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German Pages 260 Year 2014
Christina L. Steinmann Medien und psychische Prozesse
Edition Medienwissenschaft
Christina L. Steinmann (Dr. phil.) promovierte im Fach Medienwissenschaften am DFG-Graduiertenkolleg »Automatismen« an der Universität Paderborn. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Medientheorie, Mediengeschichte und Psychoanalyse.
Christina L. Steinmann
Medien und psychische Prozesse Wie sich Traumata und Wünsche in Medien ausdrücken und deren Entwicklung antreiben
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2013 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
I.
VorwortŇ7
II. Einleitendes: Zum Hintergrund des Themas und der FragestellungŇ9 1. 2.
Was treibt die Entwicklung von Medien(techniken) an?Ň9 ‚Symptomatic Technology‘ – zum medienwissenschaftlichen Umfeld dieser IdeeŇ12
III. Fallbeispiele zu Wünschen und MedienŇ19 1.
Die ApparatustheorienŇ19 a) Debatte und Aussagen – Überblick, Ausblick und Anknüpfpunkte b) Reflexion der methodischen Herangehensweise
2.
Wilhelm Buschs Wunschtraum von der virtuellen WeltŇ42 a) Der Traum als Wunsch b) Welt der Ideen c) Welt der Zahlen d) Körperformierung e) Reduktion und Codierung f) Zugang und Interaktivität g) Ausblick Übergang
IV. Fallbeispiele zu Traumata und MedienŇ87 1.
Das Trauma – eine BegriffsklärungŇ87 a) Was bedeutet ein Trauma für das Individuum? b) Traumata in der psychoanalytischen und psychologischen Theorie
c)
Kollektiv(ierend)e Traumata – Konzeptvorstellung und Diskussion
2.
Strukturanalogien und Schnittmengen von Traumata und MedienŇ103
3.
Der Comic als Darstellungsmedium von TraumataŇ113 a) Comic und Traumata? b) Strukturelles. Zur besonderen Eignung des Mediums c) Comic und Kriegstraumata d) Soundwords e) Resümee: Der Comic als Abarbeitungsmechanismus eines Traumas
4.
Super Flat – Manga und Trauma in JapanŇ157 a) Japanische Traumata b) Takashi Murakamis ‚Super Flat Manifesto’
5.
Die Nervosität als Motor der telegrafischen EntwicklungenŇ177 a) Die Nervosität im Diskurs b) Von inneren Nerven zu äußeren Netzen c) Nervenstörungen als Trauma und die Produktivkraft psychischer Prozesse d) Der Prozess der Auslagerung e) Von äußeren Netzen zu unsichtbaren Übertragungen f) Fazit
V.
Fazit und AusblickŇ231
VerzeichnisseŇ241 Abbildungsverzeichnis Filmverzeichnis Literaturverzeichnis DanksagungŇ259
I. Vorwort
Was treibt die Medienentwicklung an? Wie und warum prägen sich neue Medienformen aus? Ausgehend von der viel diskutierten Frage, wie Medien in die Welt gelangen und wie sie sich generieren, wird im Folgenden die Idee dargelegt, dass Medien als Symptom psychischer Phänomene erfasst werden können. Starke psychische Bedürfnisse oder Einschnitte sind demnach nicht nur persönlichkeits- oder gesellschaftsbildend, sondern darüberhinaus können sie möglicherweise auch Medienprodukte strukturell ausprägen. Die Autorin schlägt vor, dass sich Traumata und Wünsche in Medien einschreiben und deren Entwicklung beeinflussen. Medien werden als Ausdruck, Symptom und Auslagerungsort psychischer Prozesse erfasst. Anhand von Fallbeispielen wird diese Auffassung vorgeführt und verschiedene Medientypen auf psychische Einschreibungen hin analysiert. Dafür werden medienwissenschaftliche und psychoanalytische Theorien auf neuartige Weise verbunden. So zeigt das vorliegende Buch, wie sich psychische Prozesse auch in die Technik der Medien hinein verlängern und diese formen können. Die Analyse soll die Frage beantworten, ob Traumata und Wünsche in Medien eingebettet sind. Dieser Ansatz ist vor allem bezüglich des Traumas neu.
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Die zentralen Fragen dabei lauten: Welche nichttechnische Vorgeschichte haben Medien und sind sie als Ausdruck dieser zu erfassen? Wie unbewusst, dezentral oder bewusst steuerbar verlaufen diese Prozesse? Medien werden dabei verstanden als phasenweise festgeschriebene (symbolisch-materielle) Formen, die im Anschluss an Harold Innis „speichern und übertragen“ können. Im Speziellen werden das Internet als ein Ausdruck von Wünschen sowie das Medium Comic und die Telegrafie als Ausdruck von Traumata befragt. Die vorliegende Untersuchung soll die Frage klären, ob die genannten psychischen Phänomene sich in Medien ausdrücken und als Antrieb der Entwicklung von Medien beschrieben werden können.
II. Einleitendes: Zum Hintergrund des Themas und der Fragestellung
II. 1. Was treibt die Entwicklung von Medien(techniken) an?
Eine zentrale Stellung innerhalb der aktuellen Medienwissenschaften nimmt die Frage nach der Entstehung medialer Techniken ein: Wie und weshalb haben sich einzelne Medien entwickelt? Auch andere Disziplinen fragen nach der Herkunft ihrer ebenfalls künstlich geschaffenen Untersuchungsgegenstände: Die Archäologie beispielsweise stößt bei ihren Ausgrabungen auf von Menschenhand geschaffene Artefakte, deren Entstehungszusammenhang sie anschließend erforscht. Häufig können die Antworten hier nach dem Prinzip ‚Problem und Lösung‘ rekonstruiert werden: So erklärt sich der Faustkeil noch relativ eindeutig als technisches Werkzeug, das als handwerkliche Verstärkung zum Schlagen, Schneiden, Hacken, Schaben und Knacken benutzt wurde. Weil diese Funktionen im Alltag äußerst zweckmäßig und hilfreich waren, hat sich das Steingerät entsprechend verbreitet. Auch die späteren anthropologischen Technikentwicklungen wie das Stricken oder das Weben lassen sich recht eindeutig nachvollziehen.1 Sie haben Beklei-
1
In dieser Beschreibung wird zudem deutlich, dass Techniken nie gänzlich als reine Apparaturen erfasst werden können – es gehört stets auch ein (Kör-
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dung oder Gewebe, wie beispielsweise Teppiche hervorgebracht. Ihre Entwicklungen hatten also eine klare Kausalität. In der Medienwissenschaft dagegen gestalten sich die Antworten schwieriger. Bei ihren Gegenständen (wie beispielsweise dem Internet) handelt es sich zwar vielfach auch um technische Apparate, diese lassen sich aber nicht einfach als Werkzeuge erklären. Ohne eine pauschale Einteilung vorzunehmen ist bei den älteren Medien(techniken) meist noch ein direkterer oder naheliegender Nutzen zu erkennen: So dient die Schrift beispielsweise der Speicherung und Übertragung von Informationen. Aber insbesondere den neueren Medien ist zu eigen, dass sich der Grund ihrer Existenz oder ihre Bedeutung für den Menschen nicht länger augenscheinlich, beispielsweise an ihrem äußeren Erscheinungsbild ablesen lässt. Welchen Nutzen hat beispielsweise das Kino? Weshalb wurden der Walkman oder der Game Boy erfunden? Wieso gibt es die Telegrafie oder den Comic? Es stellt sich also die Frage, was die Entwicklung von Medien(techniken) antreibt. Dieses Ausgangsinteresse lässt wiederum viele Denkansätze und Fragerichtungen zu: Wird die Entwicklung von einzelnen genialen Erfinder(innen) angestoßen oder durch kollektive Gesellschaftsprozesse gesteuert? Sind möglicherweise göttliche Fügungen im Spiel? Bringen Kriege und Revolutionen Medientechniken hervor? Entstehen sie in Abgrenzung oder Erweiterung zu bereits existierenden Medien? Entwickeln sich Medientechniken quasi unkontrolliert selbstständig oder sind sie Ausdruck gesellschaftlicher Bedürfnisse? Werden
per)Wissen dazu, das ihre Anwendung und Nutzung ‚speichert‘. Das bloße Vorhandensein von Gerät und Material reicht zum Weben oder Stricken noch nicht aus. Insofern sind auch Medien immer technisch, im Sinne eines weiten Technikbegriffs, der praktische Techniken mit einbezieht.
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bestimmte Medienformen von Subjekten verlangt und sind die Beweggründe somit außertechnisch zu suchen? Lange Zeit wurde Mediengeschichte als historische Abfolge einzelner Medien beziehungsweise als Entwicklungsabfolge von Medieninhalten oder -techniken geschrieben. Vor allem waren es schlichte chronologische Erfindergeschichten. Inzwischen gibt es zunehmend komplexere Beschreibungen, welche die zeitgeschichtlichen Hintergründe reflektieren, spezifische Dynamiken sowie technisch-materielle Möglichkeiten erfassen und unterschiedliche Akteure in die Modelle einbinden. Die Medienwissenschaften untersuchen mittlerweile vor allem kulturelle und gesellschaftliche Aspekte der Medienentwicklung. Damit hat sich die Herangehensweise an die Ausgangsfrage nach dem Antrieb der Medienentwicklungen grundlegend verändert. Vor allem die Erkenntnis, dass sich Medien in der Geschichte sprunghaft entwickelt haben, warf die Frage auf, warum sich Konstellationen mitunter schlagartig und plötzlich verändern. Reaktionsketten werden interessant. Phasen von Kontinuität und Wandel bedürfen der Erklärung. Was treibt diesen diskontinuierlichen Verlauf an? Wodurch sind Stabilität und Wandel von Medientechniken bedingt? Warum existieren einige Medien parallel, während andere sich gegenseitig verdrängen? Was treibt diese Umbrüche und Umstrukturierungen an, haben sie ein konkretes Ziel? Um die verschiedenen Fragestellungen zu bearbeiten, können wiederum unterschiedliche Methoden und Schwerpunkte gewählt werden. Für die Entscheidung, welche Methoden und welche Untersuchungsgegenstände in diesem Zusammenhang die passenden sind, habe ich folgende Fragen gestellt: Welche Theorien und Modelle können diese dynamischen Geschehnisse in der Medienentwicklung erfassen? Woran lassen sich diese Dynamiken erkennen, ablesen und beschreiben? Diese Über-
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legungen führten zu der Entscheidung mithilfe von Psychoanalyse die Entwicklung bestimmter Medien(techniken) zu erklären. Im Weiteren werde ich diese Wahl ausführlich explizieren und begründen.
II. 2. ‚Symptomatic Technology‘ – zum medienwissenschaftlichen Umfeld dieser Idee
Raymond Williams schlägt 1972 zwei Methoden vor, um die Hintergründe medialer Techniken zu beleuchten. In einer Studie2 zum Fernsehen formuliert er Fragerichtungen, mit denen Medien auf ihren Entwicklungszusammenhang hin untersucht werden können. Williams unterteilt dabei zwei grundsätzliche Ansätze, um ‚Wirkungstendenzen‘ aufzuspüren. Dazu befragt er Techniken wie das Fernsehen danach, ob sie Resultat oder Auslöser gesellschaftlicher Prozesse sind. Williams bezeichnet die beiden Untersuchungsansätze als „technological determinism“ und als „symptomatic technology“. Demnach ließe sich entweder bei der Frage ansetzen, ob mediale Techniken die Gesellschaft determinieren – oder aber es wird der Idee nachgegangen, dass gesellschaftliche Bedürfnisse die Entwicklung von Medientechniken beeinflussen. Williams selbst plädiert dabei nicht für den Technikdeterminismus, sondern eher für eine Symptomanalyse von Technik. Da sich die letztere Herangehensweise kaum in den Diskursen wiederfindet, besteht sein Anliegen darin, deren Relevanz zu stärken und ins Bewusstsein zu rücken.
2
Raymond Williams: Television: Technology and Cultural Form. London 1972. Der hier von mir hervorgehobene Aspekt ist als Artikel, eine Auskoppelung aus dem genannten Buch, erschienen: Raymond Williams: The Technology and the Society. In: Wesleyan University Press, 1992, S. 3 – 25.
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Williams kritisiert zunächst, dass überwiegend die Effekte von Technik auf Gesellschaft in den Fokus wissenschaftlicher Beschreibungen gerückt würden. Die Debatten der 1960er und beginnenden 70er Jahre, die er hiermit erfasst, seien geprägt von dem Ansatz, dass Medien die Gesellschaft determinieren. Technische Innovationen würden soziale Anpassung und Wandel einfordern. So könne sich Technik alternativlos und unabhängig von Gesellschaft eigendynamisch entwickeln. Aus dieser Vermutung erwächst der kritische Vorwurf, dass Sozialität von Medientechnik geformt würde. Die Fragerichtung des technological determinism findet nach wie vor ihre Vertreter(innen). Diese verstehen Entwicklungsverläufe so, dass aus vorhandenen Techniken neue Techniken entspringen. In seiner Extremform geht es dem Technikdeterminismus darum, Medien als Gussform für Subjekte zu beschreiben, sie ‚bestimmen die Lage‘, die Wahrnehmung und Gesamtsituation der Gesellschaft. Demnach würde ein medientechnisches Apriori soziokultureller Prozesse existieren. Technik wäre somit der Ausgangspunkt von Sozialem und würde sich autonom und emergent entwickeln. In einer abgeschwächten Form geht es dem technological determinism um eine Technikfolgenabschätzung. Raymond Williams jedoch fragt nun nach Einschreibungen in den Medien. Ihn interessiert die diffizilere Frage, ob soziale, kulturelle oder psychische Akte zur Herausbildung von Medien führen. Die Fragerichtung wird also umgekehrt: Ausgehend von existierenden Medien wird rückgefragt, was diese kausal entstehen ließ. Mediale Techniken könnten demnach als symptomatic technology, als direktes Symptom sozialer Bedürfnisse, Ziele oder Praxen analysiert werden. Dieses setzt eine gesellschaftliche Mitwirkung an technischen Entwicklungen voraus, um massenhafte Bedürfnisse zu realisieren. Williams vermutet also eine operative Beziehung zwischen Gesellschaft und Medientechnik.
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Was bedeutet dieses? Ein Medium würde nicht nur entstehen, weil seine Umsetzung technisch möglich ist, sondern weil sein Erscheinen gesellschaftlich gefordert wird. „Technik wird begriffen nicht als Ausgangspunkt sondern als Resultat, und zwar notwendig außertechnischer Prozesse; die vorfindliche Struktur einer Technik wird zurückgeführt auf die Praxen, die sie hervorgebracht haben; und diese Praxen werden gerade nicht einzelnen Erfindern zugeschrieben, sondern einem größeren gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß“3. Technik ist demnach also das Resultat von Praxen, die sich im Material niedergeschlagen haben. Bezogen auf psychische Befindlichkeiten – wie ich es hier vorschlagen möchte – ist zu überprüfen, ob das Material somit Träger oder Repräsentant eines ‚Technisch-Unbewussten‘ wäre, das dem Medium wie ein Code innewohnt. Das Subjekt rückt damit in das Zentrum. Der Grundgedanke der ‚symptomatic technology‘ lässt sich deshalb auch als eine „anthropologische“ Ausrichtung bezeichnen. Diese hatte Vorläufer, wie Marshall McLuhans Schrift4 zur „Verlängerung“ des Menschen hinein in Technik, aber auch Aktualisierungen. So rekonstruiert Hartmut Winkler in seinem 1997 erschienenen Buch Docuverse5 Wünsche, die sich auf die Begrenzung der Arbitrarität von Zeichen beziehen und relevant für die Ausgestaltung des Internets sind. Auch die feministischen Medienkritiken sind in einem sozialen Determinismus zu kategorisieren. Die Leitbildforschung ordne ich ebenfalls in diesen Bereich ein. Sie bezeichnet eine Methode, bei der Leitbilder definiert werden, die dann als Zielvor-
3
Hartmut Winkler: Die prekäre Rolle der Technik. Technikzentrierte versus 'anthropologische' Mediengeschichtsschreibung. In: Dreizehn Vorträge zur Medienkultur. Weimar 1999, S. 227f.
4
Marshall McLuhan: Understanding Media: the extensions of man. USA 2003. (O.A.: 1964).
5
Hartmut Winkler: Docuverse. Frankfurt am Main 1997.
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gabe für die Technikentwicklung gelten. „Das papierlose Büro“ ist hierfür ein klassisches Beispiel. „Leitbilder […] bündeln die Intuition und das Wissen der Einzelnen sowie das kollektive Bewußtsein darüber, was machbar und was wünschenswert ist.“6 Somit sollen Techniknutzer(innen) und Technikentwickler(innen) durch ein gemeinsames Leitbild, sprich eine Definition ihrer technischen Bedürfnisse und Möglichkeiten verbunden sein. Eine ähnliche Zweiteilung von Denkrichtungen, die technische Entwicklungen greifbar machen sollen, schlägt Rudi Volti mit seinen Modellen „technology push“ und „demand pull“ vor.7 Im ersten Ansatz wird der Ursprung der Technik allein der Technikforschung zugeschrieben, als deren Folge erobert eine technische Entwicklung dann quasi automatisch den Markt. Das zweite Modell des „demand pull“ basiert dagegen auf der Auffassung, dass Technik nur entwickelt wird, wenn es eine Nachfrage gibt, also einen Markt der diese Technik herbeiwünscht. Generell ist anzumerken, dass derlei Unterteilungen und Einordnungen in Kategorien wie „Technikdeterminismus“ und „Analyse von Technik als Symptom“ selbstverständlich Zuschreibungen und Setzungen sind. Um diese zwei Ansätze nicht als antagonistisch zu begreifen, schlägt Hartmut Winkler vor, sie zusammenzudenken.8 Beide seien zyklisch miteinander verbunden. Das Medium fungiere dabei als Drehscheibe
6
Nina Degele: Einführung in die Techniksoziologie. München 2002, S. 47. (Erg. CLS).
7
Vgl.: Rudi Volti: Society and Technological Change, 3rd edition. New York
8
Hartmut Winkler: Das Modell. Diskurse, Aufschreibesysteme, Technik, Monu-
1995. mente – Entwurf für eine Theorie kultureller Kontinuierung. In: Hedwig Pompe, Leander Scholz (Hrsg.): Archivprozesse. Die Kommunikation der Aufbewahrung. Köln 2002, S. 297-315.
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und Vermittler. Gesellschaft drücke sich im Medium aus und als geschaffene Tatsache wirke sich das jeweils neue Medium in seiner Nutzung wiederum auf soziale Praxen aus. Diese periodische Wechselwirkung erscheint plausibel, und auch ich gehe davon aus, dass sich beide Ebenen gegenseitig beeinflussen. Einem schwachen Technikdeterminismus kann ich mich daher anschließen. Die Annahme, dass Techniken eine Wirkung auf soziale Praxen entfalten können, ist in Maßen nachvollziehbar. Zudem ist ersichtlich, dass technische Vorläufer die Entwicklung weiterer Medien bedingen, indem bereits Bekanntes für neue Techniken variiert wird. Mir aber geht es im Folgenden um die aus meiner Sicht spannendere und facettenreichere Frage nach dem Phänomen der Einschreibungen. Meine Vermutung ist, dass sie Bedingung medientechnischer Entwicklung sind. Ich möchte Medien daher nach der Idee einer „symptomatic technology“, also als Symptome psychischer Prozesse lesen. Neu dabei ist mein Ansatz, Medien nicht nur konkret auf einen Ausdruck von Wünschen, sondern vor allem auch auf Traumata hin zu analysieren. Theorien, die unsichtbare Einschreibungen und soziale Strukturen plausibel machen möchten, sind immer der Schwierigkeit ausgesetzt, dass ihre Untersuchungen nur durch eine indirekte und symptomatische Beobachtung zugänglich werden. Vorangegangene Einschreibungen sind unsichtbar.9 Methodisch, materiell und empirisch sind sie deshalb schwerer zu erfassen. So wird es notwendig, Vermutungen an konkreten Beispielen zu illustrieren. Ursachenbeschreibungen sind daher meiner Auffassung nach immer Annäherungen, die anschließend durch eine fundierte Analyse plausibel gemacht werden müssen.
9
Ein vergleichbares Problem hat die Psychoanalyse. Einschreibungen in den psychischen Apparat können Subjekte ganz existenziell formen – aber diese Erkenntnis ist nur über eine Symptomanalyse zu verdeutlichen.
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Die von mir als kausal vermuteten psychischen Prozesse schließen eine lineare Erfindergeschichte aus. Ich möchte die Medienentwicklung daher als einen prozessual dynamischen Mechanismus beschreiben, durch den sich gesellschaftliche Wünsche und Traumata ausdrücken. Medien werden hierbei als Artefakte zu plausibilisieren sein. Meiner Vermutung nach unterliegen sie operativen Akten und befinden sich im ständigen Prozess einer Veränderbarkeit. Bei meiner Idee des Umschlags von Psyche in Medien geht es sowohl um einen Ausdruck als auch einen Entwicklungsantrieb - und darum, wie diese Aspekte zusammengedacht werden können. Erste Ansätze und Vorläufer dieser Idee finden sich in den Apparatustheorien.
III. Fallbeispiele zu Wünschen und Medien
III. 1. Die Apparatustheorien
a) Debatte und Aussagen – Überblick, Ausblick und Anknüpfpunkte In den 1970er Jahren entwickelte sich in Frankreich eine einzigartige Debatte, deren Vertreter ihre Argumente in wissenschaftlichen Filmzeitschriften veröffentlichten. Der Diskurs drehte sich um das Kino – jedoch mit einer Akzentverschiebung in der Fragerichtung. Neu daran war, dass nun die Technik, die Apparatur selbst in den Blick der Analyse gerückt wurde. Die durchweg männlichen prominenten Apparatustheoretiker dieser Zeit waren Marcelin Pleynet, Jean-Louis Baudry und Jean-Louis Comolli. Sie interessierten sich nicht für die filmischen Inhalte, sondern für die Rahmenbedingungen, innerhalb derer Film in Erscheinung trat und sich weiter entwickelte. Der Kinoraum, die Projektion sowie die (perspektivische) Anordnung von Leinwand und Zuschauer wurden unter Aspekten der Ideologie, Illusion und später der Wunschkonstellationen untersucht. Zentraler Aspekt und Kritikpunkt war hierbei die perspektivische Raumkonstruktion des Filmbildes, die tradierten Vorstellungen von realistischer Darstellung folgt. Der Bildaufbau ist stets der der Zentralperspektive, die seit der Renaissance in der Malerei verwendet wurde. Sie ist ein damals wissenschaftlich
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errechneter Code, der für die Betrachter(innen) wie eine realistische Darstellung wirken soll. So ist „der gesamte Bildraum für die Betrachtung und auf den Betrachter hin konstruiert“.1 Die Position des Zuschauers oder der Zuschauerin wird durch diese Subjektzentriertheit überhöht. Es wirkt schmeichelnd, als sei das Bild exklusiv nur für ihn/sie gefilmt und dargeboten. Die Zentralperspektive ist auch eine Zuweisung der Zuschauerposition, da das Bild immer aus einer vorgegebenen Sicht, einer vorgezeichneten Perspektive gesehen werden muss. Technische Bilder haben die zentralperspektivische Darstellung der Renaissance übernommen. Auf Fotos, im Kino und im Fernsehen werden automatisch und unhinterfragt zentralperspektivische Bilder produziert. Aus dem sozialen Raum wurde etwas in die Technik abgelegt und dort festgeschrieben. Deshalb ist sie weder neutral noch objektiv. Die Malerei nutzt hingegen ihre Möglichkeiten und zeigt sich in je modernen Variationen. Die interdisziplinären Beiträge zu diesem Ansatz sind verschiedentlich bezeichnet worden, insbesondere findet sich häufig der Oberbegriff ‚Apparatusdebatte‘. Ich wähle hier bewusst die Bezeichnung ‚Apparatustheorien‘ – zum einen im Plural, wegen der vielschichtigen Schwerpunkte und Argumente, zum anderen, um durch die Endung ‚Theorien‘ die Relevanz der Beiträge für die Wissenschaft anzuerkennen. Im Folgenden geht es mir um einen Einblick in die Debatte. Eine detaillierte Beschäftigung mit diesem Diskurs findet sich beispielsweise bei Hartmut Winkler2. Hier sollen lediglich der Ansatz und die Methodik der
1
Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ‚Apparatus‘ – Semantik – ‚Ideology‘. Heidelberg 1992, S. 10.
2
Winkler, Der filmische Raum und der Zuschauer…, a. a. O..
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Apparatustheorien dargestellt werden, an die sich meine weiteren Gedanken anschließen. Initiiert wurde der Diskurs durch ein Interview3 mit Marcelin Pleynet im Jahr 1969. In Anlehnung an den linken Zeitdiskurs kritisiert er darin neben einer steigenden Kapitalisierung des Kinos vor allem die Kinotechnik als eine ‚ideologische‘. „A priori“4 sei in den Bilderproduktionsapparat eine bürgerliche Ideologie eingeschrieben und ein Zeitgeist dort abgelagert. Durch, dass der Filmtechnik ein zentralperspektivischer Code inhärent ist, determiniere sie die Anordnung und das Verhältnis zwischen Zuschauer(in) und Filmbild. „Eine Relaisstation bürgerlicher Ideologie also ist die Kinomaschinerie vor allem deshalb, weil sie einen bestimmten Mechanismus der Raumkonstruktion, den Code der Renaissance-Perspektive festschreibt.“5 Diese Unterwerfung und Formung des Bildes ist bei der späteren und inzwischen alltäglichen Betrachtung technischer Bilder nicht mehr bewusst. Ideologisch ist auch, den Bürger(inne)n im Kino eine einzige ‚richtige‘ Sichtweise oder ‚wahre‘ Perspektive vorzugeben.6 Ob Blickwinkel, Rahmen oder Sitzposition der Betrachter(innen) – alles sei einer bürgerlichen Ideologie folgend in die Apparatur eingeprägt. Demzufolge forderte Pleynet eine Analyse und eine Kritik an der Technik. „Der kinematographische Apparat ist ein ideologischer im ureigensten Sinn, ein Apparat, der bürgerliche Ideolo-
3
Marcelin Pleynet, Jean Thibaudeau: Ökonomisches, Ideologisches, Formales… In: Robert F. Riesinger (Hrsg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte. Münster 2003, S. 11 – 25. (OA.: Frankreich 1969).
4
Ebd., S. 17.
5
Winkler, Der filmische Raum und der Zuschauer…, a. a. O., S. 21.
6
Jean-Louis Comolli wird dieses in einem späteren Beitrag zur Debatte relativieren.
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gie verbreitet, bevor er was auch immer verbreitet. Bevor sie einen Film produziert, produziert die technische Konstruktion der Kamera bürgerliche Ideologie.“7 Ebenfalls in der französischen Filmzeitschrift Cinéthique veröffentlicht Jean-Louis Baudry ein Jahr später seinen Text Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat.8 Auch er versteht die Kamera als Ort der Einschreibung von Gesellschaft. Pleynet folgend appelliert Baudry, die (Kamera)Technik zu befragen und sie ins Zentrum der bewussten Reflexion zu rücken. Er kritisiert die objektive ‚reine‘ Erscheinung der Technik und ihre durch bürgerliche Ideologie zugestandene Neutralität. Diese Annahme verhindere eine eigentlich notwendige kritische Auseinandersetzung mit der filmischen Technik: „Ihre wissenschaftliche Verankerung versichert sie einer Art Neutralität und verhindert, daß sie als Objekte in Frage gestellt werden.“9 Baudry beschreibt das Kino als einen (ideologischen) Akt der Verschleierung des dahinterliegenden Arbeitsprozesses. Von der Transformation des Rohmaterials über die Selektion der Szenen bis hin zur Projektionstechnik, die beispielsweise starre Einzelbilder in kontinuierliche Bewegungsbilder prozessiert – die Zuschauer(innen) sehen letztlich nur ein vorgefiltertes Resultat auf der Leinwand. Das Kino als ein Filterungsprozess und Arbeitsverlauf bliebe verborgen und sei den Zuschauer(innen) deshalb nicht bewusst. Das Kino sei ein ideologischer Effekt, weil es seine Produktionsverhältnisse verschleiere. Wie Pleynet beschreibt Baudry die seit dem
7
Ebd., S. 18.
8
Jean-Louis Baudry: Ideologische Effekte erzeugt vom Basisapparat. In: Robert F. Riesinger (Hrsg.): Der kinematographische Apparat, a. a. O., S. 27 – 39. (OA.: Frankreich 1970).
9
Ebd., S. 27f.
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Zeitalter der Renaissance vorgegebene Zentralperspektive, welche nun auch der Mechanik der Kamera eingepflanzt sei, als eine erzwungene Norm. Sie konstruiere einen ‚Raum‘ in dem Fixpunkte vorbestimmt seien – so positioniere das (Leinwand)Bild das Subjekt an einen „genauen Ort, den es notwendigerweise einnehmen muss.“10 Dem (projizierten) Bild selbst ist somit etwas inhärent, das a priori einen Blickpunkt, einen Betrachtungspunkt festlegt. Der Zuschauer wiederum fühlt sich nach Baudry geschmeichelt durch den suggerierten idealen, teleologisch perfekten Blick. Dieser ist mit einer königlichen Übersicht vergleichbar, letztlich sei diese Position allerdings nur eine Zuweisung der Technik. In einem Rückgriff auf Jacques Lacans psychoanalytische Spiegeltheorie beschreibt Baudry die Kinoleinwand zudem als einen Ort der Wunscherfüllung, wiederum inszeniert für die Betrachter(innen). Lacans Begriff des Spiegelstadiums markiert einen Moment der Ich-Konstitution. Baudry sieht im Kinodispositiv eine Reproduktion dieser formativen Urszene. Die hier angeführte Lacansche Spiegeltheorie werde ich im weiteren Verlauf an einem eigenen Beispiel zu Medium und Wünschen in Kapitel III.2 noch einmal ausführlich aufgreifen. Auch Jean-Louis Baudry beschreibt also das „Kino als Träger und Instrument von Ideologie“11. Ihm geht es ebenfalls nicht um filmische Inhalte, sondern um die gesamte Apparatur. Von der Aufnahme der Kamera bis hin zur Projektionsart wurde demzufolge eine Ideologie eingeschrieben. Dieser ideologische Einschreibungsprozess sei jedoch damit nicht abgeschlossen, sondern wirke auf die Subjekte zurück und in ihnen weiter. So
10
Ebd., S. 30.
11
Ebd., S. 38.
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konstituiere das Kino die Subjekte. Baudry versteht „das Kino als eine Art psychische[n] Substitutionsapparat“12. Jean-Louis Comolli steuert der Debatte 1971 seine Überlegungen mit dem Titel Technique and Ideology: Camera, Perspective, Depth of Field13 bei. Auch Comolli erfasst Technik – so ließe sich folgern – als eine Art Anzeige oder Instrumentarium, an dem gesellschaftliche Visionen, Ideologien und Ideale ablesbar sind. Wie Pleynet und Baudry übt auch er Kritik an der als gegeben erscheinenden Ordnung der kinematographischen Sichtbarmachung. Er möchte diese Annahme durchkreuzen, indem er Einschreibungen theoretisch beschreibt und somit offenlegt. Zentraler Punkt in diesem Beitrag sind Comollis Überlegungen zur Beschreibung der Zentralperspektive und ihrem Bezug zum Subjekt, sowie die bildlichen Illusionen, die im Kinoraum erscheinen. So wird „der Kinoapparat als Transformationsmaschine zur Organisation psychischer Dispositionen und Blickstrukturen verstanden.“14 Zudem warnt Comolli davor, die Kamera in das Zentrum des apparatustheoretischen Interesses zu rücken. So würde die Theorie dasselbe vollziehen, was das (ideologisch geprägte) Kino bereits vorgemacht hat. Diesen Aspekt betont er in seinem späteren Beitrag abermals und weist darauf hin, dass die Theorie nicht der „Ideologie des Sichtbaren“15 verfallen darf,
12 13
Ebd., S. 39. (Erg. CLS). Jean-Louis Comolli: Technique and Ideology - Camera, Perspective, Depth of Field. In: Bill Nichols (Hrsg.): Movies and Methods. Volume III, USA 1985, S. 40 – 57. (OA.: Frankreich 1971).
14
Ramón Reichert: Im Kino der Humanwissenschaften. Studien zur Medialisie-
15
Jean-Louis Comolli: Maschinen des Sichtbaren. In: Robert F. Riesinger
rung wissenschaftlichen Wissens. Bielefeld 2007, S. 10f. (Hrsg.): Der kinematographische Apparat, a. a. O., S. 67. (OA.: Frankreich 1980).
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sondern sich lieber zentral dafür interessieren soll, was im Verborgenen bleibt, also für den unsichtbaren Anteil der Maschinerie Kino. Im weiteren Verlauf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Apparatur verliert sich der Aspekt der ‚Ideologie‘16 und stattdessen rückt die Frage nach psychischen Prozessen und deren Wirkungen auf das Medium Kino ins Zentrum der Texte. Im Zusammenhang dieser Arbeit ist besonders der 1975 erschienene Aufsatz Das Dispositiv Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks17 von JeanLouis Baudry von basalem Interesse und inspirierend für meine Fragestellung. Aber auch Jean-Louis Comollis zweiter apparatustheoretischer Beitrag Maschinen des Sichtbaren18 aus dem Jahr 1980 berührt zentrale Punkte meines Themas: Mithilfe von Analogien erläutert Jean-Louis Baudry, dass im Dispositiv Kino bestimmte Wünsche Ausdruck finden. Bezogen sich seine Überlegungen in seinem ersten Beitrag noch auf die Gesamtheit der Filmproduktion und -vorführung, schränkt er nun sein Beobachtungsspektrum ein. Von Michel Foucault entlehnt Baudry den Begriff des ‚Dispositivs‘. Hier bezeichnet er damit die Projektion und ihre Wirkung im medialen Raum Kino. In diesem sieht Baudry das Subjekt als zentrales Element. Zur Erläuterung seiner Idee appliziert er zunächst die Raumanordnung in Platons Höhlengleichnis auf den Kinoraum. In beiden Fällen sitzen Menschen fest positioniert und verfolgen ein Illusions-
16
Näheres zum Begriff der Ideologie in den Apparatustheorien, vgl. bei: Hartmut Winkler: Der filmische Raum und der Zuschauer. ‚Apparatus‘ – Semantik – ‚Ideology‘. Heidelberg 1992, S. 62ff.
17
Jean-Louis Baudry: Das Dispositiv - Metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks. In: Robert F. Riesinger (Hrsg.): Der kinematographische Apparat, a. a. O., S. 41 – 62. (OA.: Frankreich 1975).
18
Jean-Louis Comolli, Maschinen des Sichtbaren, a. a. O., S. 63 – 81.
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spiel, eine Projektion auf der vor ihnen liegenden Wand. Da ich auf dieses Gleichnis in meinem eigenen Beispiel in Kapitel III.2 noch genauer eingehen werde, sei zunächst nur so viel angemerkt: Baudry liest das Höhlengleichnis, das circa 370 vor Christus verfasst wurde, als eine optische Metapher oder Analogie, „die bis in die kleinste Einzelheit das kinematographische Dispositiv ankündigt.“19 Er schließt daraus, dass das Medium Kino lange erträumt war, bevor es technisch überhaupt realisierbar wurde. Doch die Idee der Kinosituation entspringt nicht nur dieser unbewussten Langzeitwirkung zufolge: Stärker noch beschreibt Baudry die Ähnlichkeit mit der Traumsituation als Antrieb der kinotechnischen Entwicklungen. Im Kinosaal ist es dunkel, die Beweglichkeit ist eingeschränkt, das Subjekt erlebt vor sich den bruchstückhaften Eindruck eines realen Geschehens. Diese Situation deutet Baudry als analog zum Erleben eines Traumes im Schlaf. In einem Rekurs auf Sigmund Freud sieht er im Kino einen gelebten Wunschtraum. Nach Freud ist der Traum bekanntlich eine Wunscherfüllung, ein Zustand idealen Erlebens, der jedoch wie real erscheint. Das Dispositiv Kino erzeuge die gleiche Illusion, also einen bildlichen Realitätseindruck. Baudry sieht das Subjekt als im Dispositiv „impliziert“20, erst seine Anwesenheit entfaltet die Wirkung – das Kino ist für seine Wunscherfüllung konzipiert. So erscheint es als eine Art technische Wiederholung der Traumsituation. Die kinematographische Situation erinnere das Subjekt an ein Traumerleben, das nach Freuds topologischem Traummodell ebenso eine Projektion sei. Nach Baudry entspringt das Kino dem Wunsch nach einer Traumsimulationsmaschine. Durch die traumanaloge Situation und die Reinszenierung des Spiegelstadiums tritt
19
Baudry, Das Dispositiv…, a. a. O., S. 42.
20
Ebd., S. 50.
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zudem eine Identifikation mit dem Leinwandgeschehen ein. Sigmund Freuds psychoanalytische Forschungen brachten die Erkenntnis hervor, dass der Traum vornehmlich durch das Unbewusste erzeugt wird. Wiederum mithilfe der erläuterten Analogien bestimmt Baudry das Unbewusste so auch als ‚Produzent‘ des Dispositivs Kino. Auch die Platonische Höhle sieht Baudry als Analogon der Traumsituation und so wird auch diese ein archetypischer Traum vom Kinodispositiv. Schlussfolgern ließe sich: Inspiriert von einem Traumzustand als ideale Situation der Wunscherfüllung formte die Gesellschaft das Kino. Das Subjekt ist demnach nicht nur Zentrum der Apparatur, sondern gleichzeitig ihre Voraussetzung und Bedingung. Der zunächst rein technisch erscheinende Apparat beinhaltet so jedoch menschliche, subjektive und gesellschaftliche Variablen. Baudry erweitert die soziale und ideologische Funktion der Medientechnik, mit einem Rückgriff auf Platon und Freud, um psychische Mechanismen. Auf diese Weise konnte er zeigen, dass sich subjektive Bedürfnisstrukturen in mediale Dispositive einschreiben. Jean-Louis Baudry formuliert das Resultat seiner Überlegungen folgendermaßen: „Ohne daß es sich dessen fortwährend bewußt ist, wird das Subjekt dazu veranlaßt, Maschinen zu produzieren, die […] in der Lage sind, ihm sein Funktionieren im Ganzen darzustellen, und zwar durch nachahmende Apparate, die jenen Apparat simulieren, der er selber ist. Die Gegenwart des Unbewußten wird somit auch in dem Zwang spürbar, den es durch sein Bestreben ausübt, sich von einem Subjekt vorstellen zu lassen“.21 An diesem Schlusszitat setzen meine weiteren Überlegungen an, zum Wunsch ebenso wie später zum Trauma und darüber hinaus zu deren
21
Ebd., S. 62. (Erg. CLS).
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Manifestation in einem Medium, beziehungsweise einer Medienarchitektur. Beide Aspekte, sowohl das Höhlengleichnis als auch die Traumsituation, werde ich im Folgenden wieder aufnehmen und genauer beschreiben. Den ‚Traum als Wunsch‘ und ein ‚Medium als Wunschkonstellation‘ gilt es in einem eigenen Beispiel ausführlicher und konkreter zu explizieren. Auch Jean-Louis Comolli verwendet in seinem zweiten Beitrag den Begriff des Dispositivs in Anlehnung an Foucault: als verfestigten Diskurs. Diesen findet er im ‚technischen Unbewussten‘. Comolli macht nun das Verständnis von Technik als Ausdruck sozialer Befindlichkeiten stark. Die Gesellschaft, welche „Repräsentationen fabriziert“22, wird wiederum rückwirkend sich selbst durch diese Repräsentationen formieren. Nach Comolli waren je aktuell vorfindliche Dispositive „erforderlich“, da sie als Reaktion auf bestimmte Wünsche zu verstehen sind. Ihre Formation ist also einem Bedarf folgend so gewollt: „Ein Arrangement, das dem Apparat und den Techniken sozialen Stellenwert und Funktion zukommen läßt.“23 In die Filmtechnik wurden demzufolge soziale Elemente wie Diskurse und Ideologien implantiert. Comolli sieht die „Abstammung und Beeinflussung [von Technik] durch die Verschiebung der gesellschaftlichen Koordinaten der analogischen Repräsentation erzeugt“24. „Immer gibt es eine Gesellschaftsmaschine, die die verwendeten technischen Elemente auswählt oder zuweist.“25 Eine soziale Gruppierung überträgt ihre ‚Ideale‘ in Medientechnik, so erhält diese eine gesellschaftliche Funktion. Demzufolge wäre Technik
22
Jean-Louis Comolli, Maschinen des Sichtbaren, a. a. O., S. 63.
23
Ebd., S. 64. (Kursiv CLS).
24
Ebd. (Kursiv und erg. CLS).
25
Ebd.
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nur ein mediales Hilfsmittel, das repräsentative Ausdrucksformen ermöglicht. Am Beispiel der Schärfentiefe des filmischen Bildes erläutert Jean-Louis Comolli in seinem Beitrag die dieser Technik zugrundeliegenden Determinationen. In deren historischer Entwicklung sieht er den Wunsch und das Bestreben nach der Schaffung eines Realitätseindrucks am Werk. Das Ziel sei ein „Gewinn an Realismus.“26 Darin ausgedrückt sieht er den „Wunsch, das Leben […] selbst zu duplizieren, wiederzuerkennen“27. Diesen Gedanken werde ich im Kapitel zur Nervosität als Motor der telegrafischen Entwicklungen an einem Traumaprozess explizieren. Letztlich schließt Comolli daraus versöhnlich, dass die Zuschauer(innen) um die optische Täuschung des Kinodispositivs wissen – sie würden diese genießen und seien eben nicht ihr Opfer. Ganz im Gegenteil: die Illusion sei eine „Lust“28 der Betrachter(innen), die im Kino „befriedigt“29 werde. Dabei beschreibt er die Kamera im Vergleich zu den ersten Apparatustheorien als weniger ‚rein künstlich‘ und nicht ‚top down‘ erzeugt: Dadurch, dass die menschliche Sicht selbst stets ‚vorcodiert‘ und durch ideologische Weltanschauungen geprägt sei, reproduziere die Kamera nur eine quasi-natürliche oder gängige Sicht.30 Somit erscheint die Kamera nun als technische Verlängerung einer gesellschaftlichen Sichtweise. Die besten und gelungensten Repräsentationen
26
Ebd., S. 71.
27
Ebd., S. 70. (Erg. CLS).
28
Ebd., S. 65.
29
Ebd.
30
Vgl. ebd.: S. 75.
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der Welt seien leicht verschobene – sie müssen als „Effekte der Wiederholung und Analogie“31 erscheinen. Als kurze Zwischenbilanz aus dem bisher Beschriebenen möchte ich an dieser Stelle folgendes festhalten: Laut Baudry sind psychische Mechanismen unbewusst in das Kino eingeschrieben worden, können aber nach Comolli in der Folge bewusst reflektiert werden, wenn sie in Erscheinung getreten sind. Technik erhält eine gesellschaftliche Bedeutung dadurch, dass in ihr Befindlichkeiten determiniert sind. Die Struktur eines medialen Dispositivs wird nach den Apparatustheoretikern von seinem gesellschaftlichen Umfeld ausgeformt. Folglich müssten Medien historisch von den jeweils verschiedenen Bedürfnissen geprägt sein.
Im Laufe der Debatte vollzogen die Apparatustheorien eine Entwicklung. Während die Annahme einer äußeren Einschreibung in Technik bestehen blieb, bewegte sich die Auseinandersetzung weg von dem Schwerpunkt Ideologie sowie weg von einem sehr aufklärerischen Gestus mit der Annahme einer Art Opferolle der Subjekte, die durch die Technik geprägt würden. In den Vordergrund rückte stattdessen die Analyse von Bedürfnisstrukturen und die Verwendung psychoanalytischer Theorien. Subjekte wurden nun als gleichermaßen zentral für Produktion und Rezeption erfasst. Die Auffassung von Medienfunktionen entwickelte sich dabei also weg von der Idee, dass Subjekte der in die Apparate eingeschriebenen Ideologie unterworfen werden, und hin zu Dispositiven, die gesellschaftlich gewünscht sind.
31
Ebd., S. 78.
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Lange hat es keine Neuauflagen der apparatustheoretischen Fragerichtung gegeben. Der hier mehrfach zitierte Sammelband32 vereint 2003 erstmals die Basistexte von Pleynet, Baudry und Comolli in deutscher Übersetzung und bringt sie zusammen mit Texten zu Lesarten und Aktualisierungen der Debatte. Die Psychoanalyse als Methode zur Medienanalyse wurde vor allem für Film und Kino angewandt.33 Dabei hielten die Grundbegriffe der klassischen Freudschen Psychoanalyse Einzug in die Filmtheorie. Insbesondere die feministische Filmtheorie verwendete die Psychoanalyse, um unbewusste Gender-Aspekte in Filmen aufzudecken.34 Rollenkonstitutionen, Blicke oder Schaulust wurden auf diese Weise thematisiert. Derlei Fragen der Geschlechtsspezifik oder der je verschiedenen kulturellen Hintergründe der Zuschauer(innen) wurden von den vorgestellten Apparatustheoretikern damals nicht bedacht. Der slowenische Philosoph und Medientheoretiker Slavoj Žižek entwickelte, ausgehend von der psychoanalytischen Theorie Lacans, eine differenzierte Theorie der Filminterpretationen.35 So liest er die Werke von Hitchcock, Lynch oder die Matrixfilmreihe neu. Jacques Lacan machte durch seine semiotische Transformation der Psychoanalyse Modelle und Methoden für medientheoretische Beschreibungen nutzbar. Christian Metz, französi-
32
Robert F. Riesinger (Hrsg.): Der kinematographische Apparat, a. a. O.
33
Vgl. dazu Renate Lippert: Vom Winde verweht - Film und Psychoanalyse. Frankfurt am Main 2002. Oder auch Theo Piegler: Mit Freud im Kino - Psychoanalytische Filminterpretationen. Gießen 2008.
34
Vgl. u. a.: Laura Mulvey: Visual Pleasure and Narrative Cinema. In: Screen,
35
Vgl.: Slavoj Žižek: Liebe Dein Symptom wie Dich selbst! Jacques Lacans Psy-
Vol. 16, Nr.3, 1975, S. 6-18. choanalyse und die Medien. Berlin 1991. Oder auch Slavoj Žižek u. a. (Hrsg.): Was Sie immer über Lacan wissen wollten und Hitchcock nie zu fragen wagten. Frankfurt am Main 2002.
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scher Filmtheoretiker, lieferte sicherlich einen der berühmtesten und ersten Anschlüsse an die Apparatustheorien. Metz setzt sich mit der psychoanalytischen Konstitution der Kinoapparatur auseinander und beschreibt sie als einen ‚imaginären Signifikanten‘.36 Psychoanalytische Methoden finden seither allerdings vor allem Anwendung in ästhetischen und inhaltlichen Analysen: von Film und Fernsehen bis hin zu Videokunst oder Computerspielen. In seiner Schrift Das Unbehagen in der Kultur legt Sigmund Freud bereits selbst Grundlagen für medientheoretische Anschlüsse, die sich um die vorgestellten Zusammenhänge bemühen. Medientechniken dienen dem Menschen demnach als Antwort auf Mängel: „In der photographischen Kamera hat er ein Instrument geschaffen, das die flüchtigen Seheindrücke festhält, was ihm die Grammophonplatte für die ebenso vergänglichen Schalleindrücke leisten muß [...] Mit Hilfe des Telephons hört er aus Entfernungen, die selbst das Märchen als unerreichbar respektieren würde.“37 Freud beschreibt, so lässt sich schlussfolgern, die drei genannten Medien als Erfüllung von Bedürfnissen. Sie helfen Vergängliches festzuhalten sowie Zeit und Raum zu überbrücken.
Ebenso wie die Apparatustheoretiker werde ich im weiteren Verlauf psychoanalytische Theorien anwenden. Mir geht es im Folgenden um die Entstehung der Apparaturen. Als Ursache der Medienentwicklung schlagen die Apparatustheorien gesellschaftliche oder subjektive Ein-
36
Vgl.: Christian Metz: Der imaginäre Signifikant. Psychoanalyse und Kino. Münster 2000. (OA., frz.: 1977).
37
Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur. Frankfurt am Main 2007, S. 57. (OA.: 1930).
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schreibungen von Bedürfnissen vor. Ich möchte verstärkt an einer Konkretisierung dieser Idee arbeiten und mithilfe psychoanalytischer Methoden danach fragen, welches psychische Bedürfnis welches mediale Symptom hervorbringt und wie dieser Umschlag explizit zu denken ist. Dabei werde ich nicht das Kino, sondern in Erweiterung des Vorgestellten gezielt andere Medien befragen. b) Reflexion der methodischen Herangehensweise Die Axiome der Apparatustheorien basieren auf Analogien zwischen dem Kino und psychoanalytischen Modellbeschreibungen. Baudry hebt hierbei insbesondere topologische Strukturen oder (An)ordnungen hervor. Die Apparatustheoretiker insgesamt messen dem Aufzeigen struktureller Ähnlichkeiten einen großen Erkenntniswert bei. Da auch ich Analogien herausarbeiten werde, scheint es mir relevant diese Methodik zunächst zu reflektieren. Das Wort „Analogie“ stammt aus dem Griechischen und bedeutet „Entsprechung“ oder „Verhältnisgleichheit“. Als wissenschaftliche Herangehensweise findet sie Anwendung in verschiedenen Bereichen und hat eine je leicht variierende Bedeutung. Grundsätzlich wird die Analogie dazu verwendet, um Unbekanntes aus Bekanntem zu erschließen. Sie ist ein erklärendes Prinzip. Bezüge können durch Aufzeigen von Ähnlichkeiten erschlossen werden. „Durch Analogie kann der Zusammenhang ganz verschiedener Wirklichkeitsbereiche aufgedeckt und begrifflich ausgedrückt werden, da die Analogie als Verhältniseinheit über die Einheit nach Art und Gattung hinausgeht.“38 Analogische Ähnlichkeiten können in Strukturen, Form, Eigenschaften, Symptomen, Prozessen
38
Gert Ueding (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Tübingen 1992, S. 498f. (Im Original ‚Analogie‘ als ‚A.‘ abgekürzt).
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oder auch Funktionen bestehen. Ursprünglich stammt die Anwendung der Analogie aus der Mathematik, wo sie dazu verwendet wird, geometrische Verhältnisgleichheiten zu bestimmen. In der Antike übertrug Platon den Begriff in die Philosophie. Er verstand die Analogie als Strukturprinzip, dass „das Verbindende, Vermittelnde der Einheit des Zusammenhangs“39 aufzudecken vermag. Sie diente dem Auffinden von Ordnungsmustern, Gemeinsamkeiten und Verhältnisgleichheiten. Der Gewinn, der durch das Aufzeigen von Analogien entsteht, sind „konkrete Verbindungen quer zu den Kategorien.“40 Baudry geht in seiner späteren Apparatustheorie über diesen Analogiebegriff noch hinaus. Er sieht in Analogien auch kausale Zusammenhänge und bedient sich somit einer erweiterten Analogiemethode. Diese findet sich beispielsweise in der Linguistik. Mit der Analogie als „Angleichung, Adaption, Assoziation, Attraktion, Ausgleich, Systemzwang u. ä.“41 ist die linguistische Verwendung schon näher an Baudrys Analogiemodell. Dieser sah das Kino ja als eine Art Angleichungsprozess an psychische Erfahrungen. Aus der Analogie von Traum und Kino deutete Baudry einen gemeinsamen ursächlichen Antrieb durch das Unbewusste. Analogien als Hinweis auf Kausalitäten zu verstehen deckt sich auch mit meiner Herangehensweise. Der Analogiebegriff aus der Biologie ist in diesem Zusammenhang ein interessanter, weil er Analogien als Hinweis für Entstehungszusammenhänge deutet. Die
39
Joachim Ritter (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Darmstadt
40
Ebd., S. 217.
41
Ebd., S. 227.
1971, S. 215.
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Probleme einer Übertragung biologischer auf technische42 und auf kulturwissenschaftliche43 Phänomene sind vielfach diskutiert worden, denn die jeweiligen begrifflichen Anpassungen haben Grenzen. Im Falle der Analogie bin ich dennoch der Meinung, dass sie zumindest fruchtbar gemacht werden kann. In der Biologie ist die Analogie ein grundlegender Begriff, über den die Gesetze des Fachs formuliert werden.44 „Systeme sind ihrem Wesen nach analog, wenn sie auf die gleichen ursächlichen Bedingungen zurückzuführen sind“.45 Ähnliche Entwicklungsbedingungen resultierten demnach in Analogien. Reinhard Junker nennt in seinem Text Die vier Arten von Evolutionsbeweisen46 auch die Analogieschlüsse. Biologisch betrachtet sei "Ähnlichkeit durch Abstammung" bedingt, weshalb ein gemeinsamer Ursprung, das gleiche ursächliche Prinzip dahinter vermutet werden kann. Vor allem Bedürfnisse können hierbei eine solche übereinstimmende Kausalität darstellen. So lässt sich die Frage, weshalb verschiedene Lebensformen wie Seepferdchen, Pinguine oder Delfine jeweils Flossen ausgebildet haben, damit beantworten, dass sich alle kausal der Wahlheimat ‚Wasser‘ angepasst haben. Gleichsam erfordert beispielsweise die bedarfsgerechte Anpassung an
42
Vgl: Bianca Westermann: Anthropomorphe Maschinen. Grenzgänge zwischen Biologie und Technik seit dem 18. Jahrhundert. Paderborn 2012.
43
Vgl.: Stephan S. W. Müller: Theorien sozialer Evolution. Zur Plausibilität dar-
44
Vgl. dazu: Georg Toepfer: Historisches Wörterbuch der Biologie. Stuttgart
45
Franz M. Wuketits: Analogie – eine Erkenntnis- und Wissensquelle. In: Online
winistischer Erklärungen sozialen Wandels. Bielefeld 2010. 2011, S. 7f. Lexikon der Biologie, http://www.wissenschaft-online.de/abo/lexikon/bio/ 3257, abgefragt am 20.03.2012. (Kursiv CLS). 46
Reinhard Junker: Die vier Arten von Evolutionsbeweisen. http://www.wortund-wissen.de/index2.php?artikel=disk/d02/3/d02-3.html, abgefragt am 19.02. 2012.
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den Lebensraum ‚Luft‘ das analoge Prinzip ‚Flügel‘. In der Biologie wird der Erfolg oder Nutzen einer gemeinsamen analogen Struktur an den Effekten gemessen.47 Geeignete analoge Strukturen bleiben erhalten. Bezüglich ihres ursprünglichen Bedarfs erschienen sie zweckmäßig und dienlich. „Der Analogieschluß ist somit ein Wahrscheinlichkeitsschluß: Hinter ähnlichen Strukturen erwartet man ähnliche Bedingungen, der Erkenntnis von analogen Merkmalen von Systemen folgt meist der Schluß auf ihre funktionelle Gleichartigkeit. Daher ist die Analogie eine Erkenntnis- bzw. Wissensquelle, der Analogieschluß ein bedeutsames heuristisches Prinzip.“48 Die Analogie ist auch historisch betrachtet ein Erkenntnismittel zur Gewinnung wissenschaftlicher Hypothesen. Vor allem sind es Beispiel aus der Naturwissenschaft, bei denen Analogieschlüsse relevante und fortschrittliche Erkenntnisse hervorgebracht haben. So wurden beispielsweise die ersten Atommodelle durch Analogien gebildet und auch das Periodensystem verdankt sich analogen Übertragungen. Beide durch Analogiebildung gefassten Annahmen wurden Jahrzehnte später tatsächlich bewiesen. Das Periodensystem konnte beispielsweise durch die Quantenphysik bestätigt werden. Auch hieroglyphische Zeichen wurden durch Analogiebildungen erschlossen und so dechiffriert. Die Philosophin Karen Gloy stellt eine Art Revival der Analogie als Methode fest. „Es dürfte nicht zufällig sein, daß dieses Denken gerade in der Gegenwart erneute Aktualität erfährt, was mit der gleichzeitigen Krise des mathematisch-naturwissenschaftlichen Denktypus zusammenhängt; ja, das analogische Denken verspricht, das neue Paradigma der Welterklärung zu werden. Um den Beweis seiner Rationalität anzu-
47
Vgl. Toepfer, Historisches Wörterbuch der Biologie, a. a. O., S. 8.
48
Wuketis, Analogie – eine Erkenntnis- und Wissensquelle, a. a. O.
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treten und damit seinen Methodenstatus aufzuzeigen, ist es in den Sachbereichen aufzusuchen, denen es genuin ist, und dort genauer zu analysieren.“49 Gloy erläutert, dass das analogische Denken ein gleichsam seriöses wie wissenschaftliches ist. Eine Analyse über Analogien „avanciert mehr und mehr zum Instrumentarium für Untersuchungen in den verschiedensten Wissenschaftsbereichen.“50 Eine Studie mithilfe der Analogie beginnt mit einem „tastenden Aufsuchen, [woraus] letztlich verbindliche Gesetzmäßigkeiten“51 entstehen. Analogische Vergleiche und Erkenntnisschlüsse zwischen Medien und der Psyche beziehungsweise psychoanalytischen Modellen finden auch apparatustheoretische Vorläufer. „1900 hielt Henri Bergson am Collège de France eine Vorlesung über den »kinematographischen Mechanismus des Gedankens« […] und setzte erstmalig eine Ähnlichkeitsbeziehung zwischen dem filmischen und dem psychischen »Apparat«. In Theorien wie Bergsons »L’évolution créatrice« von 1907 nahm das Medium Kino bereits einen zentralen Stellenwert im Analogie-Modell wissenschaftlicher Wahrnehmung ein.“52 Auch Sigmund Freud verwies auf Analogien zwischen dem Medium Wunderblock und der psychischen Apparatur, um letztere näher zu erläutern. Ein weiteres Beispiel wäre Walter Benjamin, der den Begriff des „Optisch-Unbewussten“
49
Karen Gloy: Das Analogiedenken unter besonderer Berücksichtigung der Psychoanalyse Freuds. In: Dies., Manuel Bachmann (Hrsg.): Das Analogiedenken. Vorstöße in ein neues Gebiet der Rationalitätstheorie. München 2000, S. 257.
50
Karen Gloy: Versuch einer Logik des Analogiedenkens. In: Dies., Bachmann
51
Gloy, Das Analogiedenken unter besonderer Berücksichtigung der Psychoana-
(Hrsg.), Das Analogiedenken, a. a. O., S. 323. lyse Freuds, a. a. O., S. 257. (Erg.: CLS). 52
Reichert, Kino der Humanwissenschaft, a. a. O., S. 10.
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prägte, welches erst durch Film- und Fotokamera und deren technische Darstellungsmöglichkeiten erfahrbar werden könne. Wie bereits dargelegt, muss die Psyche als unsichtbares Dispositiv stets Wege suchen, um zur Erscheinung zu gelangen. Das Symptom wäre ein Beispiel hierfür. Genauso müssen Methoden gefunden werden, um Psychisches theoretisch fassbar oder beschreibbar zu machen. Für die Anwendung in Bezug auf psychische Prozesse erweisen sich Analogien als gewinnbringend, weil sie „verdeutlichen und veranschaulichen […] was […] sich nicht leicht vergegenwärtigen läßt.“53 Über Analogien lassen sich unsichtbare (psychische) Phänomene fassbar machen. Für Freud sind Analogien von enormer Bedeutung, weil sie die Traumbildung konstruieren.54 So können sich Wünsche überhaupt erst ausdrücken. Für die weiteren Überlegungen der vorliegenden Arbeit ist dies ein zentraler Gedanke. Aus Analogien liest Freud Spuren des Zusammenhangs. Denn „allein eine kleine Auffälligkeit in der Gestaltung dieses Traums wird uns ein Fingerzeig werden, dem mächtigen Helfer aus dem Unbewußten auf die Spur zu kommen.“55 Für das psychische Befinden Relevantes erscheint meist verstellt in Träumen. Tauchen in Traumerzählungen solch bedeutende Muster auf, wird in der psychoanalytischen Therapie nach Analogem aus Alltag oder in der Kindheit gesucht. So lassen sich beispielsweise verborgene Wünsche oder negative Belastungen herausstellen und gelangen schließlich ins Bewusstsein. Über Analogien kommen also Unbewusstes oder Verdrängtes im
53
Ueding, Historisches Wörterbuch der Rhetorik, a. a. O., S. 499. (Erg. CLS).
54
Vgl. u. a.: Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. In: Gesammelte Werke Band VI. London 1940, S. 189. (OA.: 1905).
55
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt am Main 2005, S. 543. (OA.: 1900).
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Traum (entstellt) zum Ausdruck – sie weisen somit auf Bedürfnisse hin. In den Traumerzählungen seiner Patient(inn)en sucht Freud nach Analogien, um Wünsche zu dechiffrieren. Im anschließenden Kapitel zu Wilhelm Busch werde ich daher auf die gleiche Weise eine Traumgeschichte untersuchen. Sigmund Freud nutzt Analogieschlüsse nicht nur für seine Traumdeutung, sondern ebenso zum Aufzeigen von Gemeinsamkeiten zwischen der Entwicklung von Kultur und jener des Individuums. Grundsätzlich sieht der Psychoanalytiker ursächliche Zusammenhänge von Analogien, wie in seiner Schlussbemerkung zur Analyse der Wirkung von Religion: „Vielleicht ist es im Vorstehenden geglückt, die Analogie zwischen neurotischen Vorgängen und den religiösen Geschehnissen durchzuführen und damit auf den unvermuteten Ursprung der letzteren hinzuweisen.“56 Freud beschreibt seine Methode: „Wir halten Ausschau nach Analogien, nach Tatsachen von wenigstens ähnlicher Natur, wenn auch auf anderen Gebieten.“57 Genauer sucht er nach „Analogien, die auf Wesensverwandtschaft hindeuten.“58 Der Psychoanalytiker schreibt von einer „überzeugenden Wirkung“59, die das Aufzeigen von Analogien besitzt – dieses gelte für Patient(innen) ebenso wie für die Wissenschaft. Die Analogie ist also eine Grundlage sowohl der Studien als auch der Praxis der Psychoanalyse. Wenn andere Disziplinen die Psychoanalyse für ihre Gedanken fruchtbar machen, werden häufig auch deren Methoden mit übertragen. So beeinflusste Jacques Lacan mit der Spiegeltheo-
56
Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften
57
Ebd., S. 79.
über die Religion. Frankfurt am Main 2006, S. 97. (OA.: 1939). 58
Freud, Die Traumdeutung, a. a. O., S. 102.
59
Sigmund Freud: Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. In: Gesammelte Werke Band VII. London 1941, S. 421. (OA.: 1909).
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rie auch als analogisches, spekulatives Verfahren die Filmtheorie der letzten Jahrzehnte. Grundsätzlich ist die Psychoanalyse auch als ein Verfahren der Spurensicherung zu verstehen. Psychische Besonderheiten, Belastungen oder unerfüllte Wünsche haben nach Freud „unverlöschbare Spuren in unserem Seeleninnern zurückgelassen.“60 Diese Einschreibungen in den psychischen Apparat gilt es offenzulegen. Symptomatische Ausprägungen werden in der Analyse auf ihre Ursachen hin befragt. Eine Möglichkeit hierfür ist das Herausarbeiten und Verstehen von strukturellen Ähnlichkeiten – Analogien also – auf verschiedenen Ebenen, um Zusammenhänge zu erkennen. Ein Symptom fungiert „nach Freuds Theorie als Symbol, als Zusammenziehung und Verdichtung von Bedeutungen, die gleichsam einen Rebus bilden, der sich nur nachträglich einer umfassenden Interpretation erschließt.“61 Beispielsweise sind Inhalt und Bildlichkeit des Traumes verschoben und verzerrt, so Freud. Analogien müssen demnach stets über Ähnlichkeiten, Entsprechungen und Mustererkennung gefunden werden. Verweise, Verknüpfungen und Interpretationsfäden werden nachträglich assoziativ der Analyse unterzogen. So können die Ursachen und kausalen Anreize von Träumen oder von Verhaltensmustern verstanden werden. Auch wenn die Psyche gewünschte und/oder unliebsame Inhalte verschiebt und entstellt, so tut sie dies doch stets unter Beibehaltung einer gewissen Struktur, einer Anordnung oder eines Musters. Über Analogiebildung ist es also möglich, decodierte Bedürfnisse zu entschlüsseln. Dies erlaubt es im weite-
60
Sigmund Freud: Über Deckerinnerungen. In: Gesammelte Werke Band I. London 1952, S. 531. (OA.: 1899).
61
Gloy, Das Analogiedenken unter besonderer Berücksichtigung der Psychoanalyse Freuds, a. a. O., S. 278.
F ALLBEISPIELE W ÜNSCHE UND M EDIEN | 41
ren Verlauf der vorliegenden Arbeit, Medien als analoge Produkte psychischer Bedürfnisse zu befragen. Meine methodische Herangehensweise lehnt sich an das bisher Herausgestellte an. Mithilfe psychoanalytischer Verfahren und Analogiebildungen werde ich versuchen, mediale Apparaturen zu analysieren: Welche Symptome zeigen Medien, die auf psychische Automatismen, auf eine ‚Ablagerung‘ psychischer Befindlichkeiten, zurückgeführt werden können? Wie ist eine solche Sedimentierung, also ein Umschlag von Psyche in Medien zu denken? Welche produktive Kraft steht dahinter? Die Analogie ist dabei der Ausgang, der Ansatz beziehungsweise Richtungsweiser für meine weiteren Analysen. Streng wissenschaftlich betrachtet ist die Analogie keine Beweisform. Durch ihr Aufzeigen entsteht jedoch ein Erkenntniswert, der möglicherweise auch ‚spekulativ‘ zu nennen ist. „Jede Form, jede Ebene ist überdeterminiert, indem sie nicht nur sich selbst darstellt, sondern zugleich auf eine andere verweist.“62 So haben vorfindliche Analogien immer eine „Verweisungsstruktur“63. Diese kann dazu anregen, eine durch Analogiebildung entstandene Idee für Zusammenhänge zu prüfen. Die Analogie ist demnach also legitim für einen Einstieg. Wenn es gelingt, sie nachhaltiger und tiefgreifender zu plausibilisieren, können dadurch neue Erkenntnisse gewonnen werden. Das Auffinden von Analogien kann zur Entdeckung von Ähnlichkeiten in den heterogensten Bereichen beitragen. So motiviert auch ein aktueller Sammelband 64
62
Gloy, Das Analogiedenken unter besonderer Berücksichtigung der Psychoana-
63
Ebd., S. 276.
64
Levi Bryant, Nick Srnicek, Graham Harman (Hrsg.): The speculative turn -
lyse Freuds, a. a. O., S. 259.
continental materialism and realism. Australien 2011.
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dazu, weiter zu denken, als durch reine Fakten belegt ist. Der Vorlauf zur Theorie oder zu wissenschaftlichem Fortschritt ist stets ein Durchdenken von Möglichkeiten, ein Weiterverfolgen von Ansätzen. Analogien erlauben zunächst weitere konstruktive Spekulationen, sie öffnen ein Feld, erschließen neue Perspektiven und zeigen Denkrichtungen und somit letztlich auch Klärungen auf. Ähnlich der ‚Spur‘, die die Psychoanalyse nach Ursachen suchen lässt, bieten sie eine weitere Recherche an. Analogien verstehe ich daher in erster Linie als Strukturen, die sich applizieren lassen. Über die Analogie komme ich zu Medien als Symptom – oder besser: Medien als Ausdrucksmöglichkeit von Symptomen. Das Analoge erscheint immer auf einer anderen Ebene, in einem anderen Verbund oder Material. Es ist daher, auch meinem Verständnis nach, immer eine analoge Wiederholung mit leichter Differenz. So versteht es die Psychoanalyse – und auch für die Medienwissenschaft wäre dieser Ansatz meines Erachtens eine Grundlage oder ein Instrument um möglicherweise auf Medien verschobene oder in mediale Apparaturen hineingeschriebene analoge psychische Symptome aufzudecken.
III. 2. Wilhelm Buschs Wunschtraum 65 von der virtuellen Welt
Bevor Glasfaserkabel durch die Weltmeere und Kontinente verlegt wurden, um die materielle Grundlage des Internets zu schaffen, muss zunächst eine Idee zur medialen Vernetzung entstanden sein. Techni-
65
Eine Kurzversion dieses Kapitels wurde in folgendem Sammelband veröffentlicht: Maik Bierwirth, Oliver Leistert, Renate Wieser (Hrsg.): Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation. Paderborn 2010, S. 133 - 158.
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sche Realisierung setzt einen gedanklichen Impuls voraus. Im Vorangegangenen wurde unter Bezugnahme auf die Apparatustheorien dargelegt, warum es relevant ist, mediale Erscheinungen auf eine Verflechtung von Bedürfnissen und technischen Anordnungen hin zu untersuchen. Diesen Ansatz möchte ich nun fortführen, um nach einem frühen Antrieb des Internets zu suchen. Im Jahr 1891 verfasste der deutsche Karikaturist und Dichter Wilhelm Busch die häufig als rätselhaft oder phantastisch beschriebene Erzählung Eduards Traum66. Es war sein erstes umfangreiches und unbebildertes Prosastück67. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit schlage ich vor, dieses als Internetutopie zu lesen. Eine Utopie ist eine nicht verwirklichte Wunschvorstellung, eine Vision also, die einen Idealzustand erdenkt.68 Zur Zeit ihrer Konzeption ist diese aus ideologischen, materiellen, technischen oder kulturellen Gründen noch nicht in die Realität umsetzbar. Deshalb werden Wunschtraum und Utopie umgangssprachlich häufig synonym verwendet. Auch Eduards Traum imaginiert einen als perfekt geschilderten und die Grenzen des Realisierbaren überwindenden Raum, der, wie sich zeigen wird, Assoziatio-
66
Wilhelm Busch: Eduards Traum. Zürich 2007. (OA.: 1891).
67
Bisherige Analysen haben auf gesellschaftskritische Standpunkte aufmerksam gemacht (vgl. Erik de Smedt: Ideologiekritik in Wilhelm Buschs ‚Eduards Traum’. http://users.skynet.be/lit/busch.htm, abgefragt am 28.11.2009) oder futuristische Ideen zu Mathematik und Physik herausgearbeitet (siehe u. a. Barbara Lotze, Dieter P. Lotze: Durchweg lebendig. Wilhelm Busch und die Physik. In: Wilhelm Busch Jahrbuch 1985. Hannover 1986, S. 7 – 17). Busch selbst erläuterte das Werk nicht.
68
Vgl.: http://woerterbuch.babylon.com/Utopie, abgefragt am 26.11.2009 und Rolf Schwendter: Utopie. Überlegungen zu einem zeitlosen Begriff. http://www.nadir .org/nadir/archiv/PolitischeStroemungen/utopie/, abgefragt am 26.11.2009 sowie Brockhaus Enzyklopädie: Utopie. Wiesbaden 1974. Band 19, S. 338 - 339.
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nen und Analogien zum Datenuniversum bietet. Im Folgenden sollen vor allem strukturelle, technische, funktionale und ideelle Ähnlichkeiten zum Internet aufgezeigt werden. In einem kurzen Vor- und Nachwort erläutert der Erzähler von Eduards Traum, die vorliegende Geschichte sei die Wiedergabe eines Traums seines Freundes Eduard. Geschildert wird das Traumerlebnis dann auch aus dessen Sicht in der Ich-Perspektive: Im Schlaf verwandelt sich der Durchschnittsbürger Eduard in einen winzigen Punkt und verlässt als solcher seinen Körper. Er bereist einen für ihn wundervollen Raum voller neuer Möglichkeiten, Strukturen und Wahrnehmungen. In kurzen Episoden erlebt und erfährt Eduard viel ihm bislang Unbekanntes. Er besucht teils ferne Orte, tauscht sich mit verschiedensten Persönlichkeiten aus, erlebt unterschiedlichste Szenen und kann dabei wahlweise aktiv oder passiv teilnehmen. Am Ende kehrt Eduard zufrieden und erfüllt von den vielen neuen Eindrücken in seinen Körper und seinen Ausgangsort zurück. a) Der Traum als Wunsch „Manche Menschen haben es leider so an sich, daß sie uns gern ihre Träume erzählen, die doch meist nichts weiter sind als die zweifelhaften Belustigungen in der Kinder- und Bedientenstube des Gehirns, nachdem der Vater und Hausherr zu Bette gegangen.“69 Eduards Traum
Neben diesem Anfangszitat aus Eduards Traum finden sich in Wilhelm Buschs Texten zahlreiche Gedanken und Deutungsversuche zum Wünschen und Träumen. Da diese Ansätze Buschs zumeist bis 1900 entstanden sind, lassen sie sich zwar nicht auf Sigmund Freuds Traumdeu-
69
Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 5.
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tung und seine Folgeschriften beziehen, ähneln aber erstaunlich häufig den Vorstellungen des Psychoanalytikers vom Seelenapparat. So beschreibt Freud in seiner Theorie des Wunderblocks, wie sich eine bewusste Wahrnehmung in den Tiefenschichten der Psyche ablagert. Dieser Speicher, das Unbewusste, ist unter anderem Reservoir der Wünsche. Die Zensur des Vorbewussten, die „wie ein Schirm“70 vor das bewusste Ich geschaltet ist, verhindert den direkten Ausbruch der Wünsche, wenn diese mit der Realität aus verschiedenen Gründen nicht in Einklang zu bringen sind. Sie werden im Wachzustand unterdrückt und erst im Traum als real wirkende Vorstellung wieder zurück zum Bewussten gesendet. Auf diese Weise stellt sich das Unbewusste im Schlaf verstärkt dar. „Das Ich ist nicht Herr im eigenen Haus“71, resümiert Freud und beschreibt das Traummaterial auch als aus „der Kinderstube“72 stammend. Das oben angeführte einleitende Zitat aus Eduards Traum entspricht verkürzt dieser Beschreibung des Freudschen Seelenapparats und dessen Traumfunktion. „Denn wenn sich der kritische Wächter zur Ruhe begibt“73, schreibt Freud, und somit also die zensierende Funktion abgeschwächt ist, kommt das Unbewusste im Traum zur Erscheinung – und ‚bedient’ das Bewusste, den schlafenden vermeintlichen Hausherren, mit einem Traum. Auch Wilhelm Busch beschreibt Wünsche als verdrängte Instanzen des Seelenlebens: „Wünsche finden keine Rast. Unterdrücker, Unterdrücktes, Jedes Ding hat
70
Sigmund Freud: Die Traumdeutung. Frankfurt am Main 2005, S. 601. (OA.:
71
Ders.: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse. In: ders.: Gesammelte Werke
72
Ders.: Traumdeutung, a. a. O., S. 556.
73
Ebd., S. 557.
1900). Band XII. London 1947, S. 11. (OA.: 1917).
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seine Last.“74 Die Erfüllung jener drängenden verborgenen Wünsche und Triebe wird nach Sigmund Freud – wenn auch durch Verschiebung und Verdichtung codiert – durch den Traum ermöglicht. Freud beschreibt die psychoanalytische Traumdeutung als Königsweg zur Aufdeckung verborgener Wünsche: „Ein neuer Zugang zu den Tiefen des Seelenlebens eröffnete sich, als man die Technik der freien Assoziation auf die Träume [...] anwendete. In der Tat rührt das Meiste und Beste, was wir von den Vorgängen in den unbewußten Seelenschichten wissen, aus der Deutung der Träume her.“75 Aufgrund der verringerten Kontrollinstanz äußert sich das Unbewusste im Schlaf durch den nun abgeschwächten Einfluss des Bewusstseins freier. Auch Eduard bemerkt, dass seine Traumhandlungen unangepasst und nicht konventionell sind.76 Er entschuldigt sich sogar für die eben nicht vom klar wachen Bewusstsein zensierten Aktivitäten. Im Traum können Wünsche ausgelebt werden. Und gerade im entschuldigenden Negieren oder Herunterspielen, wie auch im Anfangszitat praktiziert, verbergen sich nach Freud die größten Wünsche: „Vermittels des Verneinungssymbols macht sich das Denken von den Einschränkungen der Verdrängung frei und bereichert sich um Inhalte, deren es für seine Leistung nicht entbehren kann.“77 Dass die vorliegende Traumerzählung eine klare, lineare Schilderung ist und nicht etwa verstellt, wie es die meisten Träume sind, rückt die
74
Wilhelm Busch: Zu guter Letzt. In: Friedrich Bohne (Hrsg.): Wilhelm Busch. Gesammelte Werke. Berlin 2004, S. 266.
75
Sigmund Freud: Psychoanalyse und Libidotheorie. In: Ders.: Gesammelte Werke Band XIII. London 1940, S. 216. (OA.: 1923). (Erg.: CLS).
76
Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 7.
77
Sigmund Freud: Die Verneinung. In: Ders.: Gesammelte Werke Band XIV. London 1948, S. 12 f. (OA.: 1925).
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Geschichte vielleicht eher in die Nähe eines Tagtraumes. Sigmund Freud erläutert, dass Tagträume geordneter sind. Aber nicht weniger als nächtliche Träume basieren auch die Tagträume oder Tagfantasien auf Wünschen: „wie die Träume sind sie Wunscherfüllungen, [...] wie die Träume erfreuen sie sich eines gewissen Nachlasses der Zensur für ihre Schöpfungen.“78 Obwohl Busch, ebenso wie Freud, den Ursprung des Traums im Reich der Vergangenheit ansiedelt79, haben Träume in den Arbeiten Wilhelm Buschs doch eine zukunftsweisende Wirkung. Während Sigmund Freud diesen Effekt ausschließt80, bestimmen in Buschs Werken auch Träume den Verlauf der Geschichte und deuten die Zukunft voraus.81 Dies ist insbesondere für den Vorschlag interessant, Eduards Traum als Utopie vom Internet zu lesen. Das Verwirklichungsstreben der Wunschträume beschreibt Wilhelm Busch zudem in einem Brief aus dem Jahr 1900, als er den unzerstörbaren Wesenskern eines jeden Menschen bestimmt. Dieser sei „der Wunsch, der Trieb, sich so und so zu gestalten.“82 Auch Freud erläutert in der zeitgleich erschienenen Traumdeutung die dauerhafte Beständigkeit des Unbewussten und später in Triebe und Triebschicksale die gestaltende Produktivkraft des Wunsches. In Buschs Werk finden sich überdies nicht nur Darstellungen zur Ausdrucksseite des Wunsches wie des Traums, sondern auch Überlegungen zur Ursache von Wünschen: Wilhelm Busch begründet Wünsche als
78
Freud, Traumdeutung, a. a. O., S. 485. (Erg.: CLS).
79
Wilhelm Busch: Brief 1515. An Grete Meyer. In: Bohne (Hrsg.), Wilhelm Busch. Gesammelte Werke, a. a. O., S. 241.
80 81
Freud, Traumdeutung, a. a. O., S. 607. Beispielsweise in Wilhelm Busch: Bilder zur Jobsiade. In: Bohne (Hrsg.), Wilhelm Busch. Gesammelte Werke, a. a. O., S. 295 - 346.
82
Ders.: Brief 1267. An Grete Meyer. In: Ebd., S. 163.
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Ausdruck von Mangel. Er verdeutlicht dies mit einem Beispiel aus dem Tierreich und beschreibt das Leben eines Vogels als geprägt durch den Drang zur Reise.83 Mangel an und Wunsch nach Futter, Sicherheit oder einem Partner, sowie der Wunsch nach Wanderschaft seien stets der Grund für den Aufbruch zum Flug. Ein interessanter Aspekt ist dabei sowohl die Verbindung von Begehren und Mangel als auch der Konnex von Wunsch und Reise. Der Psychoanalytiker Jacques Lacan lehrt, dass ein Mangel immer auch ein Begehren auslöst. Wünsche resultieren auch nach Busch aus einem Mangel und stehen somit meist in Differenz zur Realität. Buschs Ausführung über den Vogel endet mit: „Vielleicht ist er glücklich im Schlaf […] auch Thiere träumen!“84 Im Schlaf wäre der Vogel demnach in der Lage, einen Traum zu produzieren, der Mangel befriedigt und das Reisebestreben erfüllt. „Ein guter Wunsch hat Flügel, Ob Alpen oder Hügel, Er flattert drüber fort“85, schreibt Wilhelm Busch. Wieder findet sich die Verbindung zum Reisen. Der Wunschtraum ermöglicht, sich über Grenzen hinwegzusetzen. Geografie, Mangel, reale Distanzen oder in der Wirklichkeit Undenkbares – alles scheint überwindbar. Da Reisen nach Busch also aus einem Mangel resultiert, erfüllt es, mit Lacan gedacht, auch ein Begehren. In Eduards Traum bricht der Protagonist mit folgenden Worten auf: „Die Sache hier paßte mir nicht. Ohne Rücksicht auf Frau und Kind beschloß ich, auf Reisen zu gehn.“86 Wenn Eduards Traum also nach Busch und Freud einen Wunsch ausdrückt und seine Reise einen Mangel kompensiert, dann stellt sich die
83
Ders.: Brief 322. An Maria Anderson. In: Ebd., S. 158.
84
Ebd.
85
Ders.: Brief 1027. An Nanda Keßler. In: Ebd., S. 55.
86
Ders., Eduards Traum, a. a. O., S. 9.
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Frage, welche Begehren sich tatsächlich in ihm darstellen. Dafür ist es zunächst notwendig, den Raum zu untersuchen, den Eduard im Schlaf durchstreift. b) Welt der Ideen „In einer Höhle, auf seinem Sitze festgebunden, den Rücken nach dem Lichte, das Gesicht nach der Wand gekehrt, saß der unglückliche Mensch, der, nun schon mehr als zehntausendmal wiedergeboren, doch noch immer von den Dingen, welche draußen vorbeipassierten, nichts weiter zu erkennen vermochte als ihre Schatten, die sie vor ihm an die Wand warfen. Als ich vor der Öffnung der Höhle einige Sekunden stillstand, hielt er mich für einen schwarzen Fliegenklecks an seiner Mauer und begrüßte mich als solchen. Mit überlegenem Lächeln verließ ich ihn.“87 Eduards Traum
Auf seiner Traumreise entdeckt Eduard in seiner Punktform Platons Höhle88 und betrachtet sie von außen. Er sieht die Szenerie aus der Perspektive der Ideenwelt, welche nach der Vorstellung des griechischen Philosophen, ansonsten uneinsehbar ist und uns lediglich als Abbildung in der Höhle vorliegt. Platon entwirft jene Metapher, die uns Menschen als gefesselt in der Höhle darstellt, wo wir nur die Schattenbilder der Originalideen wahrnehmen können. Eduard aber bereist in seinem Traum eben diese platonische Welt der Ideen. Sein Überlegenheitsgefühl, mit dem er vor der Höhlenöffnung kokettiert, resultiert aus dem Wissen, in diesem außerhalb der Höhle liegenden Raum Erkenntnisse zu erlangen, die ihm sonst unzugänglich blieben. Diese Definition ruft Assoziationen zum heutigen Internet auf. Auch das Datenuniversum
87 88
Ebd., S. 82. Das Höhlengleichnis wird hier erneut und nun ausführlicher aufgegriffen. In Kapitel III.1.a. wurde es bereits kurz eingeführt: Jean-Louis Baudry entwickelte seinen Beitrag zur Apparatustheorie basal auf diesem Gleichnis Platons. Baudry las hieraus an Medienapparaturen gerichtete Wünsche.
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wird unter dem Aspekt des Ideenspeichers diskutiert. Eduard beschreibt die ihn umgebenden Subjekte als zirkulierende Ideen. So erfreut er sich beispielsweise bei einem Fest daran, wie die „geliebten kleinen Ideen über den Tanzboden“89 wirbeln. Mit Sybille Krämer ließe sich ergänzen: „Strenggenommen gehen wir im computerisierten Netz nur noch mit Ideen und nicht mehr mit Personen um.“90 An dieser Stelle soll zunächst nur auf die Ähnlichkeiten in der Beschreibung und Metaphorik aufmerksam gemacht werden. Und um dies deutlich zu machen: Das aktuell existierende Internet befindet sich nach Platons Gleichnis nicht außerhalb der Höhle, ebenso wie die Ideen, die im aktuellen Netz kursieren, nicht jene sind, die Platon beschreibt. Die Qualität des Vorschlages, Eduards Erzählung als Internetutopie zu beschreiben, besteht aber eben darin, den Traum als der Realität entrückt, als Wunsch und Fiktion zu durchdenken. Der Raum, den Eduard bereist, birgt Wissen, das ihm eigentlich nicht zugänglich ist. Dadurch, dass er sich im Schlaf gedanklich aus der Höhle befreit, betritt er nach Platon die Welt zur Erkenntnis von Ideen.91 Ein erstes Begehren, das sich in Eduards Traum ausdrückt, scheint der Wunsch nach Aneignung von Wissen zu sein, das außerhalb des eigenen Erfahrungs- und Wirkungskreises liegt. In diesem Punkt weisen die Ideen und Wissensbestände, die im Internet zugänglich sind, nicht nur auf der Begriffsebene eine Ähnlichkeit mit Eduards Traumwelt auf. Die Vielfalt an Informationen, die sich online darbietet, übersteigt die der subjektiven Empirie.
89
Ebd., S. 15.
90
Sybille Krämer: Das Medium als Spur und als Apparat. In: dies. (Hrsg.): Medien – Computer – Realität. Frankfurt am Main 1998, S. 87.
91
Nach Freud ermöglicht der Schlaf Eduard ebenfalls Zugang zu Informationen, die ihm normalerweise, im Wachzustand, verwehrt blieben.
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Orte und Subjekte, die Eduard sofort und mühelos erreicht, liegen in sonst nicht zu überbrückender Entfernung. „Für viele Internet-User macht […] die Überwindung der Topographien, in denen wir unsere Alltagsexistenz verorten, das eigentliche Faszinosum aus.“92 Eduards Traummedium erweitert geistig und geografisch seinen Erfahrungsradius. Es birgt zudem das Versprechen, Grenzen im Handeln und Denken aufzulösen. Ihm sonst Vorenthaltenes wird somit zugänglich, Eduard kann aktiv agieren und das Geschehen mitgestalten. Zudem eröffnen sich neue Kommunikationsoptionen: Eduard ist in der Lage sich sprachlich mit Tieren auszutauschen, die hier symbolisch für Subjekte stehen, mit denen er ohne den Traumraum keinerlei derartige Kommunikationsmöglichkeit hätte. Mit ihnen in Wechselverkehr zu treten, ermöglicht nur das Medium ‚Traumforum‘; analog zur heutigen virtuellen Welt, die neue Kommunikationssituationen konstituiert. Die Episoden in Eduards Traum werden vom Austausch, vom Ideenumlauf strukturiert. Die gesamte Erzählung ist davon durchzogen, dass Subjekte Netzwerke ausbilden. So besucht Eduard auf seiner Reise beispielsweise ein Standesamt, in dem ‚Subjektideen‘ ihre Deckungsgleichheit testen und zur „Kongruenz“93 bringen können. Eduards Erzählung erinnert hier an eine Abhandlung des Germanisten Gilbert Carr. Dieser erdenkt eine ideale kulturelle Vernetzung und bezeichnet sie mit einem Begriff von Robert Scheu aus dem Jahr 1898, dem „Hei-
92
Peter Matussek: Without Addresses. Anti-Topologie als Motiv der Netzkunst. In: Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme, Jeanne Riou (Hrsg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne. Köln 2004, S. 323.
93
Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 21.
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ratsbureau der Gedanken“94. Der Gewinn dieser Räume für den geistigen Verkehr sei, dass „die Ideen in schnellen Umlauf kamen“95. Im Internet wären Chatrooms, Foren oder aktuell Twitter solche Einrichtungen und Orte des Wissensumschlags. Eduards Traumraum ist insbesondere auch ein Raum des Ideentransfers: In ihm zirkulieren Subjektideen und tauschen Gedanken aus. Josias Ludwig Gosch erkennt bereits 1789, dass das sinnvollste Speichermedium für Ideen die Zirkulation sei.96 Wissen bliebe demnach dadurch präsent, dass es sich im Umlauf befindet und eben nicht nur, indem es in Büchern niedergelegt wird. Die Aufrechterhaltung und Präsenz von Informationen wäre somit auf frequentierten Internetseiten verlässlicher. Genau diesen Aspekt kommentiert der Erzähler ironisch am Ende von Eduards Traum. Er entschuldigt sich, diese für das Jahrhundert unpassenden Reisegedanken überhaupt veröffentlicht zu haben, relativiert das Problem aber gleichzeitig, indem er darauf verweist, dass die Erzählung ja nur in Buchform abgelegt sei:
„Ein Buch ist ja keine Drehorgel, womit uns der Invalide unter dem Fenster unerbittlich die Ohren zermartert. Ein Buch ist sogar noch zurückhaltender, als das doch immerhin mit einer gewissen offenen Begehrlichkeit von der Wand herabschauende Bildnis. Ein Buch, wenn es so zugeklappt daliegt, ist ein gebundenes, schlafendes, harmloses Tierchen, welches keinem was zuleide tut.
94
Gilbert Carr: Ein „Heiratsbureau der Gedanken“. In: Barkhoff, Böhme, Riou (Hrsg.), Netzwerke, a. a. O., S. 207.
95 96
Ebd., S. 199. Josias Ludwig Gosch: Fragmente über den Ideenumlauf. Herausgegeben von Georg Stanitzek und Hartmut Winkler. Berlin 2006. (OA., dänisch: 1789). Vgl. ebenso bei Bernhard Siegert: Currents und Currency. In: Barkhoff, Böhme, Riou (Hrsg.), Netzwerke, a. a. O., S. 68.
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Wer es nicht aufweckt, den gähnt es nicht an; wer ihm die Nase nicht grad zwischen die Kiefern steckt, den beißt's auch nicht.“97
Er beschreibt das Buch als Verschluss, als verschlossenen Raum, und ruft so abermals die Metapher von Platons Höhle auf: Was nicht offenkundig und präsent ist, wird nicht wahrgenommen. Bedrucktes Papier sei ja „der passendste Stoff, um Schrullen, die sich nun mal nicht unterdrücken lassen, auf das bescheidenste drin einzuwickeln“.98 Der Reisebericht endet zwischen zwei Buchdeckeln und wird, dem Erzähler zufolge, somit stillgelegt und der Zirkulation und verbreiteten Kenntnisnahme entzogen. Ein Mangel von Eduards Traum scheint also sein Trägermedium Buch zu sein. Der Endkommentar ist ein Vergleich zwischen Inhalt und Medium, in dem das Medium sich als unzulänglich erweist. Derrida sagt: „Was es heute zu denken gilt, kann in Form der Zeile oder des Buches nicht niedergeschrieben werden.“99 Eine Utopie vom Datenuniversum kann demnach nicht angemessen in einem Buch erscheinen, weil die Idee des Internets die Leistung eines Buches übersteigt. Während das Buch Veränderung und Eingriff verweigert, eröffnet das Internet seinen Raum zur Nutzung. Das schillernde an Hypertexten ist „die Möglichkeit, Strukturen aufzubrechen, die die Konventionen des Buches ausmachen“. 100 Es scheint also ein aus Eduards Traum ablesbarer Wunsch zu sein, Einengung zu sprengen und Operativität zu ermöglichen. Realtechnische Umsetzungen eines Mediums, das diese
97
Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 91.
98
Ebd.
99
Abgedruckt bei Hartmut Winkler: Docuverse. Frankfurt am Main 1997, S. 18.
100 Ruth Nestvold: Das Ende des Buches. Hypertext und seine Auswirkungen auf die Literatur. In: Martin Klepper, Ruth Mayer, Ernst-Peter Schneck: Hyperkultur. Zur Fiktion des Computerzeitalters. Berlin, New York 1996, S. 20.
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Funktionen bietet, erscheinen erst fast achtzig Jahre nach der Veröffentlichung der Erzählung. Eduard phantasiert im Schlaf also Internetstrukturen, die noch nicht existieren. Nach Sigmund Freud ist ein Traum, in dem Zahlen vorkommen, zudem eine „Anspielung auf ein nicht [mit bekannten Mitteln] darstellbares Material.“101 c) Welt der Zahlen „Telegraphisch gedankenhaft tat ich einen Seitenwitscher direkt durch die Wand, denn das war mir wie gar nichts, und befand mich sofort in einer freundlichen Gegend, im Gebiete der Zahlen, wo ein hübsches arithmetisches Städtchen lag.“102 Eduards Traum
Busch sowie Platon bieten eine weitere Verbindung zwischen Internet und dem Raum, in den Eduard in seiner reduzierten Punktform – als Punkt Eduard – eintritt. Das Ideenuniversum ist bei Beiden auch eine Welt der Mathematik, ein Reich der Zahlen. In Eduards erträumter Welt bewegen sich Subjekte und Gegenstände, die durch mathematische Elemente repräsentiert werden. Sie erscheinen dem Protagonisten als Zahlen oder geometrische Figuren. Ähnlich den heutigen Internetsurfern, die online mit ihren IP Adressen durch Zahlen repräsentiert werden, oder zeitgenössisch dem Morsecode mit seinen Punkten und Strichen. „Ich begab mich auf den Markt, wo die benannten Zahlen ihr geschäftliches Wesen treiben.“103 Eduard erlebt einen Handelsplatz, auf dem die Waren wie lebendig zirkulieren, indem sie als Zahlen zwischen den Ständen umherlaufen. Auch Produkte, die im Internet zum Verkauf präsentiert werden, sind dort als Zahlencode abgelegt. Betrachtet der Kaufinteres-
101 Freud, Traumdeutung, a. a. O., S. 415. (Erg. CLS). 102 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 9. 103 Ebd., S. 10.
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sierte bei eBay einen Gartenstuhl, besteht dieses Bild eigentlich aus Daten, die aus Einheiten von Zahlenwerten, als Kette von Einsen und Nullen zusammengesetzt sind. Die Prozessoren in Computern arbeiten mit einer binären Codierung, die letztlich Grundlage eines funktionierenden Internets ist. Alle Daten werden auf diese Weise digital. Nicht nur die Darstellung der Dinge, auch der Raum, in dem Eduard agiert, erscheint aus heutiger Sicht computerisiert. Zum einen basiert er auf Zahlen, Mathematik bildet die Ordnungsstruktur. So endet zum Beispiel die Beschreibung eines Vergehens mit: „Subtraktion war die gerichtliche Folge.“104 Zum anderen ermöglicht der Raum aber auch Sprünge zwischen den Dimensionen. So kann sich Eduard im 2-D Reich aufhalten oder in die Vierdimensionalität wechseln. Die Traumwelt bietet ihm unendlich viele Ebenen. „Eduards Traum ist eine Reise durch verschiedene Dimensionen“105, schreibt Eckhard Siepmann. Dadurch führe Busch seine Leser über eine Grenze, diese könne „bezeichnet werden als die Grenze des mechanistischen Weltbildes“106. Nach dem Vorangegangenen ließe sich ableiten, dass dieser neue Raum, den Eduard entdeckt, die Idee einer digitalen Welt sein könnte. Das Internet ist ein n-dimensionaler Raum. Computer können problemlos jede Dimension errechnen und mit ihr arbeiten. Avatare ließen sich, so wie Eduard in Punktversion, durch alle Dimensionen bewegen. Eduards utopische Reise wäre theoretisch mathematisch im Datenuniver-
104 Ebd., S. 13. 105 Eckhard Siepmann: Busch und sein Held Eduard an den Grenzen der mechanistischen Welt. In: Hans Joachim Neyer, Hans Ries, ders. (Hrsg.): Pessimist mit Schmetterling. Wilhelm Busch. Maler, Zeichner, Dichter, Denker. Hannover 2007, S. 128. 106 Ebd., S. 129.
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sum umsetzbar.107 Die Traumerzählung hat also einen digitalen Raum präformiert, in dem Subjekte als codierte Datensätze erscheinen. Mathematik ist die Basis des aktuellen Datenuniversums und der beschriebenen Traumwelt. Eduard erklärt die dortige Art der Archivierung: es gibt keine persönlichen Fotoalben mehr, sondern nur noch individuelle Datensätze. Jeder wird exakt vermessen und die Maße zur Erinnerung notiert.108 Ein Datenzettel anstelle eines fotografischen Abbildes. Der Abstraktionsgrad von Eduards mathematischer Erfassung bleibt allerdings hinter der des heutigen Internets zurück. Während die Computer standardisiert mit nur zwei Zuständen, sprich an oder aus, null oder eins arbeiten, erfährt in Eduards Traum jedes Ding und jedes Subjekt eine persönliche Codierung. Subjekte werden zwar mathematisch erfasst, dennoch bleiben kulturelle Bedeutungen haften und folglich wiederum lesbar. So werden Soldaten mathematisch als „überwiegende Größe“109 bezeichnet. In Eduards Traum behalten Dinge und Subjekte Individualität, werden aber gleichzeitig mathematisch abstrahiert. Die Beschreibungen erscheinen wie ein Zwischenschritt oder ein Brückenschlag hin zu einer auf Algorithmen basierten Technik. Die Abstraktion in Eduards Traumdenken mündet in die Utopie einer Technik, die ebenfalls auf Abstraktion und Reduktion basiert. Jedoch ist die Codierung, mit der Computer und folglich das Internet arbeiten, eine wesentlich formalisiertere oder universellere als jene, die Eduard erträumt. Digitale Daten stehen sozu-
107 Vgl.: Jens Schröter: Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine. http://www.theorie-der-medien.de/text_druck.php?nr=46, abgefragt am 20.03.2010, S. 4. 108 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 20. 109 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 12.
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sagen auf einer höheren Abstraktionsstufe, sie sind dem Erfahrungsraum noch entrückter als Eduards mathematische Subjekte. Der Text bietet eigentlich drei Abstraktionsebenen: Zunächst die des abstrakten Denkens, die einen Zugang zur Welt der Ideen erst ermöglicht110, dann die der ‚schwachen’ mathematischen Codierung und schließlich, als Utopie gelesen, den Ausblick auf formalisierte Computerprozesse. Wilhelm Buschs Traumgeschichte führt dem Leser eine Art historischen Prozess der Formalisierung und Normierung vor. Jens Schröter erläutert den Übergang zum Virtuellen: Abgelöst von der Materie werden reale Prozesse als mathematisches Modell erfasst und beschreibbar. Durch Programmierung werden sie dann simuliert und virtuell im Rechner zur Erscheinung gebracht. 111 Diese Formalisierung und Reduktion erscheint auch als ein Mittel zur Wahrheitsfindung, die Platon bereits mit dem Instrument Arithmetik in Aussicht gestellt hat. An digitale Daten oder computerisierte Prozesse sind Wünsche gebunden: Wenn Ingenieurs- oder Naturwissenschaften ihre Versuche nicht mehr real durchführen, sondern Testläufe modellieren und digital berechnen lassen, dann spiegelt dies vor allem das Vertrauen darauf, dass Zahlen objektiv seien und die Wahrheit abbilden würden – so wie auch Platon sie beschreibt, als Weg zur reinen, unverstellten Erkenntnis. Computerisierte Datenerstellung scheint Subjektives auslöschen und Probleme, vom Persönlichen oder Kulturellen unbeeinflusst, fassbar machen zu wollen.
110 Vgl. Platon: Der Staat.(Politeia). Herausgegeben von Karl Vretska. Stuttgart 2006, S. 343 [526a]. (OA., griechisch: um 370 v. Chr.). 111 Schröter, Intermedialität, Medienspezifik und die universelle Maschine, a. a. O., S. 3.
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Der entscheidende Anlass und Beweggrund, Algorithmen beziehungsweise Programme zu schreiben, ist die Verknappung. Nicht mit Dingen selbst soll operiert werden, sondern mit ihrer auf Grundlegendes reduzierten Struktur. Rein und entschlackt erscheinen die Programme und Codierungen, die ‚Basisapparaturen‘ des Internets: „Computer […] bieten Form […] unter Verzicht auf das ›Fleisch‹.“112 d) Körperformierung „Vor meinem inneren Auge, wie auf einem gewimmelten Tapetengrunde, stand das Bild der Flamme, die ich soeben gelöscht hatte. Ich betrachtete sie fest und aufmerksam. Und nun, ich weiß nicht wie, passierte mir etwas Sonderbares. Mein Geist, meine Seele, oder wie man's nennen will, kurz, so ungefähr alles, was ich im Kopfe hatte, fing an, sich zusammenzuziehn. Mein intellektuelles Ich wurde kleiner und kleiner. […] Ich war zum Punkt geworden. Im selben Moment erfaßte mich's, wie das geräuschvolle Sausen des Windes. Ich wurde hinausgewirbelt. Als ich mich umdrehte, sah ich in meine eigenen Naslöcher.“113 Eduards Traum
Der Zugang zur Welt der Ideen gelingt Eduard durch das Verlassen seines Körpers, seiner leiblichen Hülle also, die ihn beschränkt wie die Höhle in Platons Gleichnis. So beschreibt er auch die Situation seines Einschlafens vergleichbar mit der Szenerie in Platons unterirdischem Gefängnis: Der Schlaf lähmt seine Motilität, gebannt betrachtet Eduard vor sich den Schatten. Er ist ausschließlich fokussiert auf die Projektionsfläche des Kerzenabbildes. Dann verlässt er als Punkt seine körperliche Gefangenschaft und kann sich ungebunden, seinen Wünschen folgend bewegen.
112 Hartmut Winkler: Diskursökonomie. Frankfurt am Main 2004, S. 153. 113 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 6f.
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Laut Platon trägt der Mensch in seiner Seele die originalen Urbilder der Ideen. Erkenntnis hieße demnach, sich wieder bewusst an diese zu erinnern. Den Körper beschreibt Platon als zu überwindendes Übel, der den reinen Blick auf das in den Seelen verborgene Wissen versperre. Eduard entbindet sich im Traum nicht nur seiner ihn beschränkenden Körpergrenzen, sondern ermöglicht sich dadurch auch ein Eindringen in einen neuen Erfahrungs- und Wissensraum. Busch benutzt hier das Bild der Welt der Ideen für einen Raum, der zwar in Abstand zu unserer Realität steht, den sein Protagonist aber betreten kann, obwohl ihm nach Platon der Zugang eigentlich versperrt wäre. Eduards Traum stellt damit eine ausgesprochen demokratische und offene Eintrittsmöglichkeit in einen parallel zu unserer Wahrnehmungswelt existierenden Raum vor. Dieser entspricht unter dem Aspekt des Zugangs114 nicht Platons Beschreibung, sondern aus heutiger Sicht vielleicht eher einer virtuellen Welt. Der Eigentransport Eduards in seinen Traumraum wird nur möglich durch eine Loslösung: Die Reise und die Informationsübertragung sind nicht mehr an den eigenen Körper gebunden. Wieder führt der Text dem Leser einen mediengeschichtlichen Wendepunkt vor. Im römischen Imperium war die Botschaft noch an Boten gebunden, so dass Mensch und Nachricht mit derselben Geschwindigkeit reisten. Für diesen Transport wurden Wege und Straßen errichtet, die als Kommunikationswege in der Landschaft sichtbar wurden. Die Telegraphie, wie auch Wilhelm Busch sie erlebt, schafft nun die Möglichkeit zur Loslösung des Körpers vom Nachrichtenaustausch. „Der Telegraph kennt bei
114 „Zugang ist der Schlüsselbegriff“ und sei die Metapher des digitalen Zeitalters, erläutert Jeremy Rifkin in: Access. Das Verschwinden des Eigentums. Frankfurt am Main 2002, S. 25. (OA., USA: 2000).
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der Geschwindigkeit des Lichtstrahls keine Hindernisse, keine Auffangungen seiner körperlosen, ungeschriebenen, doch leserlichen [Botschaften]“115. Übermittlung von Nachrichten kann nun also subjektunabhängig und papierfrei erfolgen. Das mediale Transportsystem, das in Eduards Traum entworfen wird, geht allerdings über diesen 1891 aktuellen Stand weit hinaus. Neu ist, dass Eduard den Raum, in dem Informationen übertragen werden, auch ohne Körper subjektiv erfährt. Er kann mit telegrafischer und körperballastloser Geschwindigkeit reisen, aber gleichzeitig die Übertragungswelt, den Raum des Informationsflusses selbst, erleben. Eduards Traumgebiet ermöglicht ein freies Flanieren durch die Welt, das er euphorisch beschreibt. Alles erscheint ihm gleich nah und er ist sofort dort, wo er sich wünscht zu sein. Wie im Internet ist jeder Webspace ‚nur einen Klick’ entfernt. Eduard imaginiert eine Welt, die nicht nur schnelle Übertragung ermöglicht, sondern in der er als Punkt auch existieren kann. Es ist ein Reich, in dem er verweilt und das ihm dialogische Kommunikation und subjektive Immersion erlaubt. Ansatzweise vergleichbar erlebt er eine Art persönlich gestaltetes Web 2.0, wie es zum Beispiel MySpace bietet. Zeitweilig an einem mitformbaren räumlichen System teilzunehmen, das als soziales Netzwerk dient, ist ein aus Eduards Traum ablesbarer Wunsch. Grenzen dieser subjektiven Einschreibung werden unter dem Aspekt der Interaktivität an späterer Stelle noch erläutert. Eduards Bericht seines traumhaften ‚Second Life’ wird immer wieder unterbrochen durch eine Stimme, die ihn ermahnt, nicht so zu schnar-
115 Frank Haase: Stern und Netz. Anmerkungen zur Geschichte der Telegraphie im 19. Jahrhundert. In: Jochen Hörisch, Michael Wetzel (Hrsg.): Armaturen der Sinne. Literarische und technische Medien 1870 bis 1920. München 1990, S. 43. (Erg. CLS).
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chen. Diese Stimme dringt aus Eduards Schlafzimmer in seinen utopischen Reiseraum ein. Der Raum seiner körperlichen Realität und seine Traumwelt existieren also gleichsam parallel. Eduard besitzt sozusagen zwei Körper und hält sich zeitgleich in zwei Systemen auf. Er kann beide subjektiv erfahren. Ebenso wie das häufig als ‚Parallelwelt‘ bezeichnete Internet ist Eduards Reiseraum ein Netz, das parallel zum Gesellschaftsraum existiert. Das Dispositiv der Traumwelt ist ein Netz im Netz, da Eduards Körper in das reale soziale Netzwerk eingebunden bleibt. Gedanklich kann Punkt Eduard zwischen den Systemen hin- und herschalten. Es ist ein Fort-Da-Spiel mit dem Körper und stellt einen Gewöhnungsprozess dar. Möglicherweise und wie unter dem Aspekt der Abstraktion bereits erläutert, zeigt Eduards Traum auch hier eine mediale Entwicklung: Ablesbar wird eine Ausprägung von Medienkompetenz und Verständnisbildung für die Ebene des Symbolischen. Dies bedeutet Wissen um die Fiktion bei gleichzeitigem Genuss und Annahme des realen Eindrucks. So erlernen User, ihren Avatar in der Spielsituation als ‚Ich’ zu fühlen. Eduard sagt, er sei der Punkt. Diese Immersion ist zentrale Grundlage für Engagement und Spielvergnügen. Ein Medium wie das Internet funktioniert nur dank der Aktivität und dem Willen des Benutzers, sich darauf einzulassen. Eduard führt vor, was heute vergleichbar wäre mit der Begeisterung für dreidimensionale Internetwelten, wie beispielsweise Second Life. So schreibt er vom „Spaß“116, den er empfindet wenn er wieder in die Traumwelt eintaucht. Interessanterweise wird der Traum einige Male unterbrochen, Eduard erwacht kurz und entscheidet sich mit Freude, sofort wieder weiterzuträumen. Auslöser der kurzen Wachmomente sind Medien: die Erwäh-
116 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 39.
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nung der Sprache117 oder die Beschäftigung mit Musik118. Ein möglicher Grund für dieses Phänomen könnte das kurze Bewusstwerden von Medialität sein, das es an diesem Punkt nötig macht, sich wieder bewusst für das Eintauchen in das Medium Traum zu entscheiden. Dass ein Medienkonsument ‚getäuscht’ werden möchte und somit an das „Ja, ich weiß“ um die Illusion stets ein „Wie auch immer“ anschließt, beschreibt der Apparatustheoretiker Jean-Louis Comolli.119 Eduards Traum, mit Freud als Wunscherfüllung gelesen, lässt sich zudem an ein Zitat Florian Rötzers anschließen, der über virtuelle Existenzen schreibt. Nicht nur die Überwindung des Körpers sei es, eher die „schillernde Uneindeutigkeit [zu fühlen] wie es ist, ein anderer und zugleich man selber, hier und dort, verankert in einem materiellen Körper zu sein und gleichzeitig einen virtuellen Leib zu beleben.“120 Eduard läuft nie Gefahr, diese zwei Welten zu verwechseln und betont sogar sein Wissen um die Trennung. Paradoxerweise wirkt der Traum wach, bewusst also und phantastisch oder wunschgeleitet zugleich. Der Protagonist genießt die Illusion, die ihm die Traumproduktion bietet. Eduard wird nicht ihr ‚Opfer’, er weiß um die Irrealität. Zum einen existiert ein reales soziales Netz, in dem er überwacht und kontrolliert wird: „Eduard, schnarche nicht so!“121. Gleichzeitig gibt es den Traum-
117 Ebd., S. 29. 118 Ebd., S. 39. 119 Jean-Louis Comolli: Maschinen des Sichtbaren. In: Robert F. Riesinger (Hrsg.): Der kinematographische Apparat. Geschichte und Gegenwart einer interdisziplinären Debatte. Münster 2003, S. 79. 120 Florian Rötzer: Vom zweiten und dritten Körper, oder: Wie wäre es, eine Fledermaus zu sein oder einen Fernling zu bewohnen? In: Krämer, Medien – Computer – Realität, a. a. O., S. 162. (Hervorh. und erg. CLS). 121 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 46.
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raum, in dem er tun und lassen kann, was er möchte. Die Pointe ist hier das folgenlose Agieren. Ganz ähnlich betonen aktuelle Internettheorien den fiktiven Charakter und somit die Möglichkeit des Probehandelns im Netz. Symbolische Operationen können Dinge austesten, ohne Auswirkungen im Tatsächlichen zu haben. Ihr Reiz liegt darin, von realen Konsequenzen entkoppelt zu sein.122 Eduard betont, die Handlung seiner Erzählung sei ein Traum und entziehe sich daher jeder Aufforderung zur Referenz. Auch wenn Eduard sein Verhalten mitunter (scheinbar eher aus wacher, rückblickender Sicht) tadelnd resümiert, gefällt er sich zugleich sehr in seiner unbeschwerten und unbelangbaren Rolle, die er im Traum ausleben kann. Bei jedem Realitätseinbruch durch die Ermahnung, nicht zu schnarchen, entscheidet Eduard, sich lieber weiterhin auf seinen Traumraum zu konzentrieren. Er bleibt Punkt und existiert dort makellos ohne seinen Körper. In Eduards utopischem Internetraum ist sein realer Körper unbedeutend. Der Protagonist kann in eine Welt vordringen, die getrennt ist vom fleischlichen Ballast.123 Eduard kann sein ‚intellektuelles Ich’ gleichsam auslagern und bewegt sich frei und unbeschwert. Vielleicht ist dies ein unbewusster Wunsch, der das Medium Internet mitproduzierte und weiter verändern wird. Hartmut Böhme merkt dazu folgendes an: „Es geht also darum, ein Medium des Eros und des Vergnügens zu kreieren, bei dem die Interfaces zwischen Körper und Cyberspace so eingerichtet sind, daß sie für alle Sensationen durchlässig sind, zugleich aber alle biographischen
122 Vgl. Winkler, Docuverse, a. a. O., S. 199. 123 Wilhelm Busch befasste sich in seinen Werken aus zeitgenössischer Perspektive mit den narzisstischen Kränkungen des menschlichen Körpers: dass der Mensch nach Darwin auch nur ein Tier und sowieso Zufallsprodukt der Evolution sei und dass das Ich nach Freud nicht einmal mehr Herr im eigenen Haus sein könne.
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Identitäten, alle moralischen und hygienisch-medizinischen Risiken, alle fleischlichen Schäbigkeiten und charakterlichen Erbärmlichkeiten herausfiltern. […] Hier also geht es um moralische und psychische Entlastung von Referenz bei gleichzeitiger Steigerung der medialen Sensorik. […] Das Gehirn mit einem multisensorisch perfektionierten Cyberspace verkoppelt, wäre das größte denkbare erotische Organ. So gesehen wäre der Cyber-Leib die Vollendung unserer Kultur“.124
Eduard erträumt sich einen abstrakten Körper und erschließt sich dadurch eine entfernte Welt. Der fleischliche Leib weilt gemütlich zu Hause und befindet sich außerhalb jeder Gefahr, die das Betreten eines unbekannten Raumes real mitunter birgt.125 Eduard ist gerade wegen seines formalisierten Traumkörpers, also seiner „Geringfügigkeit“126, sicher. Er besteht dort aus einer unsterblichen Hülle, denn „Daten kennen, anders als Körperzellen, keinen programmierten Zelltod.“127 Konzentration und Wahrnehmung Eduards sind auf den Traumraum fokussiert. Er genießt den Luxus, sich der realkörperlichen Unbewegtheit zum Trotz auf Reisen zu begeben. Eine Erfahrung, die Nutzer(inne)n des Internets wohlbekannt ist. Das Datennetz erscheint ihnen als „unendlich weit ausgedehnte und unendlich komplexe Struktur […], die den gesamten Globus umspannt und einer massefrei-leichten Erschließungsbewegung sich anbietet. […] Die Vernetzung der Rechner hat tat-
124 Hartmut Böhme: Enträumlichung und Entkörperlichung im Cyberspace und ihre historischen Vorläufer. http://www.culture.hu-berlin.de/hb/static/archiv/ volltexte/texte/entraeuml.html, abgefragt am 28.11.2009. 125 So kann Punkt Eduard in Anlehnung an Homers Odyssee den antiken Sirenen lauschen, ohne dass sie seinen Körper anlocken und ermorden könnten. Auch Nahrungszufuhr benötigt sein ‚Datenkörper‘ nicht. 126 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 64. 127 Andreas Rosenfelder: Vom doppelten Körper des Facebook-Nutzers. In: WELT, Seite 72 – 73, 7. März 2010.
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sächlich eine ›Welt‹ eröffnet.“128 Andreas Rosenfelder schreibt, „dass sich im Zeitalter der sozialen Netzwerke jeder einen doppelten Körper leisten kann. Unser Zweitkörper besteht aus Daten, und er lebt nicht auf der Erde, sondern oben, in der Wolke des Internets. Dort repräsentiert er, sogar nachts, wenn wir schlafen. [...] Und er hat, wenn wir ehrlich sind, meistens auch ein paar Freunde mehr als wir.“129 Die Möglichkeit, in diese ›Welt‹ ebenso wie Eduard einzutreten, bietet das Datenuniversum noch nicht. Das umgangssprachliche ‚im Internet surfen’, drückt allerdings den Wunsch nach leiblicher Anwesenheit im Netz aus. Surfen ist eine der intensivsten körperlichen Erfahrungen, bei dem der Wellenreiter das Gefühl hat, für den Moment des Aufenthalts im Wasser mit dem ihn umgebenden Medium zu verschmelzen. Aktuelle Avatare haben einen Nachteil, „man selbst bleibt aber außerhalb des Körpers, schlüpft nicht in ihn und damit in die virtuelle Welt hinein. Deswegen werden Avatars nur eine Zwischenlösung auf dem Weg zu einem virtuellen Körper – und möglicherweise irgendwann zu einem Upload in einem anderen Träger als dem Leib – sein.“130 Eduards Traum scheint unter diesem Aspekt betrachtet also eine Utopie nicht der gegenwärtigen, sondern einer zukünftigen Internetwelt zu sein. Eduard figuriert die Idee eines noch nicht existenten virtuellen (und idealen) Körpermodells. Andererseits tritt er, aufgrund seiner dem Bit ähnelnden Punktform, durchaus als ein aktueller Standard in Erscheinung.
128 Winkler, Docuverse, a. a. O., S. 54. 129 Rosenfelder, Vom doppelten Körper des Facebook-Nutzers, a. a. O. 130 Rötzer, Vom zweiten und dritten Körper, in: Krämer (Hrsg.), Medien – Computer – Realität, a. a. O., S. 168.
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e) Reduktion und Codierung „Ich war nicht bloß ein Punkt, ich war ein denkender Punkt. Und rührig war ich auch. Nicht nur eins und zwei war ich, sondern ich war dort gewesen und jetzt war ich hier. Meinen Bedarf an Raum und Zeit also macht ich selber, ganz en passant, gewissermaßen als Nebenprodukt. […] Obwohl ich nun, wie erwähnt, infolge der traumhaften Isolierung meines Innern alle fünf Sinne, man möchte fast sagen, zu Hause gelassen, kam es mir doch vor, als bemerkte ich alles um mich her mit mehr als gewöhnlicher Deutlichkeit […]. Es war eine Merkfähigkeit ohne viel Drum und Dran, was vielleicht manchem nicht einleuchtet. Die Sache ist aber sehr einfach. Man muß nur noch mehr darüber nachdenken. Um mal zu prüfen, ob ich überhaupt noch reflexfähig, flog ich vor den Spiegel. Richtig! Da war ich! Ein feines Zappermentskerlchen von mikroskopischer Niedlichkeit!“131 Eduards Traum
Seine Traumwelt durchreist Eduard als nulldimensionaler Punkt. Diese Körperutopie ist für das ausgehende 19. Jahrhundert ungewöhnlich. Fiktive Romane der Zeit, wie etwa Herbert Georges Welles Krieg der Welten, entwerfen technisierte Körper, die rückblickend als Cyborgs bezeichnet werden. Es sind Menschmaschinen mit enormen Kräften, die Kriegs- oder Arbeitsideale figurieren. Dabei werden die Hände oft überbetont.132 Eben dieses Organ, das Arbeit quasi verkörpert, verschwindet in Eduards Miniaturisierung. Eine Erklärung wäre, dass Eduards Traum eine Medienutopie auf Basis des jetzigen Computers entwirft, der dem Menschen heute Arbeit abnimmt oder durch Automatisierung zumindest vereinfacht. Eine andere wäre, dass Eduard seinen Körper mit anderen Zielen, von schierer Masse und Kraft abweichenden Wünschen, strukturiert.
131 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 7f. 132 Vgl.: Dierk Spreen: Cyborgs und andere Techno-Körper. Ein Essay im Grenzbereich von Bios und Techne. Passau 2000, S. 7ff. (OA. 1998).
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Eduard hat als Punkt unendliche Möglichkeiten. Da seine Ausdehnung mathematisch gleich null ist, gibt es für ihn keine räumlichen Grenzen. Sogar Wände sind für Eduard kein Hindernis. Als Punkt durchdringt er sie. „Ich war dort gewesen und jetzt war ich hier. Meinen Bedarf an Raum und Zeit also macht ich selber, ganz en passant, gewissermaßen als Nebenprodukt.“133 Erst die Reduktion ermöglicht Eduard diese fantastische Übertragungsfähigkeit. „Der Transport selbst, so könnte man sagen, setzt sein Gesetz durch und zehrt die Substanz der Signifikanten [und hier auch des Übertragungsnetzes selbst] Schritt für Schritt auf; Übertragung und Transport schreiben sich in die Zeichen zurück und magern sie ab“134. Subjekt Eduard wird als Punkt selbst Zeichen der Zirkulation, der Akt der Übertragung erfordert seine Körperformierung. Für die „Mediensphäre [sind] Masse und Schwerkraft“135 hinderlich und daher zu reduzieren. Für die Zeit Wilhelm Buschs gilt die Auseinandersetzung mit Optimierungsmöglichkeiten technischer Transportformen und die Produktion von medialen Netzwerken als „ein Merkmal des Jahrhunderts“136. Der Fortschritt in der Vernetzungsarbeit wird sichtbar, als das Telegrafennetz beginnt, die Erde zu umspannen. Die Verlegung von Kabeln und Drähten in Europa schafft ein großes Bewusstsein für die materiellen Bedingungen der damals neuen Technik. Ein zeitgenössisches Erklärungsmodell drückt dies aus: „Unter Telegrafie mußt du dir einen rie-
133 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 9. 134 Hartmut Winkler: Tauschen, Austauschen, Kommunizieren. Netzbildung in Ökonomie und Medien. In: Barkhoff, Böhme, Riou (Hrsg.), Netzwerke, a. a. O., S. 313. (Erg.: CLS) 135 Ebd. 136 Hugh Ridley: Liliencron und Bellow. Der literarische Zugang zum Netz um 1900 und 2000. In: Ebd., S. 241.
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senlangen Dackel vorstellen, der beispielsweise von London bis Edinburgh reicht. Wenn du jetzt dem Dackel in Edinburgh in den Schwanz kneifst, dann bellt er in London.“137 Wenn Eduards Reise als „telegraphisch“138 bezeichnet wird, dann bezieht sich dies also eher auf seinen codierten Körper, weniger aber auf die Übertragungswege. Denn die Art der Überwindung von Entfernungen funktioniert für Punkt Eduard gänzlich kabellos. Stellenweise erinnert die Beschreibung eher an heutige Satellitenkommunikation.139 Eduard liebt diese Ungebundenheit, die Freiheit, sich im „unermeßlichen Raum“140 unvorherstrukturiert zu bewegen. Entfernungen, wie oben symbolisiert durch einen langgezogenen Dackel, also konkrete Strecken, die es zu überwinden gilt, sind für ihn unbedeutend und sogar unbewusst, wie uns heute das globale Netzwerk Internet im alltäglichen Umgang. Diesen Wunsch nach Überwindung von Zeit und Raum bezeichnet Joachim Radkau für die Zeit, in der Eduards Traum verfasst wurde als „Kollektivpsychose“141. Inspiriert worden sein könnte diese Begeisterung über eine Zirkulation durch Raum und Zeit – ebenso wie die Idee der Codierung – auch von der sich damals entwickelnden Telegrafie.142 1891 wird die Internationale Elektrotechnische Ausstellung mit den Worten eröffnet: „Es geht ein Geist der Unruhe durch diese Zeit; phantastische Vorstellungen
137 http://www.zita.de/zita20/result.php?stext1=telegrafie&Submit=Zitate+finden, abgefragt am 18.03.2010. 138 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 9. 139 Ebd., S. 34ff. 140 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 57. 141 Joachim Radkau: Das Zeitalter der Nervosität. München, Wien 1998, S. 216. 142 Diesem Medium widmet sich die Arbeit an anderer Stelle, in Kapitel IV.5, ausführlich.
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erfüllen weite Kreise. Weil man an die Technik glaubt, erwartet man das Unmögliche von ihr; es ist die Zeit der Utopien.“143 In seinem Traumreich besucht Eduard ein Museum und amüsiert sich darüber, wie viel Zeit und Arbeit dort in die Restauration von großen dreidimensionalen Kunstwerken gesteckt wird. Nicht nur Umlauf, auch Bewahrung von digitalen Daten erscheint heute hingegen ungleich leichter. Eduard beschreibt seinen eigenen Vorteil gegenüber den an Material haftenden Punkten: „Behäbig [waren diese] gemachten [Punkte] in Tusche und Tinte. Sie saßen still und versimpelt auf ihren Reißbrettern an der Wand herum und freuten sich, daß sie überhaupt da waren.“144 Die Eigenschaften der virtuellen Welt und die von Eduards Körper sind hingegen Schnelligkeit, Ortsunabhängigkeit und direkte Wahrnehmung eines großen Raums. Es sind die Besonderheiten des Internets und die von Eduards Traumraum, dass alles gleich nah, gleich präsent ist, dass Abwesendes schlagartig anwesend wird und natürliche Zeit- und Raumentfernungen überbrückt, gar nichtig werden. Eduards Traumnetzwerk ist dabei die konsequente Fortführung einer materiellen Entschlackung: ein vollständig immaterielles Dispositiv. „Man kann die Mediengeschichte insgesamt als den Prozess einer zunehmenden Immaterialisierung betrachten“145 – gerade zu jener Zeit. Während Ströme „des 18. Jahrhunderts noch materieller Art sind […], so zeichnet sich für die Zeit um 1900 eine Verschiebung ab“.146 Progressiv zeigt sich
143 Ebd., S. 214. 144 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 16. (Erg.: CLS). 145 Winkler, Tauschen, Austauschen, Kommunizieren, in: Barkhoff, Böhme, Riou (Hrsg.), Netzwerke, a. a. O., S. 312. 146 Jürgen Barkhoff, Hartmut Böhme, Jeanne Riou: Vorwort. In: Dies. (Hrsg.): Ebd., S. 9.
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eine „Entstofflichung der Materie“147, Informationen können auf diese Weise nun „zirkulieren – jenseits jeder Bindung an ein substanziiertes Subjekt“.148 Dies ermöglicht einen wesentlich leichteren Kontextwechsel. Heute fordert digitale Verschickung über das Internet massefreies Material. „Das Netz ist als konstitutive Bedingung von Identität zugleich das Spielfeld ihrer Entfaltung.“149 Der Übertragungsraum formt Zeichen und die Zeichen formen sich für ihn. Eduard strukturiert sein Ich für das System, in dem er zirkuliert. Auch das Bit, als computerisierte Informationsbasis, ist ein Punkt. Eduards nulldimensionaler Körper ist Voraussetzung für den Eintritt in sein weltweites Netz, in dem er Reisewünsche entfalten kann. Eduard wird Bit, weil die Punktform ihm als ideale erscheint. Das diesem Teilstück vorangestellte Zitat, mit Jacques Lacan gelesen, verstärkt diesen Eindruck noch. Punkt Eduard betrachtet sich im Spiegel und sieht sein Ideal-Ich. Lacan beschreibt, wie ein Spiegelbild die Körperwahrnehmung grundlegend strukturiert: Denn dieses generiert für ein Kleinkind die präjudizierende Ganzheitserfahrung, der eigene Leib wird erstmals als ein System begriffen. Das Subjekt empfindet diese frühkindliche Erkenntnis, nach Lacan, als einen intensiven und idealen Moment. Dies sei eine exemplarische Situation, in „der das Ich in einer ursprünglichen Form sich niederschlägt.“150 Eduard findet als Erwachsener im Punkt sein neues Ideal, ein Ideal-Ich 2.0. Die emphatische Betrachtung im Spiegel stellt sein ursprüngliches Erlebnis nach, bei
147 Ebd. 148 Ebd. 149 Stefan Münker: Ich als Netzeffekt. Zur Konstitution von Identität als Prozess virtueller Selbsterschließung. In: Ebd., S. 346. 150 Jacques Lacan: Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion. In: ders.: Schriften Band 1. Olten 1973, S. 62. (OA., frz.: 1949).
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dem sich sein Ich bildete. Sigmund Freud beschreibt den Wunsch nach Reproduktion idealer Momente als des Menschen größtes Begehren.151 Eduards Körper ist als Punkt noch einmal eine perfekt kompakte, verschmolzene und geschlossene Form. Er ist minimierte Vollständigkeit. Das Kleinkind, das motorisch noch unfähig ist, sich nach seinem Willen zu bewegen, kann dank der Erfassung seiner Körperform im Spiegel auch die leibliche Koordination testen und seine Bewegungen überprüfen. Die eigene Wahrnehmung des Körpers als lähmende Gefangenschaft wird aufgelockert. Eduard als Punkt überbietet nun dieses Spiegelstadium152, indem er seinen Körper verlässt und sich absolut ohne motorische Schranken bewegt. Er kann aus dem Rahmen des Spiegels hinausfliegen und ein neues, scheinbar grenzenloses Medium betreten. Auch dieses Medium strukturiert ihn, denn die Voraussetzung zur freien Zirkulation ist, wie beschrieben, die Reduktion. Diese Formung wird, wie im Spiegelstadium, nicht erzwungen sondern erwünscht. Wenn nach Lacan das Subjekt sein außerhalb des Körpers liegendes Spiegelabbild als Ich und als Ideal erfährt, erlebt Punkt Eduard so abermals ein ideales Außer-Körper-Erlebnis. Zudem zeigt der Moment den Willen und die Freude, den neuen Körper als den eigenen anzunehmen, sich in ihn zu projizieren.153 Nach Florian Rötzer sei es eine Aufgabe von Medienutopien, „einen idealen Körper zu konstruieren, dem wir nun andauernd in den Bild-
151 Vgl.: Sigmund Freud: Triebe und Triebschicksale. Frankfurt am Main 1975. (OA.: 1915). 152 Auf die Spiegeltheorie wurde in Kapitel III.1.a. bereits kurz verwiesen. Dieses psychoanalytische Modell diente auch den Apparatustheoretikern zu Plausibilisierung ihrer Thesen. 153 Immersion ist, wie auch im vorangegangenen Teilstück beschrieben, immer bedingt durch Wunsch und Mitarbeit der Subjekte.
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schirmen begegnen und in den Spiegeln sehen wollen.“154 Eduards Punktform kann demnach als verdichteter Wunsch verstanden werden: Als Punkt ist Eduard der minimalste und zugleich avancierteste, medialste und modernste aller Körper in seinem Traumsystem, vergleichbar mit dem Bit im elektronischen Datenverkehr. Punkt Eduard ist kompakter und folglich transportabler als zum Beispiel die geometrischen Figuren; auch Vilém Flusser beschreibt den nulldimensionalen Punktkörper als Ideal im Zeitalter des Datenuniversums.155 Dass Eduard seinen „endlichen, fleischlichen, nassen, schmutzigen, fragilen, bedürftigen und schmerzenden Leib“156 für diese Reise zurücklässt, ist zudem eine Utopie der Beschleunigung. 1850 fand der Physiologe Hermann von Helmholtz heraus, dass Sinneswahrnehmungen über den Körper als Leiter in das Gehirn laufen. Dieses Ergebnis „zerstörte den Glauben an […] Unmittelbarkeit“157 und führte „die Zeitfunktion als Konstante in die Verbindung Mensch und Welt [ein]“158. Es dauert also, bis äußere Reize über die Nervenbahnen zum zentralen Wahrnehmungsapparat vorgedrungen sind. Punkt Eduard besitzt nun einen Körper, der sich zu einer direkten ‚Informationsempfangsstation’ formiert hat. So ermöglicht er sich unverzögerte Wahrnehmung. Im einleitenden Zitat betont Eduard seine gesteigerte Merkfähigkeit und die enorme
154 Rötzer, Vom zweiten und dritten Körper, in: Krämer (Hrsg.), Medien – Computer – Realität, a. a. O., S. 167. 155 Vilém Flusser: Ins Universum der technischen Bilder. Göttingen 1990, S. 10 und 115. (OA.: 1985). 156 Rötzer, Vom zweiten und dritten Körper, in: Krämer (Hrsg.), Medien – Computer – Realität, a. a. O., S. 163. 157 Frank Haase: Die Beschleunigung des Nachrichtenflusses. Telegrafie, Funk, Fernsehen. In: Georg Christoph Tholen, Martin Scholl, Martin Heller (Hrsg.): Zeitreise. Bilder, Maschinen, Strategien, Rätsel. Zürich 1993, S. 161. 158 Ebd. (Erg.: CLS).
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Deutlichkeit, mit der er alles ihn Umgebende plötzlich erfassen kann. Er spürt unmittelbar, seine Wahrnehmungsgeschwindigkeit ist erhöht. Diese Beschleunigung ist Folge einer Reduktion von Körperlast, an der sich erneut die Utopie einer Internettechnik zeigt. Auch jene Tendenz zum Immateriellen lässt sich vielleicht aus dem zeitgenössischen Nervendiskurs heraus verstehen. Telegrafennetz und Nervensystem wurden nicht nur metaphorisch als vergleichbar, gar aneinandergekoppelt empfunden: Nerven wurden als Drähte verstanden, der Körper somit im alltäglichen Sprachgebrauch technisiert.159 Das Zeitalter der Nervosität und der kranken Nerven wurde nicht zufällig mit der Angst vor Elektrik, Kabeln, Stromnetzen usw. erklärt. Das mangelnde Vertrauen in eine sichere Funktion der technischen Netzwerke bedingte eine Art von selbsterfüllender Prophezeiung: nun galten auch Nerven als unkontrollierbar. Massenhaft erkrankten Menschen an psychischer Unruhe und stets waren ‚die Nerven‘ schuld. Diese wirkten wie mit den neuen, noch anfälligen Transportsystemen zusammengeschaltet – als ob das Nervennetz in ihnen sichtbar, somit also bewusst und problematisierbar wurde. Vor diesem Hintergrund einer verbreiteten Angst vor Übertragungstechniken erscheint Eduards Transportraum rein dem Lustprinzip zu unterliegen: er ist vollständig immateriell und somit störungsresistent. „Der grenzenlose technische Fortschritt war vielen nicht geheuer, aber man konnte sich ihm nicht entziehen, da sich mit der neuen Technik auch elementare Wunschvorstellungen verbanden.“160
159 Radkau, Das Zeitalter der Nervosität, a. a. O., S. 253 - 258. Der Zusammenhang von Nerven und Telegrafie wird in Kapitel IV.5 noch ausführlich analysiert werden. 160 Ebd., S. 215.
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Informationen und Daten selbst sind allerdings dennoch immer angewiesen auf Wirkliches, auf das sie verweisen. Symbolische, immaterielle Informationen bleiben immer auf Tatsächliches bezogen. Zeichen haben ihre Referenz in der Realität und bilden sich auf ihrer Grundlage erst aus. So ist auch Eduard zugleich Punkt im Traum und Körper in der Wirklichkeit.161 Das Material ‚Körper’ ist für seine Reise zunächst unabdingbar. Denn Datenerzeugung findet im Internet ebenso wie im utopischen Traumraum auf materieller Basis statt. Aus Eduards Körper formt sich erst der Punkt heraus und wird dadurch zirkulationstauglich, so wie Hardware zunächst ein Bit erstellen muss. Eduard reduziert sich, bis er zum Datenpaket wird. Er geht als Punkt codiert auf Reisen. Für die spätere Rückkehr in seinen Körper wird er sich wieder entpacken, decodieren und materialisieren. Diese Vorgänge laufen, wie im Computer, automatisch ab. Eduards Wünsche geben nur die Befehle zur Ausführung. Körperliche Hardware ist Grundlage und Ausgangspunkt seiner Existenz. Gleichfalls ist sie ihr Ankunftsziel, und Eduard kann Informationen aus dem Traumnetz wieder in die reale Welt zurückladen. Die Erlebnisse in seinem Traumreich behauptet Eduard so detailliert gespeichert zu haben, dass er sie vollständig in die Realität übertragen könne. Ein eigentlich unmöglicher Vorgang, da Träume bruchstückhaft schon schwer erinnerbar sind. Sie linear wiederzugeben, ist menschlich unausführbar. Speichern und Übertragen ohne Verluste: so ist Eduards Erzählung die Utopie eines computerisierten Automatismus. Herauszulesen ist der Wunsch nach einem Medium, das derartig um-
161 Durch diese Möglichkeit zweier Zustände besitzt er abermals computerähnlich formelle Fähigkeiten, denn ein Bit kann ebenso zwei verschiedene Zustände darstellen: 1 oder 0.
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fangreiche Datenmengen direkt aufnehmen und in einem anderen Raum unverfälscht wiederherstellen kann. Eduard scheint als Bit ein Ideal-Ich gefunden zu haben. „Der gerahmte Blick weitet sich am Anfang des 19. Jahrhunderts zum panoramatischen.“162 Eduard erweitert noch einmal den medialen Raum. Mit Kenntnis des Internets würde er vielleicht formulieren, dass er in Anlehnung an Platons Ideenwelt das Reich des Binärcodes betreten habe, der gewöhnliche User hingegen nur die zweidimensionalen Abbilder auf dem Bildschirm betrachten könne. f) Zugang und Interaktivität „Vor mir [erhob] sich ein mächtiges Schloß. Es hatte weder Fenster, noch Scharten, noch Schornsteine, sondern nur ein einziges fest verschlossenes Tor, zu dem eine Zugbrücke über den Graben führte. Es war aus blankem Stahl erbaut und so hart, daß ich trotz verschiedener Anläufe, die ich nahm, doch partout nicht hineinkonnte. Die Freiheit des unverfrorenen Überalldurchkommens [stieß an ihre Grenzen]. Mit kräftigem Schwunge versucht ich dahin zu fliegen. Ein heftiger Stoß war die Folge. […] Da lag er nun, der kleine eingebildete Reiseonkel; ein Häufchen, kaum der Rede wert, und doch beleidigt über die ungefällige Hartnäckigkeit mancher Dinge, die ihm verquer kamen!“ 163 Eduards Traum
Eckhard Siepmann erläutert in seinem Essay Kafkas Ernst beim Lesen Buschs164 Ähnlichkeiten von Eduards Traum und Franz Kafkas Das Schloss. Der Protagonist dieser Geschichte sei in derselben Position wie Punkt Eduard, für den das Schloss ein undurchdringliches Dispositiv darstellt. Sicherlich hat dieser Vergleich Grenzen, interessant ist jedoch,
162 Klaus Bartels: Vom Erhabenen zur Simulation. In: Hörisch, Wetzel (Hrsg.): Armaturen der Sinne, a. a. O., S. 29. 163 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 84ff. (Erg. CLS). 164 Eckhard Siepmann: Kafkas Ernst beim Lesen Buschs. In: Neyer, Ries, ders., Pessimist mit Schmetterling, a. a. O., S. 136.
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auf einige ähnliche Grundstrukturen aufmerksam zu machen. Kafkas Schloss steht für starre Bürokratie und Ausschluss. Hinter den Mauern wird die Grundlage für Ordnung und Funktion der Umgebung geschaffen. Die Menschen sind auf die Regelungen, die die Schlossbehörde erlässt, angewiesen, denn nur auf Basis dieser Erlasse können sie handeln. Auf diese Weise passiviert, wird ihnen der Zugang zum Schloss verwehrt. Außenstehende können nicht in das System eingreifen. Die Entwicklungsarbeit im Schloss ist Ursprung für alle grundlegenden Strukturen, sie schafft das basale Regelwerk. Eine weitere Anregung dieser Lesart ist die Beobachtung Eduards: er sieht am Schloss Störche, die Babys ausliefern. Dieser Ort erscheint als ‚Produktionsstätte’ eines Systems, in dem Grundlagen hergestellt werden. Im Schloss entsteht der ‚Nachwuchs’, ohne den ein System nicht dauerhaft funktionieren könnte. Dort wird die Basis geschaffen, dort werden neue Elemente produziert. Dem Protagonisten ist Eingriff unmöglich. Zum ersten Mal erfährt Eduard Grenzen und er beneidet die wenigen, die Zugangsrecht besitzen. Wenn nun Eduards Traumwelt eine Internetutopie ist, wie lässt sich dann dieses Schlossgeschehen auf das Datenuniversum übertragen? Das Internet ist ein System strenger Organisation und auch hier gibt es Zugriffsverweigerungen. Wenn es als ein Interaktivität ermöglichendes System gelobt wird, dann bleiben die Grenzen der Eingriffsmöglichkeiten auf Seiten der User meist unerwähnt. Denn Handlung ist nur im Rahmen der Programmierung möglich. Wenn der Avatar in einem Onlinespiel vom User gesteuert wird, so geschieht dies immer nur auf Basis der vom Betreiber angebotenen Möglichkeiten. Diese wiederum nutzen vorgegebene Programmiersprachen oder Homepagevorlagen. Wenige erzeugen die Grundstrukturen für viele Nutzer und sorgen für
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Fortlauf, indem sie ständig am System arbeiten, es mit neuen Komponenten weiterentwickeln. Der User kann individuell operieren, aber nie die Tiefenstrukturen des Systems ändern. Schloss und Internet werfen ihre Konsumenten immer wieder in die Rolle des Users zurück. Die Maschinerie des Datenuniversums bleibt ein codierter, verschlüsselter Apparat. Und die Botschaft eines (Zugangs-)Codes lautet: Ausschluss. Hier liest sich Eduards Traum nicht mehr als Utopie eines idealen Internets, sondern offenbart eine tatsächliche Grenze, ein existentes Problem des heutigen Internets. Der Text verweist so auf „den Systemcharakter und die sich dem Subjekt entziehende Eigengesetzlichkeit des technischen Kommunikationssystems“. 165 Wilhelm Buschs Internetutopie entwirft ein auf Traumwunsch basiertes, eigenes System samt Stärken und Schwächen. Punkt Eduards Allmachtsphantasie wird weiter beschränkt: „[Ich tat] einen eleganten Seitensatz durch die Bretterwand, hinter welcher, so meint ich, die vollständige Welt lag. Es war aber nur Stückwerk.“166 Wie im Internet sieht der User nie das ganze komplexe Netz, sondern immer nur ein Fragment, eine Seite. In Analogie dazu bietet auch Eduards Traumraum einen nicht vorgegebenen und frei wählbaren Reiseweg an. Dort stehen ihm jederzeit alle Orte offen, auch hier ist die Welt so facettenreich wie die reale; allerdings kann er diese nur Stück für Stück betrachten. Da Plätze, die er aufsucht und Szenen, die er erlebt, später wieder aufgegriffen oder weitererzählt werden, hat die Reise mitunter auch eine Hypertextlogik. Durch einige Szenerien klickt sich
165 Jürgen Barkhoff: Die Anwesenheit des Abwesenden im Netz. In: ders., Böhme, Riou (Hrsg.), Netzwerke, a. a. O., S. 70. 166 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 24. (Erg. CLS).
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Punkt Eduard nahezu durch, er nennt dies ‚witschen‘ und es erinnert an das ‚switchen‘ durch YouTube.167 Die Betonung von Grenzen ist ein radikaler Umschwung in Eduards Beschreibung seiner Traumwelt. Sein Wunsch scheint an den Mauern des Schlosses zu zerschellen. Nach dieser Erfahrung verlässt Eduard den zuvor perfekten Raum, beleidigt durch die Erfahrung von Ausschluss. Verweigerung von Einflüssen der User schafft Unzufriedenheit mit dem System. Dieses muss sich folglich ändern. Das Medium Internet zeigt nun mittlerweile, als Web 2.0, verstärkte Öffnungen und bietet Usern mehr Möglichkeiten, sich in das System einzuschreiben. Auch wenn die Interaktivität eine begrenzte ist, kann jeder Internetnutzer heute bei Flickr Bilder veröffentlichen, bei YouTube Videos ansehen, umarbeiten, sich einschreiben und wieder abspeichern168 oder im Blog seine Meinung kundtun. Er arbeitet an Inhalten und Produkten mehr und mehr mit. Und wenn das Time Magazine 2006 ‚You!’ zur ‚Person of the year’ wählte169, symbolisch für alle, die Netzwerke wie Wikipedia oder Facebook mitgestalten, ständig mit Material erweitern und ein vielfältiges, angebotsreiches Web überhaupt erst ermöglichen, dann ist dies auch Ausdruck einer Veränderung im Medium Internet.
167 Vgl. ebd., S. 30 ff. 168 Marek, Roman: Creativity meets circulation: internet videos, amateurs and the process of evolution. In: Fischer, Gerhard; Vassen, Florian (Hrsg.): Collective Creativity. Collaborative Work in the Sciences, Literature and the Arts. Amsterdam, New York 2011. 169 Time Magazine: Person of the year: You! Einzusehen unter: http://www. time.com/time/magazine/article/0,9171,1569514,00.html, abgefragt am 12.11. 2009.
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g) Ausblick Der vorliegende Beitrag hat gezeigt, dass in Eduards Traum ein dem heutigen Internet ähnelndes System erdacht wird. Gemeinsamkeiten, Grenzen und Erweiterungen konnten unter verschiedenen Aspekten erläutert werden. Wünsche und Utopien entstehen auf Basis von Gegebenem und verweisen gleichzeitig in eine gewünschte Zukunft. Gleiches lässt sich meiner Auffassung nach über die Medienentwicklung sagen. Neue Medien tragen zum einen Spuren vorheriger Medien in sich, zum anderen sind Wünsche aus der Zeit ihrer Entstehung in sie eingeschrieben. Eduards Traum ermöglicht, dieses am Beispiel des Internets vorzuführen: Wilhelm Busch entwirft, absolut ungewöhnlich für einen Künstler, der bis dahin mit Bildergeschichten berühmt wurde, erstmals eine Welt, ohne sie zu illustrieren. Die Entscheidung für Text und gegen Bilder ist vor dem Zeithintergrund der ‚Sprachkrise’ Ende des 19. Jahrhunderts besonders auffällig. Sprache wird nun als eine starre Ordnungsstruktur erfasst, die Denken und Gesellschaft organisiert. Sie wird als ein System von Zwang empfunden, Bilder hingegen erfahren eine Aufwertung. Sprache und ihre materielle Niederlegung Schrift erscheinen als Gefüge aus Mängeln und Grenzen. „Sprache ist nicht mehr Ausdruck und Verwirklichung menschlicher Möglichkeiten, sondern gerade das Instrument geworden, sie zu verhindern, zu zerstören.“170 Exakt zu dieser Zeit also verabschiedet sich Wilhelm Busch gegen den Trend von seinen gezeichneten Bildtheatern und verfasst Eduards Traum ausschließlich auf Schrifttextbasis. Und eben auf dieser Grundlage entwirft er die Utopie eines Mediums, das grenzenlos erscheint und gleichzeitig textba-
170 Gert Ueding: Wilhelm Busch. Das 19. Jahrhundert en miniature. Frankfurt am Main 1977, S. 243.
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siert ist. Zwei Attribute, die Sprache nach zeitgenössischer Meinung nicht vereinen konnte. Das Internet mit seinen Programmiersprachen wie HTML oder Java ist ein Textmedium, in dem auch Bilder als Schrifttext codiert vorliegen. Eduards Traum zeigt somit Entfaltungsmöglichkeiten der Sprache und erweitert das als einschränkend kritisierte Medium, um so dessen Mängel zu kompensieren. Räume werden auf schriftlicher und sprachlicher Basis (durch eine Internetutopie) wieder geöffnet. Dies ermöglicht auch eine historische Rückbindung des Internets an das Medium Sprache. Eduards Internetutopie stellt einen Raum vor, in dem Informationen sich über Sprache verbreiten und der gleichzeitig als Text (Buch) gespeichert ist. Seine Technikphantasie ist auf dieser Basis, mit Wünschen aufgestockt, erweitert. So erscheint das Datenuniversum nicht mehr als vollständig neues Medium, sondern legt sich auf das Netz der Sprache und ist in vielen strukturellen Aspekten auch mit ihr vergleichbar. Das Internet ist nicht unabhängiger Herr im eigenen Kosmoshaus, sondern an traditionelle Medien, wie Sprache, Schrift und Zahlen gebunden. „Die kompliziertesten Maschinen sind nur mit Worten […] gemacht“171, sagt Jacques Lacan. Das textbasierte Medium Internet, liegt hier als literarische, schriftliche, mit Worten präfigurierte Utopie vor. Ein Beispiel für die beigemengten Wünsche wären das Streben nach Offenheit, Zugang, grenzenloser Entfaltungsfreiheit und Raum, um sich auszuprobieren. „Das Verlangen, das in der Epoche virtueller Realitäten virulenter denn je wurde, richtet sich darauf, zwischen mehreren Welten von jedem beliebigen Ort aus
171 Abgedruckt bei Hanjo Berressem: Unterwegs im Docuversum. Zur Topologie des Hypertext. In: Klepper, Mayer, Schneck, Hyperkultur, a. a. O., S. 108.
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und zu jeder Zeit zappen und auch in beliebige Körper schlüpfen zu können, das eherne Band also zwischen körperlicher und personaler Identität aufbrechen, das Gefängnis des Körpers zumindest zeitweise verlassen zu können.“172
Der Traum davon existiert offenbar schon vor der ‚virtuellen Epoche’. Buschs Erzählung legt dies nahe und es ist interessant, wie die beschriebenen Wünsche und medialen Ideen hier Ausdruck finden. Die Internetutopie stellt Begehren aber nur als einen möglichen Antrieb zur Technikproduktion vor. Zur Fragestellung der Medienwissenschaft, wie mediale Techniken eigentlich entstehen, bietet Eduards Traum Anhaltspunkte für zwei unterschiedliche Ideenrichtungen. Die eine, mit Platon, Leroi-Gourhan und Kittler gelesen, schlägt eher eine Zwangsläufigkeit der Evolution vor. Die andere, unter Heranziehung von Wunschtheorien, rückt individuelles oder gesellschaftliches Verlangen in den Vordergrund. Beide Ansätze, die kurz vorgestellt werden, sind spekulativ. André Leroi-Gourhan erläutert die prähistorische Entwicklung von Technik: „Wenn man die Realität der Welt des Denkens gegenüber der materiellen Welt anerkennt, ja selbst wenn man behauptet, letztere existiere nur als Wirkung der ersteren, so schmälert man dadurch nicht das Gewicht der Tatsache, daß das Denken sich in organisierte Materie umsetzt und daß diese Organisation, in wechselnden Modalitäten, sämtliche Zustände des menschlichen Lebens prägt.“173
172 Rötzer, Vom zweiten und dritten Körper, in: Krämer (Hrsg.), Medien – Computer – Realität, a. a. O., S. 152. 173 André Leroi-Gourhan: Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt am Main 1988, S. 190. (OA., frz.: 1964).
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Aus Eduards Traum ist in ähnlicher Weise ablesbar, wie Gedanken aus der Welt der Ideen in die materielle Welt kommen, sich zur literarischen Utopie formen, später materialisiert werden und als Technik heute wechselseitig Praxen ausprägen. Friedrich Kittler schreibt: „Die Evolution Universaler […] Maschinen [könnte] auch mit dem Satz anfangen, von dem niemand weiß, ob er frohe Botschaft oder Blasphemie ist: ‚Und das Bit ward Fleisch und wohnte unter uns’. [Die Zahl], der seit Platon die Aufgabe zukam, die vollkommenen Figuren vom Dreieck bis zur Seinskugel, weil sie von einer auf Erden uneinholbaren Exaktheit sind, wenigstens zu bezeichnen, diese Zahl stürzte im laufenden Jahrhundert selbst auf Erden und unter die Figuren ab. […] Die Zahl hat also Chip werden können, weil sie aus ihrer alten Heimat im Überirdischen und Unendlichen herabgestürzt ist.“174
Mit der Analyse von Eduards Traum ließe sich nun sagen, dass bereits im 19. Jahrhundert nicht nur die Zahl, sondern das ganze Netzsystem des Internets als Utopie auf die Erde fiel. In der Erzählung stürzt das Bit, alias Punkt Eduard, am Ende des Traums in seinen „offenen Rachen“175, also in seinen fleischlichen Körper herab, der die Ideen dann weitergibt. Eduards Traumraum ist ein Reich medialer Utopien und unterscheidet sich in einigen Aspekten von Platons Ideenwelt. Gemeinsam ist ihnen aber, Dinge, Konzepte oder Idealzustände vorzustellen, die auf Realisierung abzielen. Nach Platon überdauern Ideen ewig und drängen danach, sich zu verwirklichen. Diese Beschreibung erinnert wieder an das Freudsche Unbewusste, an Bedürfnisse, die auch auf Erfüllung abzielen. Eine Utopie ist ebenso immer Ausdruck von Wünschen,
174 Friedrich Kittler: Wenn das Bit Fleisch wird. In: Klepper, Mayer, Schneck, Hyperkultur, a. a. O., S. 153f. (Erg. CLS). 175 Busch, Eduards Traum, a. a. O., S. 89.
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Kompensation von Mängeln und strebt nach Realisierung. Zur Entstehung von Technik ist demnach ein gedankliches Verlassen der Höhle nötig. Konzepte oder Impulse werden direkt ‚aus einer Ideenwelt geholt‘ und in der Höhle, unserer Realität also, verwirklicht. Eduard verlässt von Wunsch und Phantasie geleitet im Traum die Höhle und entwirft nach der Rückkehr so die Vorstellung eines neuen Mediums. Dieses bleibt vorerst Utopie, weil es technisch noch nicht realisierbar ist. Wenn die Idee vom Internet in der Welt der Ideen existent wäre, würde sie auf ihre Abbildung in unserer Welt der materiellen Erscheinung warten. Auf die Erde kommt sie Eduards Traum zufolge jedoch erst, wenn sie ‚aktiv’ gewünscht wird. Eduards Unbewusstes stellt im Traumgeschehen ein Begehren dar. Busch erklärt zudem ein Reiseverlangen mit dem Ziel, Mängel zu überwinden. Mehrfach konnte die Internetutopie in diesem Sinne als Sehnsuchtserfüllung vorgestellt werden. Der Impuls zur Umsetzung basiert auf einer Notwendigkeit, einem Mangel und dem daraus resultierendem Begehren oder einem utopischen Ideal. Wünsche entfalten stets Dynamiken. Eduards Traum ist eine positive Utopie, die Vorstellung eines (fast) perfekten Zustandes, die Idee eines Mediums, das Subjektwünsche erfüllt. Mit Walter Benjamin lässt sich dieser Traum von einer virtuellen Welt auch exemplarisch für ein Massenphänomen lesen: „Technik […] ist in gewissen Stadien Zeugnis eines Kollektivtraums“ 176 und gleichsam auch als pro-
176 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk. In: Gesammelte Schriften Band V.1. Frankfurt am Main 1982, S. 213.
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duktive Kraft zu verstehen: „Das Träumen hat an der Geschichte teil.“177 „Netze fangen Wünsche ein“.178 Busch vermittelt diese These Jürgen Barkhoffs in seinen einzigen beiden unbebilderten Erzählungen. In Der Schmetterling179 ist der größte Wunsch eines Schneiderlehrlings, einen Schmetterling mit einem Netz zu fangen. Dafür begibt er sich auf eine lange, gefährliche Reise. Dort dient noch ein dreidimensionales Netz dem Wunschfang, in Eduards Traum ist es ein immaterielles Netzwerk, welches als ein Strukturvorschlag oder eine Ideenskizze für die Evolution unseres Internets erscheint. Die Analyse lässt die These zu, dass sich Wünsche in Medien einschreiben und deren Entwicklung beeinflussen können. So verliefe unterhalb der bekannten Technikgeschichte noch eine weitere, aber unterirdische Linie: eine Entwicklungskraft, ein sich jeweils einlagerndes Kollektivbedürfnis. Und es ginge in der Mediengeschichtsschreibung nicht nur um die materielle Erstellung einer (Medien)Technik, sondern auch um sedimentierte Wünsche, die mit am Werk waren und als Antrieb fungierten. „Denn ein Schiff erschaffen heißt nicht die Segel hissen, die Nägel schmieden, die Sterne lesen, sondern die Freude am Meer wachrufen.“180
177 Ders.: Aufsätze, Essays, Vorträge. In: Gesammelte Schriften Band II.2. Frankfurt am Main 1977, S. 620. 178 Barkhoff, Anwesenheit des Abwesenden im Netz, in: ders., Böhme, Riou (Hrsg.), Netzwerke, a. a. O., S. 69. 179 Wilhelm Busch: Der Schmetterling. In: Bohne (Hrsg.), Wilhelm Busch. Gesammelte Werke, a. a. O., S. 213 – 263. (OA.: 1895). 180 Antoine de Saint-Exupéry: Citadelle. http://wikilivres.info/wiki/Citadelle, abgefragt am 20.03.2010. (OA., frz.: 1948). „Créer le navire ce n’est point tisser les toiles, forger les clous, lire les astres, mais bien donner le goût de la mer“.
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Übergang Die Psychologie kennt ein weiteres Phänomen, dass sich aus meiner Sicht zur Untersuchung nach einer Verbindung mit Medien anbietet: Das Trauma. Ein schreckliches Erlebnis wird hierbei in der Psyche wie ein Fremdkörper eingelagert. Dadurch wiederum entsteht der Trieb, diesen unerträglichen inneren Teil nach außen zu projizieren, zu verschieben und als Symptom auszuagieren. Einem Trauma wohnt der Impuls zum gestalten, ausdrücken, und sichtbarmachen inne. Es drängt zu einer medialen Repräsentation. Die Psychodynamik eines Traumas bildet einen Antrieb zur Suche nach Adressaten, nach einer möglichen Auslagerung. Durch diese Externalisierung muss etwas geformt oder erschaffen werden, dass das Streben nach einer äußerlichen analogen Einlagerung befriedigt. Diese Attribute eines Traumas initiieren meine Fragen, die in den weiteren Kapiteln auf verschiedenen Ebenen bearbeitet werden: Gibt es Einschreibungen von Traumata in Medien und wie wären diese offen zu legen? Welche Symptome zeigen Medien, die auf eine ‚Ablagerung‘ oder ‚Sedimentierung‘ von Traumata zurückgeführt werden können? Hierzu liegen nach meiner Kenntnis bislang keine Arbeiten vor, so dass folgend einen ersten medienwissenschaftlichen Ansatz beitrage. Zunächst wird es deshalb nötig sein, das Phänomen Trauma genauer zu beschrieben.
III. Fallbeispiele zu Traumata und Medien
IV. 1. Das Trauma – eine Begriffsklärung
Der Begriff „Trauma“ kommt aus der Medizin und ist das griechische Wort für „Wunde“. So gibt es in der Chirurgie den Teilbereich der Traumatologie. Im 19. Jahrhundert wurde Trauma in die Disziplin der Psychologie übertragen und meint hier eine psychische Verletzung. Im Zusammenhang der vorliegenden Arbeit bedeutet Trauma immer ein Psychotrauma: ein seelisches Leid also, eine psychische und nach außen hin nicht sichtbare Verwundung. Der Begriff wird neben der Psychologie und Psychoanalyse beispielweise auch in den Geisteswissenschaften verwendet und hat, hier sicher etwas weiter gefasst, inzwischen auch in die Alltagssprache Einzug gehalten. Traumatisierungen durch psychische Erschütterungen geschehen vermutlich seitdem Menschen (und nach neueren Erkenntnissen auch Tiere) ihre Gefühle bewusst wahrnehmen. Somit ist anzunehmen, dass dem psychischen Leid eine tausendejährige Geschichte vorausgegangen ist, ehe das Psychotrauma medizinisch erfasst wurde. Nach diesem langen Vorlauf bedurfte es abermals einer Zeitperiode, bis das Trauma als psychisches Leiden zunächst aus seinem klinischen Kontext hervortrat, um schließlich breitere gesellschaftliche Anerkennung zu finden.
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Diese Entwicklung vollzog sich nicht linear, sondern in Schüben. Als in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Konzept der ‚traumatischen Neurose‘ entwickelt wurde, galten traumatisierte Personen im Alltag gemeinhin noch als Simulanten. Dies war allgemein der Fall bei den Opfern der zu dieser Zeit häufig auftretenden Eisenbahnunfälle, von denen viele zwar äußerlich unverletzt waren, aber noch Jahre später unter dem Erlebten litten. Ein Phänomen, das abermals unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg vermehrt präsent wurde. Trotz der zahlreichen heimgekehrten und von ihren Kriegserlebnissen emotional gezeichneten Soldaten, war die Vorstellung psychischer Wunden nach wie vor exotisch. Die Wissenschaft griff diesen Umstand auf: 1919 hielten Psychoanalytiker, unter ihnen Sigmund Freud, aus aktuellem Anlass zum weltweit ersten Mal einen Kongress zur Traumatisierung durch Kriegserlebnisse ab.1 Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Debatte um Traumata, insbesondere angesichts der überlebenden Holocaustopfer, neu angeregt. Für die Betroffenen war es jedoch fast unverändert schwer, Anerkennung für die psychischen Folgen der ihnen widerfahrenen Gräueltaten zu erhalten. Wer als Überlebende(r) von Lagern und Haftanstalten materielle Entschädigung ersuchte, wurde zumeist noch immer als Simulant(in) diskreditiert. Erst in der Folge des Vietnamkriegs, als massenhaft traumatisierte Soldaten in die USA zurückkehrten, wurden Traumata als psychische Verletzung mit den auffallend ernstzunehmenden Symptomen und prekären Folgen endlich gesellschaftsübergreifend angemessen diskutiert. Der Begriff Trauma und das Wissen um die Tragweite des Leidens nahmen Einzug in den
1
Vgl.: Caroline Fetscher: Ich versteh’ die Welt nicht mehr. In: Der Tagesspiegel. 09.08.2010. Online unter: http://www.tagesspiegel.de/kultur/ich-versteh-diewelt-nicht-mehr/1899814.html, abgefragt am 01.02.1212.
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gesellschaftlichen Diskurs. Die USA waren 1980 das erste Land, das Posttraumatische Belastungsstörungen als eigenständige Kategorie in die Liste psychischer Erkrankungen aufnahm. Dies war nicht nur für die soziale Anerkennung traumatisierter Personen, sondern auch für eine praktikable Behandlungskostenübernahme durch Behörden relevant. Doch nicht nur Kriege waren Initiatoren der sprunghaften Entwicklung der Psychotraumatologie. Auch Naturkatastrophen und vor allem soziale Bewegungen gaben Impulse, die die Debatten neu entflammten. Die Arbeiterbewegung und mehr noch die Frauenrechtsbestrebungen haben in diesem Zusammenhang massiv auf subtile oder strukturelle Gewaltformen und Ausbeutungen aufmerksam gemacht und so den gesellschaftlichen Blick für schwere, aber unsichtbare psychische Verwundungen geschärft. Inzwischen hat das Thema eine gesellschaftliche Karriere erlebt, die es zunehmend enttabuisiert und Traumata als eine ernsthafte psychische Erkrankung begreift.2 Um den Begriff jedoch nicht inflationär zu gebrauchen, muss er präzisiert werden. Was also bedeutet ein Trauma genau? Wie entsteht es und welche Folgen sind damit verbunden? Im Weiteren soll das der Arbeit zugrundeliegende Verständnis von ‚Trauma‘ expliziert werden. a) Was bedeutet ein Trauma für das Individuum? Ein Trauma ist Resultat einer Extrembelastung. Der Begriff bezeichnet ein unerwartetes, tiefgreifendes Erlebnis, das den Rahmen der üblichen Bewältigungsmöglichkeiten übersteigt. Infolge plötzlicher punktueller, aber auch dauerhaft schrecklicher Ereignisse werden Menschen trauma-
2
Vgl.: U. a.: Gottfried Fischer, Peter Riedesser: Lehrbuch der Psychotraumatologie. München 2009 und Inka Mülder-Bach (Hrsg.): Modernität und Trauma. Wien 2000, S. 7- 11.
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tisiert, wenn sie für das Erlebte keinerlei Verständnismöglichkeiten finden. Umgangssprachlich ausgedrückt versteht der Mensch die Welt nicht mehr, weil gewohnte Sicherheiten in Frage gestellt werden und Strategien zur Erklärung versagen. Ein Trauma prägt sich meist auf gleiche Art und Weise aus. Es entfaltet seine eigene Dynamik. Die Personen fühlen sich zerrissen und hilflos, sie können das Geschehen in keinen Gesamtzusammenhang bringen. In Flashbacks erleben sie das traumatisierende Ereignis wiederholt. Urplötzlich fühlen sie sich in die Situation zurückversetzt und erleben im Wachzustand oder im Schlaf das Furchtbare in Einzelbildern immer und immer wieder. Die verletzte Psyche verkennt dann kurzfristig die Realität und suggeriert der Person, sie erlebe das Vergangene abermals. So fühlt sich ein(e) traumatisierte(r) Soldat(in) beispielsweise schlagartig auf das Schlachtfeld zurückversetzt. Meist sieht sie oder er dann kurze Momentaufnahmen, Bruchstücke schrecklicher Szenen ‚vor ihrem inneren Auge‘. In Kapitel IV.3 wird dieser Aspekt näher erläutert. Für Traumaopfer sind diese Symptome stark belastend und schränken auch ihren Alltag ein. Die Betroffenen passivieren und entfremden sich. In Selbstbeschreibungen der Patient(inn)en finden sich zudem Gefühle von Hilflosigkeit, Unruhe, Stigmatisierung und emotionaler Taubheit. Das Selbst- und Weltverständnis dieser Menschen wurde umstrukturiert, so dass das Trauma einen großen verändernden Einschnitt im Leben traumatisierter Personen bedeutet. Meist wird versucht, das Erlebte zu verdrängen und vom Bewusstsein abzuspalten. Da dieses aber überwiegend misslingt, führt der Weg zur Besserung häufig nur über eine Therapie, mit deren Hilfe das Erlebte für die Patient(inn)en begreifbar und kontrollierbarer gemacht werden soll.
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Die Bezeichnung ‚Trauma‘ erfasst den gesamten Verlauf – vom traumatischen Moment bis hin zu den symptomatischen Folgen. Objektiv lässt sich nicht beurteilen, ob ein Ereignis ein Trauma bewirkt oder nicht. Es ist keine Qualität, die einem Unheil eigen ist, sondern ist bedingt durch das Subjekt. Ob ein Mensch in der Folge unter dem Symptomkomplex eines Traumas leiden wird, ist also nicht vorhersagbar. Es ist abhängig von der je spezifischen psychischen Verfassung des Opfers, von dessen Vorerfahrungen oder auch von dessen Umfeld. b) Traumata in der psychoanalytischen und psychologischen Theorie Die Definitionen eines Psychotraumas sind je nach Disziplin leicht verschieden. Meine Verwendung des Begriffs basiert vor allem auf empirischen Forschungen aus Psychoanalyse und Psychologie. Das Vokabular der Psychoanalyse ist ein bekanntes Nachschlagewerk des Fachbereichs. Ein Trauma wird dort beschrieben als ein „Ereignis im Leben des Subjekts, das definiert wird durch seine Intensität, die Unfähigkeit des Subjekts, adäquat darauf zu antworten, die Erschütterung und die dauerhaften pathogenen Wirkungen, die es in der psychischen Organisation hervorruft.“3 Dabei muss es sich nicht zwangsläufig um ein einzelnes negatives Extremereignis handeln, denn ein Trauma kann ebenso durch Summation entstehen: „Breuer und Freud vermerken auch, daß eine Reihe von Ereignissen, von denen jedes für sich nicht als Trauma wirken würde, ihre Wirkungen addieren können.“4
3
J. Laplanche, J.-B. Pontalis: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt am Main 1973, S. 513. (OA.: Frankreich 1967).
4
Ebd., S. 515.
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Die Psychoanalytiker Peter Riedesser und Gottfried Fischer sind Herausgeber des Grundlagenwerkes Lehrbuch der Psychotraumatologie. Darin explizieren sie Traumata aus ihrer Fachsicht und verdeutlichen umfangreich die Ursachen, Folgen und Therapiemöglichkeiten. Zugleich haben sie damit auch den Begriff der ‚Psychotraumatologie‘, als Bezeichnung für dieses Forschungsfeld, geprägt. Ein Trauma beeinträchtigt das Vertrauen in bislang gültige Normen, Orientierungen und psychosoziale Sicherheiten. Es desillusioniert und verändert die Verhaltensschemata der Betroffenen. „Traumatische Ereignisse und Erfahrungen führen beim Menschen zu einer nachhaltigen Erschütterung seines Welt– und Selbstverständnisses.“5 Die traumatische Situation wird dann von Subjekten „als ‚repräsentativ‘ für zentrale Aspekte des Weltbildes genommen.“6 Während des schockierenden Ereignisses sind die Regeln der normalen Erlebnisverarbeitung außer Kraft gesetzt und die Erfahrung ist nur schwer oder gar nicht in den verfügbaren Schematavorrat integrierbar. Ein unbekanntes und nicht zu erwartendes Grauen ist für ein Individuum nicht fassbar. Es ist für eine Kategorisierung und Verarbeitung der einströmenden Informationen eines solchen Momentes nicht vorbereitet. So wird das psychische System verwundet und Verarbeitungsschemata werden nachhaltig strukturell verändert. 7 In einer Therapie müssen dann der gesamte Selbst- und Weltbezug, die persönlichen Schemata und Muster der Subjekte umgearbeitet werden, damit „die traumatische Situation verständlich wird im Rahmen der all-
5
Fischer; Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, a. a. O., S. 30.
6
Ebd., S. 76.
7
Vgl. Ebd., S. 82–91.
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gemeinen Welterfahrung.“8 Das Traumatische muss auf eine andere Ebene gebracht werden, um es zu begreifen und zu reflektieren. Kapitel IV.5 wird diesen Aspekt des Verstehens beispielhaft vorführen. Dort wird zudem erläutert, wie jedes Trauma bestimmte zum Erlebten passende Symptome ‚wählt‘. Pierre Janet forschte in den 1880ern intensiv im Bereich der Psychotraumatologie. Seine Erkenntnisse trugen dazu bei, ein Ablaufschema zur Traumatisierung entwickeln zu können. Als Erster beschrieb Janet das Konzept der ‚Dissoziation‘: eine traumatische Erfahrung kann nicht verarbeitet werden, sie wird vom Bewusstsein abgespalten, also dissoziiert, und beginnt zu einem späteren Zeitpunkt eigendynamisch wieder aktiv zu werden. Die psychischen Folgen eines Traumas treten somit zeitversetzt auf. Es kann sich über einen langen Zeitraum hinaus ausprägen und nimmt einen „prozessualen Verlauf“9. Auch Sigmund Freud greift den Begriff der ‚Dissoziation‘ für seine psychoanalytischen Theorien auf und bindet ihn in seine ökonomischen Vorstellungsmodelle ein. Der psychische Apparat ist demnach bemüht, die Erregungsquantität in ihm möglichst niedrig und konstant zu halten. Im traumatischen Moment allerdings wird die Psyche von Erregungsmengen überwältigt und der Reizschutz durchbrochen. Das Subjekt ist somit nicht mehr im Stande, die einwirkenden Reizmengen psychisch zu binden. Die Abwehr solch enormer Erregungsmengen erzeugt einen veränderten Bewusstseinszustand: die Dissoziation. Diese bewirkt den Ausfall der linguistischen Codierung und verhindert die Einbindung des Traumas in die psychische Struktur. „Das bedeutet, Niederschlag und Abruf von traumatischen Erfahrungen unterliegen nicht dem sonst
8
Ebd., S. 76.
9
Ebd., S. 48.
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stattfindenden Prozeß der Umschrift und Transformation“10. So entsteht ein nicht symbolisierter, abgekapselter und unveränderbarer Fremdkörper im psychisch-assoziativen Netzwerk – eine sogenannte Krypta11. Tatsächlich verändern traumatische Erfahrungen den psychischen Apparat nachweisbar und strukturell tiefgreifend. Das beschriebene psychoanalytische Modell führt vor, wie Kumulation – hier eine Systemüberlastung – automatisch neue Strukturen generiert. Das traumatische Erlebnis bleibt ungebunden, uncodiert und als Folge entsteht ein automatisierter Wiederholungszwang. Die Krypta wird nun immer wieder unkontrollierbar aufbrechen, ausgelöst durch den Wunsch, das Erlebte nachträglich psychisch zu binden. Das Wiedererscheinen des Traumas kann facettenreich und auf unterschiedlichen Wegen erfolgen, beispielsweise „als emotionaler Erlebniszustand, als körperliches Zustandsbild, in Form von Vorstellungen und Bildern oder von Reinszenierungen im Verhalten.“12 Die vorliegende Arbeit wird im Weiteren untersuchen, ob Traumata sich auch in Medien ausdrücken oder ‚materialisieren‘ können. Janets Grundlagenforschung zur Dissoziation und zur von einem Trauma geprägten Sprache sind bis heute Standards der Psychologie und Psychoanalyse.
10
Werner Bohleber: Erinnerung, Trauma und kollektives Gedächtnis - Der Kampf um die Erinnerung in der Psychoanalyse. In: PSYCHE. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendung. Heft 4, 61. Jahrgang, April 2007, S. 305.
11
Den Begriff der ‚Krypta‘ bringen Abraham und Torok in die Psychotraumatologie ein. Er bezeichnet den dissoziierten Fremdkörper. Vgl.: Nicolas Abraham, Maria Torok: The shell and the kernel. Chicago 1994. (OA.: 1987).
12
Fischer; Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, a.a.O., S. 37.
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Ein Trauma greift auch die Sprache an, es hinterlässt den viel zitierten „unaussprechliche[n] Schrecken“13. Janet erkannte, dass es Traumatisierten schwer fällt oder mitunter gar unmöglich ist, das Erlebte zu beschreiben und passende Worte für die Extremsituation zu finden. Zudem bleibt die Erinnerung meist lückenhaft. Für eine mögliche Therapie kommt erschwerend hinzu, dass meist starke Vermeidungs- und Verdrängungstendenzen versuchen, das Trauma vom Bewusstsein, also von einer Erinnerung daran fern zu halten. Erinnerungen, die in Fragmente gestückelt sind und schwer versprachlicht werden können, streben dann anders als in Worten zum Ausdruck. Diese fragmentarische Sequenzierung geschieht bereits im traumatischen Moment, weil Wahrnehmungseindrücke nicht mehr geordnet werden können: „Zusammenhanglose Sinnesfragmente, in denen olfaktorische (Gerüche), visuelle (Bildfragmente), akustische (Geräusche) und kinästhetische Eindrücke vorherrschen, treten an die Stelle geordneter Wahrnehmungsbilder. Diese Sinneseindrücke […] bleiben über lange Zeit hinweg lebendig; sie scheinen im Gedächtnis wie ‚eingefroren‘ zu sein. Werden sie erneut stimuliert, sei es über situative Reize oder das Wiederaufleben der peritraumatischen Stimmungslage, so kehren sie in intrusiven Erinnerungsbildern wieder, die oft über Jahre bis Jahrzehnte hinweg das gleiche Szenario wiederholen.“14 In einer Modellvorstellung ließe sich also formulieren: Etwas Einschneidendes passiert im Außen, die Erfahrung lagert sich im Subjekt ab und wird zunächst eingekapselt; dann aber drängt sie zur Wahrnehmung und erscheint an ungeplanter Stelle wieder. Was in der Krypta verschlossen ist, wird also nicht vergessen, sondern im Abseits konser-
13
Ebd. (Erg.: CLS).
14
Ebd., S. 94. (Erg.: CLS).
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viert und äußert sich nach einem zeitlichen Intervall der Latenz durch eine bestimmte Symptomatik. Das Verdrängte strebt zeitverzögert wieder zur Erscheinung. Nach einem traumatischen Extremerlebnis bleibt ein diffuser, unveränderbarer Erinnerungskomplex zurück, welcher jederzeit unkontrollierbar aufbrechen kann und das Individuum mit Gefühlen überflutet. Dieser ist für die traumatisierte Person unlenkbar, er unterliegt also einem unkontrollierbaren Automatismus. Um diesen zu durchbrechen müssen unassimilierte Fremdkörper daher (therapeutisch) in semantische und schematische Deutungsmöglichkeiten überführt und chronologisch in eine verstehbare Geschichte eingeflochten werden. Jede Person zieht individuelle Konsequenzen aus der traumatischen Erfahrung und entwickelt meist ‚traumakompensatorische Schemata‘. Möglicherweise erschafft die Person auf diese Weise Rituale, die als Gegenentwurf zum Erlebten dienen. In jedem Fall fungieren die entworfenen Maßnahmen zur „Kontrolle des Schreckens“15 und um „zukünftige Wiederholungen vermeiden“16 zu können. Im traumatischen Kern liegt also gleichzeitig auch ein Begehren – der Wunsch, diese Krypta fassbar machen zu können. Somit ist jede Wiederaufführung im Symptom oder Flashback letztlich Ausdruck des Dranges, das Trauma zu bearbeiten.
Unter dem Aspekt der Erinnerung und Versprachlichung entfernt sich das Verständnis von und der Umgang mit Traumata in bestimmten geisteswissenschaftlichen Bereichen mitunter weit von den (praktischen) Kenntnissen der psychologischen Forschungen. Harald Weilnböck hat
15
Ebd., S. 103.
16
Ebd.
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in vielen Texten darauf hingewiesen. In seinem Essay mit dem ironisch gemeinten Titel Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben17 plausibilisiert Weilnböck, weshalb eine poststrukturalistische Sicht in Bezug auf Traumata hochproblematisch ist. Repräsentativ für diesen Diskurs zitiert der Autor einige VertreterInnen wie Elisabeth Bronfen oder Ulrich Baer. Aus deren Sicht sollte ein Trauma nicht erinnert und nicht fassbar werden. Diese Beschreibung versteht ein Trauma als etwas Unnahbares, ein Tabu, das durch eine Versprachlichung Gefahr liefe, zerstört zu werden. Es sei wie ein Sakrileg zu behandeln und dürfe nicht zugänglich gemacht werden. Ein Trauma sei ein grundsätzliches Strukturmerkmal. Dem Psychologen Weilnböck erscheint dieses folgerichtig wie ein Irrwitz für die Therapie. Seiner Ansicht nach darf das Erlebte auf keinen Fall quasi auratisch unberührbar bleiben, da dies den therapeutischen Linderungsmöglichkeiten widersprechen würde. Diese funktionieren eben nur, wenn das Erlebte soweit wie möglich zur Darstellung gebracht wird und beispielsweise in einer kontextbezogenen Erzählung ausgedrückt werden kann. Das Gefühl, etwas Fremdes, Unantastbares in sich zu tragen, sollte ja eigentlich gerade überwunden werden. Weilnböck empfindet die poststrukturalistische Haltung deshalb als unzumutbar und rein theoretisch. Er geht dabei sicherlich konform mit psychoanalytischer Theorie und Forschung, denen sich auch mein Verständnis im Umgang mit Traumata anschließt. Zum Durcharbeiten eines Traumas sind also „umfangreiche ‚Umbaumaßnahmen‘ der seelischen Struktur notwendig“18. Die Ansätze
17
Harald Weilnböck: Das Trauma muss dem Gedächtnis unverfügbar bleiben. Trauma-Ontologie und anderer Miss-/Brauch von Traumakonzepten in geisteswissenschaftlichen Diskursen. In: Mittelweg36, April 2007a, S. 2-64.
18
Fischer; Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, a. a. O., S. 102.
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lauten Reflektieren, Bearbeiten, Hervorholen, Sichtbarmachen. „Für Lacan ist das Trauma das Reale, das nur assimiliert werden kann, indem es in die symbolische Ordnung eintritt.“19
All die vorgestellten Attribute und symptomatischen Folgen eines Traumas werden in den folgenden Kapiteln in der Anwendung genauer erläutert. Hierbei gilt: „Die traumatische Erfahrung muss als dynamischer Verlauf untersucht werden.“20 Traumata sowie die Auseinandersetzung mit ihnen, verändern und bilden im Prozess Neues aus. „Diese dynamischen Operationen führen mit der Zeit zu Strukturveränderungen“21. Ich werde dieses durch Aufzeigen von Wechselspielen zwischen Traumata und Medien näher erläutern und der Frage nachgehen, ob mediale Apparaturen Traumata händelbar machen können.
c) Kollektiv(ierend)e Traumata – Konzeptvorstellung und Diskussion Der Begriff des „kollektiven Traumas“ ist ein vieldiskutierter. Im Folgenden möchte ich das Konzept daher in einer knappen Übersicht vorstellen, in der es mir vor allem darum geht, meine Verwendung dieses Modells in den Kapiteln IV.4 und 5 vorzubereiten. Ein kollektives Trauma bezeichnet eher zusammenfassend unterschiedliche Einzelschicksale. Opfer, Zeugen oder andere Teilhabende werden unter einem Kollektiv subsumiert, sie sind Verbundene im Erleben und Erinnern
19
Werner Bohleber: Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. In: PSYCHE. Sonderausgabe ‚Trauma, Gewalt und kollektives Gedächtnis‘. Heft 9/10, 54. Jhg. 2000, S. 822.
20
Fischer; Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, a. a. O., S. 66.
21
Ebd., S. 113.
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eines gemeinsamen schrecklichen Ereignisses. Für eine spätere Linderung des Schmerzes ist es für die einzelnen Traumatisierten häufig von enormer Bedeutung, „ihr Einzelschicksal in eine gemeinsame, von anderen geteilte Geschichte einbetten zu können: ‚Was mir passiert ist, hatte System, ist auch Teil einer kollektiven Erfahrung, die ich mit anderen teile‘.“22 Der Begriff des kollektiven Traumas ist nicht direkt auf die Prozesse der individuellen Traumatisierung zu applizieren. Wenn Mitglieder eines sozialen Kollektivs in ihrem kulturellen Selbstverständnis, in ihrer Würde oder durch massive Gewalterfahrung verletzt werden, dann kann ein tief verwurzeltes kollektivierendes Gefühl der Kränkung und Verstörung entstehen. Sie erleben eine gemeinsame Betroffenheit und das von vielen geteilte Grundgefühl der traumatischen Verletzung mündet meist in kollektive Verhaltensweisen.23 Das traumatische Geschehen wird zum Fixpunkt eines Kollektivs und prägt häufig dessen Selbstund Fremdbild. Ein kollektives Trauma beeinflusst alle Mitglieder der Gemeinschaft, auch wenn sie das eigentliche traumatische Ereignis nicht unmittelbar, sondern nur medial vermittelt erfahren. Obwohl Gruppen natürlich unüberschaubarer und im Zusammenspiel komplexer funktionieren als Individuen, prägen sich bestimmte Muster dennoch analog der für die Einzeltraumatisierungen beschriebenen Symptome auch auf kollektiver Ebene aus. Angela Kühner empfindet den Begriff des „kollektiven Traumas“ als schwierig und schlägt die grammatikalisch leicht veränderte Bezeichnung des „Kollektivierten
22
Angela Kühner: Kollektive Traumata. Annahmen, Argumente, Konzepte. Eine Bestandsaufnahme nach dem 11. September. Berghof Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung Berlin 2002, S. 14.
23
Vgl. Ebd., Kapitel 4.
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Traumas“ vor. Dieser „betont den Prozess, mit dem ein geteiltes traumatisches Ereignis zum Teil der kollektiven Identität einer Gruppe wird.“24 Kühners Argumente für eine Begriffsoptimierung sind plausibel und aus meiner Sicht noch auszuweiten. Ich schlage deshalb den Begriff des „kollektivierenden“ Traumas vor und favorisiere diesen im Folgenden. Aus meiner Sicht erfasst er das Geschehen präziser. Viele einzelne traumatisierte Individuen fühlen sich durch ihr Erlebnis verbunden. Jede(r) Überlebende nationalsozialistischer Vernichtungslager hat dennoch eine eigene schreckliche Geschichte erlebt. Und obwohl jedes persönliche Trauma also einzigartig war, gab es unter den Überlebenden das Gefühl des gemeinsamen Schicksals. Traumata wirken kollektivierend auf die Gruppe. Es sind demnach ‚kollektivierende Traumata‘. Dieser Begriff scheint mir weniger einen pathologischen Befund addieren und für eine Gruppe diagnostizieren zu wollen. „Kollektivierend“ setzt einen anderen, passenderen Schwerpunkt als „kollektiv“: Auf diese Weise bleiben die je persönlichen Gefühle der Verletzung einzigartig im Erleben und verschieden in der Stärke, und doch entspringt daraus ein verbindendes kollektivierendes Gefühl. Eine spezielle Form des kollektivierenden traumatischen Erlebens ist das „transgenerationale Trauma“. Empirische Studien belegen die Möglichkeit der unbewussten Weitergabe eines Traumas an die nachfolgende(n) Generation(en). Vor allem bei Holocaustopfern der zweiten oder sogar dritten Generation konnten die Mechanismen und Effekte der transgenerationalen Übermittlung studiert werden.25 Auch bei Miss-
24
Kühner, Kollektive Traumata. Annahmen, Argumente, Konzepte, a. a. O., S. 15.
25
Eine interessante Studie hierzu findet sich bei Kurt Grünberg: Zur Tradierung des Traumas der nationalsozialistischen Judenvernichtung. In: PSYCHE 9/10,
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brauchsopfern wurden solche Tradierungen belegt.26 Vor allem Eltern, deren Traumata unbearbeitet blieben, transponieren ihre schrecklichen Erfahrungen auf die kommende Generation. In Träumen, Fantasien und Verhalten lassen Kinder die fremden Traumata wieder aufleben. Dieser psychologische Tradierungsprozess lässt sich wie folgt beschreiben27: Die Generation des ursprünglichen Traumas konnte dieses nicht durcharbeiten, fassbar machen oder symbolisieren. Einem psychologischen Automatismus folgend projiziert sie es zur eigenen Entlastung auf die nachfolgende Generation. „Unbewusst wird vom Kind erwartet, daß es die affektiv belasteten Traumata ungeschehen macht, die die seelische Struktur der Eltern zerstört haben.“28 Ein Fremdkörper nistet sich im dynamischen Unbewussten des Kindes ein. Eigene Verhaltensmuster oder Empfindungen sind aufoktroyiert und gehören eigentlich zur persönlichen Geschichte der Eltern. In Kapitel IV.4 der vorliegenden Arbeit wird dieses Modell noch einmal beispielhaft aufgegriffen. Der Ägyptologe Jan Assmann hat hierzu eine diskursanalytische Schrift vorgelegt. Hermeneutisch zeichnet er darin die Tradierung und Ausbreitung eines Traumas aus dem 14. Jahrhundert vor Christus über Jahrtausende hinweg nach.29 Dabei entwirft Assmann ein wellenartiges Modell, in dem das Wiederaufflammen des Traumas periodisch bis in
a. a. O., S. 1002 – 1037. Ein weiterer Artikel, der der Traumata als gruppenbildend erfasst, findet sich unter: Volkan, Vamik D.: Großgruppenidentität und auserwähltes Trauma. In: PSYCHE, Heft 9/10, a. a. O., S. 931 – 953. 26
Fischer; Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, a. a. O., S. 325 f.
27
Vgl.: Bohleber, Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse, a.
28
Ebd., S. 816.
29
Jan Assmann: Moses der Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur. Frank-
a. O., S. 815ff.
furt am Main 2007. (OA., engl.: 1997).
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das 20. Jahrhundert nachvollzogen werden kann. In sprachlichen Ausdrücken hält das Trauma immer wieder Einzug und nach Phasen des Verschwindens tauchen bestimmte Formulierungen und Diskurse in transformierter Form abermals auf – Jan Assmann zufolge dringt das Trauma dann wieder an die Wahrnehmungsoberfläche. Dieses intervallartige Erscheinen ist dabei angelehnt an die oben beschriebene Empirie der individuellen Traumasymptome. Sigmund Freud legte zu dem gleichen Trauma einen Artikel30 vor, in dem er in ähnlicher Weise das Phänomen des Erinnerns und Verdrängens einer kulturellen Krypta über einen langen Zeitraum beschreibt. Da diese Krypta unzugänglich blieb und nicht durchgearbeitet wurde, sei sie somit zwanghaft geworden. Interessant bleibt, dass bei Modellen kollektivierender Traumata bestimmte symptomatische Ausprägungsformen mit individuellen Verläufen einer Traumatisierung vergleichbar sind. Trauma, Verdrängungsversuche, Latenz und schubartige Wiederkehr sind demnach hier schematisch ähnlich. Freud formuliert an diesem Beispiel seine Ideen zu psychologischen Übereinstimmungen von ‚Masse‘ und Individuen. 31 Ein weiteres Konzept, das der shattered assumptions, also der ‚erschütterten Grundüberzeugungen‘ von Ronnie Janoff-Bulman wird in Kapitel IV.5 noch näher beleuchtet. Kollektivierende Traumatisierungen entstehen demnach, wenn die basalen Vertrauenswerte und Grundüberzeugungen einer Gruppe insgesamt unterminiert werden. Solch ein Trauma resultiert dann in einer ebenfalls kollektiven Lösungssuche und hinterlässt Spuren im soziokulturellen Bedeutungssystem. „This, of course, always implies the question how cultural and media representa-
30
Sigmund Freud: Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Schriften über die Religion. Frankfurt am Main 2006. (OA.: 1939).
31
Ebd., S. 87ff.
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tions come in with this processes of dealing with and coming to terms with the experiences.“32
IV. 2. Strukturanalogien und Schnittmengen von Traumata und Medien
Dieses kurze Kapitel dient als Skizze zur Erläuterung, weshalb es interessant ist, Traumata und Medien gemeinsam zu befragen. Auffällig erscheint bei der Recherche zum Traumabegriff, dass es einige strukturelle Analogien zwischen Traumata und Medien gibt. Dieses war für mich der Anlass, mögliche Zusammenhänge näher zu beleuchten und zudem ein Trauma als möglichen Antrieb für Medien, beziehungsweise diese als Ausdrucksform von Traumata zu untersuchen. Ich möchte in diesem Kapitel eher assoziativ vorgehen und das Feld, das es zu erkunden gilt, zunächst weit aufmachen – die folgenden Kapitel werden sich dann konkret mit einzelnen speziellen Punkten befassen. Medien sind immer auch subjektive, beziehungsweise gesellschaftliche Artikulationsmöglichkeiten. Wenn ein Traum mediale Apparaturen präfiguriert, wäre dieser Idee auch anhand von Traumata nachzugehen, da diese die Psyche immerhin sehr nachhaltig prägen und zudem Ausdrucksmöglichkeiten insistieren. Das Unterdrückte drängt zur Erscheinung. Aufgrund seines Strebens nach Symbolisierung empfiehlt sich das Trauma, um einem Zusammenhang mit Medienformen nachzugehen. Der Empfehlung der vorab beschriebenen Apparatustheorien
32
Wulf Kansteiner, Harald Weilnböck: What is wrong with concepts of cultural trauma and how to fix it by engaging in psychologically informed qualitative media and culture studies. Online unter: http://www.weilnboeck.entredeux.de/ downloads/hw_2008p.pdf, abgefragt am 15.01.2012, S. 14.
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folgend, sollen Medien auf unsichtbare Einschreibungen in die Form hin untersucht werden.
Die Wiederholung ist die sicher auffälligste Gemeinsamkeit von traumatischen und medialen Texturen. Auf der psychoanalytischen Ebene sind traumatische Momente Auslöser von Repetition. Sie bewirken einen Wiederholungszwang, der sich am auffälligsten im Flashback zeigt. Auf Seiten der Medien gehören Wiederholungsschemata33 zur Grundstruktur von Inhalt, Form und Entstehungsprozessen. Nicht nur Serien, Programmschemata oder Musikclips vollziehen dieses Repetitive, welches in medialen (analogen wie digitalen) Kopiertechniken bereits angelegt ist. Ständige Loops werden als rasender Stillstand oder Heavy Rotation metaphrasiert. Exzessiv und fast ritenhaft wiederholten Fernsehsender sowie Printmedien nach den Anschlägen auf das World Trade Center am 11. September 2001 die aufgenommenen Szenen und Bilder. Dieses Prinzip wiederum wiederholt sich bei nahezu allen medial verbreiteten Katastrophen. In solch repetitiven Darstellungen drückt sich, wie beim Trauma selbst, offenbar der Wunsch aus, das Unvorstellbare, nicht Fassbare durch die pure Wiederholung beziehungsweise den ständigen Flashback irgendwie begreifbar machen zu wollen. Aus etwas Punktuellem wird etwas Serielles – sowohl beim Trauma als auch in Medienformen wie dem Fernsehen.
33
Vgl.: Rolf Parr: >Wiederholen>fülle der combinationen