉTIEN DE TROYES, Le Chevalier de la Charrette ou Le Roman de Lancelot, ed. by CHARLES MÉLA, Paris 1992. ID., Le Chevalier au Lion ou Le Roman d’Yvain, ed. by DAVID F. HULT, Paris 1994. GOTTFRIED VON STRASSBURG, Tristan, vol. 1, ed. by FRIEDRICH RANKE/ RÜDIGER KROHN, 9th ed., Stuttgart 2001. ID., Tristan, vol. 2, ed. by FRIEDRICH RANKE/RÜDIGER KROHN, 7th ed., Stuttgart 2002. ID., Tristan, vol. 3, ed. by FRIEDRICH RANKE/RÜDIGER KROHN, 6th ed., Stuttgart 2002. LACROIX, DANIEL/WALTER, PHILIPPE (ed.), Tristan et Iseut. Les poèmes français, La saga norroise, Paris 1989. THOMAS, Le Roman de Tristan (Ph. Walter) in: Tristan et Iseut. Les poèmes français, La saga norroise, ed. by DANIEL LACROIX/PHILIPPE WALTER, Paris 1989, p. 329-481. WACE, Le Roman de Brut de Wace, ed. by IVOR ARNOLD, vol. 1, Paris 1938.

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Secondary Sources BROMILEY, GEOFFREY N., Thomas’s Tristan and the Folie Tristan d’Oxford (Critical Guides to French Texts 61), London 1986. BROWNLEE, KEVIN et al., Vernacular Literary Consciousness c. 1100-c. 1500. French, German and English Evidence, in: The Cambridge History of Literary Criticism, vol. 2: The Middle Ages, ed. by ALASTAIR MINNIS/IAN JOHNSON, p. 422-471. CHINCA, MARK, History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the Poetics of Gottfried’s Tristan, London 1993. CHINCA, MARK/YOUNG, CHRISTOPHER, Literary Theory and the German Romance in the Literary Field c. 1200, in: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450, ed. by URSULA PETERS, Stuttgart/Weimar 2001, p. 612-644. GREEN, DENNIS HOWARD, The Beginnings of Medieval Romance. Fact and Fiction, 1150-1220 (Cambridge Studies in Medieval Literature 47), Cambridge u. a. 2002. HUNT, TONY/BROMILEY, GEOFFREY, The Tristan Legend in Old French Verse, in: The Arthur of The French. The Arthurian Legend in Medieval French and Occitan Literature, ed. by GLYN S. BURGESS/KAREN PRATT, Cardiff 2006, p. 112-34. HUOT, SYLVIA, Madness in Medieval French Literature. Identities Found and Lost, Oxford 2003. NOBLE, PETER S., Beroul’s Tristan and the Folie de Berne (Critical Guides to French Texts 15), London 1982. SCHAEFER, JACQUELINE T., Specularity in the Mediaeval Folie Tristan Poems or Madness as Metadiscourse, in: Neophilologus 77, 3 (1993), p. 355-368.

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Milton als Modell und Medium Schlaglichter eines Diskurses des englischen 18. Jahrhunderts KERSTIN MARIA PAHL Der Artikel beschäftigt sich mit der Aneignung und Transformation des Dichters John Milton (1608-1674) in den politischen Diskursen des ‚langen‘ 18. Jahrhunderts und analysiert vor diesem Hintergrund exemplarisch sechs biografische Annäherungen an die historische Figur Miltons zwischen 1694 und 1796. Dabei widmet sich der Artikel der Frage, inwieweit Milton im Sinne des Gegenwartsinteresses der jeweiligen Entstehungszeit der Bücher bzw. Bilder – Ende des 17. Jahrhunderts kurz nach der Glorious Revolution, während des Amerikanischen Unabhängigkeitskriegs und während der Französischen Revolution – aktualisiert und für die zeitgenössische künstlerische und politische Situation fruchtbar gemacht wurde. Die Überlegungen fußen daher nicht auf der faktischen Biografie Miltons, sondern auf deren Rezeption, in deren Zuge eine diskursive Aneignung der Person Miltons erfolgte, die sich als Schnittstelle literarischer, politischer und ästhetischer Erfahrungen präsentierte.

England, 1793. Nach der Hinrichtung des französischen Königs Ludwig XVI. im Januar und der Kriegserklärung an Großbritannien im September war die bereits seit dem Tuileriensturm und den Septembermassakern 1792 abkühlende Begeisterung der Engländer für die Französische Revolution nahezu erloschen. König Georg III., dessen Gesundheitszustand 1788 noch keine Feierlichkeiten zum 100. Jahrestag der Glorious Revolution zugelassen hatte,1 erholte sich von der ersten längeren Phase seiner Krankheit, die ihn später regie1

S. PAULSON, 1983, S. 38.

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rungsunfähig machen sollte. Seine Popularitätswerte und die seines konservativen, von ihm ernannten Premierministers William Pitt d. J. stiegen. Sympathie mit der Französischen Revolution war nicht mehr en vogue – und doch blieb, trotz des öffentlichen Stimmungsumschwungs, ein kleiner Kreis von Radicals (d. h. den Unterstützern einer radikalen Parlamentsreform) seiner Forderung nach Abschaffung der Monarchie treu. Im selben Jahr, in dem England in den Krieg mit seinem französischen Erbfeind eintrat, veröffentlichte William Godwin sein Buch An Enquiry Concerning Political Justice and its Influence on Morals and Happiness (1793). Godwins Traktat war Teil der sog. Revolution Controversy, einer intellektuellen Auseinandersetzung, die seit dem Sturm auf die Bastille in Büchern und Pamphleten geführt wurde und ihren Ausgangspunkt in einer von Thomas Price am 4. November 1789 gehaltenen pro-revolutionären Rede hatte.2 Befeuert von Edmund Burkes überraschend konservativen und pro-monarchistischen Reflections on the Revolution in France (1790) – Burke war in den 1770er Jahren noch gegen den Krieg mit Amerika eingetreten – erschienen in schneller Folge Beiträge v. a. republikanischer Intellektueller wie etwa Mary Wollstonecrafts Vindication of the Rights of Men (1790) und Vindication of the Rights of Women (1792) und Thomas Paines Rights of Man (1791). Im Gegensatz zu seinen Gesinnungsgenossen nahm Godwin in seiner Enquiry zwar nicht direkt Stellung zur aktuellen politischen Lage, beteiligte sich aber dennoch verschleiert an der Diskussion, indem er die Ungerechtigkeit einer gottgegebenen Ordnung mit Rückgriff auf einen der größten englischen Poeten als Auslöser gerechtfertigter Aufstände darstellte: „Poetical readers have commonly remarked Milton’s devil to be a being of considerable virtue. [...] But why did he rebel against his maker? It was [...] because he saw no sufficient reason for that extreme inequality of rank and power which the creator assumed.“3 Ein solcher Verweis auf John Milton (1607-1674) und dessen Opus Magnum Paradise Lost (1667) sowie deren Indienstnahme als Kommentar zur aktuellen politischen Situation war ein diskursiver Topos englischer intellektueller Kreise auf beiden Seiten des politischen Spektrums, dessen sich auch Edmund Burke bedient hatte. In seinen Reflections verwendete er die eigens von ihm in A Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Subli2

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Für einen detaillierten Überblick über die Revolution Controversy vgl. BUTLER, 1984. Price hatte seine Rede (A Discourse on the Love of our Country) vor der Revolution Society gehalten, deren Zweck die Erinnerung an die Glorious Revolution von 1688 war. GODWIN, 1793, S. 261.

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me and Beautiful (1757) anhand von Milton entwickelte Definition des Sublimen zur Überhöhung der klerikalen und monarchischen Herrschaftsstruktur:4 Da – laut Burkes Philosophical Enquiry – das Sublime ausgelöst werde durch „terror, the common stock of every thing that is sublime“ 5, benötige eine Entität zur Generierung des Sublimen die Fähigkeit, Terror auszuüben. Aus diesem Grunde kenne der Autor „nothing sublime which is not some modification of power“6, denn dieses Potenzial zu Terror und Schmerz fände sich vor allem in jener Macht, die dem Menschen nicht untertan sei, 7 d. h. in der göttlichen Sphäre, aber eben auch in herrschenden Institutionen.8 In den Reflections wiederum nennt er das „government of men“ – die Kirche, die Monarchie und die Regierung – die Vertretung Gottes auf Erden, und er konterkariert deren Verwurzelung in der Dauerhaftigkeit, der Stetigkeit und der Kontinuität mit dem nur temporären Aufflammen anderer Strukturen. Die von Burke gepriesenen „sublime principles“, also die Fähigkeit zur Ausübung von Terror und Angst, können sich demnach nur in den bestehenden, nicht aber in werdenden Institutionen finden,9 und so schreibt Burke auch in der Philosophical Enquiry über die „despotic governments, which […] are founded on the passions of fear.“10 Eben Letzteres hätte niemand besser beschrieben als Milton. So machte Burke Milton, obwohl dieser in vielerlei Hinsicht Protagonist der Sympathisanten der Revolution war, über einen Umweg zum Advokaten des Absolutismus, dessen apotheotische Rechtfertigung damit wesentlich auf einer ästhetischen Kategorie gründete.11 Hatten Burke und Godwin Miltons Werk Paradise Lost bzw. dessen (un)heimlicher und populärer Protagonist Satan als Referenz gedient, so gesellte sich dieser werkgebundenen Bezugnahme zugleich ein personalisierter Modus zur Seite, indem der Verweis auf Milton als Privatmensch und als homo politicus als Kommentarfunktion in den Fokus rückten. So hatte William Blake, auch er ein Vertreter antimonarchistischer Ideale, bereits kurz nach dem 4 5 6 7

S. BURKE, 1790, S. 137 sowie vgl. KITSON, 2001, S. 469. BURKE, 1767 [1757], S. 110f. EBD., S. 110. „Whenever strength is only useful, and employed for our benefit or our pleasure, then it is never sublime.“ EBD., S. 114. 8 S. EBD., S. 116. 9 BURKE, 1790, S. 136f. 10 DERS., 1767 [1757], S. 100. 11 Ronald Paulson sieht in dieser Anwendung ästhetischer Begriffe – u. a. auch ‚grotesk‘ – die Hilfslosigkeit, mit der England die Ereignisse in Frankreich zu begreifen suchte, obwohl sie eigentlich unerklärlich waren. Vgl. PAULSON, 1983, S. 6.

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Sturm auf die Bastille geschrieben, dass Milton immer geknechtet gewesen sei, solange er von Engeln und Gott geschrieben habe; habe er sich jedoch dichterisch der Hölle gewidmet, so sei er frei gewesen. Denn: „[Milton] was of the Devil’s party without knowing it“. 12 Blakes Parallelisierung von Satan und Hölle mit der Freiheit des Geistes und der Kreativität wie auch mit republikanischen Idealen ist nicht nur dezidiert revolutionär, es war auch die häufig bemühte Prämisse für John Miltons politische Aktualisierung. Denn als Apologet der Hinrichtung Karls I. im Jahre 1649 und als späterer Latin Secretary in Oliver Cromwells Regierung war es nahezu zwangsläufig, dass die Person Miltons in Zeiten der Revolution zum Protagonisten freidenkerischer und republikanischer Ideale wurde. Grundlage dieser Aneignung Miltons war immer ein gesellschaftspolitisches Anliegen, verbunden mit einer gezielten A-Historizität der Darstellung, die unterstellte, dass Milton in jeder Epoche gegen Autokratie, Machtmissbrauch und unbillige Privilegien – „the extreme inequality of rank and power“ – einer herrschenden Schicht Position bezogen hätte, sprich der Partei Satans, des gefallenen Rebellen, angehört hätte. Insbesondere in den oft publizierten Biografien Miltons, häufig einer Ausgabe von Paradise Lost vorangestellt, lässt sich die gegenwartsgebundene politische Aktualisierung Miltons gut beobachten. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts und damit nicht lange nach Miltons Tod 1674 begann mit John Toland (s. u.) die Etablierung biografischer Darstellungen John Miltons als diskursives Modell, anhand dessen sowohl eine implizite Meinung zur konkret-aktuellen politischen Lage geäußert als auch universelle ethische und politische Betrachtungen angestellt werden konnten. Die biografischen Schilderungen – schriftliche wie bildliche – interpretieren und transformieren, so die These dieses Artikels, wesentliche Ereignisse aus dem Leben Miltons zum Zwecke der Markierung der politischen Fronten, indem sie die historische Person John Milton im Sinne der und mit Bezug zur jeweiligen Gegenwart aktualisieren.13 Da auf diese Weise ein universeller und überzeitlicher, vom konkreten historischen Kontext und der konkreten historischen Person gelöster Anspruch behauptet wird, ist Milton mehr als nur ein Mensch 12 Marriage of Heaven and Hell (1793), Tafel 6, Zeile 55. Blake selbst gilt heute als der prominenteste Fürsprecher der satanischen Rebellion; bereits in seinem 1793 erschienen Marriage of Heaven and Hell beschreibt er Satan vor allem als schiere Energie, die erst durch die Zuschreibung der Orthodoxen als böse verdammt wird. Vgl. KITSON, 2001, S. 474 sowie SHEARS, 2009, Kapitel 3. 13 Vgl. SCHEUER, 1979, S. 5-9.

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seiner Zeit; er ist auch Interaktionskonstante der jeweiligen Gegenwart. Die Ereignisse in seinem Leben dienen so als Referenzpunkte für Kommentare zur zeitgenössischen Politik. Die Aktualisierung und Transformierung John Miltons vollzieht sich dabei auf doppelte Weise, nämlich einerseits diskursiv und andererseits narrativ. Alle Biografien betten Milton zunächst in einen bestimmten republikanisch gefärbten Diskurs ein, die narrative Gestaltung variiert jedoch erheblich. Denn ist es zunächst Miltons öffentliches Leben, das als Referenzpunkt seiner republikanischen Gesinnung herangezogen wird, so ist auf Samuel Johnson zurückzuführen, dass auch Miltons Privatleben als politischer Indikator bemüht wird. Insbesondere Letzteres verweist auf eine in der Mitte des 18. Jahrhunderts stattfindende signifikante Umfokussierung innerhalb der englischen Biografik, die sich – im Wechselspiel mit den aufkommenden Romanen – dem privaten Charakter und der psychologischen Gestaltung seiner Figuren widmete. Samuel Johnson trieb diese Entwicklung entscheidend voran, sowohl theoretisch in seinen Schriften als auch praktisch in seinen eigenen Biografien, und folgte stets der Auffassung, dass kaum eine Information so bezeichnend und letztlich auch entlarvend sei, wie Menschen in ihrem privaten Umfeld.14 Im Falle Miltons bedeutete dies, dass nicht nur sein schwieriges Familienleben als paradigmatisch gedeutet werden konnte, sondern auch, dass Politik eine dezidiert persönliche Komponente erhielt bzw. gezielt privatisiert wurde. Um diese bisher nur allgemein-theoretischen Überlegungen zu präzisieren, werden im Folgenden schlaglichtartig wichtige und politisch relevante literarische und bildnerische Darstellungen John Miltons zwischen 1690 und 1800 analysiert. Fokus dieser Untersuchung wird die sich in diesen Darstellungen manifestierende Modulierung und Variation überlieferter historischer Fakten als Grundlage einer Positionierung innerhalb des zeitgenössischen (gesellschafts-)politischen Diskurses des jeweiligen Autors bzw. Malers sein. Es wird zu zeigen sein, dass die Transformation von Geschichte(n) einem häufig ideologischen Konzept folgt, das im Gegensatz zum eigenen Anspruch der Überzeitlichkeit tatsächlich höchst zeitgebunden und in die jeweilige Entstehungszeit eingebettet ist.

14 Der Biograf, so seine Forderung, solle den „minute details of daily life“ ebenso viel Aufmerksamkeit schenken wie dem öffentlichen Leben, denn „[t]he most authentic witnesses of any man’s character are those who know him in his own family, and see him without any restraint or rule of conduct“. JOHNSON, 1793 [1750], Vol. II, S. 38, 84.

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1694: Edw ard Philips Milton Grundlage der Milton-Biografik bildet die erst 1694 veröffentlichte, jedoch bereits früher verfasste, Lebensbeschreibung von John Miltons Neffen Edward Philips. Die Verwandtschaft des Autors mit dem Dichter – Philips war der Sohn von Miltons Schwester Anne –, wie auch die Tatsache, dass Philips nach eigenen Angaben ein Schüler Miltons und später sein Schreiber war, garantieren die Zeitzeugenschaft eines intellektuell gebildeten Kenners. Philips’ Vita lieferte die vermeintlichen Fakten, die von den nachfolgenden Biografen in ihrer Grundstruktur zwar übernommen, jedoch je nach narrativem Interesse variiert wurden. Insbesondere die berühmte ‚Vorleseanekdote‘ ist ein häufig herangezogener Topos und spielte sowohl für Samuel Johnson als auch für George Romney eine entscheidende Rolle: Philips zufolge habe Milton seine beiden jüngeren Töchter Anne und Deborah, die ausschließlich in Englisch unterrichtet worden waren, dazu angehalten, ihm regelmäßig fremdsprachige Bücher vorzulesen. Die ungemein ermüdende Prozedur, ohne jegliche Kenntnis einer Sprache, Bücher in derselbigen stundenlang verständlich vorzulesen, habe schließlich mit der Einsicht Miltons sein Ende gefunden, dass seine beiden Töchter besser sticken als lesen können sollten.15 Der Royalist Edward Philips sparte politische Aspekte in seiner Vita nahezu konsequent aus, und indem selbst kritische Aspekte wie Miltons berüchtigte Verteidigung der Hinrichtung des Königs als Auftragswerk der neuen Regierung nur kurz gestreift werden,16 bleibt Philips Text eine strikt chronologische Reihung von Ereignissen.

15 „[…] excusing only the eldest daughter by reason of her infirmity and difficult utterance of speech […], the other two were condemned to the performance of reading and exactly pronouncing of all the languages whatever book he should, at one time or other, think it fit to peruse. […] it was endured by both for a long time, though the irksomeness of the employment could not always be concealed, but broke out more and more into expressions of uneasiness.“ Milton wies seine Töchter daraufhin an, „to learn some curious and ingenious sorts of manufacture that are proper for women to learn, particularly embroideries in gold or silver. It had been happy indeed if the daughters of such a person had been made in some measure inheritrixes of their father’s learning; but since fate otherwise decreed, the greatest honor that can be ascribed to this now living […] is to be the daughter to a man of his extraordinary character.“ PHILIPS, 1827 [1694], S. xxvi. 16 „[...] he was hereupon obliged to write a treatise, called the Tenure of Kings and Magistrates.“ EBD., S. xixf.

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1698: John Tolands Milton Bald nach dem Erscheinen von Philips’ Biografie publizierte der skandalumwitterte irische Freidenker John Toland (1670-1722) 1698 die erste wirklich politische Biografie Miltons. Das Buch erschien nur ein Jahr nachdem Toland nach England hatte fliehen müssen, weil sein berüchtigtstes Traktat Christianity not Mysterious (1696) – das Tolands Auffassung artikuliert hatte, dass nichts in den Evangelien wider die Vernunft oder unverständlich sei, demnach auch keiner Exegese bedürfe – vor dem irischen Parlament verbrannt worden war.17 Vor diesem Hintergrund erweist sich Tolands Rückgriff auf Milton als medialer Kunstgriff, der es ihm erlaubte, sich durch einen Mittelsmann antihierarchisch zu äußern.18 Als Einleitung seiner Neuausgabe von Miltons Werken vorangestellt diente die Biografie so indirekt als Anleitung zu deren Verständnis.19 Denn auch ein „Epic Poem“ sei, wie Toland schrieb, „not bare History [...]; but it always contains besides a general Representation of Passions and Affections, Virtues and Vices, som [sic] peculiar Allegory or Moral.“20 Um jedoch zugleich zu suggerieren, er schreibe und interpretiere im Sinne Miltons selbst, schickte Toland voraus, dass er nichts verfälschen, sondern Miltons Aussagen ebenso wiedergeben werde, wie er sie vorliegen habe.21 Laut Toland selbst war seine Auffassung von Geschichtsschreibung und Biografik demnach die – vorgeblich – möglichst objektive Darstellungen realer Sachverhalte, die der Autor unbeeinflusst von seiner eigenen Auffassung darzulegen habe. Denn: „[...] it is commonly seen, that Historians are suspected rather to make their Hero what they would have him to be, than such he really was.“22 Doch erging die Aufforderung auch gleichzeitig an die eigene Zunft, die sich dem Untersuchungsobjekt aufrichtig zu widmen habe, so war dieser implizite Tadel 17 Vgl. RAUSCHENBACH, 2002, S. 82f. sowie CHAMPION, 2003, S. 3. 18 „Toland packaged an older violent republicanism for a more respectable audience by wielding a keen editorial knife. Hostility towards the regicidal reputation of the interregnum republicanism, cultivated by the rhetoric of the martyrdom of Charles I and the projection of the Calves-Head myth, meant that in order to promote an effective political ideology in 1690s republicans were forced to distance themselves from the antimonarchical and regicidal elements of their legacy. After 1689, republicanism became a ‚language‘ rather than a ‚programme‘.“ CHAMPION, 2003, S. 96. 19 S. EBD., S. 100. 20 TOLAND, 1699 [1698], S. 133. 21 Vgl. CHAMPION, 2003, S. 98 und 101. 22 TOLAND, 1699 [1698], S. 7.

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eher an Leser und Kritiker der Werke gerichtet denn an die Autoren selbst. Der Verdacht der unlauteren Darstellung des Helden durch den Historiker schien eher eine an diesen herangetragene Unterstellung, die unabhängig von den schriftstellerischen Tatsachen erhoben werde. Mit seinem vorangestellten Verweis auf das Risiko, eines narzisstischen Impetus’ angeklagt zu werden, nahm Toland – wohl bereits wissentlich – vorweg, womit er nach Veröffentlichung des Buches konfrontiert war. So ist es nicht verwunderlich, dass Toland sich ausgiebig der Möglichkeit bediente, den Helden der Erzählung im Sinne der eigenen favorisierten Prämisse darzustellen: Toland mache, so warf man ihm vor, aus Milton den Libertin und Atheisten, der er selbst sei.23 Wie bereits Christianity not Mysterious verursachte das Erscheinen von Tolands Life of Milton einen Skandal. 24 Über die explizit antiklerikale, vor allem aber antikatholische, gegen die Stuart-Monarchie und Zensur gerichtete Polemik hieß es, dass Toland dem königlichen Märtyrer, Karl I., gleiches antue wie die Axt des Henkers 1649.25 Stein des Anstoßes war Tolands regelmäßig implizit und explizit hergestellter Konnex zwischen katholischer Kirche, Zensur und der generellen Unfreiheit der Menschen, den auch Milton bereits erkannt und bekämpft habe.26 Zwar richtete sich Tolands Forderung nach bürgerlicher, religiöser und gedanklicher Freiheit vor allem gegen die katholische 23 „Just as Italian artists were notorious for painting pictures of the Virgin Mary according to the features of their mistresses, ‚in truth I am of the opinion that the author design’d the like compliment to himself in forming Mr Milton’s character‘. Toland had in particular modelled his account of Milton’s religious identity (‚an hypocrite in his youth, a libertine in his middle age, a deist a little after, and an atheist at last‘) ‚so exactly [to] the author’s temper‘.“ CHAMPION, 2003, S. 104. Vgl. auch SULLIVAN, 1982, S. 48. Die Übereinstimmungen Tolands mit Milton erstrecken sich auf viele Felder. Neben der Ablehnung der Zensur und des Katholizismus sowie der Präferenz einer Republik vor einer Monarchie, ist Toland auch mit Miltons Auffassungen zur Ehescheidung einig. S. TOLAND, 1699 [1698], S. 56. Eine zeitgenössische Parallele zwischen Milton und Toland war die behauptete Mitgliedschaft Tolands im sog. Calves-Head Club, einer angeblichen – tatsächlich nicht-existenten – republikanischen Untergrundvereinigung, deren Ziel der Königsmord und Umsturz der Monarchie sein sollte, und die von Milton gegründet worden sein soll. Vgl. CHAMPION, 2003, S. 95f. 24 Vgl. CHAMPION, 2003, S. 98. 25 S. EBD., S. 94. 26 In diesem Falle sollten die Katholiken auch von der ansonsten für alle – etwa Juden, Dissentern – geforderten Toleranz und jeglichen Bürgerrechten ausgenommen werden: „He justly excludes Popery from his Toleration. [...] They [the Prelats] never tolerate others where they have the mastery [...].“ TOLAND, 1699 [1698], S. 113.

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Kirche und gegen eine Monarchie von Gottes Gnaden,27 doch seine Ausführungen waren letztlich ein Affront für Kirche und Staat im Allgemeinen. 28 Toland verwies auf die unheilvolle, manipulative und tyrannische Wirkung einer Verbindung monarchischer mit klerikaler Macht und stellte die Grundpfeiler des Christentums in Frage, indem er sich des damals berühmten Textes Eikon Basilike bediente. Erstmals am Tag der Hinrichtung Karls I. (30. Januar 1649) erschienen, galt Eikon Basilike – dessen letztliche Autorschaft nach wie vor nicht eindeutig geklärt ist – als vom todgeweihten König in seiner Gefangenschaft verfasstes Tagebuch. 29 Milton hatte auf das Buch mit dem Auftragswerk Eikonoklastes (Oktober 1649) reagiert, das – wie er bereits zuvor in The Tenure of Kings and Magistrates (Februar 1649) verfahren war – die Hinrichtung des Königs verteidigte. Toland zufolge hatte Milton jedoch nicht nur eine Antwort auf papistische Propaganda verfasst, sondern darüber hinaus auch erkannt, dass Eikon Basilike eine Fälschung sein müsse.30 Tolands daraus resultierende Folgerung ist einfach, radikal und ein direkter Angriff auf Kirchenvertreter und Bibelexegeten: Da die Papisten nun bewiesenermaßen nicht vor Fälschungen zurückschreckten, um Märtyrer zu schaffen, sei fraglich, ob die Schriften der Apostel und die überlieferten Worte Jesu überhaupt vertrauenswürdig seien, d. h. wirklich von ihnen selbst stammten.31 Grundsätzlich sei daher erst einmal jede schriftliche Äußerung in Zweifel zu ziehen, da sie im-

27 Toland war durchaus daran interessiert, die protestantische Thronfolge und sein Freidenkertum in Einklang zu bringen. Vgl. CHAMPION, 2003, S. 96f. 28 Zu Tolands Republikanismus als Teil seines ‚Spinozismus‘ vgl. ISRAEL, 2001, S. 609-614 und 265. 29 S. DAEMS/NELSON, 2006, S. 16-20. 30 „One of Milton’s Sagacity could not but perceive by the Composition, Stile, and timing of the Book, that it was rather the production of som [sic] idle Clergyman, than the work of a distrest Prince, either in perpetual hurry at the head of a flying Army, or remov’d from one Prison to another during his unfortunat Captivity till his Death.“ TOLAND, 1699 [1698], S. 84. 31 S. EBD., S. 91. „Toland’s exposure of the fraud not only compromised the Eikon Basilike and the pious reputation of the martyred Charles, but also implicated the established clergy in the perpetration of a deception. Milton’s Eikonoklastes became a text for the 1690s exposing the ideal of a divinely appointed monarch and the corruption of aspiring priestcraft.“ CHAMPION, 2003, S. 104. Bereits in Christianity not Mysterious hatte Toland darauf hingewiesen, dass göttliche Offenbarung zwar immer wahr sei, mitnichten aber jede als solche ausgegebene Mitteilung auch wirklich göttlichen Ursprungs sei. Vgl. RAUSCHENBACH, 2002, S. 84. Vgl. außerdem ISRAEL, 2001, S. 611.

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mer von der jeweils herrschenden Partei abhängig wie auch an den zeitlichen Kontext der Entstehung gebunden sei.32 Toland folgte damit in seinem Life of Milton seinen eigenen, dort formulierten Grundsätzen. Der Text ist nicht nur eine Biografie und eine republikanische Positionierung; er ist auch eine Reflexion über eine verfälschende, da dirigistische und tendenziöse Geschichtsschreibung und damit auch über den Diskurs innerhalb dessen Toland sich mit seiner Biografie selbst bewegte: Historische Fakten sind das Material, aus dem Historiker eine eigene Darstellung formen, die weniger den Anspruch historischer Genauigkeit vertritt, sondern sich vielmehr an den Notwendigkeiten der Gegenwart orientiert.

1776: James Barr ys Milton Ein signifikantes Beispiel der Verwendung Miltons in der politischen Grafik lieferte James Barry 1776. Der katholische Ire Barry, ursprünglich ein Protégée Edmund Burkes, sah sich wie sein Mäzen auf Seiten der amerikanischen Kolonialisten. Sein kurz nach Ausbruch des Unabhängigkeitkrieges veröffentlichter Aquatinta-Druck The Phoenix or the Resurrection of Freedom (Abb. 1) zeigt John Milton am Grabe der toten Britannia, in Trauer vereint mit Algernon Sidney (1623-1683), Andrew Marvell (1621-1678), John Locke (16321704), Barry selbst und einer, gelegentlich als Edmund Burke identifizierten, zerlumpten und in Ketten geschmiedeten Figur.33 Als ein Opfer höfischer Korrumpierung, hat Britannia „successively abandon’d thy lov’d residence of Greece, Italy & thy more favor’d England“ und wird in Amerika, an dessen

32 Sina Rauschenbach argumentiert, dass Tolands Skandal-Buch Christianity not Mysterious (1696) im Kontext mit der zeitgleich aufflammenden Querelle des Anciens et des Modernes zu sehen ist. Christianity sei „eine Stellungnahme zugunsten der Neuerer“, die – anders als in den Naturwissenschaften – in der Religion immer sofort in den Verdacht der Ketzerei gerieten, und ein Plädoyer für die Verwissenschaftlichung der Religion: Erstens müsse die religiöse Lehre überprüfbar sein, und zweitens müsse sie mit dem zeitgebundenen Wissenszuwachs der Menschen kurzgeschlossen werden. D. h., dass sich Toland letztlich ebenfalls als zeitgebunden und damit ggf. auch veraltet versteht. Vgl. RAUSCHENBACH, 2002, S. 95-97. 33 Vgl. PRESSLY, 1983, S. 74. Zu Barrys politischen Ansichten und Anspielungen in seinen Werken vgl. PRESSLY, 1981, S. 79-82, wie auch DUNNE, 2005, S. 15 und 121.

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Ufer die Drei Grazien tanzen, aus der Asche des Phoenix neugeboren.34 In der linken Bildhälfte streut eine Personifizierung der Zeit Blumen über die einst vorbildlichen Städte Athen, Rom und Florenz, in denen sowohl die Freiheit als auch die Kunst erblühen konnten.35

Abbildung 1: BU: James Barry, The Phoenix, or the Resurrection of Freedom, 1776, Aquatinta, 43 x 61 cm, British Museum, London © Mit freundlicher Genehmigung des British Museum Barrys Komposition griff unverblümt die Aristokratie und die Monarchie Englands an, deren Unterwanderung demokratischer Prinzipien nicht nur das eigene Volk unterjoche, sondern auch dazu verleite, Krieg gegen jene zu führen,

34 Die vollständige Bildunterschrift lautet: „O Liberty thou Parent of whatever is truly Amiable & Illustrious associated with Virtue, thou hatest the Luxurious & Intemperate & hast successively abandon’d thy lov’d residence of Greece, Italy & thy more favor’d England when they grew Currupt [sic] & Worthless, thou hast given them over to chains & despondency & and taken thy flight to a new people of manners simple & untainted.“ PRESSLY, 1983, S. 73. 35 Vgl. PRESSLY, 1981, S. 77.

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die diese Freiheit noch vertreten.36 Die verschiedenen Schriften an Englands Ufern – der Grabstein,37 die Inschrift auf dem Podest38 und die Bildunterschrift – sind allesamt Äußerungen in diesem Sinne und die Tatsache, dass vier der sechs dargestellten Figuren historische Personen aus der Zeit des Commonwealth sind – einer von ihnen, Sidney, sogar ein republikanischer Märtyrer –, impliziert zudem Geschichtsvergessenheit und den Verlust einst vorhandener freiheitlicher Tugenden.39 Miltons Rolle in diesem Stich ist jedoch mehr als nur eine Stellvertreterfunktion antimonarchistischer Zeiten und typisch für seine Inanspruchnahme: Er wird als Mittler dargestellt, als jenes Medium, das seine Mitmenschen in die richtige Richtung weist. Halb verdeckt von der Figur im Vordergrund und als einziger mit einem Lorbeer bekrönt, fasst er den auf Britannia zeigenden Andrew Marvell – ein Freund Miltons, dem der Dichter nach dem Zusammenbruch des Protektorats wohl sein Leben zu verdanken hatte40 – an der Schulter und deutet auf die wiedergeborene Britannia auf der anderen Uferseite.41 Die 36 William L. Pressly vergleicht Barrys „most direct attack on contemporary establishment“ mit Hogarths The Times. Tafel I (1762), wobei Barry allerdings den schwarzen Humor Hogarths vermissen lassen würde. Vgl. PRESSLY, 1983, S. 73 sowie PRESSLY, 1981, S. 77. 37 König Georg III.: „Upon pain of my displeasure death and Torture I prohibit my Subjects holding any Intercourse with those Audacious Assertors of human Rights on the other side of this Atlantic Given at our Palace.“ 38 „This Monument to the Memory of British dissipated poor rapacious & dependent upon the Court.“ Die Pergamentrolle ist dagegen ein Angriff auf die Royal Academy und deren Abhängigkeit von höfischen Auftraggebern. Vgl. PRESSLY, 1981, S. 78. 39 Im Falle Barrys lässt sich ein interessanter Kontrast zu Toland entdecken, der darauf verweist, wie Milton von verschiedenen Seiten in Anspruch genommen werden konnte: Während der irische Konvertit Toland anhand von Milton die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Katholiken darlegt, war der irische Katholik Barry davon überzeugt, dass der Katholizismus schon immer für Freiheit und republikanische Tugenden gekämpft habe. Vgl. DUNNE, 2005, S. 120. 40 S. BEER, 2008, S. 287. 41 Fraglich wäre, ob Barry mit dem Arrangement der Personen Hinweise auf eine Art republikanische Hierarchie bzw. auf das Ausmaß der Identifikation mit der Sache der Republik geben wollte: Der sich enthusiastisch Amerika zuwendende Algernon Sidney hat der toten Britannia den Rücken gekehrt, und tatsächlich war Sidney 1683 für einen angeblich geplanten Königsmord hingerichtet worden. Milton weist in Richtung Amerika, doch er ist physisch mit Andrew Marvell verbunden, der – obwohl ursprünglich auch für Cromwell tätig – sich rasch auch in Zeiten der Restoration zurecht fand, d. h. letztlich – wie in diesem Bild – auf Seiten Englands geblieben war.

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Aussage des Bildes ist offensichtlich: Hätten diese republikanischen Ikonen in den 1770er Jahren gelebt, hätten sie an Britannias Leichnam getrauert und hätten ihn in Amerika wiederauferstehen sehen, sprich, sie hätten gegen die Amerika-Politik Englands und den Krieg mit den Kolonien Position bezogen.

1779: Samuel Johnsons Milton 42 Mit Samuel Johnsons Life of Milton änderte sich die Konzeption der Figur Miltons grundlegend: Erschienen 1779, fünf Jahre nach Ausbruch des Amerikanischen Unabhängigkeitskrieges, war sie die wahrscheinlich einflussreichste Milton-Biografie des 18. Jahrhunderts – vielleicht sogar überhaupt – und charakterisierte Milton als machtbesessenen und geltungssüchtigen Opportunisten.43 Während jedoch Miltons öffentliches Wirken, etwa seine Anstellung im Staatsdienst unter Cromwell sowie die historischen Begebenheiten als vorübergehende Ereignisse beschrieben werden – die Erzählung dieses Zeitraumes beginnt mit „Cromwell had now dismissed the parliament“44 und endet mit „The system of extemporary government [...] naturally fell apart“45 – werden anhand von Miltons häuslicher Situation universelle Ansichten erörtert. Da Johnson die privaten Angelegenheiten des biografischen Objekts als besonders aufschlussreich für ein vollständiges Bild erachtete, wird Miltons familiärer, als tyrannisch kritisierter Umgang als paradigmatisch für die typische Doppelzüngigkeit einer republikanischen, sprich antihierarchischen Einstellung etabliert. Milton, der für die Gleichheit und die allgemeine Bildung aller Bürger plädierte, habe zunächst seine erste Frau Mary unglücklich gemacht – „The first wife left him in disgust and was brought back only by terror“46 – und später seine Töchter zu vernachlässigten Beinah-Analphabeten erzogen, derer er mit „something like a Turkish contempt of females, as subordinate and

42 Grundlegend: REES, 2010, insbes. S. 191-239. 43 „[...] Milton, having [...] tasted the honey of public employment, would not return to hunger and philosophy, but continuing to excercise his office under a manifest usurpation, betrayed to his power that liberty that he had defended.“ JOHNSON, 1900 [1779], S. 27. 44 EBD. 45 EBD., S. 36. 46 EBD., S. 40.

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inferior beings“47 gedachte. Kurz: Miltons Haushalt sei eine „scene of misery“48 gewesen. Johnsons Milton ist ein im öffentlichen Leben antimonarchistischer Puritaner, der seine Familie wie ein Autokrat regierte;49 und aus dieser Analyse der privaten Situation zieht Johnson allgemeine Schlüsse: „It has been observed that they who most loudly clamour for liberty do not most liberally grant it.“50 Diese Formulierung kann im Zusammenhang mit Johnsons ebenfalls häufig geäußerter Ablehnung der amerikanischen Sklaverei gelesen werden. Im Idler Nr. 11 (24. Juni 1758) heißt es: „Nations have changed their character; slavery is now no where more patiently endured, than in countries once inhabited by zealots of Liberty.“ 51 Die Kritik an der brutale Unterwerfung und der Ungleichbehandlung von Menschen einerseits und das Lob der Widerspenstigen gegen die Heuchler der Freiheit andererseits verbinden die Beschreibung von Miltons Haushalt mit der politischen Situation in Amerika. Milton verweist auf die amerikanischen Aufständischen – und in Konsequenz auch auf deren englische Unterstützer –; seine Töchter repräsentieren die in Unfreiheit gehaltenen Sklaven. Dass nun ausgerechnet jene Amerikaner Sklavenhalter waren, die zum Zeitpunkt der Publikation von Life of Milton, mit dem Mutterland um ihre Unabhängigkeit, d. h. um ihre Freiheit von jeglicher Obrigkeit, fochten, verkörperte jene Heuchelei, gegen die Johnsons Milton-Biografie Stellung bezog. Samuel Johnson brach mit seinen Biografien die bis dato vorherrschende Einheit aus Leben und Werk – Johnson nennt es das „phantom of perfection“52 – auf und verneinte somit den zwingenden kausalen Zusammenhang zwischen herausragender künstlerischer Leistung und persönlicher Unfehlbarkeit. Auf 47 EBD., S. 63. 48 EBD., S. 54. Johnson ist auch der einzige, der die Schuld für das Scheitern der Ehe und der Familie gleichberechtigt auf allen Seiten sucht. Vgl. NULTON KEMMERER, 2004, S. 64. 49 Vgl. etwa PASK, 1996, S. 156 und 162; NULTON KEMMERER, 2004, S. 58. 50 JOHNSON, 1900 [1779], S. 62. 51 DERS., 1767 [1758-1760], Bd. 1, S. 61. Auch in dem 1791 veröffentlichten Life of Johnson von James Boswell findet sich Johnsons Überzeugung wieder, Eiferer für die Freiheit seien selbst die schlimmsten Sklavenhalter: Boswell beschreibt einen Abend, in dessen Verlauf Johnson einen Toast auf den nächsten Aufstand der schwarzen Sklaven in Indien anbringt („next insurrection of the negroes in the West-Indies“) und anschließend Boswell diktiert: „It is impossible not to conceive that men in their original state were equal; and very difficult to imagine how one would be subjected to another but by violent compulsion.“ Vgl. BOSWELL,1999 [1791], S. 619. 52 JOHNSON, 1793 [1750-1752], Bd. 1, S. 117.

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diese Weise war es Johnson nicht nur möglich, die historische Person abgekoppelt von ihrer ästhetischen Leistung zu sehen (und damit Paradise Lost zu loben); die Entkoppelung erzeugte darüber hinaus eine Inkongruenz von Anspruch und Wirklichkeit, von idealer Poesie und dem weitaus minder idealen historisch-biografischen Narrativ. Eben diese Inkongruenz in der Form spiegelt wiederum die Inkongruenz von Miltons politischem Anliegen und seinem privaten Handeln.

1793/1794: William Hayle ys Milton Hatte sich Johnson über Milton zum Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg geäußert, so nutzte knapp 20 Jahres später der Dichter William Hayley, ein Bekannter Godwins und Blakes, seine Milton-Biografie zur Positionierung im Diskurs über die Französische Revolution. Sein Life of Milton erschien, ob seiner republikanischen Tendenz stark redigiert, 1794. Hayleys Biografie war gegen jene des 1784 verstorbenen Samuel Johnson gerichtet53 und deren wohl meist rezipierte Gegendarstellung.54 Hayley konzipierte seinen Milton als aufrechten Verfechter seiner Überzeugungen, dessen guter Wille durch Heimtücke und Illoyalität hintertrieben wurde. Da Miltons Sympathien immer nur auf Seiten der Unterdrückten gewesen wären,55 habe er – trotz Warnung der Ärzte, er würde erblinden – weiterhin studiert und publiziert: „[...] he gave the most distinguishable proof of genuine public spirit that ever patriot had occasion to display; since at the time of his engaging in his work, the infirmity in his eyes was so alarming, that his physicians assured him, he must inevitably lose them if he persisted in his labour.“56 Indem Miltons Blindheit zunächst als Folge seines politischen Engagements beschrieben wird, erstreckt sich die anschließende apotheotische Aufwertung eben dieser Blindheit auch auf den Republikanismus: „[...] perhaps it was better for him [...] to remain without a cure. [...] He exults in his misfortune, and feels it endeared to him by the persuasion, that to be blind is to be placed more immediately under the conduct and the providence of God.“ 57 Das revolutionäre Potenzial dieser Verweiskette erschließt 53 54 55 56 57

Vgl. JOHNSON, 1823, S. 429. Vgl. KITSON, 2001, S. 466. S. HAYLEY, 2010 [1794], S. 48. EBD., S. 57. EBD., S. 66.

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sich erst auf den zweiten Blick: Hayley sagte letztlich nichts anderes, als dass erst Miltons republikanisches Wirken ihm die unmittelbare Nähe zu Gott erschlossen habe. Diese Konterkarierung des Gottesgnadentums, wie es noch der Absolutismus in Frankreich, aber auch streng monarchistische Kreise in England verkörperten, wurde – und sollte – als direktes Bekenntnis konkret zu den Zielen der Französischen Revolution und allgemein zur republikanischen Staatsform als solche gelesen werden.

1793: George Romneys Milton Aus dieser biografietheoretischen Vorgeschichte ergibt sich auch die Deutung des bis dato in der Forschung noch nicht weiter beachteten, 1793 vollendeten Gemäldes Milton and his Daughters von George Romney, das als Kulminationspunkt und als Synthese der oben beschriebenen Markierungen politischer Fronten gesehen werden kann (Abb. 2). Romney wählte, wie bereits Johnson, Miltons Verhältnis zu seinen Töchtern als paradigmatisches Moment der biografischen Darstellung; und vor dem Hintergrund der intellektuellen Debatte um John Miltons Leben offenbart sich in diesem Bild die Erosion patriarchalischer Autorität.

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Abbildung 2: George Romney: Milton and his Daughters, 1793, Öl auf Leinwand, 206 x 206 cm, Privatsammlung, Großbritannien Hatte Romney für sein Gemälde, das unter dem Einfluss und im Austausch mit Hayley 1790 begonnen worden war, zunächst einen prominenten, die Szenerie beherrschenden Protagonisten angelegt, so ändert sich die Konzeption vor der Vollendung noch einmal grundlegend. Dutzende Zeichnungen zeigen, dass Romney über lange Zeit einer Beschreibung Johnsons folgte, die Milton mit über die Stuhllehne geworfenem Bein darstellte (Abb. 3), oder zumindest auch in der Körpersprache die dominante Stellung Miltons betonte. Daher ist der plötzliche Wandel zu einem deutlich geschwächten Protagonisten im vollendeten Gemälde bemerkenswert und ebenso sein Zeitpunkt im Schaffensprozess. Noch 1792, zwei Jahre nach Beginn der Komposition ist Milton die beherrschende Gestalt im Bild. Mit Beginn des Jahres 1793 ändert sich diese Kon-

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zeption allerdings grundlegend: Milton wird zunächst zur an den rechten Rand gedrängten Diagonalen; anschließend wird er mit einem schwarzen Tuch zur gänzlich entkörperlichten Gestalt. Vorbild dieser Figur ist ganz offensichtlich Jean-Baptiste Greuzes 1763 ausgestelltes Gemälde Le Paralytique soigné par sa famille (später La Piété filiale).58 Offensichtlich fand Romney im Familienvater Greuzes eine dem Kräfteverfall Miltons adäquate Darstellung.59 Indem Romney nun die Schwäche Miltons mit Verweis auf sentimentale Vorbilder, aber ohne einen nivellierenden Gegenpol exponiert, invertiert er die affirmative Szene einer sich um den Vater scharenden Familie,60 die als Mikrokosmos eines funktionierenden Staates gelesen wurde. Miltons körperliche Immobilität und die scheinbar unüberwindbare Absonderung seiner Familie anstelle der bei Greuze zu findenden symbiotischen Verschmelzung lassen das Bild zur häuslichen Dystopie werden. Doch das Gemälde ist mehr als der Gegenentwurf einer behaglichen Familienatmosphäre. Wie anhand des politischen Hintergrundes gezeigt, spiegeln sich hier auch die Erosion patriarchalischer Autorität, wie sie der absolutistische Staat darstellte,61 als auch das Ende der Bündelung von Wissen und Macht. 62 Milton ist der gelähmte Vater, er ist jedoch auch die entmachtete Obrigkeit, deren Nimbus sich im Lichtschein um

58 Vgl. PAHL, 2012, hier S. 24f. 59 Ähnliches lässt sich in einem anderen Gemälde Greuzes beobachten, dass Romney möglicherweise ebenfalls kannte. 1755, bereits acht Jahre vor der Piété filiale, stellte Greuze im Salon L’aveugle trompé aus, eine Ironisierung der blinden Hilflosigkeit mit nur drei Figuren. Romney ließ sich möglicherweise von der Komposition inspirieren, gleicht diese doch dem Milton in ihren wesentlichen Komponenten. Emma Barker argumentiert darüber hinaus, dass Greuze die „widely expressed concerns about the decline of respect and lack of care for the aged in modern urban society“ zum Ausdruck bringen wollte. Vgl. BARKER, 2005, S. 3. Auch Gerhard Charles Rump weist darauf hin, dass sich Romney in seinen Genreszenen Greuze annäherte. Vgl. RUMP, 1974, S. 176. 60 Emma Barker führt zudem aus, dass die Wahrnehmung der Engländer in Frankreich als „cold, gloomy, and fierce“ eine Szene wie einen vernachlässigten Vater als typisch englisch erscheinen ließ und dass Greuze diese Konnotation gezielt anwandte, um „implicitely defy the reassuring vision of the nation as a loving family“. Vgl. BARKER, 2005, S. 86f. 61 Vgl. EBD., S. 87. 62 Romneys Gemälde war Vorbild für nahezu alle nachfolgenden Darstellungen Miltons mit seinen Töchtern. Erwähnenswert sind v. a. Johann Heinrich Füßlis Gothic-Version (1794, überarbeitet und neu ausgestellt 1799) und James Barrys Variante Milton Dictating to Ellwood the Quaker (1804-05). Vgl. PRESSLY, 1983, S. 113; DERS., 1981, S. 196f.

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des Dichters Haupt und der eher geduckten Haltung der Töchter noch andeutet, deren tatsächliche Befehlsgewalt und Wirkungskreis physisch schwindet.

Abbildung 3: George Romney, Studie für ‚Milton and his Daughters‘, 1792, Öl auf Leinwand, 63 x 76 cm, Private Collection, UK © Mit freundlicher Genehmigung von Emanuel von Baeyer, London Dass diese Dimension des Bildes auch einer zeitgenössischen Wahrnehmung entspricht, legt seine Provenienz nahe: Das Gemälde war nur im Atelier ausgestellt, von wo es 1796 direkt von Major Samuel Whitbread Jr. angekauft wurde. In diesem Zusammenhang ist von Interesse, dass sich Whitbread laut Romneys Sohn John von niemand Geringerem als Charles James Fox, dem glühenden Unterstützer der Amerikanischen und Französischen Revolution und erbitterten Gegner des Tory-Politikers William Pitt d. J., zu dem Ankauf raten

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ließ. 63 Der Ratschlag, das Gemälde zu erwerben, kann künstlerische oder freundschaftliche Hintergründe haben; er kann aber auch ein Hinweis darauf sein, wie Milton im 18. Jahrhundert gesehen wurde: als wertvolles, stets aktualisierbares Diskursmodell, das insbesondere von den der monarchischen Wirklichkeit skeptisch gegenüberstehenden republikanisch gesinnten Engländern beschworen wurde, anhand dessen Meinungen dargelegt und Positionen gefestigt werden konnten. Die Notwendigkeit, John Milton in die jeweilige Gegenwart einzubetten, brachte schließlich William Wordsworth 1802 auf den Punkt: „Milton! Thou should’st be living at this hour! England hath need of thee!“64 Wordsworths auch heute noch in England sehr bekanntes Zitat verweist auf die Tatsache, dass die gegenwartsgebundene Variation historischer Gegebenheiten per defintionem ein doppeltes transtemporales Konzept ist, sowohl in dem Sinne, dass es in jeder Zeit vorkommen kann (und vorkommt), als auch insofern, dass es verschiedene Epochen miteinander in Verbindung setzt. Anhand von diesem Epochenübergriff lassen sich dabei Aussagen über Inhalte und Medien des Diskurses der Rezeptionszeit treffen, deren Geschichtsrezeption, -variation und -transformation ein Paradox inhärent ist: Während die Wirkungsmacht einer zeitgenössisch modulierten Autorität der Vergangenheit einerseits gerade auf ihrem Status als Teil einer vermeintlich besseren (oder, wie im Falle von Johnsons Milton, auch schlechteren) Vergangenheit gründet, so ist ihre Verfasstheit andererseits unabänderlich gegenwärtig. Die Transformation von Geschichte(n) ist so nicht nur ein diskursives Modell mit ideologischer Färbung, sie zeugt auch von dem Bedürfnis, ein Verhältnis zur Vergangenheit zu entwickeln, das diese als aktiven und eingreifenden Teil der jeweiligen Gegenwart, und nicht nur als deren rekursiven, historisierten Vorgänger, begreift, mit anderen Worten als: „a living past“.

63 Vgl. ROMNEY, 1830, S. 229: „He [Whitbread] brought Charles Fox to see it, and it was with his approbation and advice that the purchase was made.“ 64 WORDSWORTH, 1841, S. 188.

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Politisch konstruiert, filmisch demontiert Der Diskurs des Glücks in der spanischen Konsumgesellschaft der 50er Jahre: Esa pareja feliz (1951) und La vida por delante (1958) JULIA BRÜHNE Als der spanische Bürgerkrieg 1939 nach drei langen Jahren endet, sieht sich der siegreiche Francisco Franco einem nicht unerheblichen Problem gegenüber: Es gilt, die zersplitterte und traumatisierte Nation auf Basis einer gemeinsamen Grundlage neuerlich zu vereinen. Zugleich benötigt der durch einen Putsch zustande gekommene ‚neue Staat‘ auch nach Ende des als Kreuzzug betitelten Bürgerkriegs dringend eine Legitimationsgrundlage. Dies versucht man u. a. durch Geschichtstransformationen zu erreichen, die das Franco-Regime als legitimen Nachfolger frühneuzeitlicher Monarchien inszenieren. Daneben soll der Gesellschaft besonders in den 50er Jahren der langsam (wieder) entstehende Konsumkapitalismus schmackhaft gemacht werden: Der Spanier ist aufgefordert, die dargebotenen Güter zu genießen und sich so als dem Franquismus gleichsam ‚genüsslich unterworfenes‘ Subjekt zu konstituieren. In den beiden hier beleuchteten Filmen dieser Epoche werden, wie zu zeigen wird, sowohl die franquistischen Geschichtstransformationen in ihrem fiktiven Charakter entlarvt als auch das staatliche Mandat des ‚Genießens‘ unterhöhlt, indem jenes Genießen als ebenso substanzarm ausgewiesen wird wie die mit ihm einhergehende Politik.

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Spani en braucht „f undierende Erinnerungen“ Eine nationale Kultur, so beschreibt es Stuart Hall, ist ein Diskurs: Sie kreiert „Bedeutungen“1, die eine Vorstellung von der Nation erschaffen, an der die Menschen, die sich zu ihr zählen, partizipieren können – und sollen. Dies funktioniert in der Regel über den Rückgriff auf die nationale Vergangenheit. So bedient sich das kollektive Gedächtnis einer Nation Jan Assmann zufolge sog. „fundierender Erinnerungen“2. Diese sind auf bestimmte vergangene Ereignisse bezogen und werden über unterschiedliche Objektivationen3 für die Konstruktion nationaler Identität in der Gegenwart fruchtbar gemacht. So haben etwa bestimmte Tänze, nationale Mythen oder Landschaften, die als Alleinstellungsmerkmal der jeweiligen Nation begriffen werden, identitätsstützende Funktion – sie dienen als ‚Zement‘ des nationalen Kollektivs und sollen dessen Kontinuität mit der eigenen Geschichte belegen.4 Als Francisco Franco und seine nationalen Truppen am 1. April 1939 siegreich aus dem spanischen Bürgerkrieg (1936-1939) hervorgehen, ist ein solcher ‚Zement‘ dringend notwendig, liegt das Land doch nicht nur wirtschaftlich am Boden, sondern sieht sich zudem in Sieger und Besiegte, in Spanien und ‚Anti-Spanien‘ geteilt. Als Legitimationsgrundlage für den franquistischen nuevo estado (den neuen Staat) bemüht Franco daher eine Reihe „fundierender Erinnerungen“, die die Kontinuität des neuen Regimes mit der ‚glorreichen‘ spanischen Vergangenheit der Frühen Neuzeit belegen sollen. So soll Franco als Nachfolger der christlichen Ritter der Gegenreformation5 und als Bewahrer und Beschützer des reinen katholischen Glaubens im kollektiven Bewusstsein verankert und der estado nuevo als Fortsetzung des spanischen Imperiums des ‚Goldenen Zeitalters‘ (etwa 1499-1681, z. B. Philip II., 1556-1598) wahrge-

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HALL, 1994, S. 201. ASSMANN, 2007 [1992], S. 51f. (Kulturelle) Erinnerungen werden in greifbare, symbolisch wirksame ‚Objekte‘ – Objektivationen – verwandelt: „Der Modus der fundierenden Erinnerung arbeitet stets – auch in schriftlosen Gesellschaften – mit festen Objektivationen sprachlicher und nichtsprachlicher Art: in Gestalt von Ritualen, Tänzen, Mythen, Mustern, Kleidung, Schmuck, Tätowierung, Wegen, Malen, Landschaften usw., Zeichensystemen aller Art, die man aufgrund ihrer mnemotechnischen (Erinnerung und Identität stützenden) Funktion dem Gesamtbegriff ‚Memoria‘ zuordnen darf.“ EBD., S. 52. Vgl. EBD., S. 133. Vgl. BOYD, 1997, S. 260.

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nommen werden.6 In diesem Sinne versteht das Regime den blutigen Bürgerkrieg schon während der Kampfhandlungen denn auch als legitimen ‚heiligen Kreuzzug‘ gegen alles Demokratische, Nicht-Katholische und damit ‚Unspanische‘.7 Indem die katholischen Könige Ferdinand und Isabella (1469/79-1516), die 1492 mit der Eroberung Granadas die letzte maurische Bastion gestürzt hatten,8 verherrlicht und die Entdeckung und Missionierung Südamerikas sowie historische Figuren wie etwa die heilige Teresa von Ávila idealisiert und im Sinne franquistischer Geschichtstransformation durchweg positiv umgedeutet werden,9 soll eine neue nationale Identität entstehen, die sowohl die demokratischen Errungenschaften aus der Zweiten Republik (1931-1936/39) als auch die Liberalisierungstendenzen des 19. und die Aufklärung des 18. Jahrhunderts weitestgehend aus dem kollektiven Gedächtnis streicht. 10 Das Ziel, die nationale Identität zu stärken, wird einerseits durch Rituale und althergebrachte Traditionen wie den Kirchgang oder die Osterprozession gefördert. Von großem Gewicht sind aber auch „erfundene Traditionen“ (im Sinne Eric Hobsbawms)11, wie etwa neu kreierte nationale Feiertage, bspw. Beginn und Ende des Bürgerkriegs.12

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Vgl. CARR/FUSI, 1983, S. 107 und 109. Zum geschichtlich-ideologischen Fundament Franco-Spaniens, vgl. RICHARDS, 1996, S. 149-168. 8 Durch die Heirat Isabellas von Kastilien und Ferdinands von Aragonien 1469 wurden, nachdem Isabella 1474 und Ferdinand 1479 jeweils die Thronfolge antreten konnten, beide Königreiche erstmals unter einer Krone vereint. Es begann eine Zentralisierungspolitik. Unter den katholischen Königen endete die 800 Jahre währende Reconquista erfolgreich mit der Eroberung Granadas; die maurische Herrschaft war damit endgültig beendet. Noch im selben Jahr begann die Vertreibung nicht konversionswilliger Juden aus Spanien und man errichtete die staatlich kontrollierte Inquisition. Vgl. hierzu z. B. BOLLÉE/NEUMANN-HOLZSCHUH, 2007, S. 1f. 9 Vgl. GRAHAM, 1995, S. 184f. 10 Vgl. CARR/FUSI, 1983, S. 109. Das einzige nennenswerte Ereignis der Aufklärungsepoche war für Franco der erfolgreiche Unabhängigkeitskrieg gegen Frankreich 1808 (vgl. EBD.). 11 Erfundene Traditionen finden sich Eric Hobsbawm zufolge besonders häufig in Zeiten gesellschaftlichen Wandels. Sie sind der Versuch, Kontinuität mit der Vergangenheit zu evozieren und sollen z. B. dem schwindenden Zusammenhalt in einer Gesellschaft entgegenwirken. Sie haben daher ideologische Funktion und gehorchen nicht dem Nützlichkeitsprinzip. So dient etwa das Tragen eines Reithelms dem Schutz vor Unfällen, das Tragen einer speziellen Jagdtracht hingegen dem Ausdruck eines ideologischen Prinzips. Vgl. HOBSBAWM, 2012 [1983], S. 1-14. 12 Vgl. BOYD, 1997, S. 261f.

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All dies dient der Schaffung einer imagined community, wie Benedict Anderson sie definiert hat13: Wie Hall und Assmann geht auch Anderson von der Notwendigkeit einer Ursprungslegende für die Etablierung einer kollektivnationalen Identität aus. Diese wird Anderson zufolge in erster Linie durch die Standardisierung der Umgangssprachen, durch Schrift (Printkapitalismus) und Medien schlechthin ausgebildet. 14 Nun trifft diese Bedingung auf den Franquismus zu, da sämtliche Regionalsprachen verboten werden und stattdessen das Kastilische die einzig zugelassene ‚Amtssprache‘ wird. Die Strenge, mit der vor allem in der ersten Dekade des Regimes – mithin seiner Konsolidierungsphase – die Einhaltung dieser Vorgabe überwacht wird, erklärt sich durch das Bestreben, die rebellischen Peripherien in ihrer gefühlten Autonomie einzuschränken und die politische Macht in Madrid zu zentralisieren.15 Ein weiteres wichtiges Mittel zur Schaffung nationaler Identität im Sinne einer imagined community ist das Kino.16 Dieses massentaugliche Medium soll mit speziellen 13 ANDERSON, 2005. Die vorgestellte Gemeinschaft entsteht Anderson zufolge, als die Monarchien durch Aufklärung und Revolutionen die Legitimation des Gottesgnadentums verlieren und eine neue Legitimationsbasis für die nationale Gemeinschaft benötigt wird. Die imagined community wird als Verbund von Gleichen verstanden. Sie ist ‚vorgestellt‘, weil ihre Mitglieder sich nicht alle persönlich kennen können, sich aber dennoch als Zugehörige einer Gemeinschaft empfinden (vgl. EBD., S. 15-17). 14 EBD., S. 52. 15 Vgl. hierzu etwa BOCHMANN/BRUMME, 1993, S. 392-398. 16 Wenn Anderson von print-capitalism spricht, der vor allem in Gestalt des sich ausdehnenden Zeitungswesens das Prinzip der vorgestellten Gemeinschaft beförderte, so argumentiert er u. a. damit, dass die Gewissheit des Zeitungslesenden, zur selben Zeit von Tausenden Menschen ‚umgeben‘ zu sein, die selbst soeben dieselben Nachrichten lesen, der Idee der vorgestellten Gemeinschaft, mithin dem Teilen gemeinsamer Rituale und Werte Vorschub leistet (vgl. ANDERSON, 2005, S. 3941). Was ist im vorliegenden Fall aber das Kino, wenn nicht Vorschubleister desselben Phänomens? Zunächst wird der Kinosaal selbst zum Objekt einer vorgestellten Gemeinschaft, da man in der Regel, wenn überhaupt, sehr wenige der übrigen Besucher kennt – trotzdem teilt man für eineinhalb oder zwei Stunden dasselbe Erlebnis, durchlebt ähnliche Emotionen, identifiziert sich mit denselben Figuren etc. Nach Ende des Films befindet man sich zudem in einer virtuellen Vorstellungsgemeinschaft mit all denjenigen, die den Film zu einer anderen Zeit, in einem anderen Kino, in einer weit entfernten Stadt innerhalb des eigenen Landes ebenfalls gesehen haben. Dies gilt im Falle Franco-Spaniens umso mehr für die españoladas – also genuin spanische Filme mit ‚spanischen Themen‘, die zumeist nicht – wie im Falle Hollywoods – in andere Länder exportiert werden, sondern allein der Identifikation der spanischen Bevölkerung mit dem ‚Spanisch-Sein‘ und damit mit seiner Nation und der in dieser angeblich vorherrschenden Werte und Lebensstile

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Genres wie Historienepen, dem bürgerkriegsverherrlichenden cine de la cruzada (Kreuzzugs-Kino) oder dem cine folklórico (folkloristische Musicals) nicht nur die nationale Vergangenheit glorifizieren, sondern auch mit Assmannschen Objektivationen aufwarten, mit denen sich die Zuschauer im Sinne einer ‚Gemeinschaft Gleicher‘ identifizieren können. So bietet vor allem das cine folklórico – von der Kritik zumeist abwertend als españolada17 tituliert – „fundierende Erinnerungen“ wie den Flamenco-Tanz, andalusische Landschaften und Trachten, heroische Galane oder attraktive schwarzhaarige Frauen. Somit lässt sich das (typische) franquistische Kino u. a. als die Absicht der Verklammerung des Subjekts mit der Struktur 18 und der hiermit erhofften Stabilisierung der „kulturellen Welt“19 bewerten. Was Hall „kulturelle Welt“ nennt, scheint mir mit dem von Jacques Lacan formulierten Prinzip der „symbolischen Ordnung“ übereinzustimmen: Diese ist die Struktur aus gesellschaftlichen Institutionen, Ritualen und verschriftlichten wie inoffiziellen Regeln des Zusammenlebens der Subjekte in ihrem jeweiligen Kollektiv. In ihr regiert der sprachlich strukturierte Nom-du-Père – das sog. Gesetz des Vaters.20 Da das Individuum, um ein ‚funktionierender‘ Teil

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dienen. Zum Kino als nationales Identifikationsinstrument vgl. auch SEGUIN, 2007, S. 3-10. Seguin bewertet die Möglichkeit, durch das Kino eine nationale Identität auszubilden, allerdings positiv und wirft der spanischen Filmindustrie vor, dies – im Gegensatz zur US-amerikanischen – nicht vollbracht zu haben. „In its more general sense, the term [españolada] refers to any action, show or literary text that exaggerates the Spanish character, thus connoting excess. […] the thematics (bullfighting, the lives of bandits, gypsies and singers) and the aesthetics (costumbrismo) associated with it appear throughout the decades in musical dramas and religious dramas, historical narratives and comedies.“ LÁZARO-REBOLL/ WILLIS, 2004, S. 7. Vgl. HALL, 1994, S. 182. EBD. Die symbolische Ordnung ist nach Lacan die Ordnung des symbolischen Vaters (Nom-du-Père), der das Subjekt (im Allgemeinen das Kind) aus der imaginären, glücklichen Dyade mit der Mutter herausholt und es in die gesellschaftlichen Normen und Regeln einführt; ihm also die Sprache des Symbolischen beibringt und es solchermaßen befähigt, in der Gesellschaft Fuß zu fassen. Der Nom-du-Père ist dabei nicht mit dem leiblichen Vater zu verwechseln: „Der Name-des-Vaters ist nicht das Verbot des realen Vaters, sondern das Gesetz, das dessen Verbote und Gebote stützt, sie autorisiert, sie legitimiert, so wie in archaischen Gesellschaften die Ahnen“ (BRAUN, 2007, S. 121). Fortan lebt das solchermaßen symbolisierte Subjekt nicht länger im Feld des Imaginären, sondern in der Sphäre des Symbolischen. Das Imaginäre bleibt jedoch ein immerwährender Sehnsuchtsort, auf den allerlei Wünsche und Bedürfnisse projiziert werden, die dem Subjekt in der symboli-

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der Gesellschaft zu werden, das Feld des Imaginären verlassen und innerhalb des Symbolischen verortet werden muss, liegt es nahe, an dieser Stelle auf Louis Althussers Theorie der ideologischen Anrufung (Interpellation) zu verweisen, die z. T. auf Lacans Begrifflichkeiten aufbaut.21 Für Althusser bildet ein Individuum erst dann eine Identität aus, wenn es innerhalb der Gesellschaft, in der es lebt, eine bestimmte Funktion, mithin eine klare Verortung erhält (z. B. als Thronfolger, Richter, Schüler etc.). Die Subjektivierung des Individuums erfolgt vermittels ideologischer Anrufung. So wird das Individuum, das sich auf den unpersönlichen Ruf eines Polizisten – also eines Vertreters der Ideologie bzw. der symbolischen Ordnung – hin umdreht, obwohl es nicht weiß, ob es überhaupt gemeint ist, interpelliert: Es gehorcht der herrschenden Ideologie und nimmt als Subjekt seinen Platz in der Gesellschaft ein. Damit fügt es sich – und dies führt uns zu Hall und seiner Auffassung von der Struktur der nationalen Kultur zurück – in den herrschenden gesellschaftlichen Diskurs ein. Die Filme, die ich hier im Folgenden betrachten möchte, rekurrieren nun auf eben jenes Phänomen der ideologischen Anrufung und hinterfragen dabei die diskursive symbolische Ordnung, innerhalb derer sie als Subjekte der Diktatur interpelliert werden sollen. Trotzdem wurden sie letztlich als harmlose Unterhaltungsfilme eingestuft und zur Vorführung in den Kinos freigegeben. Was den Zensoren offenbar entging, ist der Umstand, dass beide Filme auf subtile Weise kritisch auf die franquistische Praxis der Geschichtstransformation und die hiermit einhergehende gewünschte Bildung einer imagined community im Sinne eines geeinten Volkes Bezug nehmen. 1951 und 1958 entstanden, reagieren Esa pareja feliz und La vida por delante dabei nicht nur auf die vor allem in der Konsolidierungsphase des Regimes so wichtige Umdeutung der Geschichte und ihrer idealisierten Protagonisten, sondern sie reflektieren auch den Zusammenhang jener Konstruktion mit der entstehenden Konsumgesellschaft und dem staatlichen Mandat des Genießens:22 Genießen der Populärkultur, Genießen der verfügbaren Güter, Genießen des Ehelebens innerhalb eines diskursiven Rahmens. Indem sie den neuen materiellen Wohlstand kritisch beleuchten, der die repressive Natur des Franco-Regimes verhüllt, fragen sie nach der prinzipiellen Möglichkeit von Authentizität und schen Ordnung zugunsten eines erfolgreichen gesellschaftlichen Miteinanders verwehrt bleiben müssen. Vgl. hierzu etwa LACAN, 2008, S. 111. 21 Vgl. ALTHUSSER, 1995. 22 Vgl. hierzu unten, Anm. 34.

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Glück in einer Diktatur und zeigen dabei, wie brüchig das Konstrukt eines geeinten spanischen Volkskörpers ist.

Esa pareja feliz (1951): Glück, marsch, marsch! Das Erstlingswerk der Regisseure Luis García Berlanga und Juan Antonio Bardem23 porträtiert ein junges, kinderloses Paar, Juan und Carmen, das nach einigen Jahren relativ glücklicher Ehe beginnt, allmählich an den schwierigen ökonomischen Umständen ihres Alltags zu verzweifeln. Juan, der mehrere (Weiterbildungs-)Diplome als Elektriker hat, verdient sein Geld mangels besserer Berufschancen als Hilfsarbeiter in einem Filmstudio. 24 Da sein Lohn nicht ausreicht, arbeitet Carmen zusätzlich als Näherin; außerdem nimmt sie zu Juans Missfallen häufig an Preisausschreiben teil und geht leidenschaftlich gerne ins Kino. Die Wohnverhältnisse sind beengt, die Stromversorgung unzuverlässig und vor allem Juan ist zunehmend frustriert darüber, dass er seiner Frau nicht mehr bieten kann. Eines Tages jedoch, mitten im größten Ehestreit, erfahren sie, dass sie für einen Hauptgewinn ausgelost worden sind: Gesponsert von einer Seifenfabrik dürfen sie 24 Stunden lang den Titel „Esa pareja feliz“25 tragen: Sie erhalten einen Wagen mit Chauffeur, werden in den edelsten Restaurants zum Essen gebeten, dürfen in verschiedenen Geschäften gratis einkaufen und die beste Revue der Stadt sehen. Dieses gekaufte, kommerzielle Glück erweist sich jedoch schnell als fragwürdige Angelegenheit – die teuren Schuhe sind unbequem und von minderer Qualität, das exquisite Menü exotisch und nicht eben reichhaltig und der Chauffeur des bereitgestellten Wagens muss sich an exakt vorgegebene Stationen halten, die das „glückliche Paar“ im Sinne des Sponsors zu passieren gehalten ist. Am Ende des Tages entscheiden sich die beiden dafür, die materiellen Güter, die sie gewinnen, an eine Reihe von Obdachlosen zu verschenken und ihr Leben in dem Bewusst-

23 Zu den Produktionsumständen vgl. CERÓN GÓMEZ, 1998, S. 80-94. 24 Als parodistischer Verweis ziert das Studio ein dem Logo der Cifesa, Spaniens Filmindustrie unter Franco, sehr ähnliches Logo. Die Cifesa produzierte hauptsächlich regimekonforme Filme, die eine gefällige Haltung gegenüber Religion, Vaterland und Familie zur Schau stellten (ebenso wie der zu Beginn von Esa pareja feliz dort abgedrehte Historienfilm). Zur Cifesa vgl. EVANS, 1995, S. 215. 25 („Dieses glückliche Paar“). Sofern nicht anders angegeben, wurden alle hier angeführten Übersetzungen von der Verfasserin angefertigt.

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sein weiterzuleben, dass das wertvollste Gut, das sie besitzen, die Liebe zueinander ist. Esa pareja feliz beginnt mit einem Spiel im Spiel bzw. mit einem Film im Film, denn die erste Szene ist inmitten von Dreharbeiten zu einem klassischfranquistischen Historienfilm angesiedelt, an dem Juan als Bühnenarbeiter beteiligt ist. Der Zuschauer wird Zeuge eines Dialogs zwischen einer Königin und einem Edelmann. Letzterer will die Königin dazu bringen, ein Dokument zu unterzeichnen, was diese mit den Worten ablehnt, dass sie lieber den Tod wähle, anstatt ihren Namen unter das besagte Schriftstück zu setzen. Das Bühnenbild trägt ein mittelalterliches Dekor. Im Hintergrund sind Arkaden in teils mudejarischem, teils mozarabischem sowie flämischem Stil zu sehen.26 Dieses ästhetische Potpourri verweist zum einen auf die Einverleibung der burgundischen Niederlande durch die spanische Krone im 16. Jahrhundert27 und entspricht damit der franquistischen Absicht, sich in die Tradition jenes ‚Goldenen Zeitalters‘ zu stellen. Zum anderen deutet die Kulisse auf die Reconquista und damit auf die Vertreibung nicht konversionsbereiter Juden aus Spanien im späten 15. Jahrhundert, auf die sich Franco gerne bezog, um die Vertreibung bzw. Ermordung der Republikaner im Bürgerkrieg zu legitimieren. Die Mischung von mozarabischen und mudejarischen Elementen28 aber verweist zugleich auf die (friedliche) Koexistenz von Christen und Mauren bzw. auf die Wechselseitigkeit der Herrschaftsverhältnisse. Die franquistische Bezugnahme auf eine glorifizierte Vergangenheit, mittels derer die militärischen Auseinandersetzungen der Gegenwart legitim scheinen sollen, wird hier also bereits über die Kulisse parodiert. Als die Königin sich schließlich wie angekündigt in die Tiefe – also von der Bühne – stürzt, gelingt es Juan und den anderen Bühnenarbeitern nicht, sie aufzufangen. Die Schauspielerin landet auf dem Betonboden und verliert das Bewusstsein: Eine komische Inszenierung des Um26 Vgl. hierzu die Credits im Originaldrehbuch zu Esa pareja feliz. Die Schauspielerin Lola Gaos parodiert hier Aurora Bautista in dem Film Locura de amor (Juan de Orduña, 1948). Vgl. PAVLOVIC, 2003, S. 59. 27 Vgl. NORTH, 2008, S. 18-21. 28 Die Mozaraber waren ein Teil der hispanogotischen Bevölkerung, der im Zuge der maurischen Eroberung seinen christlichen Glauben behalten hatte, aber ‚die kulturelle Überlegenheit der Araber‘ anerkannte. Als Mudejaren bezeichnet man diejenigen Muslime, die nach der Besetzung Toledos und dessen Umkreis durch die Kastilier-Leonesen unter christliche Herrschaft gekommen waren. Sie durften in ihrer Heimat bleiben und ihre Religion ausüben. So nahmen sie auch weiterhin Einfluss auf die christliche Kultur. Vgl. BOLLÉE/NEUMANN-HOLZSCHUH, 2007, S. 44-46.

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stands, dass derjenige, der sich auf die franquistische Geschichtstransformation und die hiermit einhergehende Unterhaltungskultur wie z. B. das regimegefällige Theater einlässt, damit rechnen muss, auf dem harten Boden der Tatsachen aufzuschlagen. Bezeichnenderweise wiederholt die Schauspielerin, als sie kurz darauf aus ihrer Ohnmacht erwacht, mechanisch jene Worte, die die von ihr verkörperte Königin kurz vor ihrem Bühnentod ihren Gegnern entgegenschleuderte: „Firmar, firmar … ¡No firmaré jamás, jamás!“29 Die Weigerung, ihre Unterschrift zu leisten, lässt sich im lacanianischen Sinne als Weigerung lesen, in die sprachlich strukturierte symbolische Ordnung, mithin in den herrschenden (franquistischen) Diskurs einzutreten. Wenn die Unterschrift, also das ‚Ja‘ des Subjekts zur symbolischen Ordnung fehlt, bleibt auch das Gesetzdes-Vaters auf der Strecke. Der Umstand, dass die Schauspielerin unmittelbar nach Ausspruch der Worte erneut das Bewusstsein verliert, also in einer Art imaginären Starre verharren muss, verweist allerdings darauf, dass ein solcher Austritt aus der symbolischen Ordnung nicht ohne Weiteres, sondern nur um den Preis der Entsymbolisierung zu haben ist. Dies bekommen Juan und Carmen gegen Ende des Films noch selbst zu spüren, als sie auf eine Polizeistation zitiert werden, weil sie es gewagt haben, der diskursiven Vorstellung vom ‚Glück‘ zu widersprechen.30 Welcher Art dieses Glück zu sein scheint, erfahren wir in einer kurz auf die Theaterprobe folgenden Sequenz. Carmen hat Juan einen Zettel hinterlassen, wonach er sie und sein Abendbrot im Kino finde. Man sieht Carmen, wie sie, einen bocadillo (belegtes Brot) verzehrend, andächtig auf die Leinwand blickt. Die Szene im Hollywoodfilm – offensichtlich eine romantische und politisch unbedenkliche Liebesgeschichte – zeigt einen Mann und eine Frau auf einem Ozeandampfer. Das Gespräch der beiden dreht sich um Glück: „Soy feliz“, „Cuando desembarques, llevarás en tu equipaje la felicidad“ oder „La felicidad que encontramos“31. Die sichtbare Verzückung Carmens angesichts der Filmhandlung und das Verzehren des bocadillo verweisen auf den typischen ‚Brotund-Spiele‘-Topos des römischen Reichs und lassen sich im Sinne eines politisch weitestgehend passiven spanischen Volks lesen, das sich mit der gegenwärtigen Situation arrangiert, solange genügend Zerstreuung zur Verfügung steht. Juan torpediert allerdings die Illusion, denn kaum im Kino angekommen, 29 („Unterschreiben, unterschreiben … Ich werde niemals unterschreiben, niemals!“) 30 Siehe unten. 31 („Ich bin glücklich“; „Wenn du von Bord gehst, nimmst du in deinem Gepäck das Glück mit dir“; „Das Glück, das wir gefunden haben.“)

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beginnt er sofort damit, Carmen zu erklären, wie bestimmte Kameraperspektiven zustande kommen und wie unrealistisch die Handlung sei. Carmen lauscht seinen Ausführungen weitestgehend unberührt, doch ein anderer Zuschauer beklagt sich bei Juan lauthals darüber, dass er den Film – und damit die anheimelnde Illusion – störe. Juan wird hier als potentieller Destruktor einer franquistisch intendierten imagined community inszeniert, ist er doch aufgrund seiner technischen Bildung und seiner Arbeit im Filmstudio in der Lage, hinter die Kulissen der Filmproduktion zu sehen und somit womöglich auch die Rhetorik des Staates selbst zu entlarven.32 Als die Filmvorführung zu Ende ist – nicht ohne dass der Happy-End-Kuss der Protagonisten aus Zensurgründen herausgeschnitten wurde –, folgt die Werbung des Seifenfabrikanten Florit, der den „Esa-pareja-feliz-Preis“ auslobt. Auch hier liegt der Fokus auf dem Thema Glück. Der Werber auf der Leinwand zeigt mit ausgestrecktem Arm ins Publikum und sagt eindringlich: „¡Usted puede ser feliz! ¡Y usted! ¡Y usted!“33 Er berichtet in blumigen Worten, welche Erlebnisse das Gewinnerpaar erwarten. Bezeichnenderweise sind die Einkäufe in teuren Geschäften, das Speisen in edlen Lokalen und vor allem der angekündigte Revuebesuch vollkommen diskurskonform: Sie reden einer neuen Konsum- und Eskapismusideologie das Wort, die das Regime propagiert und als vollkommenes Glück ausweist.34 Kein Wunder also, dass Juan kurze Zeit später Carmen tadelt, die sofort mit dem Kauf von allerlei FloritProdukten beginnt, um den Hauptgewinn zu erlangen. Es folgt nun eine längere Rückblende: Das Paar, frisch verheiratet, besichtigt seine jetzige Wohnung. Alle Nachbarn heißen sie freundlich als zukünftige Mieter willkommen. Die Wohnung steht hier symbolisch für das ‚nationale Haus‘35 – also das Haus als Symbol des (spanischen) Staats: Durch die Hochzeit sind Carmen und Juan – der eigentlich nie heiraten wollte – in die symbolische Ordnung des Franquismus eingeordnet und Teil der imagined community augenscheinlich zufriedener Ehepaare geworden, die in fast identischen 32 Es wäre daher zu einfach, Juans Intervention als „geekish insistence on explaining the mechanisms of a travelling shot or a rear projection“ (FAULKNER, 2013, S. 70) abzutun, wie Sally Faulkner es tut. 33 („Sie können glücklich sein! Und Sie! Und Sie!“) 34 Zum Eskapismus der franquistischen Revues sowie der übrigen ‚Evasionskultur‘ vgl. CARR/FUSI, 1983, S. 94f., 118-121. 35 Das ‚nationale Haus‘ ist eine gerade im jüngeren politischen Diskurs häufig verwendete Metapher. So ist etwa das ‚gemeinsame europäische Haus‘ ein beliebter Topos bei den Ost-West-Debatten der späten 1980er Jahre. Vgl. hierzu CHILTON/ILYIN, 1993.

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Wohnungen leben, deren Alltag vermutlich ähnlich abläuft wie derjenige der Protagonisten und die zu belegen scheinen, dass es sich in der franquistischen Gesellschaft gut leben lässt. Die Symbolisierung scheint perfekt, als Juan kurze Zeit später sein Diplom erhält. Vermeintlich vollends in der symbolischen Ordnung angekommen, die ihn in seiner Identität als Elektriker zu verorten verspricht, geht Juan voller Optimismus davon aus, dass er nun bald eine gut bezahlte Stelle bekleiden wird. Diese Hoffnung trügt jedoch, denn obwohl Juan Kurs um Kurs absolviert und schließlich vier Diplome sein Eigen nennen darf, bekommt er die ersehnte Anstellung nicht. Dies ist ein bitter-ironischer Verweis auf ein politisches System, das die Subjekte zwar innerhalb eines repressiven Diskurses verankert, die symbolische Ordnung letztlich aber jene Identitätszuweisungen, die sie verspricht, nicht einhalten kann. Anders als Carmen, die versucht, sich mit der Situation zu arrangieren, findet sich Juan denn auch in der Wohnung und somit im übertragenen Sinne auch im ‚nationalen Haus‘ nicht gut zurecht: Als der Strom ausfällt, weiß er nicht, wo die Möbel stehen und stößt im Halbdunkeln beim Gang durch den Flur an Gegenstände. Als die beiden schließlich, von der Rückblende in die Gegenwart zurückgekehrt, die Nachricht vom Hauptgewinn erreicht, zeigt Juan im Gegensatz zu seiner Frau zunächst keinerlei Interesse daran, die vorgegebenen Stationen abzufahren (z. B. ein Bestattungsinstitut oder das Schuhgeschäft Luxor). Er beklagt sich im Gegenteil darüber, dass das Auto, steht es schon einmal zur Verfügung, einen nicht dorthin transportiert, wo es tatsächlich von Nutzen wäre.36 Die Wege zum ‚Glück‘ sind also diskursiv vorgeschrieben und keine individuelle Verhandlungsfrage: „Hay que cumplir“ 37 wiederholt der Veranstalter, man muss die Vorschriften einhalten und das genießen, was der Diskurs den Subjekten zu genießen vorgibt.38 Als die beiden schließlich doch noch 36 Juan möchte das Auto nutzen, um einen Geschäftspartner zur Rede zu stellen, der ihn betrogen hat. 37 Etwa: („Man muss (es) befolgen!“) 38 „Heute […] werden wir von allen Seiten mit der Aufforderung bombardiert, zu genießen. ‚Enjoy!‘, lautet das Kommando – vom Sexualgenuss bis zum Genießen professioneller Leistung oder spiritueller Erweckung. […] Die Psychoanalyse ist heute der einzige Diskurs, der es uns erlaubt, nicht zu genießen […].“ ŽIŽEK, 2006. Román Gubern hat daher recht, wenn er in dem Film den Druck des neuen konsumkapitalistischen Wettbewerbs erkennt, der in der kollektiven Psychologie der Bevölkerung Spuren hinterlässt. Vgl. GUBERN, 1981. Auch wenn Žižek hier von der zeitgenössischen Postmoderne spricht, lässt sich der Befehl zu genießen, doch gerade in Esa pareja feliz äußerst deutlich veranschaulichen. Der im Folgenden be-

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gemeinsam das ebenfalls im Programm enthaltene Vergnügungslokal besuchen, versucht der Moderator, die pareja feliz ins Spotlight zu rücken und dem übrigen Publikum als glückliche Gewinner vorzustellen. Da Juan und Carmen jedoch im stillen Einvernehmen blitzschnell ihre Tischkarte umklappen, auf der sie als pareja feliz ausgewiesen werden, hält man ein anderes Paar für die Preisträger. Dieses erhebt sich daraufhin von seinem Tisch, begibt sich auf die Bühne und gibt eine revueähnliche Gesangs- und Tanzeinlage zum Besten. Moderator und Publikum zeigen sich mit der Darbietung höchst zufrieden, bestätigt das falsche Paar doch somit performativ die diskursive Vorstellung ehelichen Glücks: Das Glück, das die Tänzer ausstellen, ist normativ und politisch ungefährlich, wie das eskapistische Genre der Revue, das durch den Tanz aufgerufen wird, beweist. Das Publikum lässt sich von dem Refrain, den das ‚falsche Paar‘ anstimmt, mitreißen und beginnt die Worte „pareja feliz“ mitzusingen. Diese Szene illustriert sehr deutlich die ideologische Interpellation des Subjekts und seine Verortung im Nom-du-Père: Indem das Publikum den Refrain mitsingt, erlernt es gewissermaßen die Sprache des Vaters und fügt sich somit in die ideologisch vorgeprägte symbolische Ordnung ein. Die Verinnerlichung einer Strophe, die eine bestimmte Form von Glück besingt, ist gleichbedeutend mit der (unbewussten) Übernahme des politischen Diskurses, der die Natur dieses Glücks festgelegt hat: Die Ehe, teure Schuhe, eine harmlosstumpfsinnige Revue, die Teilnahme an der langsam entstehenden, politisch eher teilnahmslosen Konsumgesellschaft der 50er Jahre.39 Auch Carmen wird vom Refrain angesteckt und beginnt mitzusingen, bricht aber ab, als sie von Juan in die Seite gepufft wird. Kurz darauf wendet sich der männliche Part des Tanzduos explizit an die beiden; er blickt ihnen in die Augen, lehnt sich in Artistenmanier über ihren Tisch, singt dabei immerfort den Refrain und animiert das begeisterte Publikum dazu, mit ihm gemeinsam Juan und Carmen zum Einstimmen zu bewegen, denn schließlich seien doch auch sie „ein glückliches Paar“. Die Gäste rufen denn auch „pareja feliz, ¡sí, trachtete Film La vida por delante scheint in dieser Hinsicht eine Synthese zu bilden, geht es hier doch ebenfalls um die Problematisierung des Konsums und zugleich um die Freud’sche Psychoanalyse, die für Žižek das einzige Mittel ist, dem auferlegten Genießen zu entgehen. 39 Ich würde daher auch Jo Labanyi nicht zustimmen wollen, die das spanische Wirtschaftswunder der 60er Jahre als Beginn einer ‚post-ideologischen‘, selbstbestimmteren Ära interpretiert, ist es doch vielmehr so, dass der konsumkapitalistische Diskurs jener Jahre den falangistischen und atavistisch-religiösen Autarkiediskurs ablöst, der das Regime in seiner Konsolidierungsphase begleitet hatte. Vgl. LABANYI/GRAHAM, 1995, S. 258.

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sí!“40 und zeigen dabei mit den Fingern auf die beiden, die sich im Fokus der Menge zusehends unbehaglicher fühlen. Die Sequenz zeigt eine gescheiterte Interpellation: Juan und Carmen sollen dem diskursiven Befehl des Genießens entsprechen und öffentlich bezeugen, dass sie ein Paar sind, das der Glücksvorstellung des Franquismus, aber auch des Konsumkapitalismus entspricht, und sie insofern ideologiereproduzierende Agenten der symbolischen Ordnung sind. Der Refrain, die Zeigegesten und das dem (politischen) Gehorsam vorauseilende „¡Sí, sí!" fungieren als ideologische Anrufung. Carmen und Juan gehorchen ihr jedoch nicht41 – das Prinzip der imagined community, mit dem sie sich zu Beginn ihrer Ehe, als sie das ‚nationale Haus‘ bezogen haben, noch identifizieren konnten, greift nicht mehr. Ein paar Jahre und mehrere desillusionierende Erlebnisse hinsichtlich ihrer finanziellen und beruflichen Situation später, erkennen sie sich nicht mehr als Teil der Gemeinschaft,42 sondern als Außenseiter in einer Gesellschaft, die von einer finanzstarken haute bourgeoisie – d. h. den Gewinnern des Bürgerkriegs – dominiert wird und in der kein Raum für die Erfüllung individueller Bedürfnisse ist. Der Identitätszuweisung als „pareja feliz“, die die Werbe- und Populärkulturindustrie den beiden im Rahmen der ideologischen Anrufung aufdrängen will, können und wollen sie daher nicht entsprechen. Juan widersetzt sich denn auch dem Eintritt in die sprachlich strukturierte symbolische Ordnung, indem er dem entnervenden Sänger kurzerhand einen Kinnhaken verabreicht. Durch diesen nonverbalen ‚Befreiungsschlag‘, der den Agenten der Interpellation ohnmächtig umsinken und somit verstummen lässt, durchkreuzt Juan ein weiteres Mal den Diskurs und verweigert sich dem von Franco beherrschten Nom-du-Père. Da der Kinnhaken eine Prügelei unter den Gästen auslöst, werden Juan und Carmen auf eine Polizeiwache zitiert, wo sie der „Verursachung eines Skandals auf einer Tanzveranstaltung“ beschuldigt und aufgefordert werden, sich auszuweisen. Bezeichnenderweise führen jedoch beide keinen Pass mit sich (das einzige 40 („Glückliches Paar, ja, ja!“) 41 Sie identifizieren sich nicht mit der imaginären Anrufung – daher gelingt es ihnen (scheinbar), die auf die Identifizierung folgende Positionsnahme innerhalb der symbolischen Ordnung – der Ideologie – auszusparen. Dass ein Leben des Subjekts außerhalb der Ideologie jedoch im Grunde nicht möglich ist – Ideologie ist unhintergehbar –, wird im nächsten Film deutlich werden. Vgl. hierzu ACKERMANN, 2009, S. 32-34. 42 Wie Kathleen M. Vernon es ausdrückt: „In this context, Juan’s striving for upward mobility through a series of correspondence courses and disastrous stabs at entrepreneurship are revealed as no less an illusion than Carmen’s attraction to films.“ VERNON, 2003, S. 258.

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Dokument, mit dem sie sich ‚ausweisen‘ können, ist das Zertifikat des Seifenherstellers, das besagt, dass es sich bei ihnen um die „pareja feliz“ handelt). Da sie eines Personalausweises, also dem Element der identitätsstiftenden symbolischen Ordnung schlechthin, entbehren 43 und außerdem keinerlei Anstalten machen, sich zu erklären (sie bleiben also wie schon beim Tanz weiterhin stumm), sind sie in den Augen des Polizeibeamten offensichtlich ‚desymbolisiert‘: Statt einer Strafe erhalten sie nur die barsche Aufforderung, das Gebäude zu verlassen. Auf der Straße verschenken die beiden sämtliche Einkäufe an zahlreiche Obdachlose, die noch schlafend auf den eine Straße säumenden Sitzbänken liegen. Nachdem die vielen Pakete und Schachteln sie nicht mehr behindern, können sie sich nun in die Arme fallen und sich – von der Kamera im Rahmen der Zensurbestimmungen nur angedeutet – den obligatorischen Happy-End-Kuss geben, der den Film endgültig ins Genre der romantischen Liebeskomödie einreiht. Viel wichtiger als diese vordergründige Zuordnung scheint mir jedoch die Rückbindung der Protagonisten von der symbolischen Ordnung ins Feld des Imaginären. Der Besuch der Tanzveranstaltung markiert den Beginn ihres Austritts aus dem Symbolischen. Sie schweigen, treten also aus der Sprache aus und antworten mit nonverbaler Gewalt auf die diskursive Interpellation. Wenn sie sich in der letzten Szene zugunsten einer harmonischen Paarbeziehung von den Waren, die die konsumkapitalistische Ordnung symbolisieren, ‚befreien‘, so betreten sie damit die imaginäre Struktur der vorsymbolischen Dyade und ziehen sich in den Wunschtraum einer allein von individueller Liebe bestimmten Zweisamkeit zurück, zu der der offizielle Diskurs keinen Zutritt hat. Endet Esa pareja feliz mit dem Austritt der Protagonisten aus der symbolischen Ordnung und der Regression in die imaginäre Dyade, so scheint in dem sieben Jahre später gedrehten Film La vida por delante die entfernte Möglichkeit einer neuen, sich vom franquistischen Diskurs emanzipierenden imagined community aufzuscheinen.44 Hierfür gilt es allerdings, dem von Carmen und Juan in Esa pareja feliz metonymisch vertretenen Volkskörper,45 der sich all43 Bezeichnenderweise nahmen die Zensoren hieran Anstoß und verlangten im Vorfeld, die Hinweise darauf, dass das Paar sich nicht ausweisen kann, weniger explizit zu gestalten. Vgl. CERÓN GÓMEZ, 1998, S. 81. 44 Die dem Film innewohnende Kritik scheint mir daher auch bei Weitem nicht so schwach und abgemildert zu sein, wie bspw. Bernard P.E. Bentley behauptet. Vgl. BENTLEY, 2008, S. 145. 45 Nicht von ungefähr tragen die Protagonisten jene ‚klassischen‘ spanischen Vornamen schlechthin, die hier weniger intertextuell auf ihre berühmten Namensgeber,

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mählich gegen den herrschenden Diskurs aufzulehnen beginnt, aufzuzeigen, dass der Ausstieg aus dem franquistischen Nom-du-Père nicht ohne Weiteres möglich ist und diverse strukturelle wie emotionale Veränderungen mit sich bringt: z. B. den Abschied vom traditionellen Geschlechter-Modell.

La vida por delante (1958): Freuden und Leiden des Diskurses Fernando Fernán-Gómez, der im zuvor besprochenen Film bereits Juan verkörpert hatte, führt Regie und spielt zugleich die männliche Hauptrolle in La vida por delante (etwa: Das Leben liegt vor uns). Wieder geht es um ein junges Paar: Antonio, ein angehender Anwalt, und Josefina, eine Medizinstudentin, lernen sich an der Universität kennen und verlieben sich ineinander. Trotz des anfänglichen Widerstands ihrer Eltern heiraten die beiden, nachdem Antonio seine letzte Prüfung bestanden hat. In der ersten Zeit ihrer Ehe sind sie wegen Geldmangels gezwungen, in der Wohnung von Antonios Eltern zu leben. Beide hoffen, schnell eine eigene Wohnung zu finden, doch Antonio erhält keine Anstellung als Rechtsanwalt und verdingt sich darum als Zeichner, als Staubsaugervertreter, als Moderator, als Bühnenstatist und als Geschichtslehrer. Als er schließlich doch in einer Kanzlei unterkommt, verliert er seinen ersten Prozess – in dem er ausgerechnet seine Ehefrau in einer Lappalie vertritt – und wird wieder entlassen. Da Josefina, zum Missfallen Antonios, beschließt, eine psychologische Praxis zu eröffnen, können die beiden schließlich doch ein eigenes Appartement beziehen. Obwohl dort laufend der Putz abbröckelt, das Warmwasser und der Aufzug nicht funktionieren und aufgrund der Beengtheit Möbelstücke verrückt werden müssen, um die Türen öffnen zu können, fühlen sie sich zunächst recht wohl dort, auch wenn Antonio weiterhin angestrengt nach einer Anstellung sucht. Als er eines Tages dahinter kommt, dass Josefina in ihrer Freud’schen Psychoanalyse-Praxis in Ermangelung anderer Patienten hauptsächlich Männer behandelt, die Neurosen vorschützen, um sich von der attraktiven Ärztin behandeln zu lassen, verlangt er von ihr, die Praxis zu schließen. Zeitgleich stellt sich heraus, dass Josefina schwanger ist und daher ohnehin bald ihre Arbeit aufgeben muss. Niedergeschlagen stehen den Frauenhelden Don Juan und die Zigeunerin Carmen, verweisen, als vielmehr eine symbolische, typisierende Funktion der Figuren nahe legen.

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die beiden in einer der letzten Szenen vor einem Babybekleidungsgeschäft und fragen sich, wie es nun finanziell weitergehen soll, stehen sie doch wieder dort, wo sie begonnen haben. Da begegnet ihnen plötzlich Antonios alter Studienkollege Manolo, der seinem ehemaligen Kommilitonen schon wiederholt Stellen verschafft hat. Doch Manolo ist nicht allein: Mit ihm in einem Cabriolet sitzen drei alkoholisierte Frauen, mit denen er sich zu amüsieren scheint. So grüßt er die beiden auch nur kurz, ergeht sich in Allgemeinplätzen von der Liebe und dem wunderbaren Eheglück, das Antonio und Josefina genießen und das ihm stets verwehrt bliebe, dann fährt er weiter. Das Paar steht derweil unter einem symbolträchtigen Einbahnstraßenschild und ruft ihm nach „¡Te esperamos! ¡Te esperamos!“ 46 So endet der Film ohne klassisches HappyEnd.47 Ähnlich wie in Esa pareja feliz, jedoch noch expliziter, wird auch die Liebe zwischen den Protagonisten in La vida por delante von vorneherein als nicht mit dem herrschenden Diskurs vereinbar ausgewiesen. Dies zeigt sich an dem Umstand, dass Antonio sämtliche juristischen Kenntnisse einer Amnesie gleich vergisst, als er sich in Josefina verliebt. Er ist nicht imstande, seine Examina zu bestehen und wird daher von den Eltern als krank bzw. schwachsinnig eingestuft, haben diese doch niemals etwas Ähnliches erlebt, obwohl sie seit Jahrzehnten ineinander verliebt seien. Die alte Generation heiratete und verliebte sich demnach in ‚normativen Bahnen‘ und wird nun von der Jugend mit einer neuen, mit dem Diskurs schwerer zu vereinbarenden Art der Liebe konfrontiert. Erst als Antonio schließlich doch sein Juradiplom erlangt, dürfen die beiden heiraten, und ähnlich wie Juans Elektrikerdiplom fungiert hier ein großformatiger Bilderrahmen mit Fotos aller Juraabsolventen des Jahrgangs als Verweis auf Antonios (vorläufige) Symbolisierung innerhalb einer vorgestellten Gemeinschaft von Anwälten. Bald darauf wird Antonio jedoch aus dieser vorgestellten Gemeinschaft ausgestoßen, denn er verliert seine Stelle. Bezeichnenderweise geschieht dies wiederum aufgrund seiner überaus glücklichen und damit offenbar nicht konformen Ehe, denn sein Vorgesetzter entschließt sich, die Kanzlei aufzugeben und selbst zu heiraten, nachdem Antonio ihm von seinen positiven Erfahrungen berichtet hat. Daraufhin versucht dieser sich in mehreren Nebenjobs, während Josefina ihm zuliebe vorerst darauf 46 („Wir warten auf dich!“) 47 Aufgrund des großen kommerziellen Erfolgs von La vida por delante wurde ein Jahr später eine Fortsetzung mit dem Titel La vida alrededor (etwa: Mitten im Leben) produziert.

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verzichtet, als Ärztin zu praktizieren. Sie darf also morgens liegen bleiben, wenn Antonio zur Arbeit muss. In einer Einstellung sieht man das Paar schlafend im Bett. Auf dem Nachttisch steht ein Aschenbecher mit vielen ausgedrückten Zigaretten und einigen frischen, die daneben liegen. Dann schrillen kurz hintereinander mehrere Wecker. Die beiden beginnen einen Streit darüber, welches Weckers man sich entledigen solle und der Zuschauer erfährt, dass allesamt Geschenke an die Frischvermählten waren: Die Wecker wurden ihnen u. a. von einem ehemaligen Dozenten Antonios und von Freund Manolo verehrt. Während also die gerauchten und frischen Zigaretten auf die ‚Zigarette danach‘, also das überaus rege Liebesleben der Protagonisten hinzudeuten scheinen und einmal mehr die offensichtlich ausgesprochen glückliche Zweisamkeit der beiden ausstellen, sind die Wecker Agenten des Symbolischen. Sie sind erstens Geschenke von Personen, die fest in der symbolischen Ordnung verwurzelt sind (und dauerhafte, gut bezahlte Stellen haben), zweitens reißen sie Josefina und Antonio jeden Morgen aus ihrer imaginären Dyade zweisamer Glücksseligkeit und schicken Antonio zu seiner ungeliebten Arbeit, die dazu dient, ihn innerhalb der herrschenden Ordnung zu verorten und als deren Subjekt zu interpellieren. Dies wird besonders gut an Antonios vorübergehender Tätigkeit als Moderator eines Kabaretts deutlich. Seine Aufgabe besteht darin, einzelne Revuekünstler anzukündigen. Die Revue steht, wie schon bei Esa pareja feliz gesehen, für eskapistische Unterhaltungskultur schlechthin und ist somit vollkommen diskurskonform. Antonio macht seine Aufgabe gut, weil sich eine juristische Ausbildung ausgezeichnet für diese Tätigkeit eignet, wie ein Gast anerkennend äußert. Dies verwundert nicht, ist doch der Anwalt als exekutives Element derjenige, der die Gesetze-des-Vaters täglich anwendet und hierdurch performativ bestätigt. Er bewegt sich also, ebenso wie die Revuekünstler, im herrschenden Diskurs, mithin in der (juristischen) Sprache des Vaters. Eines Abends vor dem Schlafengehen aber verabreicht Josefina Antonio nichtsahnend eine Arznei, die angeblich die Eigenschaft habe, die Stimme zu klären. Zu seinem Schrecken ist er jedoch am nächsten Morgen so heiser, dass er kein verständliches Wort über die Lippen bringt. Er muss daher die Arbeit aufgeben. Was zunächst angesichts der angespannten finanziellen Lage des Paares wie ein großes Unglück scheint, ist tatsächlich ein Akt der Emanzipation für Antonio: Denn durch die Heiserkeit befindet er sich nicht mehr am Ort der Sprache, kann dem Diskurs buchstäblich nicht das Wort reden und emanzipiert sich hierdurch unfreiwillig von der symbolischen Ordnung des Nom-du-Père. Seine nächste Anstellung allerdings wirft ihn direkt in jene

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Ordnung zurück: Obwohl er keine Lehrerausbildung hat, arrangiert Manolo, dass er an einer Mädchenschule unterrichten darf, u. a. Geschichte. Die Kamera zeigt ihn erstmals im Klassenzimmer, als er offenbar schon mehrere Unterrichtseinheiten gelehrt hat. Die Klasse ‚begrüßt‘ ihn mit zwei in der Pultschublade versteckten lebenden Tauben und einem Tafelbild, auf dem steht „La primavera ha venido, nadie sabe como ha sido“48. Dies sind die ersten beiden Verse eines Gedichts des republikanischen – und daher unter Franco verbannten – Künstlers Antonio Machado. 49 Darunter steht: „¡¡Déjese de historias, señor profesor!!“50 Diese Redewendung verweist in diesem Kontext gemeinsam mit den weißen Tauben wohl u. a. darauf, dass Antonio auf die Liebeswerbung einer seiner Schülerinnen eingehen soll, der es vor Verliebtheit nicht gelingt, ihre Aufmerksamkeit dem Lehrstoff zu schenken. Andererseits bedeutet „dejarse de“ eigentlich „mit etwas aufhören“, während „historia“ sowohl die Geschichte im Sinne von Historie als auch „Märchen“, also erfundene Geschichte, bedeuten kann. Die Kritik scheint also doppelt gelagert zu sein: Auf der einen Seite spricht Fernán Gómez hier gleich zwei franquistische Tabus an: Den Ehebruch, den Antonio begehen würde, ginge er auf das Werben der Schülerin ein, zweitens die unvorstellbare amouröse Beziehung zwischen Schülerin und Lehrer. Auf der anderen Seite verweist die Isotopie ‚Geschichtsunterricht – Geschichten erzählen‘ subtil auf die Praxis der franquistischen Geschichtstransformation. Besonders im Erziehungswesen legte das Regime Wert auf seine eigene Darstellung der Geschichte und gab tendenziöse Lehrbücher in Auftrag, die das ‚Goldene Zeitalter‘ und die Reconquista heroisch überformten, Republikaner, Anarchisten und Antiklerikale verdammten und damit eine äußerst einseitige Geschichte Spaniens zeichneten, die die junge Generation zu Franquisten erziehen sollte.51 Daher beklagt sich auch die verliebte Schülerin Antonios darüber, dass alle Geschichtslektionen immer nur 48 („Der Frühling ist gekommen, niemand weiß, wie es gekommen ist.“) 49 Antonio Machado gilt als bedeutendster Dichter der Generation von 98. Er schuf kritische, reflektierende Gedichte, die Spanien in seiner Ambivalenz und Problematik, gerade auch hinsichtlich seiner Geschichte zeigen. Wie Heinz Willi Wittschier es ausdrückt: „Machado verweilt nicht bei reizvoller Natur, historischem Glanz, sondern stößt auf Unwissenheit, Gleichgültigkeit, Grausamkeit, Schuld. […] Machado hinterlässt ein Spanienbuch des Schmerzes über den Niedergang der Heimat, ein philosophisches Werk, in dem beharrlich tiefsinnig Zeit, Altern, Vergessen, Vergessenwerden überdacht werden.“ WITTSCHIER, 1993, S. 278. Machado stirbt 1939 auf dem Weg ins französische Exil (vgl. EBD.). 50 Etwa: („Kommen Sie zur Sache, Herr Lehrer!“) 51 Vgl. hierzu z. B. BOYD, 1997, S. 241-262.

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vom selben Thema (vermutlich von Heldenhaftigkeit und Tugend des ‚wahren‘ Spaniens) handelten. Wenn der señor profesor also im Wortsinne aufhören soll, „Geschichten zu erzählen“, so bedeutet dies im Verein mit den Versen Machados, dass er davon ablassen soll, franquistische ‚Märchen‘ zu verbreiten und stattdessen ein dialogisches Bild der spanischen Vergangenheit vermitteln soll, das den Kontrahenten beider Seiten Gehör schenkt. Um diese Problematik weiß Antonio offenbar selbst, äußert er doch die Befürchtung, dass man ein sehr einseitiges Bild der Geschichte erhalte, wenn stets nur eine Schülerin (die Klassenprima) die behandelten Lektionen referiere: Dieselbe Problematik stellt sich auch durch die einseitige Geschichtsvermittlung bzw. -transformation in der Diktatur. Was geschieht, wenn Vergangenes nur aus einer Perspektive berichtet wird, inszeniert eine spätere Szene im letzten Drittel des Films. Antonio hat seiner Frau einen Biscúter geschenkt, einen seifenkistenartigen Kleinwagen (microcoche), der später vom Seat 600 abgelöst wurde.52 Kurz darauf erleidet – oder verursacht – Josefina mit dem Wagen einen Unfall ohne Personenschaden. Antonio, der inzwischen wiederum durch die Hilfe Manolos als einer von mehreren Anwälten in einer Kanzlei arbeitet, soll sie im erwarteten Prozess verteidigen. Zuvor hört und sieht man mittels Rückblende drei Zeugenaussagen zum Unfallhergang: Josefinas, diejenige der Unfallgegner (zwei Lastwagenfahrer) und die eines Passanten. Jede der drei Aussagen unterscheidet sich erheblich von den anderen, und selbst den beiden LKW-Fahrern fällt es schwer, sich auf eine gemeinsame Version zu einigen. Die Sequenz zeigt die unterschiedliche Wahrnehmung von Erinnerung an Geschichte und impliziert, wie unzuverlässig nur eine zugelassene Version derselben ist. Damit wird die im Unterricht evozierte Problematik spielerisch erneut aufgerufen. Im Übrigen zeigt sich hier, dass weder Antonio noch Josefina noch der unbeteiligte Zeuge fest im Nom-du-Père verankert sind, zeichnen sich doch alle drei durch eine Besonderheit in ihrer Sprache aus, die von der Norm abweicht, die sie in der symbolischen Ordnung installieren soll. Der Zeuge stottert heftig, sodass seine Rede lange dauert und schwer verständlich ist. Außerdem gibt er zu, Angst vor der anwesenden Polizei, einem weiteren Agenten der symbolischen Ordnung, zu haben. Antonio wiederum fällt es schwer, sich dem Beamten gegenüber auszudrücken – er stammelt, wirkt unsicher und entbehrt somit des notariellen Habitus. Josefina hingegen hat kein Problem damit, Worte zu finden. Die Besonderheit ihrer Sprache ist jedoch, dass sie schnell und hektisch redet, sodass 52 Vgl. GIMENO VALLEDOR, 2003.

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alle Anwesenden froh sind, als sie verstummt. Wie zur Bestätigung seiner Außenseiterposition verliert Antonio denn auch den Prozess und damit wieder einmal seine Stelle – er ist nun wieder entsymbolisiert, die Gemeinschaft der Anwälte ist ihm ein weiteres Mal verschlossen. Josefina, verärgert über Antonios Versagen, entscheidet nun, endlich eine psychologische Praxis zu eröffnen. Da sie in der Tradition Freuds versucht, ihren Patienten die Erinnerung an eine verdrängte, traumatische Vergangenheit zurückzugeben, spielt Fernán Gómez hier ein weiteres Mal auf die Geschichtstransformation an: Die nach Assmann individuelle Komponente des kollektiven Gedächtnisses, das kommunikative Gedächtnis – also biografische Erinnerungen – tritt hier in Konkurrenz mit dem kulturellen Gedächtnis, das durch Zeremonien, Objektivationen u. a. ‚gestiftet‘ wird.53 Würde sich das Volk seiner verdrängten Traumata erinnern und sie zur franquistischen Geschichtstransformation in Bezug setzen, könnte das den herrschenden Diskurs gefährden. Zwar wird diese potentielle Gefahr im Film dadurch abgeschwächt, dass die männlichen Patienten augenscheinlich nicht krank, sondern vielmehr an Josefina interessiert sind, was Antonio derart in Rage bringt, dass er ihr die weitere Berufsausübung verbieten will. Dass die Überschreitung diskurskonformer Geschlechterrollen (und die ‚Strafe‘, die die Frau hierfür ereilt) hier derart problematisiert wird, zeigt aber vor allem Folgendes: Obwohl sowohl Antonio als auch Josefina, wie oben gezeigt, bereits weitestgehend entsymbolisiert und nicht am Ort der Sprache bzw. des Diskurses sind, fällt es ihnen schwer, vollends aus ihm herauszutreten. So ist Josefina wütend auf Antonios Unfähigkeit, sie vor Gericht zu verteidigen: Sie wünscht sich also einen in der symbolischen Ordnung verwurzelten, dem Gesetz-des-Vaters folgenden Anwalt, der er nun einmal nicht ist. Andererseits steht sie mit der Eröffnung ihrer Praxis und besonders mit der Anwendung der Psychoanalyse in der Tradition Freuds54 selbst außerhalb des Symbolisch-Normativen. Antonio wiederum verhält sich ganz als linientreuer, traditioneller Ehemann, wenn er seiner hochqualifizierten Frau die Ausübung ihres Berufs untersagt, zugleich aber reüssiert er in keinem Beruf, der ihn dauerhaft im Nom-du-Père verorten würde. Eine Alternative zur herrschenden symbolischen Ordnung ist jedoch in jedem Fall nötig, denn wie an der Wohnung des Paares sichtbar ist, bröckelt das 53 Vgl. ASSMANN, 2007 [1992], S. 50 und 56. 54 Freuds Lehren wurden im Franquismus zunächst bekämpft und späterhin diskursiv umgedeutet, um die rigide franquistische Sexualmoral zu stützen, vgl. KREIS, 1990, S. 45. Beides hat Josefina bei der Behandlung ihrer Patienten augenscheinlich nicht im Sinn.

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‚nationale Haus‘ zusehends: Der Putz fällt regelmäßig von der Decke und aus dem Wasserhahn kommt Schmutzwasser. Außerdem hat, wie die Schlussszene zeigt, die tiefe, authentische Liebe zwischen den beiden keinen Platz im System, denn sie ist offenkundig nicht für das Staatswesen produktiv. In den Diskurs passen nur Menschen wie Manolo, der sich darüber bekümmert, keine solch beglückende Zweisamkeit wie seine Freunde erleben zu dürfen, sich aber zugleich mit einem Cabriolet und drei Damen wunderbar zu amüsieren scheint. Der Zugang zum Konsumkapitalismus bleibt Josefina und Antonio im Gegenzug verwehrt. Anders als Carmen und Juan in Esa pareja feliz ist für sie allerdings auch keine Rückkehr in die imaginäre, vorsymbolische Dyade möglich, denn Josefina ist schwanger. Die Zweisamkeit wird somit in Kürze durchbrochen werden und das Neugeborene muss in der Welt verortet, mithin wiederum symbolisiert werden. Die einzige Lösung, die der Film implizit ins Spiel bringt, ist die Bildung einer neuen Gemeinschaft – einer imagined community, die auf anderen Prämissen aufbaut als die bisherige franquistische: Als Antonio auf der Straße ein Selbstgespräch führt (er imaginiert einen Streit mit Josefina), kommt ihm ein Passant entgegen, der ebenfalls Selbstgespräche führt. Beide befinden sich hier aufgrund ihrer speziellen Nutzung der Sprache – die Form des Selbstgesprächs verleiht ihnen den Status des Verrückten – außerhalb der Norm. Dieser Umstand aber versetzt sie potentiell in die Lage, eine neue symbolische Ordnung zu begründen, in der eine andere Art der Sprache, also andere Regeln, Normen und Diskurse herrschen: Der Passant blickt überrascht auf Antonio, erkennt ihn als ‚einen von sich‘ und ruft „Adiós amigo“, bevor er mit seinem eigenen Selbstgespräch fortfährt. Antonio bemerkt ihn jedoch nicht und geht grußlos weiter. So scheint eine neue imagined community in Sichtweite – allerdings wird sie von Antonio noch nicht erkannt. La vida por delante verdeutlicht, dass die Rückkehr in die imaginäre, außersymbolische Dyade, wie sie in Esa pareja feliz angestrebt wird, niemals vollständig gelingen kann. Fernán-Gómez, der beide Filme als Hauptdarsteller und La vida por delante zusätzlich als Regisseur prägt, verleiht dem Wunsch dieser Rückkehr eine gewisse Geneaologie. Der zweite Filme liefert daher eine Art Fazit zu Esa pareja feliz und negiert einen möglichen Austritt des Subjekts aus dem Nom-Du-Père – die Symbolisierung bleibt bestehen, das Imaginäre erweist sich als gesellschaftlich durchkreuzte Wunschphantasie und stellt keine ontologische Option dar. Jeder Spanier ist daher im franquistischen Staatsapparat symbolisiert und gezwungen, mit den Signifikanten des Nom-du-Père, mithin dem Diskurs, zu interagieren. In La vida por delante deutet Fernán-

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Gómez eine Möglichkeit des Umgangs mit Diskurs und Diktatur an, die zwar vordergründig im komödiantischen Register angesiedelt ist, dabei aber subversives Potenzial hat: Die Bildung einer neuen Gemeinschaft devianter Subjekte, die gemeinsam eine neue Form der Sprache und so eine anders strukturierte symbolische Ordnung begründen könnten. Zu diesen devianten Figuren gehören der Selbstgespräche führende Mann auf der Straße, der stotternde Zeuge und auch Josefina und Antonio – sofern es den beiden gelingt, aus der ‚wartenden‘ Position („¡Te esperamos!“) herauszutreten, die sie von der Gunst des Nom-du-Père (hier verkörpert durch Manolo) abhängig sein lässt. Um eine neue Sprache und einen neuen, starken Diskurs errichten zu können, bedarf es daher zunächst eines inneren Wandels der Protagonisten – z. B. hinsichtlich der traditionellen Geschlechterordnung. So muss Antonio Josefinas Beruf nicht nur tolerieren, sondern sie als examinierte Medizinerin anerkennen, die ebenso das Recht auf die Ausübung ihrer Profession hat wie ihr Ehemann. Die mehr oder weniger explizite Misogynie, die beide Filme ausstellen, scheint mir daher auch weniger substanziell getragen als vielmehr Ausdruck und Symptom des Diskurses zu sein. So wird Carmen zwar als naive Frau dargestellt, die sich von Liebesfilmen und Werbung beeindrucken lässt. Tatsächlich aber steht sie damit metonymisch für einen Großteil der – weiblichen wie männlichen – Bevölkerung, der sich von der eskapistischen, diskursiven Unterhaltungs- und Konsumindustrie mitreißen lässt. Josefina wiederum macht verschiedene Fehler bei der Wahl und Verabreichung von Arzneien und versagt bei ihrer ersten Hypnose. Dies ist nach meinem Dafürhalten jedoch weniger auf einen unterlegenen Intellekt zurückzuführen als vielmehr auf die offenbar mangelnde praktische Ausbildung spanischer Ärzte der 50er Jahre. Der Umstand, dass ihr die Hypnose ihrer Haushälterin misslingt, deutet außerdem auf ihre deviante, nicht diskurskonforme Position hin: Wenn sie unfähig ist, ihre Patienten ‚bedarfsgerecht‘ zu hypnotisieren und auf jeden ihrer Befehle reagieren zu lassen, so ist sie keine ideologiereproduzierende Interpellationsinstanz. Die Aufforderung des Hypnotiseurs, einzuschlafen oder aufzuwachen, stünde damit im übertragenen Sinne für die ideologische Anrufung im Sinne Althussers, die von Josefina nicht oder nur fehlerhaft ausagiert werden kann. Erkennen Josefina und Antonio ihre Devianz an und versuchen sie sich fortan nicht mehr mit den vom Diskurs angebotenen Signifikanten zu identifi-

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Politisch konstruiert, filmisch demontiert

zieren55 (als Lehrer, Anwalt etc.), dann stünde das ungeborene Kind tatsächlich für einen Neuanfang und Antonio, Josefina und die anderen Devianzfiguren für eine konterdiskursive imagined community, die eine neue Sprache miteinander teilt.

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„Und herrlich tagt der Kosmos der Geschichte“ Geschichtstransformationen in Ad olf Schottmüllers L yrikanthologie Klio (1840)* NIKOLAS IMMER Die Lyrik-Anthologie Klio des Historikers Adolf Schottmüller gilt als ein repräsentatives Beispiel für die Konjunktur der Geschichtslyrik im 19. Jahrhundert. Ohne den Verlauf der Weltgeschichte im Einzelnen abbilden zu wollen, zielt der Herausgeber auf die Veranschaulichung epochaler historischer Ereignisse, deren spezifisch dichterische Darstellungsform den Leser unmittelbar affizieren soll. Anhand von Schottmüllers einleitenden Reflexionen werden die strukturellen Bedingungen für die Übertragung historischer Ereignisse in den Gattungsbereich der Geschichtslyrik diskutiert. Am Beispiel von August von Platens Rollengedicht Klaglied Kaiser Otto’s III. und Ernst Moritz Arndts Ereignisgedicht Die Schlacht bei Leipzig kommen ferner die ästhetischen Verfahren in den Blick, mit denen diese Transformationsleistung realisiert wird.

Im Jahr 1840 veröffentlichte der Berliner Historiker Adolf Schottmüller (17981871) seine Lyrikanthologie Klio, die eine umfangreiche Sammlung historisierender Gedichte enthält. 1 Ein zeitgenössischer anonymer Rezensent beschei* 1

Für wertvolle Anregungen zu diesem Beitrag danke ich Dr. Christine Waldschmidt, Mainz, sehr. Für Schottmüllers Klio werden im Folgenden die Siglen K I und K II verwendet. K I: Klio. Eine Sammlung historischer Gedichte mit einleitenden, geschichtlichen Anmerkungen, hg. von Adolf [Schott]müller, Berlin 1840. – K II: Klio. Eine Sammlung historischer Gedichte mit einleitenden, geschichtlichen Anmerkungen, hg. von Adolf Schottmüller, 2. umgearbeitete Aufl., Leipzig 1866. – Zu Schottmül-

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nigt ihm, „in möglichster Vollständigkeit deutsche Originalgedichte, oder Uebersetzungen aus fremden Dichtwerken, in der Weise zusammen[ge]stell[t] [zu haben], daß in einer ziemlich ununterbrochenen Reihe die Ereignisse der Weltgeschichte dem Leser vor die Augen geführt werden“. 2 1866 publiziert Schottmüller eine überarbeitete und erweiterte Fassung seiner Gedichtsammlung, die trotz einiger Detailkritik ebenfalls gutwillig aufgenommen wird. Dabei wird angemerkt, dass die Anthologie zwar nicht den Zweck verfolge, „Weltgeschichte zu sein“, dass ihre Leistung aber darin bestehe, „an dem Ereigniß das poetische Moment“ [Herv. i. O.] aufzuzeigen.3 Die Bedeutung dieses „poetischen Moments“ liege nun darin, eine spezifische rezeptionsästhetische Wirkung zu entfalten: „Die weltgeschichtlichen Begebenheiten“, so der Rezensent weiter, „haben […] in dieser dichterischen Einkleidung einen besonderen Reiz, prägen sich dem Gedächtnisse tiefer ein, als in der Form nackter Wirklichkeit, und veranlassen den Leser, sich weiter aus rein historischen Quellen über die poetisch dargestellte Thatsache zu unterrichten“.4 In dieser Auslegung kommt dem Geschichtsgedicht neben der mnemotechnischen Speicherfunktion, historische Fakten im Gedächtnis zu bewahren, auch eine Bildungsfunktion zu. Diese Bildungsfunktion erinnert an die Horazische Formel des prodesse et delectare: Weil die Lektüre dieser Texte erfreue bzw. einen „besonderen Reiz“ ausübe, könne sie als nützliche Anregung dienen, die Auseinandersetzung mit dem dargestellten historischen Geschehen zu vertiefen. Trotz dieser poetologischen Einsicht des Rezensenten ist seine Einlassung keineswegs als sonderlich originell zu werten. Denn schon Schottmüller hatte im Vorwort zur Erstauflage seiner Anthologie deren Aufgabe in ähnlicher Weise formuliert: „Geschichte zu lehren ist sie nicht bestimmt: sie soll nur anregen, zu weiterer Nachfrage ermuntern und überhaupt das historische

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lers Lyrikanthologie liegen bislang keine Forschungsarbeiten vor. – Wie K I und K II belegen, änderte der Herausgeber Adolf Schottmüller seinen Nachnamen von ‚Müller‘ zu ‚Schottmüller‘. Diese Namensänderung muss vor 1858 erfolgt sein, denn in seiner Arbeit über Die Schlacht bei Zorndorf heißt es auf dem Titelblatt: „Prof. Dr. Adolf Schottmüller. (Früher Müller)“ (Schottmüller, 1858). Anzumerken ist des Weiteren, dass Schottmüller zwischen der Publikation der ersten und zweiten Auflage seiner Klio eine weitere Anthologie veröffentlicht, die im Folgenden jedoch nicht berücksichtigt wird, da sie allein auf die preußische Geschichte ausgerichtet ist. Vgl. SCHOTTMÜLLER/KLETKE, 1851. ANONYM, 1840, S. 755. ANONYM, 1866, S. 270. EBD.

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Interesse erwecken und erweitern.“5 Schottmüllers programmatische Aussage unterstreicht, dass er einen deutlich umfassenderen Anspruch mit seiner Anthologie verfolgt, als ihr der spätere Rezensent attestiert. Denn die Intention, „überhaupt das historische Interesse erwecken“ [Herv. des Verfassers] zu wollen, entspringt der gleichen übergreifenden Bildungsintention wie Schottmüllers akademisches Selbstverständnis. Schließlich hatte er schon als „junger Doctor“, wie es in einem Nachruf aus dem Jahr 1871 heißt, „Vorlesungen für Nichtstudierte über Geschichte und Literatur“ gehalten.6 Schottmüller, der in seiner Jugend als Instrumentenmacher-Gehilfe tätig war, hatte erst nach seiner Erblindung die akademische Laufbahn eingeschlagen, in Berlin bei Friedrich von Raumer, Friedrich Carl von Savigny und Georg Wilhelm Friedrich Hegel studiert und wurde 1828 mit einer Abhandlung über das Leben des Erasmus von Rotterdam promoviert.7 Bereits in der Einleitung dieser Arbeit geht er von der These aus, „daß die Entwickelungsgeschichte der gesammten Erdenbewohner […] ein in und durch sich zusammenhängendes Ganze[s]“ ausmache und daher als „eine organische Einheit“ aufzufassen sei.8 Dieser Gedanke von der Menschheitsgeschichte als einem universalen Gefüge scheint gleichsam die Komposition seiner Anthologie Klio vorgeprägt zu haben, da die versammelten Geschichtsgedichte trotz ihrer Heterogenität den Eindruck eines ganzheitlichen Panoramas vermitteln. Folglich kann die Lektüre dieser Gedichte sogar das Bewusstsein für die historische Bedingtheit des Lesers wecken, indem sie ihn erkennen lässt, selbst ein Teil dieser „Entwickelungsgeschichte“ zu sein. Schottmüllers historische Studien, die in der Folgezeit entstehen und die nach Einschätzung eines Zeitgenossen „alle den Stempel gediegenen Wissens und humanster Denkweise“9 aufweisen, tragen ihm schließlich sogar die Freundschaft Wilhelm von Humboldts ein, von dem die Worte überliefert sind: „er [Schottmüller] ist mir die bedeutendste Erscheinung der neueren Zeit!“10 Im Folgenden sollen zunächst einige theoretische Überlegungen zur Gattung der Geschichtslyrik angestellt werden. In einem zweiten Schritt werden unter Rekurs auf Schottmüllers Vorworte der poetologische Anspruch seiner Geschichtsgedichte, die Anlage seiner Sammlung und die Textauswahl näher 5 6 7 8 9 10

K I, S. VI. ANONYM, 1871, S. 288. Zur Vita Schottmüllers vgl. CURTIUS, 1871, S. 614-623. SCHOTTMÜLLER, 1828, S. 1. ANONYM, 1871, S. 288. PAALZOW, 1855, S. 98. Zu Theodor Fontanes Einschätzung der Person Schottmüllers vgl. WILHELMY, 1989, S. 201f.

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reflektiert. In einem dritten Schritt wird schließlich anhand von zwei ausgewählten Geschichtsgedichten die spezifische Leistung der lyrikpoetischen Geschichtstransformation profiliert.11

Geschicht sl yrik als Gattungskonzept Wenn Hugo von Hofmannsthal in seinem 1903 entstandenen Gespräch über Gedichte die Freunde Gabriel und Clemens darüber debattieren lässt, worin die Eigenart der Lyrik liege, erscheint das Resultat ihrer intellektuellen Anstrengungen in doppelter Weise bedeutsam. Auf der einen Seite verweist das Postulat, Gedichte müssten den „Zustand des Gemütes“12 vergegenwärtigen, auf das Konzept der Stimmungslyrik, das Ende des 18. Jahrhunderts in Herders Reflexionen über die lyrische Dichtkunst poetologisch fundiert und im Verlauf des 19. Jahrhunderts von Hegel und Friedrich Theodor Vischer weiter popularisiert wird.13 Hofmannsthal seinerseits radikalisiert dieses Modell lyrischer Selbstaussprache, indem er eine Dichtungstheorie formuliert, die auf der symbolischen Artikulationsform einer Chiffrensprache basiert. Auf der anderen Seite bekräftigt Hofmannsthal diese avantgardistische Position durch ihre Verabsolutierung: Der Lyrik komme nur dann die „Berechtigung ihrer Existenz“14 zu, wenn sie jene unbegrifflichen geistigen Bewegungen vergegenwärtige. Wie Dirk Niefanger dargelegt hat, kommt in dieser ästhetizistischen Wendung zugleich der antihistorische Habitus der literarischen Moderne zur Geltung.15 D. h., dass sich Hofmannsthals poetologische Reflexionen u. a. gegen eine Form der Dichtung richten, der weniger am Gemütszustand des lyrischen Sprechers als vielmehr an der Rekapitulation historischer Zustände gelegen ist.16 Als Gegenkonzept wird damit die Gattung der Geschichtslyrik erkennbar, die im Verlauf des 19. Jahrhunderts einen beachtlichen Aufschwung erlebt. Diese Konjunktur resultiert zum einen aus der zunehmenden nationalpoliti11 Unter ‚lyrikpoetischer Geschichtstransformation‘ wird im Folgenden die literarische Reinszenierung von Ereignissen oder Akteuren der Realgeschichte verstanden, die unter den ästhetischen Bedingungen lyrischen Dichtens erfolgt. 12 HOFMANNSTHAL, 2005, S. 280. 13 Vgl. BURDORF, 1997, S. 5 und 182. Zur Kritik dieses Modells vgl. LAMPING, 2000, S. 60. 14 HOFMANNSTHAL, 2005, S. 280. 15 Vgl. NIEFANGER, 2002, S. 441-443. 16 Vgl. HINCK, 1995, S. 43.

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schen Profilierung der Literatur im Horizont der Befreiungskriege und der Märzrevolution, zum anderen aus der poetologischen Aufnahme historistischer Tendenzen.17 Aufgrund der vielfältigen Erscheinungsformen von Geschichtslyrik ist es allerdings kaum möglich, eine allgemeingültige Bestimmung dieser Binnengattung zu liefern. Auch Walter Hincks Definitionsversuch aus dem Jahr 1979 gelangt über eine tautologische Feststellung nicht hinaus: „Geschichtslyrik nennen wir Gedichte, deren Gegenstand Themen bzw. Vorgänge der Geschichte […] sind.“18 Im Weiteren ergänzt er zwar, dass Geschichtslyrik „ein gewisses Maß an Distanz voraus[setze]“,19 nur lässt sich diese Bestimmung bspw. nicht auf das historische Rollengedicht anwenden.20 Insofern erscheint es sinnvoller, wie bei jeder Geschichtsdichtung grundsätzlich von einer literarischen „Simulation […] historischen Erlebens“21 auszugehen. D. h. aber vorerst nur, dass im Geschichtsgedicht vermittels poetischer Darstellungsformen eine historische Persönlichkeit oder ein historisches Ereignis vergegenwärtigt wird. Zu untersuchen bleibt jedoch, welche Ästhetisierungsverfahren bei dieser Form von Geschichtstransformation zur Anwendung kommen und welche inhaltlichen Konsequenzen aus der einzelnen geschichtslyrischen Stilisierung resultieren. Im Folgenden soll daher versucht werden, anhand der Leitaspekte der Selektion, Repräsentation und Intention die jeweilige Analyse zu konkretisieren. Der Aspekt der Selektion bezieht sich zunächst auf die Notwendigkeit der Auswahl aus dem historischen Material. Da nach Walther Killy die ‚qualitative Kürze‘ als generelles Merkmal von Lyrik anzusehen ist,22 erfordert es insbesondere das Geschichtsgedicht, den Objektbereich auf eine auszugsweise präsentierte Begebenheit oder eine ausschnitthaft dargebotene Ereignisfolge zu beschränken. In der Folge ergibt sich aus dem Vergleich mit historiografischen

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Im Hinblick auf die Gattung der Ballade vgl. WOESLER, 2000. HINCK, 1979, S. 7. EBD. Prinzipiell ist natürlich zu berücksichtigen, dass auch das historische Rollengedicht primär eine zeitliche Distanz zwischen lyrischem Sprecher und empirischem Leser entfaltet. Aufgrund der wirkungsästhetisch angestrebten Identifikation mit dem lyrischen Sprecher wird diese Distanz sekundär allerdings wieder aufgehoben. 21 NIEFANGER, 2005, S. 169. Zur jüngsten Konzeptualisierung von Geschichtslyrik vgl. TRILCKE, 2013, S. 13-56. 22 Vgl. KILLY, 1983, S. 187-204.

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Diskursmedien, in welchem Maß und in welcher Form die Verdichtung zu einem ‚prägnanten Moment‘ im lyrischen Text erfolgt ist.23 Der Aspekt der Repräsentation kennzeichnet die Relation zwischen der lyrischen Sprechinstanz und der dargestellten Geschichtswirklichkeit. Während im historischen Rollengedicht zumeist eine Identifikation des Sprechers mit einer prominenten bedeutungstragenden geschichtlichen Persönlichkeit erfolgt und aus deren subjektiver Innensicht berichtet wird, nimmt die Sprechinstanz in der Geschichtsballade oftmals eine distanzierte Haltung ein und liefert eine quasi-objektive Außensicht auf die präsentierten Ereignisse. Diese Differenz kann einerseits mit Moritz Baßler als Nebeneinander von simulierendem und historiografischem Historismus und andererseits mit Blick auf die lyrische Erzählinstanz als Nebeneinander von autodiegetischer und heterodiegetischer Perspektive beschrieben werden.24 Der Aspekt der Intention schließlich charakterisiert die mit dem Geschichtsgedicht verbundene Aussageabsicht. Da die Geschichtslyrik als wichtiges Medium der literarischen Gedächtnisbildung und Gedächtnisreflexion anzusehen ist, können in diesem Zusammenhang mit Astrid Erll zwei Funktionspotenziale unterschieden werden: zum einen das der „Konstruktion und Affirmation“, zum anderen das der „Dekonstruktion und Revision“. 25 Das wiederum heißt, dass mit dem Geschichtsgedicht ein bestehendes kollektives Geschichtsbild bekräftigt oder zurückgewiesen werden kann. Entscheidenden Anteil an dieser Positionsbestimmung hat die narrative Perspektivierung, die durch die lyrische Sprechinstanz erfolgt.

Anspruch und Anlage der Anthologie Klio In seiner Widmung an die Prinzessin Marie von Preußen (1825-1889), spätere Königin von Bayern, ist Adolf Schottmüller zunächst bemüht, die Vorzüge seiner Sammlung historischer Gedichte hervorzukehren. Zum einen betont er, dass „die erhabensten Erscheinungen der Vorzeit“ nun im „Glanz einer poetischen Darstellung“ 26 erstrahlen würden. Zum anderen deutet er jedoch an, 23 Zur Historizität des Konzepts vom ‚prägnanten Moment‘ vgl. WOLF, 2002, S. 373-404. 24 Vgl. BASSLER, 1996, S. 25-32. 25 ERLL, 2005, S. 165. 26 K I, S. III.

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nicht nur die Geschichte von siegreichen Persönlichkeiten abbilden zu wollen. Vielmehr ist es sein Anliegen, mit den versammelten Texten Begebenheiten „von menschlichem Fehl wie von menschlicher Größe“ 27 zu präsentieren. Daraus ergibt sich eine doppelte rhetorische Wirkungsstrategie: Während die erhabenen Erscheinungen das hehre Ethos der großen Herrschergestalten veranschaulichen, vergegenwärtigen die tragischen Erscheinungen deren heroisches Pathos. In der darauffolgenden Vorrede entfaltet Schottmüller sein didaktisches Anliegen, wobei er eingangs darauf verweist, keine „Geschichte in Gedichten zu liefern“.28 Vielmehr beabsichtigt er, den Leser zur vertieften Beschäftigung mit den historischen Ereignissen zu veranlassen. Als erste Hinführung liefert Schottmüller selbst einen Sachkommentar, der den geschichtlichen Bezugshorizont für einzelne Gedichte oder thematisch zusammengehörige Gedichtgruppen skizzenhaft erläutert. Dieser Bildungsaspekt ist gleichzeitig an einen ideologischen Zweck gekoppelt: Die Geschichtsgedichte sollen nicht nur umfassende Kenntnisse von der ruhmreichen Vergangenheit vermitteln, sondern über die Begeisterung des Lesers auch dessen Gefühl für das „Edle, Große und Ruhmwürdige“29 rege machen. Im Idealfall soll die Einfühlung in die lyrisch exponierte Persönlichkeit sogar zur Identifikation mit den ihr zugeschriebenen nationalpolitischen Gesinnungen führen. Neben seinen didaktischen Überlegungen reflektiert Schottmüller auch den ästhetischen Transformationsprozess, der sich bei der Gestaltung geschichtslyrischer Texte ereignet. In diesem Zusammenhang beruft er sich auf einen „große[n] Schriftsteller“, der gesagt habe, „daß die Wirklichkeit selten zum Gedicht tauge“.30 Hinter diesem ‚großen Schriftsteller‘ verbirgt sich der Weißenfelser Dichter Adolph Müllner, dessen Trauerspiel König Yngurd (1817) eine Leseransprache vorangestellt ist, die folgende Verse enthält: „Die Wirklichkeit taugt selten zum Gedichte; / Nach Wahrheit rang ich, euern Sinn zu rühren“.31 [Herv. i. O.] Diese Opposition von unpoetisch verfasster Wirklichkeit und poetisch fassbarer Wahrheit nutzt Schottmüller als Argument, um die ästhetische Produktionsfreiheit bei der literarischen Verarbeitung historischer Vorlagen zu begründen. Dabei geht er direkt auf einzelne Verfahrensweisen ein: „Es kann eine Begebenheit nicht nur zusammengezogen, abgerundet und 27 28 29 30 31

EBD. K I, S. VI. EBD. EBD. MÜLLNER, 1828, Bd. 3, S. 15.

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hiedurch in eine neue Gestalt gebracht werden, sondern es kann selbst manche Seite des historischen Verhältnisses ganz unberücksichtigt bleiben“. 32 D. h. wiederum, dass im Rahmen der literarischen Repräsentation von Geschichte nicht schlichtweg überlieferte Ereignisse aufgegriffen und neu arrangiert werden, sondern dass gegenüber der historischen Geschichtswirklichkeit eine eigene ästhetische Geschichtswirklichkeit etabliert wird. Diese literarische Rekonstitution von Geschichte kann überdies eigens funktionalisiert werden, wie Schottmüller nahelegt. Denn ausdrücklich unterstreicht er, dass es auf die „äußerliche Richtigkeit in Betreff des zu erregenden Eindrucks auch nicht ankommt“.33 Dem Ziel der affektiven Einflussnahme auf den Leser wird letztlich die historische Richtigkeit des Dargestellten untergeordnet. Im Gegensatz zu dieser Relativierung der historischen Fakten folgt Schottmüller bei der Anordnung seiner Gedichte einer strikten Chronologie. Dabei sind die versammelten Texte in geografische Sektionen gegliedert, in denen jeweils die Entwicklungsgeschichte einer Nation von ihren Ursprüngen bis in die damalige Gegenwart enthalten ist. Im Anschluss an die Kapitel zur jüdischen, griechischen, römischen und byzantinischen Geschichte folgen drei Abschnitte zur germanischen bzw. deutschen Geschichte, die sich auf das Frankenreich, auf das Deutsche Reich von 843 bis 1806 und auf das neuere Deutschland seit der Auflösung des Heiligen Römischen Reichs beziehen. In einem gesamteuropäischen Panorama bietet Schottmüller schließlich Geschichtsgedichte über die Schweiz, die Niederlande, Italien, England, Frankreich, Spanien, Skandinavien und das neuere Griechenland. Er endet mit einem Kapitel über den brandenburgisch-preußischen Staat, wobei die Texte aus diesem Abschnitt in der Ausgabe von 1866 teilweise in den Überblick über die deutsche Geschichte seit 1806 integriert werden. Zwar bekräftigt Schottmüller im Vorwort zu dieser Anthologie, stärker jene Gedichte berücksichtigt zu haben, die „culturgeschichtliche Momente“ 34 der Menschheitsentwicklung vergegenwärtigen, jedoch dominieren weiterhin Geschichtsgedichte, die bedeutende historische Persönlichkeiten oder relevante geschichtliche Ereignisse in den Mittelpunkt rücken. Zwei dieser vielfältigen Beispiele sollen im Folgenden exemplarisch vorgestellt werden.

32 K I, S. VI. 33 EBD. 34 K II, S. III.

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„Und herrlich tagt der Kosmos der Geschichte“

August von Platen: Klaglied Kaiser Ott o’s III. (1834)

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O Erde, nimm den Müden, Den Lebensmüden auf, Der hier im fernen Süden Beschließt den Pilgerlauf! Schon steh’ ich an der Grenze, Die Leib und Seele theilt, Und meine zwanzig Lenze Sind rasch dahin geeilt. Voll unerfüllter Träume,

10 Verwais’t, in Gram versenkt,

Entfallen mir die Zäume, Die dieses Reich gelenkt. Ein Andrer mag es zügeln Mit Händen minder schlaff, 15 Von diesen sieben Hügeln Bis an des Nordens Haff. Doch selbst im Seelenreiche Harrt meiner noch die Schmach; Es folgt der blassen Leiche 20 Begangner Frevel nach: Vergebens mit Gebeten Beschwör’ ich diesen Bann, Und mir entgegen treten Crescentius und Johann! 25 Doch nein! Die Stolzen beugte

Mein reuemüthig Flehn; Ihn, welcher mich erzeugte, Ihn wird’ ich wiedersehn! Nach welchem ich als Knabe 30 So oft vergebens frug:

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Nikolas Immer An seinem frühen Grabe Hab’ ich geweint genug. Des deutschen Volks Berather Umwandeln Gottes Thron; 35 Mir winkt der Aeltervater Mit seinem großen Sohn; Und während, voll von Milde Die frommen Hände legt Mir auf das Haupt Mathilde, 40 Steht Heinrich tief bewegt. Nun fühl ich erst, wie eitel Des Glücks Geschenke sind, Wiewohl ich auf dem Scheitel Schon Kronen trug als Kind! 45 Was je mir schien gewichtig, Zerstiebt wie ein Atom: O Welt, du bist so nichtig, Du bist so klein, o Rom! O Rom, wo meine Blüthen 50 Verwelkt, wie dürres Laub,

Dir ziemt es nicht, zu hüten Den kaiserlichen Staub! Die mir die Treue brachen, Zerbrachen mein Gebein: 55 Beim großen Karl in Achen Will ich bestattet sein. Die ächten Palmen wehen Nur dort um sein Panier: Ich hab’ ihn liegen sehen 60 In seiner Kaiserzier. Was durfte mich verführen, Zu öffnen seinen Sarg? Den Lorbeer anzurühren, Der seine Schläfe barg.

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„Und herrlich tagt der Kosmos der Geschichte“ 65 O Freunde, laßt das Klagen,

Mir aber gebt Entsatz, Und macht dem Leichenwagen Mit euren Waffen Platz! Bedeckt das Grab mit Rosen, 70 Das ich so früh gewann, Und legt den thatenlosen Zum thatenreichsten Mann!35

August von Platens historisches Rollengedicht Klaglied Kaiser Otto’s III. wird von Schottmüller in seiner Anthologie im Kapitel über die Geschichte des Deutschen Reichs präsentiert. Das Gedicht wird 1834 zuerst gedruckt und 1839 in Platens Werkausgabe wiederveröffentlicht. 36 Im Anschluss an diese Publikation äußert der Lyriker Friedrich Wilhelm Rogge jedoch eine recht abschätzige Kritik über diesen Text. Platens Klaglied Kaiser Otto’s III., schreibt Rogge, gehöre zu einer Gruppe von Gedichten, die „nicht viel mehr als versificirte Erzählungen [sind], ohne poetische Energie und Farbe“.37 Dieses einseitige Urteil suggeriert, der Eigenwert des Textes bestünde allein darin, die historischen Fakten in Vers- statt in Prosaform wiederzugeben. Damit unterschätzt Rogge allerdings die ästhetische Leistung dieses Geschichtsgedichts. Um seine Leser mit der Person Ottos III. vertraut zu machen, bietet Schottmüller in seiner Anthologie einen knappen erläuternden Sachkommentar, den er Platens Gedicht voranstellt. Die einführenden biografischen Angaben vergegenwärtigen bereits das tragische Schicksal dieser Herrscherpersönlichkeit und konkretisieren somit die Erwartungshaltung gegenüber dem nachfolgend präsentierten Gedicht. Über Otto III., der von 996 bis 1002 als römisch-deutscher Kaiser regierte, heißt es dort:

35 K I, S. 140f. Zitate aus diesem Gedicht werden mittels der jeweiligen Verszahl nachgewiesen. Zum Wiederabdruck vgl. K II, S. 133f. Zur Interpretation vgl. PAPE, 2003, S. 147-172. 36 Vgl. PLATEN, 1834, S. 205f.; DERS., 1839, S. 38f. Unter dem Gedichttitel ist dort das Entstehungsjahr 1833 vermerkt. Zur Entstehung des Gedichts vgl. PAPE, 2003, S. 154. Das Klaglied gehört zu den letzten Gedichten Platens, die in Cottas Morgenblatt für gebildete Stände erscheinen. Vgl. HAY, 1967, S. 164, Anm. 66. 37 ROGGE, 1839, S. 761. Auch Fontane zeigt sich von Platens Gedicht nicht sonderlich angetan. Vgl. REUSCHEL, 1910, S. 669.

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Nikolas Immer Er wurde von seiner Mutter, der Griechin Theophania, seiner Großmutter […] und einer Deutschen, seines Vaters Schwester, Mathilde, erzogen, und wegen seiner Gelehrsamkeit lumen mundi genannt. Er wollte in Rom residiren, weil er die gebildeteren Italiener den roheren Deutschen vorzog; aber Verrath und Zweizüngigkeit machten ihn bald andren Sinnes. Er starb 23 Jahre alt, in Italien 1002.38

Die formale Anlage von Platens Rollengedicht erscheint auf den ersten Blick wenig anspruchsvoll. Es umfasst neun regelmäßig gebaute Strophen, die jeweils acht kreuzgereimte Verse aufweisen. Diese Verse, die aus jambischen Dreihebern bestehen, sind von einer wechselnden Alternation unbetonter und betonter Kadenzen gekennzeichnet. Folglich lassen sich die Achtzeiler auch als Doppelungen von volksliedhaften Vierzeilern beschreiben, womit Platen auf die zweithäufigste Strophenform der deutschen Lyrik zurückgreift.39 Daraus ergibt sich wiederum ein Spannungsverhältnis zwischen der herkömmlichen Form der Volksliedstrophe und der hohen Form des Klagelieds, das bereits der Titel ankündigt. Das geschichtslyrische Potenzial von Platens Dichtung wird jedoch erst unter Rekurs auf die drei zuvor skizzierten Analysekriterien deutlich. Mit Blick auf die Selektion fällt zunächst auf, welchen historischen Moment Platen für die Rollenrede seines lyrischen Sprechers wählt. Indem er Otto III. kurz vor seinem Tod einen Rückblick auf seine Vergangenheit werfen lässt, werden einzelne Stationen aus dessen Leben stichwortartig angesprochen und zu einem skizzenhaften Überblick verbunden. Gleichzeitig verweist die Rollenrede, die sich darin äußert, dass während des gesamten Gedichts die autodiegetische Perspektive vorherrscht, auf den Aspekt der Repräsentation. Dabei gewinnt das Geschichtsgedicht aufgrund der retrospektiv ausgerichteten Rede eine doppelte mnemopoetische Qualität: Zum einen erweist sich der Text als Rückschau auf Otto III., zum anderen avanciert die textintern profilierte Kaiserfigur selbst zu einem rückschauenden Erinnerungssubjekt. Insbesondere die Abrechnung mit dem eigenen verfehlten Leben lässt unter dem Aspekt der Intention die Frage entstehen, warum Platen gerade ein solches Herrscherbild entwirft. Wie Matthias Pape nachgewiesen hat, spiegelt sich in Ottos schwermütiger Haltung Platens eigene Melancholie am Ende seines Lebens. 40 Darüber 38 K I, S. 140. 39 Vgl. FRANK, 1993, S. 106. 40 Vgl. PAPE, 2003, S. 168-172.

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hinaus ist festzustellen, dass sich Platen bei der Gestaltung seines Protagonisten an der historiografischen Vorlage Heinrich Ludens orientiert.41 In dessen Geschichte des teutschen Volkes, deren siebenter Band 1832 erscheint, heißt es im Kapitel über Otto’s des Dritten Wirren, Wanderungen und Tod: Er selbst […] war ein Jüngling von achtzehen Jahren, in schwere und seltsam verschlungene Verhältnisse gestellt, und ein hartes Gewicht von Gräueln und Grausamkeiten, in seinem Namen verübt, lag ihm auf der Brust. […] wiederholt und schnell hinter einander an die Ewigkeit erinnert, hat er sich vielleicht allein und verlassen gefühlet; der stolze Sinn, in welchem er bisher ins Unermeßliche hinaus gestrebet hatte, ohne Achtung und ohne Schonung, scheinet schnell zusammen gesunken zu sein; und in seiner jungen Brust scheinet sich das Gefühl der Demuth, das Bedürfniß einer Versöhnung mit Gott und den Menschen erhoben zu haben […].42

Ludens Charakterisierung Ottos III., der als einsamer und verlassener Herrscher eine demütige Einstellung anzunehmen beginnt, korrespondiert unmittelbar mit dem Bild des Kaisers, das Platen eingangs seines Gedichts entwirft. Schon in der ersten Strophe redet die Titelfigur von sich als einem „Lebensmüden“ (V. 2), dessen „Pilgerlauf“ (V. 4) bereits beschlossen sei. Diese melancholische Haltung wird noch dadurch bestärkt, dass in der zweiten Strophe nicht nur von Ottos „unerfüllte[n] Träume[n]“ (V. 9), sondern sogar von seiner Unfähigkeit die Rede ist, die Regierung weiterzuführen. Schonungslos kennzeichnet er seine gegenwärtige Schwäche als ‚Schlaffheit‘ (V. 14), und hofft darauf, die Staatsgeschäfte in andere Hände übergeben zu können. Doch mit dem Eingeständnis der eigenen Kraftlosigkeit hat die Selbstdemütigung noch kein Ende gefunden. Denn Otto fürchtet, wie die dritte Strophe belegt, dass im „Seelenreiche“ (V. 17) noch weitere „Schmach“ (V. 18) auf ihn warte: „Vergebens mit Gebeten/Beschwör’ ich diesen Bann,/Und mir entgegen treten/Crescentius und Johann!“ (V. 21-24) Historisch sind damit zwei zentrale Gegenspieler von Otto III. genannt, zum einen der römische Stadtpräfekt Crescentius Nomentanus und zum anderen der Gegenpapst Johannes XVI. Nachdem sich die anfänglichen Bündnispartner gegen Otto gewendet hatten, wurde an ihnen grausame Rache geübt. Während man Crescentius enthauptete und an 41 Vgl. EBD., S. 163f. 42 LUDEN, 1832, Bd. 7, S. 309. Zur gegenwärtigen Beurteilung Ottos III. vgl. EICKHOFF, 2000.

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den Füßen aufhängte, wurden Johannes die Zunge und die Nase abgeschnitten und die Augen herausgerissen. 43 Im Gedicht wiederum ergibt sich aus der zweifachen Namensnennung eine doppelte temporale Konstruktion: Aus der Perspektive des reflektierenden Protagonisten verweisen die historischen Personen einerseits auf dessen Vergangenheit, indem sie seine erbarmungslose Vergeltungsaktion ins Gedächtnis rufen. Andererseits verweisen sie auf dessen ‚Zukunft‘ im „Seelenreiche“, weil eine Wiederbegegnung mit ihnen gewissermaßen in Form eines Totengesprächs andeutungsweise imaginiert wird. Im Gegensatz zu dieser Schreckensvision wird in den folgenden drei Strophen eine versöhnlichere Perspektive eingenommen. Wird in der vierten Strophe die Wiederbegegnung mit dem in Ottos Augen zu früh verstorbenen Vater Otto II. in Aussicht gestellt,44 erträumt Otto in der fünften Strophe die Aufnahme in den Kreis der Vorfahren. Von seinem „Aeltervater“ (V. 35), d. h. von seinem Urgroßvater Heinrich I., dem König des Ostfrankenreichs, wird er herangewinkt, während ihm seine Urgroßmutter Mathilde die Heilige in segnender Gebärde die Hände aufs Haupt legt. Angesichts dieser Würdigung scheint Otto erst bewusst zu werden, wie vergeblich seine Hoffnung war, in Rom zu Ansehen zu gelangen. Die Schlussstrophen sind folglich von dem dringenden Wunsch geprägt, den eigenen Leichnam nicht in Rom, sondern in Aachen bestattet zu sehen. Als Ruhestätte Karls des Großen ist dies der Ort, an dem, wie es in der achten Strophe heißt, die „ächten Palmen wehen“ (V. 57) und der somit die Partizipation an der Prominenz des ruhmreichen Vorgängers ermöglicht. 45 In den Schlussversen wird die Gegenüberstellung beider Herrscherpersönlichkeiten pointiert in einem antithetischen Imperativ ausgesprochen: „Und legt den thatenlosen/Zum thatenreichsten Mann!“ (V. 71f.) Im Gegensatz zu Otto III., der die basale Steigerungsform des Positivs für sich in Anspruch nimmt („thatenlose[r]“), wird Karl dem Großen die höchste Steigerungsform des Superlativs zuerkannt („thatenreichste[r]“). Auf diese Weise gewinnt die rhetorische Verklammerung eine doppelte Funktion: Zum einen akzentuiert sie, bezogen auf den Herrschaftserfolg, die Differenz zwischen beiden Regenten. Zum anderen 43 Vgl. LUDEN, 1832, Bd. 7, S. 300 und 303. 44 Als Otto II. (955-983) stirbt, ist Otto III. (980-1002) erst drei Jahre alt. 45 In der achten Strophe wird außerdem Ottos Öffnung des Karlsgrabs thematisiert (V. 61-64). Da Otto davon spricht, zu dieser Tat „verführ[t]“ (V. 61) worden zu sein, wird sie gedichtintern zumindest als fragwürdige Handlung gewertet. Vgl. PAPE, 2003, S. 164f. Zur gegenwärtigen Beurteilung der Graböffnung vgl. GÖRICH, 1998, S. 381-430.

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erweist sich die Engführung gleichermaßen als eine Form der Rehabilitation, da Ottos Gebeine in dieser Vorausschau neben denen Karls aufgebahrt werden.46 Daraus folgt, dass der von Platen entworfene Otto III. trotz seiner anfänglichen Selbstkritik im Verlauf des Gedichts doch eher die Tendenz zur Selbstherrlichkeit erkennen lässt. Schließlich imaginiert er die Vergebung für seine zurückliegenden Grausamkeiten: zum einen durch die freundliche Aufnahme in den Kreis seiner Ahnen, zum anderen durch die Aufnahme in den Kreis ruhmwürdiger Herrscherpersönlichkeiten. Fast hat es am Ende den Anschein, als ob die Affirmation der bedeutenden Vorgänger auch die eigene Lebensleistung sublimiert habe.

Ernst Moritz Arndt: Die Schlacht bei Leipzig (1813)

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Wo kommst Du her in dem rothen Kleid, Und färbst das Gras auf dem grünen Plan? Ich komme her aus dem Männerstreit, Ich komme roth von der Ehrenbahn: Wir haben die blutige Schlacht geschlagen, Drob müssen die Weiber und Bräute klagen, Da ward ich so roth.

Sag’ an Gesell, und verkünde mir, Wie heißt das Land, wo ihr schlugt die Schlacht? 10 Bei Leipzig trauret das Mordrevier, Das manches Aug voll Thränen macht, Da flogen die Kugeln wie Winterflocken Und Tausenden mußte der Athem stocken Bei Leipzig der Schlacht. 15 Wie heißen, die zogen in’s Todesfeld

Und ließen fliegen die Banner aus? Die Völker kamen der ganzen Welt, Und zogen gegen Franzosen aus, 46 Dass Otto III. tatsächlich neben Karl dem Großen bestattet wird, dokumentiert bspw. LUDEN, 1832, Bd. 7, S. 325.

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Nikolas Immer Die Russen, die Schweden, die tapfern Preußen 20 Und die nach dem glorreichen Oesterreich heißen, Die zogen all’ aus. Wem ward der Sieg in dem harten Streit? Wer griff den Preis mit der Eisenhand? Die Welschen hat Gott wie der Spreu zerstreut, 25 Die Welschen hat Gott verweht wie den Sand, Viele Tausende decken den grünen Rasen, Die übrig geblieben, entflohen wie Hasen, Napoleon mit. Nimm Gottes Lohn! habe Dank, Gesell, 30 Das war ein Klang, der das Herz erfreut! Das klang wie himmlische Cymbeln hell, Habe Dank der Mähr’ von dem blutigen Streit! Laß Wittwen und Bräute die Todten klagen, Wir singen noch fröhlich in späten Tagen, 35 Die Leipziger Schlacht. O Leipzig, freundliche Lindenstadt! Dir ward ein leuchtendes Ehrenmahl; So lange rollet der Jahre Rad, So lange scheinet der Sonnenstrahl, 40 So lange die Ströme zum Meere reisen, Wird noch der späteste Enkel preisen Die Leipziger Schlacht.47

Ernst Moritz Arndts Gedicht über die Völkerschlacht bei Leipzig findet sich erst in der zweiten Auflage von Schottmüllers Klio. In der ersten Auflage hingegen präsentiert Schottmüller ein Sonett Friedrich Rückerts, das er mit Die Schlacht bei Leipzig überschreibt und das er Rückerts Geharnischten Sonetten (1814) entnimmt.48 Der Schlussteil der Anthologie enthält darüber hinaus Karl 47 Vgl. K II, S. 276f. Zitate aus diesem Gedicht werden mittels der jeweiligen Verszahl nachgewiesen. 48 Vgl. K I, S. 242f.; RÜCKERT, 1834/36, Bd. 2, S. 178. Zu Rückerts Sammlung vgl. KITTLER, 1990, S. 35-46.

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Immermanns Gedicht Leipzig, das aus dessen mit Gedichte (1822) überschriebener Lyriksammlung stammt. 49 Ist bei Rückert allgemein vom Leiden der Stadt Leipzig die Rede, die sogar zur „Märtyrin“50 erhoben wird, vergegenwärtigt Immermann das direkte Kampfgeschehen anhand einiger unbeholfener Onomatopoetika. Beide Gedichte werden in der zweiten Auflage von Schottmüllers Klio nicht mehr berücksichtigt, wogegen nun allein Arndts Gedicht die Aufgabe zukommt, an die Völkerschlacht bei Leipzig zu erinnern. Auf diese Weise wird Schottmüller zwar dem in seinem Vorwort formulierten Anspruch gerecht, die „weniger passenden Gedichte mit besseren und passenderen zu vertauschen“,51 gleichzeitig aber verzichtet er in der Neuausgabe auf die 1840 noch mitgelieferten historischen Erläuterungen zur Völkerschlacht. In der ersten Fassung lässt Schottmüller den Leser noch wissen: Die Schlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813, [war] eine Völkerschlacht […], weil sich fast alle Völker Europas daselbst bekämpften. Die Zahl der Krieger wird auf 500 000, der Kanonen auf 2000 angegeben. In der Nacht zum 19. Oktober trat nach ungeheurem Verluste Napoleon den Rückzug nach Frankreich an. Die Verbündeten hatten auch 40 000 Todte und Verwundete.52

Diese Dimension an menschlichen Verlusten wird bei Arndt allenfalls annäherungsweise eingeholt, wenn es in seinem Text heißt, dass „Tausenden […] der Athem stocken“ (V. 13) musste. Das Gedicht Die Schlacht bei Leipzig ist Arndts Liedern für Teutsche (1813) entnommen, wo es noch den Titel Die Leipziger Schlacht trägt.53 Schottmüller verkürzt die ursprünglich sieben auf sechs Strophen, indem er die letzte Strophe nicht abdruckt, in der „Gott“ als „Helfer der Freiheit“ gepriesen wird. 54 Die Strophen bestehen jeweils aus 49 50 51 52

Vgl. K I, S. 464f.; IMMERMANN, 1822, S. 168f. K II, S. 242. K II, S. IV. K I, S. 242. Ergänzend ist anzumerken, dass Schottmüllers historische Erläuterungen zur Leipziger Völkerschlacht in seiner Anthologie Preußens Ehrenspiegel (1851) weitaus umfangreicher ausfallen als in der Klio. Vgl. SCHOTTMÜLLER/ KLETKE, 1851, S. 302f. Im Anschluss an diesen Sachkommentar folgt dort ebenfalls Arndts Gedicht Die Schlacht bei Leipzig. 53 Vgl. ARNDT, 1813, S. 132-134. 54 EBD., S. 134. Während Schottmüller in der Vorrede zur ersten Fassung seiner Anthologie noch bekundet, es sich „öfters erlaubt“ zu haben, einzelne „Gedicht zu verkürzen, oder bruckstückweise mitzutheilen“ (K I, S. VIII), findet sich ein solcher Hinweis in der Vorrede zur zweiten Fassung nicht mehr.

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sieben Versen, wobei auf sechs jambische Vierheber mit freien Füllungen ein jambischer Zweiheber folgt. Gleichzeitig sind die ersten vier Verse mit einem Kreuzreim und die anschließenden zwei Verse mit einem Paarreim verklammert. Dadurch entsteht der Eindruck, als würde jede Strophe an ihrem Ende pointiert zugespitzt: sowohl durch den Paarreim als auch durch den verknappten Schlussvers. Auch im Falle von Arndts Gedicht erweisen sich die zuvor genannten geschichtslyrischen Analysekriterien als hilfreich, um die Textaussage zu präzisieren. Im Hinblick auf den Aspekt der Selektion ist festzuhalten, dass die Leipziger Völkerschlacht von einem Augenzeugen geschildert wird, der soeben vom Kriegsschauplatz zurückgekehrt ist. In der Rückschau resümiert er die zentralen Schlachtereignisse: die Intensität der kriegerischen Auseinandersetzung, die Vereinigung unterschiedlicher Nationen gegen die Franzosen sowie die Flucht Napoleons und seiner Truppen. Bezeichnend ist daneben unter dem Aspekt der Repräsentation die im Gedicht entworfene Kommunikationssituation: Einer am Kampfgeschehen offenbar unbeteiligten Figur, die Fragen nach dem Gefechtsverlauf stellt, antwortet der Augenzeuge mit seinem persönlichen Bericht. Dabei entfalten die ersten vier Strophen eine dialogische Struktur: Auf die jeweils in den ersten zwei Versen exponierte Frage folgt die in den übrigen Versen entfaltete Schilderung des Schlachthergangs. Während die fünfte Strophe gänzlich dem Fragenden vorbehalten ist, der darin dem Augenzeugen seinen Dank zollt, ist die Sprechinstanz in der sechsten Strophe nicht mehr eindeutig zuzuordnen. Ohne Rückbindung an ein konkretes Subjekt mündet die lyrische Rede in eine Würdigung der Stadt Leipzig, die wegen des „leuchtende[n] Ehrenmahl[s]“ (V. 37) der Völkerschlacht zu einem bleibenden Erinnerungsort stilisiert wird. Damit ist zugleich der Aspekt der Intention angesprochen, da Arndts Siegesfeier offenkundig den politischen Zweck verfolgt, das nationale Selbstbewusstsein zu festigen. 55 Diese Wirkungsabsicht wird überdies von Arndt in seiner Schrift Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht, die er 1814 veröffentlicht, in aller Deutlichkeit ausgesprochen. Darin fordert er nicht nur, endlich die „glorreichen Tage“ des damaligen Triumphs angemessen zu feiern, sondern auch, ein Siegesdenkmal zu errichten, dass „groß und herrlich seyn [soll], wie ein Koloß, eine Pyramide, ein Dom in Köln“.56

55 Zur Funktion der zeitgenössischen Befreiungslyrik vgl. BRANDT, 2010, S. 122. 56 ARNDT, 1814, S. 8 und 21.

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Mit Blick auf dieses projektierte Monument, das allerdings erst 100 Jahre später nach Entwürfen des Architekten Bruno Schmitz errichtet wird, kann Arndts Gedicht gleichsam als dessen lyrische Realisierung begriffen werden. Dabei wird die Völkerschlacht in mehreren Schritten vergegenwärtigt: Zunächst verweist der Augenzeuge auf das Kriegsheldentum der siegreichen Soldaten, indem er affirmierend bekräftigt: „Wir haben die blutige Schlacht geschlagen“ (V. 5) [Herv. des Verfassers]. Danach stellt er die Kühnheit der anti-französischen Streitmächte dem Kampfverhalten der napoleonischen Truppen gegenüber. Während sich insbesondere die Preußen ‚tapfer‘ (V. 19) bewährt haben, werden die Franzosen über den Vergleich mit flüchtenden „Hasen“ (V. 27) gewissermaßen zu ‚Hasenfüßen‘ abgewertet. Im Anschluss daran verdeutlicht der Sprecher der fünften Strophe, wie das Kriegsereignis zu bewerten sei: als ein Sieg, „der das Herz erfreut“ (V. 30) und von dem man „noch fröhlich in späten Tagen“ (V. 34) singen werde. Die letzte Strophe schließlich kann als lyrikpoetische Monumentalisierung der Leipziger Völkerschlacht gelesen werden. Denn über die Vergleiche mit dem sich drehenden Jahresrad, mit dem scheinenden Sonnenstrahl und mit den fließenden Strömen wird der überzeitliche Erinnerungsanspruch akzentuiert, den Arndt mit diesem Sieg verbindet. Rezeptionsästhetisch gewendet, heißt das: Solange sein Lied gesungen wird, solange sind die Helden von Leipzig unvergessen.

Zusammenfassung Adolf Schottmüller verfolgt mit seiner Anthologie Klio das Anliegen, Geschichte über Dichtung erlebbar zu machen. Die von ihm versammelten Gedichte repräsentieren unterschiedliche Ausprägungsformen lyrikpoetischer Geschichtstransformationen und bieten zumeist subjektiv gefärbte und ideologisch aufgeladene Perspektiven auf prominente Ereignisse oder Akteure der Realgeschichte. Darüber hinaus können aus der Anlage von Schottmüllers Anthologie drei wirkungsästhetische Zielstellungen abgeleitet werden: Erstens ist es sein Darstellungsziel, die historischen Entwicklungsprozesse der europäischen Nationen anhand von einschlägigen lyrischen Dichtungen zu vergegenwärtigen. Zweitens ist es sein Bildungsziel, die Geschichtskenntnisse der Leser zu festigen und sie zur vertieften Beschäftigung mit den literarisch präsentierten Ereignissen anzuregen. Und drittens ist es sein Affektziel, die Leser für das Ethos und Pathos der historischen Persönlichkeiten zu begeistern.

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Diese Affizierung der Leser ist im Jahr 1840, d. h. während der sog. Rheinkrise und damit während einer Zeit neuerlicher Auseinandersetzungen mit Frankreich, erkennbar ideologisch motiviert. Der patriotischen Erinnerung an die Befreiungskriege kommt in diesem Kontext auch die Funktion zu, das deutsche Nationalbewusstsein zu stärken. Gleichwohl hegt Schottmüller nicht die Absicht, die deutsche Geschichte zu einer Erfolgsgeschichte umzuschreiben, wie etwa die Aufnahme von Platens Klaglied Kaiser Otto’s III. belegt. In der zweiten Auflage von 1866 wird schließlich die Tendenz sichtbar, verstärkt herausragende Persönlichkeiten der Geistesgeschichte in Form einzelner Erinnerungsgedichte zu berücksichtigen. Indem Schottmüller lyrische Nachrufe auf Ludwig van Beethoven, Georg Friedrich Wilhelm Hegel und Alexander von Humboldt versammelt,57 bekräftigt er überdies die Vorstellung von der deutschen Kulturnation. Das wiederum scheint erst den Schlussvers aus dem Gedicht über Humboldt zu rechtfertigen: „Und herrlich tagt der Kosmos der Geschichte“.58

Literatur Quellen K I – Klio. Eine Sammlung historischer Gedichte mit einleitenden, geschichtlichen Anmerkungen, hg. von ADOLF [SCHOTT]MÜLLER, Berlin 1840. K II – Klio. Eine Sammlung historischer Gedichte mit einleitenden, geschichtlichen Anmerkungen, hg. von ADOLF SCHOTTMÜLLER, 2. umgearb. Aufl., Leipzig 1866. ANONYM, [Rezension von K I], in: Literarische Zeitung 40 (30.9.1840), S. 755f. ANONYM, [Rezension von K II], in: Magazin für die Literatur des Auslandes 35 (19.5.1866), Nr. 20, S. 270f. ANONYM, [Nachruf auf Adolf Schottmüller], in: Magazin für die Literatur des Auslandes 40 (20.5.1871), Nr. 20, S. 288. ARNDT, E[RNST] M[ORITZ], Lieder für Teutsche, [Leipzig] 1813. DERS., Ein Wort über die Feier der Leipziger Schlacht, Frankfurt a. M. 1814. 57 Vgl. Joseph Christian von Zedlitz: Bei Beethovens Begräbniß (K II, S. 296f.); Otto Friedrich Gruppe: Georg Friedrich Wilhelm Hegel (K II, S. 303); Ernst Curtius: Alexander von Humboldt (K II, S. 304). 58 K II, S. 304.

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Geschichtstransformationen im Drama der Weimarer Republik: Ernst Toller – Emil Ludwig – Alfons Paquet CHRISTOPHER MEID Der Beitrag nimmt das komplizierte Verhältnis zwischen Geschichtsdarstellung, politischer Instrumentalisierung und dramatischer Gestaltung in den Blick. In exemplarischen Analysen ausgewählter Dramen von Ernst Toller, Emil Ludwig und Alfons Paquet wird deutlich, wie die Bühne nicht nur politisch aufklären, sondern darüber hinaus unmittelbar politisch wirken soll. Die jüngste Geschichte dient so als Material für (z. T. avantgardistische, z. T. ästhetisch konventionelle) dramatische Entwürfe, die den Zuschauer sowohl zur kritischen Reflexion als auch zu eigenem Handeln anregen sollen.

Drama, Geschichte, Politik In seinem Reisebericht Das Land ohne Schatten (1930) beklagt der völkische Autor Josef Magnus Wehner, die deutschen Bühnen seien korrumpiert durch linke, demokratische Intendanten und Regisseure, deren tendenziöse Theaterpraxis zur Entfremdung von Volk und Bühne beigetragen habe. „Wir alle, die wir in dieser Zeit leben, wissen um den ungeheuerlichen Verfall unserer Bühne. Sie ist zur politischen Arena der Demokratie geworden.“1 Diese Philippika eines frustrierten Schriftstellers weist – trotz der ideologischen Fragwürdigkeit der Verfallsthese – auf einen Umstand hin, der für Dramatik und Theaterwesen der Weimarer Republik zentral ist, nämlich die durchweg zu beobachtende 1

WEHNER, 1930, S. 92. Vgl. zu dem Autor BAIRD, 2008, S. 66-95; zu den Tendenzen seines Reiseberichts MEID, 2012, S. 177-188.

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Christopher Meid

Politisierung und Ideologisierung des Theaters und der Theaterkritik.2 Tatsächlich überwiegen die Stimmen von links; in der Republik der Außenseiter (Peter Gay)3 dient die Bühne nicht nur dazu, politische Entwürfe darzustellen, sondern soll darüber hinaus unmittelbar politisch wirksam werden: Die Lehrstücke Bertolt Brechts und das Politische Theater von Erwin Piscator zielen gleichermaßen darauf ab, den Zuschauer zu Reflexion und Aktion anzuregen. Diese Tendenzen lassen sich deutlich im Umgang mit historischen Stoffen zeigen: Dabei soll der forcierte Vergangenheitsbezug der Gegenwartsdeutung dienen. Das Drama ist mithin Mittel einer Geschichts- und Erinnerungspolitik, die versucht, neue Traditionen zu etablieren und überkommene Deutungsansätze zu revidieren. Einschneidende Ereignisse wie der Erste Weltkrieg oder die Russische Revolution fordern konkurrierende Deutungen der jüngsten Geschichte heraus. Alle hier diskutierten dramatischen Entwürfe reagieren auf historische Umwälzungen eines ungekannten Ausmaßes, deren Wirkungen zum Zeitpunkt der Entstehung der Stücke noch nicht in ihrer vollen Tragweite zu fassen sind. Sie literarisieren Prozesse, von denen Autoren und Publikum unmittelbar betroffen sind. Im Hintergrund der dramatischen Experimente stehen vielfach traumatische Geschichtserfahrungen. Der Zusammenbruch im November 1918 stimuliert theoretisch-metaphysische, zuweilen apokalyptische Konzepte, denen auch für die Literatur zentrale Bedeutung zukommt.4 Geschichte ist in den 1920er Jahren Gegenstand essentialisierender Deutungen wie auch Anstoß für ideologisch aufgeladene Debatten um Schuld und Verantwortung. In diesem Zusammenhang lassen sich die Dramen auch als Versuche auffassen, historische Prozesse verständlich zu machen und zugleich Handlungsoptionen für Gegenwart und Zukunft abzuleiten. Die literarischen Texte sind Ausdruck eines umfassenden politischen und weltanschaulichen Krisenbewusstseins und versuchen zugleich, Deutungs- und Bewältigungsansätze zu bieten. 5 Dass eine solche Sinnstiftung wiederum die Transformation historischer Ereignisse und Zusammenhänge bedeuten muss, liegt auf der Hand. 2 3 4 5

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Vgl. die Übersicht bei KREIDT, 1995 und VÖLKER, 1983. Vgl. GAY, 2004. Vgl. zu den apokalyptischen Vorstellungen in der Literatur BROKOFF, 2001; VONDUNG, 1988. Vgl. WEYERGRAF, 1995, S. 9: „Der Krieg war das Epochenereignis, vor dem sich die Weimarer Kultur profilierte und das alle zu Zeitgenossen machte. Alle Reaktionen auf den Krieg werden von einem universalen Krisenbewußtsein übergriffen, das die psychopolitische Grundschicht der Weimarer Kultur bildete.“

Geschichtstransformationen im Drama der Weimarer Republik

Jegliche Literarisierung historischer Ereignisse bringt zwangsläufig variierende Deutungen mit sich; diese fallen umso einschneidender aus, je konkretere Absichten damit verbunden werden. Unmittelbar mit der Wirkungsabsicht hängen die künstlerischen Strategien zusammen. Die drei dramatischen Entwürfe, die ich im Folgenden in den Blick nehmen werde, unterscheiden sich nicht nur im jeweiligen Verständnis historischer Zusammenhänge, sondern auch in ihrer Form. Diese Beispiele für dramatische Geschichtstransformationen literarisieren auf je eigene Weise einschneidende Ereignisse der jüngsten Vergangenheit. So lenkt Ernst Tollers spätexpressionistisches Drama Masse – Mensch (1920) das Augenmerk auf das Verhältnis des Individuums zu historischen Prozessen. Während Emil Ludwig in seinem Bismarck-Drama Die Entlassung (1922) die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs in einem bewusst konventionell gehaltenen Konversationsstück auf die Bühne bringt, entwirft Alfons Paquet in Sturmflut (1926) die Utopie einer gelingenden Weltrevolution und nutzt dabei in Zusammenarbeit mit dem Regisseur Erwin Piscator avancierte technische Mittel wie etwa den Einsatz von Filmprojektionen. Anhand dieser Texte ist danach zu fragen, auf welche Weise und mit welcher Stoßrichtung sie historische Ereignisse transformieren. Welche Akteure historischer Prozesse stellen sie heraus: Individuen, Kollektive oder numinose Schicksalsinstanzen? Schließlich wird zu zeigen sein, welche literarischen Strategien die Autoren nutzbar machen und auf welche Traditionen sie zurückgreifen, um im Medium des Dramas Geschichte darzustellen und für ihre Gegenwart zu deuten.

Geschicht e und Ideologie: Masse – Mensch. Ein Stück aus den sozialen Revolutionen des 20. Jahrhunderts (1920) von Ernst Toller Ernst Tollers Drama Masse – Mensch bezieht sich auf konkrete historische und politische Ereignisse, nämlich auf die gewaltsame Niederschlagung der Münchner Räterepublik im Jahr 1918.6 Toller selbst war bekanntlich prominent involviert und wurde wegen seiner politischen Aktivitäten zu einer fünf6

Vgl. zu den Kontexten FRÜHWALD/SPALEK, 1979; KÖGLMEIER, 1999. Die größeren Zusammenhänge bei CHOŁUJ, 1991.

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jährigen Haftstrafe verurteilt. 7 Sein Drama entstand in der Festungshaft und wurde vielfach (nicht zu Unrecht) als autobiografischer Kommentar zu den gescheiterten revolutionären Ereignissen verstanden. 8 Diese Sichtweise kann allerdings den Blick auf die genuin literarischen Qualitäten des Textes verstellen. Masse – Mensch ist weder proletarisch-revolutionäre Tendenzliteratur noch Geschichtsdrama im herkömmlichen Sinn. Vielmehr deckt das Stück die Mechanismen historischer Prozesse auf und problematisiert sie am Beispiel der jüngsten Geschichte. Der zentrale Konflikt illustriert Merkmale und Folgen historischer Umwälzungen in der Moderne: Er kreist um das Verhältnis des Individuums zu kollektiven Prozessen.9 Bereits der Titel des Dramas markiert die grundsätzliche Antithese, die der dramatischen Konfiguration zugrunde liegt. Es geht um den (noch) unaufhebbaren Gegensatz zwischen der Masse und dem Individuum: „Die Masse gilt und nicht der Mensch.“10 Im Mittelpunkt des Geschehens steht die bürgerliche Sonja Irene L. – im Drama lapidar und generalisierend als ,die Frau‘ bezeichnet –, die sich den revolutionären Arbeitern angeschlossen hat.11 Bald schon wird deutlich, dass die gewaltsame Auflehnung zwar das einzige erfolgversprechende Mittel ist, sich gegen die bestehenden Verhältnisse durchzusetzen. Dieses Mittel aber zugleich den Zweck des Aufstandes verfehlt, da es die Entmenschlichung der Aufständischen befördert. ‚Der Namenlose‘, Gegenspieler von Sonja L., fasst dies prägnant zusammen: „[E]in einzger blutger Kampf/Und ewig Frieden.“12 Diese chiliastische Position wird in der Gestalt der Frau, die man zu Recht als Ideenträgerin Tollers bezeichnet hat,13 deutlich kritisiert. Sie steht in entschiedenem Gegensatz zu den übrigen Figuren des Dramas – nicht nur zu dem Namenlosen, sondern auch zu ihrem Ehemann, der die inhumanen Vorstellungen der bürgerlichen Gesellschaft und ihre blinde Staatstreue verinnerlicht hat. Seine „[b]edrohte Ehre“14 treibt ihn – letztlich vergeblich – dazu an, die Frau von ihrem Tun abzubringen. 7 8 9 10 11 12 13 14

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Vgl. FRÜHWALD/SPALEK, 1979, S. 91-94 (Text des Urteilsspruchs). So etwa von LIXL, 1986, S. 56. Vgl. GRUNOW-ERDMANN, 1994, S. 71: „Das Stück ist der Versuch einer kritischen Reflexion eines politisch und ethisch begründeten Handelns in einer bestimmten historischen Entscheidungssituation.“ TOLLER, 2010 [1920], S. 56. Vgl. zu den biografischen Bezügen FRÜHWALD, 2010, S. 86-94. TOLLER, 2010 [1920], S. 31. FRÜHWALD, 2010, S. 76. TOLLER, 2010 [1920], S. 13.

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Doch auch von den proletarischen Revolutionären trennt sie eine unüberbrückbare Kluft, lehnt sie doch jegliche Gewalt ab: Höre: kein Mensch darf Menschen töten Um einer Sache willen. Unheilig jede Sache, dies verlangt. Wer Menschenblut um seinetwillen fordert, Ist Moloch: Gott war Moloch. Staat war Moloch. Masse war Moloch.15

Vor diesem Hintergrund ist es konsequent, dass sie am Ende ablehnt, sich auf Kosten eines Menschenlebens befreien zu lassen, und den eigenen Tod vorzieht. Dieses Opfer wird religiös überhöht.16 Die Frau selbst erklärt: „Ich lebe ewig.“ 17 Dabei gewinnt sie eine geradezu christusähnliche Bedeutung: „Ich aber werde ewig, / Von Kreis zu Kreis, / Von Wende zu Wende, / Und einst werde ich / Reiner, / Schuldloser, / Menschheit / Sein.“ 18 „Menschheit“ zu werden, ist also Ziel des Individuums, das sich schließlich von seiner Schuld befreien kann.19 Wenn Toller deutlich macht, welch fragwürdige Konsequenzen das Menschen- und Geschichtsbild der Revolutionäre bewirkt, berührt dies nicht seine grundsätzliche Ablehnung der alten bürgerlichen Autoritäten. Toller bezieht explizit Stellung für die Unterdrückten und kritisiert Kapitalismus, Militaris15 EBD., S. 57. 16 Vgl. SCHREIBER, 1997, S. 146: Der Schluss von Masse – Mensch stelle „der christlichen Lehre eine retheologisierte Umdeutung der Christusgeschichte entgegen.“ Dabei handele es sich jedoch, so die überzeugende These der Autorin, nicht um einen religiösen Akt. Vgl. EBD., S. 150: „Die verändernde Wirkung, die der Tod der Protagonistin auf andere hat, verleiht ihm retrospektiv zusätzliches Gewicht. Dennoch verbietet der Duktus des Dramas, den Tod als Selbstopfer metaphysisch zu überhöhen, ist er doch Folge der aufgezeigten Aporie revolutionären Handelns.“ 17 TOLLER, 2010 [1920], S. 57. 18 EBD., S. 57f. Die christologischen Konnotationen dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass Toller die Vertreter der institutionalisierten Religion dem Unterdrückungsapparat zurechnet, der die Repressionen durch die Ursünde rechtfertigt. Vgl. EBD., S. 58: „Der Mensch ist gut – so träumtest du/Und sätest namenlosen Frevel/ Wider heilgen Staat und heilge Ordnung./Der Mensch ist böse von Anbeginn.“ 19 Vgl. REIMERS, 2000, S. 54: Auch „die Frau [vertritt] die Überzeugung, daß die Veränderung der Gesellschaft mit der Veränderung des Individuums beginnt.“

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mus und Imperialismus.20 Sein „[d]en Proletariern“ gewidmetes Drama lenkt die Sympathie eindeutig auf die Opfer einer kapitalistisch-militaristischen Gesellschaftsordnung. 21 Für die politischen und ökonomischen Führungsschichten dient der Krieg als Mittel zur Profitsteigerung, die Menschen werden als „Menschenmaterial“22 missbraucht. In den eindrücklichen Arbeiterchören wie auch in den grotesken Traumszenen wird die Scheinheiligkeit der bürgerlichen Gesellschaft sichtbar.23 Toller kritisiert also sowohl die staatliche Ordnung als auch die Revolutionäre. Er entlarvt die utopistischen Heilsversprechen der Linken ebenso wie die Staatsgläubigkeit des Bürgertums als menschenverachtend. So stellt das Stück keinen konkreten Ausweg dar.24 Die Lösung dieses Konflikts wird in die Zukunft verlegt: Am Ende wirkt das heroische Beispiel der Frau zumindest auf einige Mitgefangene, die sich ihrer eigenen Entmenschlichung bewusst werden, als sie die Habseligkeiten der zur Hinrichtung geführten Frau an sich bringen und in diesem Moment die Salve des Exekutionskommandos ertönt: „Schwester, warum tun wir das?“ 25 Hier wird so etwas wie der Weg zur Selbsterkenntnis angedeutet, eine Einsicht, die exemplarisch auf der Bühne präsentiert wird – aber im Individuum angesiedelt ist. Die Erlösungsperspektive des Schlusses verlässt vollends die Sphäre revolutionärer Agitationsdramatik. Man fühlt sich an Goethes Epigramm über seine Iphigenie auf Tauris erinnert – „Alle menschliche Gebrechen/Sühnet reine Menschlichkeit“ 26 –, und tatsächlich hat der Großkritiker Alfred Kerr den Autor Toller einen „Politicus“ genannt, „der mit vierundzwanzig Jahren schon eine Iphigenie ward“.27 Eine derartige Lesart verkennt aber, dass Toller ein letztlich tragisches Geschichtsbild entwirft.. „Die Erde kreuzigt sich“, 28 heißt es in dem Gedicht, das der Widmung vorangestellt ist. Die Handlung des Dramas stellt nicht nur Humanität als Ausnahmefall dar, sondern zeigt darüber hinaus das revolutionäre Ge20 Vgl. TOLLER, 1978 [1929], S. 129: „Man darf politische Dichtung nicht verwechseln mit Propaganda, die dichterische Mittel benutzt.“ 21 Vgl. DERS., 2010 [1920], S. 5 (Widmung). 22 EBD., S. 18. 23 Vgl. EBD., S. 18-24 („Saal der Effektenbörse“) und S. 25 („Massenchöre“). 24 Vgl. hingegen die nicht haltbare Position von LIXL, 1986, S. 64: „Toller verurteilt den Pazifismus Irenes, indem er ihre Taktik des edlen Selbstopfers politisch ad absurdum führt.“ 25 TOLLER, 2010 [1920], S. 60. 26 GOETHE, 2007 [1827], S. 353. 27 Zit. n. FRÜHWALD, 2010, S. 97. 28 TOLLER, 2010 [1920], S. 5.

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schehen als selbstzerstörerischen Mechanismus, an dem auch die Proletarier einen gewichtigen Anteil haben. Tollers Menschenbild transzendiert die konkreten politischen Vorstellungen. Er geht von einer allgemeinen tragischen Verstrickung aus; wie der sophokleische König Ödipus, auf den das Drama anspielt, sind seine Protagonisten „schuldlos schuldig.“29 Ihre positiven Intentionen führen im Kontext übermächtiger Determinanten nicht zu entsprechenden Folgen: Ganz im Gegenteil schlägt das revolutionäre Ethos in eine Verblendung um, deren unmenschliche Konsequenzen zwar nicht die Ziele, wohl aber die Mittel der Revolutionäre diskreditieren. Dieses Weltbild musste zwangsläufig die revolutionär-politische Kritik provozieren.30 Tollers Auffassung, dass „auch die proletarische Kunst im Menschlichen münden“31 müsse, trennt ihn von Zeitgenossen wie Brecht, verbindet ihn aber zugleich mit Autoren wie Paquet.

Historische Verant w ortung: Die Entlassung. Ein Stück Geschi chte in drei Akten (1922) von Emil Ludw ig Während Ernst Toller historische Ereignisse zum Anlass nimmt, über anthropologische und geschichtliche Konstanten zu schreiben und ein letztlich tragisch anmutendes Geschichtsbild entwirft, dramatisiert Emil Ludwig in dem Stück Die Entlassung in enger Anlehnung an Bismarcks Memoiren die letzten Tage von dessen Kanzlerschaft und bedient sich dieses historischen Stoffes erklärtermaßen für eine aktuelle politische Aussage.

29 EBD., S. 52. 30 Vgl. EBD., S. 7: „Als Politiker handle ich, als ob die Menschen als einzelne, als Gruppen, als Funktionsträger, als Machtexponenten, als Wirtschaftsexponenten, als ob irgend welche Sachverhältnisse reale Gegebenheiten wären. Als Künstler schaue ich diese ‚realen Gegebenheiten‘ in ihrer großen Fragwürdigkeit.“ REIMERS, 2000, S. 54 hebt hervor, in Tollers Drama werde „die Umgestaltung der Gesellschaft auf einer abstrakten, ahistorischen Ebene dargestellt“. Das stimmt allerdings nur bedingt, schließlich ist der konkrete Kontext deutlich markiert und immer mitzudenken: Er dient als recht genau zu fassendes Exempel für die übergreifenden Themen, die das Drama verhandelt. 31 TOLLER, 2010 [1920], S. 9.

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Ludwig zählt in den 1920er Jahren zu den „meistgelesenen, aber auch bestgehaßten“32 deutschsprachigen Autoren: Bis 1931 betrug die deutsche Auflage von Ludwigs Werken 800.000, die fremdsprachige Auflage 1.210.000 Exemplare.33 Vor allem seine Biografien erreichen ein Publikum, das weit über die Fachgrenzen hinausgeht. 34 In seinen Lebensbeschreibungen und historischen Essays setzt sich Emil Ludwig in polemischer und politischer Absicht mit der Vergangenheit auseinander. So versucht er in Wilhelm der Zweite (1925), über die Destruktion zentraler Mythologeme des Kaiserreichs die neue Republik zu legitimieren; 35 Juli 14 (1931) diskutiert die Kriegsschuldfrage und weist die Verantwortung den alten Eliten in ganz Europa zu.36 Auch die Dramen, die Ludwig in den Jahren der Weimarer Republik verfasst, sind von dieser Stoßrichtung geprägt. Dabei gesteht er offen ein, ästhetische Defizite im Hinblick auf eine große, unmittelbare Wirkung auf ein breites Publikum in Kauf zu nehmen. Mit dieser bewusst anti-avantgardistischen Dramenpoetik distanziert er sich zugleich von seinen eigenen ästhetizistischen Anfängen.37 Seinen Kritikern gesteht er durchaus zu, dass sich dies negativ auf 32 GRADMANN, 1993, S. 44. 33 Vgl. LUDWIG, 1931, S. 871. 34 Vgl. MOMMSEN, 1930, S. 8: „Sie bestimmen die historisch-politische Urteilsbildung auch sehr ernsthafter Kreise und nehmen in der öffentlichen Meinung vielfach den Platz ein, den im 19. Jahrhundert die großen Fachhistoriker besaßen.“ 35 Vgl. GRADMANN, 1993, S. 11: „Die Autoren vertraten den mehr oder weniger expliziten Anspruch, Geschichtsrevision im Dienste der ersten deutschen Republik zu betreiben. Bevorzugte, aber keineswegs ausschließliche Gegenstände ihrer Werke waren die Symbolfiguren der preußisch-deutschen Geschichte: die Hohenzollerndynastie von Friedrich dem Großen bis zu Wilhelm II., Bismarck und andere.“ 36 Vgl. EBD., S. 136-148; MEID, 2014. 37 Vgl. LUDWIG, 1931, S. 555f.: „Daß ich jetzt mit entschieden unromantischen, erziehenden, sogar politischen Dramen, erst mit dem Jungen Friedrich, dann mit den Bismarck-Stücken die deutschen Bühnen eroberte, hatte einen moralischen Sinn, aber auf mich wirkte es keineswegs moralisch: ich empfand nur eine leise Verachtung vor einem Institut, das seine rein künstlerische Aufgabe so leicht und willig umbiegen ließ. Während ich mit allem Fühlen und Wirken nun schon seit Jahren mich aus der rein ästhetischen Welt in eine sozialere gewandt hatte und meine Gaben nicht mehr in romantischen Spielen versprudeln ließ, forderte ich im geheimen von dem idealen Schauplatz meiner Jugend, vom Theater, daß es dort bleiben müßte, wovon grade ich es öffentlich fortzog. […] Die Wirkung, die ich seit zwanzig Jahren erstrebte, hatte ich wohl, eine Weile lang wurde kein deutsches Stück so viel gespielt wie die ‚Entlassung‘, auch das Ausland nahm sie teilweise als Buch und auf der Bühne auf. Aber das alles war nicht meine erträumte Geliebte: trug sie nun ein falsches Kleid oder eine dumme Frisur oder schwatzte sie Unsinn: genug, sie fesselte mich nicht mehr.“

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die ästhetischen Qualitäten auswirken könne: Ludwig macht sich den Vorwurf zu eigen, sein Drama sei „ein Wachsfigurenkabinett“, und räumt unumwunden ein, er wolle „von der Bühne her Politik machen [und] Geschichte lehren“.38 An dieser offen eingestandenen ästhetischen Anspruchslosigkeit und Konventionalität dürfte es auch liegen, dass sein Bismarck-Drama Die Entlassung heute vergessen ist, obwohl es zeitweise überaus erfolgreich inszeniert wurde.39 Nicht ohne Stolz erklärte Emil Ludwig: In über tausend Vorstellungen hat eine Million Deutscher durch mein Bismarck-Stück die Zusammenhänge zwischen 1890 und 1914 erfahren, die jeder in den Dokumenten hätte lesen können, aber nicht las. Da war es ganz gleichgültig, wie gut das Stück war, es hätte sogar noch viel schlechter sein dürfen, denn es sollte nur in der politischen Erziehung mitwirken, und das hat es getan.40

Ludwig will erklärtermaßen die „Gegenwart [seiner] Nation durch ihre Vergangenheit deuten helfen“. 41 Dabei ist sein Standpunkt klar: Er möchte die junge Demokratie propagieren und zugleich den Wilhelminismus diskreditieren. Wenn Emil Ludwig ausgerechnet Bismarck ins Zentrum stellt, entscheidet er sich bewusst für eine kontrovers diskutierte Figur, die von der konservativen

38 EBD., S. 545. 39 Vgl. zur Entstehung des Stücks EBD., S. 529-543. Ausgangspunkt für Ludwigs Beschäftigung mit dem Thema war die Kontroverse um den dritten Band von Bismarcks Memoiren Gedanken und Erinnerungen, der 1919 erscheinen sollte. Wilhelm II. erwirkte aus seinem niederländischen Exil eine einstweilige Verfügung gegen die Publikation, weil der Text den Wortlaut von Originalbriefen aus der Feder des Kaisers enthalte. Bei Cotta in Stuttgart las Ludwig unter Aufsicht das Buch und war zutiefst fasziniert von Bismarcks Abrechnung mit Wilhelm II.: „Dies Buch, dachte ich, ist die stärkste Waffe, die unsre junge Republik sich träumen lassen kann: der Mann, den die Nation als Palladium verehrt, vernichtet darin den Mann, den sie aufhören muß zu verehren.“ (EBD., S. 530) Ludwig forcierte die Publikation von Ausschnitten in italienischer Übersetzung, sodass es schließlich auch zu einer Veröffentlichung in Deutschland kam. Das Drama wurde nach Ludwigs Angaben in Sizilien entworfen und im November 1921 in Berlin verfasst. Auch gegen Ludwigs Stück klagte der entthronte Kaiser wegen vermeintlicher Verletzung seiner Persönlichkeitsrechte, verlor aber den Prozess. 40 DERS., 1928, S. 1. 41 DERS., 1931b [1922], S. 521.

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Rechten mythisiert und von demokratischen Kräften problematisiert wird. 42 Anders als man erwarten könnte, liegen Ludwigs Sympathien klar auf Bismarcks Seite: „Ich bin für das Genie und deshalb für Bismarck.“43 Auch wenn Bismarcks politische Ansichten für den Demokraten Emil Ludwig problematisch sind, fasziniert ihn doch die Figur des Kanzlers, eben weil er ihn als tragischen Charakter wie Hamlet und Wallenstein auffasst: Bismarck gehe „an der Problematik seiner dunklen, großen Seele zugrunde“.44 Sein Gegenspieler ist der junge Kaiser Wilhelm II., der im Überschwang aus persönlichen Defiziten Bismarcks Bündnissystem zerstört und so letztlich den Untergang des Reichs verschuldet.45 Das Drama stellt die letzten Tage von Bismarcks Kanzlerschaft dar. Weitgehend isoliert, versucht er gegen den Willen des Kaisers das Bündnis mit Russland zu erneuern. Hellsichtig sieht Bismarck die Gefahren einer außenpolitischen Isolierung: „Dann wird das Reich den Krieg nach zwei Fronten führen müssen und untergehen.“46 Seine Sorge gilt dabei nicht dem Kaiser, sondern dem Reich, das er als sein Lebenswerk betrachtet: JOHANNA (kommt mit einem nassen Tuch zurück, das sie ihm auf den Kopf legt): Ottochen, laß sie doch alle zusammen ersaufen! BISMARCK (leise): Den Kapitän ließ ich schon ersaufen, aber das Schiff! Das Schiff!47

42 Vgl. GERWARTH, 2007. 43 LUDWIG, 1931b, S. 522. Das berührt sich mit Ludwigs Zeichnung Bismarcks als Genie in der bereits 1911 erschienenen psychologischen Skizze. Vgl. DERS., 1912, S. 251-275, bes. S. 253: „Er kam mit der Notwendigkeit des Genius.“ 44 DERS., 1931a, S. 540. 45 Das problematische Verhältnis zwischen Wilhelm II. und Bismarck stellt Ludwig auch in seiner Biografie des letzten Kaisers heraus. Vgl. DERS., 1912, S. 216: „Da steht der Kaiser [an Bismarcks Sarg, C. M.], er denkt: Wo ist jetzt deine ewig störende Kritik? Du liegst im Kasten, ich aber stehe hier mit meinem Kranze, gesund und blühend, in unbestrittner Macht. Neid und Rache war alles, womit du in diesen acht Jahren mein Volk zu beunruhigen suchtest. Und was sollte dein letztes Mahnwort, damals bei Tische, dort nebenan? Blüht nicht mein Reich? Sind meine Untertanen nicht glücklich? Ungefährdet steigt mit jedem Jahr die Königsmacht, Europa fürchtet das größte Heer der Welt. Du fährst in die Grube. Ich habe gesiegt!“ 46 DERS., 1931b [1922], S. 739. 47 EBD., S. 741. – Die Schiffsmetaphorik verweist auch auf die ikonische Karikatur von John Tenniel, die anlässlich von Bismarcks Entlassung in der britischen Zeitschrift Punch erschien (Dropping the Pilot).

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So wirken die Schlusssätze des Dramas, mit denen Bismarck seine Entlassung kommentiert, wie eine Vorausdeutung auf die Katastrophe des Ersten Weltkriegs: „Dann – muß ich das Schicksal meines Reiches seinem angestammten Kaiser überlassen!“ 48 Die dramatische Kommunikation besitzt anklagende Funktion: Die Äußerungen Bismarcks geben eine Geschichtsdeutung vor, die den Zusammenbruch des Jahres 1918 als Folge der politischen Inkompetenz Kaiser Wilhelms II. begreift. Ludwigs Stück destruiert die Herrschaft der Hohenzollern-Dynastie, hält aber an der außerordentlichen Größe Bismarcks fest und bietet somit auch für ein konservatives Publikum etliche Anknüpfungspunkte, das zudem durch die konventionelle Form keinesfalls abgeschreckt wird. Die Entlassung richtet den Blick zurück. Das Drama führt den deutschen Zusammenbruch auf die persönlichen Defizite des Kaisers zurück und entwirft so eine historische Kausalität, die geschichtliche Prozesse auf das Wirken bestimmter Personen und ihre Entscheidungen bezieht.

Apotheose der Welt revolution? Sturmflut (1926) von Alf ons Paquet Emil Ludwig dramatisiert die Vorgeschichte des Ersten Weltkriegs, Alfons Paquet hingegen bringt in seinem Drama Sturmflut die politischen Folgen des Weltenbrands auf die Bühne. Er transformiert nicht nur Ereignisse der russischen Oktoberrevolution, sondern stellt darüber hinaus ihre Wirkung in globale Zusammenhänge. Am Ende steht folgerichtig die Weltrevolution.49 In einem ausführlichen Vorwort reflektiert Paquet die Prämissen seines Schreibens. Ihm gehe es nicht um politische Agitation, sondern darum, die treibenden Kräfte unserer Zeit in ein paar Gestalten einzufangen, die bildhaft, handelnd, im Ablauf eines Abends Empfindungen wecken wie sie die Wirklichkeit erweckt, die für ihre Dramen über Jahrzehnte verfügt und das Opfer von Millionen wirklicher Menschenleben hinnimmt.50

48 EBD., S. 743. 49 Vgl. zu Paquets Dramatik THÖNE, 2001. Die folgenden Ausführungen basieren teilweise auf MEID, 2013. 50 PAQUET, 1926, S. 7.

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Im Medium des Dramas möchte er also die historischen Prozesse verständlich machen. Weil die Gegenwart eine Zeit folgenreicher Umbrüche sei, müsse man sich diesen Ereignissen stellen: Ist es nicht besser, unserer Zeit in das Gesicht zu sehen, als unseren Urenkeln die Blitze und Donner über uns als Stoff für historische Dramen zu überliefern? Läßt unsere Zeit uns noch die Muße, in das Vergangene zu schweifen, um den Mythos zu finden?51

Nicht die Stoffe der Vergangenheit sind für Paquet dramentauglich, sondern vor allem die Umwälzungen der Gegenwart, wie etwa im Fall von Sturmflut die russische Oktoberrevolution. Paquet, einer der besten Kenner russischer Verhältnisse,52 strebt keine realistische Darstellung an. Während er in Schriften wie dem Reisebericht Im kommunistischen Rußland. Briefe aus Moskau (1919) und dem Essayband Der Geist der russischen Revolution (1919) das baldige Scheitern der Revolution in Aussicht stellte, ist Sturmflut von großem Optimismus bestimmt: Von Russland gehe, so die Aussage des Dramas, ein wesentlicher Impuls für die politische Entwicklung der ganzen Welt aus. Für Paquet ist die Revolution ein naturhaftes Ereignis, das als Sturmflut mit elementarer Gewalt den Verlauf der Geschichte ändert. Paquet will primär weltpolitische Konstellationen offenlegen, von denen insbesondere auch das krisengeschüttelte Deutschland der Zwischenkriegsjahre betroffen ist. Seine Solidarität mit der jungen Sowjetunion basiert auf der Vorstellung, beide Staaten seien denselben Bedrohungen ausgesetzt, weniger auf einer grundlegenden Übereinstimmung mit der kommunistischen Ideologie. Paquets Drama spielt unmittelbar nach der Revolution in St. Petersburg.53 Die Stadt ist nicht nur von aufrührerischen Naturgewalten – der titelgebenden Sturmflut – bedroht, sondern auch von britischen Imperialisten und russischen Konterrevolutionären. Der britische Agitator Orvill möchte Petersburg zu einer britischen Kolonie machen: „Als Vagabunden sind sie eine Gefahr für die Welt, als Kolonie eine Wohltat.“54 Kolonialismus wird aus dieser Perspektive 51 EBD. 52 Vgl. zu Paquet und Russland KOENEN, 2005; MEID, 2013. 53 Eine textnahe Interpretation des Dramas bietet THÖNE, 2001, S. 68-134. Die Handlung des Stücks nimmt zentrale Elemente des Romans Die Prophezeiungen (1923) auf, variiert sie aber dergestalt, dass das Drama geradezu als Korrektur älterer Positionen zu verstehen ist. Vgl. MEID, 2013. 54 PAQUET, 1926, S. 22.

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als Segen für die Menschheit ausgegeben: „Schon sind durch uns Dreiviertel der Welt friedlich geworden.“55 Auch wenn Paquet reklamiert, es gehe ihm wesentlich um eine künstlerische Durchdringung der historischen Ereignisse, ist die plakativ und tendenziös formulierte antibritische und antikolonialistische Stoßrichtung nicht zu übersehen. Ziel der westlichen Imperialisten ist die Beseitigung der Revolution durch finanzielle Stärke: „Aus tausend unbekannten Quellen fließt Geld. Granka Umnitsch ist der Albdruck von allen. Mit Geld werden wir ihn unschädlich machen.“56 Zunächst scheint der Plan der Imperialisten aufzugehen: Der Revolutionsführer Granka Umnitsch verkauft die Stadt an den Juden Gad, der als Strohmann der Engländer agiert. Granka zieht sich mit seiner Geliebten, der schwedischen Abenteurerin Gräfin Rune Lewenclau, in die Wälder zurück. Allerdings kehrt er schließlich heimlich in die Stadt zurück und organisiert einen Aufstand gegen die vertragsbrüchigen Imperialisten. Ein wesentlicher Handlungsstrang besteht somit in der Darstellung von Grankas Wandlung.57 In einem großen Monolog im letzten Akt deutet er seine Entwicklung und kritisiert seine eskapistischen Neigungen: Ich selber klage mich an! Ich gab die Stadt eidbrüchigen Räubern. In die Wälder ging ich, suchte, was kein Bischof in goldenen Gewändern Euch je verhieß: das rauhe, kummerlose Paradies auf dieser Erde. Ich wähnte zu überspringen, was nur schrittweis von allen im hart geschulten Kampf durchwandert werden muß. Einer Fremden hatte ich mich verbunden. Keiner Genossin, aufgewachsen in der Fron wie ihr, geübt, ihr Teil von unserer Last zu tragen. Nein, sie stieß zu uns, toll von Ehrgeiz. Ungeduldig warf sie uns beiseite. Einsam war ich in den Wäldern. Da, Awdeja! Auf Euren Notruf, Kameraden, kam ich. Und bin bei Euch, bin verkämpft wie Ihr, schmutzig wie Ihr, blutig wie Ihr und will verdammt sein ohne Euch.58

55 EBD., S. 51. Vgl. auch EBD., S. 81. 56 EBD., S. 21. 57 Vgl. EBD., S. 9: „Granka ist der Revolutionär aus dem Volke, stupsnasig, munter, robust, verschlagen. Aus seinem Daherstürmen, das im Anfang nur ein blutiges Spiel ist, rudert er zur entsagungsvollen Höhe des wahren Führers, der die Berührung mit der Masse, seinem eigentlichen Boden, immer wieder findet und durch die Kraft seines Wesens selbst Ssawin entwaffnet, Gad zu sich hinüberzieht.“ 58 EBD., S. 103.

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Grankas Selbstdeutung enthält zugleich ein Programm der Revolution, die von allen persönliche Opfer fordere. Indem Granka erneut die Verantwortung übernimmt, distanziert er sich von seinem Verhältnis mit Rune und solidarisiert sich zugleich mit den revolutionären Arbeitern. Die genuin proletarischen Standpunkte sind in der Figur der Revolutionärin Awdeja verkörpert, die Granka scharf kritisiert: „Die Stadt ist unsere Welt! Unsere Verbindung mit den Arbeitern der Welt! Utopie ist Euer Waldausflug! Hier ist das Herz der Revolution.“59 Sie hält unbeirrt an den Idealen des Aufstandes fest. Folglich gehören ihr die Schlussworte des Dramas: „Granka Umnitsch, Sieg!“60 Überall auf der Welt brechen Arbeiteraufstände los, da Granka mit dem Verkaufserlös der Stadt Petersburg inzwischen die Weltrevolution finanziert hat. Paquet dramatisiert Ereignisse aus der jüngsten russischen Geschichte; diese weisen aber einen deutlichen Bezug zu deutschen Zuständen auf. So gilt die Furcht, kolonialistischen Bestrebungen zum Opfer zu fallen, ebenso für Deutschland wie für Russland. Aus Paquets theoretischen Schriften geht klar hervor, dass sich der Autor zunehmend mit dem bedrohten Russland solidarisiert.61 Für ihn ist die Russische Revolution nicht nur ein großes Faszinosum, sondern geradezu Menetekel der künftigen politischen Entwicklung. So betont der deutsche Matrose mit dem sprechenden Namen Ostermann im Drama: „Alle schauen nach Eurem blutigen goldenen Osten. Unsere Jugend strahlt Eure Sonne. Unsere Sonne ist sie wie Eure. Die Welt macht ihren Weg mit dieser Sonne.“62 Vor diesem Hintergrund könnte der Eindruck entstehen, als handele es sich bei Sturmflut um ein Tendenzstück, das unreflektiert die Russische Revolution verherrlicht. Tatsächlich ist die Sympathie eindeutig auf der Seite der aufständischen Russen und ihrer Verbündeten aus aller Welt. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Dramenschluss nicht nur den Sieg der Revolution, sondern zugleich das menschliche Leid herausstellt, das durch gewaltsame politische Umwälzungen verursacht wird. So betont der Jude Gad unmittelbar vor Awdejas Schlussworten: „Wie kann man schreien vor Freude, wo so viele müssen weinen. Der Fluch wird treffen alle, die brauchen Gewalt.“ 63 Diese pazifistische Perspektive – sie erinnert an Tollers oben diskutiertes 59 60 61 62 63

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EBD., S. 57. EBD., S. 108. Vgl. MEID, 2013. PAQUET, 1926, S. 100. EBD., S. 106.

Geschichtstransformationen im Drama der Weimarer Republik

Drama Masse – Mensch – steht in unauflösbarem Gegensatz zu der Handlung des Dramas. Gads Appell an Menschlichkeit bleibt ohne Wirkung, wird dadurch aber nicht entwertet. Vielmehr liegt die Besonderheit des Dramas gerade darin, dass es trotz aller Plakativität nie in propagandistisches Pathos verfällt. Dieser Umstand wurde von Zeitgenossen durchaus kritisch gesehen. Am folgenreichsten sollte sich die Wertung von Erwin Piscator, dem Regisseur der Uraufführung, erweisen. Piscator, der bereits 1924 Paquets ‚dramatischen Roman‘ Fahnen auf die Bühne gebracht hatte,64 bemängelte die fehlende Tendenzwirkung des Stücks. Zwar waren sich Autor und Regisseur darin einig, dass die aktuelle Handlung mit den neuesten Mitteln auf die Bühne gebracht werden sollte, über die Funktion dieser bühnentechnischen Innovationen gingen ihre Meinungen allerdings deutlich auseinander. Paquet zufolge erfordere die globale Perspektive der Handlung den Einsatz neuester technischer Mittel: „Die Weltbedeutung der handelnden Kräfte, die hier einander gegenüberstehen, verlangt auch die Einbeziehung der technischen Organisationsformen des heutigen Lebens in ihrer ganzen Symbolkraft, mit all den Welthintergründen, die uns Radio, Lautsprecher, Grammophon und Film vermitteln.“65 Tatsächlich ist Sturmflut ein multimediales Kunstwerk, das souverän Filmprojektionen einsetzt, um die weltweiten Auswirkungen der Revolution darzustellen.66 Diese Elemente sind bereits dem Dramentext eingeschrieben und lassen sich nicht – wie oft geschehen – dem Regisseur zuschreiben. Paquet geht es dabei anders als Erwin Piscator nicht um Propaganda, sondern um die Versinnlichung historischer Prozesse. 67 Für ihn sind Film und Rundfunk das geeignete Mittel, um die Einbettung der Russischen Revolution in globale Zusammenhänge vorzuführen. Er möchte deuten, aber nicht doktrinär beeinflussen. Folglich betont er das Eigenrecht der Dichtung: Ich schreibe also, wie gesagt, nicht Tendenz, nicht Ideendichtung. Ich ziele nur mit den neuen Mitteln unserer Zeit, unseres Tages nach Wirkungen, die allein 64 Vgl. dazu THÖNE, 2001, S. 29-68 (Interpretation des Dramas) und S. 317-346 (zur Aufführung); PISCATOR, 1968a, S. 53-59. 65 PAQUET, 1926, S. 9. 66 Vgl. etwa EBD., S. 28: „Film: Beginn der Ueberschwemmung in der Stadt. Explosion des Zerstörers. Rettung Ostermanns. Gebäude der Admiralität“; S. 42 (Regieanweisung zu Beginn des zweiten Akts): „Film: Das Fliegen der Depeschen, Zeitungsblätter, Musiknoten.“ 67 Vgl. THÖNE, 2003.

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Christopher Meid die ‚zeitlose‘ Kunst zu erzeugen vermag. Ich unterwerfe mich der vollen Strenge des reinen künstlerischen Urteils, so wie ich glaube, mich bis zum letzten Augenblick des Gestaltens keinem anderen Gesetz als dem künstlerischen unterworfen zu haben.68

In seinem Vorwort distanziert sich Paquet von einer einseitig politischen Deutung seines Dramas und beharrt unter Rückgriff auf wirkmächtige Traditionen auf der Autonomie des Kunstwerks. Maßgeblich für sein Schreiben seien einzig künstlerische Erwägungen. Damit erntete er deutlichen Widerspruch von Piscator, der Paquet die Flucht vor der Realität vorwarf und bei seiner Inszenierung des Dramas alles daran setzte, die Ambivalenzen des Textes abzuschwächen und ein propagandistisches Revolutionsfestspiel auf die Bühne zu bringen, das den Zuschauer überwältigen sollte. 69 Bezeichnenderweise kritisiert Piscator in diesem Zusammenhang gerade Paquets freien Umgang mit den historischen Zusammenhängen: „Hat man nicht überhaupt zuviel Ehrfurcht vor dem Mittel, der Sprache, zu wenig Ehrfurcht vor dem Material, der wahrhaftigen Begebenheit?“70 Paquets „Verwischung der Geschehnisse und Figuren“71 sei laut Piscator der „Tendenzwirkung des Stückes“72 abträglich. So erklärt sich, dass Piscator das Drama als Affront gegen seine bisherigen Versuche auffasste, direkte politische Agitation zu betreiben. Besonders provozierte ihn, dass Paquet sein Schreiben trotz aller politischen Konnotationen als „Romantik“ verstanden wissen wollte:73 „Romantik, an diesem Stoff, heute, in dieser Zeit, ist nicht das Recht, sondern das Unrecht der Dichtung.“74 Dennoch hinderte ihn seine Abneigung nicht daran, dass Stück sehr erfolgreich aufzuführen.75 Die grundlegende Aporie von Paquets Ansatz wurde auch von anderen Zeitgenossen bemerkt, die Piscators ideologisch-propagandistischen Standpunkt nicht teilten. So hebt der Kritiker Julius Bab zwar die Originalität von Paquets Dichtung hervor, die sich mit Phänomenen der Gegenwart auseinan68 PAQUET, 1926, S. 10. 69 Vgl. zu Piscators Inszenierung von Sturmflut THÖNE, 2001, S. 346-372. Vgl. zu Piscator WILLETT, 1982; SCHIRMER, 1993. 70 PISCATOR, 1968a, S. 76. 71 EBD., S. 76f. 72 EBD., S. 77. 73 PAQUET, 1926, S. 9. 74 PISCATOR, 1968a, S. 77. 75 Vgl. zum Improvisationscharakter der Aufführung PISCATOR, 1968b, S. 17-19.

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dersetze, 76 unterstreicht aber zugleich, der Autor habe aus der Zeitdichtung „doch wieder ein Märchen“77 gemacht. Ein derart aktueller Stoff stehe zwangsläufig mit Paquets Literarisierungstendenzen im Widerspruch: Das Gefühl des wirklich Geschehenen erlischt nicht in uns und stellt sich mit monumentaler Härte diesen Poetenphantasien in den Weg. Ich halte die Stilmischung, die Paquet hier versucht hat, nicht für glücklich – gerade weil er kein Tendenzdichter ist und keine bestimmte Parteinahme für oder gegen die revolutionäre Sache will, weil er nur ein ästhetisches Interesse hat. – Wer sich so nah mit der Gegenwart einläßt, der muß auch von ihrem praktischen Willen seine Richtung nehmen. Ich glaube, daß ein Tendenzgedicht großen Stils in der Paquetschen Art eher möglich wäre als ein rein künstlerisches.78 [Herv. i. O.]

Paquets Drama zeige, so die Diagnose von Bab, die Probleme, denen sich ein Autor aussetzt, der ideologisch brisante Themen aufgreift und zugleich auf der Autonomie der Kunst beharrt. Die Diskussionen um Sturmflut verweisen auf grundlegende Differenzen im Umgang mit historischen Stoffen, die an den hier diskutierten Dramen deutlich werden: Die Texte changieren zwischen literarischer ‚Trauerarbeit‘ (Toller), politischer Agitation (Ludwig) und dem Versuch, historische Prozesse symbolisch zu verdichten und so sowohl zu distanzieren als auch zu überhöhen (Paquet).

76 Vgl. BAB, 1972, S. 66: „Denn das Dichterische dieser Aufführung war nicht weniger originell wie das Theatertechnische. Ähnlich wie hier die Filmtechnik in den Theaterapparat, dringt mit verwirrend reizvoller Neuerung bei Paquet die Zeitung in die Dichtung ein.“ 77 EBD. – Vgl. auch EBD., S. 67: „Das alles ist wie ein tolles Märchen quer durch die mit Film, Radio und Telephon bewaffnete Gegenwart der Szene geschlungen. Und in vielen dieser Situationen und Gestalten blüht bei Paquet zweifellos ein wirklich dichterischer Schwung. Aber ich glaube, es ist der Schwung eines Lyrikers, der mehr dem szenischen Moment Reiz verleiht, als daß er dem gesamten menschlichen Vorgang dramatische Kraft gibt.“ 78 EBD., S. 67.

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IV. I NTERKULTURELLE

UND POSTKOLONI ALE

G ESCHICHTSTR AN SFORM ATIO NEN

Verräter und Verbrecher? Kulturelle Mittler in der kolonialen Historiografie und in postkolonialen Relektüren: Geschichtstransformation am Beispiel der iberischen Expansion CORNELIA SIEBER Es wird die Geschichtstransformation durch die aktuelle Umwertung der Rolle kultureller Mittler im spanischen und portugiesischen Expansionskontext beleuchtet. Während die wenigen historischen Dokumente zu Malinche, der aztekischen Geliebten des spanischen Eroberers von Mexiko, Cortés, heute vornehmlich im postkolonial und gendertheoretisch geprägten kulturwissenschaftlichen Diskurs anders gelesen und bewertet werden, spielen die neuen Methoden und technischen Möglichkeiten der Historiker die entscheidende Rolle bei der Aufwertung der verbannten und dienstflüchtigen Portugiesen in den überseeischen Expansionsgebieten. Von den verschiedenen disziplinären Vorgehensweisen aus erfolgt in Bezug auf Malinche eine profunde Hinterfragung der ihr traditionell zugeschriebenen Rolle als Verräterin ihres Volkes und bezüglich der portugiesischen degredados und lançados eine Revision der pauschalen Vorstellung, bei ihnen handle es sich stets um Verbrecher. Diese negativen Zuschreibungen erweisen sich als Resultat eines kolonial geprägten und binären Denkens von Kultur in den Kategorien von ‚Eigenem vs. Fremdem‘, in dem kulturelle Vermittlungsleistungen keine Anerkennung erfahren konnten.

In unserer von Inter- und Transkulturalität geprägten Gegenwart genießt die Fähigkeit, sich zwischen verschiedenen Kulturen und Sprachen bewegen zu können, Anerkennung, und sie wird zugleich immer mehr zu einer allgemeinen Voraussetzung, die mobile und vernetzte moderne Menschen erfüllen müssen,

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um z. B. als Geschäfts- oder Kommunikationspartner und als Reisende agieren zu können. Im historischen Kontext der spanischen Kolonisierung der Neuen Welt und der portugiesischen Expansion nach Afrika, Asien und Amerika galten kulturelle Mittler, die sich zwischen der eigenen und der fremden Kultur bewegten, jedoch als suspekt. Die Vorstellung, dass es sich bei ihnen um Verräter und Verbrecher handle, hat sich im historischen Gedächtnis verfestigt und insbesondere negative Konsequenzen für die Wahrnehmung und das Selbstbild der kolonisierten Gesellschaften hinterlassen. Erst vor wenigen Jahrzehnten konnte im Zuge der postkolonialen Aufarbeitung der Kolonialzeit auch eine genauere Analyse der Leistung jener historischen Mittler einsetzen, die die klare Ordnung der kulturellen Zugehörigkeiten, Machthierarchien und Wertvorstellungen der damaligen Zeit durchkreuzten, während sie zugleich zur Festigung der kolonialen Machtverhältnisse beitrugen. Wie im Folgenden anhand von zwei Beispielen verdeutlicht werden soll, kann diese Auseinandersetzung mit der Rolle jener Grenzgänger für die ehemals Kolonisierten die wichtige Chance eröffnen, historische Traumata zu verarbeiten. Insgesamt rückt die Bedeutung transkultureller Dynamiken mehr in den Blick; dies kann zu einer komplexeren Vorstellung von den historischen Prozessen führen, die nicht gänzlich mit den Modellvorstellungen von sich gegenüberstehenden und klar voneinander abgrenzbaren Kulturen erfasst werden können. Die Aufmerksamkeit für die frühen Grenzgänger ermöglicht so eine Geschichtstransformation im Sinne eines vielschichtigeren Verständnisses von historischen Verläufen, die sich als ähnlich komplex darstellen wie unsere durch sehr heterogenes Geschehen geprägte Gegenwart. An dieser erweiterten Vorstellung von den historischen Abläufen und an der Bedeutung des Umwertungsprozesses für die Selbstwahrnehmung der ehemals kolonisierten Kulturen zeigt sich die Aktualität einer historischen Kulturwissenschaft. Mit ihrer methodischen Ausrichtung kann die historische Kulturwissenschaft an die geschichtswissenschaftliche Forschung anschließen, deren Anspruch und Methoden auf die Bereitstellung verifizierbarer und ‚objektiver‘ historischer Fakten und Erkenntnisse zielt, und sich zugleich der Aufgabe widmen, die Wertungsprozesse und den Umgang mit dem historischen Wissen genauer zu betrachten. Dabei erweisen sich in den folgenden Beispielen vor allem postkoloniale Theorien mit ihrer Hinterfragung von Kategorien kultureller Reinheit und Höherwertigkeit bestimmter Kulturen gegenüber anderen als relevant, ebenso wie Gender-Theorien aufgrund ihrer Aus-

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einandersetzung mit Geschlechterzuschreibungen und -hierarchien. Denn die Abwertung der kulturellen Mittlerfiguren, so zeigt sich, ist die Konsequenz eines Denkens in den Kategorien von ‚Reinheit‘ und ‚Nation‘, ‚Eigenem‘ vs. ‚Fremdem‘, ‚mutigen Kämpfern‘ vs. ‚feigen Widerstandslosen‘; und die Rehabilitierung jener Grenzgänger ist das Ergebnis einer neuen Wertschätzung für Kultur als dynamischen Übersetzungs- und Vermischungsprozess.

Malinche – Von der Verräterin zur ‚Denkfigur der H ybr idität‘ Die Auseinandersetzung um Malinche, die aztekische Dolmetscherin und Geliebte des spanischen Eroberers Hernán Cortes, der in Unterzahl und in kurzer Zeit (1519-21) das mexikanische Aztekenreich unterwarf, stellt das wohl meistdiskutierte und bekannteste Beispiel von profunder postkolonialer und feministischer Umdeutung einer historischen Figur der spanischen Kolonialzeit dar. Malinche galt in Mexiko lange als der Inbegriff einer Verräterin an ihrer eigenen indianischen Kultur, und es stellte ein nationales Trauma dar, dass sie als Mutter der mexikanischen Nation zu betrachten war, die aus der gewaltsamen Kolonisierung hervorging. Zu ihr gibt es vor allem eine historische Quelle, die bis vor einigen Jahren noch recht unkritisch auch als Schullektüre verwendet wurde, die Chronik Historia verdadera de la conquista de la Nueva España (1632 [1568]), die Denkwürdigkeiten des Hauptmanns Bernal Diaz del Castillo oder Wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Neuspanien (Mexiko) (1965), des spanischen Soldaten Bernal Díaz del Castillo, der im Heer von Hernán Cortés direkt an der Eroberung des Aztekenreiches beteiligt war. Demnach entstammte sie einer aztekischen Adelsfamilie. Nach dem Tod des Vaters und der neuerlichen Hochzeit der Mutter war sie in die Sklaverei verschickt worden, um dem Halbbruder das Erbe zu sichern. Dabei wurde sie in den Süden gebracht, in die Region, die unter dem Einfluss der Mayakultur stand. Von den Potentaten der Stadt Tabasco wurde sie gemeinsam mit neunzehn anderen jungen Frauen dem spanischen Eroberer Hernán Cortés zum Geschenk gemacht, nachdem er Tabasco in einer Schlacht unterworfen hatte. Er ließ die Frauen taufen und verheiratete Malinche, die bei der Taufe den christlichen Namen Marina erhielt, später mit einem seiner Untergebenen. Jedoch leistete sie ihm persönlich wichtige Dienste. Sie lernte schnell Spanisch, und da sie

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sowohl ihre Muttersprache, das Nahuatl der Azteken, als auch die örtliche Maya-Sprachvariante verstand, war sie für Cortés sehr wertvoll. Sie wurde zu seiner Dolmetscherin, Informantin und Geliebten. Mit ihrer Hilfe erlangte Cortés das für seine Eroberung äußerst nützliche Wissen über die Gedankenwelten und die politischen und religiösen Systeme vor Ort. Malinche ermöglichte die Kommunikation mit den regionalen Machthabern und informierte ihn auch über Hinterhalte, die ihm von seinen Gegnern bereitet wurden. Sie gebar Cortés einen Sohn, der als der erste Mestize gilt; dementsprechend wurden sie und der fremde Eroberer zur Urmutter und zum Urvater der mestizischen Gesellschaft des kolonialen Mexiko. Nach der erfolgreichen Eroberung Mexikos durch Cortés verliert sich die Spur der Malinche. Im historischen Bewusstsein späterer Zeiten setzte sich die Idee der chingada durch. Malinche wurde zum Symbol der chingada, der Vergewaltigten, die gegen die Vergewaltigung keinen Widerstand geleistet und sich von dem Fremden verführen lassen hat, die ihr eigenes Volk verraten und den spanischen Eroberern ausgeliefert hatte. Schamvoll wurde sie insbesondere im Nationaldiskurs nach der Unabhängigkeit verleugnet, um die als schändlich empfundenen Spuren der Kolonialherrschaft zu verdecken. Mit ihrem Andenken waren insbesondere das Gefühl der Unterlegenheit und das Empfinden verbunden, vom ,Anderen‘ verführt und betrogen worden zu sein. Erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, seit der bahnbrechenden Arbeit von Octavio Paz beginnt sich die Bewertung der Malinche und damit der mexikanischen Selbstwahrnehmung und Selbstbeurteilung zu wandeln. Der Diplomat, Essayist und Poet Octavio Paz untersuchte in seinem Essayband El laberinto de la soledad (1950, dt. Das Labyrinth der Einsamkeit) das geschichtliche Trauma der Mexikaner. Speziell in dem in der Sammlung enthaltenen Aufsatz Los hijos de la Malinche (Die Söhne der Malinche), diagnostiziert er, dass ihre Abwertung als ‚la chingada‘, die Betrogene/Geöffnete/ Unterlegene, zutiefst im kollektiven Bewusstsein verankert sei und aufgrund dieser abschätzigen Sichtweise auf die Figur, die die Mutter Mexikos seit der kolonialen Begegnung mit den Spaniern symbolisierte, keine unbelastete und positive Selbstwahrnehmung möglich wurde. In Los hijos de la Malinche setzt sich Paz mit dem kulturellen Idealbild von Reinheit und Homogenität als ursprünglichem, authentischem und natürlichem Zustand auseinander. In dem Essay beschreibt er es als Gewohnheit der Mexikaner, sich vor der Außenwelt zu verschließen. Er erläutert dieses Verhalten als Angst vor dem Verlust der Identität, einer Identität, die, wie er feststellt,

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immer nur unter Ausschluss des Anderen gewünscht ist. Ausgehend von dem nicht im öffentlichen Sprachgebrauch zu findenden, aber im kulturellen Wissen der Mexikaner verankerten Ausspruch bzw. stillen Aufschrei „Viva México, hijos de la chingada“1, macht er sich auf die Suche nach den verschiedenen Bedeutungen des Ausdrucks ,chingada‘ und stößt dabei auch auf die Bedeutung, die der Vorstellung von ,Vergewaltigung‘ nahekommt, sich von dieser aber darin unterscheidet, dass die Vergewaltigte keinen aktiven Widerstand leistet. „Esta pasividad al exterior la lleva a perder su identidad: es la Chingada“,2 so erläutert daraufhin Paz die Denkstruktur, die seiner Analyse nach die Mexikaner mit der Vorstellung der chingada verwoben haben. Sich zu öffnen, führe in dieser gedanklichen Ordnung zum Identitätsverlust. Paz assoziiert im nächsten Schritt Malinche mit der chingada. Sie hatte sich dem Spanier geöffnet, die Eroberung ihrer Heimat durch die Fremden erleichtert und steht so symbolisch für den Identitätsverlust der Indios, die den Spaniern und deren Kultur unterworfen wurden. In dem gemeinsamen Sohn von Malinche und Hernán Cortés, dem symbolischen Ausgangspunkt des neuzeitlichen Mexiko, kann aufgrund seiner beiden kulturell verschiedenen Herkünfte nur der ,Bastard‘ gesehen werden, und die Mexikaner als die „Söhne der Malinche“ versuchen, sich vor dem ,Makel‘, der an dieser Vorstellung haftet, zu verschließen. Paz schreibt in diesem Sinne: Nuestro grito es una expresión de la voluntad mexicana de vivir cerrados al exterior, sí, pero sobre todo, cerrados frente al pasado. En este grito condenamos nuestro origen y renegamos de nuestro hibridismo. [...] El mexicano condena en bloque toda su tradición, que es un conjunto de gestos, actitudes y tendencias, en el que ya es difícil distinguir lo español de lo indio. Y no se afirma en tanto que mestizo, sino como abstracción: es un hombre. Se vuelve hijo de la nada. Él empieza en si mismo.3 1 2 3

PAZ, 1950/1993, S. 78. („Es lebe Mexiko, Söhne der Chingada.“) Sofern nicht anders angegeben, wurden alle hier angeführten Übersetzungen von der Verfasserin angefertigt. EBD., S. 79. („Diese Passivität gegenüber dem Außen bringt sie dahin, ihre Identität zu verlieren: sie ist die Chingada.“) EBD., S. 79. („Unser Schrei ist ein Ausdruck des mexikanischen Willens, gegenüber der Außenwelt verschlossen zu leben, ja, aber vor allem, verschlossen gegenüber der Vergangenheit. In diesem Schrei verurteilen wir unsere Herkunft und weisen unseren Hybridismus zurück. [...] Der Mexikaner verurteilt komplett seine ganze Tradition, die ein Zusammenspiel von Gesten, Ausdrucksweisen und Tendenzen ist, in dem es mittlerweile schwierig ist, das Spanische und das Indigene zu

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In dieser Formulierung wird deutlich, dass es für Paz nicht die Feststellung des Hybridismus, der zwei verschiedenen kulturellen Ursprünge der modernen Mexikaner selbst ist, der als negativ zu betrachten wäre, sondern dass es vielmehr das pathologische Verschweigen und Verneinen dieses doppelten Ursprungs ist, das die Vorstellungen der soledad (der Einsamkeit) und orfandad (des Verwaisens) auslöst und die Mexikaner in ihrem Labyrinth der Einsamkeit umherirren lässt. Diese Diagnose entschleiert ein kulturelles Reinheitsund Homogenitätsideal, das nur zu einem Sich-Verschließen vor der Außenwelt und vor dem Anderen führen kann und die Negierung der gesamten Tradition und Geschichte darstellt. Mit Paz Arbeit begann langsam eine genauere Auseinandersetzung mit der Rolle der Malinche im Kolonialprozess und damit auch die Verarbeitung des Traumas zu einem historischen Bewusstsein. Elena Garro, die frühere Ehefrau von Paz, hinterfragt in ihrer Erzählung La culpa es de los tlaxcaltecas (Die Schuld ist die der Tlaxcalteken) von 1964 metaphorisch die Idee der Eindeutigkeit von ,Schuld‘ und erinnert implizit an die Unterstützung der mit den Azteken verfeindeten und ihnen als Kämpfer fasst ebenbürtigen Tlaxcalteken, die den überwältigenden Teil von Cortés Heer bei der Eroberung der aztekischen Hauptstadt stellten, und damit mindestens ebenso ‚schuldig‘ waren an der Eroberung Mexikos wie Malinche. Mit dieser impliziten Zurückweisung der Anschuldigung gegenüber Malinche und dem Verweis auf die Rolle der Tlaxcalteken-Krieger hinterfragt Garro die der Frau zugewiesene historische Schuld und ihre beständige Beargwöhnung als potentielle Betrügerin. An dieser Stelle der Aufarbeitung des Malinche-Traumas kann man auch erkennen, dass die abschätzige Interpretation der Malinche als verratene Verräterin stark an die Kriegslogik der Eroberung und ein damit verbundenes kulturelles Denken in den Kategorien des ,Eigenen‘ im Kampf gegen das ,Fremde‘ gebunden ist. Zwar haben die Informationen der Malinche zweifellos die spanische Eroberung des Aztekenreiches erleichtert, und ebenso zweifellos war die Conquista ein gewaltsamer und grausamer Akt, der eine große und stolze Kultur auslöschte und ein Kolonialsystem einleitete, dessen Hierarchie hochgradig ungerecht und unterdrückerisch war. Aber während die Qualitäten des gewieften spanischen Eroberers Hernán Cortés und des heldenhaften aztekischen Verteidigers Cuauhtémoc stets anerkannt wurden, obwohl sie die Protaunterscheiden. Und er weist sich nicht in dem aus, was er als Mestize ist, sondern als Abstraktion: er ist ein Mensch. Er macht sich zum Sohn des Nichts. Er beginnt in sich selbst.“)

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gonisten jenes historischen Zusammenpralls waren, erfuhr Malinche als Mutter der neuen mestizischen Zivilisation – sowohl im ideellen als auch physischen Sinne – keine solche Wertschätzung. Während die Kategorien des Eroberers und des Verteidigers in das Denkschema ,Eigenes‘ vs. ,Fremdes‘ passen, lässt sich die schöpferische Qualität der Hervorbringung einer neuen Zivilisation in solch einer binären Logik nur in wenig mehr als den ,Verrat‘ an der eigenen Kultur übersetzen. In jenem Kontext ist es eher möglich, Eroberer und Verteidiger in ihrer Komplexität und Ambivalenz zu akzeptieren als die Rolle der Vermittlerin anzuerkennen. Ihre Kulturtechniken konnten noch nicht als Ausweg aus der Vorstellungswelt von kultureller Reinheit sowie von Sieg oder Vernichtung betrachtet werden. Erst aus heutiger Sicht, in der Transkulturalität eine historische Aufwertung erfährt, stellt die Fähigkeit, die Malinche im Bereich des kulturellen Übersetzens entwickelte, eine immense Leistung dar. Sie versuchte, zwischen der eigenen und einer völlig unbekannten Kultur zu vermitteln und war dabei nicht nur Informantin und Dolmetscherin zwischen verschiedenen Sprachen, sondern auch zwischen geistigen Universen, zwischen denen Welten lagen und die ganz unterschiedliche religiöse, kulturelle und soziale Vorstellungen aufwiesen. Dazu musste sie ganz unterschiedliche Logiken denken und verstehen können, sich in verschiedenen Codes, Zeichen- und Bedeutungssystemen zurechtfinden, in ihnen kommunizieren und zwischen ihnen übersetzen. Man kann durchaus formulieren, dass sie durch ihre Vermittlung einen Raum zur Verhandlung zwischen den ganz unterschiedlichen mentalen Systemen geschaffen hatte, dieser aber von den männlichen Kriegern nicht genutzt wurde. Mit der feministischen Perspektive von mexikanischen Autorinnen und Chicanas, mexikanisch-stämmigen Autorinnen in den USA, ab den 1970er Jahren und von Literatur- und Kulturwissenschaftlerinnen ab den 1980er Jahren erfährt Malinche eine grundlegende Umdeutung und wird als Denkfigur zur Hinterfragung der machistischen Kultur genutzt. So geht die mexikanische Dramaturgin Rosario Castellanos in ihrer Farce El eterno feminino (1975, Das ewig Weibliche) mit der machistischen Idealvorstellung einer gehorsamen, alles erduldenden und widerspruchslosen Frau ins Gericht. Sie nimmt die jahrhundertelang den Mexikanerinnen eingeredeten Schuldkomplexe aufs Korn, wonach sie alle Evas Erbsünde in sich trügen, potentielle Verräterinnen wie Malinche seien, und ‚schuld‘ wie die wissbegierige Nonne Sor Juana Inés de la Cruz im kolonialen Mexiko des 17. Jahrhunderts an Gottes Zorn mit Unwettern und Seuchen. Die Eva bei Castellanos ist nun eine tatkräftige Frau, die zu

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bedenken gibt, dass ohne sie die Geschichte noch beim Paradies stehen geblieben wäre. Als Lupita, die Protagonistin des Stücks, eine junge Braut, die im Schönheitssalon für ihre Hochzeit frisiert wird, und unter der Trockenhaube in tiefe historische Träume fällt, in einem dieser Träume Malinche auffordert, etwas über ihre Romanze mit Cortés zu berichten, versteht Malinche diese offenbar so ganz typisch weibliche Frage nicht. Dadurch stellt Castellanos ihre Malinche als genauso wenig sentimental und genauso strategisch denkend wie Cortés dar, sie hinterfragt die Vorstellung weiblicher Sentimentalität und männlicher Rationalität als Konstrukte und weist ebenso die Vorstellung der romantischen Liebe als Konstrukt aus: Lupita: Usted estaba enamorada de Cortés, del hombre blanco y barbado que vino de ultramar. Malinche: ¿Enamorada? ¿Qué quiere decir eso? Sor Juana (didáctica): Probablemente la señorita se refiere al amor, un producto netamente occidental, una invención de los trovadores provenzales y de las castellanas del siglo XII europeo. Es probable que Cortés, a pesar de su estancia en Salamanca, no lo haya conocido ni practicado. Malinche: Por lo pronto, no lo exportó a América. Y en cuanto a nosotros… Sor Juana: Ya lo sabemos, el amor es algo que no tiene nada que ver con la cultura indígena.4

Anders als Castellanos, die Malinche als rationale Denkerin in der Logik strategischer Allianzen präsentiert, stellt die Chicana-Dichterin Lucha Corpi Malinche in ihren The Marina Poems im darauffolgenden Jahr, 1976, als tragisches Opfer einer Männerwelt dar, in der sie sich nicht gegen die Vergewalti4

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CASTELLANOS, 1987 [1975], S. 92. („Lupita: Sie waren verliebt in Cortés, den weißen, bärtigen Mann der über das Meer kam. Malinche: Verliebt? Was soll das heißen? Sor Juana (didaktisch): Wahrscheinlich bezieht sich das Fräulein auf die Liebe, ein rein westliches Produkt, eine Erfindung der provenzalischen Troubadoure und der Kastilierinnen des 12. europäischen Jahrhunderts. Es ist wahrscheinlich, dass Cortés obwohl er sich in Salamanca aufgehalten hatte, sie weder kannte noch praktizierte. Malinche: Zunächst hat er sie nicht nach Amerika exportiert. Und was uns betrifft… Sor Juana: Das wissen wir schon, die Liebe ist etwas, was nichts mit der indigenen Kultur zu tun hat.“)

Verräter und Verbrecher?

gung durch die Männer, gegen ihre Kriegslogik und ihre Vorstellung von Frauen als Kriegsbeute wehren kann. In der Literatur- und Kulturwissenschaft wird Malinche ab den 80er Jahren verstärkt in ihrer Übersetzungsleistung untersucht, so in Tzvetan Todorovs La conquête de lAmérique: la question de l'autre (1982), Norma Alarcóns Aufsatz Traduttora, Traditora: A Paradigmatic Figure of Chicana Feminism (1989), Margo Glantz La Malinche, sus padres y sus hijos (1994) bis hin zu Barbara Dröschers und Carlos Rincóns nach 2001 im Jahr 2010 zum zweiten Mal aufgelegten Band La Malinche. Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht, und Alfonso de Toro, der Malinche in einem Aufsatz 2007 als „Denkfigur der Hybridität“5 bezeichnet. Die historische Figur der Malinche hat eine profunde Umwertung erfahren und wird nun als stets komplexere Gestalt wahrgenommen. Solange die Hybridität noch als Makel begriffen wurde, wurde über das kulturelle Gedächtnis oft eine homogene Version der ,eigenen‘ Vergangenheit und der ,eigenen‘ Tradition als Basis der kollektiven Identität vermittelt, mögliche Alternativen und Schnittpunkte mit anderen Kulturen wurden dabei eher nicht hervorgehoben. Im Falle der Abwertung der Malinche kann man darüber hinaus unterstellen, dass die Verweigerung, ihre Rolle als Mutter der mestizischen Kultur anzuerkennen, sogar in idealer Weise zur Stabilität des Kolonialsystems bis ins frühe 19. Jahrhundert beigetragen hat. Mit einem positiveren Selbstwertgefühl hätten sich die Mestizen vielleicht nicht so lange in die soziale Rolle der Untergebenen unter Potentaten gefügt, die sich mit der limpieza de sangre, der ,Reinheit‘ ihres Blutes, ihrer exklusiv spanischen und christlichen Herkunft, legitimierten. Kommt man im Anschluss an die Malinche-Debatte auf die Fragestellungen des Bandes zurück, so kann man feststellen, dass die Geschichtstransformation ab 1950, avant la lettre, wie es in Lateinamerika gerne heißt, wenn internationale Debatten vorweggenommen werden, mit einem postkolonialen Verständnis von Kulturen als hybriden Dynamiken und mit einem feministischen Ansatz der Hinterfragung von Machtstrukturen einsetzte. Auf dieser Basis wurde die historische Vorstellung der Malinche als Verräterin, welche in binären Denkstrukturen geformt wurde, dekonstruiert. Dies geschah von subjektiven Positionen des Essays und der Literatur aus. Die Fakten zur historischen Person sind und bleiben auf ganz wenige Quellen aus der Kolonialzeit begrenzt, und es sind vor allem das Bild und die Bewertung, die durch andere 5

DE TORO, 2007, S. 62.

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fiktionale Bilder und Wertungen ersetzt werden. Die Transformation wurde vor allem von Mexikanern und Mexikanerinnen selbst geleistet, die sich schließlich nicht mehr mit dem negativen historischen Bild abfinden und die mit der Aufwertung der Malinche auch die Hybridität und die Fähigkeit zu übersetzen als kreatives Potenzial von Kultur aufwerten. So ist es vielleicht auch kein Zufall, dass zuerst in Mexiko eine umfassende Studie zur kulturellen Hybridität erschien, Néstor García Canclinis Culturas híbridas (Hybride Kulturen) von 1990, und dass in diesem Werk die kulturelle Hybridität ausgesprochen positiv gedeutet wird, noch weit positiver als dies Homi Bhabha in The Location of Culture (1994) tut. Vitale Kulturen sind nach García Canclini als Grenzkulturen anzusehen, die permanent gegenseitig Teile des ,Anderen aufnehmen, diese „ideias fora do lugar“6 übersetzen und sie in den eigenen soziokulturellen Kontext einfügen. In dieser Übersetzung wird sowohl die Ausgangsidee als auch der aufnehmende soziokulturelle Kontext leicht abgewandelt, woraus die kulturelle Dynamik entsteht, die zu einer Vervielfältigung der Möglichkeiten führt. In García Canclinis Konzeption erscheint die Hybridität als vitales Prinzip von Kultur und bezogen auf die Gegenwart als Ausweis ihrer Modernität.

Die degredados und lançados – Von Verbrecher n zu w ichtigen Akteuren der portugiesischen Expansion 7 Bei diesem zweiten Beispiel ist die Problematik der Stigmatisierung von historischen Mittlerfiguren ähnlich, allerdings können hier, da es sich um eine große Gruppe handelt, die gereist ist und in den Schiffsregistern erwähnt wird, auch neue historische Fakten erschlossen und so dargestellt werden, dass das

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GARCÍA CANCLINI, 1990, S. 73. („Ideen außerhalb ihres Generierungsortes“). Den Begriff übernimmt García Canclini von dem brasilianischen Literaturwissenschaftler Roberto Schwarz, der ihn in seiner Studie zu Machado de Assis, Ao vencedor as Batatas (1977) verwendet. Eine genauere Betrachtung der Revision der Rolle der degredados und lançados habe ich in meiner Habilitationsschrift Por mares nunca dantes navegados. Revisionen im Eigenbild im Zuge der portugiesischen Expansion, die sich noch in Vorbereitung zur Veröffentlichung befindet, vorgenommen und dort auch die hier vorgestellten Texte behandelt.

Verräter und Verbrecher?

überlieferte Bild von den degredados und lançados als Verbrechern revidiert werden muss. Bei den degredados und lançados handelt es sich um Portugiesen, die zur Zeit der portugiesischen Expansion in der frühen Neuzeit durch ihre Justiz zu einer Verbannungsstrafe verurteilt worden waren sowie um diejenigen, die in Asien, Afrika oder Brasilien aus ihrem Dienst davonliefen. Diese große Gruppe wurde lange Zeit pauschal als Kriminelle und Verbrecher betrachtet, die das Ansehen der portugiesischen Expansion beschmutzten. Auch diese Abwertung der kulturellen Mittlerfiguren hatte eine traumatisierende Wirkung auf die Völker, die von jenen angeblichen Verbrechern kolonisiert worden waren. So schreibt der Psychologe Antonio de Andrade mit Blick auf Brasilien in einem Online-Artikel zum „Selbstbild des brasilianischen Volkes“: Gerações e gerações de brasileiros aprenderam nos bancos escolares que o Brasil foi colonizado pelos portugueses, depois de ter sido ‚descoberto‘ em 22 de Abril de 1500, pela esquadra de Pedro Álvares Cabral. E para realizar essa colonização e ‚domínio‘ das novas terras, os portugueses começaram a enviar para cá os condenados e outros que a sociedade portuguesa da época rejeitava. Eram os ‚degredados‘, exilados na nova terra em vez de ficarem presos, cumprindo pena nas prisões de Portugal. E junto a eles vinham para as novas terras, aventureiros e mercadores que buscavam riqueza fácil, que queriam explorar o que pudessem das riquezas das novas terras descobertas e que tinham uma só lei e objetivo: fazerem fortuna e voltarem ricos à corte e sociedade portuguesa ou europeia. [...] Por outras palavras, muitas gerações de brasileiros aprenderam que ‚o povo brasileiro‘ foi formado pelo ‚pior tipo‘ de gente, da época, os portugueses expulsos de sua terra natal. E assim, gerações e gerações do povo brasileiro ficaram com uma ‚auto-imagem coletiva‘, mental e emocional bastante negativa, sem que as pessoas se dassem conta disso, conscientemente. E dessa auto-imagem negativa nasceram as várias idéias depreciativas do ‚povo brasileiro‘: povo ‚indolente‘,‚preguiçoso‘, que ‚não se esforça no trabalho‘, que é ‚corrupto por natureza‘, que ‚só quer levar vantagem sobre os outros‘, que só ‚quer passar a perna, com esperteza nos outros‘ e outras, muitas outras, idéias e preconceitos históricos, culturais e raciais.8 8

ANDRADE. („Viele Generationen von Brasilianern haben auf der Schulbank gelernt, dass Brasilien von den Portugiesen kolonisiert wurde, nachdem es am 22. April 1500 von dem Geschwader Pedro Álvares Cabrals ‚entdeckt‘ worden war. Und um

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Lange wurde den degredados und lançados kein größeres Forschungsinteresse zuteil. Eine frühe Untersuchung von 1985 stammt von der portugiesischen Historikerin Maria Augusta Lima Cruz, die in ihrem Artikel Degredados e arrenegados portugueses no espaço índico, nos primórdios do séc. XVI (Verurteilte und abtrünnige Portugiesen im indischen Raum im frühen 16. Jahrhundert) schon einen gewichtigen Grund für das konfuse, vage und abwertende Bild von den Portugiesen herausarbeitete, die in den weiten Regionen, an denen Portugal Interesse hatte, ausgesetzt wurden, oder in diesen Gebieten die Prosperität suchten, die sie in den Diensten des Staates nicht finden konnten. Cruz hat für ihre Untersuchung die Chroniken der Expansion beleuchtet, die kanonisierten Dokumente, die das ,kulturelle Gedächtnis maßgeblich prägen, und festgestellt, dass in ihnen wenig und mit wenig Differenzierung von den degredados und den arrenegados, den Abtrünnigen, die Rede ist. Sie stellt fest: [...] as noticias sobre degredados e arrenegados são raras, breves, vagas e muito dispersas, pois como é sabido, estes autores propõem-se, expressamente, narrar os feitos dos vassalos portugueses [...]. Daí que seleccionem preferencialmente, o acontecimento guerreiro para, através dele poderem realçar as „altas

diese Kolonisierung und ‚Herrschaft‘ der neuen Länder zu realisieren, begannen die Portugiesen, Verurteilte und andere herzuschicken, die die portugiesische Gesellschaft jener Epoche zurückwies. Es waren die ‚degredados‘, die in das neue Land ins Exil geschickt wurden, statt ihre Strafe in den Gefängnissen in Portugal zu verbüßen. Und mit ihnen kamen Abenteurer und Händler in die neuen Länder, die leichten Reichtum suchten, die aus den neu entdeckten Ländern so viel Reichtum herausholen wollten wie sie nur konnten und die nur ein Gesetz und Ziel hatten: ihr Glück zu machen und an den Hof und in die Gesellschaft Portugals oder Europas zurückzukehren. [...] Mit anderen Worten, viele Generationen von Brasilianern lernten, dass das ‚brasilianische Volk‘ aus dem ‚schlimmsten Schlag‘ von Menschen jener Epoche geformt wurde, Portugiesen, die aus ihrem Heimatland ausgewiesen worden waren. Und so haben viele Generationen des brasilianischen Volkes ein emotional und mental reichlich negatives ‚kollektives Selbstbild‘ ausgeformt, ohne dass es den Menschen ganz bewusst geworden wäre. Und aus diesem negativen Selbstbild heraus erwuchsen verschiedene geringschätzige Ideen des ‚brasilianischen Volkes‘: ‚träges‘, ‚faules‘ Volk, das ‚sich nicht bei der Arbeit anstrengt‘, das ‚von Natur aus korrupt‘ ist, das ‚nur andere übervorteilen will‘, das nur ‚mit Schläue über die anderen hinwegsteigen will‘ und viele, sehr viele historische, kulturelle und rassistische Vorstellungen und Vorurteile mehr.“)

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Verräter und Verbrecher? cavalarias“ dos portugueses na luta contra os povos que eram considerados inimigos da fé cristã, [...]9

Wenn man die Erwähnungen von degredados und arrenegados näher betrachtet, die Cruz in den Chroniken aufgespürt hat, kann man darüber hinaus erkennen, dass ihre spärliche Berücksichtigung nicht allein dem Wunsch der Chronisten geschuldet ist, die kriegerischen Heldentaten der portugiesischen Edelmänner im Kampf gegen die Feinde des Glaubens zu preisen. Es fehlten offensichtlich auch schlicht die Kategorien, um über die Protagonisten der Transkulturalität, ihre Erfolge in kultureller Übersetzung, ihre Strategien der gelebten Koexistenz und des Austausches, der sich oft über den kleinen, alltäglichen Handel entwickelte, zu erzählen und gar ihre Rolle für die kreative und vitale Dynamik kultureller Hybridität wertschätzen zu können. Stattdessen herrschte auch hier wieder eine Wahrnehmung von Kultur in den antagonistischen Begriffen von ,Eigenem und ,Fremdem , ,Bedrohung und ,Verteidigung , ,Eroberer und ,Feind vor. Auf diese Weise war es durchaus möglich, dass der Chronist Diogo do Couto dem abtrünnigen Bombardier Sancho Pires, der zum Islam konvertierte und den Namen Tringuican annahm, als großem Krieger singulären Respekt zollte. Der Chronist schreibt bewundernd über ihn: Era este homem tão valeroso por seu braço, que se pôde meter no conto dos famosos que houve no mundo, porque chegando só, e homisiado aquelle reino, assim deo logo tamanhas mostras de seu valor, que lançou el rei mão delle, e o fez capitão da gente de cavallo, em que também deo tal conta de si, e deo tão verdadeiras mostras de seu esforço, que veio a ser general de todo o reino e o principal do conselho del rei, [...]. E se este homem não escurecera seus feitos com a negação que fez da fé, morrendo Franguican, puderam eles ser havidos no mundo por espantosos, e nós deixáramos dele uma memória, que nunca se acabara, porque foram seus feitos tantos e tais, que bem puderam ocupar a mor parte desta nossa VII Década.10 9

CRUZ, 1985, S. 78. („[...] die Notizen über die degredados und arrenegados [Abtrünnige] sind rar, kurz, vage und sehr verstreut, da sich bekanntlich diese Autoren ausdrücklich vorgenommen hatten, die Taten der portugiesischen Vasallen zu erzählen. [...] Daher wählen sie vorrangig das kriegerische Geschehen, um dadurch die ‚hohe Ritterlichkeit‘ der Portugiesen im Kampf gegen die Völker hervorzuheben, die als Feinde des christlichen Glaubens angesehen wurden.“) 10 Diogo do Couto, Década 7, IV-9, zit. n.: CRUZ, 1985, S. 91. („Dieser Mann war so mutig mit seinem Arm, dass man ihn in die Reihe der Berühmten, die es in der

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Dieses Beispiel lässt erkennen, wie die Bedeutungsstrukturen an binäre Konzepte des Kampfes zwischen Kulturen gebunden waren. Die Erzählung der Lebensgeschichte des abtrünnigen Bombardiers Sancho Pires/Tringuican ,macht Sinn mittels Vorstellungen wie ‚tapfer‘, ‚mutig‘, ‚stark‘, ‚großer Kämpfer‘, ‚Nobler/Feind‘; sie passt sich so in den Wahrnehmungshorizont ein und kann erzählt werden, während die spärlichen Anspielungen auf die Welt der degredados und arrenegados, die ihren Lebensunterhalt mit Handel verdienten, darauf schließen lässt, dass sich ihre heterogenen Lebenspraktiken nicht so gut in diese Bedeutungs- und Wertekategorien übersetzen ließen. Mit der wachsenden Aufmerksamkeit für die Mechanismen und Strategien hinter kulturellen Sinn- und Wertestrukturen ist es heute besser möglich, das undifferenzierte, abwertende und vage an die Vorstellung von ‚Kriminellen‘ gebundene Bild von den degredados und lançados zu hinterfragen. Und in diesem Fall ist es die Historiografie, die das Bild revidiert, da sie sich auf Quellen wie Schiffsregister und Protokolle stützen kann. Der US-amerikanische Historiker Timothy J. Coates trifft in seinem Werk von 1998 über die degredados im portugiesischen Imperium zwischen 15501755 folgende Aussage: O número total de degredados produzidos pelos tribunais do Estado e da Igreja em Portugal e no ultramar, durante os dois séculos aqui em estudo, é de cerca de 50.000.11

Diese Zahl entspricht dem Autor zufolge recht genau derjenigen Anzahl von ‚Verurteilten, Vagabunden und politischen Häftlingen‘, die von den britischen Welt gab, einreihen konnte, weil er, als er gerade ankam und sich in jenem Königreich der Justiz entzog, gleich so große Zeichen seiner Tapferkeit setzte, dass der König ihn aufnahm und ihn zum Hauptmann der Berittenen machte, wo er sich so verdient machte und so wahrhafte Proben seiner Anstrengung gab, dass er General des ganzen Königreiches wurde und der Erste im Rat des Königs, [...] Und wenn dieser Mann nicht seine Taten mit der Verneinung des Glaubens, die er demonstrierte, verdunkelt hätte, indem er als Franguican [Tringuican] gestorben ist, hätten sie in der Welt als höchst erstaunlich erachtet werden können, und wir hätten von ihm eine Erinnerung behalten, die niemals vergehen würde, weil seine Taten so viele und von einer Art waren, dass sie den größten Teil dieser VII. Dekade hätten einnehmen können.“) 11 COATES, 1998, S. 283. („Die Gesamtzahl der degredados, die von den Gerichten des Staates und der Kirche in Portugal und in Übersee während der zwei hier untersuchten Jahrhunderte produziert wurden, beträgt ungefähr 50.000.“)

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Inseln zwischen 1607 und 1775 in die Neue Welt ins Exil gebracht wurden, und ist ebenso vergleichbar mit den geschätzten 51.000 Personen, die entweder freiwillig oder gezwungenermaßen an der französischen Kolonisierung der Neuen Welt beteiligt waren; für Spanien seien die Zahlen ebenfalls vergleichbar.12 Betrachtet man die demografischen Daten der genannten Länder, fällt auf, wie stark Portugal im Vergleich zu den anderen europäischen Mächten auf das Instrument der Exilierung setzte. Die britischen Inseln hatten demnach in jener Zeitspanne zwischen 5 und 10 Millionen Einwohner und Frankreich sogar zwischen 16 und 24 Millionen, während Portugal nur eine Bevölkerung von 1 bis höchstens 2 Millionen Menschen aufwies. Auf dieser Datenbasis kommt der Autor zu der Einschätzung: Este número relativamente elevado de degredados portugueses constitui um índice muito claro da intensidade com que o degredo impregnou a lei e a sociedade portuguesas. O exílio era muito mais uma realidade efectiva e temida para um segmento muito mais vasto da população portuguesa do que para a generalidade dos franceses, dos britânicos ou de outros súbditos europeus.13

Schwerwiegende Delikte, für die man zur Verbannungsstrafe verurteilt werden konnte, waren Mord, Blasphemie, Majestätsbeleidigung und Sodomie. Die Vorstellung von solchen Vergehen verband man demnach auch allgemeinhin mit der Verbannungsstrafe und hielt alle degredados wohl deshalb auch wirklich für Verbrecher. Doch Coates hat sich die alten Register genauer angeschaut und festgestellt, dass man auch für sehr vage Delikte wie desencaminhamento, etwa ‚Irreführung‘ oder ‚Fehlleitung‘, eine Verbannungsstrafe erhalten konnte. So erging es im Jahr 1623 z. B. einem Bartolomeu de Cabedo de Vasconcelos, der mit dieser Begründung zu Exil in Indien verurteilt wurde.14 Ebenfalls konnte man zu Verbannung verurteilt werden, wenn man jemanden in einer Prozession oder einen Richter beleidigte, und bei diesen Delikten spannt sich durchaus ein subjektiver Auslegungsrahmen auf. 12 Vgl. EBD. 13 EBD. („Diese relativ hohe Zahl von portugiesischen degredados stellt ein klares Indiz für die Intensität dar, mit der die Verbannungsstrafe das Gesetz und die Gesellschaft in Portugal durchtränkte. Das Exil war viel stärker eine effektive und gefürchtete Realität für ein viel weiteres Segment der portugiesischen Bevölkerung als für die Allgemeinheit der Franzosen, Briten und anderer europäischer Untertanen.“) 14 Vgl. EBD., S. 62.

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Die zweite wichtige Studie legte mit Portuguese Lançados in Asia in the Sixteenth and Seventeenth Centuries der thailändische Historiker Suthachai Yimprasert vor. Er stellt vor allem heraus, dass im offiziellen portugiesischen Diskurs und in der Historiografie alle degredados und lançados praktisch als gesamte Gruppe unterschwellig als Verbrecher abgetan wurden, weil sie das aus der Logik des portugiesischen Staates heraus waren: Sie lebten an den Randgebieten des portugiesischen imperialen Einflusses und waren damit mehr oder weniger dem Zugriff der Justiz entzogen. Vor allem zahlten sie keine Steuern, und sie kommunizierten mit den anderen Kulturen, sodass sich die Imperialmacht nie sicher sein konnte, inwieweit man sie noch unter Kontrolle hatte. In dieser Logik, so lässt sich zugespitzt sagen, war es egal, ob man als degredado verbannt worden war und die Strafe für einen Mord oder für eine Beleidigung erhalten hatte oder ob man sich vor Ort freiwillig entschieden hatte, ein eigenes Leben als Mittler zwischen den Kulturen aufzubauen – für den portugiesischen Kolonialstaat war man auf jeden Fall Steuersünder und damit ein Verbrecher. Indem er die dahinterstehende Logik des kolonialimperialen Denkens aufdeckt, rehabilitiert Yimprasert die portugiesischen Männer und Frauen, die sich für ein Leben zwischen den Kulturen entschieden hatten, aus einer heutigen postkolonialen und transnationalen Perspektive. Und er betont ihre immense historische Bedeutung für die portugiesische Expansion: Thus, Portuguese power in Asia was not only represented by the Estado da Índia, which was a string of fortresses and factories united by the arrival and departure of ships, but also the world of lançados who stayed out of the state and frequently adapted themselves to indigenous life. In fact, the lands under direct control of the Estado da Índia were few and most of them situated on the west coast of the Indian subcontinent, Ceylon, Melaka, and Ternate. However, the activities of the lançados made their shadow empire reach Coromandel, Bengal, Arakan, Pegu, Siam, Pattani, and Macassar. The lançados initiated the community at Amboina, led the way to Japan, and established the port of Macao. [...] The network of Portuguese lançado communities gave the Portuguese state a much broader realistic vision of the Asian territories and helped the maintenance of its power throughout centuries.15

Während Yimprasert auf diese Weise die Bedeutung der Grenzgänger für das portugiesische Kolonialreich in Asien hervorhebt, geht es in dem Werk 15 YIMPRASERT, 1998, S. 300.

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Náufragos, traficantes e degredados. As primeiras expedições ao Brasil (15001531) des brasilianischen Schriftstellers, Journalisten und Übersetzers Eduardo Bueno mit dem ins Deutsche etwa als „Schiffbrüchige, Schmuggler und Verbannte. Die ersten Expeditionen nach Brasilien zwischen 1500 und 1531“ zu übersetzenden Titel um die Hinterfragung einzelner Schicksale jener angeblich ‚Kriminellen‘. Sicher auch dank der neuen Recherchemöglichkeiten, mit denen eine große Datenmenge an Schiffsregistern, Bordeinträgen und anderen Dokumenten abgeglichen werden kann, kann er bestimmte Personen nachverfolgen. Er lässt bestimmte Aktanten immer dort in der Darstellung der Ereignisse wieder auftauchen, wo sie in den Fortgang des Geschehens verwickelt sind. Dadurch wird in der Schilderung der Ereignisse die Sicht auf Lebenswege möglich, die Verfolgung von Einzelschicksalen von Menschen, die zwischen die ‚eigene und die ‚fremde Kultur gerieten. Besonders aufschlussreich ist das Beispiel von João Lopes de Carvalho. Dieser portugiesische Schiffslotse taucht an unterschiedlichen Stellen des Buches auf. So erfährt man auf Seite 80, dass der Lotse des Schiffes Bretoa, der besagte João Lopes de Carvalho, gemeinsam mit dem Seemann Pedro Annes im Jahre 1511 des Raubes kleiner Äxte und Keile, zu dem es während der Reise kam, schuldig gesprochen wurde. Daraufhin wurden beide, obwohl sie ihre Unschuld beteuerten, am Cabo Frio, beim heutigen Rio de Janeiro, ausgesetzt. Nachdem vier Jahre vergangen waren und Bueno viele weitere historische Ereignisse erzählt hat, taucht der Lotse João Lopes de Carvalho auf der Seite 115 des Buches wieder auf. Dort ist dann zu erfahren, dass ein spanisches Schiff unter dem Kommando von Francisco Torres, obwohl es sich im portugiesischen Sektor wusste und dort unerlaubterweise Brasil-Holz lud, die beiden verbannten Portugiesen mit an Bord nahm und das Schiff 1516 in Sevilla einlief. Nachdem er drei Jahre in Spanien gelebt hatte, und weitere vier Seiten später im Buch, wurde João Lopes de Carvalho dann ganz überraschend und plötzlich zum Lotsen des Kapitänsschiffes für die Flotte seines Landsmanns Fernão de Magelhães, in spanischer Aussprache Fernando Magellan, zur Erdumrundung im spanischen Auftrag berufen. Er sollte in letzter Sekunde den Kosmographen Rui Faleiro ersetzen, der in der Nacht vor der Abreise in den Verdacht geistiger Verwirrung geraten war. João Lopes de Carvalho steuerte nun mit der Flotte auf ihrem Westkurs Richtung Amerika die portugiesische Faktorei bei Cabo Frio an, seinen alten Verbannungsort, und die Schiffe wurden freudig von den Indios empfangen. Es kam auch Higito, João Lopes de

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Carvalhos inzwischen siebenjähriger Sohn an Bord, der nun mit seinem Vater an der weiteren Expeditionsfahrt teilnahm. Anderthalb Jahre später, im Jahr 1521, wurden die beiden mit allen portugiesischen Flottenteilnehmern von ihren meuternden spanischen Kameraden auf der südostasiatischen Insel Borneo ausgesetzt, die wegen eines Volkes von ‚Kopfjägern‘ berüchtigt war, welche angeblich die Schädel ihrer getöteten Opfer schrumpften.16 Wenn Bueno das Schicksal des Lotsen João Lopes de Carvalho auf diese Weise erzählt, wird es unmöglich, diesen Verbannten und frühen portugiesischen Bewohner Brasiliens zu richten oder ihn eindeutig einzuordnen. Anhand der komplexen Faktenlage sind eindeutige Bewertungen nicht möglich. War João Lopes de Carvalho ein Dieb? Hatte er die kleinen Äxte und Keile auf der Bretoa gestohlen oder wurde er fälschlich deswegen verurteilt und in Brasilien ausgesetzt? War er ein schlechter Vater, weil er seinen Mestizensohn zurückgelassen und 1516 mit dem spanischen Schiff nach Europa zurückgefahren war, oder war er ein guter Vater, weil er, ganz kurzentschlossen als Lotse eingesprungen, mit der Magelhães-Flotte 1519 zurückkehrte und seinen Higito dann auf die große Expedition mitnahm? Und war er ein schlechter Patriot, weil er im spanischen Auftrag segelte, oder ist er nicht viel eher als Opfer eines ungezügelten und eigenartigen Aktes von ‚Patriotismus‘ der spanischen Besatzungsmitglieder zu sehen, die ihre portugiesischen Kameraden einfach in Borneo dem Tode preisgaben? Diese Art, die historischen Begebenheiten nachzuzeichnen, legt es darauf an, eine Vorstellung von ihrer Komplexität zu vermitteln und von der bedeutenden Rolle, die der Zufall auf Richtung und Verläufe der Ereignisse ausübte. Eine solche Sichtweise erlaubt es nicht, einer Person einen eindeutigen Stempel als ,Verbrecher aufzudrücken und noch viel weniger, eine ganze kulturelle Gruppe in diesem Sinne zu bewerten. In diesem Falle ist es also unter dem Gesichtspunkt der historischen Geschichtswissenschaft die internationale Arbeit von Historikern bzw. der Einsatz geschichtswissenschaftlicher Methoden, der das diffuse negative Bild von den degredados und lançados als Verbrechern durch komplexere Fakten revidiert. Aus kulturwissenschaftlicher Sicht kann die Geschichtstransformation in ihrem Gewicht verdeutlicht und die Anerkennung für die kulturelle Übersetzungsleistung dieser Grenzgänger herausgearbeitet werden, ebenso wie die Bedeutung ihrer technischen und Informationsleistungen für ein frühes globales Verständnis. Und, last but not least, auch dafür, dass die Daten, die bei der technisch unterstützten Archivrecherche zutage gefördert werden, in ihrer 16 Vgl. BUENO, 2001, S. 119-122.

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Komplexität Akzeptanz und Verständnis finden, ist eine Vorstellung von Diversität, Diskontinuität, Heterogenität und Kontingenz in kulturellen Prozessen, wie sie uns insbesondere durch die postkolonialen Theorien vermittelt wurde, von Belang.

Literatur ANDRADE, ANTÓNIO DE (s.d.), Tema: A auto-imagem do povo brasileiro, http://www.editora-opcao.com.br/ada14.htm, 20.2.2013. ALARCÓN, NORMA, Traduttora, Traditora: A Paradigmatic Figure of Chicana Feminism, in: Cultural Critique 13 (1989), S. 57-87. BHABHA, HOMI K., The Location of Culture, London 1994. BUENO, EDUARDO, Náufragos, traficantes e degredados. As primeiras expedições ao Brasil (1500-1531), Cascais 2001. CASTELLANOS, ROSARIO, El eterno femenino: farsa, Mexico-Stadt 1975/1987. COATES, TIMOTHY J., Degredados e Órfãs: colonização dirigida pela coroa no império português. 1550-1755, übers. von JOSE VIEIRA DE LIMA, Lissabon 1998. CORPI, LUCHA, The Marina Poems, in: Palabras del mediodía / Noon words, übers. von CATERINE ROFRÍGUEZ-NIETO, Houston 1980/2001 [1976]. CRUZ, MARIA AUGUSTA LIMA, Degredados e arrenegados portugueses no espaço índico, nos primórdios do século XVI, in: Dimensões da alteridade nas culturas de língua portuguesa – o outro. Actas do 1o simpósio interdisciplinar de Estudos Portugueses, Lisboa 20.-23. Nov. 1985, Bd. II, hg. von DEPARTAMENTO DE ESTUDOS PORTUGUESES, FACULDADE DE CIÊNCIAS SOCIAIS E HUMANAS, Universidade Nova de Lisboa, Lissabon 1985, S. 77-96. DÍAZ DEL CASTILLO, BERNAL, Historia verdadera de la conquista de la Nueva España, Mexico-Stadt 1632/2005 [1568]. DERS., Denkwürdigkeiten des Hauptmanns Bernal Diaz del Castillo oder Wahrhafte Geschichte der Entdeckung und Eroberung von Neuspanien (Mexiko), Stuttgart 1965. DRÖSCHER, BARBARA/RINCÓN, CARLOS, La Malinche. Übersetzung, Interkulturalität und Geschlecht, Berlin 2001/2010. GARCÍA CANCLINI, NÉSTOR, Culturas híbridas. Estrategias para entrar y salir de la modernidad, Mexico-Stadt 1990.

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GARRO, ELENA, La culpa es de los tlaxcaltecas, Mexico-Stadt 1964/1996. GLANTZ, MARGO (Hg.), La Malinche, sus padres y sus hijos, Mexico-Stadt 1994/2001. PAZ, OCTAVIO, El laberinto de la soledad, Mexico-Stadt 1950/1993. SCHWARZ, ROBERTO, Ao Vencedor as batatas, São Paulo 1977. TODOROV, TZVETAN, La conquête de l’Amérique: la question de l’autre, Paris 1982/1991. TORO, ALFONSO DE, Escenificaciones de la hibridez en el discurso de la conquista: Analogía y comparación como estrategias translatológicas para la construcción de la otredad, in: Atenea (Concepción) 493 (2006), S. 87-149. DERS., The conquest Writes Back. Überlegungen zu hybrider Repräsentation und Inszenierungen der Andersheit und Altarität im Spiegel der neueren und neuesten Forschung. Chroniken und Diskurse der Eroberung Mexikos und Amerikas, in: Transkulturation und Wissen: Außereuropa, Übersee und Europa/Außereuropa, 15.-20. Jahrhundert (Zeitschrift für Weltgeschichte. Interdisziplinäre Perspektiven 8, 2, Herbst 2007), hg. von ULRICH SCHMIEDER u. a., S. 59-120. YIMPRASERT, SUTHACHAI, Portuguese Lançados in Asia in the Sixteenth and Seventeenth Centuries, Dissertation, Universität Bristol, Manuskript der portugiesischen Nationalbibliothek 1998.

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Prophesying the Future, Replotting the Past: The ‘Blonds’, the Last Constantine, and the Revision of the Fall of Constantinople in Russia and Greece MICHEL DE DOBBELEER & EUGENIA RUSSELL Nur wenige Ereignisse hatten einen größeren Einfluss auf die christliche Welt als die Belagerung und Eroberung Konstantinopels 1453 durch die Osmanen unter Sultan Mehmed II. Ein und dieselbe Prophezeiung – über die Befreiung der Stadt durch ein blondes (russisches?) Volk – diente seit dem 16. Jahrhundert national(istisch)en Bestrebungen so unterschiedlichen Ländern wie Russland und Griechenland. Indem diese und andere Prophezeiungen in mehr oder weniger maßgebende (historiografische) Texte eingebunden wurden, wurde die tragische Erzählung vom Fall Konstantinopels durch einen neuen (epischen) Plot umgedeutet. Die zwei hier diskutierten Texte, Nestor-Iskinders russischer Bericht über den Fall Konstantinopels (spätes 15. Jahrhundert) und die griechische Visionen des Agathangelos (eine Fälschung der 1750er Jahre), werden mithilfe der von Hayden White und Michail Bachtin inspirierten (Em)plot(ment)theorie untersucht. In ihrem Umschreiben der Geschichte betonen beide Texte die Rolle von Byzanzs letztem Kaiser, Konstantin XI. und seinem Heldentod.

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Michel De Dobbeleer & Eugenia Russell The blond race, together with the avengers, will totally defeat Ishmael. It will take the Seven-Hilled [i.e., Constantinople] with her privileges.1

These visionary words about the fate of the city of Constantinople, present-day Istanbul, are part of a Greek prophecy from the Oracles attributed to the Byzantine Emperor Leo VI the Wise (886-912). The text, however, has been dated c. 1463-1464 by Christopher Turner,2 whereas the phrase of the ‘blond race’ (xanthon genos) allegedly reaches back to an inscription – abbreviated with the characters “ ” – on the tomb, in the Church of the Holy Apostles (now the Fatih Mosque), of Constantinople’s founder, Constantine I the Great (310-337). 3 Whoever may have invented this piece of divination about what would happen to the splendid city on the Bosphorus after its fatal capture in 1453 by the Ottoman Turks under Sultan Mehmed II, most probably had a particular fair-haired race or nation in mind. The fact, however, that his phrasing remains vague enough – an obvious device for authors (forgers) of so-called vaticinia ex eventu – has allowed nations4 as different as the Greeks, Normans, Venetians, French, Germans and Russians to fashion and apply its contents to their own conditions at several points in their national histories. Although some of the Western cases will be passed in review, we will focus on how two more or less dubious authoritative (historiographical) texts have explicitly and/or implicitly incorporated the prophecy into their argument: the Russian Tale of Constantinople and the Greek Vision of Agathangelos.

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For the text of this prophecy in verse, also known under its Latin title Expositio litterarum quae in sepulcro Constantini Magni inscriptae erant, see VEREECKEN et al., 2000, p. 134-137, 198f. All translations from Greek and Russian belong to the authors. TURNER, 1968, p. 40-47, convincingly demonstrated that Constantinople’s first patriarch (1454-1464) after the ultimate fall of the city in 1453, Gennadius Scholarius, to whom the prophecy has been ascribed as well, did not author it either. For the possible identity of the author, see also VEREECKEN et al., 2000, p. 33-53, esp. p. 36, note 8, and p. 39. VEREECKEN 1986, p. 19f. Incidentally, the transition between the notions of genos (“race”) and ethnos (“nation”) in Greek political thought is a complex one. For an overview, see MYROGIANNIS, 2012, p. 3-17.

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The medieval Russi an Tale of Constant inople The rather heterogeneous late fifteenth-century Tale of (the Taking of) Constantinople, written – according to merely one of the extant manuscripts – by the otherwise unknown Nestor-Iskinder,5 features the prophecy in its last of three constitutive parts. The first part of the Tale (Russian: Povest’) deals with the foundation of Constantinople in 330 A.D., actually a refoundation of ancient Byzantion, by its name giver Emperor Constantine I. The middle and by far longest part of the Tale treats the Ottoman attacks in the spring of 1453, under Sultan Mehmed II the Conqueror, which ultimately led to the taking of Constantinople. Most of the attention here is drawn to the last Byzantine emperor, Constantine XI Palaiologos (reigned 1449-1453), who together with his capital fell in obscure circumstances. The style of this self-declared ‘diary’6 now and then turns epic, but it assumes Apocalyptic proportions in the third and final part of the Tale. The ‘report’ indeed ends with some five rather opaque paragraphs full of (pseudo)prophecies taken from the Apocalypse of Pseudo-Methodius, the Oracles attributed to Leo the Wise, and the Visions of Daniel, 7 all of them prominent texts within the Byzantine eschatological tradition. The Syriac Apocalypse, ascribed to the fourth-century Church Father Methodius, actually dates from the seventh century and was soon translated into Greek. In fifteen places the text dwells on Ishmael or the Ishmaelites, i.e., the then fast advancing Arabs. 8 The Visions of Daniel (ninth century) are 5

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Instead of the more widespread ‘Nestor-Iskander’, we prefer to use ‘NestorIskinder’, because it is this spelling which appears in the extant (early sixteenthcentury) manuscript, Troitse-Sergieva Lavra  773 (see NESTOR-ISKANDER, 1886, p. 43). For reasons why several, though not all scholars may have favoured ‘Nestor-Iskander’, see DE DOBBELEER, 2011, p. 48-50. In the last paragraph (the ‘afterword’), the narrator makes himself known to the reader as ‘Nestor-Iskinder’, who as a boy was taken captive by the Turks, but during the siege of Constantinople managed to escape within the walls, where he started to keep a ‘diary’. In DE DOBBELEER, 2011, p. 46-61, it is argued why scholars (particularly PHILIPPIDES et al., 2011, p. 112-137) should not give too much credence to this ‘afterword’. It is not inconceivable that parts of Nestor-Iskinder’s report go back to an original (lost) Greek diary, (the translation of) which was later compiled by a Russian scribe into the work of which the Troitse-Sergieva Lavra manuscript contains the only extant copy. HANAK, 1993, p. 41-45. For Pseudo-Methodius, see ALEXANDER, 1985, p. 13-20; MÖHRING, 2000, p. 54104.

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abbrevia-ted versions of the Greek Pseudo-Methodian Apocalypse.9 From the set of mostly short, very cryptic predictions known as the Oracula Leonis (Leo’s Oracles), we have already presented a translated quotation. By means of these Byzantine 10 pseudoprophecies, accumulated in the course of events, the Tale looks ahead at the future of the lately conquered city, now in the hands of Mehmed II. The most famous passage of this dense final part goes as follows:     !"#, $%%

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:!;63 *##05 (4 *!+! $%%1# !3 # ' %! '4??@@A”, which serves as a kind of epithet throughout the Tale) addressee is Sultan Mehmed, Emperor Constantine’s main antagonist. In ‘Leo’s’ prophecy the ‘blond race’ has been said to refer to the Venetians, or more generally, the Latins, in allusion to the Western conquerors of Constantinople in 1204, the tragic result of the Fourth Crusade. 12 Later on, these blonds have also been understood as, among others (apart from the

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ALEXANDER, 1985, p. 61f. These Visions must not be confused with the (also partially prophetic) Old Testament book of Daniel (second century AD). 10 That they are all Byzantine is a possible, though no sufficient reason to believe that the author knew Greek. By the second part of the fifteenth century, most (if not all) of these texts had been, at least partially, translated into Slavic (cf. TBPKOVAZAIMOVA et al., 1996; THOMSON, 1985, esp. p. 144), though philologists still have to determine which of these the author or compiler of the Tale could or may have used. 11 POVEST’, 1999, p. 68 (“But may you understand, wretched one, that if all that has been predicted by Methodius of Patara and Leo the Wise, as well as the omens with regard to this city, will have come about, then the latter too will not blow over just like that, but will take place likewise. For it is written: ‘The blond race, together with the former founders of the city will defeat every Ishmaelite and will take the Seven-Hilled [i.e., Constantinople], together with its former legitimate inhabitants. And there the blonds will ascend the throne and rule over the SevenHilled, […].’”). 12 VEREECKEN et al., 2000, p. 198f.; TURNER, 1968, p. 44. Cf. also VEREECKEN, 1986, p. 7, where she refers to a Latin version of the prophecy.

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Russians, cf. infra), the French and the Germans.13 With “the former founders of the city”, the Russian text almost certainly refers to the Greeks.14 Much like in Pseudo-Methodius (cf. supra) “Ishmaelite” stands for the Muslim enemy, here, the Ottoman Turks.15 Let us return, however, to the blond race, in the Nestor-Iskinder text rusii rod. The adjective rusii (cf. Greek rousios, almost a synonym of xanthos)16 strikingly resembles rus(s)kii, i.e., ‘Russian’, and that is indeed what some later scribes have made of it.17 For good reason, the appearance of this ruskii in the Ruskii khronograf, which contains a redaction of the text dating between 1516-1522 has been connected with Philotheus (Filofei) of Pskov, the alleged first propagator of the so-called theory of Moscow as the Third Rome (after Rome itself and Constantinople, the Second Rome).18 Such an explicitation, by simply adding a k (>) in fact was not necessary at all to involve the Russian nation in the prophecy, for by way of folk etymology19 (and their frequent light hair colour), the Russians indeed easily identified themselves with these blonds. Yet, with or without the k, the intended message of the text was crystal clear: it is the Russian race that will take Constantinople, ascend its throne and rule it. Although the Russians at several points in their turbulent history indeed have shown concrete interest to actually (‘re’-)capture the city from the Ottoman Turks, 20 most of the time they contented themselves with the 13 See BALIVET, 1999, p. 10f. For these ‘fair-haired’ in the (early) Byzantine and Muslim (Beni Asfar) Apocalyptic traditions, see ALEXANDER, 1985, p. 70, note 49; YERASIMOS, 1990, p. 186f., 190f. 14 Cf. SINITSYNA, 1998, p. 312; TURNER, 1968, p. 43, note 2; VEREECKEN et al., 2000, p. 198. In particular, allusion is made to emperors Constantine I and Justinian I (527-565), the former as the refounder of the city (cf. supra), the latter as the rebuilder of the St. Sophia Church. 15 Before, the term ‘Ishmaelite(s)’ had already been used in Russia to refer to the Polovtsians (known from the Tale of Igor’s Campaign) and the Tartars (MÖHRING, 2000, p. 345). 16 For xanthos, see VEREECKEN et al., 2000, p. 136; for rousios (also meaning ‘reddish’), see SCHAEDER, 1957, p. 41). As a matter of fact, rusii, nowadays rusyi, is sometimes translated as ‘light’ or ‘reddish brown’ (cf. TERRAS, 1991, p. 72). 17 We see this in several manuscripts from the complex “chronographic” (Tvorogov, 1989) branch, e.g., the sixteenth-century Voskresenskaia letopis’, 2001, p. 143. 18 Cf. VODOFF, 1992, p. 204. 19 Actually, ‘Russian’ is etymologically connected with the Old Scandinavian word for ‘to row’ (VASMER, 1958, p. 551f). 20 An example would be Catherine the Great’s (and her minister and lover Grigorii Potemkin’s) late eighteenth-century ‘Greek project’. In anticipation of a possible Russian conquest of Istanbul, Catherine’s second grandson was called Konstantin

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knowledge that from 1453 onwards Moscow, as the Third Rome, was the spiritual stronghold of the Orthodox Church.

Af f ecting the plot, transforming history Since the publication of Hayden White’s Metahistory (1973), literarytheoretical tools have found a new field of application: histor(iograph)y and more particularly narrative histor(iograph)y. White’s suggestion to trace historiographic “styles” in the writings of historians 21 has been thoughtprovoking, especially with regard to the concept of emplotment: historians tailor the events they describe by moulding them into a plot. Much more easily practicable in this respect – and indeed straightforwardly applicable to a range of premodern historical narratives – are Bart Keunen’s Bakhtin-inspired monologic (teleological) plots, which have been advocated before to typify simply structured action narratives like those concentrating on the siege and capture of a city.22 Of particular interest here are the tragic and the (epic) mission plot. The former moves the action from a condition of peace and quiet to a condition of ultimate distress, as is the case in most of the narratives dealing with the fall of Constantinople that are told from a Christian point of view, that is, focalized from the perspective of the defenders who eventually lose their city, while in the latter the condition of distress or unrest is merely interpreted as a transitionary state inciting the protagonist to undertake his (epic) mission: turning the unrest into rest. As a matter of fact, the Ottoman siege of Constantinople could hardly be ‘emplotted’ otherwise than tragically from the Christian perspective. Yet, the Russian Tale of Constantinople manages, if not literally to reorganize the historical events into a Christian victory, then at least to hold out the prospect of a condition of peace and quiet, by means of the prophecy of the blond race, which in a way turns the tragic plot into a mission plot. However, it is not the protagonist of (after Constantinople’s first and last emperor) and given a Greek nanny (see MAp. 42; WES, 1991, p. 51f). 21 and applicable are his compelling combinations of emplotment, arguments and ideological implication, as to be found in nineteenth-century historians, p. 133-264). 22 See, e.g., DE DOBBELEER, 2009. The plot (chronotope) types are taken from KEUNEN, 2011, 83f.; though we prefer to speak here of mission and tragic plot rather than Keunen’s more technical “mission” and “degradation chronotopes”. DARIAGA, 1981, p. 383f; NICOLOPOULOS, 1985, WHITE, 1993 [1973], p. 29 (less convincing

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the Tale, Emperor Constantine XI, as epically depicted as he may be during the diary-like middle part, who causes this plot transition. Due to his unmistakably tragic death, in combat, close to Constaninople’s Golden Gate, after having fought like a lion and having killed numerous Turks, the hope of recovery can no longer rest on Constantine’s shoulders but is transferred to those of the xanthon genos. Al-though actually forged much later, as we have seen, the wisdom and the ‘ol-den’ times of Emperor Leo granted the prediction enough authority for the Russians to take it seriously; hence the many textual witnesses of the Tale, 23 of which the Nestor-Iskinder version offers merely one, albeit the most famous. Byzantium’s last emperor, Constantine XI Palaiologos, may have perished once and for all in the eyes of the Russians (for the Greeks, cf. infra), his name nonetheless confers unity to the plot of the Tale. We see this epitomized in what Walter Hanak has coined the “Constantine adage” – about the “first” and the “last” Constantine –,24 which appears at the end of the long middle part just after Constantine XI’s heroic death: “C DEFGHIGJ KLML@@=L: N=GHJ@HO@=P 25 GQDR?GJ O S?>O N=GHJ@HO@=P O G>=@M?GJ”. The predictive power attributed to this adage suitably ushers in the transition to the prophetic final part of the Tale. At the same time, it helps to justify the long, already-mentioned description of Constantine I’s founding exploits in the first part of the Tale. As a matter of fact, the foundation of Constantinople by this first Constantine (I) strikingly contrasts with the city’s taking, which is indeed embodied by the downfall of the last Constantine (XI).

23 That is, all (but one) belonging to the anonymous ‘chronographic’ branch, see note 17. 24 HANAK, 1993, p. 36. 25 “And the saying was fulfilled: it [i.e., the city] was founded by a Constantine and, again, by a Constantine it will be ruined”, POVEST’, 1999, p. 64. This phrase would obviously not be an adage if it had not appeared earlier in other texts. In a letter by Isidore of Kiev to Pope Nicholas V, the adage is complemented with the curious (and indeed historical) fact that the name of the mothers of both the first and the last Constantine was ‘Helena’ (ISIDORO DI KIEV, 2001, p. 60). The Tale of Constantinople only mentions the mother of Constantine I (POVEST’, 1999, p. 26).

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The (Priamic) fate of Constantine XI and the ‘blonds’, as constr ued by the Greeks In Greece, the dominant legend of the fall of Constantinople features a protagonist who in the words of Donald Nicol “was more celebrated after his death than ever he had been during his short and unhappy reign”.26 Centred on the person of the ‘tragico-epic’ last emperor, Constantine XI, and coloured by his mysterious death, the legend is Messianic or Arthurian in flavour, as it involves his returning to the vasileuousa, ‘Queen of Cities’, to reclaim it. In some versions of that same legend, Constantine is ‘frozen’ by God in a hidden location, hence the expression o Marmaromenos Vasilias (‘the Marble King’). Congruous with Byzantine ideology, in a variant of the most well-known lament for the Fall of Constantinople, O Threnos tis Polis (The Lament of the City), the King is styled ‘o vasilias tou kosmou’ (‘king of the world’). In other words, the vasilias of Byzantium was also the vasilias of the entire Christendom (which eventually had to encompass the entire world with the Christianization of the infidels) and had the protection of God, which made the fall of the Byzantine Empire, in the Byzantine mind, unthinkable. This ideology was sustained in the post-Byzantine era with commemorations of the emperors during the liturgy throughout Ottoman Greece.27 The belief was that Constantinople would be recovered when the people atone themselves and are forgiven by God for their sins. In that sense, Constantine can be seen as the Once and Future King of the East, whose epic mission – to recall Keunen’s plot theory – consists in altering his tragic fate into a recapture of his capital and empire. As such the condition of tragic unrest, for once and ever, will be definitively changed into a state of regained equilibrium, which is the typical ending of an epic mission plot. As abstract as these plot-related observations may be, they are nonetheless confirmed by a metaphorical shift in the way in which Emperor Constantine and Sultan Mehmed, the respective leaders during the siege of Constantinople, 26 NICOL, 1992, p. 73. 27 As the liturgical tradition of the Greeks under Ottoman rule came to symbolise the Byzantine past, folksongs, too, were composed within the idiom of the Church. Several folksongs can be found in manuscripts of Mount Athos which were written within this liturgical tradition and generally include Byzantine musical notation. Some of them include metaphors or themes of subjugation and loss and commemorate past emperors and patriarchs. Some of these manuscripts are: Iviron 1203, Iviron 1054, Iviron 1189 and Xiropotamou 262.

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were linked to the events which laid the foundation of European literature: the siege of Troy over two and a half millennia earlier but geographically in fact strikingly close. As a boy, the Sultan had been introduced by his Italian tutor to the Homeric epics and was told that his ancestor was Teucrus, the first king of Troy. By way of folk etymology, this ancestry endorsed the then Latin name of the Turks: Teucri.28 Once having taken Constantinople from the (Byzantine) Greeks, Mehmed saw himself as the avenger of the Trojan defeat, which is foretold in the Iliad and remembered in the Odyssey. Indeed he, Mehmed II, “had appeared to avenge Priam”,29 Troy’s old and wise, but tragic king in the Iliad. Still in the second half of the fifteenth century, legendary accounts started to circulate which not only linked Priam’s fate, the loss of his proud city, quite understandably with that of Constantine XI, but also the very figures themselves. 30 In this way, the Byzantines were not so much perceived as Greeks – like Mehmed as a ‘Trojan’ considered them – but as Romans, which they of course actually were, too, as Byzantium was the Eastern Roman Empire. And since the mythology of the Romans (cf. Virgil’s Aeneid epic) regarded the Trojans as their ancestors, the metaphorical identification of Priam and Constantine turned the expectation of Priam’s revenge from an Ottoman (with Mehmed as a descendant of Priam) into a Byzantine victory. This shift does not only entail a transformation of (literary) history, it also alters the tragic plot of the fall of the vasileuousa into an epic mission plot to be accomplished. Although lesser known in Byzantium, the legend of the fair-haired people, which, according to Nikolaos Politis, originally referred to the Normans,31 has had a similar function of nurturing ideas of liberation amongst the Ottoman Greek populations. Since ancient times blond hair has been highly prized in Greek literature with Menelaos, Achilles and Orestes all thought to have been blond (xanthoi). In her monograph on male beauty in Byzantium, Myrto 28 BABINGER, 1959, p. 225. 29 PHILIPPIDES et al., 2011, p. 211. 30 Accordingly, Constantine – just like Priam – had to be provided with a (nonexistant) wife and children, a confusion which is actually partially supported by Nestor-Iskinder’s Tale. In a grim version of the events, Constantine’s friends and relatives all attend the Eucharist and take Sacred Communion before they are slaughtered in front of his eyes, including his wife and children. For details on all legends, see PHILIPPIDES et al., 2011, p. 132-136, 202-209. 31 N. POLITIS, 1889, p. 39 (marked 93 in error).

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Hatzaki traces the same admiration in Byzantine literature and offers several examples of how this is manifest in specific cases. Anna Komnene (10831153) is central to this appraisal, with Hatzaki highlighting her description of the ‘blondish’ (ypoxanthos) Bohemond in the Alexiad (c. 1148), a character upheld as a model of male beauty, as well as drawing attention to Komnene’s description of her blond father and to a classical allusion where she shows her erudition with the phrase “blond Menelaos”.32 In the modern Greek context, Dionysios Solomos presents the month April as blond in his celebrated unfinished poem on the Third Siege of Missolonghi, 33 TU VWXYZX[\U ]\WU\[^_`ab\U (The Free Besieged). The poem juxtaposes the beauty of nature with the tough conditions in the beleaguered city, the siege of which started in April 1825 and ended in April 1826 with the tragic Exodus of the Guards (or the ‘Sortie’). Interestingly in this respect, Missolonghi is the only Greek town to hold the status of a Sacred City.34

The earl y moder n Greek Agathangel os The Greek Vision of Agathangelos is an oracular text in the style of the Prophets of the Old Testament and the Revelation of John 35 meant to record the revelation (Apokalypsis) of a holy man from Rhodes, Agathangelos. This name, ‘Agathangelos’, can be translated either as ‘Benevolent Angel’ or ‘Bringer of Good News’, and it is perhaps in the latter sense that the name was chosen for the text under discussion.36 Agathangelos is said to have written his Vision in 1279, the date recorded on the first page of the text, 37 with all subsequent calculations for Agathangelos’s prophecies based on that dating. In 32 HATZAKI, 2009, p. 7, 13-19, 95. 33 Cf. the opening of Section VI: ‘cdefdg h ijkelm nhjo pg ehq rlqsoq tujvwf’ (‘Eros set up a dance with blond April’), SOLOMOS, 1994. 34 Another major event alongside the siege has contributed to this fact: two years earlier, on 19 April 1824, Lord Byron had died in Missolonghi, his death perhaps having more impact on the success of the Greek cause than any other single event up until that point, see BEATON, 2013. 35 See POLITIS, 1889. 36 Cf. the neutral meaning of the word angelos (messenger) in ancient tragedy. This early modern Agathangelos must not be confused with the ‘Agathangelos’ under whose name a fifth-century legendary history was written about the conversion of the Armenians, see THOMSON, 2008, 156, 161. 37 AGATHANGELOS, 1916, p. 5 (see also the ‘Introduction’, p. 3). Cf. POLITIS, 1969.

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an 1889 article in Estia, however, Nikolaos Politis has demonstrated that the text is actually a creation (ca. 1750s) by Archimandrite Theokleitos Polyeidis, and not a translation, as Polyeidis made us believe. This Adrianople-born, multi-talented clergyman to Greek communities in Habsburg Hungary divided the Vision into ten chapters, overloaded with allusions to European history.38 In general, most of Polyeidis’ references are deliberately vague and ambiguous, making the work capable of being read from many points of view. What is coherent is the author’s Orthodox view and his naïve moralism: the righteous will undergo painful tribulation but eventually they will emerge victorious. In the end, the heretic Catholics will be mortified and the barbarian Ottomans will be vanquished by the Orthodox faith. […] The chosen agent and time of the God-promised restoration had to be decoded from the hermetic utterances of the prophetic text. Judging by the circumstances, messianists could place their hopes in any monarch capable of po-sing a potential or actual threat to Ottoman integrity.39

The Vision of Agathangelos is particularly pertinent in this contribution as it links the ‘salvation’ of the Greek people and the recovery of Constantinople with the involvement of the Russians, 40 in line with Russian Orthodox 38 HATZOPOULOS, 2011, p. 101f.; NICOLOPOULOS, 1985, p. 45, note 12. For readers interested in the manuscript tradition of the Vision of Agathangelos, Nicolopoulos (passim) surveys the different versions in terms of their impact on political manoeuvres in the Balkans. The most important extant versions are briefly the following: the first printed edition of c. 1791 by the Poulios Press in Vienna, which is the edition (published by A. Politis in 1969) often attributed to Rigas (Velestinlis) Feraios (which is unlikely, because for Feraios the French, not the Russians, were the saviours in whom he put his hopes; cf. MERRY, 2004, p. 458f.; HATZOPOULOS, 2011, p. 106f.); the second edition published in Missolonghi during the siege of 1824 (IBID., p. 112, note 41); the 1838 Hermoupolis (on Syros) edition by ‘Zeloprophetis’; a 1914 demoticized New York edition; and finally the 1916 New York edition (a second edition stemming from the 1914 version), which is the one we are commenting on. There is also a Bucharest edition (1838) and several Athens editions: 1837, 1838, 1849, 1853, the latter coinciding with the first year of the Crimean War. Nicolopoulos’s interest is focused on the role of the Megali Idea in formulating the later versions of the Agathangelos text. For our purposes, however, the question of authenticity is not as important as that of cultural transmission; so the later ‘forgeries’ with the additional pro-Russian passages are of as much value, if not more, as the original, more ‘authentic’ forgery. 39 HATZOPOULOS, 2011, p. 102. 40 See particularly NICOLOPOULOS, 1985.

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ideology as we mentioned with regard to the prophetic final part of NestorIskinder’s Tale, and the coinage of the Third Rome concept. The oracular text makes explicit reference to the role of the Russians in the recovery of Constantinople by prognosticating about a Tsar Peter V, a hypothetical future emperor, who is identified as the saviour of the Queen of Cities and the representative of (Eastern) Christendom: “the fifth [i.e., Peter] will extend the victorious sign of Christ to Byzantium and will annihilate the might of the Ishmaelites”.41 Another prophetic-sounding passage further on speaks of the personification of Russia as Byzantium’s sister: “I heard a voice coming from the Bear, saying thus: ‘Russia, awake from your sleep; to you is addressed the word of God’s Angel […] reform […] by the sincere seal of Christ […] oh, my own sister, take your path […]’”; and a little later: “And listen, beloved sister […] you will soothe the fear”.42 That Nikolaos Politis has argued that the fifth chapter, the passage on Russia, is an insertion of a pro-Russian hand, 43 does not devalue its significance as an ideological instrument. As a matter of fact, it all the more makes the Vision of Agathangelos a case of adapting a prophecy to a (desired) historical reality. Literally speaking, the blonds, for their part, remain absent in the Agathangelos prophecy, but one might contend that in a sense they have just become less abstract by means of their being named concretely as ‘Russians’. Much like in the versions of the Tale of Constantinople which turned rusii (‘blond’) into ruskii (‘Russian’), one may say that in the preserved Agathangelos, too, the ‘truth’ is finally revealed, and as far as Archimandrite Theokleitos Polyeidis and all those who made use of his forgery are concerned, whether or not helped by a pro-Russian hand, the blonds are the Russians. Another similarity with the Tale of Constantinople lies in the presence of the Constantine adage already in the first chapter of the Vision: “xyz{|}z|~z€ 44 ‚ƒ„{… †}~ xyz{|}z|~z€ }‡ˆ‰{…„ |o Š‹Œ}z|„zz |Ž€ }z}|ˆ€ Š}{~ˆ…„z”. This cyclic pattern, not uncommon in the Byzantine tradition, can also be found in a demotic poem devoted to Byzantium’s foremost epic hero of Acritic

41 AGATHANGELOS, 1916, p. 14. 42 IBID., p. 23. 43 POLITIS, 1889, p. 38f., who refers here to the Athens (1837 and 1838) editions, which fed into the later versions, see note 37. 44 AGATHANGELOS, 1916, p. 6 (“a Constantine begun and a Constantine will lose the Byzantine Empire of the East”). See already note 25.

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song, Digenis Akrites: “‚~|Ž (…)‘…zz’Ž  “„‘…z€ †}„ ‚~|Ž ’} ‡…’z…„”.45 Incidentally, in Greek collective memory Tuesday has been a day of mourning as a result of the Fall of Constantinople that took place on Tuesday, 29 May 1453. Here, in the Vision of Agathangelos, much like in the Tale, Constantine’s mournful death is indeed ominous of the fall of the splendid capital, but when compared to the tradition of Greek laments, Constantine’s end is not so much tragic in itself – that is, as a final point of the plot. It is better read as a condition to be met, a prophecy to be fulfilled in order to enable the mission plot to reach its climax: the prospected coming of the blonds or Russians. When we consider the Vision next to the Greek laments on Constantinople’s fall, as expressed in several monodies, folktales and songs,46 the latter clearly stand at the opposite end of the spectrum, sharing nothing of the optimism inherent in the Agathangelos text (and the Tale). A case in point is the elegant Monody for the Fall of Constantinople by the Thessalonian intellectual and Renaissance scholar Andronikos Kallistos, who gave an eyewitness account of the event and did not see any hope for recovery after the fall.47 A profoundly dark mood, and thus indeed a tragic ‘plot’, characterizes Kallistos’s Monody: a fundamental sense of loss. In another lament on the fall, Lament and the Shedding of Tears About Constantinople (”[•b\– ^—U ^W—˜Z`™– šX[› œ_– žbŸœ—bœU-b\˜š™WXž–), by Matthew, a seventeenth-century bishop of Myra, the blonds themselves appear, albeit rather cynically:  wuv¡hpgq ¢£ g£m el rlqs¤ ¥iqf ql plm ¥w£e¦dh§q, ql wsh§q luo ehq ¨odnh©hq ql plm gwg§sgj¦dh§q.  wuv¡hpgq g£m eh§m njfdphªm, degm «g§¬hujh­fegvgm ¢l£ ehq ¢l£joq plm n¤qhpgq degm plel£hwh¥vgm.48

45 (“Digenis was born on a Tuesday and will die on a Tuesday”) (‘®h§ ¯£¥gq°’, demotic poem; see PATSIS, 1995, p. 337). 46 See ALEXIOU, 2002. Marios Philippides has recently explained how “numerous variants were gradually collected and published in the nineteenth century to form an impressive corpus”, PHILIPPIDES, 2012, p. 714-737. 47 Cf. “without having the hope of being resurrected” (“pf¬i gwuv¡g£q lqlde°dgdsl£ u¤w£q”), in LAMBROS, 1908, p. 217. For an intellectual biography of Andronikos Kallistos, see RUSSELL, 2013, p 105-138. 48 Quoted in ZIAKA, 2004, p. 21 (“We hope that the blond peoples will save us, | that they will come from Moscow and free us. | We put our hopes on oracles and pseudo-prophecies | and we waste our time in vain talk”).

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Whether ironic or not, the overwhelming success of the legend of the blond race can truly be seen in words like these. At the same time, the fact that the belief in the coming of the blonds was the object of such sceptical criticism may be a reason why an explicit reference to the ‘blonds’ may have been avoided in the Vision of Agathangelos.49 Irrespective of this, Marios Philippides has indicated how the Agathangelos’ message of insurrection returns in several texts of the NeoHellenic Enlightenment: its spirit is captured in the following line, addressed to the Madonna, from the well-known folk poem The Song of Santa Sophia: “±²ˆ„ ³´ ƒ‚µz„} ³´ †}„‚¶·, ‡²ˆ„ ¸„†² {}· …¹z}„”.50

Conclusion The course of history allowed the Russians, as representatives and incarnators of the Orthodox Church, to benefit from the capture of a city in which they hardly, historically speaking, took any active part. Whether the original writer behind ‘Nestor-Iskinder’ was Russian or not, the subject matter of the first and large middle part of the Tale of Constantinople is definitely Greek, and even the prophetic finale is composed of Byzantine Apocalyptic material. Nevertheless, the Russian ‘potential’ of this final part, and thus of the whole 49 Linking the hope of salvation directly with a particular power, the Russians, might be considered as an attempt to take the prediction away from the realm of superstition. 50 PHILIPPIDES, 2012, p. 735 (“With the passage of years and time, they [i.e., the city, the St. Sophia Church…] will again be yours”). Cf. POLITIS, 1914, p. 4f. PHILIPPIDES, 2012, p. 733f., also accentuates the importance of Nikos Kazantzakis as an interpreter of the Byzantine past. He shows that in his play Konstantinos Palaiologos (1953) Kazantzakis has used a variant of the folk poem with some subtle differences in meaning: “Be silent, Our Lady, and do not shed tears; with the passage of years and time, she (i.e., the city) will be ours again!” (“º»uldg, ¢§jl-¯¼duh£ql, p½q ¢wl¾m ¢l¿ p½ ¬l¢jÀ¡g£mÁ | uÂw£ pà njÄqh§m, pà ¢l£jhÀm, uÂw£ ¬£¢£Å plm s ’ql£!”), cf. ROILOS 2001; HENDRICKX 2004; and Manolis Kalomoiris’ opera Konstantinos Palaiologos (1962), based on Kazantzakis’ play. Interestingly, too, PHILIPPIDES, 2012, p. 737, points to another (the Fauriel) version of the poem, which refers to the fall of Thessalonica (1430). A link between the two events also exists in mainstream sources. Historian DOUKAS (1834, p. 200) sees the fall of Thessalonica as a prefiguration, in the form of a bad omen, of the fate of Constantinople; cf. also the sermons of SYMEON OF THESSALONICA (1979, p. 83-87), archbishop of the city under siege.

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Tale, is fully realized by interpreting the liberating race as Russian and by moulding the ‘intrigue’ of the Tale – and thus of Constantinople’s fall – into a mission plot. The Greek Agathangelos text, for its part, keeps alive the hope of liberation amongst Greek Christians during the Ottoman years and contains the pain of the loss of the Queen of Cities, a capital with far more than an administrative significance and function. Constantinople was upheld by Byzantines as the hub of culture on which the rest of the Byzantine Commonwealth relied for enlightenment. As the custodian of three traditions, the Ancient Greek, the Roman and the Eastern Christian, the Byzantine capital was irreplaceable and therefore its loss was felt, by all Greeks (and many other Orthodox Christians), as a fate worse than death. It was thanks to a prophetic text such as the Vision of Agathangelos that the metaphor of the Greek War of Independence as the resurrection of the entire nation could be disseminated and consolidated. For good reason, the text was reprinted during the siege of Missolonghi in 1824 “in order to boost morale”.51 In both texts under discussion, the heroic death of Constantine XI, Byzantium’s last emperor, whether or not believed to return once as a Marble King, had to come about as a ‘leverage’ to further the mission plot which would inevitably lead to the retaking of Constantinople. And for this purpose it were the more or less cryptic ‘blonds’ and/or, concretely, the ‘Russians’ who had to be brought in. In both cases, by the Russians as well as the Greeks, the tragic historical course of events was ‘replotted’ in order to result in a muchdesired, prophesied future, in which a thus transformed history will finally accomplish its mission: making Constantinople again, for eternity, a city ruled by Christians.

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51 HATZOPOULOS, 2011, p. 112, note 41; cf. supra, note 38.

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Toussaint Louverture in der französischen Romantik Die Transformation des haitianischen Revolutionsführers zum Widerpart Napoleon Bonapartes ISABELL LAMMEL Der Mythos des Sklavenführers Toussaint Louverture aus der ehemals reichsten französischen Kolonie Saint-Domingue, der durch sein Wirken während der Haitianischen Revolution (1791-1804) den Weg zur Unabhängigkeit Haitis ebnete, erfuhr in der Zeit der französischen Romantik eine Transformation. Wurde er von aus Frankreich stammenden Zeit- und Augenzeugen noch überwiegend als grausamer und ungebildeter Afrikaner dargestellt, der die Franzosen um ihre schönste Kolonie gebracht hatte, wird Toussaint Louverture von Honoré de Balzac, François-René de Chateaubriand und Germaine de Staël als Widerpart Napoleons in Szene gesetzt. Diese neue Funktionalisierung des haitianischen Revolutionsführers wird im Beitrag herausgearbeitet und es wird mithilfe des historischen Kontexts der Frage nachgegangen, welche Gründe die Schriftsteller zu einer solchen Transformation Toussaints motivierten.

Der in Frankreich lange dem kollektiven Vergessen anheimgefallene Freiheitskämpfer Toussaint Louverture war einer der bedeutendsten Anführer der Haitianischen Revolution (1791-1804). Durch sein Wirken trug er entscheidend zur Unabhängigkeit der ehemaligen französischen Kolonie SaintDomingue und damit zur Gründung des ersten unabhängigen Staates Lateinamerikas bei. Nachdem bereits zu seinen Lebzeiten ein Mythos um diesen

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heutigen haitianischen Nationalhelden entstanden war und er in Frankreich – insbesondere aufgrund der bonapartistischen Propaganda – zunächst eine starke Dämonisierung erfahren hatte, steht in diesem Aufsatz nun die Frage nach der gewandelten Funktionalisierung Toussaint Louvertures in der Epoche der Romantik im Zentrum der Betrachtung. In den Werken bedeutender Schriftsteller dieser Zeit wurde das Leben und Wirken Toussaints aufgrund veränderter politischer Rahmenbedingungen neuen Deutungen unterworfen. Somit fand bereits wenige Jahre nach seinem Tod eine Transformation des ihn umgebenden Mythos statt. Die Repräsentation Toussaints in den Werken wird anhand der verschiedenen Mytheme des Mythos herausgearbeitet, wobei der Begriff ‚Mythem‘ rekurrierend auf Claude Lévi-Strauss Verwendung findet. Unter Bezugnahme auf das Saussuresche Sprachmodell zeigte Lévi-Strauss in seinem Werk Strukturale Anthropologie I auf, dass der Mythos, wie jedes andere Sprachgebilde, aus konstitutiven Einheiten besteht, welche er als Mytheme bezeichnet.1 Bei jeder Mythosaktualisierung werden bestimmte Mytheme ausgewählt sowie neu und verschieden angeordnet.2 Des Weiteren erlangen die Mytheme bei jeder neuen Anordnung eine unterschiedliche Gewichtung und es können durch Umdeutungen auch neue Mytheme entstehen und alte Mytheme weggelassen werden.3 Anhand der in den Werken der Romantiker aufgegriffenen Mytheme kann aufgezeigt werden, inwiefern diese zu einer neuen Funktionalisierung des Toussaint-Mythos führten. Durch die herausgearbeitete Funktionalisierung Toussaints soll dann die Transformation des Mythos veranschaulicht werden, die zwischen der Toussaint-Darstellung der Augen- und Zeitzeugen und jener der Romantiker stattgefunden hat. Diese unterschiedlichen Toussaint-Repräsentationen ermöglichen interessanterweise zugleich Rückschlüsse auf eine veränderte Wahrnehmung Napoleon Bonapartes, zu dem Toussaint Louverture in konkurrierender Interdependenz zu stehen scheint. Mithilfe des historischen Kontexts wird zudem versucht, die Frage zu beantworten, welche Gründe die Schriftsteller zu einer neuen Funktionalisierung Toussaints veranlassten.

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Vgl. LÉVI-STRAUSS, 1991 [1958], S. 231. Diesen Prozess nennt Lévi-Strauss bricolage. Vgl. DERS., 1973 [1962], S. 29. Vgl. WODIANKA, 2005, S. 216.

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Der historische Kontext Die Haitianische Revolution, bei der der einstige Sklave Toussaint Louverture eine bedeutende Rolle spielte, ereignete sich von 1791 bis 1804 in der französischen Kolonie Saint-Domingue. Beeinflusst durch den Ausbruch der Französischen Revolution begannen im August 1791 die Sklavenaufstände, die sich schnell zu einer Revolution ausweiteten und schließlich dazu führten, dass Frankreich bzw. der Pariser Konvent sich bereit erklärte, die Sklaverei am 4. Februar 1794 abzuschaffen. Dieses Dekret ermöglichte den Aufstieg Toussaints zum Gouverneur der Kolonie und zum mächtigsten Mann der Insel. Im Jahr 1801 entschloss sich jedoch Napoleon, der inzwischen als Erster Konsul regierte, die vorrevolutionären Verhältnisse in Saint-Domingue wiederherzustellen, und sandte zu diesem Zweck ein Expeditionsheer unter Leitung seines Schwagers Leclerc in die Kolonie. Obwohl nach kriegerischen Auseinandersetzungen ein Waffenstillstand zwischen General Leclerc und Toussaint Louverture geschlossen worden war, wurde der Sklavenführer 1802 auf Befehl Napoleons in einen Hinterhalt gelockt, gefangen genommen und nach Frankreich deportiert, wo er 1803 in der Festung Fort de Joux, im französischen Juragebirge, starb. Nach der Gefangennahme des schwarzen Generals flammte der Widerstand neu auf, insbesondere deshalb, weil die Aufständischen von den Plänen Napoleons erfahren hatten, die Sklaverei auf den Karibikinseln wieder einzuführen. Der Widerstand endete mit der Proklamation der Unabhängigkeit Haitis am 1. Januar 1804 und somit mit dem Verlust der sog. Perle der Antillen für Frankreich. Durch sein Wirken hatte Toussaint diese Niederlage Napoleons maßgeblich vorbereitet.4 Im Jahr 1802 führte Napoleon den Sklavenhandel und die Sklaverei in den anderen französischen Kolonien wieder ein. Zusätzlich erließ er zwischen Mai 1802 und Januar 1803 zum Schutz des Mutterlands vor Aufständen drei weitere Verordnungen, wodurch schwarze 5 und mulattische Soldaten sich nicht mehr in Paris sowie in den Küstenstädten Frankreichs aufhalten durften, Schwarzen und Mulatten die Einreise nach Frankreich untersagt und Ehen 4 5

Detaillierte Darstellungen zur Haitianischen Revolution und der Rolle Toussaint Louvertures finden sich bspw. bei CAUNA, 2009. Die Verfasserin greift in ihrem Text sowie in den Übersetzungen der Zitate die in diesem historischen Kontext verwendeten historisch virulenten Unterscheidungen zwischen Schwarzen/Negern, Mulatten und Weißen als Zuschreibungen auf, distanziert sich aber ausdrücklich von allen diskriminierenden Konnotationen dieser Begriffe.

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zwischen Weißen und Schwarzen bzw. Mulatten verboten wurden. Diese Verordnungen blieben – wie auch die Sklaverei – bis 1848 bestehen.6 Mit Ausnahme weniger Liberaler wie Mme de Staël gab es kaum Widerstand gegen diese Verfügungen, was sich vermutlich durch die napoleonische Propaganda und Zensur sowie durch historisch virulente Rassismen erklären lässt.7 Nach der Absetzung Napoleons als Kaiser im Jahr 1815 stand die Frage einer zweiten Expedition nach Saint-Domingue zur Rückeroberung der Kolonie im Raum. Zudem diskutierte die breite Öffentlichkeit darüber, ob der Sklavenhandel verboten werden sollte. Nachdem dieser 1818 in Frankreich endgültig untersagt wurde,8 erteilte der nun regierende König Karl X. der Rückeroberung eine definitive Absage, indem er durch seine Verordnung vom 17. April 1825 die Souveränität der Bewohner Saint-Domingues anerkannte.9 Haiti musste im Gegenzug dafür Entschädigungszahlungen an die ehemaligen französischen Plantagenbesitzer leisten.10 Durch die Verordnung Karls X. gewann das Thema Saint-Domingue wieder an Aktualität, was sich auch in der vermehrten literarischen Verarbeitung des Toussaint-Stoffes in der Epoche der Romantik widerspiegelt.

Der Toussaint-M yt hos und seine Rezeption Gegen Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts, also bereits während und direkt nach der Haitianischen Revolution, entstand der Mythos um den heutigen haitianischen Nationalhelden. Augen- und Zeitzeugen verfassten Berichte, Tagebücher, Romane, Essays, Memoiren und Reiseberichte, in denen die Revolution und Toussaint Louverture beschrieben wurden. Viele dieser Texte erschienen insbesondere kurz vor und während der Expedition Leclercs im Jahr 1802. Sie dienten der Rechtfertigung und der Unterstützung der von Napoleon befohlenen Expedition nach Saint-Domingue und sind zum Großteil der bonapartistischen Propaganda zuzurechnen. In diesen Schriften wurden die 6 7 8 9

Vgl. DELACAMPAGNE, 2002, S. 212f. Vgl. EBD. Vgl. EBD. Durch diese Verordnung wurde zwar die Souveränität der Bewohner anerkannt, aber die Existenz des Staates Haiti wurde weiterhin negiert. Die endgültige Anerkennung der Unabhängigkeit Haitis erfolgte erst 1838 durch die Julimonarchie. Vgl. CAUNA, 2009, S. 177. 10 Vgl. EBD., S. 177 und 185; vgl. DORIGNY, 2006, S. 54.

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von Schwarzen an Weißen begangenen Gräueltaten in den Vordergrund gestellt und die Gewalt der Franzosen bei der Repression der Aufstände blieb unerwähnt. 11 Aufgrund dieser einseitigen Berichterstattung änderten sich die Meinungen in Frankreich im Hinblick auf die Institution der Sklaverei, da in den Köpfen vieler Franzosen die Frage aufkeimte, ob die Schwarzen und ihre Forderungen weiterhin unterstützt werden könnten. Auch der Schriftsteller und Diplomat François-René de Chateaubriand verlieh in seinem Werk Le Génie du Christianisme von 1802 dieser Frage Ausdruck und machte deutlich, dass seiner Ansicht nach die Schwarzen und ihr Freiheitskampf in Anbetracht der von ihnen begangenen Grausamkeiten nicht länger verteidigt werden können: „Avec de grands mots on a tout perdu: on a éteint jusqu’à la pitié; car qui oserait encore plaider la cause des noirs après les crimes qu’ils ont commis?“ 12 Auch der schwarze Sklavenführer erfuhr zu dieser Zeit zumeist eine Dämonisierung: Er wurde in den Werken der Augenund Zeitzeugen vor allem als hypokritischer Verräter und grausamer Verbrecher funktionalisiert.13 Die Romantiker, deren Werke insbesondere kurz nach der Verordnung Karls X. entstanden, bedienten sich der Informationen aus diesen zeitgenössischen Texten für ihre Verarbeitungen. Beeinflussten bei den Zeit- und Augenzeugen meist die bonapartistische Propaganda sowie apologetische Anliegen und persönliche Interessen ihre Werke, da sie oftmals selbst an der Expedition beteiligt waren, so spielten bei den Autoren der Romantik private Erfahrungen bei der Darstellung Toussaints ebenfalls eine Rolle.14 Wie Régis Antoine aufzeigt, hatten bspw. Victor Hugo, Chateaubriand und Mme de Staël direkten Kontakt zu Plantagenbesitzern in den Antillen;15 außerdem hatte etwa Alphonse de Lamartine Familienangehörige, die in der dortigen Verwaltung oder im Militär tätig waren. 16 Dennoch funktionalisieren diese französischen Schriftsteller Toussaint Louverture auf eine andere Art und Weise, sodass eine Transformation des Mythos zu erfolgen scheint. 11 Vgl. HOFFMANN, 1973, S. 135. 12 CHATEAUBRIAND, 1900, S. 180. („Mit großen Worten hat man alles verdorben. Man hat selbst das Mitleid ausgelöscht; denn wer möchte noch die Sache der Schwarzen verfechten, nach dem [sic] Verbrechen, die sie begangen haben?“ CHATEAUBRIAND, 2004, 628f.) 13 Vgl. bspw. PÉRIN, 1802 und NORVINS, 1896. 14 Vgl. ANTOINE, 1992, S. 94. 15 Vgl. EBD., S. 73. 16 Vgl. EBD., S. 74.

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Einerseits existiert eine zunehmend glorifizierende Repräsentation Toussaints, bei der zunächst die romantisierte Darstellung eines idealisierten Sklavenführers auftaucht, der zwar starke Ähnlichkeiten mit Toussaint aufweist, aber nicht seinen Namen trägt. Eine solche Repräsentation findet sich bspw. im Roman Bug-Jargal von Victor Hugo,17 der 1818 in einer ersten und 1826 in einer zweiten, erweiterten Fassung erschien. Hugo knüpft in seinem Roman an die in der littérature négrophile18 verwendeten Darstellungen eines edelmütigen, aufständischen schwarzen Sklaven an. 19 Im anonym veröffentlichten Roman Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue von 1826 erscheint Toussaint unter seinem Sklavennamen Bréda und wird als loyaler, gut gebildeter, aufgeklärter und seinem Herrn treu ergebener Schwarzer idealisiert. 20 Während einzelne Elemente durchaus noch an die littérature négrophile erinnern, ändert sich der Tenor gegenüber den auf Saint-Domingue agierenden Franzosen, die aber nicht namentlich genannt werden – diesen wird der Versuch vorgeworfen, sich gegen die Verbreitung des Wertes der Freiheit gestellt zu haben. Im epischen Gedicht L’Haïtiade, das gegen 1827/28 zum ersten Mal in Paris anonym veröffentlicht wurde sowie im Theaterstück Toussaint Louverture von Alphonse de Lamartine, das 1839/40 geschrieben, aber erst nach der zweiten Abschaffung der Sklaverei im Jahr 1850 veröffentlicht wurde, wird Toussaint schließlich als ein von Gott berufener Retter funktionalisiert. In diesen Werken erfährt Toussaint eine allmähliche Idealisierung zum Freiheitskämpfer, während Napoleon Gegenstand einer zunehmenden Dämonisierung wird.

17 Auch Charles de Rémusat schrieb 1824 ein Theaterstück über den Sklavenaufstand in Saint-Domingue, wobei der schwarze Anführer der Revolte Timur deutlich weniger Ähnlichkeiten mit Toussaint Louverture aufweist als Bug-Jargal. 18 In der sog. littérature négrophile stand vor dem Ausbruch der Haitianischen Revolution ein ‚guter‘ Schwarzer im Mittelpunkt des Geschehens. Dieser hatte mit den anderen Schwarzen nichts gemein und seine Überlegenheit ließ sich meist auf eine aristokratische Herkunft zurückführen. Die Werke richteten sich nicht gegen die Sklaverei, sondern übten meist Kritik am Sklavenhandel und an grausamen Sklavenhaltern, gegen die ein Aufstand gerechtfertigt war. Aufgrund der veränderten Haltung gegenüber Schwarzen nach der Haitianischen Revolution änderte sich auch das Schema der littérature négrophile und der ‚gute‘ Schwarze, der aus der Masse herausragte und die Position der Weißen stärkte, da er die Sklaverei als wirtschaftliche Notwendigkeit ansah, wurde nun den grausamen und brutalen Schwarzen gegenübergestellt. Vgl. GEWECKE, 1986, S. 54f. 19 Vgl. DEBIEN, 1952, S. 299. 20 Vgl. ANONYMUS, 1826, Bd. 1, S. 81f.

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Andererseits sperrten sich auch Autoren, diese zunehmende Glorifizierung des Toussaint-Mythos aufzunehmen, ohne jedoch auf eine Gegenüberstellung zwischen Toussaint Louverture und Napoleon Bonaparte zu verzichten. Für diese interessante Herangehensweise an den Mythos optierten Honoré de Balzac in der Erzählung Z. Marcas (1840), François-René de Chateaubriand im politischen Essay De Buonaparte et des Bourbons (1814) und in seiner mehrbändigen Autobiografie Mémoires d’outre-tombe (1848) sowie Germaine de Staël in ihren Memoiren Dix années d’exil (1818). Auch wenn Toussaint bei diesen Autoren nur an wenigen Stellen Erwähnung findet, scheinen diese Texte aufgrund der unterschiedlichen Funktionalisierung doch bedeutsam zu sein, sodass im Folgenden der Frage nachgegangen wird, warum diese drei Autoren, die zunächst mit Napoleon sympathisiert hatten, über Toussaint Louverture schrieben, wie sie ihn funktionalisierten und inwiefern es zu einer Transformation des Toussaint-Mythos kam.

Die Repräsentation Toussaints bei Balzac, Mme de Staël und Chat eaubriand 21 Auffällig ist, dass sowohl bei Balzac als auch bei Chateaubriand und Mme de Staël der Anführer der Haitianischen Revolution nur in Zusammenhang mit Napoleon Bonaparte aufgegriffen wird und daher auch nur die Mytheme des Toussaint-Mythos thematisiert werden, die mit Napoleon in Zusammenhang stehen, wie der zwischen Frankreich und Toussaint geschlossene Waffenstillstand, Toussaints Gefangennahme und Deportation nach Frankreich auf Befehl Napoleons sowie sein Tod im französischen Gefängnis Fort de Joux. In der Erzählung Z. Marcas von Balzac, der trotz seines Werkes Le Nègre22 nicht als Gegner der Sklaverei angesehen werden kann, sondern auch der im Jahr 1848 erfolgten Abolition und den damit verbundenen gesellschaftlichen Änderungen kritisch gegenüberstand,23 wird das Sujet des haitianischen Frei21 Eine genauere Betrachtung der Texte habe ich in meiner Dissertation vorgenommen, die dem Fachbereich 06 Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz in Germersheim am 18.8.2014 vorgelegt wurde und sich noch in der Vorbereitung zur Veröffentlichung befindet. 22 In diesem Theaterstück von 1823 setzt sich Balzac mit der Ausgrenzung aufgrund von Andersheit auseinander. Vgl. GENGEMBRE, 1995, S. 310. 23 Vgl. SCHMIDT, 2000, S. 107.

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heitskämpfers aufgenommen. In seinem Werk, das 1840 zum ersten Mal veröffentlicht wurde und von einem Regierungsbeamten namens Z. Marcas handelt, dem aufgrund fehlender finanzieller Möglichkeiten und nicht mangels Talent ein politischer Aufstieg unter der Julimonarchie versagt bleibt, wird das Mythem des Todes aufgegriffen und ein Vergleich zwischen dem Sterben Toussaint Louvertures und dem Sterben Napoleon Bonapartes angestellt: Il est des différences incommensurables entre l’homme social et l’homme qui vit au plus près de la Nature. Une fois pris, Toussaint Louverture est mort sans proférer une parole. Napoléon, une fois sur son rocher, a babillé comme une pie; il a voulu s’expliquer. […] Le silence et toute sa majesté ne se trouvent que chez le Sauvage. Il n’est pas de criminel qui, pouvant laisser tomber ses secrets avec sa tête dans le panier rouge, n’éprouve le besoin purement social de les dire à quelqu’un.24

Wie durch das Zitat ersichtlich, ist Balzac der Auffassung, dass kein Verbrecher bereit sei zu sterben, ohne das soziale Bedürfnis zu verspüren, seine Taten zu erklären. Als Beispiel greift Balzac Napoleon auf, den er damit implizit als Kriminellen bezeichnet, der auf Sankt-Helena beharrlich versucht habe, sich mitzuteilen. 25 Laut Balzac liegt dies im Unterschied zwischen sozialisierten Menschen und Naturmenschen begründet. Er unterstreicht dabei Toussaints Vorzug, in majestätischer Stille gestorben zu sein, und würdigt dessen moralischen Stoizismus, der sich nur bei Wilden finden lasse. Interessant ist die Tatsache, dass Balzac den ehemaligen Sklavenführer nur aufzugreifen scheint, um ihn Napoleon diametral entgegenzustellen und das Verhalten Toussaints über das Gebaren Napoleons zu heben. Während Toussaint Louverture als unverdorbener Naturmensch dargestellt wird, wird Napoleon als Verbrecher bezeichnet. 24 BALZAC, 2009 [1840], S. 29f. („Zwischen dem gesellschaftlichen und dem naturverbundenen Menschen gibt es unermeßliche Unterschiede. Nachdem Toussaint Louverture erst einmal gefangen war, starb er, ohne ein Wort zu sprechen. Als Napoleon auf seine Felseninsel verbannt war, schwatzte er wie eine Elster – er wollte sich erklären. […] Das Schweigen und all seine Würde finden wir nur bei den Wilden. Es gibt keinen Verbrecher, welcher, wenn er mit seinem Kopf auch seine Geheimnisse in den roten Korb fallen lassen kann, nicht das rein gesellschaftliche Bedürfnis verspürte, sie jemandem mitzuteilen.“ DERS., 1978 [1923], S. 435.) 25 In Le Mémorial de Sainte-Hélène heißt es, dass Napoleon im Rückblick der Meinung ist, dass die Expedition ein Fehler war und er die Kolonie besser mithilfe Toussaint Louvertures regiert hätte. Vgl. LAS CASES, Bd. 1, 1842, S. 687.

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Mme de Staël, die Toussaint und die Haitianische Revolution in ihrem Werk über die Französische Revolution Considérations sur les principaux événements de la Révolution française nicht erwähnte,26 nimmt in ihren 1818 posthum veröffentlichten Memoiren an mehreren Stellen Bezug auf Toussaint Louverture. Bereits 1803 schrieb sie in einem Brief an ihren Vater Jacques Necker über Toussaint und die von Weißen an Schwarzen begangenen Grausamkeiten, was deutlich macht, dass sie – im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitgenossen – bereits Kenntnis von den verübten Verbrechen hatte: Ce qui s’est passé à Saint-Domingue est horrible, et le tout pour complaire au général Leclerc, car on aurait fait avec Toussaint Louv[erture] le traité qu’on aurait voulu, et un beaucoup plus avantageux que celui auquel on est obligé de se soumettre, aujourd’hui que les nègres sont maîtres de tout l’intérieur de l’île. Les noyades ont été exécutées là comme à Nantes. Une fois que les nègres ont attaqué le Cap, on a eu l’idée que peut-être les nègres de l'intérieur de la ville pourraient favoriser les assiégeants, et on en a jeté dix-huit cents à la mer sans forme de procès.27

Sie verurteilt die Massenhinrichtungen und macht Napoleon für den Verlust der Kolonie verantwortlich, da dieser General Leclerc gefällig sein wollte. Sie selbst hätte eine Vertragsunterzeichnung mit Toussaint Louverture der Entsendung eines Expeditionsheers nach Saint-Domingue vorgezogen. In ihren Memoiren, in denen Mme de Staël ihre Erinnerungen an die Zeit ihres Exils (1803-1813) während der Herrschaft Napoleons beschreibt, geht sie zunächst auf die Mytheme des Waffenstillstands sowie der Gefangennahme Toussaints ein:

26 Vgl. BÉNOT, 2004, S. 205. 27 STAËL-HOLSTEIN, 1982, S. 23f. („Es ist schrecklich, was in Saint-Domingue passiert ist, und alles nur um General Leclerc gefällig zu sein, denn ansonsten hätte man mit Toussaint Louverture den Vertrag geschlossen, den man wollte, und zwar einen um einiges vorteilhafteren als jenen, den man nun zu schließen gezwungen ist, da die Neger über den inneren Teil der Insel herrschen. Ertränkungen fanden dort wie auch in Nantes statt. Als die Neger Le Cap angriffen, kam man auf die Idee, dass die Neger in der Stadt vielleicht die Belagerer vorziehen könnten, und man warf achtzehnhundert Neger kurzerhand ins Meer.“) Sofern nicht anders angegeben, wurden alle hier angeführten Übersetzungen von der Verfasserin angefertigt.

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Isabell Lammel Ce fut vers cette époque aussi qu’il envoya le général Leclerc à SaintDomingue et qu’il l’appela dans son arrêté notre beau-frère [Herv. i. O.]. […] Une paix fut conclue dans la suite avec le chef des nègres, ToussaintLouverture. C’était un homme très criminel, mais toutefois Bonaparte signa des conditions avec lui. Au mépris de ces conditions, Toussaint fut amené dans une prison de France, où il a péri de la manière la plus misérable. Peut-être Bonaparte ne se souvient-il pas seulement de ce forfait, parce qu’il lui a été moins reproché que les autres.28

General Leclerc, der die Expedition von Saint-Domingue anführte, wird zwar erwähnt, aber die Verantwortung für die Expedition und den mit Toussaint Louverture geschlossenen Waffenstillstand liegt Mme de Staël zufolge eindeutig bei Napoleon. Die Gefangennahme Toussaints betrachtet sie als Verrat, da schließlich ein Waffenstillstand unterschrieben worden sei und Napoleon die unterzeichneten Vereinbarungen nicht einhielt. Denn anstatt wie vereinbart Toussaint Louverture ein ruhiges zurückgezogenes Leben auf dem Land zuzugestehen, ließ Napoleon ihn gefangen nehmen, deportieren und in Frankreich inhaftieren. Während die Augenzeugen Toussaint meist zum Verräter stilisierten, wird er nun zum Verratenen transformiert. Für Mme de Staël, die sich nicht nur schreibend für die Freiheit und insbesondere gegen die Sklaverei einsetzte,29 scheint zwar der Kampf gegen die Sklaverei eine gute Sache zu sein, aber augenscheinlich war dieser in Saint-Domingue mit zu viel Gewalt verbunden, als dass sie die Haitianische Revolution hätte befürworten können. Allerdings sieht sie die Schuld für die in ihren Augen durch zu viel Grausamkeit geprägte Revolution nicht exklusiv bei den Aufständischen, sondern macht auch das System der Sklaverei mitverantwortlich. Laut Antoine war Mme de Staël der Auffassung, dass die Frage der Sklaverei nicht durch Aufstände, sondern von oben, also durch Gesetze oder den König, gelöst werden

28 DIES., 1996 [1818], S. 114f. („Zu dieser Zeit sandte Bonaparte den General Leclerc nach St. Domingo, den er in seinem Beschlusse ‚Unsern Schwager‘ nannte. [...] Es wurde in der Folge ein Friede mit dem Oberhaupte der Neger, ToussaintLouvertüre, geschlossen; dieses war ein sehr verworfener Mensch, Bonaparte ging aber dennoch mit ihm in Bedingungen ein, und trotz dieser Bedingungen wurde Toussaint nachher in Frankreich in ein Gefängniß gebracht, worin er auf die jämmerlichste Weise umgekommen ist. Vielleicht erinnert sich Bonaparte dieser Gräuelthat nicht einmal mehr, da sie ihm weniger als manche andere vorgeworfen worden ist.“ DIES., 1822, 64f.) 29 Vgl. ISBELL, 2000, S. 39.

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müsse.30 Dies erklärt, weshalb sie in ihren Memoiren unmissverständlich deutlich macht, dass es sich bei Toussaint um einen Verbrecher und nicht um einen Freiheitskämpfer handele. Dennoch weist sie darauf hin, dass sich Napoleon an den eingegangenen Vertrag hätte halten müssen. Die Worte „où il [Toussaint] a péri de la manière la plus misérable“31 bringen eine gewisse Empathie Mme de Staëls zum Ausdruck, wenn auch aus dem gesamten Zitat hervorgeht, dass sie die begangene Ungerechtigkeit nicht aufzeigt, um ihre Sympathie für Toussaint zu bekunden. Ihre Funktionalisierung Toussaints scheint vielmehr einzig dem Ziel zu dienen, die Skrupellosigkeit Napoleons aufzudecken. Mme de Staël erinnert in ihren Memoiren erneut an den schwarzen Sklavenführer, als sie Jahre nach seinem Tod auf Reisen die Festung Fort de Joux, das einstige Gefängnis Toussaints, erblickt: A l’entrée de la Suisse, sur le haut des montagnes qui la séparent de la France, on aperçoit le château de Joux dans lequel sont détenus des prisonniers d’État dont le nom même souvent ne parvient pas à leurs parents. C’est dans cette prison que Toussaint-Louverture est mort de froid; il méritait son malheur puisqu’il avait été cruel, mais l’homme qui ne devait pas le lui infliger, c’était l’empereur, puisqu’il s’était engagé à lui garantir sa liberté et sa vie. Je passai sous ce château un jour où le temps était horrible; je pensais à ce nègre transporté tout à coup dans les Alpes et pour qui ce séjour était l’enfer de glace; je pensais à de plus nobles êtres qui y avaient été renfermés, à ceux qui y gémissaient encore et je me disais aussi que, si j’étais là, je n’en sortirais de ma vie.32

30 Vgl. ANTOINE, 1978, S. 223-226. 31 STAËL-HOLSTEIN, 1996 [1818], S. 115. („worin er [Toussaint-Louvertüre] auf die jämmerlichste Weise umgekommen ist.“ DIES., 1822, S. 65.) 32 EBD., S. 203f. („Beim Eintritt in die Schweiz erblickt man auf dem Gipfel der Berge, welche dieses Land von Frankreich scheiden, das Schloß Joux, in dessen Mauern Staatsverbrecher schmachten, deren Hierseyn oft ihren Verwandten nicht einmal bekannt ist. Hier saß auch einst Toussaint-Louvertüre, der hier vor Frost umkam. Der Mann verdiente sein Schicksal, denn er war grausam gewesen; aber der, der es über ihn verhing, hatte dazu am wenigsten Recht, denn Napoleon hatte ihm früher Leben und Freiheit versprochen. Als ich an den Mauern dieses Gebäudes vorüberfuhr, war ein abscheuliches rauhes Wetter, und mir drängte sich unwillkürlich das Bild dieses Negers auf, der hier auf die Spitze der Alpen versetzt, die Eishölle seiner Landsleute fand; dabei gedachte ich aber auch der andern und edleren Opfer, welche schon hier geseufzt hatten, und ich fühlte nur zu tief, daß wenn mich ein gleiches Geschick treffen sollte, ich es nicht überleben würde.“ DIES., 1822, S. 194f.)

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Es wird deutlich, dass Mme de Staël Toussaint auch für einen grausamen Mann hielt, der seine Strafe im Gefängnis Fort de Joux, das sie als „Eishölle“ bezeichnet, verdient habe. Allerdings wird gleichzeitig auch wieder das von Napoleon an Toussaint Louverture begangene Verbrechen angesprochen. Ihrer Ansicht nach hatte eben gerade Napoleon nicht das Recht, ihm diese Strafe aufzuerlegen, da er Toussaint im Moment des Waffenstillstands Freiheit und Unversehrtheit zugesichert hatte. Ebenso griff Chateaubriand, der zwar für die Pressefreiheit plädierte, allerdings das Thema der Abschaffung der Sklaverei weitestgehend mied, da der Reichtum seiner Familie durch die Sklaverei entstanden war,33 die Figur des schwarzen Sklavenführers auf, um sie Napoleon entgegenzusetzen. In seinem 1814 verfassten politischen Essay De Buonaparte et des Bourbons nimmt Chateaubriand, der vor der Ermordung des Duc d’Enghien im Jahr 1804 als Diplomat für Napoleon tätig war und sich anschließend in die Opposition begab, Bezug auf Toussaint Louverture: „Peu de temps après, ToussaintLouverture fut enlevé par trahison en Amérique, et probablement étranglé dans le château où on l’enferma en Europe.“34 Die Mytheme der Gefangennahme sowie der Deportation Toussaints werden von Chateaubriand als Verrat interpretiert. Während Mme de Staël nur erwähnt, dass Toussaint Louverture in seinem Gefängnis jämmerlich zugrunde ging und aufgrund der im Jura vorherrschenden Kälte gestorben sei,35 geht Chateaubriand in seiner Schrift noch einen Schritt weiter und stellt die Vermutung auf, Toussaint sei vermutlich erwürgt worden. Bemerkenswert ist in dem Essay insbesondere die Textstelle, an der Chateaubriand erläutert, weshalb er die Gefangennahme Toussaints als Unrecht ansieht: Si Buonaparte est François, il faut dire nécessairement que Toussaint-Louverture l’étoit autant et plus que lui: car enfin il étoit né dans une vieille colonie françoise et sous les lois françoises; la liberté qu’il avoit reçue lui avoit rendu les droits du sujet et du citoyen.36 33 Vgl. SCHMIDT, 2000, S. 99. 34 CHATEAUBRIAND, 1861 [1814], S. 11. („Kurz hernach ward Toussaint-Louverture verrätherischer Weise aus Amerika weggeschleppt, und wahrscheinlich erwürgt in dem Schloß wohin man ihn in Europa brachte.“ DERS., 1814, S. 13.) 35 Vgl. STAËL-HOLSTEIN, 1996 [1818], S. 203. 36 CHATEAUBRIAND, 1861 [1814], S. 34. („Wenn Buonaparte ein Franzose ist, so ist man genöthigt ein zu gestehen, daß Toussaint-Louverture es eben so sehr und noch

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Chateaubriand zufolge muss Toussaint Louverture als Franzose betrachtet werden, da er in einer französischen Kolonie mit französischen Gesetzen geboren und aufgewachsen ist. Er geht sogar so weit zu sagen, dass Toussaint Louverture mehr Franzose sei als Napoleon,37 der schließlich in Korsika – das bis 1769 noch zu Genua gehörte – geboren wurde. 38 Chateaubriand scheint die Kolonie – unabhängig von der Distanz zum Mutterland und der Hautfarbe der Bewohner – als (ehemaligen) Teil Frankreichs zu betrachten und nach dieser Überlegung hätten Toussaint nach seiner Freilassung als Sklave auch dieselben Bürgerrechte zugestanden wie allen anderen freien Bürgern. Diese progressive Argumentationsweise hebt sich von den Ansichten der meisten Zeit- und Augenzeugen ab, die Toussaint überwiegend als ‚verbrecherischen Afrikaner‘39 bezeichneten und ihn nicht als französischen Staatsbürger ansahen. Aus diesem Grund ist das Mythem der Nationalität auch von großer Bedeutung, denn an dieser Stelle hat sich die Perzeption Toussaint Louvertures transformiert. In argumentativer Inanspruchnahme des ius soli wird Toussaint von Chateaubriand als Franzose anerkannt und ihm werden die gleichen Bürgerrechte zugesprochen wie jedem anderen Franzosen. Mme de Staël hingegen greift diese neue Argumentationsweise nicht auf; es scheint, als ob sie Toussaint weiterhin als Afrikaner betrachtet. Ihre Verurteilung Napoleons basiert nicht auf Gesetzen und Rechten, sondern insbesondere auf moralischen Werten. In seinen 1848 veröffentlichen Memoiren, Mémoires d’outre-tombe, stellt Chateaubriand Toussaint Louverture erneut Napoleon Bonaparte gegenüber und verwendet das Mythem der Gefangennahme: C’est à peu près alors que le Premier Consul nommait Toussaint-Louverture gouverneur à vie à Saint-Domingue, et incorporait l’île d’Elbe à la France; mais Toussaint, traîtreusement enlevé, devait mourir dans un château fort du Jura, et

mehr als er war: denn er war in einer alten französischen Kolonie und unter französischen Gesetzen gebohren; seine Freilassung sezte ihn in die Rechte des Unterthanen und des Bürgers ein.“ DERS., 1814, S. 54.) 37 Chateaubriand benutzt die italienische Schreibweise des Namens ‚Bonaparte‘ in seinem Werk, was bereits davon zeugt, dass er der Meinung ist, Napoleon sei als Italiener anzusehen. 38 Laut dem Schriftsteller betrachtete sich Napoleon selbst als Italiener, seine Muttersprache war Italienisch und er soll die Franzosen gehasst und verachtet haben. Vgl. CHATEAUBRIAND, 1861 [1814], S. 33f. 39 Bei Périn wird er bspw. als „africain féroce“ (PÉRIN, 1802, S. 152) bezeichnet.

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Isabell Lammel Bonaparte se nantissait d’une prison à Porto-Ferrajo, afin de subvenir à l’empire du monde quand il n’y aurait plus de place.40

Chateaubriand behauptet, dass es Napoleon selbst war, der Toussaint Louverture zum Gouverneur auf Lebenszeit 41 ernannte, bevor er ihn gefangen nehmen und nach Frankreich deportieren ließ. Diese Tat wirft Chateaubriand Napoleon vor und macht explizit auf den Verrat aufmerksam, der mit dieser Tat einherging. Anlässlich der Proteste Napoleons gegen seine Deportation nach SanktHelena rekurriert Chateaubriand wiederum auf die Gefangennahme Toussaints und stellt die beiden Taten einander gegenüber: Bonaparte protesta; il argumenta de lois, parla de trahison et de perfidie […]: n’avait-il pas dans sa force foulé aux pieds les choses saintes dont il invoquait la garantie? n’avait-il pas enlevé Toussaint-Louverture et le roi d’Espagne? n’avait-il pas fait arrêter et détenir prisonniers pendant des années les voyageurs anglais qui se trouvaient en France au moment de la rupture du traité d’Amiens?42

Chateaubriand führt die Argumentation Napoleons gegen seine Exilierung ad absurdum, indem er dem angeblich an Napoleon begangenen Verrat den Verrat an Toussaint entgegenstellt und darauf verweist, dass Napoleon sich nun auf Gesetze und Werte beruft, denen er früher selbst keine Beachtung schenkte. 40 CHATEAUBRIAND, 1998a [1848], S. 416. („Etwa zu diesem Zeitpunkt ernannte der Erste Konsul Toussaint-Louverture zum Gouverneur auf Lebenszeit in SaintDomingue und schloss die Insel Elba an Frankreich an; aber Toussaint, der auf verräterische Weise entführt worden war, musste in einer Festung im Jura sterben, und Bonaparte stattete sich mit einem Gefängnis in Portoferraio aus, um dem Bedarf des Weltreichs gerecht zu werden, wenn es dort keinen Platz mehr gäbe.“) 41 Toussaint Louverture ernannte sich durch die von ihm für die Kolonie erlassene Verfassung, die Napoleon erst vorgelegt wurde, als sie in Saint-Domingue bereits in Kraft getreten war, selbst zum Gouverneur auf Lebenszeit. Vgl. CAUNA, 2009, S. 167. 42 CHATEAUBRIAND, 1998a [1848], S. 714f. („Bonaparte protestierte; er argumentierte mit Gesetzen, sprach von Verrat und Arglist […]: Hatte er die heiligen Dinge, auf die er sich nun berief, nicht mit Füßen getreten? Hatte er nicht ToussaintLouverture und den König von Spanien entführt? Hatte er nicht englische Reisende, die sich beim Bruch des Friedens von Amiens in Frankreich aufhielten, verhaften und jahrelang gefangen halten lassen?“)

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Wie bereits in seinem Essay wirft Chateaubriand in seinen Memoiren Napoleon erneut die Ermordung Toussaint Louvertures im Fort de Joux vor: „il [le château de Joux] a vu se succéder dans ses donjons deux hommes dont la Révolution gardera la mémoire: Mirabeau et Toussaint-Louverture, le Napoléon noir, imité et tué par le Napoléon blanc.“43 Bemerkenswert ist, dass nach Chateaubriand von den Gefangenen im Fort de Joux zwei in Erinnerung bleiben werden: Mirabeau und Toussaint Louverture. Während dies auf Mirabeau durchaus zutrifft, wurde Toussaint Louverture in der Historiografie dem Vergessen preisgegeben44 und konnte sich erst in den letzten Jahren wieder einen Weg ins kollektive Gedächtnis Frankreichs bahnen. 45 Der Autor scheint Toussaint im Rückblick eine große historische Bedeutung zuzumessen, auch wenn er der Haitianischen Revolution – wie in Le Génie du Christianisme aufgezeigt – zunächst ablehnend gegenüberstand. Außerdem bezeichnet Chateaubriand an dieser Stelle als Erster Toussaint Louverture als „Napoléon noir“ 46 und hebt Toussaint zunächst auf die gleiche Ebene wie den Ersten Konsul, um dann noch einen Schritt weiter zu gehen: Er stellt Napoleon und Toussaint nicht nur auf eine Stufe, sondern er behauptet, Napoleon habe Toussaint imitiert. In den Berichten der Zeit- und Augenzeugen hingegen wurde noch vom genauen Gegenteil ausgegangen und zwar, dass Toussaint – aufgrund seiner Bewunderung für den Ersten Konsul – diesem nacheiferte und ihn mit seinen Taten beeindrucken wollte.47

43 DERS., 1998b [1848], S. 382. („In den Türmen der Festung wurden zwei Männer gefangen gehalten, die die Revolution in Erinnerung behalten wird: Mirabeau und Toussaint-Louverture, der schwarze Napoleon, der vom weißen Napoleon imitiert und umgebracht wurde.“) 44 Das Vergessen Toussaint Louvertures und der Haitianischen Revolution wird in folgenden Werken detailliert dargestellt: BÉNOT, 2004, S. 205-217; DORIGNY, 2006, S. 52f. 45 Zur neuen Welle literarischer Rezeptionszeugnisse des Toussaint-Mythos am Ende des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts vgl. LAMMEL, 2014 a und b. 46 Die Bezeichnung Napoléon noir oder auch Bonaparte noir haben viele Autoren später als Titel für ihre Werke über Toussaint Louverture aufgegriffen wie bspw.: HAURIGOT, 1943 [1935]; TARDON, 1951. 47 Vgl. NORVINS, 1896, S. 404 und 406; LACROIX, 1995, S. 277; Zitat in GRAGNONLACOSTE, 1877, S. 266.

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Die Transformation des Toussaint-M yt hos Im Gegensatz zu den Texten der Zeit- und Augenzeugen erfährt Toussaint in den Darstellungen der französischen Romantiker nicht mehr nur eine Dämonisierung. Stattdessen wird er, wie die verschiedenen Beispiele belegen, als Widerpart Napoleons funktionalisiert. 48 Die Autoren liefern keine detaillierte Darstellung Toussaint Louvertures und der Haitianischen Revolution, sondern sie greifen lediglich die Mytheme des Toussaint-Mythos auf, die in direktem Zusammenhang mit Napoleon stehen. Des Weiteren unternehmen sie keinen Versuch, die begangenen Taten Toussaints zu rechtfertigen oder Toussaint gar zu glorifizieren, sondern stufen ihn weiterhin als Gesetzesbrecher ein. Gleichwohl prangern sie den Verrat Napoleons an dem schwarzen Sklavenführer an. Toussaint wird somit nicht mehr als Verräter dargestellt, sondern selbst zum Verratenen stilisiert. Eine gewisse Bewunderung – insbesondere durch Balzacs Würdigung seines moralischen Stoizismus – sowie Empathie für Toussaint Louverture und sein Schicksal ist bei den Romantikern durchaus vorhanden. Dieses Mitgefühl liegt vermutlich einerseits in der Transformation seiner Nationalität begründet, denn während er von Zeitzeugen noch als ‚wilder Afrikaner‘49 beschrieben wird, kann er nun als Franzose wahrgenommen werden, wie Chateaubriand explizit aufzeigt. Andererseits scheint ein gewisses Maß an Empathie ein geeignetes Instrument zur Verdeutlichung der Grausamkeit und Skrupellosigkeit Napoleons zu sein. Auch wenn Toussaint Louverture nicht länger Gouverneur von SaintDomingue war, als die französische Armee kapitulierte, ist es dennoch seinem Wirken auf der Insel vor seiner Gefangennahme zu verdanken, dass der Weg hin zur Unabhängigkeit Haitis geebnet werden konnte. Diese erste Niederlage Napoleons, die nicht nur ein militärisches, sondern aufgrund des Verlusts der reichsten Kolonie zugleich ein ökonomisches Desaster für Frankreich darstellte, bot eine günstige Angriffsfläche für die monarchistisch gesinnten Schriftsteller. Zwar werfen sowohl Mme de Staël als auch Chateaubriand in ihren Werken Napoleon noch viele andere Verbrechen vor, dennoch ist es bemerkenswert, dass sie es wagen, ein Verbrechen an einem Verbrecher anzupran48 Die antagonistische Repräsentation der beiden historischen Persönlichkeiten wird auch in Werken der Gegenwart erneut aufgegriffen, wobei Toussaint eine zunehmende Glorifizierung und Napoleon eine Dämonisierung erfährt. Vgl. LAMMEL, 2014 a und b. 49 Z. B. im Werk von PÉRIN, 1802.

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gern – und zwar einem Verbrecher, der zuvor in der Literatur vor allem Dämonisierung erfahren hatte. Die Romantiker scheinen ganz nach dem Motto zu verfahren: ‚Der Feind meines Feindes ist mein Freund‘ – ein Ausspruch, der passenderweise Napoleon zugeschrieben wird. Dennoch findet keine Rechtfertigung der Taten Toussaints statt, was vermutlich mit der ablehnenden Haltung gegenüber der Haitianischen Revolution zusammenhängt und der Ansicht, dass das Problem der Sklaverei, insbesondere Mme de Staël zufolge, von oben und nicht durch eine brutale und gewalttätige Revolution gelöst werden sollte. Allerdings scheint die negative Darstellung Toussaints angesichts des weitaus extremeren Verbrechers Napoleon relativiert zu werden, wodurch die kriminellen Taten Napoleons wiederum dramatisiert werden. Dass er ausgerechnet mit einem ehemaligen schwarzen Sklaven verglichen wird und Toussaint zudem noch auf eine höhere Stufe gestellt wird, hätte Napoleon, der 1802 die Sklaverei in vielen französischen Kolonien wieder einführte, sicherlich als Beleidigung und Provokation empfunden – eine Tatsache, die den Autoren sicher bewusst war. Konträr zu den anderen Autoren, die sich in der Epoche der Romantik mit Toussaint befassten, galt das Interesse der drei Schriftsteller nicht vordergründig Toussaint Louverture, sondern Napoleon, mit dem alle drei Autoren zunächst sympathisierten. Dieses fehlende Interesse erklärt auch das Nichtvorhandensein einer detaillierten Darstellung des Freiheitskämpfers. Der Grund für die Verwendung der historischen Figur des Sklavenführers scheint die Möglichkeit zu sein, Napoleons Verbrechen an ihm aufzuzeigen. Toussaint dient nur als Projektionsfläche, um das wahre Gesicht der verräterischen und verbrecherischen Gestalt Napoleon Bonaparte, der in der französischen Gesellschaft auch Jahrzehnte nach seinem Tod noch viele Sympathisanten hatte, zu enthüllen und den ihn umgebenden Mythos zu demontieren.

Literatur Quellen ANONYMUS, Oxiane ou la révolution de Saint-Domingue, 3 Bde., Paris 1826. ANONYMUS, L’Haïtiade: Poème épique en huit chants par un philanthrope européen. Neue Ausgabe mit einem Vorw., einem historischen Abriss und erklärenden Bemerkungen von THOMAS PROSPER GRAGNON-LACOSTE, Paris 1878 [ca. 1827/1828].

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Lumina Sophie dite Surprise – die Konstruktion einer karibischen Jeanne d’Arc in der Literatur und Historiografie des 21. Jahrhunderts SARAH GRÖNING Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, aus welchem Grund die Geschichte der Anführerin der Bauernrevolten 1870/71 im Süden Martiniques, MariePhilomène Roptus alias Lumina Sophie alias Surprise, sowohl in der Literatur als auch in der Historiografie wiederholt in das Licht des ur-europäischen Jeanne d’Arc-Mythos gestellt wird, obgleich sie weder der gleichen Epoche noch der gleichen Region entstammt. Hierzu untersuche ich anhand dreier Texte – eine historiografische Biografie, Lumina Sophie dite Surprise (2008) von Gilbert Pago, ein Roman, On m’appelait Surprise (2010) von José Le Moigne und ein Theaterstück, Lumina Sophie dite Surprise (2005) von Suzanne Dracius –, welche literarischen und rhetorischen Mittel und Strukturen von den Autoren eingesetzt werden, um Lumina Sophie als karibische Jeanne d’Arc zu inszenieren und damit eine doppelte Geschichtstransformation zu bewirken.

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Sarah Gröning Erinnert wird nicht das, was tatsächlich gewesen ist, sondern das, was erzählt werden kann.1

Einleitung In vielen der durch europäische Kolonialisierung geprägten Regionen der Welt lässt sich nach wie vor eine kontroverse Diskussion um Geschichte und Geschichtsschreibung beobachten. Sie gelten in vielerlei Zusammenhängen als geschichtslose Gemeinschaften, weil ihnen auf Grund ihrer kolonialen Vergangenheit ein Großteil ihrer eigenen Geschichte genommen und durch die Geschichtsschreibung der Kolonialmacht ersetzt wurde. So verhält es sich auch in den vom europäischen Kolonialismus nachhaltig geprägten ehemaligen Kolonien Frankreichs Martinique, Guadeloupe und Französisch-Guayana, die nach wie vor französischer Besitz, d. h. Überseedepartements, sind.2 Seit dem 15. Jahrhundert wird die französische Geschichte erfolgreich in diese Region exportiert. Dabei folgte die französische Geschichtsschreibung dem europäischen Paradigma der historischen Objektivität, die allein durch eine auf Quellenanalyse basierende Methode gewährleistet würde. Die Konzentration auf das schriftliche Dokument als einzige verlässliche Quelle und Grundlage historischer Darstellungen führte dazu, dass nicht dokumentierte oder dokumentierbare Bereiche der menschlichen Erfahrung wie Gefühle, Träume, Glauben und Ansichten von (marginalisierten) Individuen oder Gemeinschaften keinen Eingang in die Geschichtsschreibung fanden. Mehr als in anderen Regionen gilt: „Was keine sprachliche Form oder kein Zeichen gefunden hat, entzieht sich geschichtswissenschaftlicher Arbeit.“3 In diesem Kontext jedoch von Geschichtslosigkeit zu sprechen, ist in den Augen vieler Intellektueller und Schriftsteller der Region ein Fehler. So erklärt der martinikanische Schriftsteller und Philosoph Édouard Glissant in einem Interview: „Les communautés contemporaines dont je parle sont des commu1 2

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BUTZER, 2002, S. 153. Maryse Condé, Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin aus Guadeloupe, fasst zusammen: „As for the French-speaking islands, in 1946 they were termed French Overseas Departments, which meant in reality that their colonial status did not change. Departementalization, as it was called, deepened France’s cultural, economic and political hold over the islands“ (CONDÉ, 2000, S. 31f.). GOERTZ, 2004, S. 17.

Lumina Sophie dite Surprise

nautés non pas sans histoire, mais sans mémoire historique décidée, à cause des raturages et des ravages de l’action coloniale“.4 Für sie steht außer Frage, dass neben der offiziellen Geschichte aus der Perspektive der Kolonisatoren weitere inoffizielle, überlagerte und verlorene Geschichten aus der Sicht der (ehemals) Kolonisierten existieren. Sie sind Teil des vorrangig mündlich überlieferten Imaginaire5 und tragen somit wesentlich zur historischen Verortung sowie Identitätsbildung bei. Vor dem Horizont dieser unauflöslichen Dichotomie zwischen offizieller Historiografie und inoffiziellen Erinnerungen erscheint der Begriff ‚Geschichte‘ obsolet. Vielmehr verlangen der regionale und der historische Kontext sowie das Problem der Geschichtslosigkeit nach Geschichten.6 Die Aufgabe des Geschichtenerzählens erfüllen heute in erster Linie die Schriftsteller der Region.7 Sie kommen damit der Aufforderung Glissants nach, gegen die kollektive Amnesie vorzugehen, indem sie ausgehend von den wenigen, zuweilen kaum erkennbaren Spuren, die die Vergangenheit in der Gegenwart hinterlassen hat, in die Tiefen des kollektiven Gedächtnisses vordringen und die dort verborgenen Geschichten freilegen.8 Eine dieser freigelegten und neugedachten Geschichten ist die der martinikanischen Aufständischen Marie-Philomène Roptus alias Lumina Sophie alias Surprise.9 Lange Zeit ins Vergessen geraten, wurde diese Spur in die Vergan4

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Glissant in LEUPIN, 2008, S. 76: („Die Gemeinschaften heute, von denen ich spreche, sind nicht etwa geschichtslose Gemeinschaften, sondern Gemeinschaften ohne festes historisches Gedächtnis, auf Grund der Vernichtung und Überschreibung durch die koloniale Intervention.“) Sofern nicht anders angegeben, wurden alle hier angeführten Übersetzungen von der Verfasserin angefertigt. Ich verwende diesen Begriff in Analogie zum Assmann’schen Konzept des kollektiven Gedächtnisses (vgl. ASSMANN, 2000 [1992]). Vgl BERNABÉ u. a., 1989, S. 26 und 36-38; GLISSANT, 1997 [1981], S. 222-229; CHAMOISEAU/CONFIANT, 1999, S. 13. Marion Pausch und Paola Ghinelli zufolge sehen sich die Autoren Patrick Chamoiseau und Raphaçl Confiant in der Tradition der conteur, da sie, wie die conteur auf den Plantagen, als Beauftragte der Identitätsbildung (vgl. GHINELLI, 2005, S. 16; PAUSCH, 1996, S. 85) mit dem Aufbau und Erhalt eines kollektiven Gedächtnisses als Gegenentwurf zur Kolonialgeschichte befasst sind. In der Literatur der Region sehen sie die Möglichkeit einer Fortführung oder zumindest Integration der conteur-Kultur (Vgl. BERNABÉ u. a., 1989, S. 33-36 und CHAMOISEAU/CONFIANT, 1999, S. 43-52 und 72-83). Vgl. GLISSANT, 1997 [1981], S. 227f. Marie-Philomène Roptus gilt als eine bedeutende historische Figur im Zusammenhang mit den Bauernaufständen in Martinique 1870/71. Auf Grund einiger gesetzlicher Novellen verschlechterten sich die Lebens- und Arbeitsbedingungen der auf

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genheit wieder aufgenommen. Zunächst erschien sie 2005 als Protagonistin in Suzanne Dracius’ Theaterstück Lumina Sophie dite Surprise, bevor Gilbert Pago ihr 2008 eine historische Biografie widmete – Lumina Sophie dite Surprise. Im Jahr 2010 schließlich erschien José Le Moignes Roman On m’appelait Surprise. Die (Re)konstruktion dieser historischen Persönlichkeit erfolgt in allen drei Texten vor der Folie des Jeanne d’Arc-Mythos, der Geschichte einer furchtlosen und von Gott gesandten jungen Frau, die bis heute als Heilige und französische Nationalheldin verehrt wird.10 Die Ikonisierung ermöglichte über Jahrhunderte hinweg die Instrumentalisierung des Mythos vor allem im nationalen und nationalistischen Kontext. Losgelöst von wahren Begebenheiten hat sich bis heute ein Typus entwickelt, der individuelle Aspekte des Lebens der Jeanne d’Arc ignoriert.11 Die Geschichte der Jeanne d’Arc ist vor allem mit den Attributen „Gotterwählung“, „Jungfrau“ und „kriegerisches Verhalten“ besetzt,12 Elemente, die sich in der Inszenierung der Lumina Sophie bei Pago, Le Moigne und Dracius wiederfinden lassen. Unabhängig vom jeweiligen Genre wird Lumina Sophie als furchtlose Anführerin dargestellt und zur unerschrockenen Märtyrerin stilisiert. Diese augenfälligen Parallelen scheinen also einen Vergleich mit Jeanne d’Arc zu rechtfertigen. Wie ihr französisches Pendant ist Lumina Sophie jung, kämpferisch und hat keine Angst vor ihren Gegnern; sie scheut sich nicht für ihre Ideale und Ziele zu sterben; sie wird ebenfalls wegen Hetze, Ketzerei, Hexerei, Unzucht, Brandstiftung und Plünderung angeklagt und übermäßig hart bestraft. Wie jedoch ist es zu erklären, dass Historiografie, Roman und Theater das gleiche Thema auf unterschiedliche Art und Weise bearbeiten und trotzdem den Zuckerrohrplantagen arbeitenden freien Schwarzen, woraufhin diese aufbegehrten. Nach nur wenigen Monaten gelang es den kolonialen Sicherheitskräften, die Aufstände niederzuringen (vgl. u. a. NICOLAS, 1996, S. 78-103; PAGO, 2011). Auf Grund der weitestgehend fehlenden historiografischen Aufarbeitung der Revolte ist auch die Existenz Marie-Philomène Roptus’ und ihre Beteiligung an den Aufständen nicht gesichert. Die einzigen Werke, die explizit hierzu verfasst wurden, stammen von Gilbert Pago (2008, 2011). 10 Vgl. insbesondere die Analyse der Rezeption Jeanne d’Arcs vom Mittelalter bis heute von Melanie Krüger (2005). Zur Entwicklung des Jeanne d’Arc-Mythos in Historiografie und Literatur vgl. KRUMEICH, 1989 und 2006; RÖCKELEIN u. a., 1996; RIEGER u. a., 2003; RIEGER, 2001 und 2005; HIMMEL, 2005 und 2007; WODIANKA, 2005 sowie WINOCK, 1992. 11 Vgl. RIEGER, 2001, S. 470. 12 Vgl. KRÜGER, 2005, S. 289.

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zum gleichen Ergebnis kommen? Muss dies als Ausdruck eines Strebens der Gemeinschaft nach historischer Orientierung verstanden werden, welches in diesem Fall von Literatur und Historiografie gleichermaßen bedient wird? Kann die Evokation dieses ur-europäischen Heldenmythos mit Frauke Gewecke als „Konstruktion und Pflege einer Identifikationskette von kollektiven Erfolgserlebnissen und heroischen Leitfiguren, die nationale Würde und Selbstbehauptung begründen und verewigen“,13 gewertet werden? Oder ist es vielmehr Ergebnis der jahrhundertelang wirksamen Europäisierung? Ziel des Beitrags ist es, sich den Antworten auf diese Fragen anzunähern. Hierzu soll für jeden der drei genannten Titel untersucht werden, auf welche Art und Weise die Parallele zur europäischen Heldin eingeflochten wird und inwieweit sich karibische Transformationen des Jeanne d’Arc-Mythos feststellen lassen, sodass über die Genregrenzen hinweg ein kongruentes Bild einer karibischen Jeanne d’Arc entsteht.

Der Hist oriker: Gilbert Pago Die historische Biografie Lumina Sophie dite Surprise. 1848-1879 Insurgée et bagnarde (2008) des martinikanischen Historikers und Geschichtslehrers Gilbert Pago erfüllt zunächst alle Kriterien, die im Allgemeinen an einen historiografischen Text gestellt werden. Beim Verlag wird er in der Rubrik „Histoire“ geführt. Der Autor ist ein renommierter Historiker und Leiter des IUFM 14 Martinique, wo er u. a. mit der Ausbildung der Geschichtslehrer für Martinique betraut ist.15 In einer der Schilderung der historischen Ereignisse vorangestellten Einleitung wird das Vorgehen bei der Recherche erläutert, den Helfern und Unterstützern gedankt und auf den wahrscheinlich berühmtesten Historiker der Region, Jacques Adélaède-Merlande, verwiesen, der mit seinen Arbeiten die Geschichtswissenschaft in der Karibik maßgeblich geprägt hat.16 Die in der zentralen Erzählung getätigten Aussagen werden vielfach durch Fußnoten belegt. Sie verweisen zumeist auf Registereinträge, Urkunden und Gesetzestexte, aber auch auf Vorarbeiten anderer Historiker, deren Referenz13 GEWECKE, 2008, S. 251. 14 Institut universitaire de formation des maîtres, die Lehrerbildungszentren in Frankreich. 15 Vgl. Angaben des Verlags zum Autor auf deren Webseite: http://www.ibisrouge.fr/ auteur.php?id=12, 12.03.2014. 16 Vgl. PAGO, 2008, S. 9f.

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texte im angefügten Literaturverzeichnis aufgeführt sind.17 Diese Quellenangaben dienen dem Autor als Beweis der Faktentreue seiner Aussagen, wodurch er den „historiographischen Pakt“18 zu erfüllen sucht. Auch die metanarrativen Einschübe der Erzählinstanz erster Ordnung19 innerhalb dieser Binnenerzählung sollen die Authentizität der historischen Darstellungen untermauern. Es wird bspw. auf die Fülle und Bedeutung der Quellen verwiesen und es werden sodann Rechtfertigungen und Schlussfolgerungen eingefügt,20 die dem Leser vermitteln, dass es sich bei der Darstellung des Lebens Lumina Sophies um einen Tatsachenbericht handelt, der vergangene Realität abbildet. Eine genauere Betrachtung – vor allem der Binnenerzählung – lässt an dieser eindeutigen Klassifizierung des Textes als „historiografisch“ Zweifel aufkommen. Die Strukturierung der Erzählung sowie die Darstellung der Protagonistin erinnern vielmehr an einen Helden- bzw. Märtyrermythos, in dem Lumina Sophie zur karibischen Jeanne d’Arc stilisiert wird. Auf inhaltlicher Ebene wird dies durch die rekurrente und als schicksalhaft dargestellte Verknüpfung der Person Lumina Sophie mit Daten zum Leben der schwarzen Landbevölkerung erreicht. So wird bspw. bereits in den ersten beiden Sätzen ein Zusammenhang zwischen der Geburt Lumina Sophies und der Abschaffung der Sklaverei in den französischen Kolonien hergestellt: „Lumina Sophie

17 Auffällig ist, dass keiner der Titel im Literaturverzeichnis auf den Bauernaufstand oder Marie-Philomène Roptus hinweist (vgl. EBD., S. 99f.). 18 Rüth versteht den „historiographischen Pakt“ in Anlehnung an Patrick Lejeunes pacte autobiographique (vgl. RÜTH, 2005, S. 32), d. h. als eine Art stillschweigendes Abkommen zwischen Autor und Leser, das das Verstehen des Textes als „fiktiv“ bzw. „wahrheitsgemäß“ leitet. 19 Innerhalb des historiografischen Textes sind im Allgemeinen zwei Erzählebenen zu unterscheiden: Die erste umfasst das Vorwort sowie die methodischen Kapitel, in denen der Erzähler dem Leser aufzeigt, wie die im Nachhinein präsentierten Ergebnisse generiert und verarbeitet wurden. Der Erzähler zweiter Ordnung schildert die historischen Ereignisse. Die Eingriffe des Erzählers erster Ordnung in die Erzählung zweiter Ordnung werden als Metalepse bezeichnet und dienen in erster Linie dazu, die Illusion von Authentizität und Verlässlichkeit der geschilderten Ereignisse aufrechtzuerhalten. Es wird betont, dass eine Gleichsetzung von Autor, d. h. Historiker, und Erzähler nicht angenommen werden kann, weil Gérard Genette zufolge die Beschreibung eines Erzählers in diesem Fall überflüssig würde (A = N, exit N, vgl. GENETTE, 1991, S. 87). 20 Vgl. auch PAGO, 2008, S. 49 und S. 63.

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dite Surprise naît en Martinique en 1848, année riche en nombreux bouleversements. C’est l’année de l’abolition de l’esclavage.“21 Die beinahe paradoxe Verschränkung von einfacher und göttlicher Abstammung ist nicht nur typisch für ein Heldenepos, sondern ist insbesondere auch im Jeanne d’Arc-Mythos präsent. So wird in der Mehrheit der Darstellungen sowohl auf Jeanne d’Arcs bäuerliche Abstammung als auch auf ihre übernatürliche Fähigkeit der Wahrnehmung göttlicher Visionen verwiesen.22 In gleicher Weise wird zunächst mittels der Beschreibung der Genealogie Luminas sowie der Lebensumstände ihrer Familie vor der Abschaffung der Sklaverei eine gewisse Bodenhaftung geschaffen, die anschließend durch die Interpretation des Namens Lumina Sophie gleich wieder dekonstruiert wird: Le prénom de Philomène donne immédiatement le diminutif de Lumina auquel on accole le sécond prénom de Sophie comme pour dire Lumina ‚iche’ (fille de) Sophie. Comme la pratique était au surnom, le sien est Surprise. Zulma veutelle dire par-là, qu’elle ne s’était pas attendue à sa grossesse survenue en période de carnaval? Ou encore que sa fille conçue dans la période esclavagiste en février à une date où personne en Martinique ne pouvait s’imaginer que la liberté viendrait trois mois après et que sa fille naîtrait libre et non esclave?23

In den folgenden Kapiteln führt der Erzähler minutiös aus, welche Ereignisse und Umstände zum Ausbruch der Bauernrevolten auf Martinique führten, wobei die stete Referenz auf Lumina Sophie und ihre Familie, nahe wie entfernte Verwandte, den Eindruck vermittelt, dass sie in übermäßiger Weise von den Ereignissen betroffen gewesen wäre – was einmal mehr den Bestim21 PAGO, 2008, S. 11: („Lumina Sophie alias Surprise wurde 1848, in einem Jahr voller Umbrüche, in Martinique geboren. Es ist das Jahr der Abschaffung der Sklaverei.“) 22 Vgl. KRUMEICH, 1989 und 2006; RÖCKELEIN u. a., 1996; RIEGER u. a., 2003; RIEGER, 2001 und 2005; HIMMEL, 2005 und 2007; WODIANKA, 2005 sowie WINOCK, 1992. 23 PAGO, 2008, S. 11: („Aus dem Vornamen Philomène ergibt sich sogleich das Diminutiv Lumina, an den der zweite Vorname Sophie angehängt wird, um die Abstammung als Nachfahrin von Sophie zu kennzeichnen. Üblicherweise erhielt man zudem einen Spitznamen, ihrer war Surprise. Wollte Zulma damit ausdrücken, dass sie die Schwangerschaft zur Zeit des Karnevals nicht erwartet hatte? Oder aber, dass ihre Tochter – noch zu Zeiten der Sklaverei empfangen, als niemand sich vorstellen konnte, dass sie nur drei Monate später in Freiheit leben sollten – frei geboren werden sollte?“)

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mungscharakter ihrer Existenz unterstreicht. Auffällig hierbei ist jedoch, dass der Zusammenhang zwischen den empirischen Darstellungen und Lumina Sophie nicht anhand des Involviertseins der Familie Roptus zu erkennen ist, sondern künstlich durch Sätze wie „C’est cela l’environnement de la petite enfance de Surprise.“24 oder „Surprise partage ces sentiments de grande frustration avec ses compatriotes des campagnes du sud de la Martinique.“25 hergestellt wird. Mehr noch: Der Bezug zur Protagonistin fehlt in der Erzählung stets an jenen Stellen, in denen explizit auf historische Dokumente, Zeitzeugenberichte oder andere Quellen verwiesen wird. Auch in den Statistiken findet der individuelle Fall Lumina Sophies keine Beachtung.26 Für den Leser ist es bei genauem Hinsehen nicht ersichtlich, inwieweit die Schilderungen der Ereignisse tatsächlich von Bedeutung für die Familie Lumina Sophies sind. Ihre Relevanz ergibt sich aus ihrer Funktion als Rahmen, in dem das Leben der ehemaligen Sklaven und nun Plantagenarbeiter als geprägt von Ausbeutung und Unmenschlichkeit inszeniert wird, was die Heroisierung einer rettenden Figur einleitet und rechtfertigt. Die ersten Kapitel sind vor diesem Hintergrund als dramatischer Auftakt zu interpretieren, der einen Spannungsaufbau bis hin zum Ausbruch der Aufstände vorbereitet. Der Höhepunkt wird erreicht mit der Darstellung der Ereignisse, die als Auslöser der Revolte gelten: der Streit zwischen dem Arbeiter Léopold Lubin und dem Offizier Augier de Maintenon. 27 Mit dieser Episode offenbart sich der Konstruktionscharakter deutlich, denn eine Beteiligung Luminas an den dargestellten Ereignissen ist nicht nachgewiesen. Nichtsdestoweniger aber unterstreicht der Erzähler an verschiedenen Stellen, dass Lumina von der Affäre gewusst haben muss: „Sans faire partie du milieu social des femmes du bourg, ni être du cercle de leurs amis, Surprise partage l’opinion favorable et solidaire à la cause de Lubin“.28 24 EBD., S. 29: („Und so war sie, die Umgebung der Kindheit von Surprise.“) 25 EBD., S. 47: („Surprise teilt die Gefühle großer Enttäuschung mit ihren Zeitgenossen auf dem Land im Süden Martiniques.“) 26 Vgl. z. B. die Ausführungen zum arrêté sur le vagabondage (1848). Es werden die schriftlichen Zeugnisse zweier Historiker (VICTOR SCHŒLCHER, 1985 und PHILIPPE DELISLE, 2000) herangezogen, um die ungerechte Behandlung und Abwertung der sog. engagées zu bezeugen (PAGO, 2008, S. 21). In ihren Schilderungen ist jedoch an keiner Stelle von Lumina Sophie die Rede. Der Zusammenhang zwischen den von diesen Historikern aufgearbeiteten Ereignissen und dem Leben Luminas Sophie wird ex post durch die vorliegende historiografische Erzählung hergestellt. 27 Vgl. EBD., ab S. 51. 28 EBD., S. 53: („Obwohl Surprise weder zum Umfeld der Marktfrauen gehörte noch zu deren Freunden, teilte sie die Meinung für den Zuspruch zur Causa Lubin“.)

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Ferner hebt er hervor, dass sie sicherlich bei der Verhandlung anwesend war und sie, wenngleich sie nicht auf der Unterschriftenliste unterzeichnete, dennoch an der Geldsammlung beteiligt gewesen sein muss29 etc. Mit dem Ausbruch der Revolten wird in Gilbert Pagos historischer Biografie auch die Bedeutung Lumina Sophies in ein neues Licht gestellt. Ihre Beteiligung muss nun nicht mehr über die allgemeinen Lebensumstände geschlussfolgert werden, sondern ist anhand der Prozessunterlagen zu ihrer Verhandlung und Verurteilung nachweisbar. Anstatt jedoch den nüchternen, schildernden Erzählstil beizubehalten, wird im zweiten Teil der Darstellung auch sprachlich immer mehr eine Heldengeschichte inszeniert. Lumina Sophie wird charakterisiert als „dotée d’une forte résistance physique“ und „dotée d’une forte personnalité, d’un caractère irascible, d’une puissante énergie et d’une grande liberté d’allure“.30 Ihre Abstammung und Persönlichkeit erscheint einmal mehr als von einer höheren Instanz gesegnet, was sie zur Anführerin im Kampf für die Freiheit einer unterlegenen Partei befähigt. Die Ähnlichkeit zum Heldenmythos der Jeanne d’Arc wird jedoch durch die Erzählung des Prozesses noch deutlich verstärkt. Zunächst wird Lumina Sophie zur „figure de proue des femmes insurgées“31 erhoben und ihr Wirken in einen emanzipatorischen Zusammenhang gesetzt. 32 In gleicher Weise wie im Falle des Jeanne d’Arc-Mythos wird ihr Frausein betont und den männlichen (und zudem weißen) Richtern diametral gegenübergestellt. Die einzelnen Anklagepunkte werden anschließend in jeweiligen Unterkapiteln abgehandelt, die mit reißerisch anmutenden Zwischenüberschriften versehen sind: „Surprise, une des femmes ‚incendiaires‘!“, „Surprise, parmi les femmes ‚pillardes‘!“, „Surprise et les femmes ‚sanguinaires‘!“, „Surprise, au premier rang des femmes au combat!“ und „Lumina Sophie dite Surprise, incendiaire, blasphématrice et meneuse“.33 Obwohl die Zwischenüberschriften die Anklagepunkte aufgreifen, sind sie in Hinblick auf ihren Bezug zum Text trugschlüssig. Im Kapitel zur Brandstiftung bspw. wird ein Bogen zu den Sklavenaufständen zu Zei29 EBD., S. 54f. 30 EBD., S. 47: („ausgestattet mit einer starken physischen Verfassung“ und „ausgestattet mit einer starken Persönlichkeit, einem jähzornigen Charakter, einer kraftvollen Energie und einem unbändigen Freiheitsdrang“.) 31 EBD., S. 63: („Gallionsfigur der aufständischen Frauen“.) 32 EBD., S. 65. 33 EBD., S. 65, 66, 68, 70 und 77: („Surprise, eine der Brandstifterinnen!“, „Surprise, eine der Plünderinnen!“, „Surprise, eine der blutrünstigen Frauen!“, „Surprise, in den ersten Reihen der Frauen im Kampf!“ und „Lumina Sophie alias Surprise, Brandstifterin, Gotteslästerin und Rädelsführerin“.)

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ten der Abolition bzw. der Haitianischen Revolution gespannt. In den Abschnitten zur Plünderung und Kampfesstärke liegt der Fokus auf der Beteiligung der Frauen an den Aufständen. Hinter dem Abschnitt zur vermeintlichen Mordlust verbirgt sich eine Kritik der eurozentristischen Darstellung der Verfolgung und Ermordung des Béké Codé. Der direkte Bezug zur Protagonistin Lumina Sophie fehlt. Nichtsdestoweniger dienen diese exkursartigen Ausführungen dazu, Lumina Sophie als Taktikerin und erbarmungslose Anführerin – auch gegenüber ihrer männlichen Gefolgschaft – zu inszenieren. Der zitierten Bezeichnung Luminas Sophies durch einen vermeintlich verlässlichen Augenzeugen als „la plus féroce, la plus terrible des chefs de bande, une véritable furie, une maniaque de l’incendie […], une femme qui cherche à dominer les hommes“34 stellt der Erzähler eine Erklärung in Form einer Sündenbocktheorie hintenan und erläutert weiterhin, dass ihre Verurteilung nicht gerecht war, sondern vielmehr dazu diente, ein Exempel zu statuieren: „On la punit surtout de ne pas se conformer à l’image de douceur, de soumission à l’homme, de réserve et de mise en retrait que devrait avoir toute femme.“35 Dies wird auch im Schlusssatz noch einmal explizit: „Ainsi donc, Surprise paya au prix fort la colère, le soulèvement des misérables ruraux du sud de la Martinique ne supportant plus leur fardeau d’injustices.“36 Obwohl Pago in Lumina Sophie dite Surprise. 1848-1879 Insurgée et bagnarde an keiner Stelle explizit Parallelen zum Leben Jeanne d’Arcs herstellt, ergibt sich dennoch ein der französischen Freiheitskämpferin nachempfundenes Heldenbild. Pagos historiografische Biografie ist darauf ausgerichtet, Lumina Sophie als gottgesandte Anführerin zu inszenieren, die von einem parteiischen Gericht nicht wegen ihrer Taten, sondern wegen ihrer Stärke übermäßig hart bestraft wird. Der zunächst wissenschaftliche Rahmen dient dazu, seiner Version einer karibischen Jeanne d’Arc einen höheren Grad an Authentizität zu verschaffen. In starkem Kontrast dazu stehen die letzten Abschnitte der 34 EBD., S. 78: („die wildeste, furchtbarste der Revoltenführer, eine wirklich Furie, eine verrückte Brandstifterin […], eine Frau, die die Männer zu unterdrücken versucht“.) 35 EBD., S. 79f.: („Man bestraft sie vor allem dafür, dass sie nicht dem Bild der sanften und unterwürfigen Frau entsprach, voller Zurückhaltung und sich im Hintergrund haltend, so wie jede Frau sein sollte.“) 36 EBD., S. 92: („So geschah es, dass Surprise die Wut und das Aufbegehren der armen Landbevölkerung im Süden Martiniques, die ihr schweres Joch der Ungerechtigkeiten nicht länger ertragen wollte, teuer bezahlte.“)

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Biografie, in denen sich der augenscheinlich historiografische Text zunehmend von historiografischen Konventionen entfernt und sich darüber hinaus das Bild der karibischen Jeanne d’Arc als ein Musterbeispiel für selbstloses Heldentum verfestigt. Die beinahe harmonische Kombination aus wissenschaftlicher Arbeit und Heldenepos verstärkt den Eindruck, dass Gilbert Pagos historische Biografie argumentativ darauf ausgerichtet ist, den Namen Lumina Sophies post mortem zu rehabilitieren37 – ähnlich wie es auch im Falle Jeanne d’Arcs geschah.

Der Romancier: José Le Moigne Wie die historische Biografie Gilbert Pagos ist auch der Roman On m’appelait Surprise (2010) des aus Martinique stammenden Autors José Le Moigne als Versuch der Rehabilitierung Lumina Sophies als Heldin der Bauernrevolte zu verstehen. Im Gegensatz zur historiografischen Biografie werden die Ereignisse hier von einem autodiegetischen Erzähler geschildert, der mit Lumina Sophie identifiziert wird. Lediglich im einleitenden Kapitel übernimmt ein heterodiegetischer Erzähler eine orientierende Funktion, indem er dazu aufruft, die Geschichte Luminas weiterzuerzählen: „[Q]ue son histoire, portée par la voix rauque du conteur, par le tambour et la flûte des mornes, soit scandée de veillée en veillée d’un bout à l’autre du pays.“38 Im Anschluss an diesen metanarrativen Einstieg berichtet Lumina Sophie als persönliche bzw. mittelbare Augenzeugin in retrospektiver Erzählweise, wie sie aufwuchs, wie es zur Revolte kam und wie sie schließlich verurteilt und in die Strafkolonie nach Französisch-Guayana gebracht wurde. Innerhalb dieser Binnenerzählung können verschiedene Erzählniveaus unterschieden werden. Auf der ersten Ebene werden nur Ereignisse des Jahres 1879, d. h. des letzten Lebensjahres Lumina Sophies, geschildert. Diese erste Ebene wird mehrfach unterbrochen durch eine eingeschobene und ebenfalls autodiegetische Erzählung der erlebten Vergangenheit der Erzählerin, die die Jahre 18551871 umfasst. Auf der dritten Ebene berichtet Lumina vom Leben ihrer Groß37 In diesem Kontext ist auch Pagos Vermutung zu interpretieren, dass Dokumente absichtlich vernichtet wurden, um ihren Fall nicht für die Nachwelt zu konservieren (vgl. EBD.). 38 LE MOIGNE, 2010, S. 13: („Sei ihre Geschichte von der rauhen Stimme des Geschichtenerzählers, von der Trommel und der Flöte der Berge vorgetragen, von Totenwache zu Totenwache, von einem Ende des Landes zum anderen.“)

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mutter (1775-1855), was in Hinblick auf ihre regionale und kollektive Verortung von Bedeutung für die Erzählung ist. Oberflächlich betrachtet, erinnert der Roman an eine Autobiografie. Der Leser ist angesichts der inszenierten Identität zwischen Erzählerin und Protagonistin geneigt, sie auch als Autorin anzuerkennen und ihre Erzählung damit als authentisch zu verstehen. Dies ist Grundlage des sog. „autobiografischen Paktes“ wie ihn Philippe Lejeune beschrieben hat.39 Bei On m’appelait Surprise handelt es sich jedoch nicht um eine Autobiografie, sondern um eine geschickt inszenierte literarisch-fiktive Biografie des Autors José Le Moigne. Die Form der Erzählung sowie das zusätzliche Einstreuen von präzisen Daten und zahlreichen Orts- wie Personennamen mögen beim Leser zunächst das Bild einer wahrheitsgemäßen und damit glaubwürdigen Schilderung erzeugen.40 An verschiedenen Stellen jedoch wird diese oberflächliche Eindeutigkeit gerade durch ihre Makellosigkeit dekonstruiert. Gewissermaßen wird hier der „autobiographische Pakt“ übererfüllt und damit gleichzeitig gebrochen. Dieses Verfahren erinnert an den von Roland Barthes in seinem Essay Le Discours de l’histoire41 beschriebenen effet du réel. Für Barthes beruht dieser auf der Illusion einer direkten Referenz zwischen Text und außersprachlicher Realität, die durch das vermeintliche Fehlen einer vermittelnden Instanz im Text sowie durch belebende Ausschmückungen in der Erzählung erzeugt wird. In Le Moignes Roman erscheint Lumina Sophie gleichzeitig als historische Persönlichkeit und literarisch-fiktive erzählende Instanz, wodurch die Grenze zwischen vergangener Realität und literarischer Fiktion mehrfach transgrediert wird. Bei näherer Betrachtung wird deutlich, dass die stete Präsenz eines IchErzählers den eigentlichen Verfasser der Geschichte kaschiert. Wie der von Roland Barthes beschriebene Historiker ist er ein wahrer Illusionskünstler, der es vermag, dem Leser eine unvermittelte Verbundenheit der realen Vergangenheit und ihrer autohistoriografischen Rekonstruktion vorzugaukeln. Wichtigster Bestandteil dieser Illusion ist das harmonische Oszillieren zwischen zwei Modi der Vergangenheitsvermittlung, die sonst als eher gegensätzlich und sich gegenseitig ausschließend bewertet werden: Geschichte versus Erinnerung. Lumina Sophie als Angehörige der indigenen schwarzen Bevölke39 Vgl. LEJEUNE, 1975. 40 So werden bspw. exkursartig Foltermethoden beschrieben (vgl. LE MOIGNE, 2010, S. 29-31), auf die Einwanderung von chinesischen und indischen Arbeitern verwiesen (vgl. EBD., S. 61f.) oder die Namen ihrer Mitaufständischen genannt (vgl. EBD., S. 85). 41 Vgl. BARTHES, 1984, S. 153-166.

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rung Martiniques repräsentiert in diesem Zusammenhang eine mündliche Erzähltradition. Am Ende des Romans wünscht sie sich nur eines: dass ihre Geschichte weitererzählt wird: Je vais quitter la terre par renoncement à la vie et tout est bien ainsi. Pour ce qui concerne ma légende, s’il se trouve un marqueur de paroles pour lui faire suivre son chemin, qu’il écoute le vent quand il passe à l’aplomb de la montagne du Vauclin pour se glisser par les ravines jusqu’à Rivière-Pilote.42 [Herv. der Verfasserin]

Die afrokaribische Geschichtenerzählertradition43 ist vor allem gekennzeichnet durch bruchstückhaft zusammengesetzte, zeitlich nicht genau verortete Erinnerungen,44 durch das stete Anrufen der Zuhörer, 45 durch stilistisch modifizierte Wiederholungen bereits erzählter Inhalte und exkursartig eingeschobene Teilgeschichten, die nicht zwangsläufig zur eigentlichen Erzählung gehören. Dem gegenüber steht die europäische schriftliche Geschichtstradition, 46 die vor 42 EBD., S. 158: („Ich werde nun bald die Erde durch Verzicht auf das Leben verlassen und das ist auch gut so. Was meine Legende anbelangt, so möge sich ein Geschichtenerzähler finden, der ihren Weg bereitet, der dem Wind lauscht, wenn er selbstbewusst in den Bergen Vauclins an den Bächen entlang Richtung RivièrePilote marschiert.“) 43 Die conteur-Tradition in den französischsprachigen Antillen und darüber hinaus geht zurück auf die Zeit der Sklaverei. Die Geschichten dienten zunächst der Aufrechterhaltung der Erinnerung an die Heimat Afrika (vgl. z. B. JUMINER, 1994, S. 138f.), wurden aber bald zum Mittel des versteckten Widerstandes gegen die Kolonialmacht (vgl. BELUGE, 2004, S. 78 oder ENTIOPE, 1996, S. 244). Viele der contes aus dieser Epoche sind verloren oder wandelten sich im Laufe der Zeit zu beinahe neuen Erzählungen (vgl. DERIVE/REY-HULMAN, 2001, S. 9). Auf Grund der Vielfalt der Formen des Erzählens fällt es schwer, eine strukturelle Beschreibung der conte abzugeben, weitere Einblicke in ihre Funktion und die wichtigsten Merkmale aber gewähren CHAMOISEAU/CONFIANT, 1991, S. 43-52 und CONFIANT, 1998, S. 52f. 44 Vgl. z. B. LE MOIGNE, 2010, S. 11f. 45 So wird bspw. mehrfach der Ehemann Lumina Sophies (oder aber der Leser) in der zweiten Person „tu“ angesprochen, vgl. z. B. EBD., S. 55, 58 und 83. 46 Sie geht zurück auf die Lehren des Begründers der Historiografie als eigenständige Disziplin, Leopold von Ranke (vgl. z. B. FULDA, 1996 oder METZGER, 2011). Alun Munslow sieht ihn (neben anderen) als Vorbild der heute noch weit verbreiteten empirisch-positivistischen Geschichtswissenschaft, deren Befürworter der Ansicht sind, dass historische Quellen einen unmittelbaren Einblick in vergangene Ereignisse bieten und die Quelleninterpretation damit zum legitimen Mittel der Vergangenheitsrekonstruktion wird (vgl. MUNSLOW, 1997, S. 55f.).

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allem durch eine genaue zeitliche wie örtliche Einordnung der geschilderten Ereignisse und ihrer kausalen Zusammenhänge,47 durch eine reduzierte Interaktivität zwischen Erzähler und Zuhörer bzw. Leser, durch eine angestrebte Unveränderlichkeit und damit Fixierung des Erzählten sowie durch die Zuschreibung einer universellen Bedeutung der Geschichte im Horizont bereits bekannter Erzählungen gekennzeichnet ist.48 Auf Grundlage dieses unbewussten Zusammenspiels der Erzähltraditionen erfolgt auch die Identifizierung Luminas Sophies als karibische Jeanne d’Arc. Es kann gemutmaßt werden, dass Lumina Sophie in ihrer gesellschaftlichen Position als ungebildete schwarze Arbeiterin über keine Kenntnisse der französischen Geschichte und ihrer Idole verfügte, die als sinnstützendes Bedeutungsgerüst ihrer Erzählung fungieren konnten. Auch fehlt ihr der nötige zeitliche Abstand zum eigenen Leben, um eine schicksalhafte Nähe zur französischen Freiheitskämpferin Jeanne d’Arc herzustellen. Mit anderen Worten: Die nachträgliche Zuschreibung einer Bedeutung ihres Lebens im Horizont der französischen wie karibischen Geschichte kann innerhalb einer autobiografischen Erzählung nur schwerlich erfolgen49 und dekonstruiert einmal mehr den geschickten Verschleierungsversuch. Darüber hinaus zeigen Indizien wie Benennungen Lumina Sophies als „Sorcière! Blasphématrice! Incendiaire! Dominatrice!“ 50 bzw. Aussagen der Protagonistin wie „La torche […] était restée notre arme favorite.“51 oder „Je me suis révoltée, j’ai combattu pour l’égalité, j’ai pris des risques qu’il fallait prendre, des risques pour le futur qui n’avaient rien à voir avec l’assouvissement d’un désir immédiat.“,52 dass Lumina Sophies Leben aus einer zeitlich differenten und historisch wie mythisch informierten Position heraus Parallelen zu dem der französischen Heldin auferlegt wurden.

47 Kennzeichnend hierfür sind z. B. die zahlreichen Jahreszahlen, an die sich Lumina (angeblich) erinnert. 48 Vgl. hierzu u. a. FULDA, 1996; RÜTH, 2005; METZGER, 2011 und SCHRADER, 2013. 49 Vgl. hierzu die Feststellung Arthur C. Dantos, dass historische Bedeutung stets ex post generiert wird, indem an sich bedeutungsneutrale Fakten durch Auferlegung einer bedeutungsfördernden Strukturierung in einer Erzählung Bedeutung erlangen (vgl. DANTO, 1965, S. 11). 50 EBD., S. 12: („Hexe! Gotteslästerin! Brandstifterin! Unterdrückerin!“) 51 EBD., S. 80: („Die Fackel […] blieb unsere bevorzugte Waffe.“) 52 EBD., S. 28: („Ich habe aufbegehrt, ich habe gekämpft für die Gleichheit, ich bin Risiken eingegangen, die eingegangen werden mussten, Risiken für eine bessere Zukunft und nicht zur Befriedigung eines plötzlich aufkommenden Bedürfnisses.“)

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Im Gegensatz zur Darstellung Gilbert Pagos suggeriert die Inszenierung in Form einer literarisch-fiktiven Biografie jedoch, dass der Jeanne d’Arc-Mythos nicht als Vorlage dient, auf deren Grundlage die Geschichte Lumina Sophies nacherzählt wird, sondern die Identifikation der beiden Frauen vielmehr auf der Aktivierung einzelner Gedächtnisinhalte des Imaginaire beruht. Die augenscheinlichen Parallelen werden nicht gesondert herausgestellt, sondern ergeben sich für den Leser auf Grundlage seiner Kenntnisse über die französische Freiheitsheldin. Die Annäherung zwischen offizieller Histoire und individueller Mémoire erscheint im Roman José Le Moignes keinesfalls explizit und ist somit als Produkt eines Kreolisationsprozesses, wie ihn Édouard Glissant beschrieben hat, zu interpretieren: La créolisation est la mise en contact de plusieurs cultures ou au moins de plusieurs éléments de cultures distinctes, dans un endroit du monde, avec pour résultante une donnée nouvelle, totalement imprévisible par rapport à la somme ou à la simple synthèse de ces éléments.53

Die Dramatikerin: Suzanne Dracius Suzanne Dracius ist die einzige der drei Autoren, die Lumina Sophie ganz explizit mit Jeanne d’Arc vergleicht. Im Vorwort ihres Dramas Lumina Sophie dite Surprise (2005) stellt sie fest: „Aujourd’hui, si l’on demande aux écoliers martinquais de citer le nom d’une héroïne de dix-neuf ans ayant sacrifié sa jeune vie à sa cause, ils répondent à coup sûr: ‚Jeanne d’Arc!’“54 Die martinikanische Autorin scheint hierüber enttäuscht, ja gar verärgert, gibt es doch ihrer Ansicht nach mit Lumina Sophie eine weitere Persönlichkeit, auf die die obige Beschreibung zutrifft. Ihr Theaterstück (oder wie sie es selbst nennt „fabulodrame historique (héroïque fantaisie)“) soll die Ungerechtigkeit der 53 GLISSANT, 1997, S. 37: („Die Kreolisierung beschreibt den Kontakt, dem mehrere Kulturen an einem bestimmten Ort in der Welt ausgesetzt sind, oder zumindest einzelne Elemente der Kulturen, und aus dem sich gänzlich neue Resultate ergeben, völlig unvorhersehbar, und keinesfalls eine einfache Mischung oder Synthese der einzelnen Ausgangselemente.“) 54 DRACIUS, 2005, S.9: („Wenn man heute die Schüler Martiniques bittet, den Namen einer jungen Heldin von nur 19 Jahren zu nennen, die ihr junges Leben einem übergeordneten Zweck geopfert hat, werden sie mit Sicherheit antworten: Jeanne d’Arc!“)

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Geschichte ausgleichen und die Geschichte Lumina Sophies für die Nachwelt konservieren: „Lumina Sophie dite Surprise n’est-elle pas digne de s’inscrire résolument dans les mémoires, s’ancrant dans l’imaginaire et la mythologie du peuple martiniquais? Puisse cette pièce y contribuer!“55 Wie der Untertitel „fabulodrame historique (héroïque fantaisie)“ und das Epigraph Alejo Carpentiers 56 bereits andeuten, soll das Leben Luminas Sophies nicht einfach nur erzählt, sondern vielmehr erlebbar gemacht werden. Das Theater nämlich, so wird seit Aristoteles immer wieder betont, sei näher am Leben als der Roman, weil es sich am Leben der Menschen orientiere: Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden – Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Jammer und Schaudern hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.57

Historische Ereignisse werden im Drama nicht rückblickend geschildert, sondern auf der Bühne erlebt, was dem Zuschauer einen tiefen Einblick in die Gedanken und Gefühlswelt Lumina Sophies zur Zeit der Bauernaufstände im Süden Martiniques verschafft. Untypisch für das aristotelische Drama jedoch wird diese Innenperspektive mit der historisierenden Außenperspektive der Muse Africa kontrastiert, die, aus der Zukunft kommend, Lumina Sophies Heldentaten für die Nachwelt dokumentieren soll. Die Zusammenschau der beiden Perspektiven 58 erscheint der Autorin als geeignetes Mittel, Lumina Sophie den ihr zustehenden Platz im Imaginaire der Gemeinschaft wiederzu55 EBD., S. 11: („Ist es Lumina Sophie alias Surprise denn nicht wert, sich selbstbewusst in die Erinnerung einzuschreiben, sich im Imaginaire und der Mythologie des martinikanischen Volkes zu verankern? Möge dieses Theaterstück dazu beitragen!“) 56 „Le théâtre nous permet de remonter le cours du temps, et de vivre, chose impossible pour nous, homme d’aujourd’hui, en des époques à jamais révolues.“ (CARPENTIER, 1976a, S. 76): („Dank dem Theater können wir uns in die Zeit zurück versetzen und – etwas für unsere gegenwärtiges Fleisch ganz Unmögliches – in Epochen leben, die für alle Zeiten entschwunden sind.“ CARPENTIER, 1976b, S. 90). 57 ARISTOTELES, 1982, S. 19. 58 ... von der Autorin als Synthese des klassischen Theaters und der künstlerischen Postmoderne (vgl. DRACIUS, 2005, S. 11) bezeichnet.

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verschaffen: „une haute figure féminine, – farouche, aux accents éternels, aux dimensions universelles“, 59 die der Gemeinschaft eine erneuerte kreolische Mythologie als Gegenversion zur französisierten Historiografie bietet.60 Der Paratext, der dem Publikum bei der Aufführung jedoch vorenthalten wird, weist Lumina Sophie als „dix-neuf ans, brune, câpresse ou mûlatresse de haute taille, couturière, meneuse de l’Insurrection“61 aus. Die für die historiografische Rekonstruktion wichtigen Daten sind hiermit genannt. Diesen rohen Fakten stehen im Stück die Erlebens- und Gefühlswelt der Protagonistin sowie ihre Charakterisierung als Erleuchtete oder Aufgeklärte durch die Muse Africa gegenüber: „Elle, Lumina, si lumineuse! Elle, Sophie, si sage, si posée, au milieu de ces hystériques!“62 In zahlreichen Monologen offenbart Lumina Sophie dem Zuschauer, wie es in ihrem Inneren bestellt ist. 63 Sie selbst nimmt sich nicht als Heldin wahr, sondern erscheint vielmehr als eine von Sorgen und Ängsten geplagte Frau, die Zweifel am Widerstand hegt: „ces mornes sont-ils notre refuge ou notre tombe?“64 Insbesondere die Sorge um ihren Geliebten Émile Sydney lähmt sie.65 Aber auch die mangelnden kriegerischen Fähigkeiten bereiten ihr Unbehagen: „Ah, si je pouvais savoir faire la guerre, m’initier à l’art militaire, comme en Europe! En si peu de temps, comment apprendre à guerroyer? Toutes ces tactiques organisées?!…“66 Diese menschliche Seite Lumina Sophies wird kontrastiert mit ihrer Rolle als Trägerin eines übergenerationalen Imaginaire, das es ihr erlaubt, die traumatische Erfahrung der Sklaverei zu kennen, obwohl sie erst nach der Abolition geboren wurde.67 Wie auch bei Pago und Le Moigne 59 EBD., S. 10: („eine lebhafte Frauenfigur, − unbeugsam, mit dem Anspruch auf Ewigkeit und Universalität“.) 60 Vgl. EBD., S. 9. 61 EBD., S. 15: („neunzehn Jahre alt, dunkelhaarig, Quarterone oder Mulattin von großer Statur, Schneiderin, Anführerin des Aufstandes“.) 62 EBD., S. 36: („Sie, Lumina, so strahlend! Sie, Sophie, so weise, so gesetzt, inmitten dieser Hysterikerinnen!“) Dieser Topos wird noch mehrmals im Stück wiederholt, vgl. z. B. EBD., S. 47, 74 und 75. 63 Vgl. z. B. EBD., 58f. und 102f. 64 EBD., S. 59: („diese Berge, sind sie unser Zufluchtsort oder unser Grab?“) 65 Vgl. EBD. 66 EBD.: („Ah, wenn ich doch nur wüsste, wie man Krieg führt, mich mit der Kriegskunst vertraut machen könnte, wie in Europa! Wie lernt man in dieser kurzen Zeit, einen Krieg zu führen? All diese Techniken und Taktiken!?…“) Diese Aussage kann darüber hinaus als parodistische Anspielung auf die erfolgreiche Kriegsführung Jeanne d’Arcs gewertet werden. 67 Vgl. EBD., S. 27.

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wird die Existenz Lumina Sophies als schicksalhaft und vorbestimmt inszeniert. Sie selbst jedoch erkennt diese Rolle nicht (an). Persifliert werden diese antagonistischen Positionen durch die historisierende und verklärende Sichtweise der Muse Africa. In der paratextlichen Personenbeschreibung wird sie folgendermaßen bezeichnet: androgyne, animale et étrange. Apparition divine (deus ex machina), résolument anachronique et vêtements contemporains, voire futuriste, suggérant une chauve-souris (larges ailes, maquillage forcé évoquant des symboles rituels), avec, de surcroît, un appareil miniaturisé ultramoderne, d’avant garde, le ‚combinoscope’, combinate à la fois téléphone mobile, mini-ordinateur portable, micro-magnétophone, camésope de poche etc.68

Auf der einen Seite erscheint die Muse Africa dem Zuschauer als gänzlich deplaziert; auf der anderen Seite jedoch sorgen ihr Wissen um Vergangenheit und Zukunft sowie ihre Fähigkeit, mit Gott zu kommunizieren, dafür, dass sie als gottähnliche Gestalt identifiziert wird, der es dank ihrer A-Historizität erlaubt ist, die Rolle Lumina Sophies in der Geschichte festzulegen: J’essaie de vous rendre VISIBLES! Qu’on vous honore, qu’on parle de vous! […] Mon idéal est que vous trôniez dans les encyclopédies […] Que chacun sache quelle place importante vous tenez dans l’évolution de ce pays. Sinon, votre souvenir sera à tout jamais enfoui. Je suis le garant de votre pérennité. Moi seul peux vous introduire dans l’Histoire avec un grand H.69

68 EBD., S. 15: („androgyn, tierisch und merkwürdig. Göttliche Erscheinung (deus ex machina), ausgesprochen anachronisch und modern gekleidet, oder sogar futuristisch, erinnert an eine Fledermaus (große Flügel, starke Gesichtsbemalung mit rituellen Symbolen), darüber hinaus ausgestattet mit einem sehr kleinen, ultramodernen Apparat, dem Kombinoskop, es vereint in sich Mobiltelefon, tragbaren Minicomputer, Aufnahmegerät, Kamera etc.“) 69 EBD., S. 109: („Ich versuche euch SICHTBAR zu machen. Damit man euch anerkennt, von euch spricht! […] Ich wünsche mir, dass ihr in den Enzyklopädien erscheint […] Damit jeder weiß, welch wichtige Rolle ihr in der Entwicklung dieses Landes gespielt habt. Falls mir das nicht gelingt, wird die Erinnerung an euch verblassen. Ich bin der Garant für euren Fortbestand. Allein ich kann euch in die große Geschichte einschreiben.“) Vgl. auch EBD., S. 83f.

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Ihr ist die Rolle der objektiven Beobachterin zugedacht, die zu keinem Zeitpunkt in das Geschehen eingreifen darf.70 Auf Grund der mangelnden Kooperation der Aufständischen geht die Muse Africa jedoch alsbald dazu über, die ihr zugedachten Kompetenzen zu überschreiten: Je n’interviens que pour imprimer ton empreinte dans le Livre avec un grand L, en lettres de feu, dans la flamboyance éternelle. […] L’univers doit retenir les noms de LUMINA, Madeleine Clem, Rosalie Soleil, toutes celles qui seront illustrées dans l’Insurrection de 1870.71

Doch auch diesem Aufruf wollen die Pétroleuses – Luminas Mitstreiterinnen – nicht Folge leisten, was die Muse zunehmend verstimmt: „[T]ant pis pour vous, si les écoliers de Martinique ont ouè parler de Jeanne d’Arc, la pucelle d’Orléans, carbonisée, calaminée, ensuite canonisée, mais pas d’une certaine Lumina, martyre moderne, qui causerait le mal par le feu.“ 72 Sie sieht sich außer Stande ihre Aufgabe zu erfüllen. Als Lumina Sophie und ihre Weggefährtinnen sich bereit machen, das Lager zu verlassen, unternimmt die Muse Africa einen letzten Versuch. Sie bettelt regelrecht darum, Lumina möge ihr helfen, etwas für die Nachwelt zu verfassen. Sie bittet um ein Interview, bevor Lumina in die Schlacht zieht (und gefangen genommen werden wird). 73 Lumina jedoch versteht immer noch nicht, welche Rolle ihr zugedacht ist: „Ma destinée?! Je n’ai même pas un moment pour ma souffrance, ni pour mon deuil. […] À peine me reste-t-il un jour pour la vengeance et pour la lutte…Une nuit, qui sait? Une lune ou deux?“74 Die revoltierenden Frauen verschwinden in die Schlacht, die Muse bleibt zurück.

70 Vgl. EBD., S. 39-41. 71 EBD., S. 105: („Ich mische mich nur ein, um deinen Namen in das große Buch einzudrucken, einzubrennen, in der flammenden Ewigkeit […] Das Universum muss die Namen LUMINA, Madeleine Clem, Rosalie Soleil bewahren, alle diejenigen, die sich in der Revolte von 1870 hervorgetan haben.“) 72 EBD., S. 106: („Schade für euch, wenn die Schüler Martiniques von Jeanne D’Arc gehört haben, der Jungfrau von Orléans, verbrannt, verrußt und schließlich kanonisiert, aber nicht von euch, von einer gewissen Lumina, moderne Märtyrerin, die das Böse mit dem Feuer brachte.“) 73 Vgl. EBD., S. 111. 74 EBD., S. 112: („Mein Schicksal?! Ich habe nicht einmal einen Moment für mein eigenes Leid, auch nicht für meine Trauer. […] Ich habe gerade einmal einen Tag

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Was oberflächlich betrachtet auf die Ignoranz der Aufständischen zurückgeführt werden kann, erweist sich bei näherer Betrachtung als geschickte Inszenierung des historischen bzw. historiografischen Problems. Zum einen wird Kritik am Mythos geübt, der aus einfachen Personen in der Geschichte stereotype Helden macht. Sie verlieren an Individualität zu Gunsten eines höheren ideologischen Ziels. Zum anderen erinnert das Dilemma der Muse Africa an jene Unfähigkeit und Unmöglichkeit der Rekonstruktion historischer Ereignisse, von denen kein schriftliches Zeugnis vorliegt.75 In gewisser Weise rekurriert die Figur auf den Historiker, der in der Gegenwart sitzend keinerlei Zugriff auf die Vergangenheit hat. Es ist ihm unmöglich, objektiv zu dokumentieren, was sich einst zutrug, und so bleibt ihm nichts anderes übrig als zu intervenieren und zu konstruieren. Die Präsenz der Muse Africa bei den Ereignissen verhilft weder ihr noch den historischen Protagonisten zu mehr Wissen, denn vieles, das sie den Pétroleuses mitteilen und erklären möchte, liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft. Trotz ihrer Präsenz scheitert die Mission der Muse Africa: Je voulais garder leur image. En pérenniser le renom. Leur parole de femmes. Leur splendeur. Ces guerrières ne l’ont pas voulu. Elles me l’ont dit haut et clair, haut comme l’éclat de leurs flambeaux déchirant le ciel nocturne, clair comme le feu dont elles incendient le vieux monde, net comme leur détermination: elles se battent pour leur dignité, pas pour la gloire.76 [Herv. der Verfasserin]

für die Rache und den Kampf… Eine Nacht, wer weiß das schon? Ein Mond oder zwei?“) 75 Vor diesem Horizont ist auch die Versessenheit der Muse Africa auf den Brief von Émile Sydney, den Lumina bei sich trägt, zu verstehen. Er ist ein ‚klassisches‘ Dokument, aus dem Historiker ihre Informationen beziehen, doch den Brief selbst gibt es nicht. Dracius spielt hier mit dem Bedürfnis der Geschichtsschreiber nach handfesten Materialen, ein Bedürfnis, das ja auch die Muse hegt, wenngleich sie sich zuständig fühlt für das Verfassen und Hinterlassen solcher Dokumente. Das Paradoxe ist, dass dieses historische Dokument Lumina nichts über ihre Vergangenheit vermittelt, sondern eben über ihre (wahrscheinliche) Zukunft (vgl. EBD., S. 58-60). 76 EBD., S. 113: („Ich wollte ihr Abbild erhalten. Ihr Andenken dauerhaft sichern. Ihre Frauenstimmen. Ihre Herrlichkeit. Diese Kriegerinnen wollten es nicht. Sie haben es mir laut und klar und deutlich gesagt, laut wie das Feuer, mit dem sie die alten Welt in Brand setzen, klar wie das Leuchten ihrer Fackeln im Nachthimmel, deutlich wie ihre Bestimmung: sie kämpfen für ihre Würde, nicht für den Ruhm.“)

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Dem Zuschauer wird jedoch schnell klar, dass die Mission keinesfalls gescheitert ist. Es bleiben vielleicht keine Dokumente, doch was bleibt, ist – in Form des vorliegenden Dramas – das Bild einer verkannten und vergessenen karibischen Freiheitskämpferin, die der Zuschauer nun von sowohl ihrer menschlichen als auch ihrer divinen Seite kennt. Die (Re)Konstruktion der Lumina Sophie kommt auch bei Suzanne Dracius einer Rehabilitation gleich. Anders jedoch als in den vorhergehenden Beispielen der Autoren Pago und Le Moigne geht ihre Adaption der Geschichte Lumina Sophies über das modifizierende Abpausen des Jeanne d’Arc-Mythos hinaus. Durch das starke metahistoriografische Moment wird deutlich, dass Lumina Sophie nicht als zweite Jeanne d’Arc gehandelt wird, sondern als eigenständiges historisches wie mythisches Individuum ebenso verehrenswert ist.

Fazit Ungeachtet des variierten Inhalts und der unterschiedlichen Darstellungsformen bezeugen die drei vorgestellten Autoren und Texte, dass in der (Re)Konstruktion der Geschichte Lumina Sophies das Bild Jeanne d’Arcs im Hintergrund als stützendes Gerüst wirkt. Eine Geschichtstransformation findet in zweierlei Hinsicht statt: Zum einen stellen die Texte eine Transformation des Jeanne d’Arc-Mythos dar, der zeitlich, räumlich und ideologisch in den karibischen Archipel verlagert wurde. Er dient als Folie für eine andere historische Figur in einer anderen historischen Situation, woraus sich die zweite Transformation ergibt, nämlich die der Geschichte Lumina Sophies hin zu einer Angleichung bzw. Annäherung an das europäische Vorbild und schließlich dessen Dekonstruktion. Die Evokation der Jungfrau von Orléans in diesem kolonialen und post-abolitionistischen Kontext dient den Autoren nicht nur zur Rehabilitation Lumina Sophies, sondern ist gerade mit dem Beispiel Suzanne Dracius als Auflehnung gegen die andauernde politische, ideologische und soziale Dominanz europäischen Denkens in den französischen Überseedepartements zu verstehen. Unter Berücksichtigung der regionalen Spezifika wurde ein ureuropäischer Mythos instrumentalisiert, wodurch die Autoren nachträglich ein Stück „nützlicher“ Geschichte77 schrieben und damit einen wichtigen identitätsstiftenden Grundstein legten. 77 Frauke Gewecke versteht hierunter jene Ereignisse und Personen, die in Hinblick auf die Ausbildung und Pflege eines kollektiven Gedächtnisses von der Historio-

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Das Wirken dieser Transformationen ist vor allem dadurch möglich, dass zum einen der Jeanne d’Arc-Mythos zentraler Bestandteil des französischen kollektiven Gedächtnisses ist und darüber hinaus auch in anderen Nationalgemeinschaften als ein Erinnerungsort im Sinne Pierre Noras funktioniert.78 Zum anderen aber ist die Geschichte um die Jungfrau von Orléans vor dem Hintergrund der zunehmenden Globalisierung und Postmodernisierung der nationalen Gemeinschaften nicht mehr als Gründungsmythos zu verstehen, sondern vielmehr mit Roland Barthes als Mitteilungssystem, das sich aus zahlreichen Bestandteilen zusammensetzt: „[L]e mythe est un système de communication, c’est un message. On voit par là que le mythe ne saurait être un objet, un concept, ou une idée; c’est un mode de signification, c’est une forme.“79 Demnach beruht der Jeanne d’Arc-Mythos weniger auf historischen Inhalten, sondern setzt sich vielmehr aus den Sinnbestandteilen „Jungfrau“, „Märtyrerin“, „Feuertod“, „Heilige“, „Emanzipation“ und „Widerstand“ zusammen. Als ein für Barthes unstetes und veränderbares Konstrukt 80 erlaubt er es, das Konzept Jeanne d’Arc unabhängig von der Darstellungsform und möglichen Dekonstruktionen und Reinterpretationen wiederzuerkennen und zu rezipieren. Durch das Aufgreifen der Attribute Jeanne d’Arcs in den für diesen Beitrag ausgewählten Texten und die damit einhergehende suggerierte Identifizierung mit der französischen Nationalheldin leisten die Autoren aktive Erinnerungsarbeit für die Menschen ihrer Gemeinschaft.

grafie losgelöst sind und sich damit verselbständigen. (vgl. GEWECKE, 2008, S. 251) An anderer Stelle präzisiert sie, dass es sich hierbei in erster Linie um Sieges- und Heldenerzählungen handelt, die das Gemeinschaftsgefühl stärken: „Den Grundbestand liefern Siege und Niederlagen, Helden und Märtyrer gleichermaßen; als vorrangig aber gilt – und dies ist Aufgabe ‚nationaler‘ Geschichtsschreibung – die Konstruktion und Pflege einer Identifikationskette von kollektiven Erfolgserlebnissen und heroischen Leitfiguren, die nationale Würde und Selbstbehauptung begründen und verewigen.“ (DIES., 1996, S. 220) 78 Vgl. NORA, 1984, S. XXIV und S. XXXV. 79 BARTHES, 1957, S. 215: („Der Mythos ist ein System der Kommunikation, eine Botschaft. Man ersieht daraus, daß der Mythos kein Objekt, kein Begriff und keine Idee sein kann; er ist eine Weise des Bedeutens, eine Form.“ DERS., 2010, S. 251). 80 Vgl. BARTHES, 1957, S. 228.

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Autorinnen und Autoren Verónica Abrego wurde mit der Arbeit „Repression und Widerstand in Argentinien. Intersektionalität und Geschlecht/Gender in den Diskursen der politisch-historischen und literarischen Aufarbeitung“ am FB 06 der Universität Mainz in Germersheim promoviert. Die gebürtige Argentinierin und DiplomÜbersetzerin für Deutsch, Englisch und Portugiesisch arbeitete als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Germersheim und bildet derzeit ÜbersetzerInnen im Fach Spanisch an der Universität Saarbrücken aus. Ihre aktuellen Forschungsinteressen liegen in der Untersuchung der Prozesse kultureller Übersetzung im Rahmen der Migrationen in den spanischen und portugiesischen Sprachräumen, in der Erkundung der kulturellen Manifestationen der Globalisierung in Literatur, Medien und den Künsten sowie in der Dekolonisierung des Denkens. Kontakt: [email protected] Moritz Baßler ist Professor für Neuere deutsche Literatur an der Universität Münster. Er forscht als überzeugter Textualist zu literarischen Verfahren vom Realismus bis heute, weitere Schwerpunkte sind Literaturtheorie (Kulturpoetik) und Pop. Kontakt: [email protected] Julia Brühne ist Lehrbeauftragte am Romanischen Seminar der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo sie derzeit eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl von Professor Stephan Leopold vertritt. 2014 wurde sie mit der Arbeit „¡Bienvenido neorrealismo! Politik, Subjekt und Libido im spanischen Nachkriegskino“ promoviert. Kontakt: [email protected]

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Geschichtstransformationen

Filippo Carlà ist Lecturer für Ancient History and Classics an der University of Exeter, UK. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte sowie in der Kultur- und Mentalitätsgeschichte der Antike und in der Antikenrezeption in der modernen Populärkultur und in modernen politischen Diskursen. Kontakt: [email protected] Michel De Dobbeleer ist Slawist, Italienist und Klassizist und unterrichtet als PostDoc Zentraleuropäische Literatur und Kirchenslawisch an der Universität Gent, Belgien. Seine Publikationen konzentrieren sich auf Narrativität und Chronotopoi in (russischer) Epik und Geschichts(schreibung), oftmals mit einem Fokus auf historische Stadtbelagerungen. Seine aktuellen Forschungsinteressen sind u. a. Comicforschung, die Rezeption niederländischer Literatur in Osteuropa sowie Kanonisierungsprozesse in der Literaturgeschichte. Kontakt: [email protected] Isabella Ferron ist Lehrbeauftragte am juristischen Institut der Universität zu Padua. Sie studierte Germanistik, Anglistik und Philosophie an den Universitäten Venedig, Tübingen und München. Ihre Forschungsinteressen liegen besonders im Bereich der deutschsprachigen Literatur des 18. und des 19. Jahrhunderts, mit Schwerpunkten auf dem Verhältnis von Literatur, Kunst und Philosophie. Derzeitige Forschungen befassen sich mit dem Thema der Geschichtsschreibung in der deutschsprachigen Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts. Kontakt: [email protected] Florian Freitag ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Arbeitsbereich Amerikanistik am Fachbereich Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Seine Forschungsinteressen liegen besonders im Bereich der amerikanischen Populärkultur des 19. und 20. Jahrhunderts. Derzeit befasst er sich insbesondere mit illustrierten Zeitschriften aus dem späten 19. Jahrhundert und mit Disneyland. Kontakt: [email protected] Sabrina Geilert ist Leiterin eines Familienunternehmens in Hagen. Ihre Magisterarbeit schrieb sie am Institut für Neuere deutsche Literatur der Universität Tübingen zum Thema „Reinheit – Poetisierungen eines kulturellen Paradigmas in Lessings Emilia Galotti, Th. Fontanes Frau Jenny Treibel und Han-

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Autorinnen und Autoren

ekes Das weiße Band“. Forschungsinteressen sind Literaturtheorie, Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts, Film- und Kulturtheorie. Kontakt: [email protected] Sonja Georgi ist Akademische Rätin im Department of English and Linguistics der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie lehrt und forscht im Bereich American Studies und habilitiert zum Thema „Black-Native Encounters in American Literature and Culture“. Forschungsinteressen sind Ethnic Studies, African American Literature und Science Fiction. Kontakt: [email protected] Sarah Gröning ist Promotionsstudentin an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf und promoviert in romanistischer Literaturwissenschaft zum Thema „Formen literarischer Geschichtsschreibung im französischen Roman in der Karibik“. Ihre Forschungsinteressen liegen insbesondere im Bereich der frankophonen Literaturen, dem historischen Roman sowie der Schnittstelle zwischen Narratologie und Geschichtstheorie. Kontakt: [email protected] Jacqueline Hylkema hat eine Forschungsstelle am Centre for the Arts in Society an der Universität Leiden, Niederlande, inne. Ihr Promotionsprojekt beschäftigt sich mit der Rhetorik von Illusion: „Überzeugung und Reaktion in Fälschung, Kunst und anderen Täuschungen (1600-1750)“. Sie ist spezialisiert auf die Kultur- und Ideengeschichte Englands und der Niederlande in der Frühen Neuzeit. Ihre Forschungsinteressen umfassen Rhetorik (visuell und textuell), die Bildenden Künste, Kunsttheorie und Geschichtsschreibung. Kontakt: [email protected] Julia Ilgner promoviert über Gattungstransformation im Historischen Renaissanceroman an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsaufenthalte am KHI Florenz und am DLA Marbach. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der Narratologie, Gattungstheorie und Rezeptionsforschung. Kontakt: [email protected] Nikolas Immer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Germanistischen Literaturwissenschaft der Universität Trier. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der literarischen Anthropologie, der Heroismusforschung, der mo-

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Geschichtstransformationen

dernen Erzählpoetik sowie der Editionsphilologie. Derzeit arbeitet er an seinem Habilitationsprojekt zur Erinnerungslyrik des 19. Jahrhunderts. Kontakt: [email protected] Andrea Jäger ist Professorin für Neuere und neueste deutsche Literatur in der Philosophischen Fakultät II der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Ihre Forschungsinteressen liegen auf dem Gebiet der Literatur vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart mit Schwerpunkten auf dem Verhältnis von Literatur und Gesellschaft sowie der Realismusforschung. Derzeit befasst sie sich insbesondere mit kulturellen und mentalen Transformationsprozessen nach gesellschaftlichen Umbrüchen. Kontakt: [email protected] Anu Korhonen ist Lecturer für Landes- und Kulturwissenschaft Europas am Department für Kulturen der Welt an der Universität Helsinki, Finnland. Ihre Forschungsinteressen sind u. a. Kultur- und Geschlechtergeschichte im England der Frühen Neuzeit sowie Kultur- und Geschichtstheorie. Sie hat über körperliche Schönheit, Humor und Populärkultur in der Frühen Neuzeit publiziert sowie über Theorien der Kulturgeschichte. Kontakt: [email protected] Isabell Lammel ist Diplom-Übersetzerin und Promotionsstudentin am FTSK Germersheim der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie promoviert im Bereich Romanistik/Französisch zum Thema „Die Transformation des Toussaint Louverture-Mythos in der französischen Literatur: Vom grausamen Afrikaner zum Vollender der Französischen Revolution“ und arbeitet als freiberufliche Übersetzerin u. a. für das französische Außenministerium. Ihre Forschungsinteressen liegen im Bereich der französischen und frankophonen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie beschäftigt sich insbesondere mit der Funktionalisierung und Transformation von Mythen und Symbolen. Kontakt: [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Aino Mäkikalli ist Lecturer in Literaturwissenschaften an der Universität Tampere, Finnland. Ihre Forschungsinteressen umfassen Zeitkonzepte in literarischen Verarbeitungen, den Aufstieg der Novelle, englische Literatur des 17. und 18. Jahrhunderts sowie die Schnittstellen zwischen Historiografie und Fiktion. Kontakt: [email protected] Christopher Meid ist Feodor Lynen-Stipendiat am Queen’s College (University of Oxford). Seine Forschungsinteressen liegen besonders in der Literatur der Aufklärung und der Klassischen Moderne. Das aktuelle Forschungsprojekt (Habilitation) befasst sich mit dem Verhältnis von Roman und politischer Theorie im 18. Jahrhundert. Kontakt: [email protected] Martin Modlinger ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für kulturwissenschaftliche Deutschlandstudien der Universität Bremen. Seine Forschungsinteressen liegen in der Geschichte und Literatur der Shoah, in deutsch- und englischsprachiger Gegenwartsliteratur, Literaturanthropologie sowie Ethik der Literatur und Literaturtheorie. Derzeit befasst er sich mit den Auswirkungen von Globalisierung und Kosmopolitisierung auf Erinnerungskulturen. Kontakt: [email protected] Kerstin Maria Pahl ist Doktorandin und Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes. Sie promoviert in einem Doppeldoktorat am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität, Berlin und dem English Department des King’s College zum Verhältnis von englischer Porträtmalerei und Biografieschreibung im 17. und 18. Jahrhundert. Ihr Forschungsinteresse ist die englische Kunst, die europäische Kunsttheorie sowie der interdisziplinäre und internationale Kulturtransfer, insbesondere im transatlantischen Kontext, der frühen Neuzeit. Kontakt: [email protected] Susanne Rau ist Professorin für Geschichte und Kulturen der Räume in der Neuzeit an der Universität Erfurt, dort u. a. Mitglied des Direktoriums des Forschungszentrums Gotha sowie assoziiertes Mitglied des CIHAM-UMR 5648 in Frankreich. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen

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Geschichtstransformationen

historische Raumkonzepte und raumzeitliche Praktiken, Stadtgeschichte und Geschichte der Geschichtsschreibung. Kontakt: [email protected] Eugenia Russell ist Lecturer für Geschichte an der St. Marys Universität in Twickenham, UK. Sie ist Autorin mehrerer Werke über die Literatur und Kultur Thessalonikis in byzantinischer Zeit sowie Herausgeberin von Spirituality in Late Byzantium. Kontakt: [email protected] Cathleen Sarti promoviert in Geschichte der Frühen Neuzeit über Absetzungen von Monarchen in Skandinavien, England und Schottland an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Ihre Forschung konzentriert sich auf Fragen der politischen Kultur im nördlichen Europa sowie auf Theorien und Methoden der Geschichtswissenschaft. Kontakt: [email protected] Albert Schirrmeister hat derzeit ein Senior Research-Fellowship M4HUMAN (Gerda-Henkel-Stiftung) an der EHESS Paris inne. Nach Forschungsstipendien an der Maison des Sciences de l’Homme in Paris und am MPIWG in Berlin war er von 2005 bis Ende 2012 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Humboldt-Universität Berlin am SFB 644 Transformationen der Antike in einem Projekt zur humanistischen Historiografie (seither kooptiert). Seine Forschungsinteressen konzentrieren sich auf eine Kultur- und Wissenschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Aktuelle Forschungsprojekte sind „Traum und Wissen in der Frühen Neuzeit“ und „Vor dem Krieg: Erwartungshaltung und Erwartungshandeln“. Kontakt: [email protected] Cornelia Sieber ist Professorin für Spanische und Portugiesische Kulturwissenschaft unter Berücksichtigung der Lateinamerikanistik am Fachbereich für Translations-, Sprach- und Kulturwissenschaft der Johannes GutenbergUniversität Mainz in Germersheim. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Migration, Transkulturalität, Inter- und Transmedialität sowie die Untersuchung des iberischen und iberoamerikanischen Raums aus postkolonialer und genderwissenschaftlicher Perspektive. Kontakt: [email protected]

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Autorinnen und Autoren

Christian Sternad ist Postdoctoral Research Fellow am Husserl-Archiv der KU Leuven, Belgien. Seine Forschungsinteressen liegen im Bereich der klassischen Phänomenologie sowie deren Kritik und Weiterentwicklungen innerhalb des (Post-)Strukturalismus, der (Post-)Moderne sowie der Dekonstruktion. Abseits der Philosophie beschäftigt er sich vor allem mit Themen und Problemen der Geschichts- und Literaturtheorie, insbesondere mit dem Verhältnis zwischen Geschichtswissenschaft und Literatur. Im derzeit aktuellen ERCProjekt „The Great War and Modern Philosophy“ (GRAPH) beschäftigt er sich v. a. mit den sprachphilosophischen Auswirkungen des Ersten Weltkrieges auf die Philosophie des 20./21. Jahrhunderts. Kontakt: [email protected] Fiona Suslak hat vor Kurzem ihre Dissertation, eine vergleichende Studie zu französischen und deutschen Versionen des Tristan-Epos, an der Universität Edinburgh, UK, abgeschlossen. In ihrer Forschung beschäftigt sie sich mit der Beziehung zwischen französischer und deutscher Literatur im 12. und 13. Jahrhundert, den Vorstellungen von Fiktionalität zu dieser Zeit und der Entstehung volkssprachlicher Romanzen. Kontakt: [email protected] Juliane Voorgang promoviert an der Universität Tübingen am Institut für Neuere deutsche Literatur zum Thema „‚Als dürfte nur jener und nicht dieser Toten gedacht werden‘ – Narrative Repräsentationen eines deutschen Opferdiskurses im literarischen Feld“. Forschungsinteressen sind insbesondere die Literatur des 20. und 21. Jahrhunderts sowie Film- und Kulturwissenschaften. Kontakt: [email protected] Eva Wiegmann-Schubert ist AFR und Marie Curie Actions PostdocStipendiatin an der Universität Luxemburg. Dort arbeitet sie an dem Forschungsprojekt „Repräsentationen des Fremden in der deutschsprachigen Kulturkritik um 1900“ und an ihrer Habilitation über Diachrone Interkulturalität. Ihre Forschungsinteressen sind darüber hinaus ästhetische Innovation im Kontext von Epochenschwellen (schwerpunktmäßig Romantik und literarische Moderne), Ecocriticism, Kulturelles Gedächtnis, Postkoloniale Studien, Literatur der Schweiz und Schreiben nach Auschwitz. Kontakt: [email protected]

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Geschichtstransformationen

Christine Waldschmidt ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Bereich Neuere deutsche Literaturwissenschaft am Deutschen Institut der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Sie promovierte 2010 mit einer Arbeit zum Thema „‚Dunkles zu sagen‘: Deutschsprachige hermetische Lyrik im 20. Jahrhundert“. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Lyrik im 20. Jahrhundert, Sprachkritik, Erzählen in theoretischen Kontexten. Kontakt: [email protected]

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Auswahlbibliografie Die im Folgenden versammelten bibliografischen Hinweise stellen eine konzentrierte Auswahl an Forschungspositionen dar, welche die Autorinnen und Autoren des Bandes als besonders relevant im Hinblick auf eine transdisziplinäre Beschäftigung mit dem Phänomen ‚Geschichtstransformation(en)‘ eingestuft haben. Ein Anspruch auf Vollständigkeit liegt der Zusammenstellung fern; vielmehr möchte sie orientierend aufzeigen, in welchen theoretischen Kontexten sich die Beiträge bewegen, und zu einer weiterführenden Beschäftigung mit dem Thema anregen. Zitiert wurde jeweils die Erstausgabe des Originaltextes. ASSMANN, ALEIDA, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999. ASSMANN, JAN, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992. BASSLER, MORITZ u. a., Historismus und literarische Moderne, Tübingen 1996. DERS. (Hg.), New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur, Frankfurt a. M. 1996. BAUDRILLARD, JEAN, Simulacres et simulation, Paris 1981. BERGEMANN, LUTZ u. a. (Hg.), Tranformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, in: Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, hg. von HARTMUT BÖHME u. a., München/Paderborn 2011, S. 39-56. BIEGER, LAURA, Ästhetik der Immersion. Raum-Erleben zwischen Welt und Bild. Las Vegas, Washington und die White City, Bielefeld 2007. BÖHME, HARTMUT u. a. (Hg.), Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels, München/Paderborn 2011.

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Alina Bothe, Dominik Schuh (Hg.) Geschlecht in der Geschichte Integriert oder separiert? Gender als historische Forschungskategorie 2014, 268 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2567-7

Jutta Ernst, Florian Freitag (Hg.) Transkulturelle Dynamiken Aktanten – Prozesse – Theorien 2014, 376 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,99 €, ISBN 978-3-8376-2563-9

Ute Frietsch, Jörg Rogge (Hg.) Über die Praxis des kulturwissenschaftlichen Arbeitens Ein Handwörterbuch 2013, 520 Seiten, Hardcover, 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2248-5

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Carsten Jakobi, Christine Waldschmidt (Hg.) Witz und Wirklichkeit Komik als Form ästhetischer Weltaneignung April 2015, ca. 570 Seiten, kart., ca. 52,99 €, ISBN 978-3-8376-2814-2

Karen Joisten (Hg.) Räume des Wissens Grundpositionen in der Geschichte der Philosophie 2010, 236 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1442-8

Jan Kusber, Mechthild Dreyer, Jörg Rogge, Andreas Hütig (Hg.) Historische Kulturwissenschaften Positionen, Praktiken und Perspektiven 2010, 386 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1441-1

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Mainzer Historische Kulturwissenschaften Anna Ananieva, Alexander Bauer, Daniel Leis, Bettina Morlang-Schardon, Kristina Steyer (Hg.) Räume der Macht Metamorphosen von Stadt und Garten im Europa der Frühen Neuzeit 2013, 406 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2221-8

Ulrich Breuer, Bernhard Spies (Hg.) Textprofile stilistisch Beiträge zur literarischen Evolution 2011, 420 Seiten, kart., zahlr. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1902-7

Matthias Däumer Stimme im Raum und Bühne im Kopf Über das performative Potenzial der höfischen Artusromane 2012, 570 Seiten, kart., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-2137-2

Matthias Däumer, Annette Gerok-Reiter, Friedemann Kreuder (Hg.) Unorte Spielarten einer verlorenen Verortung. Kulturwissenschaftliche Perspektiven (unter Mitarbeit von Simone Leidinger und Sarah Wendel) 2010, 382 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1406-0

Alexander Dingeldein, Matthias Emrich (Hg.) Texte und Tabu Zur Kultur von Verbot und Übertretung von der Spätantike bis zur Gegenwart Juni 2015, ca. 280 Seiten, kart., ca. 33,99 €, ISBN 978-3-8376-2670-4

Andreas Frings, Andreas Linsenmann, Sascha Weber (Hg.) Vergangenheiten auf der Spur Indexikalische Semiotik in den historischen Kulturwissenschaften 2012, 282 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-2150-1

Ursula Kramer (Hg.) Theater mit Musik 400 Jahre Schauspielmusik im europäischen Theater. Bedingungen – Strategien – Wahrnehmungen 2014, 466 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb. , 44,99 €, ISBN 978-3-8376-2432-8

Achim Landwehr (Hg.) Frühe Neue Zeiten Zeitwissen zwischen Reformation und Revolution 2012, 412 Seiten, kart., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2164-8

Ricarda Matheus, Elisabeth Oy-Marra, Klaus Pietschmann (Hg.) Barocke Bekehrungen Konversionsszenarien im Rom der Frühen Neuzeit 2013, 342 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1771-9

Erika Meyer-Dietrich (Hg.) Laut und Leise Der Gebrauch von Stimme und Klang in historischen Kulturen 2011, 220 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1881-5

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