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German Pages 445 [446] Year 2016
Juliane Tomann Geschichtskultur im Strukturwandel
Europas Osten im 20. Jahrhundert Eastern Europe in the Twentieth Century Schriften des Imre Kertész Kollegs Jena Publications of the Imre Kertész Kolleg Jena Herausgegeben von/Edited by Włodzimierz Borodziej Joachim von Puttkamer Michal Kopeček
Band/Volume 6
Juliane Tomann
Geschichtskultur im Strukturwandel
Öffentliche Geschichte in Katowice nach 1989
The Imre Kertész Kolleg Jena “Eastern Europe in the Twentieth Century. Comparative Historical Experience” at Friedrich Schiller University in Jena is an institute for the advanced study of the history of Eastern Europe in the twentieth century. The Kolleg was founded in October 2010 as the ninth Käte Hamburger Kolleg of the German Federal Ministry for Education and Research (BMBF). The directors of the Kolleg are Professor Dr Joachim von Puttkamer and PhDr., Ph.D. Michal Kopeček.
Die Arbeit wurde mit dem Wissenschaftlichen Förderpreis des Botschafters der Republik Polen 2015 ausgezeichnet. D 188
ISBN 978-3-11-046374-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-046609-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-046381-1 ISSN 2366-9489 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Inhalt Vorwort
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Einleitung
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Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen . Dynamiken einer Transformation nach 1989 19 . Forschungsdesign 44 . Quellengrundlage 54
Theoretische Verortungen: öffentliche Geschichte zwischen Geschichtsund Erinnerungskultur 61 . Public History und Angewandte Geschichte – zwei neue Begriffe für 62 öffentliche Geschichtsdarstellungen? . Die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein 66 76 . Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur . Geschichts- und Erinnerungskultur als parallele Begriffskonzepte? 85 90 . Öffentliche Geschichte als Teilbereich der Geschichtskultur . Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart 91
Von der Theorie zur Praxis: öffentliche Geschichte als Teil der Geschichtskultur einer Stadt untersuchen 97 . Dekonstruktion historischer Narrationen I: Triftigkeitsprüfung . Dekonstruktion historischer Narrationen II: Museumsanalyse . Untersuchungsmethoden jenseits der Dekonstruktion 113
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97 105
Annäherungen an öffentliche Geschichte in Katowice 117 . Erzählstränge im Stadtraum. Einführung in eine kurze 117 Stadtgeschichte . Symbolische Repräsentationen im städtischen Raum 165
Institutionalisierte öffentliche Geschichte: historische Narrationen in den beiden Geschichtsmuseen von Katowice 189 . Museen als Ort historischer Repräsentation und Sinnstiftung 189 . Das Stadtgeschichtliche Museum 193 . Das Schlesische Museum 256
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Inhalt
Neue Bilder über die Stadt. Historische Narrationen im Zeichen 273 städtischer Imagebildung . Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2016 oder: Wie aus Katowice eine Gartenstadt werden sollte 277 . Katowice als Stadt der Moderne: Vom Stiefkind 335 zum Imageprodukt
Diskurse. Öffentliche historische Narrationen jenseits institutioneller Verankerungen 365 . Auf der Suche nach der Identität des Ortes: Michał Smolorz und 369 Kazimierz Kutz . Die nächste Generation: alternative Perspektiven auf die Vergangenheit eröffnen 378 391 . Der Diskurs über die oberschlesische Identität
Zusammenfassung: Geschichtskultur in Transformation?
Anhang 411 Quellenverzeichnis Literaturverzeichnis Sachregister
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Vorwort Diese Arbeit wurde vom Fachbereich Geschichts- und Kulturwissenschaften der Freien Universität Berlin im April 2015 als Dissertation angenommen. Sie entstand dank der finanziellen Unterstützung durch die Heinrich-Böll-Stiftung, die mich als Promotionsstudentin gefördert hat. Möglich war diese Arbeit nur dank vielseitiger Unterstützung. Besonders dankbar bin ich meinem Doktorvater, Professor Robert Traba, der mich stets mit viel Zuspruch aber auch Kritik auf meinem Weg begleitet hat. Sein Verständnis für die Verbindungslinien zwischen (Geschichts)Theorie und den Realia Oberschlesiens war von unschätzbarem Wert. In unzähligen Gesprächen haben wir diese Zusammenhänge immer wieder diskutiert und er hat mir für viele Feinheiten die Augen geöffnet. Herzlich danken möchte ich auch Professor Jörn Rüsen, dessen Sicht auf Geschichte, ihre Möglichkeiten und Grenzen die zentrale Inspirationsquelle für diese Studie bildete. Mein besonderer Dank gilt den Protagonisten dieser Untersuchung in Katowice. Sie sind mir stets mit viel Interesse und Aufgeschlossenheit begegnet und haben sich Zeit für Gespräche genommen. Ich bin noch immer voller Bewunderung für ihre Energie und die vielen Ideen, mit denen sie ihre Stadt verändern und gestalten wollen. Ein großer Kreis von Menschen hat intellektuell aber auch ganz praktisch Anteil genommen an der Entstehung dieser Arbeit. Meinen Gesprächspartnerinnen und Mitstreiterinnen aus den Reihen des Instituts für angewandte Geschichte, Jacqueline Nießer und Dr. Magdalena Abraham-Diefenbach möchte ich danken für gemeinsame Gespräche, Inspiration und Kritik. Danken möchte ich auch meinen Kolleginnen und Kollegen am Imre Kertész Kolleg in Jena, vor allem Daniela Gruber, Dr. Raphael Utz, Professor Joachim v. Puttkamer und Professor Włodzimierz Borodziej, die die Endphase der Fertigstellung der Dissertation unterstützt haben. Beiden Professoren bin ich darüber hinaus sehr verbunden, dass sie diese Studie in die Schriftenreihe des Imre Kertész Kollegs aufgenommen und damit die Entstehung des Buches ermöglicht haben. Benjamin Völkel war schließlich der aufmerksamste und kritischste Leser, den man sich wünschen kann. Auch ihm sei herzlich gedankt. Begleitet haben mich auf meinem Weg auch Nadja Epperlein, Kornelia Dietrich, Katarzyna Młynczak-Sachs und Anna Toczyska, denen ich für ihre stete Zuneigung zutiefst dankbar bin. Marcus danke ich für die Gespräche, die vielen Hinweise, die mich zum Nachdenken gebracht haben und seine stetig wachsende Begeisterung für Katowice, die auch mir immer wieder neue Denkanstöße gegeben hat. Auch Freya Halina bin ich dankbar, die zweimal als stumme Begleiterin mit
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Vorwort
mir auf Feldforschung in Katowice war und mir nach ihrer Geburt einen klaren Fokus auf Wichtiges und weniger Wichtiges gegeben hat.
1 Einleitung Katowice sei eine schwierige Stadt, um sie verstehen zu können, müsse man Spaß haben an „komplizierter Lektüre“, sagte mir die in Katowice lebende Regisseurin Jadwiga Kocur bei einem meiner Forschungsaufenthalte vor Ort.¹ Tatsächlich rief Katowice als Forschungsgegenstand sowohl bei deutschen, als auch polnischen Kollegen wenig Begeisterung, bisweilen sogar Unverständnis hervor. Die Stadt schien auf der mentalen Landkarte sowohl von Deutschen als auch von Polen im besten Fall ein unauffälliges Dasein zu führen; wenn sie in den Vorstellungswelten meiner Bekannten konkrete Konturen annahm, tendierten diese vorwiegend ins Negative. So wünschte man sich auf polnischer Seite, dass ich mich anstelle der oberschlesischen Industriestadt mit einer der zahlreichen interessanten, schönen und traditionsreichen polnischen Städte beschäftigt hätte. Bei Deutschen mit Polenbezug rief Katowice häufig die Assoziation eines heruntergekommenen, düsteren und unangenehm riechenden Bahnhofes hervor – eine Reminiszenz an die Funktion der Stadt als Bahnknotenpunkt zwischen der schnellen Nord-Süd-Verbindung Warschau–Wien und der Ost-West-Linie Berlin– Krakau. Viele Deutsche kannten von der Stadt einzig den Bahnhof, der als Umsteigepunkt fungierte. Trotz weitgehender Ortsunkenntnis hatte sich das Stereotyp des schwarzen Oberschlesiens fest in das deutsche und polnische Bewusstsein eingeschrieben, und Katowice als Hauptstadt der Woiwodschaft Schlesien (Województwo śląskie) stand dafür synonym. Eigentlich ist das wenig erstaunlich, schließlich galten Katowice und die Region Oberschlesien seit Ende des 18. Jahrhunderts als eine der europäischen Modellregionen der Industrialisierung und bildeten auch während der kommunistischen Ära nach 1945 in Polen das ökonomische Rückgrat des Landes. Der bemerkenswerte und vielgestaltige Transformationsprozess, der sich in Katowice seit dem politischen Umbruch der Jahre 1989/1990 vollzogen hat und noch immer andauert, schien meinen Gesprächspartnern verborgen geblieben zu sein. Dabei sind die oft kontrovers diskutierten Veränderungen im Aussehen der Stadt sprichwörtlich mit Händen zu greifen: Der alte, im seltenen Stil des Brutalismus² Vgl. Interview mit Jadwiga Kocur, Katowice, Mai ; das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Diese und alle nachfolgenden Übersetzungen von polnischsprachiger Literatur sowie von Interviews, die auf Polnisch geführt wurden, sind, soweit nicht anders gekennzeichnet, von der Autorin angefertigt worden. In Polen gibt es nur wenige architektonische Beispiele des Brutalismus. Die größte räumliche Dichte von Bauten in diesem Stil findet man in der mazedonischen Hauptstadt Skopje. Die Stadt wurde im Jahr von einem schweren Erdbeben erschüttert, zu großen Teilen zerstört und im Anschluss wieder aufgebaut.Viele der neu errichteten Gebäude sind vom Brutalismus geprägt. Er
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erbaute und aufgrund seiner sogenannten Kelche in der Dachkonstruktion von Kunsthistorikern hoch geschätzte, vollständig heruntergekommene Bahnhof wurde kurzerhand durch eine schillernd-sterile Einkaufspassage ersetzt, die, gekoppelt an einen neuen Bahnhof, nun das Eingangstor in die Stadt ist. Gruben und Industrieanlagen verschwinden zunehmend aus dem Stadtbild, und ein neues Zentrum, rund um den während der kommunistischen Zeit umgestalteten Marktplatz, soll der Stadt zukünftig einen urbanen Mittelpunkt verleihen. Gedacht und geplant wurde dieser Stadtumbau nicht in kleinen, abwägenden und vorsichtigen Schritten, er hatte vielmehr Züge des Monumentalen und war geprägt von einem Gestaltungswillen, der zielstrebig in die Zukunft weist. Fast könnte man meinen, das während der kommunistischen Zeit zur Vorzeigestadt der Arbeiterklasse und zum sozialistischen Experiment degradierte Katowice sei seit 1989 getrieben von einem Nachholreflex und wolle sich mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln neben den etablierten polnischen Kulturmetropolen Wrocław/ Breslau und Kraków/Krakau als ebenso vollwertige, europäische Stadt konstituieren. Ferner strebte Katowice als Hauptstadt einer der am dichtesten besiedelten Woiwodschaften Polens auch die führende Stellung in einem im Jahr 2006 geschaffenen Bund der sich ohnehin an ihren Siedlungsrändern überlappenden oberschlesischen Städte an. Der sogenannte Verbund Oberschlesischer Metropolen (Górnośląski Związek Metropolitalny) umfasst etwa zwei Millionen Einwohner und soll als Metropolregion die regionale Wirtschaftskraft bündeln. Auch dafür steht Katowice heute synonym. Katowice war nicht erst seit den Jahren 1945 oder 1989 eine Stadt spektakulärer Metamorphosen. Bereits ihre Gründung im Jahr 1865 ähnelte einer grundlegenden Verwandlung. Denn der deutschen Stadtgründung lag kein organisches Wachstum zugrunde, Kattowitz entstand vielmehr auf dem Reißbrett der Städteplaner. Die dörflichen Strukturen, die sich vorher auf dem Gebiet befanden, wurden von der Stadt buchstäblich überlagert und überschrieben, an sie erinnert in der heutigen städtischen Topografie fast nichts mehr. Zum Spielball der europäischen Großmächte wurden Katowice und die Region Oberschlesien im Nachgang des Ersten Weltkrieges. Eine erste Version des Versailler Vertrages sah die Abtretung der kompletten Region Oberschlesien an Polen vor, was eine Reihe von deutsch-polnischen Auseinandersetzungen um das Gebiet nach sich zog. Da der bewaffnete deutsch-polnische Konflikt um die staatliche Zugehörigkeit nicht gelöst werden konnte, entschied der Völkerbund die Teilung der Region zwischen
gilt als Architekturstil der Moderne, der seine Blüte zwischen Mitte der er und Mitte der er Jahre hatte. Ihn zeichnen vor allem die Verwendung von Sichtbeton, also dem sichtbaren Baumaterial mit seinen Unebenheiten, sowie geometrische Formen aus.
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Deutschland und Polen. 1922 stand für das deutsche Kattowitz somit eine weitere Metamorphose ins Haus: Die nunmehr als Katowice bezeichnete Stadt avancierte zur Hauptstadt der neu gegründeten polnischen Woiwodschaft Schlesien. Als am weitesten im Westen gelegenes Prestigeprojekt der Zweiten Polnischen Republik wurde die Stadt im Stil der Architekturmoderne umgebaut und erhielt neben dem ursprünglichen deutschen, ein zweites, polnisches Stadtzentrum. Mit Unterbrechung durch die deutsche Besatzung während des Zweiten Weltkrieges gehörte Katowice somit seit 1922 zu Polen – und das, obwohl Oberschlesien seit dem Mittelalter nicht mehr im polnischen Staatsgebiet lag, sondern im tschechischen, österreich-ungarischen und später preußisch-deutschen Einflussgebiet. Oberschlesien unterschied sich demnach auch historisch-kulturell von denjenigen polnischen Territorien, die in drei Teilungen bis zum Jahr 1795 zwischen den Großmächten Russland, Österreich-Ungarn und Preußen aufgeteilt wurden. Es unterschied und unterscheidet sich ferner von den sogenannten polnischen Westgebieten, den ehemaligen Gebieten im deutschen Osten, die seit der Westverschiebung 1945 zu Polen gehören. Denn anders als dort wurde die deutsche Bevölkerung in Oberschlesien nicht in gleichem Umfang vertrieben. Neben den verbliebenen Deutschen machten auch die angestammten oberschlesischen Einwohner, die sich weder in erster Linie als Deutsche noch als Polen fühlen, sondern als Oberschlesier, die Spezifik dieser Region aus. Doch nicht die spannende, wenngleich kurze Stadtgeschichte, sondern vor allem der ökonomische und gesellschaftliche Transformationsprozess nach 1989/ 90 weckte mein Interesse. Auch die Transformation war jedoch letztlich nur der Rahmen meines eigentlichen Forschungsinteresses. Mich faszinierte die Frage, welche Rolle die Vergangenheit in diesem genuin auf die Gestaltung von Gegenwart und Zukunft ausgerichteten Transformationsprozess in Katowice spielte. War auch in Katowice im Zusammenhang von Demokratisierung und ökonomischem Wandel ein Prozess der Wiederentdeckung und Wiederaneignung der eigenen Geschichte zu beobachten, der sich in so vielen mittel- und osteuropäischen Metropolen abspielte, die bis 1989 hinter dem Eisernen Vorhang gelegen hatten? In den meisten der früher ostdeutschen, seit 1945 westpolnischen Städte ist inzwischen ein „unverkrampfter Umgang“³ mit dem deutschen Kulturerbe und den deutschen Anteilen der städtischen Vergangenheit zu beobachten. In Breslau hat man sich der deutschen Vergangenheit der Stadt bereits umfassend zugewandt, sie bildet inzwischen die Grundlage für ein neues regionales und lokales Vgl. Rudolf Jaworski: Die Städte Ostmitteleuropas als Speicher des kollektiven Gedächtnisses, in: Arnold Bartetzky/Marina Dmitrieva/Alfrun Kliems (Hg.): Imaginationen des Urbanen. Konzeption, Reflexion und Fiktion von Stadt in Mittel- und Osteuropa. Berlin , S. – , hier S. .
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Selbstbewusstsein. In Katowice war hingegen ein umgekehrter Prozess wahrnehmbar: ein deutliches Verlangen nämlich, sich von einigen Aspekten der Stadtgeschichte abzusetzen bzw. abzugrenzen.Vor allem das Image der schwarzen Industrie- und Arbeiterstadt galt es abzuschütteln und ein neues Selbstbild zu entwerfen, das auch auf potenzielle Investoren eine möglichst große Anziehungskraft entfalten sollte. Geschichte, so meine ersten Beobachtungen, war bei diesen Bemühungen ein vergleichsweise nachrangiger Aspekt. Auf eine 1000jährige, überwiegend positiv konnotierte Geschichte, wie sie etwa die Nachbarn in Krakau hatten, konnte sich die Stadt nicht berufen, und die jüngere Vergangenheit schien durch Konflikte und Brüche eher kontaminiert als dafür geeignet, aus ihr eine positive Sinnbildung für Gegenwart und Zukunft abzuleiten. An das, was die Geschichte der Stadt zu bieten hatte, so schien es, konnte man in der Gegenwart nicht anknüpfen: Die bislang identitätsprägenden Elemente von Industrie und Bergbau galten in der Postmoderne als rückständig, die sozialistische Utopie war gerade von der Zeitenwende überholt worden und die deutsch-polnische Rivalität um die Stadt hielt kaum Ansatzpunkte für eine Orientierung in den neuen Realitäten der Gegenwart bereit. Und dennoch: Vergangenheit und Geschichte waren aus den verschiedenen Initiativen, die die Stadtverwaltung zur Imagebildung lancierte und finanzierte, nicht wegzudenken. Wie in diesem Prozess der Redefinition des städtischen Selbstbildes in Zeiten eines strukturellen Wandels mit Vergangenheit und Geschichte umgegangen wurde, kann als leitende Hauptfrage für diese Untersuchung angesehen werden. Eine Untersuchung des Umganges mit Vergangenheit und Geschichte in der Gegenwart bedeutet auch die Frage danach, wie Geschichte in außeruniversitären Zusammenhängen entsteht und genutzt wird, mithin welche Funktionen ihr zugeschrieben werden. Im Mittelpunkt der Studie steht demnach der Bereich öffentlicher Geschichtsdarstellungen und nicht die akademisch regulierte historiografische Wissensproduktion. Die Studie schreibt sich somit in ein interdisziplinär angelegtes und in den vergangenen Jahren intensiv bespieltes Forschungsfeld zur Untersuchung von Städten ein. So stehen Städte etwa im Mittelpunkt soziologischer Untersuchungen, die unter anderem nach ihrer Eigenlogik und den daraus hervorgehenden unterschiedlichen Stadtbildern oder nach den Distinktionsstrategien einzelner Metropolen fragen.⁴ Soziologische, aber auch ethnologische Zugriffe⁵ konzen-
Vgl. Martina Löw: Soziologie der Städte. Berlin . Besonders interessant für den Zusammenhang dieser Studie ist eine soziologisch-ethnologische Untersuchung von Regina Bittner über die Bauhausstadt Dessau. Die Autorin fragt in einer schrumpfenden, ostdeutschen Stadt nach städtischen Eigenlogiken, sondiert das Feld konkurrierender Selbstwahrnehmungen und die erfundenen touristischen Marken für Dessau, die sie als städtisches Branding bezeichnet. Die Prozesse des strukturellen Wandels laufen in Dessau jedoch im Schatten des UNESCO Weltkul-
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trieren sich ferner auf den städtischen Raum, der nicht mehr als Container oder Rahmen begriffen wird, sondern als soziale Konstruktion, die als solche gleichzeitig auf die Akteure in der Stadt, ihr Handeln und ihre Einstellungen, zurückwirkt.⁶ Ausdruck der gegenwärtigen Vielfalt an Zugängen zur Erforschung von Städten ist unter anderem das im Jahr 2013 erschienene, interdisziplinär angelegte Handbuch Stadt, das unterschiedliche Aspekte der Stadtforschung unter raum-, kultur- und geschichtswissenschaftlichen Gesichtspunkten behandelt.⁷ Eine ebenfalls interdisziplinäre Ausrichtung lässt sich in der polnischen Stadtforschung ausmachen. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Band Kulturowe Studia Miejskie aus dem Jahr 2014, in dem sich etwa Einträge zu den Themenkomplexen „Erfahrung“, „Narration“ oder „Artikulation“ finden.⁸ Einen spezifischen Fokus auf Städte und ihre historische Entwicklung verfolgt die historische Stadtgeschichtsforschung⁹, die sich in den vergangenen Jahren konzeptionell weiterentwickelt hat. Sie löste zunehmend ihre Konzentration auf die industrielle Urbanisierung im 19. Jahrhundert, die eine Betrachtung der Großstadt als Leitbild und Motor der Moderne hervorgebracht hatte, und stellt nunmehr alltags-, diskurs- oder repräsentationsgeschichtliche Aspekte in den Vordergrund.¹⁰ Auch geografisch hat sich der Zuschnitt der Stadtgeschichtsforschung verändert. Seit 1989/1990 wurde ihre geografische Ausrichtung erweitert, unter turerbes des Bauhauses ab. Bittner versucht daher der Frage auf den Grund zu gehen, wie die „‚Weltgewandtheit‘ des Bauhauses und eine durch Deindustrialisierung und Schrumpfung mit dem Abfall in die Bedeutungslosigkeit konfrontierte Mittelstadt miteinander zu vermitteln sind“ und erörtert diese Zusammenhänge sehr eindrücklich anhand stadtethnologischer Zugriffe und Methoden.Vgl. Regina Bittner: Bauhausstadt Dessau. Identitätssuche auf den Spuren der Moderne. Frankfurt/Main , S. . Vgl. Watraud Kokot/Thomas Hengartner/Kathrin Wildner (Hg.): Kulturwissenschaftliche Stadtforschung. Eine Bestandsaufnahme. Berlin . Vgl. Markus Schroer: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Frankfurt/Main . Vgl. Harald Mieg/Christoph Heyl (Hg.): Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart . Vgl. auch die Rezension des Buches von Clemens Zimmermann auf H-Soz-u-Kult vom . . , URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/-- (Zugriff . . ). Vgl. Ewa Rewers (Hg.): Kulturowe Studia Miejskie.Wprowadzenie. [Kulturstudien zur Stadt. Eine Einführung]. Warszawa . Eine aktuelle Übersicht zur europäischen Stadtgeschichtsforschung ist zu finden bei Friedrich Lenger: Metropolen der Moderne. Eine europäische Stadtgeschichte seit . München . Zur Geschichte von Städtebau und Architektur im . Jahrhundert vgl. Vittorio M. Lampugnani: Die Stadt im . Jahrhundert. Visionen, Entwürfe, Gebautes. Berlin . Eine guten Überblick bietet ein Forumsbeitrag auf dem Internetportal H-Soz-Kult von Moritz Föllmer/Habbo Knoch: Forum: Grenzen und urbane Modernität. Überlegungen zu einer Gesellschaftsgeschichte städtischer Interaktionsräume. URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ forum/type=diskussionen&id= (Zugriff . . ).
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anderem auf Ostmitteleuropa. Dabei standen bislang vorrangig Städte im Mittelpunkt der Forschung, die jahrzehntelang ein Schattendasein im Hinterland des Eisernen Vorhangs gefristet hatten und nun vor allem aufgrund ihres multikulturellen Erbes in den Fokus der akademischen Aufmerksamkeit rückten. Danzig¹¹, Breslau¹², Stettin¹³, Kaliningrad¹⁴, Prag¹⁵, Bratislava¹⁶ und Grodno¹⁷ haben auf diese Weise ihre wissenschaftlichen Stadtschreiber gefunden, die diese Städte als urbane Kulturen wiederentdeckt und ihre Vergangenheit in Form von konkurrierenden, sich verdrängenden oder überlagernden (National)Geschichten sowie räumlichen Palimpsesten eindrücklich beschrieben haben. Auch die detail- und kenntnisreichen Stadtporträts des Osteuropahistorikers Karl Schlögel, der dem Leser mit dem Blick des Flaneurs gleichzeitig ihre spezifische Aura erschließt, haben maßgeblich zur Etablierung der mittel- und osteuropäischen Städte als ertragreiches und spannendes Forschungsfeld beigetragen.¹⁸ Der spacial turn der Kulturwissenschaften¹⁹ und seine Fokussierung auf die Kategorie des Raumes brachte der stadtgeschichtlichen Forschung zusätzliche Aufmerksamkeit, ging er doch einher mit einer zunehmenden Abwendung vom alleinigen Glauben an die Wirkmächtigkeit historischer Zeit und lenkte die Aufmerksamkeit stärker auf konkrete Räume als bedingende Faktoren. Gleichzeitigkeiten und räumliche Konstellationen standen fortan im Fokus, und eine zeitbezogene oder evolutionistische Vorstellung von Entwicklung wurde zugunsten einer Betrachtung kon-
Vgl. Peter Oliver Loew: Danzig und seine Vergangenheit – . Die Geschichtskultur einer Stadt zwischen Deutschland und Polen. Osnabrück . Vgl. Gregor Thum: Die fremde Stadt. Breslau . Berlin . Vgl. Jan Musekamp: Zwischen Stettin und Szczecin. Metamorphosen einer Stadt von bis . Wiesbaden . Vgl. Per Brodersen: Die Stadt im Westen. Wie Königsberg Kaliningrad wurde. Göttingen . Vgl. Ines Koeltsch: Geteilte Kulturen. Eine Geschichte der tschechisch-jüdisch-deutschen Beziehungen in Prag ( – ). München . Vgl. Iris Engemann: Die Slowakisierung Bratislavas. Universität, Theater und Kultusgemeinden – . Wiesbaden . Vgl. Felix Ackermann: Palimpsest Grodno. Nationalisierung, Nivellierung und Sowjetisierung einer mitteleuropäischen Stadt – . Wiesbaden . Vgl. Karl Schlögel: Promenade in Jalta und andere Städtebilder. München . Ders.: Marjampole. Oder Europas Wiederkehr aus dem Geist der Städte. München . Ders.: Die Rückkehr der Städte, in: Uwe Lehmann-Brauns: Handbuch mittel- und osteuropäischer Kulturmetropolen. Berlin , S. – . Vgl. Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spacial Turn“. Bielefeld ; Doris Bachmann-Medick: Cultural turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften. Reinbek bei Hamburg , insbesondere der Abschnitt über den Spatial turn S. – ; Jörg Döring/Tristan Thielmann (Hg.): Spacial turn. Das Raumparadigma in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Bielefeld .
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kreter Räume und Orte zurückgestellt. Auch dem städtischen Raum wurde somit im Zuge des spacial turns mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Ferner brachten die kulturwissenschaftlichen Leitkategorien von Gedächtnis und Erinnerung eine Konzentration auf Städte als Forschungsobjekte mit sich. Städte wurden dabei als Speicher oder Träger des kollektiven Gedächtnisses angesehen oder als Erinnerungsräume analysiert. Dabei wurde entweder nach dem impliziten Erinnerungsgehalt kompletter Stadttopografien, also ganzer Stadtkulturen einschließlich ihrer Bausubstanz und den darin absichtsvoll gesetzten Zeichen des kollektiven Gedächtnisses wie etwa Denkmälern oder Straßennamen gefragt.²⁰ Oder es standen Institutionen wie Archive, Bibliotheken oder Museen im Mittelpunkt, die als Speicher des kollektiven Gedächtnisses dienen.²¹ Häufig lassen sich derart komplexe Fragestellungen in Bezug auf städtische Räume nicht ausschließlich anhand nur eines disziplinären Zuganges erschließen. Fragt man etwa nach Nationalisierungsstrategien, die in städtischen Räumen angewandt und somit auch sichtbar werden, kommen Bereiche der Architektur- und Kunstgeschichte ebenso ins Spiel wie die Nationalismusforschung.²² Die Stadtgeschichte von Katowice ist in vielen Aspekten von polnischen Historikern gut erforscht. Interdisziplinäre Studien waren bisher jedoch eher die Ausnahme. So widmet sich etwa eine jährlich stattfindende Konferenz zur Stadtgeschichte von Katowice jeweils einzelnen Themenkomplexen, die Referate werden im Anschluss als Konferenzbände herausgegeben.²³ Eine umfassende, synthetisierende Studie zu Katowice wurde jedoch erstmals im Jahr 2012 erstellt. Die auf zwei Bände verteilten über 1000 Seiten Stadtgeschichte verdeutlichen das Bedürfnis, sich in einer Zusammenschau mit unterschiedlichen Aspekten der Vgl. Rudolf Jaworski/Peter Stachel (Hg.): Die Besetzung des öffentlichen Raumes. Politische Plätze, Denkmäler und Straßennamen im europäischen Vergleich. Innsbruck . In polnischer Sprache: Anna Chudzik: Mówi miasto. O napisach w przestrzeni urbanistycznej [Die Stadt spricht. Inschriften im öffentlichen Raum], in: Autoportet (), S. – . Diese unterschiedlichen Zugangsweisen führt Jaworski aus. Vgl. Jaworski, Die Städte Ostmitteleuropas (). Vgl. Jörg Hackmann: Architektur als Symbol. Nation building in Nordosteuropa. Estland und Lettland im . Jahrhundert, in: Norbert Angermann/Eduard Mühle (Hg.): Riga im Prozess der Modernisierung. Studien zum Wandel einer Ostseemetropole im . und frühen . Jahrhundert (= Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, ). Marburg , S. – ; Michaela Marek: Kunst und Identitätspolitik. Architektur und Bildkünste im Prozess der tschechischen Nationsbildung. Köln . Diese Bände erscheinen seit jährlich und umfassen inzwischen eine beindruckende Fülle von Themen. Der erste Band erschien ohne thematische Spezifizierung, in den darauffolgenden Jahren haben die Bände teilweise Titel, die auf ein inhaltliches Schwerpunktthema verweisen. Der erste Band erschien als: Antoni Barciak (Hg.): Katowice w . rocznicę uzyskania praw miejskich [Katowice zum . Jubiläum der Verleihung des Stadtrechtes]. Katowice .
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Stadtentwicklung bis in die Gegenwart hinein zu beschäftigen.²⁴ Von der polnischen Historiografie besonders intensiv erforscht wurde die polnische Zwischenkriegszeit der Stadt²⁵; auch für die Nachkriegszeit liegen inzwischen Studien vor.²⁶ Ebenso existieren historische Abhandlungen zu einzelnen Stadtteilen wie etwa der Arbeitersiedlung Nikiszowiec / Nickischschacht.²⁷ Einen entscheidenden Beitrag zum Verständnis der Stadtgeschichte leisteten ferner Kunsthistoriker, die sich mit den Metamorphosen des städtischen Raumes beschäftigt haben.²⁸ Vgl. Antoni Barciak/Ewa Chojecka/Sylwester Fertacz (Hg.): Katowice. Środowisko, dzieje, kultura, język i społeczeństwo [Katowice. Umwelt, Geschichte, Kultur, Sprache und Gesellschaft]. Katowice . Bis zum Erscheinen dieses Werkes war, abgesehen von einem Buch aus den er Jahren, ein relativ schmaler Band einer Mitarbeiterin des Stadtgeschichtlichen Museums Katowice die einzige Überblicksdarstellung zur Stadtgeschichte auf Polnisch. Vgl. Urszula Rzewiczok: Zarys dziejów Katowic. – [Abriss der Geschichte von Katowice. – ]. Katowice ; ferner Śląski Instytut Naukowy (Hg.): Katowice. Ich dzieje i kultura na tle regionu [Katowice. Geschichte und Kultur vor dem Hintergrund der Region]. Warszawa . Historische Themen werden außerdem in zwei Bildbänden über Katowice behandelt: Michał Bulsa/Grzegorz Grzegorek/Beata Witaszczyk (Hg.): Domy i gmachy Katowic [Häuser und Gebäude in Katowice]. Katowice ; Jerzy Moskal (Hg.): … Bogucice, Załęzie et nova villa Katowice. Rozwój w czasie i przestrzeni [… Bogucice, Załęzie et nova villa Katowice. Entwicklung in Zeit und Raum]. Katowice . Vgl. Maria W. Wanatowicz: Historia społeczno-polityczna Górnego Śląska i Śląska Cieszyńskiego w latach – [Gesellschaftspolitische Geschichte Oberschlesiens und des Teschener Schlesiens in den Jahren – ]. Katowice ; Maria W. Wanatowicz: Rola i Miejsce Górnego Śląska w Drugiej Rzeczypospolitej [Die Rolle und die Stellung Oberschlesiens in der Zweiten Polnischen Republik]. Bytom ; Wojciech Janota: Katowice między wojnami. Miasto i jego sprawy – [Katowice zwischen den Kriegen. Die Stadt und ihre Angelegenheiten – ]. Łódź . Vgl. Zygmunt Woźniczka: Katowice – . Pierwsze powojenne lata. Polityka ‒ społeczeństwo ‒ kultura [Katowice – . Die ersten Nachkriegsjahre. Politik – Gesellschaft – Kultur]. Katowice . Vgl. Joanna Tofilska: Nikiszowiec – . Z dziejów osiedla i parafii [Nikiszowiec – . Aus der Geschichte der Siedlung und des Pfarrbezirkes]. Katowice ; Lech Szaraniec: Słownik osad i osiedli Katowic [Wörterbuch der Siedlungen und Stadtteile von Katowice]. Katowice . Stellvertretend für die polnische Forschung Waldemar Odorowski: Architektura Katowic w latach międzywojennych – [Die Architektur in Katowice in der Zwischenkriegszeit – ]. Katowice ; Irma Kozina: Chaos i Uporządkowanie. Dylematy architektoniczne na przemysłowym Górnym Śląsku w latach – [Chaos und Ordnung. Architektonische Dilemmata im industrialisierten Oberschlesien in den Jahren – ]. Katowice . Auf deutscher Seite hat sich Beate Störtkuhl intensiv mit (Ober)Schlesien beschäftigt. Vgl. Beate Störtkuhl: Moderne Architektur in Schlesien bis . Baukultur und Politik (= Schriften des Bundesinstituts für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa, Band ). München ; Beate Störtkuhl: Von ‚deutscher Bauart‘ und ‚steingewordenen Symbolen polnischer Kultur‘. Architektur der Zwischenkriegszeit in Schlesien als Manifestation nationalen Behaup-
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Deutschsprachige Überblicksdarstellungen zur Stadtgeschichte von Katowice liegen bislang fast noch keine vor. Die deutschsprachige Forschung interessierte sich weniger für die Stadt Katowice²⁹ als vielmehr für das Gebiet der Nationalismusforschung³⁰, wobei Oberschlesien als Region im Fokus stand.Von besonderem Interesse waren in Bezug auf Oberschlesien die Teilung der Region nach dem Ersten Weltkrieg, die Identitätenpolitik der Zwischenkriegszeit sowie teilweise die Lage der Minderheiten nach der Teilung.³¹ Diese Übersicht über den Forschungsstand auf dem Gebiet der Stadtgeschichte von Katowice verdeutlicht, dass sich die Geschichtswissenschaft bislang überwiegend auf die Rekonstruktion vergangenen Geschehens anhand empiri-
tungswillens, in: Michael Weber (Hg.): Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur geschichtlichen Landeskunde. Frankfurt/Main , S. – . Eine deutsche Stadtgeschichte liegt aus den er Jahren aus dem Oberschlesischen Heimatverlag vor. Vgl. Helmut Kostorz/Sigmund Karski (Hg.): Kattowitz. Seine Geschichte und Gegenwart. Ein Jubiläumsbuch zum . Gründungsjahr. Dülmen . Die Stadtgeschichte wird auf Grundlage deutscher und polnischer Quellen dargestellt, konzentriert sich aber in der Darstellung auf die deutschen Errungenschaften beim Aufbau der Stadt. Auf Deutsch liegen ferner Abhandlungen aus dem . Jahrhundert vor, etwa von einem der Stadtgründer, Richard Holtze, aus dem Jahr . Vgl. Richard Holtze: Die Stadt Kattowitz. Eine kulturhistorische Studie. Als Festgabe zur Eröffnung des Gymnasiums Kattowitz. Kattowitz ; Georg Hoffmann: Geschichte der Stadt Kattowitz. Kattowitz . Beide Bücher wurden kürzlich auch ins Polnische übersetzt. Aus Sicht eines polnischen Germanisten untersucht Michał Skop das Bild, das über Katowice in literarischen aber auch in historischen deutschen Schriften gezeichnet wird.Vgl. Michał Skop: Das Bild der Stadt Kattowitz/Katowice im deutschen Schrifttum – . Dresden/Wrocław . Die Ergebnisse der Konferenzbände entstanden dabei zumeist unter Mitwirkung von polnischen und teilweise auch tschechischen Historikern, liegen aber auf Deutsch vor.Vgl. Phillip Ther/ Kai Stuve (Hg.): Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit. Marburg ; Kai Stuve (Hg.): Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Marburg . Eine vergleichende Einordnung zu anderen Nationalitätenkonflikten im . Jahrhundert erfährt die Auseinandersetzung um Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg bei Phillip Ther/Holm Sundhausen (Hg.): Nationalitätenkonflikte im . Jahrhundert. Ursachen von inter-ethnischer Gewalt im Vergleich. Wiesbaden . Zur Konstruktion von nationalen Mythen in Oberschlesien siehe Juliane Haubold-Stolle: Mythos Oberschlesien. Der Kampf um die Erinnerung in Deutschland und Polen – . Osnabrück ; Andrzej Michalczyk: Heimat, Kirche und Nation. Deutsche und polnische Nationalisierungsprozesse im geteilten Oberschlesien ( – ). Köln . Vgl. Wiesław Lesiuk: Plebiszit und Aufstände in Oberschlesien, in: Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch: Wach auf, mein Herz, und denke. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg von bis heute. Berlin/Opole ; Bernard Linek: Deutsche und polnische nationale Politik in Oberschlesien – , in: Phillip Ther/ Kai Stuve (Hg.): Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit. Marburg ; Pia Nordblom: Die Lage der Deutschen in Polnisch-Oberschlesien nach , in: Kai Stuve (Hg.): Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Studien zu einem nationalen Konflikt und seiner Erinnerung. Marburg , S. – .
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scher Quellen konzentriert hat. Die gegenläufige Operation der Dekonstruktion, die nach dem Umgang mit bzw. der Wirkung von „fertigen“ Geschichten in der Gegenwart fragt, wurde für Katowice bislang nur vereinzelt und auf bestimmte Themenbereiche bezogen umgesetzt. Im Mittelpunkt derartiger Untersuchungen standen jedoch vorrangig die Veränderungen geschichtskultureller Manifestationen, etwa der städtischen Denkmallandschaft.³² Eine umfassende und eingehende Dekonstruktion öffentlicher historischer Narrationen liegt für Katowice bislang nicht vor.³³ Dieses Desiderat war sowohl Grundlage als auch Ausgangspunkt der vorliegenden Studie. Theoretische Anleihen für eine derartige Dekonstruktion historischer Narrationen sind in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Disziplinen angelegt – eine ausschließliche Zuordnung zu einer Disziplin und einem Analyseverfahren gibt es nicht. Es lassen sich jedoch Schwerpunkte ausmachen, aus denen sich die theoretischen Rahmen, das Forschungsdesign und die disziplinäre Einbettung dieser Studie zusammensetzen. So berührt die Untersuchung unter anderem das Feld der Heritageforschung³⁴ bzw.
Vgl. Ewa Chojecka: Dzieje katowickich pomników – spory o historię [Die Geschichte der Denkmäler in Katowice – Auseinandersetzungen um Geschichte], in: Antoni Barciak (Hg.): Wielokulturowość Katowic (= Katowice w . rocznicę uzyskania praw miejskich) [Das multikulturelle Katowice (= Katowice zum . Jahrestag der Erlangung der Stadtrechte)]. Katowice , S. – . Im Unterschied zu Katowice liegen etwa für Breslau Untersuchungen zu den Museen der Stadt vor, die sich an den Maßgaben einer Dekonstruktion historischer Narrationen orientieren. Vgl. Vasco Kretschmann: Jahre Breslau, Jahre Befreiungskriege. Die neuen stadthistorischen Dauerausstellungen im Kontext der Musealisierung der Breslauer Stadtgeschichte im . Jahrhundert, in: Inter Finitimos (), S. – . Zwar war unter anderem das Stadtgeschichtliche Museum von Katowice auch schon Gegenstand von Untersuchungen, diese beschreiben jedoch nicht die historischen Narrationen, die in den Ausstellungen produziert wurden, sondern beschränken sich auf institutionsgeschichtliche Aspekte. Vgl. Aleksandra Niesyto: Działalność wydawnicza Muzeum Historii Katowic – wybrane aspekty [Die Ausstellungstätigkeit des Stadtgeschichtlichen Museums in Katowice – ausgewählte Aspekte], in: Kronika Katowic [Chronik von Katowice] (), S. – . Eine einheitliche, disziplinenübergreifende Definition von Heritage liegt gegenwärtig nicht vor, vielmehr wird der Begriff in den verschiedenen Disziplinen unterschiedlich verwendet. Heritage oder Kulturerbe wird in den Disziplinen Geografie und Raumplanung, Kunstgeschichte und Denkmalpflege, in den Geschichtswissenschaften, der Ethnologie, der Archäologie, den Kulturwissenschaften, dem Tourismusmarketing und auch in der Soziologie diskutiert. Vgl. Tagungsbericht Urban Heritage, . . , Berlin, in: H-Soz-u-Kult, . . , URL http://hsozkult. geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id= (Zugriff . . ). Die Facetten des Heritagebegriffes von seinen Ursprüngen im Heritageboom der er Jahren in Großbritannien bis hin zur internationalen Debatte der Gegenwart zeichnet Sybille Frank sehr übersichtlich nach.Vgl. Sybille Frank: Der Mauer um die Wette gedenken. Zur Formation einer Heritage-Industrie am Berliner Checkpoint Charlie. Frankfurt/Main u. a. .
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die Erforschung von Kulturerbe, deren Fokusse ebenfalls teilweise auf Praktiken der Vergegenwärtigung von Vergangenheit liegen.³⁵ Vor allem, wenn aus ethnologischer Sicht nach der Werdung von Kulturerbe gefragt wird bzw. nach den Aushandlungsprozessen, die Kulturerbe zu einer ökonomischen oder politischen Ressource werden lassen, tritt die Nähe zu den Forschungsfragen dieser Untersuchung deutlich hervor. Überlappungen zur Heritageforschung sind auch dann gegeben, wenn Heritage kulturwissenschaftlich verstanden wird als „Medium der umkämpften Produktion und Repräsentation […] bedeutungsvoller Vergangenheit“. Wie Sybille Frank weiter hervorhebt, geht es bei einem so verstandenen Heritagebegriff nicht mehr um „historische Faktizität oder kulturelle Wertigkeit“. Vielmehr stehen bei diesem kulturwissenschaftlichen Zugriff auf Heritage die „Menschen als Bedeutungsproduzenten“ bei der Anerkennung einer bestimmten Vergangenheit als Heritage im Vordergrund.³⁶ Aspekte der Präsenz von Vergangenheit in der Gegenwart, ihre Wirkung, aber auch ihre Funktionen sind ferner Kernbereiche der Kulturwissenschaften, aber auch der Geschichtsdidaktik bzw. der Geschichtstheorie. Mit dem Paradigma der Gedächtnis- und Erinnerungsforschung bzw. den Konzepten Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein haben diese akademischen Disziplinen für den Forschungsbereich eigenständige theoretische Zugangsweisen und Forschungsinstrumentarien entwickelt, die trotz der inhaltlichen und theoretischen Nähe der Disziplinen kaum gegenseitig rezipiert wurden und werden. Infolgedessen haben sich parallele Theoriedebatten unter den Stichworten Erinnerung und Erinnerungskultur sowie Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur etabliert, die im Wesentlichen die gleichen Untersuchungsgegenstände bearbeiten, sich an ähnlichen Fragestellungen orientieren und dennoch stärker an ihren Differenzen festhalten, als den gemeinsamen Dialog zu suchen. Die Entscheidung, sich bei den theoretischen Grundlagen der Untersuchung an den geschichtstheoretischen und -didaktischen Ansätzen im Bereich Geschichtskultur zu orientieren, kann demnach nicht mit dem Untersuchungs-
Sehr deutlich werden die Überlappungen zwischen den Fragestellungen dieser Arbeit und den Forschungsschwerpunkten der Heritageforschung bei Gregory J. Ashworth/John E. Tunbridge: Old cities, new pasts: Heritage planning in selected cities of Central Europe, in: GeoJournal (), S. – . Ferner zur Vergegenwärtigung von Kulturerbe vgl. Karlheinz Wöhler: Heritagefication: Zur Vergegenwärtigung des Kulturerbes, in: Kurt Luger/ders. (Hg.): Welterbe und Tourismus. Schützen und Nützen aus einer Perspektive der Nachhaltigkeit. Innsbruck u.a , S. – . Interessant ist in diesem Zusammenhang auch ein Artikel von Stefanie Samida, die für die Öffnung der Public History unter anderem in Richtung Kulturerbeforschung argumentiert. Vgl. Stefanie Samida: Public History als Historische Kulturwissenschaft: Ein Plädoyer, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, . . , URL http://docupedia.de/zg/Public_History_als_Histori sche_Kulturwissenschaft?oldid= (Zugriff . . ). Vgl. Frank, Der Mauer um die Wette gedenken (), S. und .
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gegenstand begründet werden, sondern ist eine Folge der dort stärker ausgeprägten theoretischen Grundlagen. Diesen liegt ein differenzierterer Geschichtsbegriff zugrunde, der Analyseebenen eröffnet, die sich mit einem Zugang über die Begriffe Erinnerung und Erinnerungskultur nicht erschließen lassen. Das Konzept Geschichtskultur geht vom narrativen Charakter historischen Wissens aus, der Geschichte eine Orientierungsleistung in der Gegenwart und für die Zukunft zuschreibt. Die Zeitebene der Zukunft spielt für die geschichtsdidaktischen bzw. -theoretischen Ansätze daher eine entscheidende Rolle, während sie für die Erinnerungskulturforschung als Kategorie eher zweitrangig oder gar nicht von Bedeutung ist. Erinnerungskulturforschung interessiert sich vielmehr für die sozialen Praktiken bestimmter Gruppen im Umgang mit Vergangenheit. Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur sind in ihrer theoretischen Ausrichtung hingegen stärker auf die Analyse bzw. die Dekonstruktion historischer Narrationen ausgelegt, sie erlauben einen vertieften Einblick sowohl in die Entstehung als auch die Wirkung und Funktion historischer Narrationen in der Gegenwart und für die Zukunft. Die Parallelentwicklung der beiden akademischen Debatten um Erinnerungs- und Geschichtskultur ist ein eigentümliches, bisweilen nicht leicht zu durchschauendes Phänomen der deutschsprachigen Geisteswissenschaften. Das umso mehr, als in den vergangenen Jahren zusätzliche, neue Begriffsprägungen im etablierten Forschungsfeld zwischen Geschichts- und Erinnerungskultur auftauchten. Sowohl Public History als auch Angewandte Geschichte beschäftigen sich seit einigen Jahren ebenfalls mit den immer vielfältigeren Formen außerakademischer historischer Wissensbildung. Die Gemengelage zwischen diesen Begriffen, ihren Untersuchungsgegenständen sowie ihren Bedeutungen werden im Kapitel zu den theoretischen Grundlagen dieser Untersuchung ausführlich dargestellt und nachgezeichnet. Die Übersetzung der geschichtstheoretischen Annahmen eines narrativen Geschichtsbegriffes in praktisch anwendbare Schritte zur Dekonstruktion historischer Narrationen wurde unter anderem von den Geschichtsdidaktikern des Forschungsverbundes FUER geleistet. Hier wurde ein Modell zur Dekonstruktion historischer Narrationen erarbeitet, das sich intensiv mit der empirischen, normativen und narrativen Plausibilität historischer Narrationen beschäftigt und diese Kriterien für historische Narration hinterfragbar macht. Mit der Anwendung dieses Dekonstruktionsmodells auf den Untersuchungsgegenstand Stadt betritt diese Studie Neuland. Daraus ergeben sich Implikationen für die Definition des Untersuchungsgegenstandes: Um die historischen Narrationen genau erfassen, beschreiben und im Anschluss dekonstruieren zu können, wurde in dieser Arbeit der Definitionsbereich von Geschichtskultur eingeschränkt. Dafür wurde der Bereich öffentlicher Geschichtsdarstellungen als Teilgebiet der städtischen Geschichtskultur definiert. Denn eine der Herausforderungen bei der Anwendung
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des Geschichtskulturkonzeptes auf den hier gewählten Untersuchungsgegenstand bestand darin, die „bunte Welt der Phänomene“³⁷ mit ihren vielfältigen Ausgestaltungen und Manifestationen so zu definieren, dass eine ausführliche Dekonstruktion überhaupt möglich war. Erst durch die Beschränkung auf das Teilgebiet öffentlicher Geschichtsdarstellungen konnte das im Konzept der Geschichtskultur angelegte Analyseinstrumentarium zur Dekonstruktion historischer Narrationen zur vollen Entfaltung gebracht werden. Anderenfalls bliebe die Analyse der städtischen Geschichtskultur aufgrund der Vielzahl der Phänomene eine oberflächliche Beschreibung.
Anmerkungen zu den Begriffen (Ober)Schlesien/(Górny) Śląsk und ihrer Semantik Die Stadt Katowice ohne Beachtung der Region Oberschlesien untersuchen zu wollen, erscheint nach Ansicht des polnischen Historikers Marek Cetwiński wenig aussichts- und aufschlussreich: Katowice und Oberschlesien werden in der Öffentlichkeit als Synonyme wahrgenommen. Die Meinungen über die Stadt sagen viel aus über die Einstellung zur Region. Das Gleiche gilt umgekehrt: Die Meinungen über Oberschlesien können auch als Urteile über die Woiwodschaftsstadt gelten. Ein Pole, der nicht aus Oberschlesien stammt, ist nicht in der Lage, Region und Stadt voneinander zu trennen. Die Identität der Stadt verschwimmt in der nebulösen Vorstellung eines „unbekannten Landes“.³⁸
Die Konzeption sowie der Aufbau dieser Untersuchung reagieren u. a. auf diese Feststellung. Auch wenn die Stadt Katowice der genuine Untersuchungsgegenstand dieser Studie ist, wurden immer wieder sowohl die historischen als auch die gegenwärtigen Entwicklungen der Region Oberschlesien als Hintergrund zur Erklärung von Prozessen und Phänomenen herangezogen.
Vgl. Bernd Schönemann: Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur, in: Bernd Mütter/Bernd Schönemann/Uwe Uffelmann (Hg.): Geschichtskultur. Theorie – Empirie – Pragmatik. Weinheim , S. – , hier S. . Vgl. Marek Cetwiński: Katowice w niewoli stereotypów dawnych i współczesnych: historiograficzne mity i nieporozumenia, [Katowice gefangen in alten und neuen Stereotypen: historiografische Mythen und Missverständnisse], in: Antoni Barciak/Ewa Chojecka/Sylwester Fertacz: Katowice. Środowisko, dzieje, kultura, język i społeczeństwo [Katowice, Umwelt, Geschichte Kultur, Sprache und Gesellschaft]. Katowice , S. – , hier S. .
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Doch um welche Region geht es eigentlich? Was bedeutet der Begriff Oberschlesien? Während Katowice als Stadt vergleichsweise problemlos zu benennen und zu definieren ist, bringt die korrekte Bezeichnung der sie umgebenden Region erhebliche Probleme mit sich. Zwar gab es auch für Katowice im Laufe seiner Entwicklung verschiedene Bezeichnungen. So ist die Stadt im Jahr 1865 als Kattowitz gegründet worden und trug diesen deutschen Namen während ihrer Zugehörigkeit zu Preußen bzw. zum Deutschen Reich.³⁹ Für die Region Oberschlesien existieren neben dieser deutschen und der polnischen Bezeichnung (Górny Śląsk) auch eine lateinische (Silesia Superior) sowie eine tschechische (Horní Slezsko bzw. Slezsko). Die mehrsprachigen Benennungen des Gebietes verweisen auf die ausgesprochen komplexen historisch-politischen Bedingungen seiner Entwicklung als Grenzgebiet. Erst seit der Westverschiebung Polens im Jahr 1945 befindet sich der Großteil Oberschlesiens auf polnischem Staatsgebiet – mit Ausnahme eines kleinen Gebietes um die Städte Ostrava/Ostrau und Opava/Troppau, das seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zur Tschechoslowakei und heute zu Tschechien gehört.⁴⁰ Die kaum durch charakteristische geografische Elemente zu bestimmenden Grenzen Oberschlesiens wurden in der Zeit nach 1945 zusätzlich durch die Einführung neuer administrativer Einheiten aufgeweicht. So wurde die Woiwodschaft Schlesien um Teile Kleinpolens (Zagłębie) erweitert, wodurch Regionen mit gänzlich unterschiedlichem historischen Hintergrund in einer Verwaltungseinheit zusammenfasst wurden.⁴¹ Zwischen 1975 und 1998 verteilte sich Ober-
In den Jahren bis wurde Katowice kurzzeitig aus ideologischen Gründen in Stalinogród umbenannt, doch hat diese Episode in der weiteren Entwicklung der Stadt kaum Spuren hinterlassen. Ein Teil Oberschlesiens verblieb nach bei Österreich und wurde nicht preußisch. Dieser wird im Deutschen Österreichisch-Schlesien genannt. Im Polnischen bezeichnet man dieses Gebiet meist als Śląsk Cieszyński (Teschener Schlesien). Wie kompliziert es ist, einen Überblick über die verschiedenen Bezeichnungen für die einzelnen Teile Oberschlesiens in den jeweiligen Sprachen zu behalten, illustriert jedoch gerade dieses kleine Teilstück Oberschlesiens. Das trinationale Historikerteam Bahlcke, Gawrecki und Kaczmarek weist darauf hin, dass das seit der Zwischenkriegszeit zur Tschechoslowakei bzw. Tschechien gehörende Gebiet neben Śląsk Cieszyński auch als Zaolzie (Olsagebiet) bezeichnet wird, diese Benennungen jedoch nicht mit dem kompletten österreichischen Teil Oberschlesiens identisch seien. Vgl. Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki/Ryszard Kaczmarek: Wstęp [Einleitung], in: dies. (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodaka i kultura europejskiego regionu [Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur einer europäischen Region]. Gliwice , S. – , hier S. . Aus dieser Zeit stammt die halboffizielle Bezeichnung Woiwodschaft Schlesien-Dąbrowa (Województwo śląsko-dąbrowskie). Offiziell blieb der Name Woiwodschaft Schlesien als Bezeichnung bis bestehen, anschließend wurde sie als Woiwodschaft Katowice (Województwo katowickie) bezeichnet.
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schlesien insgesamt sogar auf vier Woiwodschaften.⁴² Seit einer erneuten Reform im Jahr 1998/99 bestehen in Polen zwei Woiwodschaften, die das Gebiet Oberschlesiens einschließen: Die Woiwodschaft Oppeln⁴³ (Województwo opolskie) sowie die Woiwodschaft Schlesien, die das historisch zu Kleinpolen gehörende Gebiet um Częstochowa/Tschenstochau sowie Żywiec/Saybusch mit umfasst. Die gegenwärtigen politisch-administrativen Grenzen haben demnach keinen Bezug zur historischen Region Oberschlesien, zu einem Verständnis der Region als Ganzes tragen sie nur wenig bei.⁴⁴ Vor allem die Teilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen nach dem Ersten Weltkrieg brachte eine Vielzahl von Begrifflichkeiten hervor, die die Region in unterschiedlichen Sprachen beschrieben haben. In Deutschland wurde großteils am Terminus Oberschlesien festgehalten, der weiterhin die gesamte Region umfasste, um den Anspruch auf das aus deutscher Sicht zu Unrecht abgetretene Gebiet aufrechtzuerhalten. Im Jahr 1919 entstand die Provinz Oberschlesien als administrative Einheit, obwohl sich ein bedeutender Teil der Region Oberschlesien außerhalb dieser administrativen Grenzen befand. Daneben wurden in den medialen und politischen Diskurs Begriffe wie Polnisch-Ostoberschlesien oder Ostoberschlesien eingeführt, die dieses Gebiet vom deutschen Teil, bezeichnet als West-Oberschlesien, unterscheiden sollten.⁴⁵ Im Polnischen wurde dieser östliche Teil der Region während der Zwischenkriegszeit als Województwo śląskie, also Woiwodschaft Schlesien, bezeichnet. Während des Zweiten Weltkrieges, als die gesamte Region unter nationalsozialistischer Herrschaft stand, wurde zeitweise die Bezeichnung Provinz Oberschlesien auch für den polnischen Ostteil der Region wieder eingeführt.⁴⁶ Die verschiedenartigen Bezeichnungen für einzelne Subregionen haben dazu geführt, dass der Begriff Oberschlesien seine Einheitlichkeit verloren hat. Dennoch stellte ein deutsch-polnisch-tschechisches
Es handelte sich um die Woiwodschaften Oppeln, Katowice,Tschenstochau und Bielitz-Bielau. Der Regierungsbezirk Oppeln gehörte seit / zu Preußen und wird im Deutschen auch als Oberschlesien bzw. Preußisch-Oberschlesien, das Oppelner Land oder Oppelner Schlesien bezeichnet. Wojciech Kunicki weist jedoch darauf hin, dass sich das Oppelner Schlesien nicht als Teil Oberschlesiens verstehen will. Vgl. Wojciech Kunicki: Schlesien, in: Andreas Lawaty/Hubert Orłowski (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München , S. – , hier S. . Vgl. Ewa Chojecka:Wprowadzenie [Einleitung], in: Ewa Chojecka (Hg.): Sztuka Górnego Śląska od średniowiecza do końca XX wieku [Die Kunst Oberschlesiens vom Mittelalter bis zum Ende des . Jahrhunderts]. Katowice , S. – , hier S. . Vgl. Bahlcke/Gawrecki/Kaczmarek, Wstęp [Einleitung] (), S. . In den Jahren bis bestand der Regierungsbezirk Kattowitz im Rahmen der Provinz Schlesien, deren Hauptstadt Breslau war. Zwischen und bestand die Provinz Oberschlesien, die sich aus den Regierungsbezirken Oppeln und Kattowitz zusammensetzte.
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Historikerteam im Jahr 2011 fest, dass der Begriff Górny Śląsk (Oberschlesien), der seit Jahren aus den offiziellen Bezeichnungen administrativ-territorialer Einheiten in Polen verschwunden war, in der Gegenwart genauso existiert und funktioniert wie das „intuitive Erkennen der Grenzen der Region“⁴⁷ durch ihre Einwohner. Neben der Vielzahl an Begriffen, die aufgrund wechselnder politischer Verhältnisse im Laufe der Geschichte die verschiedenen oberschlesischen Subregionen administrativ bezeichneten, ist ferner die Ebene semantischer Konnotationen von Bedeutung. Während der Begriff Schlesien im Deutschen eine Region meint, die fast vollständig von der deutschen Kultur geprägt wurde, als solche jedoch im Ergebnis des Zweiten Weltkrieges untergegangen ist und gegenwärtig als Nieder- und Oberschlesien allgemein als Teil des polnischen Staates respektiert wird, ist die semantische Lage im Polnischen komplexer.⁴⁸ Auf die Frage, was Schlesien sei, bekommt man mit großer Wahrscheinlichkeit in Polen eine Antwort, die mit Oberschlesien verbunden ist. Zurückzuführen ist die semantische Verbindung der regionalen Bezeichnung Oberschlesien mit dem polnischen Begriff Śląsk (Schlesien) auf die Zwischenkriegszeit, als im polnischen Ostteil Oberschlesiens die Woiwodschaft Schlesien entstand. Im polnischen Verständnis ist Oberschlesien demnach das „richtige“ Schlesien, während Niederschlesien zwar als verwaltungstechnische Bezeichnung der Woiwodschaft Niederschlesien (Województwo dolnośląskie) funktioniert, sich aber kulturell und emotional vom „polnischen“ Schlesien unterscheidet. Zusammenfassend stellen sich die komplexen semantischen Konnotationen zwischen dem deutschen und polnischen Verständnis von Schlesien und Śląsk wie folgt dar: Obwohl das Substantiv Schlesien und das Adjektiv schlesisch im Deutschen die ganze Region bezeichnen, hat sich im deutschen Sprachgebrauch und Bewusstsein hauptsächlich eine Konnotation der Begriffe mit Niederschlesien etabliert. Im Polnischen hingegen werden die beiden Wörter Śląsk und śląski mit der nicht präzise definierten Region Oberschlesien gleichgesetzt.⁴⁹ Es ist deutlich zu erkennen, dass im Deutschen wie im Polnischen jeweils das „Schlesien“ verständnisprägend war, das eindeutiger der eigenen Sprache und Nation zugehörig schien.⁵⁰ Neben Śląsk und śląski werden im polnischen Sprachgebrauch auch die Begriffe Górny Śląsk und górnosląski verwendet, die sich jedoch weitgehend mit Śląsk und śląski decken. Eine wörtliche Übersetzung der Termini würde erfordern, den Begriff Śląsk ins Deutsche mit Schlesien zu übertragen. Das wäre zwar lexikalisch korrekt, würde jedoch dem Bedeutungshorizont der Begriffe im Polnischen nicht
Vgl. Bahlcke/Gawrecki/Kaczmarek, Wstęp [Einleitung] (), S. . Vgl. Kunicki, Schlesien (), S. . Ebd., S. . Vgl. Haubold-Stolle, Mythos Oberschlesien (), S. .
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entsprechen. Beim deutschen Leser würde der Eindruck erweckt, die gesamte Region Schlesien bzw. Niederschlesien stehe im Fokus. Um solchen Missverständnissen vorzubeugen, werden deshalb in dieser Arbeit sowohl Górny Śląsk als auch Śląsk und ihre jeweiligen adjektivischen Verwendungen als Oberschlesien oder oberschlesisch übersetzt. Abgewichen wird von dieser Übersetzungspraxis bei eingeführten Übersetzungen von Institutionen wie etwa dem Schlesischen Museum (Muzeum Śląskie), der Schlesischen Universität (Uniwersytet Śląski) oder der Bewegung für die Autonomie Schlesiens (Ruch Autonomii Śląska, RAŚ). Hier haben sich Übersetzungen mit dem Begriff Schlesien etabliert, obwohl die betreffenden Institutionen und Organisationen in Oberschlesien angesiedelt sind und sich ihre Aktivitäten auf Oberschlesien beziehen. Wie komplex die Gemengelage ist, zeigt sich etwa am Beispiel der Jugendorganisation der Bewegung für die Autonomie Schlesiens, der Oberschlesischen Jugend (Młodzież Górnosląska). Während die Mutterorganisation mit dem Begriff Śląsk agiert, führt die Jugendorganisation Górny Śląsk im Titel. Hier zeigt sich, dass Śląsk und Górny Śląsk im Polnischen synonym verwendet werden, da beide Organisationen ausschließlich in Oberschlesien aktiv sind. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der deutschen bzw. polnischen Bezeichnung von Ortsnamen. Es gibt verschiedene Zugänge, sich dem Problem deutscher und polnischer Ortsnamen zu nähern – es können etwa nur die deutsche oder nur die polnische Version oder durchgängig beide verwendet werden. Im Rahmen dieser Untersuchung wird für den Untersuchungsgegenstand, die Stadt Katowice, durchgehend die polnische Bezeichnung verwendet – mit Ausnahme der Stellen, wo tatsächlich die deutsche Periode der Stadtgeschichte gemeint ist, dann wird von Kattowitz die Rede sein. Für die Stadt Katowice werden demnach jeweils die Bezeichnungen verwendet, die zur gegebenen Zeit maßgeblich waren. Dieses auf den ersten Blick etwas umständlich erscheinende Verfahren hat pragmatische Gründe: Bei der Dekonstruktion historischer Narrationen werden von der Gegenwart aus immer wieder, teilweise auch sprunghaft, unterschiedliche Zeitebenen in der Vergangenheit angesprochen und behandelt. Die Verwendung der deutschen oder polnischen Bezeichnung Katowice bzw. Kattowitz wird dem Leser die Navigation durch diese verschiedenen Zeitebenen und die jeweilige staatliche Zugehörigkeit der Stadt erleichtern. Da sich die Untersuchung überwiegend auf die Gegenwart bezieht, wird überwiegend von Katowice die Rede sein und nicht von Kattowitz. Für alle anderen Ortsnamen gilt, dass bei der ersten Erwähnung immer beide Sprachvarianten angegeben werden, z. B. Wrocław/Breslau. Um den Lesefluss darüber hinaus nicht zu stark zu beinträchtigen, wird auf eine durchgängige Doppelnennung der Ortsnamen in ihren deutschen und polnischen Versionen verzichtet. In Anlehnung an die Argumentation des polnischen Sprachwissen-
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schaftlers Jan Miodek wird die deutsche Variante der jeweiligen Städtenamen bevorzugt. Miodek argumentiert, dass im deutschen Sprachgebrauch nach wie vor die deutschen Bezeichnungen für die Städte des ehemaligen deutschen Ostens zu präferieren seien.⁵¹ Breslau wäre demnach in einer auf Deutsch verfassten Arbeit der polnischen Bezeichnung Wrocław vorzuziehen. Schließlich, so Miodek, würden im Deutschen andere polnische Städte, für die es deutsche Bezeichnungen gibt, wie Krakau oder Warschau, auch mit diesen Namen genannt, ohne damit ihre Polonität oder staatliche Zugehörigkeit in Zweifel zu ziehen. Miodek wollte mit seiner Argumentation einer übertriebenen politischen Korrektheit entgegenwirken und Wendungen wie „Erst kommen wir nach Wrocław, danach besuchen wir Krakau und Warschau“⁵² verhindern. Diesem Vorschlag eines möglichst unverkrampften Umganges mit deutschen und polnischen Ortsnamen folgt diese Untersuchung. Abschließend sei bemerkt, dass in dieser Studie mit den männlichen Formen von Begriffen gearbeitet wird. Die genderkonforme Schreibweise (etwa mit gender gap wie in Akteur_innen) oder das anfügen der weiblichen Formen (etwa in BürgerInnen), um den männlichen und weiblichen Teil der Bevölkerung zu kennzeichnen, hat sich als nicht praktikabel bzw. störend im Text- und Lesefluss erwiesen. Als sprachsensible Kulturwissenschaftlerin möchte ich diese Entscheidung so verstanden wissen, dass die männlichen Begriffsformen immer auch die weiblichen mit einschließen, auch wenn diese nicht gesondert ausgewiesen werden. Wenn also von Bürgern die Rede ist, schließt das auch die Bürgerinnen einer Stadt mit ein.
Vgl. Jan Miodek/Jan Lopuszanski: Warum Breslau und nicht Wrocław?, in: Transodra – (), S. – . Ebd., S. .
2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen 2.1 Dynamiken einer Transformation nach 1989 Ökonomischer Strukturwandel: Vom Bergbau- und Industriezentrum zum Dienstleistungsstandort Der Bergbau […] ist Inbegriff des Zerbrechens und der Diskontinuität. Das Neue kann nicht geboren werden, wenn nicht etwas anderes abgelegt, weggeworfen und zerstört wird … […] Bergbau verneint die Aussage, wonach der Tod in seinem Schoß neues Leben birgt. Er beruht vielmehr auf der Annahme, dass die Geburt des Neuen den Tod des Alten voraussetze …¹
Die Geschichte der Stadt Katowice ist seit ihrer Gründung im 19. Jahrhundert eng mit Bergbau und Industrie verbunden. Während die Industrialisierung in Polen vor allem in der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen einen starken Entwicklungsschub erfuhr, hatte dieser Prozess in Katowice und der Region Oberschlesien bereits drei Jahrzehnte vorher begonnen, als Stadt und Region zu Preußen gehörten. Bei dem Anschluss von Katowice und den östlichen Teilen Oberschlesiens an Polen im Jahr 1922 hatte die Stadt bereits eine längere Phase der Industrialisierung hinter sich als andere Landesteile des wieder entstandenen polnischen Staates. Einen neuerlichen Höhepunkt des Ausbaus von Industrie und Bergbau erlebte Katowice in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Da sich das oberschlesische Industriegebiet bis 1944 außerhalb der Reichweite britisch-amerikanischer Luftangriffe befand und auch im weiteren Verlauf des Krieges nicht zerstört wurde, konnte die Produktion nach Kriegsende relativ schnell wieder aufgenommen werden. Aus Oberschlesien kamen anfangs die für den Aufbau des kriegszerstörten Polens wichtigen Produkte wie Stahl und Kohle, später waren die oberschlesischen Industrieprodukte die Grundlage für eine angestrebte Modernisierung des Landes. Im kommunistischen Polen war Katowice die Hauptstadt einer Region, deren vornehmliche Aufgabe darin bestand, den Reichtum an Bodenschätzen zu fördern und zu verarbeiten. Industrie und Bergbau waren strukturbeherrschend und prägten den städtischen Raum. Im Wirtschaftsgefüge des kommunistischen Polen nahmen Katowice und die oberschlesische Woiwodschaft
Vgl. Zygmunt Baumann: Verworfenes Leben. Die Ausgegrenzten der Moderne. Hamburg , S. f.
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eine herausragende Stellung ein. Im Jahr 1971 lebten 11,4 % der polnischen Gesamtbevölkerung in Oberschlesien, das insgesamt 20 % der Industrieproduktion Polens erwirtschaftete.² Noch im Umbruchjahr 1989 befanden sich auf dem vergleichsweise kleinen Gebiet der Woiwodschaft insgesamt 520 staatliche Industriebetriebe. Das entspricht einem Anteil von 10 % an der Gesamtzahl des Landes, dabei machte die Woiwodschaft nur circa 2 % der Landesfläche Polens aus.³ Pläne zur radikalen Ausweitung der oberschlesischen Industrie wurden bereits in den 1950er Jahren konzipiert.⁴ Eine qualitativ neue Etappe der forcierten Industrialisierung im oberschlesischen Industriegebiet setzte jedoch erst zwischen 1970 und 1980 in der Regierungszeit Edward Giereks (1913 – 2001) ein. Giereks Ziel war es, Polen nach den Anfangsjahren eines als rau und grob empfundenen Sozialismus wirtschaftlich auszubauen, um den Lebensstandard im Land anzuheben. Eine demonstrative Abkehr von der „schäbigen Sparsamkeit“⁵ der 1960er Jahre sollte mit einem sozioökonomischen Programm und einer massiven Modernisierung des Landes erreicht werden. Damit sollte zum einen der Umstrukturierungsprozess Polens von einem Agrarland, das es noch in der Zwischenkriegszeit gewesen war, zu einem Industrieland abgeschlossen werden. Von dieser politisch motivierten Industrialisierung versprachen sich die kommunistischen Machthaber ferner einen fundamentalen Mentalitätswandel der polnischen Bevölkerung, der den Weg zu einer modernen sozialistischen Gesellschaft ebnen sollte.⁶ Zum anderen sollte die vorherige Konzentration auf die Förderung
Vgl. Adam Dziurok/Bernard Linek: W Polsce Ludowej ( – ) [In der Volksrepublik Polen ( – )], in: Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki/Ryszard Kaczmarek (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodaka i kultura europejskiego regionu [Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur einer europäischen Region]. Gliwice , S. – , hier S. . Die Zahlen stammen aus Marek S. Szczepański/Weronika Ślęzak-Tazbir: Górnośląskie Metamorfozy. Region przemysłowy w procesie zmian: Od osady fabrycznej do metropolii? [Oberschlesische Metamorphosen. Eine Industrieregion im Wandel: Von der Fabriksiedlung zur Metropole?], in: dies. (Hg.): „Ziemia z uśmiechu Boga…“ Górny Śląsk – portret regionu [„Ein Land wie Gottes Lächeln …“ Oberschlesien – Porträt einer Region], Studia Socjologiczne [Soziologische Studien] (), S. – , hier S. . Es zeigte sich jedoch, dass die mächtigsten Flöze unterhalb des zentralen Teils des bereits bestehenden Reviers lagen, deren Abbau wegen der dichten Bebauung der Oberfläche schwierig war. Das Problem sollte durch den Anstoß eines Deglomerationsprozesses gelöst werden: Vier Satellitenstädte (Tychy, Pyskowice, Gołonóg, Radzionków) wurden angelegt, um den Kern des industriellen Gebietes zu entlasten.Vgl. Marek S. Szczepański: Oberschlesien – eine Region dreier Entwicklungsgeschwindigkeiten, in: Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien (Hg.): Ruhrgebiet – Oberschlesien. Stadt, Region, Strukturwandel. Essen , S. – , hier S. . Vgl. Włodzimierz Borodziej: Geschichte Polens im . Jahrhundert. München , S. . Vgl. Rudolf Jaworski/Christian Lübke/Michael G. Müller (Hg.): Eine kleine Geschichte Polens. Frankfurt/Main , S. .
2.1 Dynamiken einer Transformation nach 1989
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der Schwerindustrie, die auf Kosten der Konsumgüterindustrie und der Landwirtschaft ging, was zu einem Missverhältnis, gar einem Widerspruch zwischen steigenden Produktivitätsziffern und einem stagnierenden Lebensstandard der Menschen führte, verringert werden. Die wirtschaftliche Verbesserung der Lage im Land war zudem innenpolitisch motiviert. Nachdem die Danziger Streiks 1970 blutig niedergeschlagen wurden, sollte die Stabilisierung der Lebensverhältnisse eine gewisse innenpolitische Ruhe garantieren. Denn auch nach der Streikwelle des Jahres 1970 hielt die Führung der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, PVAP (Polska Zjednoczona Partia Robotnicza) an ihrer antidemokratischen Politik fest. Auf der Tagung des Zentralkomitees der PVAP vom Februar 1971 wurde die Idee einer bürgerlichen Demokratie abgelehnt, und eine Verfassungsänderung des Jahres 1976 betonte neben der ewigen Freundschaft mit der UdSSR auch die führende Rolle der kommunistischen Partei.⁷ So entfalteten die 1970er Jahre in Polen eine spezifische Dynamik und Zwiespältigkeit, die in Oberschlesien besonders gut sichtbar wurde: Einerseits agierte das Regime aufgrund der zunehmenden gesellschaftlichen Opposition ideologisch immer hermetischer, gleichzeitig verbesserte sich die wirtschaftliche Lage der Menschen dank ausländischer Kredite in der ersten Hälfte der 1970er Jahre, die mit einer gewissen Liberalisierung einhergegangen waren. Die „Belle Epoque“ (Andrzej Paczkowski) der ersten Hälfte der 1970er Jahre brachte neue Freiheiten im Bereich der Alltagskultur: Minirock und Jeans wurden nicht mehr bekämpft, im Radio wurde neben polnischer auch westliche Rockmusik gesendet und Coca-Cola und Pepsi-Cola standen symbolhaft für die Annäherung an westliche Standards.⁸ Doch bereits in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre wurden Fehler in der Wirtschaftspolitik und die daraus resultierenden Folgen wie etwa Preiserhöhungen sichtbar.⁹ Gegen Ende der 1970er Jahre zeigte sich, dass die Partei keine Ideen zur Bekämpfung der steigenden Unzufriedenheit in der Bevölkerung hatte. Polen war gefangen in der Falle steigender Auslandsverschuldungen, und die Versorgungslage verschlechterte sich zusehends. Der Kontrast zwischen der kommunistischen Propaganda und der
Vgl. Tytus Jaskułowski: Demokratiekonsolidierung und die Opposition in Polen und der DDR – , in: Totalitarismus und Demokratie (), S. – , hier S. , URL http:// nbn-resolving.de/urn:nbn:de:-ssoar- (Zugriff . . ). Vgl. Borodziej, Geschichte Polens (), S. . Vgl. Jaskułowski, Demokratiekonsolidierung (), S. . Ende der er Jahre wurde das Fleisch in den Läden immer knapper, musste die Rationierung von Zucker eingeführt werden. Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. .
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2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen
Realität im Land vergrößerte sich und bildete den Nährboden für weitere gesellschaftliche Proteste.¹⁰ Zur vorübergehenden Stabilisierung unter Edward Gierek zu Beginn der 1970er Jahre gehörte die Losung, „Dass Polen an Kraft gewinnt und es den Menschen besser geht“¹¹, der eine allgemeine wirtschaftliche Dynamik folgte und die in Oberschlesien zu einer weiteren Steigerung der Produktivität führte. Mit einer Politik der forcierten Industrialisierung wurde der Plan verfolgt, Polen als zehntgrößte Wirtschaftsmacht der Welt zu etablieren.¹² Grundlage und gleichzeitig Symbol dieses Erfolges stellten die Tonnen geförderter Kohle, gewalzten Stahls und produzierten Zements aus dem oberschlesischen Industriegebiet dar. Verbunden war die Steigerung der Wirtschaftsleistung in Oberschlesien mit einer starken Ideologisierung aller Lebensbereiche sowie einer immer weitreichenderen Propaganda wirtschaftlichen Erfolges. Der Parteisekretär Zdzisław Grudzień (1924– 1982) strebte die Bildung einer sozialistischen Musterwoiwodschaft an, die in jeglicher Hinsicht eine führende Rolle im Land spielen sollte.¹³ Mit der Orientierung auf wirtschaftliche Quantität ließ sich dieser wirtschaftliche Erfolg messund damit nachvollziehbar machen, wobei die Herausbildung komplexerer Strukturen, die auf eine Steigerung der Qualität der hergestellten Produkte ausgelegt gewesen wäre, in den Hintergrund trat. Zwar wurden die Produktionskapazitäten gesteigert, Investitionen in die Modernisierung von Bergwerken und Industriebetrieben blieben jedoch aus.¹⁴ Den technologischen Rückstand und die niedrige Innovationsrate aufgrund fehlender Investitionen fasste der Historiker Piotr Greiner im Jahr 2011 zusammen: „Oberschlesien – seit Ende des 18. Jahrhunderts eine der wichtigsten ‚Industriewerkstätten‘ – wurde am Ende des 20. Jahrhunderts zu einem Freilichtmuseum der […] lange vergangenen Industrieepoche.“¹⁵ Ein spezifisches Hauptaugenmerk lag im sozialistischen Polen – gemäß der ideologischen Überzeugungen – stets auf dem Sektor der Produktion sowie dem
Vgl. Andrzej Paczkowski: Polnischer Bürgerkrieg. Der unaufhaltsame Abstieg des Kommunismus, in: Osteuropa – (), S. – , hier S. . „Aby Polska rosła w siłę, a ludziom żyło się dostatniej“ lautet das polnische Original. Vgl. Dziurok/Linek, W Polsce Ludowej [In der Volksrepublik Polen] (), S. . Vgl. Szczepański, Oberschlesien Entwicklungsgeschwindigkeiten (), S. . Vgl. Dziurok/Linek, W Polsce Ludowej [In der Volksrepublik Polen] (), S. . Vgl. Piotr Greiner: Historia gospodarcza Górnego Śląska (XVI-XX wiek) [Wirtschaftsgeschichte Oberschlesiens (XVI-XX Jahrhundert)], in: Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki/Ryszard Kaczmarek (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodaka i kultura europejskiego regionu [Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur einer europäischen Region]. Gliwice , S. – , hier S. . Ebd., S. .
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Ausbau und der propagandistischen Überhöhung der sogenannten Arbeiterklasse. Die Errichtung neuer Bergwerke,Verhüttungsanlagen und Chemiefabriken ging einher mit der Glorifizierung physischer Arbeit, die in der offiziellen Propaganda mit der zivilisatorischen Mission der sozialistischen Arbeiter verbunden wurde.¹⁶ Die Berg-, Hütten- und Metallarbeiter stiegen in der Volksrepublik Polen zur privilegierten Berufsgruppe auf, erhielten Sondervergütungen unterschiedlicher Art, von Urlaubsaufenthalten in speziellen Einrichtungen, eigenen Versorgungsnetzen bis hin zum erleichterten Zugang zu sozialistischen Luxusgütern wie dem Kleinwagen Polski Fiat. ¹⁷ Preiswerte Ausflüge in die DDR und andere Ostblockländer wurden angeboten und systembejahende Großveranstaltungen für die Partei und die führende Arbeiterklasse füllten die an ein Ufo erinnernde, zur damaligen Zeit als hochmodern geltende Mehrzweckhalle von Katowice, den sogenannten Spodek (Untertasse). Studenten der Universitäten wurden zu Ausflügen in die Berg- und Stahlwerke verpflichtet, um ihnen die führende Rolle der Arbeiterklasse und die damit verbundene Privilegierung körperlicher Arbeit an konkreten Beispielen zu verdeutlichen. Die Stipendien der Schüler an der Bergbauschule waren zu dieser Zeit höher als das Monatsgehalt eines wissenschaftlichen Mitarbeiters an der Universität; der Verdienst eines neu nach Oberschlesien gezogenen Bergmannes lag höher als der eines promovierten Universitätsassistenten. Ein anderer Vergleich ergab, dass das durchschnittliche Einkommen eines oberschlesischen Bergarbeiters zu dieser Zeit doppelt so hoch war wie der Durchschnittslohn im gesamten Rest des Landes.¹⁸ Diese Privilegierung der Arbeiterklasse unter sozialistischen Vorzeichen muss als ambivalentes Phänomen gewertet werden. Die Betriebe unterhielten Sportvereine, Blasorchester oder andere Kultur- und Sportangebote und verstärkten somit die Bindung der angestellten Arbeiter an ihren Betrieb.¹⁹ Die Kehrseite solcher kulturell-sozialen Ak-
Vgl. Szczepański/Ślęzak-Tazbir, Górnośląskie Metamorfozy [Oberschlesische Metamorphosen] (), S. . Der Polski Fiat wurde nach einem Übereinkommen mit der italienischen Automarke Fiat bei Bielsko Biała und Tychy in Polen als Lizenzprodukt gefertigt und war als „Auto für jede Familie“ geplant. Vgl. Magdalena Pyzio/Magdalena Saryusz-Wolska: Käfer und Maluch und Trabi. Die motorisierte Sehnsucht: Freiheit, Konsum und die „guten alten Zeiten“, in: Hans Henning Hahn/ Robert Traba (Hg.): Deutsch-polnische Erinnerungsorte. Parallelen (=Band ). Paderborn , S. – . Vgl. Szczepański/Ślęzak-Tazbir, Górnośląskie Metamorfozy [Oberschlesische Metamorphosen] (), S. . Szczepański verweist allerdings darauf, dass die individuellen und kollektiven Bindungen an die Betriebe oder Bergwerke nicht als Ergebnis der sozialistischen Industrialisierungspolitik zu werten, sondern bereits in der Zwischenkriegszeit für viele industrielle Siedlungen und Städte
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tivitäten bestand darin, dass sie dazu dienen sollten, die für die Region Oberschlesien traditionell wichtige Bindung der Bergarbeiter an ihre Familien und ihre Kirchengemeinde zu unterlaufen. Mit finanziellen Anreizen wurden die Bergleute zur Wochenendarbeit angeregt, die Teilnahme an Messen und Prozessionen war nicht gern gesehen, statt der kirchlichen Trauung wurde die Zivilehe propagiert. Bilder der Heiligen Barbara, der Schutzpatronin der Bergarbeiter, sollten aus den Bergwerken entfernt werden. Aufgrund dieser Einflussnahmen gehörten die oberschlesischen Bergleute – trotz ihrer privilegierten Stellung – im Jahr 1980 bei Ausbruch der Proteste der Solidarność-Bewegung zu einer der wichtigsten gegen das kommunistische System in Polen streikenden Gruppen.²⁰ Die sich verändernden Machtverhältnisse zwischen Partei und Gesellschaft wurden in drei Vereinbarungen festgelegt: In Szczecin/Stettin, Gdańsk/Danzig am 30. und 31. August 1980, für Oberschlesien wurde eine gesonderte Vereinbarung in Jastrzębie/Jastrzemb Anfang September getroffen. Diese Vereinbarungen bildeten die Grundlage für die Gründung unabhängiger Gewerkschaften, für die oberschlesischen Bergarbeiter brachten sie zudem Erleichterungen wie die Abschaffung des Viererbrigadensystems und arbeitsfreie Samstage. Am 13. Dezember 1981 wurde diese Phase jäh beendet und das Kriegsrecht eingeführt. Im ganzen Land wurden führende Aktivisten der Solidarność-Bewegung verhaftet, in Katowice gingen etwa 1 500 Personen ins Gefängnis.²¹ Im Anschluss brach eine Streikwelle aus, die auch Oberschlesien erfasste. Traurige Berühmtheit erlangte in diesem Zusammenhang die Grube Wujek, die am 16. Dezember 1981 von Spezialeinheiten der Polizei (ZOMO) gestürmt und „pazifiziert“ wurde. Neun streikende Bergleute verloren dabei ihr Leben.²² Während des Kriegsrechtes in den Jahren 1981 bis 1983 charakteristisch gewesen seien. Vgl. Szczepański, Oberschlesien Entwicklungsgeschwindigkeiten (), S. . Vgl. Ryszard Kaczmarek: Ludzie – stosunki demograficzne, struktura społeczna, podziały wyznaniowe, etniczne i narodowościowe, [Menschen – demografische Verhältnisse, Sozialstruktur, religiöse, ethnische und nationale Einteilungen], in: ders./Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki: Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu [Geschichte Oberschlesiens. Politik,Wirtschaft und Kultur einer europäischen Region]. Gliwice , S. – , hier S. f. Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. . Umgehend nach der Tragödie in der Grube Wujek wurde versucht, an die Toten zu erinnern, indem ein Kreuz aufgestellt wurde, dass jedoch von „unbekannten Tätern“ entfernt wurde. Das Kreuz wurde erneut aufgestellt, jedoch nun von Milizionären bewacht, die jeden dazu aufforderten sich auszuweisen, der sich in der Nähe des Kreuzes aufhielt. Zu jedem Jahrestag wurden Gedenkveranstaltungen abgehalten, die von der Miliz aufgelöst wurden. Im Dezember legten Oppositionelle aus Danzig, Warschau und Krakau Blumen am Kreuz nieder. Im Jahr wurde ein Monument an der Stelle des Kreuzes errichtet. Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. .
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war die Situation in Oberschlesien ambivalent. Einerseits wurde die Privilegierung der Bergleute aufrecht erhalten: In Zeiten der Reglementierung von Lebensmitteln wurden für die Kumpel spezielle Gewex-Läden eröffnet, in denen eine größere Auswahl an Grundnahrungsmitteln bereitstand.²³ Die oberschlesischen Arbeiter sollten so zum „Garanten der sozialen Stabilisierungsprozesse“²⁴ werden. Zeitungen berichteten davon, dass die oberschlesischen Arbeiter Aufwieglern, die sich der bestehenden sozialistischen Ordnung widersetzten und versuchten, die Arbeiter zu instrumentalisieren, ablehnend gegenüberstanden. Andererseits streikten in Katowice weiterhin Oppositionelle, so etwa am zweiten Jahrestag der Unterzeichnung der Vereinbarungen von Danzig, Stettin oder Jastrzemb. Der Ausbau der oberschlesischen Industrien war seit den 1970er Jahren so massiv, dass die Zahl der einheimischen Arbeiter schon bald nicht mehr ausreichte, um die neu geschaffenen Arbeitsplätze zu besetzen. Eine Welle der Anwerbung von Arbeitskräften in allen polnischen Woiwodschaften sollte die Besetzung aller entstandenen Arbeitsplätze sicherstellen. Eindrücklich wurde der Prozess der Gewinnung neuer, vor allem junger Bergmänner während der 1970er und 1980er Jahre in den Erinnerungen eines sogenannten Anwerbers beschrieben: Damals war ich Lehrer in der Bergfachschule. […] Ich bügelte meine Bergmannsuniform, packte meinen Koffer und machte mich auf den Weg… Ich habe angefangen von der schweren Arbeit, vom Mut und von Männlichkeit zu erzählen. Dann habe ich von den Wohnungen, den guten Löhnen, den Möglichkeiten des Studiums, der kostenlosen Verpflegung berichtet. Nach den Treffen konnte ich mich kaum retten vor den Siebt- oder Achtklässlern. Sie fragten nach den Bergwerken, nach der Arbeit … Den Eltern habe ich von der ruhigen und guten Arbeit berichtet. Die meisten von ihnen wussten, dass sie, wenn sie ihr Kind nach Schlesien schickten, nicht mehr für seine Versorgung aufkommen müssten.Vielmehr hofften sie darauf, dass ihr Kind ihnen bald Geld schicken wird.²⁵
Diese Anziehungskraft des „Schlesischen Eldorado“²⁶ brachte eine große Zahl ungelernten Personals in die Region, angeworben mit dem Versprechen guter Löhne und günstiger Wohnungen in den Wohnblocks der neu errichteten Sied-
Vgl. Szczepański, Oberschlesien Entwicklungsgeschwindigkeiten (), S. f. Ebd., S. f. Zitat nach Szczepański/Ślęzak-Tazbir, Górnośląskie Metamorfozy [Oberschlesische Metamorphosen] (), S. . Vgl. Szczepański, Oberschlesien Entwicklungsgeschwindigkeiten (), S. . Zygmunt Woźniczka beschreibt Katowice ebenfalls als „vielversprechendes Eldorado oder Schanghai“.Vgl. Zygmunt Woźniczka: Katowice – Stalinogród – Katowice. Z dziejów miasta – [Katowice – Stalinogród – Katowice. Aus der Geschichte der Stadt – ]. Katowice , S. .
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lungen.²⁷ Der Ausbau Katowices zum industriellen Herzen Polens war eng an die Vorstellung der Stadt als Industrie-, aber auch als Verwaltungszentrum gekoppelt. Vor diesem Hintergrund einer einseitigen Entwicklungsleitlinie wurden andere, bis dahin etablierte Funktionen der Stadt, etwa als Handelszentrum, vernachlässigt.²⁸ Ferner fehlten der Stadt bis in die 1980er Jahre zentrale Kultureinrichtungen; lanciert wurde in der Stadt zu dieser Zeit nicht die Hoch- sondern eine „niedrige Kultur“²⁹. So erhielt Katowice beispielsweise erst Anfang der 1980er Jahre ein Museum.³⁰ Eine Universität wurde in der Stadt im Jahr 1968 gegründet. Die Schlesische Universität entstand durch einen Zusammenschluss der seit 1928 bestehenden pädagogischen Hochschule mit einer Filiale der Krakauer Jagiellonen Universität. In den Anfangsjahren fokussierte die Universität die Ausbildung auf naturwissenschaftlich-technische Berufe und fügte sich somit in das einseitige Bild Katowices als Industriezentrum ein. Geisteswissenschaftliche oder künstlerische Studiengänge waren an der Schlesischen Universität nicht vertreten.³¹ Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft 1989/90 vollzog sich in der Region Oberschlesien eine Umstrukturierung von einer Plan- hin zur Marktwirtschaft, und die oberschlesischen Gruben und Industrien mussten sich den nunmehr freien Marktverhältnissen anpassen. Die Herausforderungen, die dieser Transformationsprozess für Stadt und Region mit sich brachte, waren enorm. Im Jahr 1990 ging die Kohlförderung, die in Spitzenzeiten in Polen fast 200 Millionen Tonnen im Jahr betrug und 400 000 Arbeitsplätze garantierte, sprunghaft zurück. Bereits im Jahr 1993 war die Kohleförderung landesweit auf 130 Millionen Tonnen und die Beschäftigungszahl auf 300 000 gesunken. Ende des Jahres 2000
Vgl. Kaczmarek, Ludzie – stosunki demograficzne [Menschen – demografische Verhältnisse] (), S. . Vgl. Woźniczka, Katowice – Stalinogród (), S. . Vgl. Antoni Barciak/Ewa Chojecka/Sylwester Fertacz: Wprowadzenie [Einführung], in: dies.: Katowice. Środowisko, dzieje, kultura, język i społeczeństwo [Katowice. Umwelt, Geschichte, Kultur, Sprache und Gesellschaft]. Katowice , S. – , hier S. . Die Autoren verwenden in diesem Zusammenhang sogar den Begriff „odhumanizowanie Katowic“ (Enthumanisierung von Katowice) um die einseitige Forcierung der Stadtentwicklung auf die Bereiche Industrie und Bergbau zu charakterisieren. Zur Geschichte der beiden historischen Museen in Katowice, dem Schlesischen Museum sowie dem Stadtgeschichtlichen Museum, ausführlich in Kapitel . Inzwischen verfügt die Universität über Fakultäten und Abteilungen in den umliegenden Städten, etwa in Sosnowitz/Sosnowiec oder dem an der tschechischen Grenze gelegenen Teschen/ Cieszyń. Vgl. URL https://www.irk.us.edu.pl/index.php (Zugriff . . ).
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waren noch 150 000 Personen im Bergbau beschäftigt.³² In der gesamten Woiwodschaft Schlesien gingen infolge verringerter Nachfrage sowie der Schließung, des Bankrottes oder der Privatisierung von Bergwerken und Industriebetrieben insgesamt etwa 300 000 Arbeitsplätze verloren, die nur teilweise durch neue ersetzt werden konnten. Vor allem in den Jahren 2000 bis 2003 war ein Anstieg der Zahl derjenigen, die von Sozialhilfe lebten, zu beobachten.³³ Von den wirtschaftlichen Umstrukturierungen war in erster Linie die traditionelle oberschlesische Arbeiterfamilie betroffen. Gehörten die Bergarbeiter zu Zeiten des Sozialismus noch zu einer extrem privilegierten Klasse, änderten sich die Verhältnisse zwischen 1989 und 2008 gerade für diese Berufsgruppe radikal. Zwar lagen die Einkommen derjenigen, die im Bergbau noch eine Beschäftigung gefunden hatten, im Jahr 2008 noch immer etwa 1,3 bis 1,7 % über dem Durchschnittsverdienst der anderen Branchen in der Woiwodschaft. Wer jedoch seinen Arbeitsplatz verloren hatte, wurde meist zum Frührentner, der nach 25 Jahren Arbeit unter Tage im Alter von 43 bis 45 Jahren zwangsweise in den Ruhestand geschickt wurde.³⁴ Die Rente war häufig wesentlich niedriger als die vorherigen Löhne. Das führte zu finanziellen Problemen, da die meisten frühverrenteten Bergarbeiter ihre schulpflichtigen Kinder und nicht erwerbstätigen Frauen mit versorgen mussten. Die Rente führte für die vormals privilegierten Bergarbeiter folglich zu Lebensentwürfen, die sich am Existenzminimum bewegten und zusätzliche, illegale Verdienstmöglichkeiten auf den Plan riefen. Neben dieser ökonomischen, förderte die Degradierung der Bergleute auf symbolischer Ebene zudem ein tiefes Gefühl unverschuldeter Benachteiligung. Dazu trugen einerseits fehlende Erklärungen für die Entwicklungen im Transformationsprozess, anderseits mangelndes Verständnis für den Charakter der wirtschaftlichen Umwälzungen bei. Die verlorengegangene gesellschaftliche Stellung führte bei den Betroffenen teilweise zur einer verzerrten Wahrnehmung der gesellschaftlichen Umstände und des Transformationsprozesses als Ganzem. So wurde hinter dem für die Betroffenen unverständlichen
Alle Zahlen stammen aus Bogumil Szczupak: Strukturwandel in Oberschlesien. Gefahren und Chancen, in: Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien (Hg.): Ruhrgebiet – Oberschlesien. Stadt – Region – Strukturwandel. Essen , S. – , hier S. . Szczepański/Ślęzak-Tazbir geben an, dass es im Jahr noch Personen waren, während im Jahr bereits Menschen in der schlesischen Woiwodschaft auf Sozialhilfe angewiesen waren. Der Rückgang, der im Jahr zu verzeichnen war, ist lediglich auf Änderungen in der Gesetzgebung zurückzuführen, die die Zuständigkeiten für die Auszahlung der Sozialhilfe neu regelten. Vgl. Szczepański/Ślęzak-Tazbir, Górnośląskie Metamorfozy [Oberschlesische Metamorphosen] (), S. . Ebd., S. .
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2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen
Zusammenbruch der oberschlesischen Industrien und Bergwerke etwa eine Verschwörung der Weltbank vermutet.³⁵ Zusätzlich wirkte sich das traditionelle und patriarchale Modell der oberschlesischen Arbeiterfamilien negativ auf die Folgen der wirtschaftlichen Transformation aus. Aufgrund der überdurchschnittlichen Einkommen war der Ehemann als Bergarbeiter bislang zumeist der einzige Ernährer und unterhielt die restlichen Familienmitglieder mit seinem Einkommen.³⁶ Die Ehefrauen waren daher meist schlecht ausgebildet und fanden auf dem ohnehin unterentwickelten Arbeitsmarkt für Frauen während der Transformation kaum Beschäftigungsangebote. Die Rente der Ehemänner bzw. der Verdienst der noch im Bergbau Beschäftigten blieb daher häufig die einzige Einkommensquelle. Für geschiedene Frauen oder alleinerziehende Mütter bedeutete dieses traditionelle Abhängigkeitsverhältnis vom männlichen Einkommen folglich die Gefahr dauerhafter Armut. Aufgrund der oben beschriebenen patriarchalen Familienstrukturen kann in Oberschlesien – etwa im Gegensatz zum Zentrum der Textilindustrie in Łódź/ Lodz, wo Frauen besser ausgebildet waren und eine höhere berufliche Aktivität zeigten – von einer Feminisierung der Armut gesprochen werden.³⁷ Bereits in den Jahren 1993 bis 1998 wurde mit drei Regierungsprogrammen versucht, den Umstrukturierungsprozess insbesondere im Steinkohlebergbau zu begleiten. Die Staatsgelder wurden hauptsächlich dafür eingesetzt, die sozialen Folgen von Grubenschließungen abzumildern. Ein bergmännischer Sozialpakt wurde eingeführt, der den arbeitslosen Bergarbeitern sozialen Schutz bot. Eine bergmännische Arbeitsagentur wurde ins Leben gerufen, die neue Arbeitsstellen vermittelte oder die Bergarbeiter umschulte bzw. weiterqualifizierte. Trotz vermehrter Grubenschließungen gelang es so, den Steinkohlebergbau als Wirtschaftszweig auf einem abgeschwächten Niveau zu erhalten, indem die Produktionskapazitäten der veränderten Nachfrage angepasst wurden: Unrentable Produktionsstätten wurden geschlossen, die Förderkosten pro Einheit auch durch den Rückgang der Beschäftigten gesenkt und neue Aktiengesellschaften gegründet, zu denen die verbleibenden Gruben gehörten.³⁸ Mit diesen Maßnahmen konnte ein kompletter Zusammenbruch der oberschlesischen Industrien und des Bergbaus unter marktwirtschaftlichen Bedingungen abgewendet werden. Vor allem der Kohlesektor betrieb eine sehr aktive Politik im Bereich des Strukturwandels und arbeitete eng mit regionalen und lokalen Organen zusammen.³⁹ So
Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Vgl. Szczupak, Strukturwandel in Oberschlesien (), S. . Ebd., S. .
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waren etwa in Katowice im Jahr 2013 von den ursprünglich acht noch immer drei Gruben auf dem Stadtgebiet aktiv. Diese Spezifik des Strukturwandels der 1990er Jahre in Oberschlesien beschreiben zwei Soziologen aus Katowice als „charakteristische Gleichzeitigkeit zweier unterschiedlicher Entwicklungsgeschwindigkeiten“.⁴⁰ Mit dieser Terminologie fassen sie einerseits den zuvor beschriebenen langsamen Niedergang des industriellen Sektors, der seit Anfang des 19. Jahrhunderts für die Region strukturbestimmend gewesen ist, und erklären das gleichzeitige Einsetzen der postindustriellen Entwicklung der Stadt.⁴¹ Daraus entsteht eine spezifische Gleichzeitigkeit zweier grundlegender Prozesse: Industrielle und postindustrielle Phase folgten nicht zeitlich aufeinander, sie koexistieren. Dieser Befund bildet sich unter anderem in den Beschäftigungszahlen ab. Obwohl die industrielle Phase ihrem Ende entgegenging, waren noch im Jahr 2008 fast die Hälfte aller Beschäftigten der Woiwodschaft (43 %) im industriellen Sektor tätig.⁴² In Katowice fiel diese Zahl im Jahr 2006 zwar etwas geringer aus, doch auch hier arbeitete noch ein Drittel der Beschäftigten (28,4 %) im industriellen Bereich, während 71,4 % im unscharf umrissenen tertiären Sektor tätig waren.⁴³ Stellvertretend für den Beginn des postindustriellen Zeitalters der Stadt steht für die Soziologen die Einführung der Sonderwirtschaftszone von Katowice (Katowicka Specjalna Strefa Ekonomiczna) im Jahr 1996.⁴⁴ Das Nebeneinander beider Entwicklungstendenzen, das eine eigentümliche Spannung zwischen Niedergang und Neubeginn hervorgerufen hat, prägte die Anfangsjahre der Transformation in Katowice und verlieh Stadt und Region ein janusköpfiges Gesicht, das sich auch gegenwärtig in den alten und neuen Ikonen wirtschaftlicher Prosperität widerspiegelt. Bis in die 2000er Jahre bildeten die oberirdischen Anlagen der Kohleförderung Landmarken im urbanen Gefüge der Stadt. Gleichzeitig prägten die großflächigen Fertigungshallen der von den Konditionen der Sonderwirtschaftszone angelockten Großfirmen wie Opel und Isuzu ihr urbanes Gefüge. In der seit
Vgl. Szczepański/Ślęzak-Tazbir, Górnośląskie Metamorfozy [Oberschlesische Metamorphosen] (), S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Vgl. Zbigniew Zagała: Społeczno-demograficzny obraz mieszkańców miasta i jego przemiany [Das sozial-demografische Bild der Stadtbewohner und seine Veränderungen], in: Antoni Barciak/ Ewa Chojecka/Sylwester Fertacz: Katowice. Środowisko, dzieje, kultura, język i społeczeństwo [Katowice. Umwelt, Geschichte, Kultur, Sprache und Gesellschaft]. Katowice , S. – , hier S. . Vgl. Szczupak, Strukturwandel in Oberschlesien (), S. .Weiterführende Informationen über die Sonderwirtschaftszone finden sich unter URL http://www.ksse.com.pl/ (Zugriff . . ) In Polen existieren insgesamt Sonderwirtschaftszonen, wobei die von Katowice die größte ist.
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1996 bestehenden Zone ließen sich bis zum Jahr 2004 bereits über 40 aus- und inländische Firmen nieder, die über 700 Millionen Euro investierten und circa 12 000 Arbeitsplätze schufen.⁴⁵ Der Erfolg der Sonderwirtschaftszone, mithin die postindustrielle Entwicklung, wird von den Soziologen jedoch zwiespältig bewertet. Nahezu ausschließlich haben sich Firmen der Kraftfahrzeugindustrie angesiedelt, die auf Massenkonsum ausgerichtet sind und daher eine Modernität zweiter Kategorie⁴⁶ darstellen. Innovationen und qualifizierte Arbeitsplätze seien bislang kaum geschaffen worden, es entstand stattdessen eine Vielzahl an Arbeitsplätzen für günstige Arbeitskräfte.⁴⁷ Die Stadt Katowice verdankt dieser Parallelität von alt-, neu- und postindustriellen Szenarien eine insgesamt positive wirtschaftliche Entwicklung. Das zeigt sich unter anderem an den im landesweiten Vergleich niedrigen Arbeitslosenzahlen: Während die Quote der Beschäftigungslosen in Polen im ersten Quartal 2014 etwa bei 14 % lag, waren in Katowice nur 5,7 % der Einwohner ohne Arbeit.⁴⁸ Damit rangierte Katowice hinter Poznań/ Posen (4,2 %) und Warschau (4,9 %) gemeinsam mit Breslau auf dem landesweit dritten Platz. Auch die Einwohnerzahl verzeichnete im Jahr 2012, nach einer massiven Welle der Abwanderung in den 1990er und 2000er Jahren, erstmals wieder einen leicht positiven Trend.⁴⁹ Die Stadt ist trotz der vielschichtigen Transformationsprozesse gegenwärtig kaum verschuldet und verfügt über einen ausgeglichenen Haushalt. Katowice übt nicht nur auf wirtschaftliche Investoren eine Anziehungskraft aus, die Stadt hat sich inzwischen auch einen festen Platz auf der polnischen
Ebd., S. . Die Soziologen Marek S. Szczepański und Weronika Ślęzak-Tazbir meinen mit dem Begriff „Moderne zweiter Kategorie“ in Bezug auf Katowice, dass sich in der Sonderwirtschaftszone vor allem Firmen angesiedelt haben, die auf Massenkonsum ausgerichtet sind, keine Innovationen hervorbringen, diese vielmehr vorwiegend nutzen und keine „intelligenten“ Arbeitsplätze schaffen, für die hohe Ausbildungsstandards und flexible bzw. kreative Persönlichkeiten gebraucht würden. Die Investitionen in die Sonderwirtschaftszone von Katowice seien einzig auf die Ausnutzung billiger Arbeitskräfte und günstiger Grundstückspreise ausgerichtet. Diese Investitionen dürften dennoch keinesfalls gering geschätzt werden, man müsse sie, so die Soziologen weiter, jedoch richtig einschätzen und bewerten. Vgl. Szczepański/Ślęzak-Tazbir, Górnośląskie Metamorfozy [Oberschlesische Metamorphosen] (), S. . Vgl. Szczepański, Oberschlesien Entwicklungsgeschwindigkeiten (), S. . Vgl. URL http://forsal.pl/artykuly/,bezrobocie-wedlug-powiatow-styczen--zesta wienie-stopa-bezrobocia.html (Zugriff . . ). Die Zahlen stammen von der Internetseite der Stadtverwaltung URL http://www.katowice.eu/ pl/nasze-miasto/w-liczbach.htm (Zugriff . . ). Aus der dort aufgeführten Tabelle geht auch hervor, dass die Einwohnerzahl im Jahr mit etwa noch nicht wieder an die Einwohnerzahl von heranreicht, als noch Personen in Katowice lebten. Der Abwärtstrend der letzten Jahre aber wurde das erste Mal gebrochen.
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Landkarte musikalischer Großereignisse und Festivals erarbeitet.⁵⁰ Zwar sind diese Kulturveranstaltungen aus ökonomischer Sicht im Vergleich zu den internationalen Firmen der Sonderwirtschaftszone und den verbliebenen Stahlwerken von geringerer Bedeutung. Ein Indiz für den Wandel von einer einseitig auf Industrie- und Bergbau forcierten, hin zu einer wirtschaftlich und kulturell vielgestaltigen Stadt sind sie dennoch. Von dieser Entwicklung zeugt ferner eine sich zunehmend etablierende kreative Szene, die dem Strukturwandel von der Industrie- zur Postindustriestadt mit neuen Designentwürfen made in Katowice ein eigenes Gesicht verleiht.⁵¹ Symbolische Bedeutung hatte in diesem Zusammenhang auch die Loslösung der Akademie der Schönen Künste in Katowice von der Krakauer Akademie, deren Zweigstelle sie noch bis zum Jahr 2001 war.⁵² Die stellvertretende Stadtpräsidentin, Krystyna Siejna, betonte noch im März 2014, dass es in Katowice gegenwärtig vor allem darum gehe, die Stadt nicht nur für Investoren, sondern auch für die Einwohner und vor allem junge Menschen attraktiv zu gestalten.⁵³ Dafür warb sie etwa mit den Synergieeffekten zwischen den Hochschulen und den sich ansiedelnden Wirtschaftszweigen, die den hochqualifizierten Hochschulabgängern anschießend attraktive Arbeitsplätze in Katowice garantierten. Parallel zur weiteren Ausdifferenzierung der Wirtschaftsstruktur – hier sah Siejena die Stadt in erster Linie als zukünftiges Dienstleistungsund High-Tech-Zentrum – betonte sie jedoch auch die Bedeutung eines veränderten Stadtbildes: Intuitiv war uns immer bewusst, dass wir in den sogenannten „weichen Bereichen“ aktiv werden müssen. Denn die harten Faktoren wie die Industrie und die Infrastruktur sind unabdingbar.Wie ein Haus. Aber die Atmosphäre in dem Haus, also in unserer Stadt,wird von
Interessent ist dabei, dass die wichtigsten Festivals nicht den Bereich des Mainstream bedienen. Zwei der bekanntesten Beispiele sind das jährlich stattfindende Jazz- und Elektronikfestival Tauron Nowa Muzyka Vgl. URL http://www.festiwalnowamuzyka.pl/o_festiwalu/ (Zugriff . . ) sowie das OFF Festival, das sich als Sammelplatz für alternative Musik versteht und als Talentschmiede gilt, URL http://off-festival.pl/info/ofestiwalu (Zugriff . . ). Das älteste der Musikfestivals in Katowice, das Rawa Blues Festiwal, fand erstmals im Jahr statt. Heute firmiert es als weltweit größtes indoor Blues Festival. Der Name leitet sich zwar vom Fluss Rawa ab, die Konzerte finden allerdings nicht am Ufer des – innerhalb von Katowice weitgehend unterirdisch verlaufenden – Flusses statt, sondern in der Mehrzweckhalle Spodek, URL https:// www.rawablues.com/pl/ (Zugriff . . ). Beispielhaft für diesem Bereich kann etwa die Firma StereoDesign aus Katowice stehen, URL http://www.stereodesign.pl/ (Zugriff . . ). Vgl. die Webseite der Akademie der Schönen Künste in Katowice, URL http://www.asp.kato wice.pl/news (Zugriff . . ). Vgl. Interview mit Krystyna Siejna, März , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin.
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etwas ganz anderem bestimmt. […] Hier geht es um die sozialen, sportlichen und kulturellen Elemente und Ereignisse.⁵⁴
Zusammenfassend kann für den Bereich der wirtschaftlichen Transformation festgehalten werden, dass sich in Katowice seit dem politischen Umbruch 1989/90 ein tiefgreifender ökonomischer Wandel vollzieht, der im Vergleich zu anderen Regionen, etwa dem Ruhrgebiet, durch eine starke zeitliche Raffung der Transformationsprozesse gekennzeichnet ist. Von Bedeutung ist ferner, dass die oberschlesischen Industrien und Gruben nach 1989 keinen umfassenden Zusammenbruch erlebten,wie er sich in anderen Transformationsländern, etwa der DDR, vollzogen hat.⁵⁵ Die vorher beschriebene Gleichzeitigkeit von industrieller und postindustrieller Phase bildete in Katowice vielmehr die Grundlage für eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte: Die Einnahmen aus Bergbau und Industrie blieben teilweise und vermindert erhalten, während sich die Wirtschaft in Richtung Dienstleistungen und High-Tech ausdifferenziert. Seit Mitte der 2000er Jahre wird der wirtschaftliche Umstrukturierungsprozess von Bestrebungen der Stadtverwaltung begleitet, Katowice ein neues Selbstbild zu geben, das den veränderten Realitäten der Stadt entspricht.Vizepräsidentin Siejena bezeichnete das im Nachgang der wirtschaftlichen Konsolidierung als Investition in die „weichen Bereiche“.⁵⁶
Vom Strukturwandel zum Identitätsdiskurs Der Umbruch der Jahre 1989/90 brachte für Oberschlesien nicht nur das Zerbrechen der politischen und wirtschaftlichen Ordnung der Volksrepublik Polen mit sich. Der Eintritt in die Transformationsphase hin zu einem demokratischen und marktwirtschaftlichen System beendete auch das Bestreben der vormaligen kommunistischen Führung Polens, das in kultureller und nationaler Hinsicht ausdifferenzierte Oberschlesien restlos zu assimilieren.⁵⁷ Dieser Ausdifferenzie-
Ebd. Vgl. Szczepański/Ślęzak-Tazbir, Górnośląskie Metamorfozy [Oberschlesische Metamorphosen] (), S. . Die Soziologen verweisen darauf, dass das Zusammenbruchsmodell nicht nur beim Umbau der neuen Bundesländer der BRD angewandt wurde, sondern auch in Polen, etwa in der Woiwodschaft Lodz oder in ehemaligen LPG-Dörfern. Die Besonderheit der Entwicklung in Katowice wird vor diesem Hintergrund noch besser erkennbar. Vgl. Interview Siejna, Katowice, . Vgl. Marek S. Szczepański/Anna Śliz: Die Bewegung für die Autonomie Schlesiens (RAŚ), in: Deutsches Polen-Institut Darmstadt/Bremer Forschungsstelle Osteuropa/Deutsche Gesellschaft
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rung verdankt die Region ihre Prägung als kulturelles Grenzgebiet (pogranicze kulturowe)⁵⁸, das vom häufigen Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit sowie – ähnlich dem Ruhrgebiet – infolge der Industrialisierung von massiver Zuwanderung bestimmt war.⁵⁹ Diese Zuwanderung brachte vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein spezifisches Bevölkerungsgemisch aus einheimischen, slawisch geprägten Bevölkerungsteilen und den zugezogenen Verwaltungs- und Bergbaueliten aus dem Deutschen Reich hervor. Aber auch Spuren tschechischer Herrschaft und der Einfluss der jüdischen Bevölkerung trugen zur Herausbildung der Spezifik dieser Region bei. Gleichzeitig bildete sich unter der einheimischen Bevölkerung das Bewusstsein einer eigenen Identität heraus, die sich nationalen Kategorien entzog und ihren Bezugspunkt in der Region hatte.⁶⁰ Im späten 19. Jahrhundert und während des 20. Jahrhunderts standen Oberschlesien und Katowice im Fokus eines zunehmend ausgeprägten deutsch-pol-
für Osteuropakunde (Hg.): Polen-Analysen, (), S. – , hier S. ; Online-Ausgabe,URL http://www.laender-analysen.de/polen/pdf/PolenAnalysen.pdf (Zugriff . . ). Den Begriff kulturelles Grenzgebiet (pogranicze kulturowe) verwendet Marek S. Szczepański in Abgrenzung zu einer an der Grenze gelegenen Region (region przygraniczny, przygranicze), deren gegenwärtige oder vergangene Lage eindeutig mit einem bestimmten Staat verbunden ist oder war. Ein kulturelles Grenzgebiet muss nicht zwangsläufig an einer Staatsgrenze liegen, es ist vielmehr dadurch geprägt, dass sich auf diesem Gebiet häufige Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit vollzogen haben und es mehrfach von Grenzen durchschnitten war oder ist. Wichtiger Bestandteil der Definition eines kulturellen Grenzgebietes ist ferner, dass sich seine Einwohner in ihrer eigenen Wahrnehmung deutlich von den Bewohnern der Nachbarregionen unterscheiden. Vgl. Szczepański, Oberschlesien Entwicklungsgeschwindigkeiten (), S. ; siehe auch Marek S. Szczepański: Regionalism górnośląski: los czy wybór? [Der oberschlesische Regionalismus: Schicksal oder Wahl?], in: Lech M. Nijakowski (Hg.): Nadciągają Ślązacy. Czy istnieje narodowość śląska? [Die Oberschlesier strömen herbei. Gibt es eine oberschlesische Nationalität?]. Warszawa , S. – , hier S. f. Außer Deutschland und Polen gehörte Oberschlesien während seiner wechselhaften Geschichte auch Böhmen (ab ) und später Österreich-Ungarn (ab ) an. Seit der Eroberung durch König Mieszko I. im Jahr gehörte Oberschlesien zum polnischen Staatsgebilde, verselbstständigte sich innerhalb dessen jedoch zunehmend. Die schlesischen Piasten regierten das Land von bis , stellten ihre sich immer mehr aufspaltenden Fürstentümer im . Jahrhundert jedoch nach und nach unter böhmische Lehnshoheit. Im Vertrag von Trentschin () erkannte Kazimierz Wielki (der Große) die neuen Machtverhältnisse und somit die böhmische Oberhoheit über Schlesien an. – waren die Habsburger als Könige von Böhmen gleichzeitig auch Herzöge von Schlesien. Der Friedensvertrag von Breslau beendete im Jahr den Ersten Schlesischen Krieg. In Folge dessen fielen sowohl Ober- als auch Niederschlesien von Österreich-Ungarn an Preußen. Bis zum Ende des Ersten Weltkrieges verblieb die gesamte Region Schlesien bei Preußen. Vgl. Norbert Conrads (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin . Vgl. Bahlcke/Gawrecki/Kaczmarek, Wstęp [Einführung] (), S. .
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nischen Antagonismus: Beide Seiten rangen um die Zugehörigkeit des Gebietes zur jeweils „eigenen“ Kultur und Geschichte. Nach dem Ersten Weltkrieg gehörte Katowice erstmals in seiner Geschichte zum polnischen Staatsgebiet. Sie war eine der am weitesten im Westen gelegenen Großstädte der Zweiten Polnischen Republik. Nach der Westverschiebung Polens infolge des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945 befand sich Katowice im Südosten der nunmehr kommunistischen Volksrepublik Polen. Für die Machthaber der Volksrepublik spielte die Spezifik Oberschlesiens als kulturelles Grenzgebiet mit vielfältigen Identitätsentwürfen und nationalen Bekenntnissen jedoch keine Rolle. Sie pressten Oberschlesien in das enge Korsett einer Region, die sich immer schon und ausschließlich als polnisch verstanden und auch weiterhin zu verstehen habe. Diese Engführung des Verständnisses Oberschlesiens als ausschließlich polnische Region befand sich seit 1989 zunehmend in Auflösung. Aus dem im Nachgang des politischen Umbruches erwachsenen Verlangen nach Demokratisierung und Dezentralisierung entstand in Oberschlesien, aber auch in anderen polnischen Landesteilen eine neuerliche Hinwendung zur Region, verbunden mit einer Wiederentdeckung von Multiethnizität und kultureller Vielfalt.⁶¹ Diese Konzentration auf regionale Belange ging einher mit einer Wiederentdeckung bislang unterschlagener oder in Vergessenheit geratener identitätsrelevanter Schichten, teilweise auch mit der Herausbildung neuer identitätsbildender Bezugspunkte. Diese Beobachtungen gelten auch für Katowice; die Stadt durchlebt seit 1989 neben einem Struktur- auch einen Identitätswandel. Zu beobachten ist auch hier die dynamische Rekonstruktion eines Regionalbewusstseins, das diverse Identifikationsangebote hervorbringt. So nahm etwa die während der Zeit der Volksrepublik offiziell verbotene Organisation der deutschen Minderheit nach 1989 ihre Arbeit (wieder) auf.⁶² Sie konkurriert in Oberschlesien und Katowice allerdings mit Organisationen wie der Bewegung für
Vgl. Marcin Wiatr: Oberschlesien – Identität und Modernisierung, in: Dialog (), S. – , hier S. . Die deutsche Minderheit wird in Katowice von der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Verständigung und Zukunft vertreten, die von Dietmar Brehmer geleitet wird. Die Arbeitsgemeinschaft hat eine spezifische Stellung zwischen verschiedenen Vereinen und Verbänden: Teilweise geht sie Allianzen mit den Verbänden der Oberschlesier ein, während sie sich in einem dauerhaften Konflikt mit einer weiteren Organisation der deutschen Minderheit, der Soziokulturellen Gesellschaft der Deutschen in der Woiwodschaft Schlesien befindet, die vor allem in der Woiwodschaft Oppeln aktiv ist. Während die Soziokulturelle Gesellschaft zunehmend an Bedeutung verliert, nimmt die Arbeitsgemeinschaft aus Katowice einen festen Platz unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Stadt ein. Vgl. Elżbieta A. Sekuła: Po co Ślązakom potrzebny jest naród? Niebezpieczne związki między autonomią a nacjonalizmem [Wozu brauchen die Schlesier eine Nation? Die gefährlichen Verbindungen zwischen Autonomie und Nationalismus]. Warszawa , S. f.
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die Autonomie Schlesiens (Ruch Autonomii Śląska, RAŚ), einem Sammelbecken für Personen, die sich den kulturellen und historisch gewachsenen Werten der Region verbunden fühlen und sich für eine wirtschaftliche und kulturelle Autonomie Schlesiens innerhalb des polnischen Staates einsetzen. Vor allem die jüngere Generation tendiert stärker zu RAŚ als zu den Jugendverbänden der deutschen Minderheit, da sie die Zukunft ihrer Region in den Händen der RAŚ besser aufgehoben sieht.⁶³ Die RAŚ ist nur eine von vielen, wenngleich gegenwärtig die erfolgreichste Organisation, die sich für die Belange der Region bzw. der Schlesier einsetzen. Während die RAŚ zunehmend versucht, sich vom Stigma einer nationalen oder ethnischen Organisation zu befreien und sich den kulturellen Werten der Region zuwendet, setzen andere Organisationen gezielt auf die Karte ethnischer oder nationaler Zugehörigkeiten der Schlesier. Zu diesem Spektrum gehören der Bund der Bevölkerung Oberschlesischer Nationalität (Związek Ludności Narodowości Śląskiej, ZLNŚ)⁶⁴, die Bürgerbewegung Polnisches Oberschlesien (Ruch Obywatelski Polski Śląsk, ROPŚ)⁶⁵ und die Gesellschaft der Menschen Oberschlesischer Nationalität (Stowarzyszenie Osób Narodowości Śląskiej, SONŚ).⁶⁶ Der Oberschlesische Verbund (Związek Górnośląski, ZG) gehört zu den
Ebd., S. . Ausführlich beschreibt Jerzy Gorzelik die Genese des ZLNŚ aus den Reihen der RAŚ während eines Treffens der RAŚ in Leszczynki (bei Rybnik) im November des Jahres : „Eine Gruppe Aktiver des Schlesischen Akademischen Vereines, der schon etwa ein Jahr mit den Autonomisten zusammenarbeitete, hat den Antrag gestellt, eine Organisation zu gründen, die die Oberschlesier repräsentiert, die sich nicht als Polen und nicht als Deutsche fühlen, sondern eine oberschlesische Nationalität deklarieren. Der Antrag elektrisierte alle. […] Einige Wochen später traf beim Woiwodschaftsgericht in Katowice der Antrag zur Registrierung einer Organisation mit dem Namen „Bund der Bevölkerung oberschlesischer Nationalität“ ein.Vgl. Jerzy Gorzelik: Ślązacy o sobie [Die Oberschlesier über sich selbst], in: Lech M. Nijakowski (Hg.): Nadciągają Ślązacy. Czy istnieje narodowość śląska? [Die Oberschlesier strömen herbei. Gibt es eine oberschlesische Nationalität?]. Warszawa , S. – , hier S. . Um den ZLNŚ gab es im Anschluss viel Aufruhr, da seine Registrierung durch ein Gericht in Katowice vom . Juni durch den Woiwoden in Frage gestellt und anschließend aufgehoben wurde. Die Angelegenheit wurde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitergeleitet, der im Februar urteilte, dass mit dem Entzug der Registrierung keine Rechtsverletzung durch die polnischen Gerichte bestanden. Vgl. Szczepański/Śliz, Die Bewegung (), S. . ROPŚ ist als Gegenbewegung zu ZLNŚ entstanden und signalisiert die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen. SONŚ steht für die Pflege der Traditionen, der Sprache sowie ethnischer und nationaler Elemente von Personen, die sich mit der oberschlesischen Nationalität identifizieren. Die Gesellschaft setzt sich vor allem für die Anerkennung der Oberschlesier als ethnische Minderheit sowie für die Anerkennung des Oberschlesischen als Regionalsprache ein. Damit will SONŚ den Bereich der Minderheitenfragen aus dem Aktionsradius von RAŚ herauslösen und RAŚ das En-
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ältesten Zusammenschlüssen, seine Mitglieder bekleideten in den 1990er Jahren wichtige politische Ämter, so etwa der Woiwode Wojciech Czech. Der ZG legt vor allem Wert auf die regionale Tradition und die christliche Prägung der oberschlesischen Kultur. Er vereint somit Einwohner der Region über ethnische Trennlinien hinweg, verlor jedoch mit der steigenden Attraktivität der RAŚ zunehmend an Einfluss.⁶⁷ Die Rekonstruktion eines regionalen Bewusstseins wird im zentralistisch geprägten Polen meist mit Skepsis beobachtet. Oberschlesien ist mit seinen mehrdimensionalen Identitäten nach wie vor eine Herausforderung für die polnische Gesellschaft, es passt sich nicht in das nationale Selbstbild der Polen ein.⁶⁸ Die Suche nach einer regionalen oberschlesischen Identität wird im zentralstaatlich organisierten Polen mit der Befürchtung verbunden, diese könne die Identifikation mit der nationalstaatlichen Mehrheitsgesellschaft unterwandern. Dabei ist der Prozess einer (Re)Konstruktion regionaler Identität in Oberschlesien mitnichten ein leichtes Unterfangen. Vorgefertigte Muster aus der Vergangenheit, auf die man zurückgreifen könnte, gibt es nur sehr bedingt. Denn die Geschichte dieser Region wurde aus Sicht des „hiesigen Identitätsempfindens“ bislang nicht in ihrer Vielschichtigkeit erfasst.⁶⁹ Das liegt auch daran, dass sich Oberschlesien als „geistige Überlappungszone“ und kulturelles Grenzgebiet in der Vergangenheit stets der Zuordnung oder Festschreibung einer bestimmten Identität entzog. Eindeutige und endgültige Antworten auf die Identitätsfrage gab es in diesem Gebiet selten: Oberschlesien war jahrhundertelang ein offener Raum von stetigem Wandel und bleibt dies bis heute. Immer wieder kamen hier neue Menschen hinzu, viele von ihnen blieben und brachten ihre eigenen Werte und Traditionen in diese multiethnische und multikulturelle Gemeinschaft ein. Es waren Mährer, Deutsche, Polen, aber beispielsweise auch Flandern oder gar Walachen aus dem fernen östlichen Balkanraum.⁷⁰
gagement in Sachen Regionalismus und Autonomie überlassen. Vgl. Szczepański/Śliz, Die Bewegung (), S. . Vgl. Sekuła, Po co Ślązakom potrzebny jest naród? [Wozu brauchen die Schlesier eine Nation?] (), S. f. Eine sehr gute Übersicht über die Entwicklung der Diskussionen zur oberschlesischen Identität sowie ihre historische und gegenwärtige Entwicklung gibt Justyna Kijonka-Niezabitowska: Z problemów narodowości i tożsamości śląskiej – dylematy i wybory [Zu den Problemen der oberschlesischen Nationalität und Identität – Dilemmata und Entscheidungen], in: Marek S. Szczepański/Weronika Ślęzak-Tazbir: „Ziemia z uśmiechu Boga …“ Górny Śląsk – portret regionu [„Ein Land wie Gottes Lächeln …“ Oberschlesien – Porträt einer Region], Studia Socjologiczne [Soziologische Studien] (), S. – . Vgl. Wiatr, Oberschlesien (), S. . Ebd., S. .
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Eine Selbstbeschreibung der Region war auch deshalb stets schwierig, da sie spätestens seit Ende des 19. Jahrhunderts ein Spielfeld antagonistischer Nationalbewegungen war und im häufigen Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit zwischen deutschen und polnischen territorialen Ansprüchen zerrieben wurde. Gerade deshalb markiert der Umbruch der Jahre 1989/90 einen entscheidenden Wendepunkt für die Region. Erstmalig besteht seither die Möglichkeit einer Selbstbeschreibung, die weit weniger als bislang von politischen Zwängen bestimmt ist. Beendet ist nunmehr die zwanghafte und ausschließliche Verbindung Oberschlesiens mit der polnischen Nationalgeschichte, die 1919 bzw. 1945 einsetzte, während die Region doch mit den zentralen Bezugspunkten der polnischen Geschichte, etwa den Teilungen Ende des 18. Jahrhunderts oder dem nachfolgenden Ringen um staatliche Unabhängigkeit, keine Berührungspunkte hatte. Was bleibt, ist die Frage Kim jesteśmy? (Wer sind wir?), wenn es nun nicht mehr darum geht, die Oberschlesier zu Polen zu erklären und ihre Geschichte als „ewigen Kampf um das Polentum“ zu interpretieren. In der polnischen Wahrnehmung war und ist eine spezifische Andersartigkeit der Region tief verwurzelt, die aus der langen Zeit herrührt, als Oberschlesien nicht zu Polen gehörte. Der Publizist Szczepan Twardoch fasst die (Selbst)wahrnehmung der Oberschlesier so zusammen: „Wir haben anderswo gelebt. Aber nicht außerhalb der historischen Haupterzählung und auch nicht an ihrem Rand, vielmehr oft in einer reißenden Strömung – nur eben einer anderen.“⁷¹ Die Frage, wer die Oberschlesier und somit auch die Einwohner von Katowice sind, wird seit 1989/90 zunehmend offener diskutiert. Deutlich zeigt sich seither, dass die Antwort darauf verstärkt in der Region, und nicht mehr außerhalb davon, also „in Berlin oder in Warschau“⁷², gesucht wird. Erste Anzeichen für einen dynamischen Identitätendiskurs in Stadt und Region lieferten die Ergebnisse der Volkszählungen der Jahre 2002 und 2011. Erstmals tauchte im Jahr 2002 in der vom deutsch-polnischen Konflikt geprägten Region bei der Volkszählung ein bislang nicht dagewesenes Phänomen auf: Etwa 173 000 Personen haben sich in der 4,6 Millionen Einwohner zählenden Woiwodschaft nicht als Polen oder Deutsche bezeichnet, sondern als Oberschlesier.⁷³ Vgl. Szczepan Twardoch: Śląsk, którego nie ma [Oberschlesien, das es nicht gibt], in: Polityka [Politik] (), S. – , hier S. . Ebd. Vgl. Przemysław Jedlecki: Naliczyli ponad tys. Ślązaków! [Es wurden über Oberschlesier gezählt!], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Die Interpretation der Ergebnisse der Volkszählung sind sehr unterschiedlich. Der Schriftsteller und Vorsitzende des Oberschlesischen Literaturvereins (Górnośląskie Towarzystwo Literackie), Tadeusz Kijonka, interpretierte das plötzliche Auftreten einer so hohen Zahl an Schlesiern als „Stimme der Enttäuschung und des Widerstandes gegen die staatliche Politik, die in der Zeit der größten Krise dieser abgenutzten Region, das wirtschaftlich und gesellschaftlich erschöpfte
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Damit wurden die Oberschlesier plötzlich zur größten Minderheit in Polen, wenngleich sie als solche nicht anerkannt sind.⁷⁴ Bereits 2010 gewann die Bewegung für die Autonomie Schlesiens, die sich auch als politische Vertretung dieser „neuen Schlesier“⁷⁵ sieht, bei den Regionalwahlen 8,5 % der Stimmen und zog mit drei Abgeordneten in den regionalen oberschlesischen Landtag ein. Als Vergleichsgröße können die im Norden Polens in der Region um Danzig lebenden Kaschuben herangezogen werden. Diese, im Gegensatz zu den Oberschlesiern, als ethnische Minderheit anerkannte Gruppe besaß laut Volkszählung im Jahr 2002 die vergleichsweise geringe Anzahl von 5 062 Mitgliedern.⁷⁶ Bei einer erneuten Volkszählung im Jahr 2011 gaben bereits 809 000 Personen eine oberschlesische nationale Identität an, wobei 362 000 Menschen ausschließlich die oberschlesische Identität markierten und 415 000 ihre Identität sowohl als oberschlesisch als auch als polnisch bezeichneten.⁷⁷ Während die Zahl derjenigen, die sich als Schlesier fühlen, in den vorangegangenen zehn Jahren gestiegen war, ist die Zahl der Deutschen in Polen laut der Volkszählung 2011 rückläufig. Im Jahr 2002 lebten noch 153 000 Deutsche in Polen, während es im Jahr 2011 nur noch 109 000 Personen waren.⁷⁸ Auch wenn die Vergleichbarkeit zwischen den beiden Volkszählungen schwierig ist – 2011 konnten die Befragten im Gegensatz zu 2002 nicht nur eine Nationalität, sondern mehrere angeben – zeigen die Ergebnisse dennoch, dass in Oberschlesien eine Rückbesinnung auf die Eigenheiten und Werte der Region stattgefunden hat, die sich sogar in nationalen Kategorien ausdrücken lässt. Im Nachgang der Volkszählungen wurden immer wieder Stimmen laut, die die Anerkennung der Oberschlesier als ethnische Minderheit und den schlesischen Dialekt als Regionalsprache forderten. Bei einer
Schlesien sich selbst überlassen hat […].“ Vgl. Tadeusz Kijonka: Po siedmiu latach kampanii [Nach sieben Jahren Kampagne], in: Lech M. Nijakowski (Hg.): Nadciągają Ślązacy. Czy istnieje narodowość śląska? [Die Oberschlesier strömen herbei. Gibt es eine oberschlesische Nationalität?], Warszawa, , S. – , hier S. . Vgl. Kijonka-Niezabitowska, Z problemów narodowości [Zu den Problemen der oberschlesischen Nationalität] (), S. . Vgl. Konrad Schuller: Kattowitz. Der neue Schlesier, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom . . , URL http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kattowitz-der-neue-schlesier-.html (Zugriff . .). Vgl. Jedlecki, tys. Ślązaków [ Oberschlesier] (). Auch die Anzahl der Kaschuben stieg bei der zweiten Volkszählung auf Personen.Vgl. Ebd.; die Zahlen sind auch zu finden in Szczepański/Śliz, Die Bewegung (), S. . Vgl. Joanna Pszon: Niemcy wymarli? Wyjechali? [Sind die Deutschen ausgestorben? Ausgereist?], Gazeta Wyborcza vom . . , URL http://wyborcza.pl/,,. html (Zugriff . . ).
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solchen Anerkennung würden die Oberschlesier auf Grundlage der letzten Volkszählung die größte Minderheit in Polen ausmachen.⁷⁹
Ein neues Bild entstehen lassen: Imagewandel Die seit 1989 zu beobachtende Diversifizierung von Wirtschaftsstrukturen und Identifikationsangeboten in der Region und ihrer Hauptstadt Katowice stellten die Stadt vor die Herausforderung, dem nach 1945 entstandenen Bild von Katowice als Arbeiter- und Industriestadt differenziertere Vorstellungen entgegenzusetzen. Die etablierten Sichtweisen auf Katowice als im landesweiten Vergleich privilegierte Kohl- und Stahlmetropole mussten inzwischen als überholt gelten, sie spiegelten die Realia der sich rasant wandelnden Metropole nicht mehr wider. Denn ein erfolgreicher wirtschaftlicher Strukturwandel allein reichte nicht aus, um die Stadt lebenswert zu machen und sie auf Dauer als Anziehungspunkt für investitionsstarke Unternehmen zu positionieren. Ein verändertes Image, das die neuen Be- und Zuschreibungen für Katowice in ein eingängiges, einprägsames und vor allem positiv besetztes Bild transformierte und festschrieb, musste diese Prozesse begleiten. Es mussten alternative Erklärungen und Beschreibungen dafür gefunden werden, was Katowice zukünftig prägen, ausmachen und bestimmen sollte, die Stadt musste mithin neu verortet werden. Derartige Transformationsprozesse zeichnen sich im Allgemeinen durch ihre große Offenheit aus, die ein besonderes Spektrum an Möglichkeiten für das Ausformulieren von Bildern für und über die Stadt bereithalten. Die Gestaltungsbemühungen sind vielfältig und richten sich sowohl auf Repräsentationen nach außen als auch auf den materiell bebauten städtischen Raum selbst, der zum Sinnbild der Veränderungen werden kann. Die Bemühungen zielen folglich einerseits auf die städtische Identität als Bezugsrahmen für die Stadtgemeinschaft selbst, andererseits auf das Image und die nach außen transportierten Bilder. Ergebnis und Ziel derartiger Bemühungen ist ein positives Erscheinungsbild, das von der Stärkung oder Neuentdeckung positiver Aspekte in der Stadtgeschichte und -entwicklung getragen wird.⁸⁰ Einer der Meilensteine im Transformationsprozess von Katowice war die Entscheidung der Stadtverwaltung, anstelle der an Bedeutung verlierenden Kohle-
Vgl. Jedlecki, tys. Ślązaków [ Oberschlesier] (). Auf diese Zusammenhänge wurde unter anderem während einer Tagung unter dem Titel History Sells! Stadt, Raum, Identität verwiesen. Vgl. Agnes Weichselgärtner: History Sells! Stadt, Raum, Identität, URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id= (Zugriff . . ).
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und Stahlindustrie fortan auf Kultur als Schrittmacher für die zukünftige Entwicklung und Neuausrichtung der Stadt zu setzen. Diese Entscheidung schien angesichts der weitreichenden ökonomischen Wandlungsprozesse geradezu visionär, war jedoch notwendig, um der Transformation eine konkrete Richtung und ein positiv besetztes Ziel zu verleihen. Erstmals wurde Kultur nach dem Umbruch von 1989/90 als strategisches Entwicklungsziel für Katowice in einem Planungspapier zur Stadtentwicklung aus dem Jahr 2005 erwähnt, das der Stadtrat gemeinsam mit dem Stadtpräsidenten Piotr Uszok unter dem Titel Katowice 2020 vorgelegt hat.⁸¹ Uszok kommentierte diesen geplanten Entwicklungsschritt in der Gazeta Wyborcza wie folgt: „Der Wandel des Charakters der Stadt von einer Industrie- zu einer Kulturstadt ist unvermeidlich, damit die Menschen in Katowice immer besser leben können.“⁸² Mit der Entscheidung für den Ausbau des kulturellen Sektors wollte der Stadtpräsident gleichwohl gegen die seiner Ansicht nach in Polen zur damaligen Zeit noch immer präsente Vorstellung eines „schwarzen Oberschlesiens“ angehen, die dank der Investitionen in neue und alte Museen sowie Theater, Bibliotheken, eine Konzerthalle und ein großes Kongresszentrum bald der Vergangenheit angehören sollte.⁸³ Die Entwicklungsstrategie aus dem Jahr 2005 zeigt neben dem Fokus auf den Ausbau hochkultureller Institutionen weitere Entwicklungsfelder auf, die etwa die Verbesserung der ökologischen Bedingungen oder den Ausbau Katowices zur Hauptstadt einer oberschlesischen Metropolregion betrafen.⁸⁴ Die Konzentration auf Kultur schien jedoch im Vergleich zu den anderen Entwicklungszielen eine besondere Attraktivität zu besitzen. Die Entscheidung für den Ausbau des kulturellen Sektors wurde in Kato-
Vgl. „Katowice “ Strategia rozwoju miasta, Załącznik do uchwały nr LII// Rady Miasta Katowice z dnia grudnia r [„Katowice “ Strategie zur Stadtentwicklung. Anhang zum Beschluss Nr. LII// des Stadtrates Katowice vom . . ], URL http:// bip.um.katowice.pl/dokumenty////---z.pdf (Zugriff . . ). „Zmiana charakteru miasta z przemysłowego na kulturalne jest nieunikniona, by ludziom w Katowicach żyło się coraz lepiej“ Stadtpräsident Piotr Uszok, zitiert nach Przemysław Jedlecki: Katowice bardzo kulturalne [Katowice sehr kulturell], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Ebd. Dem seit bestehenden Verbund Oberschlesischer Metropolen (Górnośląski Związek Metropolitalny) mit dem Namen Metropolia Silesia gehören gegenwärtig Städte mit etwa Millionen Einwohnern an. Die Umsetzung der geplanten gemeinsamen Aktivitäten erweist sich jedoch als schwierig, auch weil einige Städte des oberschlesischen Industriegebietes nicht Mitglied des Verbundes sein wollen.Vgl. Polska Agencja Prasowa: Śląskie po latach.Wciąż górniczy wizerunek mimo nowych specjalizacji [Schlesien nach Jahren. Immer noch das Bild des Bergbaus trotz neuer Spezialisierungen], . . , URL http://samorzad.pap.pl/depesze/re dakcyjne.wojewodztwo//Slaskie-po--latach–Wciaz-gorniczy-wizerunek-mimo-now ych-specjalizacji- (Zugriff . . ).
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wice als wirtschaftlicher Entwicklungsfaktor angesehen – Kultur war nicht etwa das schmückende Beiwerk der wirtschaftlichen Transformation, sie kann vielmehr als fester Bestandteil einer wirtschaftlichen Entwicklungsstrategie angesehen werden. Das wird deutlich, führt man sich das Ausmaß der Investitionen vor Augen. Eine etwa 300 000 Einwohner zählende Stadt investiert gleichzeitig in drei Großobjekte, die räumlich nebeneinander entstehen und den Stadtraum maßgeblich verändern werden (sogenannte Kulturachse) sowie in weitere Objekte im Stadtzentrum wie etwa den Neubau der Bibliothek der Schlesischen Universität. Ein derart massives Investitionsvolumen im weit gefassten Bereich Kultur und Bildung verdeutlicht den Stellenwert dieser strategischen Entwicklungsziele, an deren Verwirklichung in der Stadt gearbeitet wird. Nach Forschungen des an der Universität Katowice lehrenden Soziologen Marek Szczepański entspricht diese Entwicklung dem Wunsch der Einwohner von Katowice: „Die am Anfang der Transformation von uns befragten Einwohner von Katowice haben sich neben einer modernen Wirtschaft und dem Rückbau der Bergwerke und Hütten vor allem dieses starke kulturelle Element gewünscht.“⁸⁵ Trotz dieser beindruckenden Entwicklungen bleiben offene Fragen. Klar ist, dass es bei der Kulturinitiative der Stadt vor allem um die Verbesserung ihres Images geht, es sich demnach um einen langfristigen, weit in die Zukunft reichenden Prozess handelt, der seine Berechtigung hat. Fraglich bleibt aber, ob nicht der Anspruch eines solchen Kulturprojektes und die (soziale) Wirklichkeit in der Stadt soweit auseinanderliegen, dass diese Art der (Hoch)Kulturinitiative von vornherein zum Scheitern verurteilt sein muss? Blickt man auf die Zielgruppe und Ausrichtung des neuen Kulturangebotes lässt sich leicht feststellen, dass es kaum an die große Gruppe der ehemaligen, teilweise frühverrenteten Bergarbeiter gerichtet ist. Es zielt vielmehr auf eine bürgerliche Mittelstandsschicht, die sich in der Stadt aber erst noch herausbilden muss. Die Soziologieprofessorin Kazimiera Wódz aus Katowice weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass eine schlecht umgesetzte kulturelle Revitalisierung in der Stadt entgegengesetzte Effekte auslösen kann: Kultur wird dann nicht zum integrierenden Faktor für eine Gesellschaft die „einen postindustriellen Schock durchlebt“, sondern drängt bestimmte Gesellschaftsgruppen zusätzlich weiter an den Rand, „vor die Fernsehbildschirme und in die Hallen der Supermärkte, die als einzige ein verständliches und zugängliches Freizeitprogramm anbieten.“⁸⁶ Ferner kann gefragt werden, wie sich Katowice in so enger Nachbarschaft und Konkurrenz zu den etablierten Kultur-
Marek Szczepański zitiert nach: Ebd. Zitat nach Edwin Bendyk: Kwiaty na żużlu [Blumen auf der Schlacke], in: Polityka [Politik] (), S. – , hier S. .
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metropolen Krakau und Breslau als Emporkömmling auf dem Markt der Kulturangebote positionieren will. Auch der bekannte polnische Regisseur und bekennende Oberschlesier Kazimierz Kutz kommentierte die gigantischen Kulturinvestitionen kritisch. Dem Stadtpräsidenten Piotr Uszok warf er im Mai 2014 in der Gazeta Wyborcza vor, er „herrscht in der Stadt wie ein Tyrann, und seine Investitionen beleben die Stadt nicht, sondern betonieren sie.“⁸⁷ Vor dem Hintergrund der kurzen Dauer des vielschichtigen Strukturwandels kann eine Richtungsentscheidung für den Ausbau des kulturellen Sektors dennoch als entscheidende Besonderheit betrachtet werden. Den Stellenwert dieser Entscheidung in Katowice verdeutlicht der Blick auf eine vergleichbare Region, das Ruhrgebiet, wo Kultur erst in einer späten Phase des Strukturwandels eine konkrete Rolle zu übernehmen begann. Im Ruhrgebiet setzte der Strukturwandel, in dessen Verlauf sich die Region von einer monostrukturierten zu einer Technologie-, Dienstleistungs- und Kulturregion entwickeln soll, bereits in den 1960er Jahren ein und dauert bis in die Gegenwart an.⁸⁸ Das Ausmaß des Wandels in der westdeutschen Region illustrieren die Zahlen der Beschäftigungsverhältnisse. So ging die Zahl der Beschäftigten im Bergbau infolge von Technisierungen und Rationalisierungen sowie der Schließung von Förderanlagen von 560 000 im Jahr 1958 auf etwa 50 000 Anfang der 2000er Jahre zurück.⁸⁹ Auch die Eisen- und Stahlindustrie befand sich seit Mitte der 1970er Jahre in einer bis in die Gegenwart andauernden Krise, bei der etwa 180 000 Arbeitsplätze verloren gingen.⁹⁰ Als Reaktion auf diese strukturelle Dauerkrise wurden seit Mitte der 1960er Jahre von Bund und Land erhebliche Mittel aufgebracht, um den Restrukturierungsprozess der Region zu begleiten. Von besonderer Bedeutung für die Regionalentwicklung waren unter anderem die Internationale Bauausstellung Emscher Park im nördlichen Ruhrgebiet, die zwischen 1989 und 1999 rund 100 Einzelprojekte in der Spannbreite zwischen ökologischem Umbau und Stadtteilentwicklung umfasste. Auch im Ruhrgebiet setzte man im Strukturwandel auf den Faktor Kultur. Eine Route der Industriekultur markierte wichtige Stätten des industriekulturellen Erbes, und im Jahr 2001 wurden Zeche und Kokerei Zollverein auf die Liste des UNESCO-Weltkulturerbes aufgenommen. Für eine Verknüpfung zwischen Kultur
Ebd., S. . Vgl. Dieter Hötker: Die Zukunft des Ruhrgebietes, in: Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien (Hg.): Ruhrgebiet – Oberschlesien. Stadt – Region – Strukturwandel, Essen, , S. – , hier S. . Vgl. Jörn Rüsen/Armin Flender: Das Ruhrgebiet im Strukturwandel, in: Arbeitskreis Ruhrgebiet – Oberschlesien (Hg.): Ruhrgebiet – Oberschlesien. Stadt – Region – Strukturwandel, Essen, , S. – , hier S. . Ebd., S. .
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und Industrieerbe sorgt seit 2002 die Ruhr-Triennale, die sich u. a. durch die Umnutzung ehemaliger Industrieanlagen im Rahmen eines internationalen Theater- und Musikfestivals auszeichnet.⁹¹ Internationale Anerkennung fanden die Bemühungen um die Etablierung von Kultur als Entwicklungsfaktor im Strukturwandel im Jahr 2010 mit der Verleihung des Titels Kulturhauptstadt Europas für Essen und das Ruhrgebiet.⁹² Die oberschlesische Situation ist jedoch ungleich komplexer als die Lage im Ruhrgebiet. In Oberschlesien geht es nicht nur darum, einen Umgang mit dem Erbe einer forcierten Industrialisierung zu finden. Die Parallelität von Strukturwandel und Identitätsdiskurs von Stadt und Region stellt die Akteure in Katowice vor grundlegendere Herausforderungen.⁹³ Oberschlesien als kulturelles Grenzgebiet, in dem zusätzlich zur deutschen Minderheit noch eine großen Anzahl von Personen lebt, die sich selbst als Oberschlesier bezeichnen, muss nicht nur für seine industrielle, sondern auch für seine vielsprachige, von mehreren Kulturen beeinflusste Vergangenheit einen Umgang in der Gegenwart finden. Die Entscheidung für den Ausbau des kulturellen Sektors als Schrittmacher der Stadtentwicklung bedeutete nicht nur eine Konzentration auf Kulturveranstaltungen wie die zuvor genannten Festivals oder eine Förderung von Kultureinrichtungen. Sie zog vor allem einschneidende Veränderungen in der städtischen Topografie nach sich. Seit 2005 wird ein groß angelegter Umbauplan realisiert, mit dem die sozialistisch-spätmodern geprägte Innenstadt durch eine stadtplanerisch neu angelegte Kulturachse ein gänzlich verändertes Antlitz erhält. Symbolisch bedeutsam entsteht diese Kulturachse neben dem bisherigen Sinnbild
Vgl. Hötker, Zukunft des Ruhrgebietes (), S. . Einen Überblick über Projekte des Kulturhauptstadtjahres sowie eine Evaluation unter dem Titel Mit Kultur zur Metropole? finden sich auf der Internetpräsenz unter URL http://archiv. ruhr.de/ (Zugriff . . ). Eine Übersicht über Projekte mit besonderem historischen Bezug sowie allgemein zum Umgang mit Geschichte während des Kulturhauptstadtjahres hat das Forum Geschichtskultur Ruhr zusammengestellt. Vgl. Deutsches Bergbaumuseum Bochum, Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher, Route der Industriekultur/RVR, Ruhrmuseum und Stiftung Industriedenkmalpflege und Geschichtskultur (Hg.): Forum Geschichtskultur Ruhr () mit dem Schwerpunkt „Kulturhauptstadt historisch“. Auch im Ruhrgebiet kann ein Wandlungsprozess in Bezug auf die Identität der Region beobachtet werden. Im Mittelpunkt steht hier jedoch die Frage nach dem Umgang mit der industriellen Identität, die seit dem Einsetzen der Strukturkrisen der späten er Jahre und dem nachfolgenden Verlust einer großen Anzahl an Arbeitsplätzen in der Region nicht mehr tragfähig war. In Oberschlesien kommt neben der Frage einer industriellen Identität die Ebene eines oberschlesischen regionalen Bewusstseins hinzu, das seit / wieder zunehmend an Bedeutung gewinnt.Vgl. den Tagungsbericht von Agnes Weichselgärtner: History Sells! Stadt, Raum, Identität, URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id= (Zugriff . . ).
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der Stadt, der futuristischen Mehrzweckhalle, die aufgrund ihrer halbrunden Dachkonstruktion Spodek (Untertasse) gennant wird, am nördlichen Randgebiet des innerstädtischen Bereiches. Drei Großinvestitionen, an denen sowohl die Stadt als auch die Woiwodschaft beteiligt sind und die ohne finanzielle Mittel der Europäischen Union wohl in diesem Umfang nicht denkbar wären, bestimmen die Gestalt der zukünftigen Kulturachse: Der unter- und überirdische Neubau des Schlesischen Museums auf dem Gelände der stillgelegten Grube Katowice, ein mehrere Hektar umfassendes internationales Kongresszentrum sowie ein Neubau für das landesweit hoch angesehene Polnische Radiosymphonieorchester werden das Aussehen und das urbane Gefüge der City Katowice grundlegend umgestalten.⁹⁴ Die Kulturoffensive der Stadtverwaltung als imagebildendes Zukunftskonzept hat inzwischen sichtbare Konturen angenommen, und die wichtigsten der als monumental zu bezeichnenden Neubauten wurden bis 2015 fertiggestellt. Spätestens mit der Fertigstellung dieser Einrichtungen hat sich die Kategorie Kultur als neues Leitbild für die Selbstbeschreibung der Stadt in den Augen der Stadtverwaltung etabliert. Sinnbildlich dafür können die Worte des Stadtpräsident Piotr Uszok angesehen werden, mit denen er Katowice in der Einleitung einer umfassend und interdisziplinär angelegten Monografie zur Stadtgeschichte aus dem Jahr 2012 beschreibt: Der Umbruch vom 20. zum 21. Jahrhundert bringt die nächste Metamorphose von Katowice, das seine Gestalt vor unseren Augen von einer Stadt der Schwerindustrie, wo Hütten und Bergwerke dominierten, hin zu einem der größten Kulturzentren in Polen verändert.⁹⁵
2.2 Forschungsdesign Den Prozess der Redefinition des städtischen Selbst- und Fremdbildes unter dem umfassenden Schlagwort Kultur nimmt die Studie zum Ausgangspunkt, um nach den Repräsentationen der Vergangenheit zu fragen, die diesen Prozess begleiten. „Die Transformation Katowices von einer Industriestadt zu einer Kulturstadt be-
Die Investitionen der Kulturachse sind unter anderem in folgendem Artikel des Internetportals Moje Miasto Silesia [Meine Stadt Silesia] aufgeführt: Katowice czekają na strefę kultury koło Spodka [Katowice wartet auf eine Kulturzone um den Spodek], URL http://www.mmsilesia.pl/ ////katowice-czekaja-na-strefe-kultury-kolo-spodka?category=biznes (Zugriff . . ). Vgl. Piotr Uszok: List Prezydenta Miasta Katowic [Brief des Stadtpräsidenten], in: Antoni Barciak/Ewa Chojecka/Sylwester Fertacz (Hg.): Katowice. Środowisko, dzieje, kultura, język i społeczeństwo [Katowice, Umwelt, Geschichte, Kultur, Sprache und Gesellschaft]. Katowice , S. .
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deutet nicht das Abschneiden der gesamten Geschichte und Tradition dieser Region“⁹⁶ schreibt die Kulturwissenschaftlerin Małgorzata Cekiera in der polnischen Zeitschrift Res Publica Nowa im Oktober 2011. Wenn also in Katowice im Zuge der Transformation von einer Industrie- zu einer Kulturstadt unter Geschichte und Tradition gerade nicht der aus der polnischen Geschichte nach 1989 bekannte „dicke Strich“ (gruba kreska) gezogen werden soll, muss sie sinnvoll in das neu zu zeichnende Bild integriert werden.⁹⁷ Daraus leitet sich die Annahme ab, dass Geschichte in diesem Redefinitionsprozess als wichtiger Faktor angesehen wird, um eine in die Zukunft weisende Vision der Stadt für die Einwohner selbst, aber auch nach außen glaubwürdig erscheinen zu lassen. Somit umfasst die Entwicklung positiver Visionen nicht nur eine in die Zukunft gerichtete Konstruktion, sie muss zwangsläufig auf die Vergangenheit rekurrieren, um nicht als creatio ex nihilo zu erscheinen. Es ist also gerade der Umgang mit Vergangenheit und Geschichte, der eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung tragfähiger Visionen für die Zukunft einer Stadt spielt. Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind bei der Produktion identitätsrelevanter Bilder nicht voneinander zu trennen, die zeitlichen Ebenen müssen zusammengedacht werden, soll ein stimmiges Bild entstehen. Wie sich das vielschichtige Verhältnis zwischen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft genau gestaltet und welche historischen Narrationen aus dem Zusammenspiel der drei Zeitebenen hervorgehen, untersucht diese Studie. Im Mittelpunkt dieser Untersuchung steht demnach die Frage, wie in einem genuin auf die Zukunft ausgerichteten Verortungs- und Selbstbeschreibungsprozess einer Stadt, ausgelöst durch einen tiefgreifenden und komplexen Transformationsprozess, mit Vergangenheit und Geschichte umgegangen wird. Dabei ist die reflektierte Einbindung der Vergangenheit von Katowice in eine tragfähige Zukunftsvision kein leichtes Unterfangen und stellt die Akteure vor große Herausforderungen. Auf der Suche nach positiven Referenzpunkten in der Entwicklung der Stadt stößt man – abgesehen von der Industrialisierung – vor allem auf eine von Brüchen, nationalen Antagonismen und Konflikten geprägte Vergangenheit. Der Reflex, diese konflikthaften Momente aus dem Prozess einer Neuausrichtung auszuklammern, sie im Sinne eines positiven Neuanfanges zu
„Transformacja Katowic z miasta przemysłowego na miasto kulturalne nie jest równoznaczna z odcięciem się grubą kreską od całej tradycji i historii tego regionu.“ Vgl. Małgorzata Cekiera: Silesia Culture Center, Res Publica Nowa, . . , URL http://publica.pl/teksty/silesia-cul ture-center-.html (Zugriff . . ). Der Ausspruch wurde von Tadeusz Mazowiecki während einer Rede im Sejm am . August benutzt um die neu zu bildende demokratische Regierung von der Last der kommunistischen Vergangenheit zu befreien, die sie unweigerlich erbte. Die Rede wurde am . August in der Gazeta Wyborcza abgedruckt.
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verdrängen, liegt nahe. Tatsächlich können das Ablehnen oder Verdrängen vorausgegangenen Geschehens und seiner historiografischen Deutungen als bisheriges Grundmuster historischer Sinnbildung in Katowice identifiziert werden. Erklären lässt sich dieser Befund aus den häufigen politischen Umbrüchen in der Stadt, die jeweils von einer zukunftsorientierten Ablehnung vergangener Epochen begleitet wurden. Selbst die Stadtgründung von Katowice im Jahr 1865 beruhte auf einem strikten Ausschluss aller vormaligen dörflichen Elemente des zukünftigen Stadtgebietes und sollte einen Aufbruch ins Neue signalisieren.⁹⁸ Bei der Stadtgründung wurden die vorhandenen dörflichen Strukturen nicht integriert, die Stadt wurde als eine Art Gegenentwurf auf dem Reißbrett angelegt und überschrieb die gewachsenen Dorfstrukturen weitgehend. Weitere Beispiele für die Ablehnung vorausgegangenen Geschehens nach politischen Umbrüchen finden sich nach dem Ersten Weltkrieg, als die Stadt polnisch wurde. Aber auch in der Zeit der Volksrepublik Polen nach 1945 wurde eine Kontinuität in Hinblick auf die polnische Zwischenkriegszeit aus ideologischen Gründen abgelehnt. Die jeweils neue nationale oder politische Option versuchte, die Legitimität ihrer Herrschaft durch ein entsprechend angepasstes Geschichtsbild zu sichern, in dem die vorherigen Opponenten keinen Platz hatten oder stigmatisiert wurden. Somit hat der vielmalige Wechsel der Staatlichkeit eine bis in die Gegenwart hineinreichende, national einseitig geprägte Sichtweise auf die Vergangenheit der Stadt hervorgebracht, die sich in einem nach wie vor selektiven, national-polnischen Geschichtsbild ausdrückt. Obwohl der Zugehörigkeitsstatus von Stadt und Region zum polnischen Staat in der Gegenwart politisch garantiert ist, öffnet sich das historische Sinnbildungsmuster über Katowice als ausschließlich polnische Stadt nur langsam und ist nach wie vor prägend. Das ist bemerkenswert, vergleicht man die Situation etwa mit der nur 200 Kilometer entfernten niederschlesischen Hauptstadt Breslau, in der der Prozess der Hinwendung zur und Wiederaneignung von Vergangenheit nach 1989/90 bereits weit vorangeschritten ist.⁹⁹ Während Breslau in dieser Zeit zu neuem Vgl. Tomasz Fałecki: Nazwy miejscowe Katowic jako obraz przemian politycznych i kulturalnych [Ortsnamen in Katowice als Bild des politischen und kulturellen Wandels], in: Antoni Barciak (Hg.): Przemiany struktur społeczno-zawodowych ludności w dziejach Katowic [Veränderungen der Sozial- und Arbeitsstrukturen der Einwohner von Katowice in der Geschichte], (= Katowic w . rocznicę uzyskania praw miejskich) [= Katowice zum . Jahrestag der Verleihung der Stadtrechte]. Katowice , S. – , hier S. . Wojciech Kunicki führte die Auseinandersetzung der gegenwärtigen Einwohner Breslaus unter anderem mit der deutschen Geschichte ihres Wohnortes auf einen „Hunger nach geschichtlicher Identität“ zurück. Dieser sei auf den nach dem Zweiten Weltkrieg jahrzehntelang tabuisierten Verlust des polnischen Ostens zurückzuführen, aus dem ein Großteil der Einwohner Breslaus nach stammte. Der Rekonstruktion der deutschen Vergangenheit der Stadt im Nachgang des
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Selbstbewusstsein erwachte und sich als multiethnischer meeting place etablierte, kommt der Prozess der Abkehr von historischen Meistererzählungen mit nationalem Zuschnitt in Katowice erst langsam in Gang. Ein Grund für diese Unterschiede im Umgang mit Geschichte und Vergangenheit kann darin gesehen werden, dass in Breslau heute fast ausschließlich ethnische Polen leben,während sich in Katowice die oben angedeutete Vielfalt nationaler und ethnischer Identitäten erhalten hat. Während in Breslau im Dialog um die Deutung der Vergangenheit niemand vor Ort mehr Einspruch erhebt, ist die Situation in Katowice ungleich komplexer. Einfluss auf den Umgang mit Geschichte und Vergangenheit hat in Katowice weiterhin die sehr kurze Stadtgeschichte. In den etwa 150 Jahren ihres Bestehens konnte sich über Katowice kein umfassendes historisches Narrativ etablieren, auf das nach dem Umbruch von 1989/90 zurückgegriffen werden konnte. Die Stadtgeschichte von Katowice ist so kurz und dabei von so vielen Wandlungsprozessen und kulturellen Umbrüchen geprägt, dass kein Reservoir der Vergangenheit existiert, auf das man sich zweifels- und diskussionsfrei zurückziehen kann. Die häufigen politischen Brüche haben auch das Entstehen einer kulturellen Kontinuität behindert¹⁰⁰, die in der Gegenwart als Referenzpunkt für eine zukünftige Entwicklung herangezogen werden könnte. Als alternatives Sinnbildungsmuster, sozusagen als Gegenerzählung zu Nation und Nationalstaat, konnte sich in Katowice daher bislang nur der Rekurs auf die Industrialisierung und die damit verbundenen Vorstellungen von Modernität bzw. Moderne etablieren. So argumentierte etwa die Kunsthistorikerin Ewa Chojecka, dass die Kontinuität der Stadt in ihrer Fähigkeit zum ständigen Neubeginn bestehe, sie daher über einen „Instinkt der Modernität“ verfüge.¹⁰¹ Eine historische Sinnbildung in Bezug auf Vorstellungen von Modernität und Moderne erfüllt dabei ähnliche Funktionen wie die zur Nation: Auch hier entfaltet sich eine positive Sinnstiftung, die auf Herkunft und lange Dauer abzielt. Es wurde bereits deutlich, dass der Transformationsprozess, zu dem es seit 1989/90 in Katowice kam, die Reihe der Umbrüche in der Entwicklung der Stadt
Umbruches von attestierte Kunicki daher positive Folgen für die Entwicklung einer lokalen Identität der polnischen Bewohner Niederschlesiens. Vgl. Kunicki, Schlesien (), S. . So argumentieren die Herausgeber der Stadtgeschichte von Katowice in ihrer Einleitung unter Verweis auf Ewa Chojecka, die diesen Befund besonders prominent in ihren Arbeiten vertritt. Vgl. Antoni Barciak/Ewa Chojecka/Sylwester Fertacz: Wprowadzenie [Einführung], in: dies.: Katowice. Środowisko, dzieje, kultura, język i społeczeństwo [Katowice. Umwelt, Geschichte, Kultur, Sprache und Gesellschaft]. Katowice , S. – , hier S. . Vgl. Łukasz Galuszek: O sztuce, której nie było [Über Kunst, die es nicht gab], Interview mit Ewa Chojecka, Herito (), S. – , hier S. .
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fortschreibt. Auf einer zweiten Ebene untersucht die Studie deshalb, ob sich die etablierten Arten historischer Sinnbildung auch in dieser neuerlichen Umbruchsituation durchsetzen oder alternative historische Narrationen entstehen, die veränderten Sinnbildungsmustern folgen.¹⁰² Alternative Sinnbildungsmuster sind beispielsweise in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit der Stadtgeschichte zu beobachten. Die akademische Geschichtsschreibung und die ihr verwandten Fächer haben das nationalstaatliche Paradigma längst abgelegt und sich einer multiperspektivischen und interdisziplinären Bearbeitung der städtischen Vergangenheit zugewandt. Beispielhaft dafür stehen etwa das deutsch-polnischtschechische Großprojekt einer Geschichte Oberschlesiens aus dem Jahr 2011¹⁰³, eine interdisziplinär angelegte, über 1 000 Seiten umfassende Stadtgeschichte von Katowice aus dem Jahr 2012¹⁰⁴ sowie eine synthetisierende Betrachtung der oberschlesischen Kunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart aus dem Jahr 2009.¹⁰⁵ So verweisen die Herausgeber der Monografie über die Stadtgeschichte bereits in der Einleitung darauf, dass die nationalen Fragen, denen auch in der Historiografie häufig ein Übermaß an Aufmerksamkeit beigemessen worden ist, im Prozess der Industrialisierung nur einen nachgeordneten Charakter besessen haben. Bedeutender war nach Ansicht der Wissenschaftler der die Industrialisierung begleitende Prozess der Modernisierung.¹⁰⁶ Doch wie verhält es sich mit den außerakademischen, den öffentlichen Geschichtsdarstellungen im städtischen Raum? Diffundieren die mit wissenschaftlichen Mitteln gewonnenen Erkenntnisse über die Vergangenheit der Stadt in die öffentlichen historischen Repräsentationen, oder wird der öffentliche Raum von anderen historischen Narrationen geprägt? Auf diesem Bereich liegt der Fokus der Studie, die sich nicht mit den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Stadtgeschichte beschäftigt, sondern mit den Konstruktionen, Repräsentationen und Inszenierungen, kurz den Materialisierungen historischen Wissens in der Sphäre des Öffentlichen. Nicht die wissenschaftlich regulierte Erforschung der Stadtgeschichte, sondern Geschichten, die im öffentlichen Stadtraum von Katowice erfahr- und erlebbar sind und dezidiert für einen nichtwissenschaftlichen Rezipientenkreis geschaffen wurden, sind das Untersuchungsobjekt. Diese erleb-
Ausführlich wird das Konzept der Sinnbildungsmuster in Kapitel Theoretische Verortungen behandelt. Vgl. Kaczmarek/Bahlcke/Gawrecki, Historia Górnego Śląska [Geschichte Oberschlesiens] (). Vgl. Barciak/Chojecka/Fertacz, Katowice (). Vgl. Ewa Chojecka (Hg.): Sztuka Górnego Śląska od średniowiecza do końca XX wieku [Die Kunst Oberschlesiens vom Mittelalter bis zum Ende des . Jahrhunderts]. Katowice . Vgl. Barciak/Chojecka/Fertacz, Wprowadzenie [Einführung] (), S. .
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und erfahrbaren öffentlichen Geschichtsdarstellungen werden als historische Narrationen¹⁰⁷ angesehen, die gezielt Identifikationsangebote für ihre Rezipienten formulieren und unterbreiten. Damit steht auch die Frage im Mittelpunkt, wie öffentliche historische Narrationen außerhalb der universitären historischen Erforschung und Darstellung entstehen und welche Funktionen diese in einer Zeit beschleunigten strukturellen und sozialen Wandels haben. Die Untersuchung nimmt damit zwar Vergangenheit und die daraus gewonnene Geschichte in den Blick, setzt aber dezidiert in der Gegenwart an. Sie fragt nach den Bedingungen und Möglichkeiten der Entstehung historischer Narrationen in der für Katowice spezifischen Konstellation von sozialem und ökonomischem Wandel. Im Gegensatz zu klassischen geschichtswissenschaftlichen Untersuchungen, die ihren Fokus auf die Rekonstruktion vergangenen Geschehens anhand empirischer Quellen legen, verfolgt diese Studie den Ansatz einer Dekonstruktion historisch argumentierender Narrationen und zieht dabei auch ihre Entstehungsbedingungen mit ein. In einer Konstellation, die Wandel und Veränderung zum Ausgangspunkt hat, müssen die Ergebnisse der Analyse als Beschreibung einer Moment- und Bestandsaufnahme angesehen werden. Aus ihnen entsteht die Phänomenologie der sich transformierenden Geschichtskultur einer Stadt, deren Elemente benannt und die in ihrer Entstehung, Wirkung und Absicht erläutert werden. Zur Untersuchung dieses Fragenkomplexes ist ein kombinierter Zugriff aus verschiedenen Konzepten und Methoden notwendig. Wertvolle Anhaltspunkte dafür finden sich in unterschiedlichen geisteswissenschaftlichen Fächern. So bieten etwa kulturwissenschaftliche Ansätze zur Erforschung des Umgangs mit Geschichte und Vergangenheit eine solide Ausgangsbasis für die Untersuchung der kulturellen Praxis bestimmter gesellschaftlicher Gruppen im gegenwartsbezogenen Umgang mit vergangenen Ereignissen. Diese Untersuchung fokussiert jedoch nicht auf die kulturelle Praxis des Erinnerns, sondern analysiert die manifest gewordenen Narrationen im städtischen Raum in ihrer Entstehung und beabsichtigten Wirkung. In dieser Untersuchung wird deshalb anstelle des Begriffes Erinnerung mit dem Terminus Geschichte gearbeitet, wie ihn der Geschichtstheoretiker Jörn Rüsen geprägt hat. Dass nicht nur Erinnerung, sondern auch Geschichte „lebendig“ und lebensnah ist, hat Rüsen eingängig dargelegt.¹⁰⁸ Geschichte wird im Folgenden daher nicht als Opposition zur Erinnerung verstanden, sondern als theoretisch alternatives Konzept, um die Gegenwart der Auf das narrative Geschichtsverständnis wird ausführlich im Kapitel .. Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart eingegangen. Vgl. u. a. Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik, Band III: Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen .
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2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen
Vergangenheit in ihrer Wirksamkeit zu analysieren. Für Rüsen ist Geschichte als Bezugssystem zwischen Heute, dem Vergangenen und der Zukunft eine variable Größe, deren Entstehung und Wahrnehmung von einer Vielzahl individueller, sozialer und neuronaler Faktoren geprägt ist. Geschichte wird deshalb stets gemacht, konstruiert und gewollt. Und sie ist voraussetzungsvoll. Denn sie hat nicht nur eine doppelte Bedeutung, die sich einerseits auf ein zeitlich geordnetes Geschehen in der Vergangenheit bezieht und gleichzeitig den Bericht über dieses Geschehen meint. Voraussetzungsvoll ist sie vor allem deshalb, weil sie von Menschen aus der Gegenwart durch Deutungen und Interpretationen geschaffen wird, gleichzeitig sind diese deutenden Menschen immer schon durch die Geschichte disponiert und geprägt.¹⁰⁹ Geschichte produziert einerseits eine zeitliche Abfolge von Ereignissen in der Vergangenheit, sie ist gleichzeitig aber auch ihre narrative Repräsentation in der Gegenwart, der eine Bedeutung für die Selbst- und Weltdeutung von Menschen innewohnt.¹¹⁰ Rückgriffe auf vergangene Ereignisse spiegeln daher immer ein bestimmtes Verhältnis zur Vergangenheit wider und enthalten Identifikationsangebote, die Individuen dazu veranlassen können, sich als Teil einer Gruppe mit einer vermeintlich gemeinsamen Vergangenheit zu fühlen. Die daraus entstehenden Narrationen haben maßgeblichen Einfluss auf die Selbstwahrnehmung und die Ausbildung der Vorstellungen vom Eigenen und Fremden, sowohl auf der Ebene von Individuen als auch Gruppen. Geschichte verortet den Einzelnen sowie Kollektive in einer Vorstellung von Zeit, einem zeitlichen Verlauf, der aus der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft reicht. Narrationen rekonstruieren demnach nicht nur Vergangenheit, sie deuten zugleich die Gegenwart und entwerfen eine mögliche Zukunft. Insofern dient Geschichte, verstanden als Narration, sowohl der gegenwärtigen Daseinsbewältigung als auch der Planung zukünftigen Handelns. Denn die Einordnung in einen zeitlichen Verlauf von Ereignissen macht sowohl die individuelle Herkunft als auch die umgebende Welt verständlich. Als Umschreibung dieses Zusammenhangs kann der Begriff der historischen Identität¹¹¹ gebraucht werden, denn Vgl. Jörn Rüsen: Was heißt: Sinn der Geschichte? Mit einem Ausblick auf Vernunft und Widersinn, in: Klaus E. Müller/Jörn Rüsen (Hg.): Historische Sinnbildung. Problemstellungen, Zeitkonzepte, Wahrnehmungshorizonte, Darstellungsstrategien. Reinbek bei Hamburg , S. – , hier S. . Vgl. Jörn Rüsen: Kann gestern besser werden? Essays zum Bedenken der Geschichte. Berlin , S. . Historische Identität verweist zum einen darauf, dass Menschen immer in eine historisch gewordene Welt hineingeboren werden. Das historische Gewordensein der Gegenwart prägt Menschen in ihren Wahrnehmungen, ihren kognitiven Möglichkeiten des Verstehens und Erklärens. Historische Narrationen, die in dieser Gegenwart entstehen, tragen dieser Tatsache Rechnung: Sie müssen so konstruiert sein, dass sie das Gewordensein der Welt, der Großgruppe
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er verweist auf den Anteil des Geschichtlichen an der Selbst- und Fremdwahrnehmung des Menschen. So verstanden, unterbreitet Geschichte Identifikationsangebote für ihre Rezipienten, die zu diesen Stellung beziehen müssen.¹¹² Eine Annäherung an diese Fragen kann mithilfe einer Operationalisierung von Rüsens geschichtstheoretischen Überlegungen geschehen, wobei die Begriffe Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein die zentrale Rolle spielen. Während mithilfe des Begriffes Geschichtskultur die Manifestationen historischen Wissens beschrieben werden, hat das Geschichtsbewusstsein der Narrateure entscheidenden Einfluss auf die Entstehung einer Narration, die als Materialisierung in der Geschichtskultur, also der Sphäre der Öffentlichkeit, ihre Wirkung entfalten muss. In der Rückbindung an den Kontext ihrer Entstehung lassen sich Aussagen darüber treffen, unter welchen Bedingungen, mit welchen Wirkungen sowie Zielen und Absichten in einem außeruniversitären Umfeld Geschichte entsteht. Eine Einschränkung ist an dieser Stelle von Bedeutung. Der Begriff Geschichtskultur definiert einen sehr weit gefassten Bereich historischer Repräsentationen; als Ergebnis einer Analyse der gesamten Geschichtskultur einer Stadt würde folglich eine sehr breit angelegte Studie stehen, die aufgrund der Fülle der zu beschreibenden Phänomene kaum an analytischer Tiefe gewinnen könnte. Daher wurde der Definitionsbereich von Geschichtskultur für diese Studie auf solche öffentlichen Geschichtsdarstellungen eingeschränkt, die als Anker oder Kristallisationspunkte der öffentlichen Debatte über Geschichte in Katowice angesehen werden können. Diese Einschränkung des Geltungsbereiches von Geschichtskultur ermöglicht im Umkehrschluss eine eingehende Analyse und Dekonstruktion der ausgewählten historischen Narrationen. Den zeitlichen Rahmen der Untersuchung markieren die Jahre 1989 und 2012. Das Jahr 1989 ist von Bedeutung, da es als Ausgangspunkt der Entwicklung einer freiheitlich-demokratischen sowie marktwirtschaftlichen Ordnung in Polen angesehen wird. Es markiert somit auch den Ausgangspunkt der oben eingeführten Transformationsprozesse in Katowice. Auch das Jahr 2005 ist für die Studie von Bedeutung, da von diesem Zeitpunkt an die Richtungsentscheidung für den Ausbau des kulturellen Sektors als wichtiges Element des Strukturwandels zum
oder des Kollektives, aus deren kulturellen Kontexten heraus sie entstehen, so erklären, dass sich die Mitglieder als Rezensenten darin wiederfinden, dazu Stellung beziehen können. Historische Narrationen tragen so zur Vergewisserung und zum Abgleich, zur Standortbestimmung in einer historisch gewordenen Welt bei. Ausführlich dazu: Kurt Röttgers: Die Lineatur der Geschichte. Amsterdam , S. f. Vgl. Maximilian Eiden: Gedächtnisgeschichte, in: Joachim Bahlcke (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln , S. – .
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2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen
Tragen kam. Einen vorläufigen Höhepunkt hatte diese Entwicklung in der Bewerbung der Stadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas in den Jahren 2010 und 2011. Das Ende des Untersuchungszeitraumes markiert das Jahr 2012 als Zeitpunkt, an dem der Bewerbungsprozesses als abgeschlossen und ausgewertet angesehen werden konnte. Als Höhepunkt ist die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas auch deshalb zu bezeichnen, weil in diesem Zusammenhang erstmals neuartige Narrationen im Stadtraum von Katowice präsent waren, die sich massiv von den bisherigen Vergangenheitsdeutungen abhoben. Um diese Unterschiede herausarbeiten zu können, kommt in der Studie ein zweistufiges Verfahren zur Anwendung. Die Zweistufigkeit beruht darauf, dass zu Beginn Untersuchungsgegenstände im Mittelpunkt stehen, die als Ausgangspunkt für die Betrachtungen eines Veränderungsprozesses im öffentlichen Umgang mit Geschichte und Vergangenheit angesehen werden können. Zweistufig ist das Verfahren auch insofern, als im ersten Kapitel (Stadtraum) sowie im letzten Kapitel (Diskurse) keine strikten Dekonstruktionen historischer Narrationen durchgeführt, sondern kontextualisierende Informationen gegeben werden. Diese beiden Kapitel sind von Beschreibungen bestimmter Phänomene öffentlicher Geschichte geprägt und rahmen somit die stärker auf Analyse ausgerichteten Kapitel im mittleren Teil der Studie. So beschreibt etwa das Kapitel Annäherungen an öffentliche Geschichte in Katowice Erzählstränge über die Geschichte der Stadt, die in architektonischen Formen sowie der Gestaltung des urbanen Gefüges als Ganzes sichtbar werden. Ferner kommen symbolische Repräsentationen im städtischen Raum in den Blick, beispielsweise die Denkmallandschaft oder das symbolische System der Straßennamen in Katowice. Dieses Kapitel dient somit der Bestandsaufnahme historischer Narrationen, wie sie im öffentlichen Raum wahrnehmbar sind; es leistet gleichzeitig eine Einführung in die Geschichte der Stadt, die nicht chronologisch erzählt, sondern entlang der herausgearbeiteten Erzählstränge beschrieben wird. Den Schwerpunkt des nachfolgenden Kapitels bilden historische Narrationen über Katowice, wie sie in den beiden zentralen historisch ausgerichteten Museen der Stadt anzutreffen sind. Das Kapitel bildet somit den Übergang von historischen Narrationen, die in der Architektur und im urbanem Gefüge eingeprägt sind zu einer Betrachtung von Institutionen, die gezielt auf die Produktion eines Geschichtsbildes hinarbeiten. Beschrieben wird zum einen das Stadtgeschichtliche Museum mit seiner Dauerausstellung zur Geschichte von Katowice sowie das Schlesische Museum, das bis zum Untersuchungszeitpunkt über keine historische Dauerausstellung verfügte. Eine historische Schau zur Geschichte Oberschlesiens ist erst seit der Eröffnung des Neubaus des Hauses im Juni 2015 zu sehen. Diese Ausstellung rief während ihres Entstehungsprozesses jedoch eine Fülle von Kontroversen hervor, die weitreichende Einblicke in die Herausforderungen und Grenzen öffentlicher Geschichtsdarstellungen in der Stadt erlauben. Das an-
2.2 Forschungsdesign
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schließende Kapitel Neue Bilder über die Stadt stellt anhand der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas sowie der Erstellung einer sogenannten Route der Moderne die Entstehung historischer Narrationen im Prozess der Herausbildung eines neuen Images für die Stadt vor. Beide Initiativen wurden von der Stadtverwaltung initiiert und gesteuert und können daher als zentrale Versuche gelten, Katowice mit einem neuen Image zu positionieren. Bei der Bewerbung als Kulturhauptstadt wurde Katowice als Neuauflage einer Gartenstadt interpretiert während die Route der Moderne die Stadt als bedeutendes Zentrum der Architekturmoderne darstellt. Das letzte Kapitel entfernt sich von der Analyse historischer Narrationen, wie sie im Stadtraum, in Museen oder den Imagebildungskampagnen der Stadtverwaltung manifest geworden sind. Es fokussiert unter der Überschrift Diskurse vielmehr auf solche öffentlichen historischen Narrationen, die abseits dieser zentral initiierten und umgesetzten Initiativen durch das Wirken von Einzelpersonen wie Journalisten oder Regisseure entstanden. Diese Narrationen gehören ebenso zum Haushalt an Geschichte, der in der Transformationsphase in Katowice verhandelt wird, sie bilden ebenso wichtige Deutungsangebote und greifen teilweise kontroverse und vielschichtige Themen auf. Zwar haben diese Narrationen bislang noch keinen etablierten Platz im Kanon der öffentlichen historischen Narrationen gefunden, sind für das Verständnis der Komplexität des Gesamtzusammenhanges der Untersuchung jedoch von zentraler Bedeutung. Die Analyse dieser Elemente öffentlicher Geschichte basiert auf dem an die Einleitung und die Beschreibung des Forschungsdesigns anschließenden Kapitel Theoretische Verortungen. Hier werden die zentralen Untersuchungsbegriffe wie öffentliche Geschichte als Teilbereich der Geschichtskultur, Geschichtsbewusstsein sowie das narrative Geschichtsverständnis theoretisch hergeleitet, eingeordnet und als Analyseinstrumentarium eingeführt. Dabei wird eine Abgrenzung zu den eng verwandten Begriffen der Erinnerung und Erinnerungskultur vorgenommen sowie die Entscheidung für eine Analyse, die sich an ein narratives Geschichtsverständnis und die damit verbundenen Begriffe Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein anlehnt, begründet. Im anschließenden Kapitel wird unter der Überschrift Von der Theorie zur Praxis ein Vorschlag erarbeitet, wie diese theoretischen Prämissen auf das Beispiel der Untersuchung öffentlicher Geschichtsdarstellungen in einer Stadt angewandt werden können. Neben diesen generellen Überlegungen, die von der Theorie in die Praxis führen, werden für einzelne Teilbereiche, etwa für die Museen, den städtischen Raum oder das Kapitel über Diskurse, spezifische Erweiterungen bzw. Anpassungen der Untersuchungsmethoden an den jeweiligen Gegenstand vorgestellt. Ein abschließendes Kapitel führt die Analyseergebnisse der einzelnen Untersuchungsschritte zusammen und nimmt eine zusammenfassende Betrachtung vor.
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2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen
2.3 Quellengrundlage Für die Dekonstruktion öffentlicher historischer Narrationen besteht die Quellenbasis dieser Arbeit zum überwiegenden Teil aus öffentlich zugänglichen Quellen, die in sehr unterschiedlichen Formen vorliegen. In Abhängigkeit davon, wo historische Narrationen auftraten, wurden Materialien als Quellen definiert. Dabei ist eine genaue Unterscheidung des Materials zwischen Quellen und Darstellungen von grundlegender Bedeutung. Als Quellen werden etwa die Bewerbungsunterlagen der Stadt zur Kulturhauptstadt Europas oder die Begleit- und Informationsmaterialien der Route der Moderne angesehen – Materialien also, die im Untersuchungszeitraum entstanden sind und eine historische Narration enthalten, die analysiert und dekonstruiert werden konnte. Als Darstellungen können hingegen Beschreibungen dieser Prozesse, etwa in der Presse, bezeichnet werden, die das in den Quellen Enthaltene aufgreifen, kommentieren und somit selbst eine interpretierte Darstellung der Quellen liefern. Auch diese Darstellungen stammen aus dem Untersuchungszeitraum, unterscheiden sich aber von den Quellen dadurch, dass sie bereits eine Interpretation bzw. eine bestimmte Sicht auf das Geschehen widerspiegeln. Die Studie basiert überwiegend auf zwei großen Quellengruppen. Die größte Gruppe bilden veröffentlichte Textquellen. Dazu zählen auch Materialien, die Texte und Bilder enthalten, etwa Stadtpläne, Strategiepapiere oder PowerpointPräsentationen. Zu den aus Text und Bild bestehenden Quellenarten gehören auch die Antragsdokumente der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas, die aufgrund ihres erheblichen Umfanges in Buchform vorliegen. Für die Untersuchung der Imagebildungsprozesse werden zusätzlich Wort-Bild-Marken und Logos als Erscheinungsform historischer Narration definiert und zur Analyse herangezogen. Gleichermaßen als Quelle werden Ausstellungen in Museen angesehen, wobei diese neben den Bild- und Textelementen vor allem aus Objekten bestehen, die als Teil der Quelle betrachtet werden. Die zweite zentrale Quellengrundlage bilden Interviews. Diese liefern einerseits kontextualisierende Informationen zu den in der Studie behandelten Prozessen und Vorgängen. Vor allem aber stehen sie in Form von leitfadengestützten Interviews als eigenständige Quelle zur Erforschung des Geschichtsbewusstseins der Narrateure im Mittelpunkt. Eine Quelle besonderer Art stellt der Stadtraum an sich dar, der im Kapitel Annäherungen an öffentliche Geschichte in Katowice auf seine historischen Repräsentationen hin untersucht wird. Dabei werden sowohl das architektonische Ensemble als auch symbolische Repräsentationen, wie Denkmäler oder Straßennamen, als Quelle genutzt und untersucht.
2.3 Quellengrundlage
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Quellen in Text- und Bildform Die Quellenbasis zur Untersuchung öffentlicher Geschichtsdarstellungen ist divers und lässt sich am besten anhand der einzelnen Untersuchungsobjekte beschreiben. Für die Analyse des Stadtgeschichtlichen Museums bildet die Dauerausstellung die zentrale Quelle, die bei mehreren Besichtigungen vor Ort analysiert wurde. Zur Untersuchung des Kontextes der Ausstellung wird das Museum als tragende Institution mit einbezogen. Als Quelle dienen dafür die Statuten des Museums sowie die Beschreibung der musealen Tätigkeiten auf den Internetseiten der Institution. Zeitungsberichte über die Tätigkeit der Einrichtung aus der Lokalausgabe der Gazeta Wyborcza werden als Darstellungen mit in die Betrachtung einbezogen. Für die Analyse steht das Ausstellungsdrehbuch nicht zur Verfügung, da es laut Aussage des Kurators ein solches nicht gibt.¹¹³ Als Ersatz wird ein Interview mit dem Kurator herangezogen, da er für die Konzeption und Umsetzung hauptsächlich verantwortlich war. Als Textquelle zugänglich ist der Ausstellungskatalog, der in die Untersuchung einbezogen wird. Anders stellt sich die Quellenlage für das Schlesische Museum dar. Da es in diesem Haus zum Untersuchungszeitpunkt noch keine historische Dauerausstellung gab, wird das Ausstellungsdrehbuch für die geplante Schau als Analysegrundlage genutzt. Ergänzend wird eine Zusammenstellung unterschiedlicher Meinungsäußerungen zur geplanten neuen Dauerausstellung in Form von Zeitungsartikeln und Briefen herangezogen, die den Konflikt um die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung widerspiegeln. Dabei handelt es sich nach der oben eingeführten Unterteilung um Darstellungen, nicht um Quellen, die jedoch die sehr aufschlussreiche inhaltliche Debatte um die geplante Dauerausstellung nachzeichnen. Für die Untersuchung der historischen Narrationen, die während der Imagebildungskampagnen entstanden sind, wird sowohl auf gedruckte als auch online publizierte Materialien zurückgegriffen. Als Hauptquelle für die Untersuchung der Kulturhauptstadtsbewerbung werden beide Anträge ausgewertet, die im Verlauf des zweistufigen Antragsverfahrens im Jahr 2010 und 2011 vom Bewerbungsbüro erarbeitet wurden. Beide liegen in gedruckter Form als Buch vor, wobei allein der erste Antrag über 300 Seiten umfasst. Als Quelle dient in diesem Fall auch das Logo, das speziell für das Bewerbungsverfahren entwickelt wurde, sowie weitere Materialien, die zur Bewerbung des Antragsverfahrens erarbeitet wurden. Dazu zählen etwa Poster, Stadtpläne oder Flyer, die vom Bewerbungsbüro
Vgl. Interview mit Jacek Siebel, März , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin.
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2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen
produziert und verteilt wurden, aber auch Powerpoint-Präsentationen, die von den Mitarbeitern des Büros bei Konferenzen oder anderen thematischen Treffen in Bezug auf die Bewerbung der Stadt vorgetragen wurden. Einbezogen in die Untersuchungen werden ferner Texte der Internetseite des Bewerbungsbüros sowie die Presseberichterstattung aus den beiden großen Tageszeitungen Gazeta Wyborcza und Dziennik Zachodni, wobei das Hauptaugenmerk auf den Berichten der Gazeta Wyborcza liegt. Die Stadt hatte zu Beginn der Ausschreibung des polenweiten Wettbewerbes lange gezögert, sich überhaupt daran zu beteiligen. Eine publizistische Kampagne der Gazeta Wyborcza hat schließlich den entscheidenden Ausschlag für die Bewerbung von Katowice gegeben. Entsprechend intensiv wurden die Vorgänge rund um die Bewerbung in dieser Zeitung begleitet und kommentiert. Für die Analyse historischer Narrationen der zweiten Imagebildungskampagne Route der Moderne wird vor allem auf Texte und Abbildungen zurückgegriffen, die auf der dazugehörigen Internetseite veröffentlicht wurden. Dazu zählen die Beschreibungen der einzelnen Gebäude der Route bzw. Erläuterungen über die Bedeutung und Formen der modernen Architektur in Katowice. Ferner bilden Werbematerialien wie Flyer, die von der Abteilung für Stadtmarketing der Stadtverwaltung hergestellt und in der Stadt verteilt wurden, einen Quellenbestand. Die Internetseite der Route gibt umfassend Auskunft über die Ziele des Projektes. Die dort auffindbaren Bilder und Texte sind identisch mit dem Bild- und Textmaterial der Infoboxen, die vor den jeweiligen Gebäuden in Katowice über deren Geschichte und Architektur informieren. Zur Kontextualisierung der Route der Moderne werden ferner Materialien der Route der Technikdenkmäler einbezogen, die von der Tourismusabteilung der Woiwodschaftsverwaltung erstellt wurden. Dazu zählen eine Landkarte, die die Technikdenkmäler in der gesamten Woiwodschaft beschreibt, sowie der dazugehörige Internetauftritt. Weiterhin wird zur Kontextualisierung auf die Berichterstattung in der Gazeta Wyborcza und dem Dziennik Zachodni zurückgegriffen. Beide letztgenannten Materialien sind zu den Darstellungen zu zählen.
2.3 Quellengrundlage
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Interviews als Quellen Parallel zu den Quellen und Darstellungen in Text- und Bildform sind Interviews und die daraus erstellten Transkripte der zweite bedeutende Bestandteil der Quellengrundlage für diese Studie. Die Interviews unterteilen sich bezüglich ihrer Absichten und ihres Zustandekommens in zwei Kategorien. Der überwiegende Teil der Gespräche fand mit dem Ziel statt, eine Quellenbasis zur Untersuchung des Geschichtsbewusstseins der Narrateure zu schaffen, um die subjektiven Konstruktionsbedingungen von historischen Narrationen untersuchen zu können. Diese Analyse der Einstellungen ist insofern wichtig, als sie den Blick in die Vergangenheit normieren und einen Einfluss darauf haben, welche Vergangenheitspartikel in der Gegenwart zu einer Narration verarbeitet werden. Ferner wurden Interviews geführt, die einen kontextualisierenden Charakter haben, bei denen die Interviewten von ihren Ideen und Vorstellungen aber auch ihren kritischen Einstellungen zum Umgang mit Geschichte in der Stadt berichten. Bis auf eine Ausnahme¹¹⁴ wurden alle Gespräche in polnischer Sprache geführt, auch die Transkripte liegen in polnischer Sprache vor. Alle Interviews, die zur Analyse des Geschichtsbewusstseins der Narrateure dienen, wurden in vollem Umfang und wortlautgetreu transkribiert. Aus Gesprächen, die einen kontextualisierenden Charakter aufweisen, wurden zusammenfassende Auswertungen erstellt, die sich an den inhaltlichen Schwerpunkten des Gespräches orientieren. Alle Interviews und Transkripte befinden sich im Archiv der Autorin. Der Großteil der Gespräche wurde zu zwei Zeitpunkten im Forschungsprozess, im Mai 2011 und im Mai 2012, geführt und aufgenommen. Eine kleinere Anzahl von Gesprächen entstand zwischen der ersten und zweiten Erhebungsphase im Januar 2012 sowie am Ende des Entstehungsprozesses der Arbeit. Das erste große Interviewsample entstand im Mai 2011, als sich die Stadt auf dem Höhepunkt der ersten Bewerbungsphase um den Titel Kulturhauptstadt Europas befand. Es waren zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Wochen bis zur Entscheidung über die Vergabe des Titels. Zwar standen alle an der Bewerbung Beteiligten unter erheblichem Zeit- und Erfolgsdruck, die wichtigsten Akteure konnten jedoch trotz der angespannten Lage für ein Interview gewonnen werden. Die Interviews in dieser Hochphase der Bewerbung durchzuführen, stellte sich insofern als positiv heraus, als dass alle Beteiligten mit größter Motivation, Überzeugung und inhaltlicher Tiefe bei der Sache waren. Von narrativen, völlig Hierbei handelt es sich um das Gespräch mit Dominik Tokarski, der eine Zeit lang in Deutschland gelebt hat und sich sehr darüber freute, mit einer deutschen Gesprächspartnerin in ihrer Muttersprache sprechen zu können. Die Entscheidung, das Interview auf Deutsch zu führen, hat Tokarski zu Beginn des Interviews spontan getroffen.
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2 Untersuchungsgegenstand, Forschungsdesign, Quellen
freien Interviews wurde unter diesen Umständen abgesehen, vielmehr waren leitfadengestützte Befragungen das adäquate Mittel, auch um eine Vergleichbarkeit zwischen den Interviews herstellen zu können. Die Auswahl der Interviewpartner erfolgte auf Grundlage von Vorinformationen über die Strukturen des Bewerbungsverfahrens sowie durch Hinweise und Informationen während der geführten Interviews. Die so gefundenen Gesprächspartner waren mehrheitlich am Prozess der Bewerbung der Stadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas beteiligt. Die Interviewten gehörten entweder zu den Entscheidungsträgern innerhalb der Stadtverwaltung, zum Programmrat als intellektuellem Gremium zur Justierung der inhaltlichen Ausrichtung der Bewerbung oder zu den Mitarbeitern des Bewerbungsbüros, deren Zuständigkeit die Umsetzung der gefassten Ideen in konkrete Projekte für die Stadt, die Formulierung des Antrages und das grafische Design umfasste. Das zweite Interviewsample wurde ein Jahr später, im Mai 2012, zusammengestellt. Zu diesem Zeitpunkt war die Entscheidung, dass nicht Katowice sondern die niederschlesischen Nachbarn in Breslau den Wettbewerb um den Titel Kulturhauptstadt Europas für sich entschieden hatten, bereits getroffen und bekannt. Der Prozess der Redefinierung des städtischen Selbst- und Außenbildes kam mit der Wettbewerbsniederlage jedoch nicht zum Erliegen. Das Versprechen von Stadtpräsident Piotr Uszok, den Strukturwandel der Stadt in Richtung Kultur unabhängig vom Ausgang des Wettbewerbes weiter voranzutreiben, hatte bestand.¹¹⁵ Mit der Niederlage im Auswahlverfahren um den Titel Kulturhauptstadt Europas trat in Katowice demnach keine grundlegende Veränderung der Richtung im Transformationsprozess ein. Dennoch ergab sich durch Impulse, Beobachtungen und Gespräche im Feld eine Pluralisierung des Forschungsgegenstandes. So wurde meine Aufmerksamkeit beispielsweise auf die Initiative der Stadtverwaltung unter dem Titel Route der Moderne gelenkt. Diese nahm im Vergleich eine geringere Stellung im Redefinitionsprozess der städtischen Selbstund Fremdwahrnehmung ein als die Kulturhauptstadtsbewerbung. Dennoch wurden durch die Route der Moderne historische Narrationen im städtischen Raum verankert, die sich für eine Untersuchung als geeignet herausstellten. Auch für die Route der Moderne wurden Interviews mit denjenigen geführt, die für die inhaltliche Ausrichtung der Initiative zuständig waren, um ihre historische Reflexionstiefe sowie ihre prägenden Einstellungen zu Vergangenheit und Geschichte zu ergründen. Vgl. die Berichterstattung der Gazeta Wyborcza im Nachgang der Niederlage: Przemysław Jedlecki/Iwona Sobczyk: ESK nie dla Katowic, ale mamy plan „B“ [Katowice wird nicht Kulturhauptstadt Europas, aber wir haben einen Plan „B“], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. .
2.3 Quellengrundlage
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Während aller Interviewphasen sind neben den Interviews zum Geschichtsbewusstsein der Narrateure weitere Gespräche mit Personen entstanden, die weder direkt an der Bewerbung zur Kulturhauptstadt noch der Initiative zur Route der Moderne beteiligt waren. Dieses Interviewsample dient als Quellengrundlage für das letzte Kapitel Diskurse, das die Untersuchung abschließt. Hierbei handelt es sich um die eingangs erwähnten Interviews mit kontextualisierendem Charakter. Bei der Auswertung dieser Gespräche steht deshalb nicht in erster Linie das Geschichtsbewusstsein der Akteure im Mittelpunkt. Hier geht es vielmehr um eine Vervollständigung des Bildes zum öffentlichen Umgang mit Geschichte in Katowice, um eine Erweiterung des Fokus abseits der beiden oben erwähnten, seitens der Stadtveraltung lancierten Hauptnarrationen. Die Interviews ließen sich aufgrund der Heterogenität der Gruppe der Interviewpartner nicht standardisiert durchführen, sondern orientierten sich an einem themenbezogenen Leitfaden, der dem jeweiligen Handlungsfeld der interviewten Person angepasst wurde.
3 Theoretische Verortungen: öffentliche Geschichte zwischen Geschichts- und Erinnerungskultur Geschichte außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses wurde im Bereich der Geschichts- und Kulturwissenschaften bislang hauptsächlich unter dem Paradigma der Erinnerungs- und Gedächtnisforschung behandelt. In der Geschichtstheorie und Geschichtsdidaktik haben sich dafür die Leitbegriffe Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein etabliert. Flankiert wird dieses Spektrum neuerdings von Begriffen wie Public History oder Angewandte Geschichte. Eine einheitliche Definition öffentlicher Geschichte als Untersuchungsgegenstand liegt bislang nicht vor; auch ein etabliertes Analyseverfahren öffentlicher Geschichtsdarstellungen existiert noch nicht. Währenddessen wächst die Vielzahl außerakademischer Geschichtsangebote beständig weiter, und in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen herrscht eine virulente, interdisziplinäre Debatte über Definition, Stellenwert sowie angemessene Untersuchungsmöglichkeiten dieser Angebote. Es besteht demnach sowohl Definitionsbedarf in Bezug auf den Geltungsbereich öffentlicher Geschichte als auch in Hinsicht auf die anzuwendenden Analysemethoden für diese Phänomene. Die Termini, die das Feld bislang definieren, werden im Folgenden mit den dazugehörigen Theoriemodellen eingeführt und erklärt. Das ist insofern wichtig, als sich die Debatten um außerakademische Geschichtsdarstellungen zwischen Geschichts- und Kulturwissenschaften bzw. Geschichtsdidaktik teilweise überlagern. Teilweise wird in beiden Disziplinen mit ähnlichen Begriffen agiert, in anderen Aspekten gehen die Debatten weit auseinander. Um den Diskurs über den Definitionsbereich und die Untersuchungsmethoden öffentlicher Geschichtsdarstellungen zu ordnen sowie eine klare theoretische Grundlage zu schaffen, wird sowohl auf den kulturwissenschaftlichen Diskurs als auch die Standpunkte der Geschichtstheoretiker und -didaktiker eingegangen. Besondere Aufmerksamkeit erfährt dabei der Begriff Geschichte, da seine Definition in den unterschiedlichen Konzepten und Zugängen die größten Abweichungen aufweist. Die Definition von Geschichte bildet gleichzeitig den Ausgangspunkt für eine begründete Auswahl des Theoriemodells für diese Studie.
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3 Theoretische Verortungen
3.1 Public History und Angewandte Geschichte – zwei neue Begriffe für öffentliche Geschichtsdarstellungen? Geschichte in der Öffentlichkeit ist zu einem wichtigen Faktor geworden.¹ Seit den 1970er Jahren trägt ein international gestiegenes Interesse an Geschichte dazu bei, dass Angebot und Nachfrage an öffentlichen geschichtlichen Darstellungen beständig wachsen. Neue Museen, Gedenkstätten und Denkmäler entstehen, die Besucherzahlen geschichtsvermittelnder Einrichtungen steigen, gedruckte und visuelle Medien haben Geschichte als zentrales Thema entdeckt.² Zu einem sich stärker ausdifferenzierenden Bereich öffentlicher Geschichte gehören nicht zuletzt Geschichtsdienstleistungen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, im Auftrag von Unternehmen und Einrichtungen deren Geschichte zu erforschen und öffentlichkeitswirksam zu präsentieren.³ Außerhalb der Universitäten bilden sich zunehmend wirkmächtige Geschichtsbilder heraus, die, je nach Standpunkt, als Parallel- oder Konkurrenzangebot zur wissenschaftlich betriebenen Geschichte verstanden werden können. Die akademisch regulierte Forschung reagiert auf diese Herausforderungen immer weniger mit Abgrenzung, beide Sphären durchdringen sich vielmehr zunehmend, und die Grenzen zwischen akademischer und außerakademischer Geschichtsarbeit sind in Auflösung begriffen.⁴ Als Indiz für diese Entwicklung kann die Etablierung von Public-HistoryStudiengängen in den USA und Deutschland gesehen werden. In ihrem ursprünglichen Verständnis hatte sich Public History auf das außerakademische Arbeitsfeld von Historikern spezialisiert. Aus der Public History Bewegung heraus wurden in den USA seit den 1970er Jahren Lehrstühle und Studiengänge ge-
Ausführlicher zu den Ursachen einer sich immer weiter ausdifferenzierenden öffentlichen Geschichte siehe Juliane Tomann/Marcus Ventzke: Historia praktyczna [Praktische Geschichte], in: Robert Traba/Magdalena Saryusz-Wolska (Hg.) unter Mitarbeit von Joanna Kalicka: Modi Memorandi. Leksykon kultury pamięci [Modi Memorandi. Lexikon der Erinnerungskultur]. Warszawa , S. – . Vgl. Irmgard Zündorf: Zeitgeschichte und Public History, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, . . , URL: http://docupedia.de/zg/Public_History?oldid= (Zugriff . . ). Einblicke in das Feld geben: Barbara Korte/Sylvia Paletschek (Hg.): History Goes Pop. Zur Repräsentation von Geschichte in populären Medien und Genres. Bielefeld ; Christoph Kühberger/Andreas Pudlat (Hg.): Vergangenheitsbewirtschaftung: Public History zwischen Wirtschaft und Wissenschaft. Innsbruck u. a. ; Dieter Langewiesche: Zeitwende. Geschichtsdenken heute. Göttingen ; Wolfgang Hardtwig: Verlust der Geschichte – oder wie unterhaltsam ist die Vergangenheit? Berlin . Jacqueline Nießer/Juliane Tomann: Einleitung, in: dies. (Hg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn , S. – , hier S. .
3.1 Public History und Angewandte Geschichte
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gründet, die die Studierenden auf historische Arbeitsfelder außerhalb von Schulen oder Universitäten vorbereiten sollten. Inzwischen ist die Public History in institutionalisierter Form auch in Deutschland angekommen, wovon Studienangebote an der Freien Universität Berlin oder der Universität Heidelberg zeugen.⁵ Die ursprüngliche Bedeutung von Public History als Vorbereitung auf ein verändertes Arbeitsfeld für Historiker gerät dabei zunehmend in den Hintergrund. In einem erweiterten Verständnis reflektiert Public History nunmehr auch geschichtswissenschaftliche Grundlagen und will unter anderem die Sensibilität der Studierenden für die Nutzung von Quellen, aber auch für die Präsentationsformen der erarbeiteten Ergebnisse schärfen.⁶ Neben der fachlichen Qualifikation setzen sich angehende Public Historians deshalb mit Kriterien von Verständlichkeit, Anschaulichkeit und Zielgruppenorientierung der zu erstellenden geschichtlichen „Produkte“ auseinander. Zu diesem Prozess gehört auch die Reflexion über das Verhältnis von akademischer und außerakademischer historischer Wissensproduktion sowie über die Rezeption von Geschichte in der Öffentlichkeit. Einem „diffusionistischen Verständnis von Wissenschaftspopularisierung“⁷ wird somit ein aufgewerteter Begriff von nichtakademischen Geschichtsdarstellungen entgegengesetzt. Public History soll demnach Geschichte für ein nicht sachkundiges Publikum aufarbeiten und agiert mit einem erweiterten Geschichtsbegriff, der Geschichte als etwas definiert, das „die Allgemeinheit betrifft, von dieser selbst mitgestaltet wird und auch geschrieben werden kann“.⁸ Der Kreis der Akteure, der an der Entstehung historischen Wissens beteiligt ist, wird somit etwa um lokale Geschichtsinteressierte erweitert, die vom Rezipienten historischer Sinnbildungsangebote zu aktiv daran Mitwirkenden werden. Daraus ergibt sich eine neue Aufgabe für Public Historians, die darin besteht, „als Mediatoren zwischen Universitätshistorikern und Nicht-Akademikern (zu) fungieren.“⁹
Siehe das Angebot der Universität Heidelberg unter URL http://www.uni-heidelberg.de/fakultae ten/philosophie/zegk/histsem/forschung/publichistory.html; sowie der FU Berlin unter URL http://www.geschkult.fu-berlin.de/e/phm (beide Zugriffe . . ). Die zeitverzögerte Einführung von Public History in Deutschland kann auch darauf zurückgeführt werden, dass sich die Geschichtsdidaktik seit den er Jahren mit den öffentlichen Darstellungen von Geschichte beschäftigte. Vgl. Irmgard Zündorf: Public History und Angewandte Geschichte – Konkurrenten oder Komplizen?, in: Jacqueline Nießer/Juliane Tomann (Hg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn , S. – . Vgl. Frank Bösch/Constantin Goschler (Hg.): Der Nationalsozialismus und die deutsche Public History, in: dies. (Hg.): Public History. Öffentliche Darstellungen des Nationalsozialismus jenseits der Geschichtswissenschaft. Frankfurt/Main , S. – , hier S. . Vgl. Zündorf, Zeitgeschichte und Public History (), (Zugriff . . ). Vgl. Zündorf, Public History und Angewandte Geschichte (), S. .
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3 Theoretische Verortungen
Dass die virulente Debatte um Formen, wissenschaftlichen Stellenwert sowie eine adäquate Bezeichnung von Geschichte in der Öffentlichkeit in vollem Gange ist, macht ferner die in Deutschland parallel zu Public History entstandene Begriffsbildung Angewandte Geschichte deutlich. Unter dem Label Angewandter Geschichte firmiert im deutschsprachigen Raum inzwischen eine Vielzahl geschichtsbezogener Angebote, die von akademischen Lehrangeboten über kommerzielle historische Dienstleistungen¹⁰ bis hin zu zivilgesellschaftlichen Initiativen¹¹ reicht. Eine einheitliche Definition Angewandter Geschichte steht indes noch aus. Auch die bisherigen Publikationen zu Angewandter Geschichte beinhalten keine eindeutige Definition sondern dokumentieren vielmehr den Aushandlungsprozess der Reichweite und Tiefenschärfe des Begriffes. Festzuhalten ist jedoch, dass sich Angewandte Geschichte und Public History in ihrer Orientierung auf den Umgang mit historischem Wissen außerhalb der Universitäten vielfach überschneiden. Aus den bisherigen Debatten um ihre Konzeptionalisierung lässt sich ablesen, dass sich eine theoretisch reflektierte Angewandte Geschichte an Modellen der Geschichtsdidaktik orientiert und in einem akteursbezogenen Ansatz Kompetenzen des individuellen sowie gruppenspezifischen Umgangs mit Geschichte schulen möchte, um ein reflektiertes Geschichtsbewusstsein in der Bevölkerung zu fördern.¹² Auch die Fragen danach, wie eine Schnittstellenfunktion zwischen Öffentlichkeit und Wissenschaft aussehen kann, wie die Rückbezüge zwischen beiden Sphären gestaltet sein sollten, beschäftigen die Debatte um eine Definition Angewandter Geschichte. Neben dem Interesse an außerakademischer Geschichte ist für beide Ansätze eine noch im Entstehen begriffene Theoriebildung charakteristisch. Das betrifft sowohl den Aspekt des Geltungsbereiches, also die Frage, was öffentliche Geschichte abgesehen von der
Beispiele dafür sind das Zentrum für angewandte Geschichte an der Universität ErlangenNürnberg, das als Forschungseinrichtung historische Dienstleitungen kommerziell anbietet. Vgl. die Webseite der Einrichtung unter URL http://www.zag.uni-erlangen.de; ferner Geschichte.Präsent URL http://www.geschichte-praesent.de; make! history URL http://www.make-history.de; Facts & Files online unter URL http://www.factsandfiles.com und die Vergangenheitsagentur URL http://www.vergangenheitsagentur.de (Zugriffe am . . ). So etwa am Institut für angewandte Geschichte in Frankfurt (Oder). Vgl. die Webseite des Instituts unter URL http://www.instytut.net (Zugriff . . ). Die Idee angewandter Geschichte als zivilgesellschaftliche Form der Aushandlung historischen Wissens ist inzwischen auch in Serbien aufgegriffen worden. Dort hat sich das Forum für angewandte Geschichte in Belgrad gegründet. Vgl. die Webseite der NGO unter URL http://fpi.rs/ (Zugriff . . ). Vgl. Jacqueline Nießer/Juliane Tomann: Die Ironie der Praxis – Angewandte Geschichte an der Oder, in: dies. (Hg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn , S. – , hier S. – .
3.1 Public History und Angewandte Geschichte
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Funktion einer „Klammer“ oder eines „Sammelbeckens“¹³ aller Geschichtsbezüge außerhalb universitärer Zusammenhänge ausmacht. Es betrifft ferner die Frage, ob in den Begriffen ein Analysepotenzial für öffentliche Geschichtsdarstellungen angelegt ist. Für beide Ansätze ist dies ein zentraler Punkt: Sowohl Public History als auch Angewandte Geschichte beziehen sich auf die Konzepte Erinnerungs- und Geschichtskultur. Auf dem Weg einer selbstständigen Theoriebildung diskutieren beide neueren Zugänge die etablierten Theoriegebäude kritisch und entwickeln einzelne Aspekte weiter. Für die Koordinatorin des Public History Studiengangs an der Freien Universität Berlin, Irmgard Zündorf, sind die Ansätze einer Public History „wesentlich pragmatischer“ ausgerichtet, während das „Konzept der Geschichtskultur […] eher einen theoretischen Erklärungsrahmen aufspannt“. Sie argumentiert weiter, dass das theoretische Konzept der Geschichtskultur die „Analyse der Geschichte in der Öffentlichkeit“ bedeute, während Public History weniger als Theorie zu verstehen sei, denn als „Anwendungsfeld, das sowohl die Analyse als auch die Vermittlung von Geschichte in der Öffentlichkeit umfasst“.¹⁴ Gegenstand dieser Untersuchung ist die Analyse öffentlicher Geschichte in einem städtischen Raum. Aus den obigen Darstellungen der beiden neueren Begriffsprägungen Public History und Angewandte Geschichte geht hervor, dass sie für einen derartigen Phänomenbestand bislang keine tragfähigen Analysemodelle bereithalten. Sie gehören dennoch zu den theoretischen Ausgangspunkten dieser Untersuchung, da in der Debatte um Public History und Angewandte Geschichte immer wieder auf die theoretischen Grundlagen der beiden bereits etablierten Konzepte der Erinnerungs- und Geschichtskultur als Ausgangs- bzw. Bezugspunkt verwiesen wird. Diesen Verweisen soll im Folgenden nachgegangen werden, indem die Konzepte der Geschichts- und Erinnerungskultur gleichermaßen eingeführt und in ihren Schwerpunktsetzungen vorgestellt werden. Die Einführung in die Konzepte Geschichts- und Erinnerungskultur bildet somit einen weiteren Schritt auf dem Weg der Definition eines Analysemodells öffentlicher Geschichtsdarstellungen für diese Untersuchung.
Vgl. Wolfgang Hardtwig/Alexander Schug: Einleitung, in: Dies. (Hg.): History Sells! Angewandte Geschichte als Wissenschaft und Markt. Stuttgart , S. – , hier S. . Vgl. Zündorf, Zeitgeschichte und Public History (). Auch Stefanie Samida argumentiert, dass die Public History als junge Disziplin in Deutschland erst noch im akademischen Fächerkanon etabliert und institutionalisiert werden müsse. Sie schlägt dafür eine Öffnung der Public History in Richtung der empirischen Kulturwissenschaften bzw. kulturwissenschaftlicher Konzepte performativer Praktiken und Inszenierungen vor.Vgl. Samida, Public History als Historische Kulturwissenschaft (), (beide Zugriffe . . ).
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3 Theoretische Verortungen
3.2 Die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein Das Konzept der Geschichtskultur steht in der Tradition der Geschichtsdidaktik, die seit den Anfängen des Geschichtsbooms in der BRD Ende der 1970er Jahre ihren Interessensbereich systematisch erweitert hat: angefangen von der Schule bis zur Integration aller anderen Formen des öffentlichen Umgangs mit Geschichte.¹⁵ Die Geschichtsdidaktik trat, so der Zeithistoriker Martin Sabrow, damals „aus dem schulischen Klassenzimmer heraus, um sich den übergreifenden Mechanismen der Vergangenheitsvergegenwärtigung in der Gegenwart zu widmen.“¹⁶ Die bis dahin als klassisch geltenden Geschichtsinstitutionen Schule und Museum konnten angesichts des gestiegenen Geschichtsinteresses der deutschen Bevölkerung nicht mehr als die einzigen Orte der Vermittlung historischen Wissens betrachtet werden, sie waren mithin nur noch zwei unter vielen.¹⁷
Vgl. Bernd Schönemann: Geschichtskultur als Forschungskonzept der Geschichtsdidaktik, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik, Jahresband , S. – , hier S. . Bernd Schönemann macht im Prozess der Hinwendung der Geschichtsdidaktik zur Geschichte in der außerschulischen Öffentlichkeit und der Alltagswelt zwei deutlich voneinander abgrenzbare Phasen aus. Er charakterisiert die Jahre bis als erste Phase, in der die Didaktik den Bereich der öffentlichen Geschichte als Phänomen ansah und es entsprechend auch dort untersuchte, wo es auftrat: in historischen Museen und Ausstellungen, in den Medien, der Literatur sowie der Werbe- und Tourismusbranche. Den Beginn der zweiten Phase setzt Schönemann mit einem Vortrag des Geschichtstheoretikers Jörn Rüsen unter dem Titel Geschichtsdidaktik heute – Was ist und mit welchem Ende betreiben wir sie (noch)? an, in dessen Anschluss Geschichtskultur innerhalb der Disziplin zu einer eigenen Kategorie erhoben und als Forschungskonzept entfaltet wurde. Sie erhielt damit auch eine theoretische Aufwertung. Vgl. dazu auch Wolfgang Hasberg: Erinnerungskultur – Geschichtskultur, kulturelles Gedächtnis – Geschichtsbewusstsein. Aphorismen zu begrifflichen Problemfeldern, in: Zeitschrift für Geschichtsdidaktik (), S. – , hier S. . Vgl. Martin Sabrow: Nach dem Pyrrhussieg. Bemerkungen zur Zeitgeschichte der Geschichtsdidaktik, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe (), URL http://www.zeithistorische-forschungen.de/-Sabrow--, S., (Zugriff . . ). Auch wenn Sabrow den geschichtsdidaktischen Entwicklungen in Bezug auf die Zeitgeschichte skeptisch entgegentritt, unterstreicht er die Leistung der Geschichtsdidaktiker in den er Jahren. Sie haben „eine Neuorientierung ermöglicht, die von der Pragmatik der historischen Wissensvermittlung zu den Normen der historischen Wissensgeltung im Spannungsfeld von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorstieß.“ (Ebd.) Dass diese Entwicklung nicht von langer Dauer sein könne, macht bereits die Überschrift des Artikels deutlich – sie verweist auf den „Pyrrhussieg“ der Geschichtsdidaktiker. Ihren Ausgangspunkt nahm die verstärkte außerwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte in der BRD in einer veränderten Einstellung zu, sowie einer beginnenden kritischen Auseinandersetzung eines Großteils der deutschen Bevölkerung mit ihrer jüngsten Vergangenheit
3.2 Die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein
67
Diese Entwicklung aufgreifend, beschäftigte sich die Geschichtsdidaktik seither in einem denkbar umfassenden Sinne mit dem „Geschichtsbewusstsein in der Gesellschaft“. Dieses Postulat Karl-Ernst Jeismanns aus dem Jahr 1977 bildet den Referenzrahmen, in dem die „Vorstellungen von und Einstellungen zur Vergangenheit“ (Jeismann) in ihrer Entstehung und Funktionsweise erfasst und beschrieben, aber auch pragmatisch verändert werden sollen.¹⁸ Mit der Verlagerung des Untersuchungsinteresses hin zur Gesellschaft wurde neben dem Geschichtsbewusstsein fortan auch die Geschichtskultur zu einem zentralen Untersuchungsfeld für die Geschichtsdidaktik. Das Verhältnis zwischen Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur ist für geschichtsdidaktische Theoretiker ein wechselseitiges: Einerseits fungiert das Geschichtsbewusstsein als individuelles Konstrukt, das sich in Internalisierungs- und Sozialisationsprozessen bildet, während die Geschichtskultur ein kollektives Konstrukt ist, das auf dem Wege der Externalisierung entsteht und Objektivierungen historischen Wissens hervorbringt.¹⁹ Geschichtskultur nimmt das Auftreten sowie die Funktionsweisen von „Geschichte im Leben einer Gesellschaft“ in den Blick.²⁰ Damit geht das Konzept der Geschichtskultur über die reine Analyseebene der Phänomene von Geschichte in der Öffentlichkeit hinaus und fragt nach dem grundlegend Gemeinsamen einer Gesellschaft im Umgang mit Vergangenheit, das alle Arten von Manifestationen umfasst.²¹ So verstanden ist Geschichtskultur die Art und Weise, wie eine Gesellschaft mit ihrer Geschichte umgeht, diese institutionalisiert bzw. ihr Ausdruck in geschichtskulturellen Manifestationen verleiht. Rüsen versteht unter Geschichtskultur das Übergreifende und Verbindende, das allen Prozeduren der öffentlichen historischen Erinnerung eigen ist: – dem Zweiten Weltkrieg und dem Nationalsozialismus. Eine der Grundlagen für diesen mentalen Einstellungswandel der Deutschen in den er Jahren kann in der zu dieser Zeit als neuartig empfundenen Wirtschafts- und Energiekrise und den vom Club of Rome prognostizierten Grenzen des Wachstums gesehen werden. Vor allem aber der Generationenkonflikt des Jahres hatte bedeutenden Einfluss auf die sich verändernde Einstellung und den Umgang der Deutschen mit ihrer Vergangenheit. Zitate von Karl-Ernst Jeismann nach Schönemann, Geschichtskultur als Forschungskonzept (), S. . Vgl. Marko Demantowsky: Geschichtskultur und Erinnerungskultur – zwei Konzeptionen des einen Gegenstandes. Historischer Hintergrund und exemplarischer Vergleich, in: Geschichte, Politik und ihre Didaktik. Zeitschrift für historisch-politische Bildung / (), S. – , hier S. . Vgl. Bernd Schönemann: Museum als Institution der Geschichtskultur, in: Olaf Hartung (Hg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld , S. – , hier S. . Vgl. Jörn Rüsen: Historische Orientierung: Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins sich in der Zeit zurechtzufinden. Wien/Köln/Weimar .
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3 Theoretische Verortungen
So synchronisiert er [der Begriff Geschichtskultur, JT] Universität, Museum, Schule, Verwaltung, die Massenmedien und andere kulturelle Einrichtungen zum Ensemble von Orten der kollektiven Erinnerung und integriert die Funktionen der Belehrung, der Unterhaltung, der Legitimation, der Kritik, der Ablenkung, der Aufklärung und anderer Erinnerungsmodi in die übergreifende Einheit der historischen Erinnerung.²²
Alle Institutionen, die sich mit Vergangenheit und Geschichte auseinandersetzen, verbindet im Rahmen der Geschichtskultur der gemeinsame Auftrag der Pflege der Vergangenheit.²³ Die historische Fachwissenschaft hat demnach keine herausgehobene Stellung bei der Deutung der Vergangenheit, sie ist nur eine von zahlreichen Instanzen, die sich mit Geschichte und Vergangenheit beschäftigen. Das Geschichtskulturkonzept überschreitet demnach bewusst die Grenzen der akademischen Produktion historischen Wissens und bezieht außerakademische Formen der historischen Wissensproduktion mit ein – es fragt nach dem „Sitz des historischen Denkens im Leben“.²⁴ Das Verständnis von Geschichtskultur als umfassender Klammer zwischen dem wissenschaftlich regulierten Umgang mit Geschichte und Vergangenheit sowie den öffentlich wahrnehmbaren Manifestationen historischen Wissens ist sehr breit angelegt. Zur Ordnung ihrer Erscheinungsvielfalt führte Rüsen ursprünglich drei Dimensionen der Geschichtskultur ein, die er in einer Neuauflage seiner Historik um zwei weitere Dimensionen ergänzt hat.²⁵ Dieser anthropologisch fundierte Strukturierungsversuch der Geschichtskultur gliedert die drei Dimensionen in die Bereiche Kunst, Politik und Wissenschaft²⁶, bei der Erweiterung hinzugekommen sind Religion und Moral. Die fünf Bereiche korrespondieren jeweils mit den anthropologischen Grundmodi menschlicher Mentalität – Gefühl,Wille,Verstand, Glauben und Werten.²⁷ Innerhalb dieser fünf Bereiche und anhand der dazugehörigen Prinzipien verlaufen Prozesse historischer Sinnbildung, denen in geschichtskulturellen Manifestationen Ausdruck verliehen wird.
Ebd., S. . Vgl. Ulla Materne: Geschichtskultur am Beispiel von „Tür an Tür“, in: Inter Finitimos. Jahrbuch zur Deutsch-Polnischen Beziehungsgeschichte (), S. – , hier S. . Vgl. Rüsen, Historische Orientierung (), S. . Vgl. Jörn Rüsen: Historik. Theorie der Geschichtswissenschaft. Köln u. a. . Vgl. Rüsen, Historische Orientierung (), S. . Eine prägnante Übersicht über die Erweiterung der Begrifflichkeiten in der neuen Historik liefert Rüsen in: Jörn Rüsen: Die fünf Dimensionen der Geschichtskultur, in: Jacqueline Nießer/ Juliane Tomann (Hg.): Angewandte Geschichte. Neue Perspektiven auf Geschichte in der Öffentlichkeit. Paderborn , S. – .
3.2 Die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein
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Grundlegend für die historische Sinnbildung ist, dass diesen fünf Prinzipien – obwohl sie in einem notwendigen inneren Zusammenhang stehen – eine Tendenz zu wechselseitiger Instrumentalisierung und Dominanz innewohnt.²⁸ Sie stehen in einem „spannungsreiche(n) Verhältnis von Gegensätzlichkeit und Angewiesenheit […]. Instrumentalisierungstendenzen und Ausgewogenheitsbemühungen bestimmen die innere Dynamik eines komplexen Beziehungsgeflechtes.“²⁹ Die Praxis der Geschichtskultur ist demnach von Asymmetrien und Unterordnungsverhältnissen bestimmt. Zur vollständigen Entfaltung kommt die Geschichtskultur aber erst dann, wenn alle fünf Aspekte in gleichen Anteilen vertreten sind. Es ist jedoch immer einer der Modi, der den entscheidenden Ausschlag für eine historische Sinnbildung gibt, also für die Entstehung einer Narration im wissenschaftlichen oder außerwissenschaftlichen Bereich. Der ausschlaggebende Modus dominiert die entstandene Geschichte, während den restlichen lediglich eine untergeordnete Rolle zuteil wird. Die Dominanz einer der fünf Tendenzen bei der Entstehung einer Narration birgt die Gefahr einer Vereinseitigung, die das Sinnpotenzial der anderen Modi unterdrückt. Rüsen argumentiert, dass die menschliche Kultur maßgeblich von allen fünf Bereichen, also Kunst, Politik und Wissenschaft, Glauben und Werten bestimmt wird. Eine historische Sinnbildung, die allein über einen der fünf Modi abgelaufen ist, könne deshalb keine adäquate Orientierungsfunktion in der Lebenspraxis bieten. Vollzieht sich die historische Sinnbildung beispielsweise überwiegend anhand ästhetischer Mittel, werden Erfahrungen und Quellen der Sinnbildung entlang der historischen Erinnerung freigesetzt, die bei einem strikt wissenschaftlichen Zugriff nicht zutage treten würden. Zusammenfassend³⁰ lässt sich festhalten, dass sich Geschichtskultur als
Rüsen betont jedoch in seiner Erweiterung der Dimensionen, dass die „ersten drei [Dimensionen] geradezu maßgebend“ seien, während die religiöse und die moralische Dimensionen eine „Sonderrolle“ einnehmen. Vgl. Rüsen, Die fünf Dimensionen (), S. . Ebd., S. . Neben Jörn Rüsen haben unter anderem auch der Historiker Wolfgang Hardtwig und der Geschichtsdidaktiker Bernd Schönemann an Definitionen des Begriffes Geschichtskultur gearbeitet. So unterstreicht Hardtwig etwa die kulturelle Konstruktion von Vergangenheit, „die einer Gruppe oder Gesellschaft nicht naturwüchsig gegeben, sondern kulturell geschaffen ist“ und verweist auf die Vielfalt, Komplexität und unterschiedliche Verdichtung der Darstellungsmodi von Vergangenheit. Hardtwig geht wie Rüsen davon aus, dass die Geschichtsschreibung „in dieser Gesamtheit nur ein schmales, allerdings intellektuell konstitutives Segment“ bildet.Vgl. Wolfgang Hardtwig: Geschichtskultur, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart , S. – , hier S. . Bernd Schönemann versteht Geschichtskultur im Vergleich zu Rüsen stärker als soziale Ordnung und stellt die Frage der gesellschaftlichen Kommunikation des zu erinnernden Wissens in den Mittelpunkt. In seinem an gesellschaftlicher Kommunikation orientierten Konzept der Geschichtskultur fokussiert er auf die
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3 Theoretische Verortungen
Art und Weise charakterisiert, wie Gesellschaften mit ihrer Vergangenheit in der Gegenwart umgehen. Wissenschaftliche wie außerwissenschaftliche Repräsentationen und Manifestationen von Geschichte haben bei diesem Ansatz den gleichen Stellenwert. Die Geschichtskultur einer Gesellschaft bildet den Rahmen, in dem historische Sinnbildungsprozesse stimuliert, gleichzeitig aber auch reguliert werden. Geschichtskultur steht wiederum in einem engen, sich gegenseitig ergänzenden Verhältnis zum Geschichtsbewusstsein. Die Beziehungen zwischen den Institutionen und Organisationsformen der Geschichtskultur und dem individuellen Geschichtsbewusstsein fallen unterschiedlich intensiv aus. So können Museen, Denkmäler oder Jahrestage als Phänomene der Geschichtskultur von Individuen unbeachtet oder unverstanden bleiben, während andere große Aufmerksamkeit erfahren. Während also die Geschichtskultur auf einer überindividuellen Ebene angesiedelt ist, laufen im Geschichtsbewusstsein individuelle Prozesse der Vergangenheitszuwendung und -auseinandersetzung ab.³¹ Geschichtsbewusstsein³² ist somit ein voraussetzungsvoller Begriff, der, von heute aus betrachtet, bereits über eine umfangreiche Begriffsgeschichte verfügt und im Laufe der Zeit unterschiedliche Ausprägungen und Interpretationen erfahren hat. Die Erklärungszusammenhänge und Zugangsweisen hinter dieser komplexen Begriffsbildung sind entsprechend vielgestaltig, und die einzelnen Argumentationsstränge verfügen selbst über eine historische Dimension. Der Begriff ist ferner keine geschichtsdidaktische creatio ex nihilo, sondern nimmt Anleihen sowohl im Bereich der Psychologie als auch der Soziologie. Geschichtsbewusstsein kann, etwas allgemeiner ausgedrückt, als Wissen um die Geschichtlichkeit von Mensch und Welt beschrieben werden, und zwar in dem Sinne, dass der Mensch und die von ihm geschaffenen Dinge in der Zeit
Rolle von Institutionen sowie spezifischen Akteursgruppen.Vgl. Schönemann, Geschichtsdidaktik und Geschichtskultur (), S. f. Der Geschichtsdidaktiker Lars Deile verwies kürzlich darauf, dass die definitorische Begründung einer Trennung zwischen kollektiver Geschichtskultur und individuellem Geschichtsbewusstsein begrifflich zu kurz greife. Auch Kultur sei „niemals nur kollektiv möglich. Vielmehr bezeichnet der Begriff gerade die Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft durch Prozesse von Internalisierung und Externalisierung.“ Vgl. Lars Deile: Didaktik der Geschichte,Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, . . , URL http://docupedia.de/zg/Di daktik_der_Geschichte?oldid= (Zugriff . . ). Seit dem Aufkommen des Begriffes Geschichtsbewusstsein im Jahr wurde er fortwährend weiterentwickelt, vielfach nach fachinternen, kontroversen Debatten modifiziert und hat nunmehr den Status einer „Zentral- oder Fundamentalkategorie“ in der Geschichtsdidaktik erlangt. Vgl. Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewusstsein – Theorie, in: Klaus Bergmann u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. . Aufl. Seelze-Velber , S. – , hier S. .
3.2 Die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein
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existieren, folglich über eine Herkunft und Zukunft verfügen und deshalb nichts Stabiles, Unveränderliches sind.³³ Nach Karl-Ernst Jeismann meint Geschichtsbewusstsein deshalb auch mehr als das bloße Wissen oder reine Interesse an Geschichte, es ist vielmehr die „Art, in der Vergangenheit in Vorstellung und Erkenntnis gegenwärtig ist“.³⁴ Diese Bestimmungen setzen eine theoretische Zugangsweise zum Begriff Geschichte voraus, die sich gegen die Vorstellung von Geschichte als einem Abbild vergangener Wirklichkeiten wendet. Geschichte ist in diesem Verständnis vielmehr eine „aus Zeugnissen erstellte, auswählende und deutende Rekonstruktion“, die nur als solche „ins Bewusstsein treten kann.“³⁵ Konsequenterweise ist Geschichte für Jeismann daher auch nichts anderes als gegenwärtiges Bewusstsein. Das Wissen um die Geschichtlichkeit des Selbst und der Dinge in der Welt lässt die Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als Horizont menschlichen Bewusstseins erscheinen. Geschichtsbewusstsein ist das Bewusstsein davon, wie diese drei Zeitebenen miteinander in Verbindung stehen. Diese Einsicht bildet die Grundlage für die inzwischen als klassisch geltende Definition von Geschichtsbewusstsein als „Zusammenhang von Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartsverständnis und Zukunftsperspektive“ (Jeismann).³⁶ Während die Geschichtskultur den Phänomenbestand, den verobjektivierten, manifest gewordenen Haushalt an Geschichte einer gesellschaftlichen Gruppe erfasst, beschreibt das Geschichtsbewusstsein die individuellen Einstellungen und Herangehensweisen derjenigen, die für das Entstehen einer geschichtskulturellen Manifestation verantwortlich sind. Geschichtsbewusstsein setzt das Wissen voraus, dass die Rekonstruktionen der Vergangenheit grundlegend an die „Erkenntnismöglichkeiten, die Deutungswünsche“ und „die lebensweltlichen Fragestellungen“³⁷ der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft gebunden sind. Das Geschichtsbewusstsein erklärt Vorstellungen von Geschichte aus der spezifischen Konstellation jeweils gegenwärtiger Bedürfnisse und Erfah-
Vgl. Theodor Schieder: Geschichtsinteresse und Geschichtsbewusstsein heute, in: C. J. Burckhardt (Hg.): Geschichte zwischen Gestern und Morgen. München , S. – , hier S. . In ähnlicher Weise definierte Volkhard Knigge Geschichtsbewusstsein als das „Vermögen, Geschichte und Geschichtsdeutungen, historische Sinn- und Identitätsangebote – oder -zumutungen – zu hinterfragen und in ihrer Genese aufschließen und erschließen zu können.“ Vgl. Volkhard Knigge: Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? Warum Erinnerung allein in eine Sackgasse für historisch-politische Bildung führen muss, in: ders. (Hg.): Kommunismusforschung und Erinnerungskultur in Ostmittel- und Westeuropa. Köln u. a. , S. – , hier S. . Vgl. Jeismann, Geschichtsbewusstsein (), S. . Ebd., S. . Ebd., S. .
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3 Theoretische Verortungen
rungen. Es ermöglicht damit einen Einblick in die Partialität und Historizität von Vergangenheitsbezügen und -deutungen sowie eine Analyse der Legitimationsstrategien von Geschichtsbildern, wobei es gleichzeitig ihren Absolutheitsanspruch in Frage stellt. Verschiebt man den Akzent vom ersten Wortbestandteil Geschichte stärker in Richtung Bewusstsein wird deutlich, dass der Begriff Geschichtsbewusstsein eine auf das eigene Ich bezogene Komponente besitzt. Neben der Rationalität im Umgang mit historischen Zeugnissen gehört zum Geschichtsbewusstsein, genau wie zu allem anderen Bewusstsein, unabdingbar eine auf das Selbst bezogene Aufmerksamkeit. Jeismann nennt diese, die Reichweite der eigenen Deutungen in den Blick nehmende und gleichzeitig das relative Recht anderer Interpretationen des Vergangenen abwägende Aufmerksamkeit „Reflexibilität“.³⁸ Diese Aufmerksamkeit für die eigenen Wahrnehmungen und Deutungen von Geschichte sind Ausdruck eines seit den 1970er Jahren gewandelten Geschichtsverständnisses: Geschichte wurde nicht mehr als Gegebenheit vergangener Tatsachen angesehen, die lernend angeeignet werden kann. Ebenfalls in den 1970er Jahren verschiebt sich die Bedeutung des Begriffes Bewusstsein weg von der Vorstellung eines mit Geschichte anzureichernden Containers. In Kombination beider Bedeutungsverschiebungen entsteht Geschichtsbewusstsein als dynamischer Begriff, der die „Produktionsstätte“ bezeichnet, „in der historisches Wissen überhaupt erst dazu befähigt wird, eine sinnvolle Funktion in der menschlichen Lebenspraxis zu erfüllen.“³⁹ Im Begriff des Geschichtsbewusstseins konstituiert sich der Gegenstand, also Geschichte, „erst im Prozeß des Ergreifens, [Geschichte] wird vom Bewußtsein geschaffen als eine gegenwärtige Vorstellung.“⁴⁰ Jörn Rüsens Überlegungen zur Entstehung von Geschichtskultur und der damit verbundenen Arbeit des Geschichtsbewusstseins sind im Zusammenhang seiner Historik entstanden.⁴¹ In seinem grundlegenden Werk beschäftigt sich Rüsen mit der Frage, wie historisches Denken motiviert wird, entsteht, sich entfaltet und schließlich ausdrückt. Den Ursprung jeden historischen Denkens spürt Rüsen in der Lebenspraxis auf, in dem Bedürfnis, sich in Raum und Zeit zu orientieren. Demnach aktiviert sich das menschliche Geschichtsbewusstsein immer
Vgl. Karl-Ernst Jeismann: Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie der Geschichtsdidaktik, in: Gerhard Schneider (Hg.): Geschichtsbewusstsein und historisch-politisches Lernen. Pfaffenweiler , S. – . Vgl. Rüsen, Historische Orientierung (), S. . Vgl. Jeismann, Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie (), S. . Vgl. Jörn Rüsen: Grundzüge einer Historik, Bde.: Historische Vernunft. Die Grundlagen der Geschichtswissenschaft. Göttingen ; Rekonstruktion der Vergangenheit. Göttingen ; Lebendige Geschichte. Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen .
3.2 Die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein
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dann, wenn eine gegenwärtig erlebte Situation als kontingent oder irritierend erfahren wird und ein Orientierungsbedürfnis bzw. Handlungsbedarf entsteht. Kontingenzerfahrungen und interpretationsbedürftige Sinnbrüche in der Gegenwart können nur durch einen Rückgriff auf Vergangenes bewältigt werden. Rüsen vertritt somit eine anthropologische Grundhaltung und argumentiert, dass zur Sicherung der menschlichen Handlungsfähigkeit in der Gegenwart allein die Vergangenheit als mögliche Referenzdimension in Betracht kommt, da nur sie als menschlicher Erfahrungsraum zur Verfügung steht. Indem sich das Geschichtsbewusstsein mit dem Orientierungsproblem der Gegenwart in einer Art Anfrage an die Vergangenheit richtet, wird diese in Form von Erinnerung vergegenwärtigt. Unter Erinnerung⁴² versteht Rüsen das gesamte Repertoire der Repräsentationen an Vergangenheit, auch wenn diese Geschehnisse zeitlich sehr weit zurückliegen. Die Erinnerung enthält einen Erfahrungsbestand, anhand dessen das in der Gegenwart Deutungsbedürftige verstanden und durch das Verstehen auch handelnd bewältigt werden kann. Die Erinnerung hat demnach bedeutenden Einfluss auf das eigene Handeln und gestaltet darüber die Zukunft des handelnden Menschen. Der Erinnernde oder Rekonstruierende ist folglich immer an seinen Standpunkt in der Gegenwart gebunden und stellt seine Fragen an die Vergangenheit vor seinem spezifischen gesellschaftlichen, sozialen aber auch mentalen Hintergrund. Somit adressiert die Erinnerung an die Vergangenheit immer auch Gegenwart und Zukunft als Dimensionen und Rahmen, in denen sich menschliches Leben vollzieht. Das Eigentümliche des Geschichtsbewusstseins besteht mit Blick auf die zeitlichen Dimensionen darin, dass es Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mithilfe von Sinnbildungen zu umschließen vermag. Durch die Erinnerung an die Vergangenheit stellt das Geschichtsbewusstsein die Vorstellung eines zeitlichen Verlaufes der Dinge in der Welt her, es kreiert eine Zeitverlaufsvorstellung. Das Geschichtsbewusstsein bindet das menschliche Leben in größere zeitliche Zusammenhänge ein, verortet es in einem Zeitverlauf, der aus der Vergangenheit in die Gegenwart hineinragt und in die Zukunft verweist. Zeit wird somit gedeutet und mit Sinn versehen. Anhand dieser Deutungen können Menschen sich im Zusammenhang ihrer Welt besser verstehen, sich und andere in ein Verhältnis zueinander setzen, sich schließlich in ihrer Gegenwart orientieren. Rüsen geht davon aus, dass die Vergangenheit dem Geschichtsbewusstsein als Reservoir oder Erfahrungsraum dient, aus dem heraus die Gegenwart verstanden und die Zukunft sinnvoll geplant werden kann. Erinnerung wird von Rüsen in einer anderen Bedeutung verwendet, als es etwa die kulturwissenschaftliche Erinnerungsforschung tut. Vgl. den nachfolgenden Abschnitt im Text sowie Jörn Rüsen: Geschichtskultur, in: Klaus Bergmann u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. . Aufl. Seelze-Velber , S. – , hier S. .
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3 Theoretische Verortungen
Dieses Verständnis von Geschichtsbewusstsein identifiziert Rüsen als grundlegenden Mechanismus historischen Denkens, der jeder Art der Auseinandersetzung mit Vergangenem eigen ist; sowohl die wissenschaftliche als auch die individuelle Beschäftigung mit Geschichte und Vergangenheit unterliegen ihm. Dargestellt hat Rüsen das in seinem sogenannten Regelkreis. Der Ursprung historischen Denkens besteht demnach im menschlichen Bedürfnis, sich in der Gegenwart zu orientieren. Dieses artikuliert sich in Interessen, die im praktischen Lebensvollzug meist auf die Veränderung der eigenen Lage drängen bzw. aus einer Kontingenzerfahrung herrühren. Diese werden in Ideen übersetzt, die auf eigenen Vorerfahrungen beruhen und beschreiben, was genau in Erfahrung gebracht werden soll. Diese wiederum bestimmen die Methoden, die dabei zum Einsatz kommen, um ein zuverlässiges Ergebnis zu erlangen. Anschließend müssen Formen gefunden werden, die das erlangte Ergebnis zur Darstellung bringen. Während die ursprünglichen Interessen im Bereich der Lebenspraxis verortet sind und die sich darüber wölbenden Leitideen, Methoden und Formen dem Bereich der Fachwissenschaft angehören, sind die Funktionen, die das erschlossene Wissen erfüllen, wieder Teil der Lebenspraxis. Ist der Prozess im oberen Teil des Kreises, in der Fachwissenschaft, abgeschlossen, dient er der Daseinsorientierung und wirkt zurück auf die Lebenspraxis – so beginnt der Prozess von neuem.⁴³ Die Bedeutung der Gegenwart als Ausgangspunkt von Geschichte und als Zweck oder Ziel für Geschichte verdeutlicht der Regelkreis in besonderem Maße. Wichtig für den Zusammenhang dieser Untersuchung ist, dass aus dem Regelkreis historischen Denkens deutlich hervorgeht, dass auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Geschichte eine lebensweltliche Verwurzelung aufweist. Sowohl Geschichte als auch die Geschichtswissenschaft haben den Status anthropologischer Fundamente. Im alltäglichen Leben dient Geschichte dazu, „Zeit lebbar zu machen“.⁴⁴ Auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit Geschichte ist in Rüsens Vorstellung nicht interesselos oder autonom, sondern eine anthropologisch fundierte Disziplin. In Rüsens Verständnis ist die wissenschaftliche Bearbeitung der Geschichte demnach nichts anderes als ein Spezialfall historischen Denkens.⁴⁵ Eine strikte Trennung von akademischer und außerakademischer Produktion historischen Wissens wird in dieser Sichtweise aufgehoben. Die hier vorgestellten theoretischen Zugangsweisen zu Geschichtsbewusstsein und Geschichtskultur betonen in ihrer Sicht auf Vergangenheit und Geschichte den konstruktivistischen Charakter historischen Wissens. Geschichte wird nicht als Vgl. Hans-Jürgen Goertz: Umgang mit Geschichte. Eine Einführung in die Geschichtstheorie. Hamburg , S. . Vgl. Rüsen, Historik (), S. . Vgl. Goertz, Umgang mit Geschichte (), S. f.
3.2 Die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein
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Grafik 1: Der Prozess historischen Denkens in seiner lebensweltlichen und fachwissenschaftlichen Dimension. Die ursprüngliche Darstellung des Regelkreises befindet sich in Rüsen, Historische Vernunft (1983), S. 29. Die hier abgebildete Version verortet ferner die politische, kognitive und ästhetische Dimension der Geschichtskultur im Prozess historischen Denkens. Die Abbildung stammt aus T. Müller (u.a): Grundlagen des Historischen Denkens, in: GEOGES. Kollaboratives Wiki des Instituts für transdisziplinäre Sozialwissenschaft und deren Fach- und Mediendidaktik URL http://geoges.ph-karlsruhe.de/mhwiki/index.php5/Grundlagen_des_Histo rischen_Denkens (Zugriff 22. 09. 2014); grafische Bearbeitung: Nadja Epperlein.
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3 Theoretische Verortungen
Wesenheit verstanden, sie ist nichts genuin Gegebenes. Oder anders gesagt: Außerhalb der „Operationen des Geschichtsbewusstseins“ entsteht keine Geschichte.⁴⁶ Die Theorie des Geschichtsbewusstseins und der Geschichtskultur fokussiert demnach auf den Aspekt des Gemacht-Seins von Geschichte. Die Bedingungen, unter denen Geschichte entsteht, werden analysierbar und ermöglichen einen Blick hinter die Konstrukte, die landläufig als Geschichte verstanden werden. Anhand des Geschichtsbewusstseins kann nachvollziehbar werden, wie aus der Fülle vergangenen Geschehens im Bewusstsein des Menschen Sequenzen ausgewählt, mit Sinn und Bedeutung versehen und auf dieser Grundlage zu einer für Gegenwart und Zukunft bedeutungs- und sinnvollen Geschichte zusammengefügt werden. In der Geschichtskultur entstehen Materialisierungen dieser Geschichten, die aufgrund ihrer Konstruiertheit einer Analyse unterzogen werden können.
3.3 Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur Der erinnerungskulturelle Diskurs geht von einem anderen Geschichtsverständnis aus. Das parallel zur Geschichtskultur in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften bestehende Konzept Erinnerungskultur trennt Geschichte von Erinnerung und Gedächtnis. Letzteres sei dabei das Lebendige, an die Gesellschaft Gebundene, die Geschichte hingegen das an wissenschaftlichen Tatsachen orientierte Wissen.⁴⁷ Das Konzept Erinnerungskultur entwickelte sich im Zusammenhang der Ende der 1980er Jahre aufkommenden Rezeption der theoretischen Arbeiten des französischen Soziologen Maurice Halbwachs zu den sozialen Bedingungen des Gedächtnisses aus den 1920er Jahren⁴⁸ sowie des französischen Projektes der Gedächtnisorte (1984 bis 1992) von Pierre Nora. Jan Assmann verlieh
Ebd., S. . Vgl. Maurice Halbwachs: Das kollektive Gedächtnis. Frankfurt/Main , besonders S. ff. Seinen Ausgangspunkt nimmt die Entwicklung des Erinnerungsparadigmas in Halbwachs’ Annahme, dass es ein strikt individuelles Gedächtnis nicht geben könne, da der Vorgang des Erinnerns immer bereits an soziale Vorstellungen gekoppelt ist. Das Kollektiv als Wahrnehmungsgemeinschaft, das über gemeinsame Wahrnehmungsschemata verfügt, indem es Begriffe, Bilder, Symbole, Riten und Werte zur Verfügung stellt, steuert bereits die Erfahrung, also die ursprüngliche Wahrnehmung des später Erinnerten. Als Erinnerungsgemeinschaft stellt das Kollektiv aber auch Erinnerungsschemata zur Verfügung. Das kollektive Gedächtnis besteht folglich nicht allein in der Gesamtheit der materiellen Erinnerungen, sondern umfasst auch die ihm inhärenten Regeln des Erinnerns.Vgl. Ebd. Ferner dazu Wolfgang Hasberg: Erinnerungs- oder Geschichtskultur? Überlegungen zu zwei (un‐)vereinbaren Konzeptionen zum Umgang mit Gedächtnis und Geschichte, in: Olaf Hartung (Hg.): Museum und Geschichtskultur. Ästhetik – Politik – Wissenschaft. Bielefeld , S. – , hier S. f.
3.3 Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur
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dem gesteigerten Interesse der Kultur- und Geschichtswissenschaften an der Erforschung von individuellem oder kollektivem Gedächtnis eine theoretische Grundlage⁴⁹, bevor die Erinnerungsforschung in einen bis heute anhaltenden, inzwischen ausführlich diagnostizierten, Memoryboom⁵⁰ mündete. Infolge dieser Konjunktur wurde die Trias Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur mit den Attributen „neues Paradigma“ oder „Leitbegriff“ für die Kultur- und Geschichtswissenschaften versehen.⁵¹ Konsultiert man auf der Suche nach einer Definition des Gegenstandes der Erinnerungskultur den Grundlagenaufsatz von Christoph Cornelißen, erhält man den Verweis auf kulturelle, politisierte oder kommerzialisierte – also genuin außerakademische – Vergangenheitsbezüge als erinnerungskulturelles Kerngeschäft.⁵² Diese werden unter der Fragestellung erforscht, wie die Vergangenheit von Gesellschaften oder Gruppen im Bewusstsein gehalten oder vergegenwärtigt wird. Hans Günter Hockerts versteht unter Erinnerungskultur einen „lockere[n] Sammelbegriff für die Gesamtheit des nicht spezifisch wissenschaftlichen Gebrauches der Geschichte in der Öffentlichkeit – mit den verschiedensten Mitteln
Vgl. Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München . Reflexionen zum Memoryboom finden sich unter anderem bei Jay Winter: Die Generation der Erinnerung. Reflexionen über den „Memory-boom“ in der zeithistorischen Forschung, in: Werkstatt Geschichte (), S. – .; Sharon Macdonald: Memorylands. Heritage and Identity in Europe Today. London . Vgl. Kornelia Kończal: Geschichtswissenschaft, in: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/ Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart , S. – , hier S. . Zu diesem bemerkenswerten Durchbruch und einer bis heute andauernden festen Verankerung der Bergriffe in der deutschen Wissenschaftslandschaft verhalfen außerdem zwei weitere Tendenzen. Die Hirn- und Gedächtnisforschung spezialisierte sich zur gleichen Zeit auf die (natur)wissenschaftliche Fundierung des Terminus Erinnerung, löste ihn aus dem bis dahin vorrangig von der Psychologie besetzten Feld und machte ihn für andere Disziplinen anschlussfähig. Zeitgleich versuchte sich die Kulturwissenschaft im deutschsprachigen Raum als neue Wissenschaftsdisziplin zu etablieren und tat dies auch unter Berufung auf die Begriffe Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur, die die historische Bedeutung subjektiver Erlebniswelten gegen die strukturfixierten und theoriegeleiteten Analysen der historischen Sozialwissenschaften Bielefelder Provenienz ins Feld führte. Vgl. dazu die Aufsätze von Egon Flaig: Kinderkrankheiten der Neuen Kulturgeschichte sowie Heinz-Dieter Kittsteiner: Die Krisis der Historiker-Zunft, beide in: Rainer Maria Kiesow/Dieter Simon (Hg.): Auf der Suche nach der verlorenen Wahrheit. Zum Grundlagenstreit in der Geschichtswissenschaft. Frankfurt/Main , S. – sowie S. – . Vgl. Christoph Cornelißen: Was heißt Erinnerungskultur? Begriffe – Methoden – Perspektiven, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht (), S. – .
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3 Theoretische Verortungen
und für die verschiedensten Zwecke“.⁵³ Erinnerungskultur wird damit zu einem Oberbegriff für die Thematisierung historischer Ereignisse, Personen oder Prozesse, unabhängig davon, in welcher Form diese anzutreffen sind.⁵⁴ Der Begriff Erinnerungskultur umfasst alle Repräsentationsformen von Vergangenheit und bezieht den geschichtswissenschaftlichen Diskurs ebenso mit ein wie private Erinnerungen, solange sie öffentliche Spuren hinterlassen haben.⁵⁵ Gegenstand der Erinnerungskulturforschung sind demnach Objektivierungen, also das Sichtbarwerden von Erinnerungen in unterschiedlichsten Ausprägungen. Fasst man den Forschungsgegenstand im Plural, also als Erinnerungskulturen⁵⁶, kommen Strategien der Etablierung und Durchsetzung von Erinnerungskulturen innerhalb einer Großgruppe oder zwischen ihnen (z. B. nationalen Gruppen) in den Blick, die miteinander um Aufmerksamkeit und Reputation konkurrieren. Erinnerungskultur besteht zum einen aus dem bewussten und individuellen Akt des Erinnerns, der durch die jeweiligen kulturellen Rahmen bedingt und geprägt ist, in denen sich der Einzelne erinnert.⁵⁷ Dieser Zusammenhang wurde u. a. von der Literaturwissenschaftlerin Astrid Erll herausgearbeitet, die mit ihrer Definition von Erinnerungskulturen auf den Konnex von Kultur und Gedächtnis verweist. Sie zeichnet eine Rückkopplung bzw. Durchdringung beider Ebenen nach: Der Einzelne erinnert auf individueller Ebene immer in soziokulturellen Kontexten, andererseits entsteht Kultur aber erst durch die Etablierung eines kollektiven Gedächtnisses, das sich in Medien, Symbolen und Institutionen ausdrückt. Erst die Untersuchung von Erinnerungsakten innerhalb einer bestimmten Erinnerungskultur lässt Rückschlüsse auf die Art und das Funktionieren
Vgl. Hans Günter Hockerts: Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (), S. – , hier S. . Vgl. Cornelißen, Erinnerungskultur (), S. . Cornelißen verweist darauf, dass eine so verstandene Erinnerungskultur synonym zur Geschichtskultur sei. Allerdings macht er deutlich, dass im Rahmen der Erinnerungskultur eine gleichberechtigte Betrachtung aller Formen der Aneignung erinnerter Vergangenheit im Vordergrund stehe, während die Geschichtskultur in Cornelißens Verständnis stärker auf die kognitive Dimension des Geschichtswissens konzentriert sei. Ebd., S. . Vgl. Astrid Erll: Kollektives Gedächtnis und Erinnerungskulturen. Eine Einführung. Stuttgart . Vgl. bspw. dazu den Eintrag zu Erinnerung und Gedächtnis, der auf dem zeithistorischen Fachportal Docupedia unter der Rubrik „Begriffe“ geführt wird.Vgl. Sabine Moller: Erinnerung und Gedächtnis, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, . . , URL https://docupedia.de/ zg/Erinnerung_und_Ged.C.Achtnis?oldid= (Zugriff . . ).
3.3 Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur
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des kollektiven Gedächtnisses zu, das sich als solches einer Untersuchung generell entzieht.⁵⁸ Grundlegend für das Verständnis von Erinnerungskulturen ist die Frage danach, wie Gesellschaften Wissen „(zwischen)speichern“, um es zu einem späteren Zeitpunkt und für divergente Adressaten wieder abrufbar zu machen. Gedächtnis und Erinnerung sind – auf einer individuellen Ebene – die Modi, in denen Wissen gespeichert und verarbeitet werden kann. Kollektiv wird Gedächtnis dann, wenn eine Großgruppe sich aufgrund gesellschaftlicher Bedingungen an gewisse Ereignisse in einer ähnlichen Weise erinnert. Eine von Astrid Erll vorgeschlagene Definition von kollektivem Gedächtnis geht in ihrer Breite bewusst über die ursprünglichen Zugriffe von Halbwachs und später Nora hinaus, die das kollektive Gedächtnis als die der Geschichtswissenschaft entgegenstehende Gruppenerinnerung definieren.⁵⁹ Erll sieht das kollektive Gedächtnis in einem differenzierteren Ansatz als „Oberbegriff für all jene Vorgänge organischer, medialer und institutioneller Art, denen Bedeutung bei der wechselseitigen Beeinflussung von Vergangenem und Gegenwärtigem in soziokulturellen Kontexten zukommt.“⁶⁰ Es geht um eine vielgestaltige Palette möglicher Verbindungen zwischen Kultur, Gedächtnis und der Erinnerung Einzelner sowie zwischen Vergangenheit und Gegenwart und den Bezügen, die zwischen den beiden Zeitebenen hergestellt werden. Entscheidend für die Definition des kollektiven Gedächtnisses als eines Gesamtkontextes verschiedenartiger kultureller Phänomene ist die Rückwirkung, die der kulturelle Kontext auf die Art und Beschaffenheit von Erinnerung hat. Doch bevor von diesen Verknüpfungen die Rede sein wird, verschafft ein Blick auf die theoretischen Voraussetzungen von Gedächtnis und Erinnerung begriff Vgl. Mathias Berek: Kollektives Gedächtnis und die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Erinnerungskulturen. Wiesbaden . Eine von der Wissenssoziologie inspirierte Theorie der Erinnerungskultur stellt ihren konstruktiven Charakter in den Mittelpunkt und fragt nach deren „Eigenschaften und Funktionen für die Wirklichkeit einer Gesellschaft.“ Erinnerungskultur bezeichnet dann die „gesellschaftlichen Prozesse […], in denen Vergangenheit reproduziert wird“ auf der Grundlage von im Alltag vorhandenen Wissensstrukturen, in denen Menschen sich in kollektiven Prozessen das erschaffen, was ihnen als „objektiv gegebene ‚Welt‘ erscheint Mit dem Fokus auf die Zusammenhänge der Konstruktion von Wirklichkeit besteht auch die Frage nach dem Wissensvorrat einer Gesellschaft und danach, wie dieser durch Prozesse der Tradierung und Sedimentierung gesellschaftlichen Wissens entsteht. Vgl. S. . Ziel der Untersuchung Erlls ist es, die beiden gängigen Modi der Erinnerung, das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis zusammen zu denken und unter Berücksichtigung ihrer Interdependenz unter dem neuen Begriff Cultural Memory Studies zu vereinen. Der breit angelegte Zugriff zielt auf eine Erklärung des Wechselspiels zwischen Gegenwart und Vergangenheit in soziokulturellen Kontexten. Vgl dazu auch Astrid Erll/Ansgar Nünning (Hg.): Cultural Memory Studies. An International and Interdisciplinary Handbook. Berlin/New York . Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis (), S. .
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3 Theoretische Verortungen
liche Klarheit. Gedächtnis ist eine Fähigkeit oder eine veränderbare (körperliche) Struktur, die nicht zu beobachten ist.⁶¹ Es ist ein virtuelles mentales System, das als individuelles neuronales Konstrukt funktioniert und einer Infrastruktur gleichkommt, während Erinnerung etwas Aktuelles ist, eine individuelle Handlung, die an Raum, Zeit und ein konkretes Subjekt gebunden ist.⁶² Das kulturelle Gedächtnis hingegen kann nicht auf eine neuronale Basis zurückgreifen, es funktioniert auf kultureller Grundlage. Astrid Erll schließt aus dieser Konstellation, dass Erkenntnisse über die Art von Gedächtnis nur über den Umweg der Analyse von Erinnerungen möglich sind.⁶³ Aleida Assmann macht im Umkehrschluss deutlich, dass das (kollektive) Gedächtnis auch die Voraussetzung für Erinnerung, die Bedingung ihrer Möglichkeit sei.⁶⁴ Dabei kommt, so Assmann weiter, nicht nur die organische Seite des Gedächtnisses in den Blick. Erinnerung schaffe sich ihre Werkzeuge auch außerhalb der neuronalen Gedächtnisstrukturen, da Erinnern und Erinnerung stark mediengebundene, vom sozialen Kontext abhängige mentale Leistungen seien. Menschen schaffen sich gegenständliche materielle Träger von Erinnerungen, die in vielfältiger Form „von den Zählsteinen und Schriftzeichen bis zu den Pyramiden und Denkmälern“⁶⁵ entstehen. Diese externen Erinnerungsspeicher der kulturellen Sphäre, bestehend aus Zeichen und Verobjektivierungen, müssen laut Assmann auch als Gedächtnis bezeichnet werden. Demnach bedarf der Mensch, um etwas erinnern zu können, nicht nur organischer Voraussetzungen, sondern auch materieller, kultureller Vergegenständlichungen, an denen die Erinnerungen ihre „Anhaltspunkte“⁶⁶ finden. Der Vorgang des Erinnerns wird überwiegend aus konstruktivistischer Sicht erklärt. Erinnern ist ein in der Gegenwart verwurzelter Prozess, der keine Abbil-
Neben der organischen Funktion gehören auch die gespeicherten Inhalte an Erinnerungen zum Gedächtnis, sie sind integraler Bestandteil einer Person. Erinnerungsformen und -praktiken haben folglich Einfluss auf die individuelle oder kollektive Identitätsbildung. Die Erinnerungen einer einzelnen Person gehören jenseits der biografischen Sphäre zu verschiedenen Kreisen. Je größer die Gruppe ist, desto weiter reicht der Horizont der Erinnerungen in die Vergangenheit zurück: Als Mitglied einer Familie hat man Teil an der Familienerinnerung, als Bürger oder Bürgerin einer Nation an der Nationalgeschichte. Vgl. Aleida Assmann: Gedächtnis und Erinnerung, in: Klaus Bergmann u. a. (Hg.): Handbuch der Geschichtsdidaktik. . Aufl. Seelze-Velber , S. – , hier S. . Ebd. Deshalb werden die Begriffe Erinnern und Gedächtnis beide als theoretische Grundlage für den Begriff Erinnerungskultur angesehen. Das Gedächtnis lässt sich schlicht nicht ohne den Akt der Erinnerung beobachten bzw. erforschen. Es ist an sich nicht wahrnehmbar. Vgl. Assmann, Gedächtnis und Erinnerung (), S. . Ebd. Ebd.
3.3 Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur
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der vergangener Wirklichkeiten oder einer vergangenen Realität produziert. Erinnerungen sind vielmehr subjektive, hochgradig selektive und von der Situation, in der sie abgerufen werden, abhängige Rekonstruktionen. Der Prozess des Erinnerns vollzieht sich in der Gegenwart, indem verfügbare Daten zusammengestellt werden. Insofern unterliegen auch diese Vergangenheitsversionen mit jedem neuen Abruf einer Veränderung, gemäß der veränderten Gegenwarten, in denen Subjekte erinnern. Individuelle und kollektive Erinnerungen können folglich nie als Spiegel der Vergangenheit fungieren, wohl aber als aussagekräftiger Hinweis auf die Bedürfnisse und Belange derjenigen, die sich in der Gegenwart erinnern. Erinnerungsforschung, so Astrid Erll, beschäftigt sich folglich nicht mit den erinnerten Vergangenheiten, sondern mit der Gegenwart des Erinnerns.⁶⁷ Der deutschsprachige Erinnerungsdiskurs ist in systematischer wie begrifflicher Hinsicht von den Arbeiten Jan und Aleida Assmanns geprägt worden. Die von ihnen eingeführte Differenzierung⁶⁸ zwischen kommunikativem und kulturellem Gedächtnis hat sich sowohl in theoretischer wie forschungspraktischer Hinsicht weitgehend durchgesetzt.⁶⁹ Die Zentralthese Jan Assmanns lautet, dass nicht nur das alltagsnahe kommunikative Gedächtnis einen konkreten Bezug zu Gruppen und zu einer Gruppenidentität aufweist. Dieser Bezug besteht ebenso im Bereich des kulturellen Gedächtnisses, also der verobjektivierten Kultur, in der sich die Kommunikation in Form von Texten, Riten, Bildern, Bauwerken etc. auskristallisiert hat. Im Bereich der verobjektivierten, organisierten wie zeremonialisierten Kultur lassen sich, so Assmann, „ganz ähnliche Bindungen an Gruppen und Gruppenidentitäten beobachten, wie sie auch das Alltagsgedächtnis kennzeichnen“. Auch im Bereich des kulturellen Gedächtnisses herrsche eine Wissensstruktur vor, die für eine bestimmte Gruppe „identitätskonkret“ sei und
Erll erläutert neben den Begriffen Erinnern, Erinnerung und Gedächtnis auch das Vergessen. Vergessen ist in der Verarbeitung der Wirklichkeitserfahrung sehr viel stärker die Regel als Erinnern. Während Vergessen die Regel ist, bleibt Erinnern eher die Ausnahme. Dabei ist Vergessen ebenso wenig zu beobachten wie Gedächtnis, erforschen kann man es nur über die Beobachtung von Erinnerung, über Fehler in der Erinnerungsleistung oder über Verdrängungsmechanismen.Vergessen ist zumeist ein unterbewusster Akt, während das Erinnern überwiegend bewusst verläuft. Es wird hier deshalb nur der begrifflichen Vollständigkeit halber erwähnt, spielt aber für die weitere Argumentation keine Rolle. Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis (), S. . Vgl. dazu unter anderem Jan Assmann: Das kulturelle Gedächtnis, Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München . Vgl. Daniel Levy: Das kulturelle Gedächtnis, in: Christian Gudehus/Ariane Eichenberg/Harald Welzer (Hg.): Gedächtnis und Erinnerung. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart , S. – , hier S. .
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3 Theoretische Verortungen
den Einzelnen als Teil einer Gruppe auf Geschehen in der Vergangenheit verweise, das für die gegenwärtige Orientierung der Gruppe sinnstiftend oder sinnbewahrend ist.⁷⁰ Was charakterisiert das kulturelle und das kommunikative Gedächtnis? Die beiden modi memorandi unterscheiden sich vor allem in Bezug auf die Zeit, die erinnert wird. Das kommunikative Gedächtnis thematisiert Vergangenheitsbezüge, die in keiner standardisierten Weise festgeschrieben sind und sich deshalb vornehmlich auf mündliche Weitergabe und Alltagskommunikation beziehen. Das kommunikative Gedächtnis ist als lebendige Erinnerung eng mit dem Alltagsleben der Menschen verbunden und umfasst eine zeitliche Struktur von circa drei bis vier Generationen, also 80 bis 100 Jahren. Die Erinnerungen im Modus des kommunikativen Gedächtnisses werden als „alltagsweltliche[r] Nahhorizont einer als ‚Gegenwart‘ empfundenen Zeit“ verstanden.⁷¹ Sie haben die Geschichtserfahrungen von Zeitgenossen zum Inhalt, die durch Alltagsinteraktion entstehen. Diese historischen Erfahrungen sind, wenn sie erinnert werden, weder festgeschrieben, noch existieren festgelegte Bedeutungszuschreibungen. Innerhalb des kommunikativen Gedächtnisrahmens gilt jeder Erinnernde als gleich kompetent, es gibt weder Experten noch Spezialisten dieser informellen Art der Erinnerung, auch wenn das Erinnerungsvermögen des Einzelnen unterschiedlich ausfallen kann. Ein entscheidender Faktor in Bezug auf die Erinnerung ist das Vergessen. Das, was aus dem Umlauf der Alltagskommunikation allmählich ausgeschieden wird und damit in Vergessenheit zu geraten droht, muss kulturell fixiert und befestigt werden – sofern es als erinnerungswürdig erachtet wird. Der Übergang vom kommunikativen in das kulturelle Gedächtnis ist durch einen Transformationsprozess gekennzeichnet, der Inhalte codiert und speichert. Während das kommunikative Gedächtnis im Alltagsweltlichen⁷² verhaftet bleibt, bezieht sich das kulturelle Gedächtnis auf den Fernhorizont der Vergangenheit und nimmt auf zeitlich weit zurückliegende Epochen Bezug, die bereits mit einer, meist medial gestützten, unhinterfragbaren Sinngebung versehen worden sind. Das kulturelle Gedächtnis bezieht sich auf die „absolute Vergangenheit einer mythischen Urzeit“.⁷³ Die Erinnerung im Modus des kulturellen Gedächtnisses
Vgl. Jan Assmann: Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität, in: ders./Tonio Hölscher: Kultur und Gedächtnis. Frankfurt/Main , S. – , hier S. ; sowie Hasberg, Erinnerungskultur – Geschichtskultur (), S. . Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis (), S. . Durch seine Alltagsferne sowie die Mechanismen der Externalisierung, Verankerung und Verobjektivierung von Erinnerungen in der Sphäre der Kultur überlebt das kulturelle Gedächtnis im Vergleich zum kommunikativen immer wieder seine Träger. Vgl. Assmann, Das kulturelle Gedächtnis (), S. .
3.3 Erinnerung, Gedächtnis und Erinnerungskultur
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geht Jan Assmann zufolge mit der „Transformation von Vergangenheit in fundierte Geschichte, d. h. in Mythos“ einher.⁷⁴ Erst die zum Mythos transformierte Geschichte ermögliche es einer Gesellschaft, bestimmte verbindliche Aussagen über sich selbst zu treffen. Das kulturelle Gedächtnis generiert „normative und handlungsleitende Antworten auf Fragen nach für die Kulturgemeinschaft gültigen Werten und Normen sowie normative, kollektive Identität sichernde Antworten auf Fragen nach Herkunft und nach einer Abgrenzung zwischen dem Eigenen und dem Fremden.“⁷⁵ Damit generiert es handlungsleitenden Sinn, der einen hohen Grad an Verbindlichkeit aufweist und zur Festigung des kollektiven Selbstverständnisses einer Gruppe dient. Um als Quelle kollektiver Selbstbeschreibungen fungieren zu können, institutionalisiert das kulturelle Gedächtnis die Erinnerung an eine bestimmte Vergangenheit, indem es diese entkontextualisiert und auf eine bestimmte Deutung festschreibt. Das kulturelle Gedächtnis muss sich zwangsläufig von konkreten Erfahrungen zu abstrakten Erinnerungen entwickeln. Daniel Levy argumentiert, dass dieser Wandel vom Konkreten zum Abstrakten im Modus des kulturellen Gedächtnisses letztlich unvermeidlich ist: Das kollektive Gedächtnis wandelt Geschichte in Narrative und verlagert die Aufmerksamkeit von empirischer (das heißt spezifischer) Geschichte hin zu erinnerter Geschichte (das heißt diejenige, die durch Ritualisierung und andere Formen der Repräsentationen produziert wird.“⁷⁶
Das kulturelle Gedächtnis bezieht sich damit auf Fixpunkte in einer vor-biografischen Vergangenheit, die dem Individuum nicht durch eigenes Erleben eingängig sind, sondern durch Kultur vermittelt werden. Erinnerungsfiguren, wie Jan Assman diese kulturellen Formen nennt, verweisen den einzelnen als Teil einer Gruppe auf Geschehen in der Vergangenheit, das für die Orientierung der Gruppe in der Gegenwart sinnstiftend oder sinnbewahrend ist. Aus diesen rekonstruktiven Erinnerungsformen wird für die jeweilige Gemeinschaft, die sie erinnert, Sinn gebildet und somit der Urgrund der Gemeinschaft neu bedacht.⁷⁷
Ebd., S. . Es könnte allerdings auch umgedreht argumentiert werden, dass Geschichtsschreibung das Ergebnis des Austritts aus dem Mythos war, wie es etwa bei den griechischen Denkern nachzulesen ist. Geschichte wird dann zu einer Art Ersatzmythos. Vgl. Erll, Kollektives Gedächtnis (), S. . Vgl. Levy, Das kulturelle Gedächtnis (), S. . Vgl. Hasberg, Erinnerungskultur – Geschichtskultur (), S. . Eingang in das kulturelle Gedächtnis finden seine gespeicherten Inhalte also erst dann, wenn sie aus dem Zustand der Speicherung wieder in den Kommunikationsprozess einbezogen werden.
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3 Theoretische Verortungen
Eine weitere Ausdifferenzierung des Gedächtnisdiskurses erstreckt sich entlang der Begriffe Speicher- und Funktionsgedächtnis, die maßgeblich von Aleida Assmann geprägt wurden. Speicher- und Funktionsgedächtnis sind entgegengesetzte Formen des Vergangenheitsbezuges, die jedoch auch nebeneinander bestehen können. Assmann unterscheidet die beiden Formen des Gedächtnisses anhand der Kriterien „bewohnt“ und „unbewohnt“. Das Speichergedächtnis sei „unbewohnt“⁷⁸, da es Erinnerungsbestände funktionslos inventarisiere. Diese Gedächtnisform funktioniere losgelöst von spezifischen Trägern und sei deshalb in der Lage, die Sicht auf die Vergangenheit radikal von den Zeitebenen Gegenwart und Zukunft abzutrennen. Das Speichergedächtnis ist bestrebt, Wahrheit in Bezug auf Vergangenes zu ermitteln. Damit entspricht das Speichergedächtnis laut Aleida Assmann dem wissenschaftlichen Umgang mit Vergangenheit, der diese in eine Art Archiv und damit zum Gedächtnis zweiter Ordnung umwandelt, das den Erinnerungsfundus verwaltet.⁷⁹ Als Archiv nimmt das Speichergedächtnis auf, was seinen vitalen Bezug verloren hat, und stellt es, im Dienste einer kritischen Wahrheitssuche, in neue Zusammenhänge.⁸⁰ Wenn im Zusammenhang von Gedächtnis und Erinnerung Bezug auf Geschichte genommen wird, dann geschieht dies meist über den Begriff des Speichergedächtnisses. Geschichte ist in diesem Verständnis eine an Objektivität orientierte Wissenschaft, da sie Gegenstände untersucht, die keinen vitalen Lebensbezug mehr aufweisen. Im Gegensatz dazu ist die Erinnerungskultur mit dem Funktionsgedächtnis verbunden. Als „bewohnt“ charakterisiert Aleida Assmann diese Art von Gedächtnis deshalb, weil sie nicht ohne eine bestimmte Gruppe von Trägern denkbar ist. Durch seine Rückkopplung an eine konkrete Trägerschaft ist das Funktionsgedächtnis hochgradig selektiv. Es hält seine Bestände nur so lange fest, wie sie „Halt zu geben und
Jan Assmann fasst den Zusammenhang wie folgt: „Die Domäne des Historikers beginnt dort, wo die Vergangenheit nicht mehr ‚bewohnt‘, d. h. nicht mehr vom kollektiven Gedächtnis lebender Gruppen in Anspruch genommen wird.“ Vgl. Assmann, Gedächtnis und Erinnerung (), S. . Jan Assmann charakterisiert das Archiv als einen Modus des kulturellen Gedächtnisses, der den „Totalhorizont angesammelter Texte, Bilder, Handlungsmuster“ umfasse sowie einen Modus der Aktualität, „der von einer jeweiligen Gegenwart aus aktualisierte und perspektivierte Bestand an objektivem Sinn“. Eine Parallele zur Unterscheidung zwischen dem „unbewohnten“ Speichergedächtnis und dem „bewohnten“ Funktionsgedächtnis ist hier gut zu erkennen. Vgl. Assmann, Kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität (), S. . Vgl. Assmann, Gedächtnis und Erinnerung (), S. ; Jan Assmann fasst diese wie folgt: Die Geschichte reorganisiert ihre Fakten in einem „vollkommen homogenen historischen Raum, in dem alles mit allem vergleichbar und vor allem alles gleichermaßen wichtig und bedeutsam ist“. Vgl. Jan Assmann: Gedächtnis, in: Stefan Jordan (Hg.): Lexikon Geschichtswissenschaft. Hundert Grundbegriffe. Stuttgart , S. – , hier S. .
3.4 Geschichts- und Erinnerungskultur als parallele Begriffskonzepte?
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Interessen und Werte zu festigen“ vermögen.⁸¹ Trifft das nicht mehr zu, werden sie fallen gelassen und vergessen. Gleichzeitig verschafft das Funktionsgedächtnis durch seine Verbindung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft seinen Trägern Orientierung im Heute. Es vermittelt Werte und Normen, aus denen Handlungsoptionen ersichtlich werden und sich Identitätsprofile herleiten lassen.⁸²
3.4 Geschichts- und Erinnerungskultur als parallele Begriffskonzepte? Im erinnerungskulturellen Diskurs werden Gedächtnis bzw. Erinnerung und Geschichte als zwei unterschiedliche Modi des Umganges mit Vergangenheit betrachtet. Dieser Gegenüberstellung folgend verfügt Gedächtnis und die damit zusammenhängende Erinnerung über eine soziale Trägerschaft, während Geschichte im Bereich der objektiven Wissenschaft angesiedelt ist und ihren Bezug zur Lebenswelt weitgehend verloren hat.⁸³ Geschichte und Gedächtnis stehen unter diesen theoretischen Prämissen in einem Ablöseverhältnis. Dem von Gruppen getragenen, sich in permanenter Entwicklung befindlichen Gedächtnis steht die Geschichtswissenschaft gegenüber, die laut Jan Assmann „jeden Bezug auf eine Gruppe, eine Identität, einen spezifischen Bezugspunkt abgestreift hat“. Während Geschichte als vereinheitlichende Größe angesehen wird, tritt das Gedächtnis in pluralen, vielzähligen Formen auf. Die so verstandene Geschichte trennt im Sinne des Speichergedächtniskonzeptes von Aleida Assmann die Ver-
Vgl. Assmann, Gedächtnis und Erinnerung (), S. . Trotz ihrer Gegensätzlichkeit sind beide Gedächtnisformen aufeinander angewiesen und können nicht gänzlich abgekoppelt voneinander bestehen: beide bilden in der Argumentation Aleida Assmanns ein gegenseitig notwendiges Korrektiv. So ist das Speichergedächtnis in der Lage, das Funktionsgedächtnis zu verifizieren oder zu korrigieren. Umgekehrt schöpft das Funktionsgedächtnis aus dem Fundus des Speichergedächtnisses und kann dieses wiederum dank seines Bezuges auf die Lebenswelt einer konkreten Gruppe orientieren und motivieren. Ebd., S. . In seinem Beitrag für Docupedia – Zeitgeschichte verweist Christoph Cornelißen unter Berufung auf Jörn Rüsens disziplinäre Matrix auf das Wechselverhältnis zwischen Erinnerungskultur und geschichtswissenschaftlicher Forschung und hebt damit die scharfe Trennung zwischen beiden Begriffen auf.Vgl. Christoph Cornelißen: Erinnerungskulturen,Version: ., in: DocupediaZeitgeschichte, . . , URL https://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen?oldid= (Zugriff . . ).
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3 Theoretische Verortungen
gangenheit nach wissenschaftlich-objektiven Prinzipien von der Gegenwart ab, um sie analysier- und untersuchbar zu machen.⁸⁴ Trotz der augenscheinlichen Unterschiede fällt in der Zusammenschau beider theoretischer Zugänge die Ähnlichkeit ihrer jeweiligen Zielsetzung auf. Sowohl das Konzept der Geschichts- als auch das der Erinnerungskultur zielt letztlich auf die Analyse von sinnbildenden oder sinnstiftenden Prozessen ab, die die Grundlagen von Identität und Orientierung in der Gegenwart von Individuen und sozialen Gruppen betreffen. Dafür werden Repräsentationen von Vergangenheit untersucht, die Geschichte in unterschiedlichen Formen und Medien artikulieren, inszenieren und manifestieren. Der bedeutendste Unterschied zwischen beiden Diskursen besteht in der Definition des Terminus Geschichte. Der erinnerungskulturelle Diskurs geht von einem substanzialistischen Charakter von Geschichte aus, während der Geschichtsbegriff der modernen Geschichtstheorie, an dem sich der geschichtskulturelle Diskurs orientiert, konstruktivistisch geprägt ist.⁸⁵ Ein solcher konstruktivistischer Zugriff definiert Geschichte ausgehend von der zentralen Kategorie des Geschichtsbewusstseins als Bewusstseinsinhalt. Dieser ist einerseits individuell, andererseits aber durch die Sozialisation gruppenspezifisch geprägt. Die Annahme, dass Geschichte – und sei es als Wissenschaft – Objektivität hervorbringt, wird in dieser theoretischen Konstellation hinfällig. Geschichte wird „gemacht“ und zwar im Geschichtsbewusstsein von Menschen, seien es Laien, die sich in den Realia einer bestimmten Geschichtskultur bewegen oder Historiker, die ihren Umgang mit Vergangenheit und Geschichte dem Regelwerk der wissenschaftlichen Forschung unterwerfen. In dieser Betrachtungsweise wird das oben konstatierte Unterscheidungskriterium zwischen Gedächtnis und Geschichte hinfällig. Betrachtet man Geschichte und ihr Zustandekommen aus einer konstruktivistischen Perspektive, kann diese genauso wenig ohne soziale Trägerschaft in der Gegenwart ent- oder bestehen wie jede Art von Ge-
Vgl. Hasberg, Erinnerungskultur – Geschichtskultur (), S. . Jan Assmann argumentiert, dass der Gegensatz zwischen Geschichte und Gedächtnis in der Theorie des kulturellen Gedächtnisses überwunden wird. Das kulturelle Gedächtnis gehe von einer „unaufgebbaren Perspektivität bzw. Identitätsbezogenheit jeder sinnproduzierenden Form von Vergangenheitsbezug“ aus. Dieser Sinn, der zur kollektiven Selbstverständigung einer Gesellschaft oder Kultur gehört und das soziale Handeln der Individuen fundiert, „wird typischerweise aus der gemeinsamen Geschichte, bes. aus kollektiven Leidenserfahrungen gewonnen“. Trotzdem bleiben im kulturellen Gedächtnis die oben beschriebenen Funktionen des Speicher- und des Funktionsgedächtnisses bestehen. Die Argumentation bleibt daher oberflächlich. Vgl. Assmann, Gedächtnis (), S. . Vgl. Waltraud Schreiber: Geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Grundlagen, in: Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzy (Hg.): Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart , S. – , hier S. .
3.4 Geschichts- und Erinnerungskultur als parallele Begriffskonzepte?
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dächtnis.⁸⁶ Ferner macht die Gegenüberstellung beider theoretischer Konzepte deutlich, dass der Erinnerungsdiskurs zwar stark auf die Gegenwart von Vergangenem fokussiert ist, die Kategorie der Zukunft jedoch weitgehend ausgeklammert wird. Der geschichtskulturelle Zugang umschließt hingegen alle drei Zeitebenen von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Aus rezeptionsgeschichtlicher Sicht verdeutlicht die Gegenüberstellung der Konzepte Geschichts- und Erinnerungskultur, dass sich beide Zugänge trotz vielfacher inhaltlicher Übereinstimmungen seit ihrer Entstehung in den deutschsprachigen Geisteswissenschaften parallel entwickelt haben. Ein befruchtender Dialog zwischen den Diskursen scheint ausgeblieben zu sein, vielmehr verliefen die Konzeptionalisierungen unabhängig voneinander. Unbesehen der inhaltlichen Nähe scheinen Austausch mit oder Rezeption von Fachkollegen eher eine Ausnahme als die Regel gewesen zu sein. In der Folge wurden Begriffe wie Geschichte und Erinnerung in beiden Diskursen mit unterschiedlichen Bedeutungen belegt und die Kompatibilität ging verloren. Einer der Gründe für diese Entwicklung kann in der Konstitution der Fächer gesehen werden, die sich jeweils der Beschäftigung mit Erinnerungs- bzw. Geschichtskultur verschrieben haben. Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein zählen zu den Kernbereichen der Geschichtsdidaktik, die nach Einschätzung des Historikers Stefan Jordan aus dem Jahr 2005 im „geschichtswissenschaftlichen Bahnhof“ auf einem „Abstellgleis“ stehe.⁸⁷ Jordan führt weiter aus, dass nach einer Aufbruchsphase in den 1960er und 1970er Jahren, die mit so bedeutenden Namen wie Annette Kuhn, Karl Ernst Jeismann oder Jörn Rüsen verbunden waren, diese Vorreiter nicht zuletzt aufgrund von Einstellungsstopps an Universitäten keine Nachfolger gefunden hätten.⁸⁸ Damit gerieten auch die in der Vgl. Hasberg, Erinnerungs- oder Geschichtskultur? (), S. . Wie nahe beide Konzepte in ihren Terminologien beieinander sind, zeigt Jörn Rüsen in einem prägnanten Artikel zur Geschichtskultur, in der er die historische Erinnerung als anthropologische Grundlage jeder Art von Geschichtsbewusstsein beschreibt. Wird diese Erinnerung institutionalisiert, formt sich das kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft aus. Das Geschichtsbewusstsein bildet dank der anthropologischen Fähigkeit zur Erinnerung und dank der sozialen Dimension des kulturellen Gedächtnisses einer Gesellschaft eine Vorstellung über Zeit aus. Dieser „Sinn von Zeit“ bedeutet, dass zeitliche Veränderungen von Mensch und Welt in Form von empirisch gesättigten Deutungsmustern erklärt werden. Vgl. Rüsen, Geschichtskultur (), S. . Vgl. Stefan Jordan: Die Entwicklung einer problematischen Disziplin. Zur Geschichte der Geschichtsdidaktik, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, OnlineAusgabe (), URL http://www.zeithistorische-forschungen.de/-Jordan-- (Zugriff . . ). Ebd. Jordan zählt noch viele weitere Gründe für die Schwierigkeiten des Faches Geschichtsdidaktik auf. Unter anderem geht er darauf ein, dass Didaktik zu stark auf die Lehramtsausbildung fokussiert wurde und zu wenig andere Darstellungsformen des Historischen wie etwa Museen oder Filme in das geschichtsdidaktische Forschungsfeld einbezogen wurden.
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3 Theoretische Verortungen
Geschichtsdidaktik verhandelten Theoriekonzepte von Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein ins Hintertreffen, während die Erinnerungskulturforschung im Fahrwasser der aufkommenden Kulturwissenschaften ihren Siegeszug antrat. Einen befruchtenden Austausch und längerfristigen Dialog zwischen den Fachkollegen aus den Geschichts- und Kulturwissenschaften, die seit dem cultural turn zu den tonangebenden Disziplinen gehören, sowie der Geschichtsdidaktik hat es augenscheinlich nicht gegeben. Diesen Befund spiegelt auch die einschlägige Literatur, die die Trennung beider Ansätze unter Verweis auf die seit der Entstehung der Begriffe geprägten, eigenständigen Termini und unterschiedlichen Systematiken weiter fortschreibt. Die Literatur stellt Differenzen und Unterschiede in den Vordergrund und hält an angeblichen Alleinstellungsmerkmalen des jeweiligen Konzeptes fest.⁸⁹ Die Diskussion um die Abgrenzung der beiden Ansätze voneinander wird mittlerweile nicht mehr nur von Experten in Fachzeitschriften ausgetragen. Auch der Eintrag zum Stichwort Geschichtskultur in der Internet-Enzyklopädie Wikipedia gründet auf einer konzeptionellen Verschiedenheit beider Ansätze und hebt diese hervor.⁹⁰ Dabei muss eine begründete Annahme zweier „Schulen“ der Erinnerungsund Geschichtskultur in Anbetracht der oben dargestellten Entwicklung fraglich erscheinen.⁹¹ Bei genauerem Hinsehen ist der Untersuchungsgegenstand beider Herangehensweisen weitgehend deckungsgleich, auch die Termini Sinn, Zeit und Orientierung finden sich in beiden Konzepten wieder. Ferner teilen beide Ansätze die Grundannahme, dass die Auseinandersetzung mit Vergangenheit keine alleinige Domäne der historischen Wissenschaften ist, sondern die Beschäftigung mit Geschichte im Alltag, in der Lebenswelt der Menschen, fest verankert ist. Überschneidungen sind auch bei der Terminologie auffällig. Jörn Rüsens Verständnis von Geschichtskultur kommt ohne den Begriff der Erinnerung nicht aus,
Stellvertretend für eine Vielzahl von Positionen: Vadim Oswalt/Hans-Jürgen Pandel: Einführung, in: dies. (Hg.): Geschichtskultur. Die Anwesenheit der Vergangenheit in der Gegenwart. Schwalbach/Ts. , S. – , hier S. . Auch Wolfgang Hardtwig argumentiert in seinem Artikel Geschichtskultur, dass die beiden Begriffe Geschichts- und Erinnerungskultur noch unzureichend voneinander abgegrenzt seien. Vgl. Hasberg, Erinnerungs- oder Geschichtskultur? (). Vgl. die Webseite URL http://de.wikipedia.org/wiki/Geschichtskultur (Zugriff . . ). Zu diesem Ergebnis kommt auch der Historiker Christoph Cornelißen in seinem überarbeiteten Artikel „Erinnerungskulturen“ auf Docupedia – Zeitgeschichte. Er unterstreicht, dass Erinnerungskultur alle Repräsentationsmodi von Geschichte einschließt, angefangen vom geschichtswissenschaftlichen Diskurs bis hin zu privaten Erinnerungen. Cornelißen zieht aus dieser Definition den Schluss, dass Erinnerungskultur „synonym mit dem Konzept der Geschichtskultur“ zu betrachten sei. Vgl. Christoph Cornelißen: Erinnerungskulturen, Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, . . , URL http://docupedia.de/zg/Erinnerungskulturen_Version_._Chris toph_Corneli.C.Fen?oldid= (Zugriff . . ).
3.4 Geschichts- und Erinnerungskultur als parallele Begriffskonzepte?
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er ist vielmehr ein zentrales Element. Streitbar scheint allein das Begriffsverständnis von Geschichte, das bei den Geschichtsdidaktikern in Gestalt des historischen Denkens eine feste Verankerung in der lebensweltlichen Sphäre erhält, während Geschichte im erinnerungskulturellen Diskurs als Hüterin einer vom Leben abgekoppelten Vergangenheit verstanden wird. Trotz der inhaltlichen Nähe hat sich – sowohl als wissenschaftlicher Forschungsansatz als auch in der öffentlichen Kommunikation – nur einer der beiden Begriffe durchsetzen können. Während das Geschichtskulturkonzept die Grenzen des geschichtsdidaktischen Faches kaum überschritten hat, trat die Erinnerungskultur ihren Siegeszug als „Leitbegriff der modernen Kulturgeschichtsforschung“ an.⁹² Neben der wissenschaftlichen Konjunktur trug dazu auch der Umstand bei, dass Erinnerung seit den 1980er Jahren in der Bundesrepublik Deutschland in besonderer Weise mit Bedeutung und Sinn versehen wurde.⁹³ Spätestens zu diesem Zeitpunkt hatte sich die „mächtige Woge der öffentlichen ’Vergangenheitsbewältigung’ in der damaligen Bundesrepublik“⁹⁴ etabliert und institutionalisiert. Das Erinnerungsparadigma wurde im Verlauf der Auseinandersetzung um die Aufarbeitung der NSVergangenheit in Deutschland zur Pathosformel mit „einer besonderen Aura von Wahrhaftigkeit“⁹⁵ stilisiert. Auch das deutsche Feuilleton griff diese Entwicklung „geradezu begierig“ auf und verhalf dem Begriff Erinnerungskultur zum Durchbruch.⁹⁶ Blickt man auf die neuesten geisteswissenschaftlichen Publikationen, scheint die Konjunkturwelle inzwischen einer kritischen Reflexion gewichen zu sein. Vor dem Hintergrund der Parallelentwicklung beider Konzepte macht Volkhard Knigge den interessanten Vorschlag, den Begriff Geschichtsbewusstsein in ein produktives Verhältnis zu Erinnerung zu setzen. Er argumentiert, dass die reflexive Funktion von Geschichtsbewusstsein dazu beitragen könne, Erinnerung in ihrer Genese und Funktion zu erschließen und zur „Reflexivität und Selbstreflexivität von Erinnerung“ beitragen könne. Diesem Ansatz möchte sich diese Untersuchung anschließen und das analytische Potenzial der Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein für die Untersuchung historischer Narrationen im öffentlichen Raum fruchtbar machen.
Vgl. Cornelißen, Erinnerungskulturen (), (Zugriff . . ). Vgl. Knigge, Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? (), S. . Vgl. Demantowsky, Geschichtskultur und Erinnerungskultur (), S. . Vgl. Knigge, Erinnerung oder Geschichtsbewusstsein? (), S . Vgl. Demantowsky, Geschichtskultur und Erinnerungskultur (), S. .
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3 Theoretische Verortungen
3.5 Öffentliche Geschichte als Teilbereich der Geschichtskultur Bevor intensiver von der Analyse die Rede sein wird, muss der Untersuchungsgegenstand noch konkreter gefasst werden. Es wurde bereits darauf verwiesen, dass öffentliche Geschichte trotz stetig zunehmender Relevanz und gestiegenem Interesse der geisteswissenschaftlichen Forschung noch nicht abschließend definiert wurde. Neben den Ansätzen von Public History und Angewandter Geschichte, die ihren Gegengenstand als Geschichte für die Öffentlichkeit bzw. Geschichte mit der Öffentlichkeit betrachten, existiert eine Vielzahl von Definitionen, die jeweils nur einzelne Aspekte von Geschichte im öffentlichen Raum in den Mittelpunkt stellen.⁹⁷ Häufig geht es um materielle Repräsentationen von Vergangenheit, so beispielsweise bei der Analyse von architektonischen Ensembles oder Denkmälern. Trotz dieser zunehmenden Anzahl an Forschungsarbeiten zu Teilaspekten stellt öffentliche Geschichte in der gegenwärtigen geisteswissenschaftlichen Forschung weder eine analytische Kategorie noch ein ausdifferenziertes Forschungsfeld dar. Ferner fehlt eine umfassende, nicht auf partikulare Teilbereiche fokussierende Betrachtungsweise. Eine solche ganzheitliche Betrachtung soll im Folgenden vorgenommen werden, indem öffentliche Geschichte als Teilbereich der Geschichtskultur einer gesellschaftlichen Gruppe angesehen wird. Geschichtskultur umfasst als synthetisierender Begriff die Sphären der akademischen und außerakademischen Geschichtsdarstellung. Auf eine detaillierte Betrachtung des akademischen Bereiches wird in dieser Untersuchung weitgehend verzichtet, vielmehr stehen die außerakademischen Formen historischen Wissens im Mittelpunkt. Die akademische Sphäre wird nur insofern berührt, als sie implizit oder explizit an der Entstehung historischer Darstellungen im öffentlichen Raum, sei es initiierend, beratend oder koordinierend, beteiligt ist. Der Fokus dieser Studie liegt vielmehr auf dem Teil der Geschichtskultur, der eine Form, einen Ausdruck als Narration im öffentlichen Raum gefunden hat. Analy-
Das ist nicht immer der Fall. So verwendet etwa der Historiker Paul Nolte den Begriff öffentliche Geschichte in einem sehr breit angelegten Verständnis als gestiegenes öffentliches Interesse an Geschichte, „einer öffentlich und massenmedial kommunizierten Geschichte“, die auf einen erhöhten öffentlichen „Geschichtsbedarf“ reagiert. Damit beschreibt Nolte ein Phänomen, auf das weiter oben bereits eingegangen wurde, zu einer Definition dieses Phänomenbestandes trägt er allerdings nicht bei. Vgl. Paul Nolte: Öffentliche Geschichte. Die neue Nähe von Fachwissenschaft, Massenmedien und Publikum: Ursachen, Chancen und Grenzen, in: Michele Barricelli/Julia Hornig (Hg.): Aufklärung, Bildung, „Histotainment“? Zeitgeschichte in Unterricht und Gesellschaft heute. Frankfurt/Main , S. – , Zitate auf S. und S. .
3.6 Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart
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siert werden Materialisierungen historischen Wissens und Denkens, die speziell für oder im öffentlichen Raum geschaffen wurden und dort Wirkung und Geltung entfalten sollen. Für eine Stadt im Strukturwandel, die nach neuen Bildern von sich selbst sucht und deren Haushalt an Geschichte in diesem Zusammenhang neu verhandelt wird, bietet dieser Zugriff eine sichere Navigation durch eine Zeit des Wandels und der Veränderung. Die Betrachtungsweise von Geschichte im öffentlichen Raum als Teilgebiet der Geschichtskultur ermöglicht außerdem eine umfassende und gleichwertige Untersuchung öffentlicher Geschichte, die sowohl in Form von materiellen Repräsentationen von Vergangenheit im städtischen Raum (z. B. Denkmäler) als auch institutionell gebundener historischer Darstellungen, wie sie etwa in Museen anzutreffen sind, einbezieht. Eingangs wurde ferner auf das noch in der Ausdifferenzierung befindliche Analyseinstrumentarium für öffentliche Geschichtsdarstellungen innerhalb der Ansätze Public History und Angewandter Geschichte verwiesen. Eine Definition öffentlicher Geschichte als Teilaspekt der Geschichtskultur hat den Vorteil, dass die in diesem Konzept angelegten Analysekriterien für die Untersuchung historischer Narrationen anwendbar gemacht werden können. Bevor auf die Anwendbarkeit der Analysekriterien eingegangen werden kann, muss noch ein weiterer theoretischer Baustein erläutert werden: das konstruktivistische und narrative Geschichtsverständnis, auf dem die Konzepte Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein fußen.
3.6 Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart Rüsens Regelkreis historischen Denkens macht deutlich, dass Geschichte in der menschlichen Lebenswelt ihren Ausgang nimmt und nach erfolgreichem Durchlaufen des historischen Denkprozesses wieder auf diese zurückwirkt. So gesehen trägt Geschichte maßgeblich zur Orientierung von Menschen in der Gegenwart bei. Anders gesagt: Vergangene Erfahrung wird über das Bilden von Sinn für die Orientierung in gegenwärtigen Verhältnissen anwendbar gemacht. Narrationen rekonstruieren demnach nicht nur Vergangenheit, sie deuten zugleich die Gegenwart und entwerfen eine mögliche Zukunft. Um einer so verstandenen Orientierungsfunktion entsprechen zu können, muss Geschichte bestimmte Voraussetzungen erfüllen: Sie muss in Form eines Narrativs auftreten, das die drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft so miteinander verbindet, dass vergangenes Geschehen in der Gegenwart und für die Zukunft verstanden werden
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3 Theoretische Verortungen
kann, es Sinn und Bedeutung erhält.⁹⁸ Das heißt, Entwicklungen,Veränderungen, Brüche und Kontinuitäten in der Zeit müssen erzählt und zu einer mit Sinn versehenen Geschichte ausformuliert werden, die eine deutliche Aussage für Gegenwart und Zukunft besitzt. Die Annahme einer Narrativität⁹⁹ historischen Wissens ist eng mit der Form ihrer Entstehung im menschlichen Geschichtsbewusstsein verbunden. Das Geschichtsbewusstsein schreibt in einem deutenden Vergegenwärtigungsakt der Vergangenheit Sinn ein. Geleitet wird die Konstruktion als individueller Sinnbildungsakt des Geschichtsbewusstseins von persönlichen oder institutionell geprägten gegenwärtigen Interessen, Wertvorstellungen und gesellschaftlich regulierten normativen Setzungen. Die Vergangenheit wird im Geschichtsbewusstsein nicht abgebildet, vielmehr wird das Geschichtsbewusstsein durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit selbst organisiert und strukturiert. Eine historische Narration entsteht in einer individuellen Bewusst Vgl. Rüsen, Historische Orientierung (), S. . Der narrative Charakter von Geschichte steht dem Modell des Erklärens von Geschichte gegenüber. Erklärt wird Geschichte, wenn sie aus Regeln und Prämissen abgeleitet wird und ihre Begebenheiten als Einzelfälle innerhalb einer größeren Ordnung verstanden werden. Das Erzählen von Geschichte sieht von derart allgemeinen Erklärungsmustern ab und wendet sich konkreten Vorgängen zu, die durch einen zeitlichen Ablauf gekennzeichnet sind, der einen Anfang und ein Ende hat und in einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort angesiedelt ist. Eine Geschichte als Narration thematisiert nicht die allgemeinen Gesetzmäßigkeiten und systemischen Zusammenhänge sondern das geschichtlich Konkrete. Vgl. Joachim Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen , S. . Narrativität im Zusammenhang mit Geschichte kann jedoch auch bedeuten, dass auf den fiktiven Charakter von historischen Darstellungen abgehoben wird. Hayden White etwa vertritt die Annahme einer Autonomie des Narrativen, da Erzählungen über Eigenschaften verfügen, die sich nicht auf diejenigen ihrer Aussagen reduzieren lassen. Der Historiker führe demnach literarische Strukturen ein und „(e)s ist der Historiker, der die Vergangenheit einer sprachlichen, literarischen Struktur unterwirft – der in der Vergangenheit nichts Wirkliches entspricht“. Den Ereignissen wird durch die Ordnung der Ereignisfolge ein Qualität zugeschrieben, die sie an sich nicht haben, etwa Anfangs-, Wende- oder Endzustand zu sein. Für White sind historische Erzählungen letztlich Metaphern, die Ordnung im Chaos der Phänomene stiften und diese erklären. Es ist der Historiker, der die realen Phänomene einer Ordnung unterwirft und für White steht fest, „daß [diese Ordnung] nicht in diesen selbst liegt und durch Forschung oder induktive Schlüsse gefunden werden kann“. Die Geschichten von Historikern werden demnach mit den Ereignissen „auferlegten“ Metaphern gleichgesetzt. Die Ereignisse werden nach Mustern geordnet, die im Milieu des Historikers vorgeprägt sind oder im literarischen Gebrauch stehen. Vgl. Chris Lorenz: Kann Geschichte wahr sein? Zu den narrativen Geschichtsphilosophien von Hayden White und Frank Ankersmit, URL http://dspace.ubvu.vu.nl/bitstream/ handle///Kann%Geschichte%Wahr%sein.pdf;jsessionid=EBC CBCADBFF?sequence= (Zugriff . . ), Zitate S. und . Der Text ist die deutsche Übersetzung von Chris Lorenz: Can histories be true? Narrativism, positivism, and the ‚metaphorical turn‘, in: History and Theory (), S. – sowie Goertz, Umgang mit Geschichte (), S. f.
3.6 Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart
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seinsleistung durch eine Kombination der vergangenen Erfahrungen mit aktuellen gesellschaftlichen und/oder individuellen Bedürfnislagen. Das Wissen über die Vergangenheit so zu interpretieren, dass es trotz Divergenzen in der Gegenwart einen Beitrag zur Orientierung leisten kann, ist Ziel dieser menschlichen Bewusstseinsleistung.¹⁰⁰ Das historische Bewusstsein bringt Narrationen hervor, bei deren Entstehung die eigenen Bedingtheiten und Bedürfnisse einfließen und dort eine Verbindung mit den Erfahrungsbeständen aus der Vergangenheit eingehen. Was aus der Vergangenheit für relevant gehalten wird, bestimmen die „Sinnvergewisserungsbedürfnisse“¹⁰¹ der jeweiligen Gegenwart. Die Vergangenheit, auf die sich der Sinn bezieht, ist als solche nicht mehr zugänglich und liegt nur noch in Form von Überlieferungen, Überresten, Quellen oder in der Vergangenheit entstandenen Narrationen vor. Jeder Rückgriff auf dieses vergangene Geschehen ist daher zwangsläufig ein Konstrukt. Nun ist nicht jede Art von Erzählung eine historische Erzählung und besitzt die beschriebenen Qualitäten. Zusammenhangslose „Fakten“ aus der Vergangenheit ergeben noch keine historische Erzählung. Historische Narrationen sind vielmehr geschlossene Geschichten, die über den Bezug auf ein Ereignis in der Vergangenheit eine deutlich verständliche Aussage für Gegenwart und Zukunft formulieren.¹⁰² Drei Elemente kennzeichnen laut Jörn Rüsen den spezifischen Charakter einer historischen Narration. Historisches Erzählen unterscheidet sich vom fiktionalen Erzählen aufgrund eines nachweisbaren Bezuges auf Ereignisse in der Vergangenheit. Historische Narrationen vermitteln eine übergreifende Zeitverlaufsvorstellung durch die Darstellung von Kontinuität und Kohärenz zwischen den Zeitebenen. Die Zeitverlaufsvorstellung umfasst Vergangenheit, Gegenwart
Vgl. Jeismann, Geschichtsbewusstsein als zentrale Kategorie (), S. ff. Ebd., S. . Die Geschichtsdidaktikerin Waltraud Schreiber fasst historische Narrationen als fertige Geschichten „die die ‚Autoren‘ von schriftlichen Texten, Bildern, Filmen, Ausstellungen, mündlichen Erzählungen usw. aufgrund historischer Fragen im Nachhinein in Prozessen der ReKonstruktion verfasst haben. Historische Narrationen sind spezifische Formen von Erzählungen, die zeitliche Veränderungen in ihren Motiven, Abläufen, Wirkungen erläutern. Eine solche Verlaufsgeschichte hat immer einen Anfang, ein Ende und einen Mittelteil, der neben empirisch gestützten Vergangenheitsbezügen notwendig Deutungen enthält, um die Veränderungen zu erläutern. Diese sind im Idealfall plausibel, transparent und wurden methodisch reguliert entwickelt. Ohne Hypothesenbildung, ohne Imagination, ohne Sinnbildungen können historische Erzählungen aber nicht auskommen.“ Vgl. Waltraud Schreiber/Carola Gruner/Florian Basel: Leitfaden De-Konstruktion.Version für theoretisch interessierte Geschichtslehrkräfte. in: Waltraud Schreiber/Carola Gruner, (Hg.) unter Mitarbeit von Robert Labhardt: Geschichte durchdenken. Schüler dekonstruieren internationale Schulbücher. Das Beispiel „/ – Mauerfall“. Neuried , S. – , hier S. .
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3 Theoretische Verortungen
und Zukunft und zeigt den zeitlichen Wandel des Menschen und der Welt bis in die Gegenwart hinein. Zu diesen zeitlichen Verläufen müssen sich die Rezipienten einer Narration verhalten und Stellung beziehen können, indem sie ihr eigenes Leben, ihre eigene Existenz entweder innerhalb oder außerhalb dieses Zeitverlaufes verorten. Ferner müssen die in der Narration vermittelten historischen Zeitvorstellungen Vergewisserung für die menschliche Identität im Wandel der Zeit leisten.¹⁰³ Sinnbildung durch historisches Erzählen ist getragen vom Bedürfnis, im zeitlichen Wandel Identität zu behaupten und das eigene Selbst in der Zeit zu verorten.¹⁰⁴ Die Sinnbildungen historischen Erzählens sind darauf ausgerichtet, im Wandel Identität zu bewahren und Alterität erkennbar zu machen. Sinnbildung zielt somit auf Identitätssicherung oder -bildung sowie die kollektive Orientierung für einzelne Gruppen oder Gesellschaften ab. Darüber hinaus berühren historische Sinnbildungen immer auch individuelle Identitätsbildungsprozesse. Die von historischen Narrationen geschaffenen Identifikationsangebote müssen für die jeweiligen Adressaten plausibel, verständlich und nachvollziehbar sein. Um diesen Anforderungen zu entsprechen, bewegen sich Narrationen im Rahmen bestimmter gesellschaftlich gültiger Konventionen oder müssen sich, um es anders zu sagen, in der bestehenden Geschichtskultur positionieren. Narrationen entstehen entlang normativer Setzungen des Sag- und Abbildbaren und der gesellschaftlich akzeptierten Werte. Die Formenvielfalt möglicher Sinnbildungen hat Rüsen in vier Idealtypen zusammengefasst, die bestimmten Mustern folgen. Sinnbildung kann demnach traditionale, exemplarische, kritische oder genetische Formen annehmen.¹⁰⁵ Traditional angelegtes historisches Erzählen erinnert an die Ursprünge der gegenwärtigen Lebensverhältnisse, Ursprung und Tradition dienen als Orientierungs- und Deutungsmuster. Durch den Verweis auf Kontinuität werden die Ursprünge einer Gruppe oder Gemeinschaft als verpflichtend angesehen, Identität wird als Affirmation vorgegeben. Gegenwärtige Zeiterfahrungen sind Impulse zur Erneuerung eines Ursprungszustandes, die auch in Zukunft wieder erwartet werden können. Die Zukunft ist eine Fortsetzung der Vergangenheit, in der sich
Vgl. Rüsen, Geschichtskultur (), S. . Vgl. Jörn Rüsen: Kultur macht Sinn. Orientierung zwischen Gestern und Morgen. Köln , S. . Zu den Sinnbildungsmustern vgl. Rüsen, Historische Orientierung (), S. und sehr ausführlich Jörn Rüsen: Lebendige Geschichte. Grundzüge einer Historik III: Formen und Funktionen des historischen Wissens. Göttingen , S. – . Den Sinnbildungsmustern schreibt Rüsen gleichzeitig selbst einen historischen Prozess ein. Da hier das analytische Potenzial der Sinnbildungstypen im Vordergrund steht, wird diese historische Entwicklungsdimension im Folgenden außen vor gelassen.
3.6 Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart
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möglichst wenig ändert. Identität wird als Resistenz gegenüber Veränderungen verstanden. Traditionales Erzählen verweist auf Kontinuität im Wandel der Zeit, die sich häufig in Gründungsmythen, Stiftungsgeschichten oder Rückblicken bei Jubiläen äußert.¹⁰⁶ Exemplarisches historisches Erzählen stellt Sachverhalte der Vergangenheit in den Mittelpunkt, die die Regeln gegenwärtiger Lebensverhältnisse präzisieren. Gesucht wird nach überzeitlichen Lebensregeln, die dem Topos historia magistra vitae entsprechen. Narrationen diesen Typs präsentieren beispielsweise anhand von Vorbildern die zeitlose Gültigkeit von Normen. Identität wird über die Generalisierung verschiedener Handlungsregeln hergestellt, die zeitlose Gültigkeit besitzen. Die Adressaten der Narrationen finden in den überzeitlich gültigen Normen und Regeln einen Anhaltspunkt für ihr Verhalten in der Gegenwart. Diese ersten beiden Modi historischen Erzählens interessieren sich gleichermaßen für Kontinuität und Universalität. Ihre Orientierung liegt hauptsächlich in der Vergangenheit, sie sind durch ein statisches bzw. zyklisches Geschichtsbild gekennzeichnet.¹⁰⁷ Kritisches historisches Erzählen wendet sich gegen diese ersten beiden Sinnbildungsmuster, indem es Sachverhalte aus der Vergangenheit in den Mittelpunkt rückt, die gegenwärtige Lebensverhältnisse in Frage stellen. Diskontinuität und der Bruch mit dem Bisherigen sind seine Kennzeichen, es geht um die Abgrenzung von der Vergangenheit. Identität entsteht aus der Kraft, „nein“ sagen zu können, indem bisherige identitätsbildende Deutungsmuster abgelehnt werden. Kritisches Erzählen wehrt Identitätszuweisungen ab, die sich aus Kontinuitätsvorstellungen ableiten lassen, und ermöglicht stattdessen die Bildung neuer Vorstellungen von Kontinuität. Es ist somit das Erzählen in Zeiten von Übergängen, von Revolten und Revolutionen. Dabei geht es nicht nur darum, mit der Vergangenheit zu brechen, es wird auch nach dem bisher Marginalisierten, Verschütteten, nach ausgeblendeten Geschichten gesucht, um „die Bildung neuer Kontinuitäten durch Wegarbeiten traditioneller Deutungs- und Verhaltensmuster zu ermöglichen.“¹⁰⁸ Genetisches historisches Erzählen stellt qualitative Veränderungen in der Vergangenheit in den Mittelpunkt, die einen Bezug zur gegenwärtigen Situation zulassen. Diese Form der historischen Erzählung bringt ein dynamisches Moment
Vgl. Rüsen, Historische Orientierung (), S. ; Rüsen, Geschichtskultur (), S. . Vgl. Jakob Krameritsch: Die fünf Typen des historischen Erzählens – im Zeitalter digitaler Medien, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe (), URL http://www.zeithistorische-forschungen.de/-Krameritsch-- (Zugriff . . ). Ebd.
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3 Theoretische Verortungen
in die Orientierung der Gegenwart, da qualitative Übergänge in der zeitlichen Entwicklung bis zur Gegenwart erkennbar werden, die Herkunft und Zukunft als qualitative Differenz deutlich machen. Genetisches Erzählen bricht nicht mit der Vergangenheit, sondern sieht in den stetigen Veränderungen der Gegenwart entweder einen Verfallsprozess oder die Chance zur Entwicklung einer noch besseren Zukunft. Vergangenheit ist das Rohmaterial, aus dem potenziell „Neues und Höheres“ geformt werden kann.¹⁰⁹ Erst in den letzten beiden Erzählformen ist Bewegung und somit auch Fortschritt in der Geschichte angelegt, während die ersten beiden für Stagnation im Sinne einer zirkulären Zeitvorstellung stehen. Im Kritischen und Genetischen Erzählen entsteht Neues entweder durch schroffes Absetzen von bzw. einem Bruch mit Vergangenem oder durch das Neukombinieren vorhandener Bestandteile vergangenen Geschehens. Angelegt ist in diesen Erzählmodi auch das bewusste Streben nach Neuem, die Kritik am Bestehenden und ein Aufbruch ins bisher Unbekannte.¹¹⁰ Diese vier Grundmodi historischen Erzählens¹¹¹ treten nur in seltenen Fällen in ihrer Reinform auf, sie vermischen sich in der Praxis vielmehr zu komplexen Erzählkonstellationen. Immer ist es aber ihre Aufgabe, die gegenwärtige Welt im Wandel der Zeit zu verorten, und so ihren Rezipienten sinnvolle Angebote an Weltdeutung zu unterbreiten sowie Identifikationsangebote zu formulieren. Als intentionale Konstrukte können Narrationen auf doppelte Art analysiert werden: sowohl vor ihrem Entstehungshintergrund als auch in ihren inhaltlichen Aussagen, die plausibel sein müssen, wenn sie Bestand haben sollen.
Ebd. Ebd. Die von Rüsen angelegten Muster historischer Sinnbildung wurden unter anderem von Bodo von Borries und Hans-Jürgen Pandel erweitert. Siehe dazu von Bodo Borries: Geschichtslernen und Geschichtsbewußtsein. Empirische Erkundungen zu Erwerb und Gebrauch von Historie. Stuttgart ; Hans-Jürgen Pandel: Erzählen und Erzählakte. Neuere Entwicklungen in der didaktischen Erzähltheorie, in: Marco Demantowsky/Bernd Schönemann (Hg.): Neuere geschichtsdidaktische Positionen. Bochum , S. – .
4 Von der Theorie zur Praxis: öffentliche Geschichte als Teil der Geschichtskultur einer Stadt untersuchen 4.1 Dekonstruktion historischer Narrationen I: Triftigkeitsprüfung Für die Untersuchung öffentlicher Geschichte in einem städtischen Raum sind in den Theoriekonzepten Geschichtskultur und Geschichtsbewusstsein verschiedene Analyseansätze angelegt. So kann beispielsweise die Geschichtskultur über die von Rüsen definierten fünf Dimensionen untersucht werden, ferner bieten die Erzähltypen konkrete Ansatzpunkte zur Analyse der Art und Weise, wie in der Gegenwart historischer Sinn gebildet wird. Diese Analyseinstrumente bewegen sich jedoch auf einem abstrakten Niveau und müssen für die Anwendung auf konkrete Untersuchungsobjekte jeweils spezifiziert werden. Neuere geschichtsdidaktische Forschungen beschäftigen sich damit, wie diese geschichtstheoretischen Grundlagen für konkrete Anwendungsfelder erschlossen werden können, und entwickeln differenzierte Zugangsweisen. Auf diese wird im Folgenden zurückgegriffen. Die Geschichtsdidaktiker liefern unter anderem fassbare Definitionen für Formen, in denen historische Narrationen auftreten können. Neben reinen Textformen gehen diese über sprachliche oder textuelle Äußerung hinaus und schließen auch mediale Darstellungen wie Geschichtsfilme, historische Ausstellungen, Gedenkstätten, Denkmäler oder historische Bilder mit ein.¹ Einen besonders interessanten Ansatzpunkt für die Anwendung der Theoriemodelle bietet der Begriff der Triftigkeit, den Rüsen in seiner Historik entwirft und der Aussagen über die Plausibilität einer historischen Narration ermöglicht.² Historische Narrationen sind aufgrund ihres Konstruktcharakters, der Retroperspektivität und Partikularität grundsätzlich offen. Für eine historische Fragestellung existieren in Abhängigkeit der Perspektive unterschiedliche Antwortmöglichkeiten, die verschiedentlich dargestellt werden können. Diese prinzipielle Offenheit ist jedoch nicht gleichzusetzen mit Beliebigkeit, und die Plausibilität einer historischen Narration muss einer Prüfung standhalten können. Die von Rüsen erarbeiteten Kriterien der Triftigkeit ermöglichen nicht nur die Prüfung ihrer Plausibilität, sie stellen gleichzeitig auch eine Vergleichbarkeit zwischen historischen Darstellungen her. Grundlegend werden Triftigkeiten als die Art und Weise defi-
Vgl. Schreiber/Gruner/Basel, Leitfaden De-Konstruktion (), S. . Vgl. Rüsen, Historische Vernunft (), S. – .
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niert, wie in einer Narration Entwicklungen und Veränderungen zwischen verschiedenen Zeitpunkten (einer der Zeitpunkte ist zwangsläufig immer durch den fragenden und schreibenden Autor in der Gegenwart markiert) dargestellt, sowie Zusammenhänge in und zwischen den Zeitdimensionen hergestellt werden.³ Triftig ist eine Narration dann,wenn sie auf empirischer, narrativer und normativer Ebene plausibel erscheint, das heißt sich an inhalts-, theorie- und verfahrensbezogene Konventionen hält, die für bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Gesellschaften als Ganzes Gültigkeit besitzen. Triftig und plausibel sollten sowohl Narrationen sein, die innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses, als auch solche, die außerhalb der Wissenschaft erarbeitet werden. Entsteht Geschichte als Wissenschaft, werden bei ihrer Erstellung bestimmte Regeln und theoretische Annahmen befolgt, die sie begründbar, nachvollziehbar und überprüfbar macht. Historische Narrationen, die außerhalb des wissenschaftlichen Diskurses entstehen, orientieren sich in der Regel stärker an bestimmten Zielsetzungen, etwa an den Interessen der Rezipienten, um für diese möglichst überzeugend zu sein. Um eine hohe Überzeugungskraft zu entfalten, weisen sowohl die wissenschaftlich als auch die außerwissenschaftlich hervorgebrachten Narrationen einen Bezug auf Vergangenheitspartikel auf (empirische Triftigkeit). Narrationen im außerwissenschaftlichen Bereich sind jedoch häufig narrativ und argumentativ stärker bearbeitet und verfügen auf der normativen Ebene über eine größere Anschlussfähigkeit an die Gegenwart der Menschen, die sie verstehen sollen. Demnach unterscheidet sich das Verfahren von wissenschaftlichen Historikern und „Laienhistorikern“ bei der Produktion historischer Narrationen nicht. Beide haben in der Lebensbewältigung ihren Ursprung, die sie dazu anregt, sich mit Vergangenheit und Geschichte zu befassen. Die Universitätshistoriker verfügen jedoch häufig über einen Erfahrungs- und Methodenvorsprung und sollten aufgrund ihrer herausgehobenen Bedeutung ihre normativen und narrativen Regeln bewusst reflektieren. Das Verfahren zur Erstellung historischer Narrationen ist jedoch dasselbe: Es beruht auf empirischen Belegen, enthält eine narrative Struktur und ist von den Normen und Werten der Gegenwart, in der die Narration entsteht, wirkt und Orientierung leistet, entscheidend geprägt. Wichtiger als eine Trennung zwischen wissenschaftlicher und außerwissenschaftlicher Geschichte scheint daher eine Abgrenzung zwischen fiktionaler Literatur und Geschichte. Der Bezug auf quellengestütztes Geschehen in der Vergangenheit unterscheidet eine historische Narration von fiktionalen Darstellungen. Das Prinzip der Triftigkeiten einer historischen Narration beinhaltet ferner einen spezifischen Wahrheitsbegriff. Wahrheit wird demnach nicht als reine Ob-
Vgl. Schreiber, Geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Grundlagen (), S. .
4.1 Dekonstruktion historischer Narrationen I: Triftigkeitsprüfung
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jektivität einer Darstellung verstanden, sondern als Konsens. Es geht sowohl bei der wissenschaftlichen als auch bei der außerwissenschaftlichen Erarbeitung von Geschichte nicht um die Suche nach objektiven Wahrheiten, sondern um die lebensweltliche Perspektive historischen Wissens: Historisches Wissen entsteht aus einem Orientierungsbedürfnis in der Gegenwart und wird anhand der in dieser Gegenwart geltenden Normen und Werte erstellt.
Wie lassen sich die Triftigkeiten einer historischen Narration prüfen? Die Prüfung der Triftigkeiten einer Narration ermöglicht es, Aussagen über die Qualität einer Narration zu treffen. Die Triftigkeitsprüfung kann als Ansatz zur Dekonstruktion historischer Darstellungen angesehen werden, im Rahmen des geschichtsdidaktischen Forschungsverbundes FUER⁴ wurde sie in dieser Absicht zu einer detaillierten Matrix weiterentwickelt. Ziel der Forschergruppe war es unter anderem, verlässliche Verfahrensweisen zur Dekonstruktion historischer Darstellungen zu erarbeiten. Diese haben in der Geschichtswissenschaft bisher weniger Aufmerksamkeit erfahren als etwa Methoden zur Rekonstruktion vergangenen Geschehens. Der Fokus der Geschichtswissenschaften lag über die vergangenen Jahrhunderte hinweg auf der Etablierung der historisch-kritischen Methode als wissenschaftliches Verfahren zur Rekonstruktion der Vergangenheit. Die Rekonstruktion kann zwar analytisch als gegenläufige Operation zur Dekonstruktion gesehen werden, beide werden jedoch im historischen Denken verknüpft und gehören als Operationen zusammen. Die Konzentration auf die Rekonstruktion sollte aus Sicht der Didaktiker einem stärkeren Fokus auf die Dekonstruktion weichen. Die Analyse „fertiger“ Narrationen, mithin das Durchschauen von Entstehungshintergründen, Absichten, Botschaften und Wirkungen historischer Narrationen, sollte die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie die Verfahren zur Rekonstruktion von Vergangenheit. Die Abkürzung FUER setzt sich aus den Anfangsbuchstaben des grundlegenden Projektziels zusammen: die Förderung und Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins. Der Forschungsverbund verfügt über eine eigene Homepage, auf der neben der Projektstruktur, den Aktivitäten wie Tagungen und Treffen der regional organisierten Arbeitskreise auch die theoretischen Grundlagen ausführlich dargestellt werden. Die Koordination des Gesamtprojektes lag bei Professor Waltraud Schreiber an der Katholischen Universität in Eichstätt. Zum Leitungsteam gehörten unter anderem die Geschichtsdidaktiker Prof. Dr. Bodo v. Borries (Universität Hamburg), Prof. Dr. Wolfgang Hasberg (Universität zu Köln), Prof. Dr. Andreas Körber (Universität Hamburg), Prof. Dr. Reinhard Krammer (Universität Salzburg), PD Dr. Beatrice Ziegler (Fachhochschule Nordwestschweiz).Vgl. die Webseite des Projektes: URL http://www.ku-eichstaett.de/GGF/Didak tik/Projekt/FUER.html (. . ).
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Der Forschungsverbund FUER hat in Anlehnung an die Überlegungen Jörn Rüsens einen Dekonstruktionsvorschlag historischer Darstellungen erarbeitet, der eine Trennung verdeutlicht zwischen vergangenheitsbezogenen Deutungen sowie Sinnbildungen, die sich auf Gegenwart bzw. Zukunft beziehen. Vergangenheitsbezogene Deutungen schaffen Verknüpfungen zwischen Gegebenheiten und Geschehnissen dieser Vergangenheit und gehen auf Prozesse, Strukturen, epochen-, raum- und kulturbezogene Spezifika ein. Sie beruhen auf Vergangenheitspartikeln, die als unter Historikern weitgehend unumstrittene Bausteine definiert werden und die in Folge von Quellenarbeit ermittelt wurden. Vergangenheitsbezogene Deutungen werden in „erzählenden Sätzen“ (Arthur C. Danto) und meist im Präteritum verfasst, thematisieren abgeschlossene Phänomene bzw. Entwicklungen und haben die Funktion, diese zu erläutern.⁵ Historische Sinnbildungen hingegen konzentrieren sich nicht ausschließlich auf die Vergangenheit, sie fokussieren vielmehr auch Gegenwart und Zukunft. Vergangenheitsbezüge werden hergestellt, um Orientierung für gegenwärtiges und zukünftiges Handeln zu ermöglichen. Auch die historischen Sinnbildungen beruhen auf Vergangenheitspartikeln, werden jedoch meist im Präsens oder Futur formuliert, da Orientierungen offen und erst in Zukunft verifizier- oder falsifizierbar sind.⁶ Angelegt ist in der Unterscheidung zwischen Vergangenheitsdeutungen und Sinnbildungen die Trennung dreier sogenannter Fokussierungen (Aspekte), auf denen historische Darstellungen basieren: Vergangenheit steht im Fokus, wenn vergangenes Geschehen festgestellt wird; der Fokus liegt auf Geschichte, wenn die ex post verfassten historischen Narrationen im Zentrum stehen, Gegenwart und Zukunft werden fokussiert, wenn Geschichte auf die gegenwärtige Situation bzw. die zu erwartende Zukunft bezogen wird.⁷ Zur Veranschaulichung dieser sogenannten Fokussierungen wurde eine Matrix erstellt, die außerdem die oben angesprochenen Triftigkeiten miteinbezieht und somit einen umfassenden Analyserahmen zur Dekonstruktion historischer Narrationen bildet. Der Matrix folgend, beginnt die Analyse einer Narration auf der Ebene der Vergangenheit. Es wird Vgl. Schreiber, Geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Grundlagen (), S. f. Der analytische Philosoph Arthur C. Danto unterstreicht die temporale Struktur der Sprache. Diese manifestiert sich in der Erzählung, die einen Anfang und ein Ende hat. Danto traute der Erzählung zu, „historische Sachverhalte, die ebenfalls eine temporale Struktur aufweisen, adäquat erfassen zu können. Damit verschob sich die Funktion der Erzählung von einer Darstellungsweise, die man wählte, um den bereits erforschten historischen Sachverhalt in bündiger Form zur Darstellung zu bringen, zum Weg, einen solchen Sachverhalt vorher überhaupt erst zu durchschauen und zu erklären. Aus einer Darstellungsweise wurde ein Erkenntnisverfahren.“ Vgl. Goertz, Umgang mit Geschichte (), S. . Vgl. Schreiber, Geschichtstheoretische und geschichtsdidaktische Grundlagen (), S. . Ebd., S. .
4.1 Dekonstruktion historischer Narrationen I: Triftigkeitsprüfung
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untersucht, welche konkreten Aussagen über vergangenes Geschehen in einer Narration getroffen werden. Aussagen über die Qualität des Bezuges auf vergangenes Geschehen kann die Prüfung der empirischen Triftigkeit liefern. Empirische Triftigkeit bedeutet nichts anderes als die fachliche Stimmigkeit der Aussagen über die Vergangenheit. Diese kann zum Beispiel durch die Suche und Analyse von Quellen oder einen Abgleich mit dem Forschungsstand geprüft werden. Sie zeigt sich aber auch in der schlüssigen Verwendung von Fachterminologie. Empirische Triftigkeit fragt danach, welche Belege es für das behauptete vergangene Geschehen gibt und wie repräsentativ das beschriebene historische Phänomen ist, ob es also durch die historische Forschung als gesichert und bekannt angesehen wird. Für die Untersuchung der empirischen Triftigkeit der Narrationen zur Stadtgeschichte von Katowice werden die historisch argumentierenden Narrationen aus dem zur Analyse herangezogenen Material extrahiert und beschrieben, um anschließend darzustellen, auf welche Ereignisse der Stadtgeschichte sie sich beziehen und wie quellengestützt und repräsentativ diese Bezüge sind. Die empirische Triftigkeit wird anhand stadtgeschichtlicher Monografien, Abhandlungen und bekannter Quellenbezüge überprüft. Im zweiten Schritt – der narrativen Triftigkeit – wird untersucht, wie stark eine Narration auf Geschichte fokussiert ist. Hier steht nicht mehr das „Was“, sondern das „Wie“ im Mittelpunkt. Dafür wird untersucht,wie die im ersten Schritt analysierten Aussagen über die Vergangenheit in Kontexte gesetzt, als Geschichte dargestellt werden und auf welche Weise diese Geschichte erzählt wird. Die sprachlichen und argumentativen Konstruktionskriterien einer Narration stehen nun auf dem Prüfstand. Als Bezugspunkte werden dafür Argumentationsstruktur und -muster, theoretische Annahmen sowie Informationen, die mit dem Standpunkt des Urhebers der Narration in Verbindung zu bringen sind, herangezogen. Im weitesten Sinne gerät hier der Kontext, in dem Narrationen entstehen, sowie Fragen nach der Perspektivität und dem Standort des Urhebers der Narration sowie äußere Einflüsse auf die Entstehung einer Narration in den Blick. Die Untersuchung der Fokussierung auf Geschichte entspricht weitgehend den Fragen, die bei der Analyse der narrativen Triftigkeit gestellt werden. Narrationen müssen, um narrativ triftig zu sein, ihre erzählerischen Sequenzen zu einer sinnvollen Erzählung zusammenfügen, die eine für den Rezipienten nachvollziehbare Geschichte entstehen lässt. Analysieren lassen sich beispielsweise die Art und Weise, wie argumentative Zusammenhänge sprachlich vermittelt werden, welche sprachlichen Mittel verwendet werden, um eine überzeugende Geschichte zu erzählen. Was wird erzählt und was wird als gegeben vorausgesetzt? Und wie wird der Geschichte sprachliche Stringenz verliehen? Für die Untersuchung der narrativen Triftigkeit spielt unter anderem die Frage nach äußeren Zwängen bei der Entstehung der Narrationen eine Rolle, da öffentliche Geschichte häufig auf An-
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frage, Anforderung und zu bestimmen Anlässen produziert wird. Die Frage nach der Entstehung einer Narration lässt aber auch ihre Bedingtheit durch gesellschaftliche Bedürfnislagen oder persönliche Erkenntnisinteressen der Narrateure deutlich werden. Dieser Teilaspekt wird deshalb besonders ausführlich anhand folgender Fragen behandelt: Lässt sich ein Anlass zur Bildung einer historischen Narration ausmachen? Wer sind die Urheber der Narration? In welchem institutionellen Kontext sind sie angesiedelt? Welche Einstellungen und Meinungen haben und welche Werte vertreten sie? Mit diesen Fragen rücken nun auch die Narrateure ins Blickfeld, und die Analyse der Narrationen wird um die Untersuchung des Geschichtsbewusstseins der Akteure erweitert. Die Einstellungen, Zielsetzungen und beabsichtigten Wirkungen einer Narration werden anhand der Interviews ersichtlich. Der zweite Untersuchungsschritt trägt der Annahme Rechnung, dass sich individuelle Vorstellungen über den Gang der Geschichte in den Konzeptionen von Narrationen niederschlagen. Narrationen entstehen unter einer Vielzahl von Bedingungen, in einem Geflecht von individuellen und gesellschaftlich-geschichtskulturellen Verankerungen. Der letzte Analyseschritt der Matrix nimmt den Bezug der Narration auf Gegenwart und Zukunft in den Blick. Im Mittelpunkt stehen die aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit gewonnenen historischen Orientierungen. Diese drücken sich in Botschaften, Orientierungsangeboten und den im vorangegangenen Kapitel eingeführten Sinnbildungsmustern aus. Auch die Fragen, die in der Gegenwart die Beschäftigung mit Vergangenheit angeregt haben, gehören zum Analyserahmen. Narrationen basieren immer auf gesellschaftlichen Setzungen und Normen, sie sind von ihnen geprägt und abhängig und müssen daher bei der Analyse miteinbezogen werden. Narrationen fügen sich in den bestehenden normativen Rahmen einer gesellschaftlichen Gruppe entweder ein – oder sie provozieren durch das bewusste Aufbrechen normativer Vorstellungen. Gesellschaftlich anerkannte Normen setzen demnach allgemein anerkannte Grenzen und Regeln für die Konstruktion von Vergangenheitsbezügen, sie bilden den Rahmen des Sagbaren. Analysierbar wird die normative Plausibilität historischer Orientierungen, indem untersucht wird, ob die Normen und Werte der dargestellten Zeit bzw. der Zeit, in der die historische Narration entstanden bzw. für die sie gedacht ist, berücksichtigt werden. Ferner lässt sich normative Triftigkeit daran messen, inwiefern auf kulturelle Prägungen hingewiesen wird oder eine explizite Bezugnahme auf Ethik und Moral oder rechtliche Rahmenbedingungen erfolgt.⁸ Praktisch gewendet heißt das, dass die Narrationen den Normen der
Ebd., S. .
4.1 Dekonstruktion historischer Narrationen I: Triftigkeitsprüfung
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Zielgruppe bzw. der Rezipienten, die diese für wichtig und zustimmungsfähig halten, entsprechen müssen, um Wirksamkeit entfalten zu können. Das hier eingeführte Verfahren zur Analyse der Triftigkeiten historischer Narrationen ist eine fallbezogene Interpretation der geschichtsdidaktischen Matrix. Es handelt sich dabei um eine bewusste Vereinfachungen, mit dem Ziel, ein anwendungsorientiertes Instrumentarium für den Untersuchungsgegenstand zu erstellen. Zur Vereinfachung gehört etwa, dass die einzelnen Triftigkeiten jeweils einer Fokussierung zugeordnet werden. Die Triftigkeiten einer Narration lassen sich jedoch in allen drei Zeitdimensionen überprüfen. Das heißt auch in der Vergangenheit könnte eine Überprüfung der empirischen, narrativen und normativen Triftigkeit von Narrationen durchgeführt werden. Dieser Zugang ist jedoch für den hier gewählten Fokus weniger bedeutend, daher wird auf der Ebene der Vergangenheit lediglich nach den Vergangenheitspartikeln gefragt, die in Katowice bei der Erarbeitung historischer Narrationen herangezogen wurden.
Quellen zur Triftigkeitsprüfung historischer Narrationen in Katowice Die Analyse empirischer Triftigkeiten bezieht sich hauptsächlich auf Quellen, die in Text- oder Bildform vorliegen. Für die Analyse der narrativen und normativen Triftigkeit müssen zusätzliche Informationen hinzugezogen werden, da hier gleichwohl die Autorenperspektive der Narrateure mit untersucht wird. Dafür wurden Interviews mit den Urhebern der Narrationen geführt.⁹ Das Geschichtsbewusstsein der Narrateure als „Rückraum“ der Geschichtskultur wurde anhand qualitativer, leitfadengestützter Experteninterviews erhoben, dokumentiert und ausgewertet. Da es sich um subjektive Sichtweisen und Sinnkonstruktionen handelt, werden die aus den Interviews entstandenen Textquellen mit Methoden der qualitativen Inhaltsanalyse, durch Kategorisierung und Kodifizierung des Materials ausgewertet und anschließend interpretiert.¹⁰ Ziel der inhaltlichen Auswertung ist die Beschreibung des Geschichtsbewusstseins bzw. des Geschichtsverständnisses der Akteure; diese legen Einstellungen und Haltungen der maßgeblich an der Konstruktion von Narrationen Beteiligten offen. Es soll verdeutlicht werden, auf welcher Grundlage die Akteure sich deutend der Vergan-
Ausführlicher zur Erhebung, Auswertung und Interpretation der Daten siehe den Abschnitt . Quellengrundlage. Vgl. Uwe Flick: Qualitative Sozialforschung. Eine Einführung. Reinbek bei Hamburg , besonders S. – ; Uwe Flick/Ernst von Kardorff/Heiner Keupp/Lutz von Rosenstiel/Stephan Wolff (Hg.): Handbuch Qualitative Sozialforschung. Grundlagen, Konzepte, Methoden und Anwendungen. München , S. – .
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Grafik 2: Die Matrix des Forschungsverbundes FUER mit den unterschiedlichen Fokussierungen auf Vergangenheit, Geschichte, Gegenwart und Zukunft. Angewandt wird in dieser Studie der untere Teil der Matrix, der sich auf die Dekonstruktion von Geschichte und den Umgang mit Geschichte bezieht. Quelle: Waltraud Schreiber/Sylvia Mebus (Hg.): Durchblicken. Dekonstruktion von Schulbüchern. 2. Aufl. Neuried 2006, S. 20; grafische Bearbeitung: Tobias Ahrendt.
4.2 Dekonstruktion historischer Narrationen II: Museumsanalyse
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genheit zuwenden oder – mit Rüsen gesprochen – welche Orientierungsprobleme und Kontingenzerfahrungen ihre Gegenwart bestimmen, die ihnen eine Zuwendung zur Vergangenheit erforderlich erscheinen lassen. Welches Verständnis von Geschichte und Vergangenheit sowie von Zeit und ihrem Verlauf haben sie? Wie bewusst gehen sie mit Geschichte um? Welche Begrifflichkeiten verwenden sie, und mit welchen Absichten tun sie das? Welche Haltungen und Werte prägen das Denken der Akteure, welche normativen Grundlagen bestimmen ihr Denken und Handeln? Zur Auswertung der Interviews gehören außerdem die Fragen, was erzählt wird, was auf der Ebene der Andeutungen bleibt sowie ob etwas absichtlich nicht erzählt wird. Die Auswertung der Interviews soll zu einer Einschätzung der Reflexionstiefe der Narrateure beitragen.
4.2 Dekonstruktion historischer Narrationen II: Museumsanalyse Historische Museen als Orte des partikularen und selektiven Sammelns, Konservierens, Restaurierens, Erforschens sowie Zeigens von Objekten aus der Vergangenheit sind Produktionsstätten öffentlicher historischer Narrationen und historischen Sinns par excellence. Aus musealen Sammlungen entstehen im Verlauf weiterer Auswahlprozesse aus Objekten und mit Hilfe von Texten, Relikten, Gemälden oder Fotografien Ausstellungen und somit historische Narrationen, deren Funktion auch darin besteht, die vergangenen Ereignisse zu zeigen, sie zu repräsentieren. Das Museum als Institution, sowie seine historischen Dauer- und Wechselausstellungen, werden somit zu einem Untersuchungsgegenstand, der auf seine Konstruktionskriterien, seine Aussagen, Ziele und Wirkungen hin befragt werden kann. Obwohl verschiedene wissenschaftliche Disziplinen das Museum seit einigen Jahren verstärkt zu ihrem Forschungsfeld erklärt haben, existiert bislang keine etablierte Methode, nach welchen Maßgaben die Inhalte, die Ausstellungspraxen oder die Institution Museum in ihrer Gesamtheit mit ihren vielfältigen Verflechtungen zum Standort, in die Politik oder zu Geldgebern zu untersuchen sind. In diesem Zusammenhang weist Joachim Baur darauf hin, dass das Museum an sich als Artefakt der eigenen Gesellschaft erst in den 1980er Jahren zu einem selbstständigen Forschungsfeld geworden ist, während sich das Forschungsinteresse bis dahin vor allem auf die in Museen gesammelten und ausgestellten Objekte anderer Zeiten und Kulturen konzentrierte. Gegenwärtig nähern sich Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen, ausgestattet mit verschiedenen Untersuchungsinstrumentarien dem Museum. So betrachten etwa die Cultural Studies das Museum als hegemoniale Institutionen, die an Formen der Wissensproduktion beteiligt ist. Ihr Ziel ist es daher, die dort erarbeiteten Aus-
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stellungen auf die „Stimmen bestimmter Gruppen, [die] aus der Öffentlichkeit verdrängt oder in ihr marginalisiert wurden“ hin zu untersuchen.¹¹ Im Mittelpunkt dieses Ansatzes steht das Bestreben, die politische Verfasstheit musealer Ausstellungen zu verdeutlichen sowie die Strategien herauszuarbeiten, durch die diese Repräsentationen als „objektiv“ dargestellt werden.¹² Die Cultural Studies zielen damit letztlich auf eine Demokratisierung, indem sie Repräsentationen als elitär oder ausschließend oder beides „entlarven“.¹³ Untersuchen hingegen Ethnologen ein Museum, interessieren sie sich weniger für Repräsentation als vielmehr für Prozesse und fragen danach, wie Texte (bzw. Ausstellungen) produziert und von den Rezipienten gelesen und rezipiert werden. Ethnologen suchen nach Komplexität und ordnen sie, gleichzeitig versuchen sie z. B. mit der Methode der teilnehmenden Beobachtung das Museum über einen längeren Zeitraum intensiv zu erforschen, um sich möglichst eingängig mit den Perspektiven der beteiligten Akteure auseinanderzusetzen und diese in einer Ethnografie des Museums beschreiben zu können. Die Perspektive der Akteure, in diesem Fall des Kurators und der Museumsleitung, wird auch in der Analyse der Museen in Katowice eine Rolle spielen. Im Anschluss an die oben eingeführten geschichtstheoretischen Prämissen wird das Untersuchungsobjekt historische Ausstellungen jedoch nicht mit einem ethnologischen Ansatz oder dem Instrumentarium der Cultural Studies untersucht, sondern als historische Quelle betrachtet, die nach Maßgabe der Quellenkritik untersucht werden soll.¹⁴ Die Quellenkritik gliedert sich in zwei
Vgl. Sharon Macdonald: Museen erforschen. Für eine Museumswissenschaft in der Erweiterung, in: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld , S. – , hier S. . Ebd., S. . Vgl. Eric Gable: Ethnographie. Museum als Feld, in: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld , S. – , hier S. . Eine ähnliche Herangehensweise an die Analyse historischer Ausstellungen schlägt der Historiker Thomas Thiemeyer in seinem Aufsatz „Geschichtswissenschaft: Das Museum als Quelle“ vor. Dort erarbeitet er entlang der Quellenkritik einen Fragenkatalog, der bei der Untersuchung historischer Ausstellungen angewandt werden kann. Er beginnt dabei mit der Frage des Autors der Quelle und rückt somit die Intention des Urhebers, im Fall von Ausstellungen des Kurators, zum Analysebeginn in den Mittelpunkt. Die von mir vorgeschlagene Herangehensweise arbeitet in umgekehrter Reihenfolge und beginnt mit einer Analyse formaler Merkmale. Erst am Ende der Untersuchung fließen die Überzeugungen und Vorstellungen des Kurators mit in die Analyse ein.Vgl. Thomas Thiemeyer: Geschichtswissenschaft: Das Museum als Quelle, in: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld , S. – . Erwähnenswert scheint im Zusammenhang dieser Arbeit auch, dass Thiemeyer Geschichte im Museum als Teil von Geschichtskultur versteht, die er nach Rüsen definiert. Die Einführung des Geschichtskulturkonzeptes hat allerdings auf den weiteren Verlauf der Argu-
4.2 Dekonstruktion historischer Narrationen II: Museumsanalyse
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Bestandteile, eine äußere sowie eine innere und folgt der Logik eines Vorgehens von außen nach innen: Sie untersucht zuerst die formalen, äußeren Erscheinungsbilder und Merkmale, um dann auf die inneren, stärker auf den Inhalt sowie die erzählten Geschichten fokussierenden Elemente einzugehen. Die äußere Quellenkritik betrachtet die Umgebung der Ausstellung, demnach das Museum als Institution in seiner organisatorischen Verfasstheit im Sinne der Anzahl und Aufteilung der Abteilungen, der Mitarbeiterzahl, aber auch der Trägerschaft der Einrichtung sowie des Etats. Auch die Beschreibung der räumlichen Situation des Museums ist Bestandteil der äußeren Quellenkritik: Wo befindet sich das Museum und in welcher Art von Gebäude ist es untergebracht? Wurde ein eigens entworfenes architektonisches Konzept umgesetzt, das mit den Inhalten der Ausstellung korrespondiert oder handelt es sich um einen neutralen Museumsbau? Anders liegen die Dinge, wenn ein Museum in einem Gebäude mit anderen Nutzern untergebracht ist, das vielfältigen Funktionen dient. Diese Fragen haben Auswirkungen auf die Wahrnehmung des Museums, aber auch der Ausstellung – beispielsweise durch die Gestaltung der Eingangssituation des Museums, die bereits erste Eindrücke, aber durchaus auch erste inhaltliche Botschaften vermitteln kann. Anschließend werden Ziele und Intentionen des Museums und somit der definierte Sammlungsschwerpunkt, aber auch das öffentliche Auftreten der Institution beschrieben. Für die äußere Quellenkritik ist es wichtig, das Verhältnis zwischen Ausstellung und Museum präsent zu halten und sich immer wieder vor Augen zu führen, dass die Ausstellung ein Teil des Museums ist und nicht umgekehrt. Alles Agieren des Museums sowie sein institutioneller Rahmen haben Einfluss auf die Inhalte und Botschaften sowie die Form von Ausstellungen. Zur äußeren Quellenkritik gehört abschließend die Erhebung der Entstehungsdaten der Ausstellung, ihres Entstehungs- sowie ihres Wirkungsortes. Diese Daten verweisen auf den erinnerungspolitischen Kontext, in dem die Ausstellung entstanden ist sowie auf den Ort, an dem sie zu sehen ist und der eine spezifische Zielgruppe nahelegen kann. An die Erfassung dieser Rahmenbedingungen in der äußeren schließt die innere Quellenkritik an. Sie richtet das Augenmerk auf die Ausstellung als Quelle an sich. Das grundlegende Anliegen einer inneren Quellenkritik sollte die Suche nach den zentralen Botschaften sein, die die Ausstellung zu vermitteln versucht. Diese lässt sich häufig bereits an besonders programmatisch gewählten Titeln ablesen. Auch der Zweck oder das Ziel, das mit einer Ausstellung verfolgt werden soll, mithin die Motivation, eine Schau ins Werk zu setzen, sollten im Rahmen
mentation in diesem Aufsatz keine Auswirkungen, sodass sich der für diese Untersuchung relevante Teil des Aufsatzes auf den Fragenkatalog entlang der Quellenkritik erstreckt.
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der inneren Quellenkritik thematisiert werden. Soll die Ausstellung zum Frieden erziehen, Touristen anlocken, Traditionspflege betreiben oder unlängst vergangene Konflikte musealisieren, um so die Deutungsmacht über sie zu erlangen?¹⁵ Wenn die konzeptionelle Idee ermittelt wurde, kann sie an der Ausstellungswirklichkeit gemessen und der Frage nachgegangen werden, ob die Ideen hinter der Ausstellung entsprechend sichtbar werden und die Schau wirklich zeigt, was die Autoren intendiert haben.¹⁶ Die identifizierbaren Elemente, die eine Ausstellung als Ganzes konstituieren, lassen sich in drei Kategorien einteilen. Zur ersten Kategorie gehören alle Fragen bezüglich der Raumsituation, in der sich die Ausstellung befindet, wobei das Hauptaugenmerk auf dem Einfluss der räumlichen Konzeption auf die Vermittlung des Inhaltes liegt. Gefragt wird demnach beispielsweise nach der Unterteilung der Gesamtschau auf einzelne Räume und deren Implikation auf die Art und Weise, wie die Narration aufgebaut ist: Wird chronologisch vorgegangen und die einzelnen Kapitel der Geschichte unterschiedlichen Räumen zugeordnet, oder ist die Erzählung thematisch (ggf. auch geografisch oder biografisch) geordnet und verzichtet aufgrund des zu vermittelnden Inhaltes auf räumliche Untergliederungen? Oder wurde ein Themenparcours aufgebaut, dem eine ganz eigene räumliche Konzeption zu Grunde liegt? Zur Analyse der Raumsituation gehört ferner die Beschreibung, ob, und wenn ja, wie der Raum zur Inszenierung von Inhalten genutzt wird und welche inszenatorischen Strategien sich erkennen lassen. Wird im Raum eine spezifische Beleuchtungssituation geschaffen? Werden also einzelne Objekte durch ihre räumliche Anordnung und Beleuchtung gezielt ins Blickfeld gerückt, um Aufmerksamkeit für sie zu generieren? Die Analyse der räumlichen Dimension einer Ausstellung verweist bereits auf den nächsten Schritt der inneren Quellenkritik, bei dem die zur Schau gestellten Objekte analysiert werden. Dabei werden sowohl die einzelnen Objekte sowie die Art ihrer Präsentation beschrieben. Hier muss neben dem bereits angesprochenen Aspekt der Präsentation der Objekte im Raum zusätzlich nach dem Einsatz einer spezifischen Ausstellungsarchitektur gefragt werden, die die Objekte besonders in Szene setzen soll. Lässt sich aus der Art der Präsentation eine bestimmte Hierarchie der Objekte erkennen? Welche sind besonders wichtig für die Entstehung und die Vermittlung einer Aussage? Eng verbunden mit der Betrachtung der Objekte ist der dritte Analyseschritt, der auf die erklärenden Texte bzw. Medien fokussiert. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, wie sich das Verhältnis zwischen Vgl. Thiemeyer, Museum als Quelle (), S. . Auf den Punkt der Intention der Autoren wird weiter unten noch gesondert eingegangen. Bei der Quellenkritik von außen nach innen geht es vorerst darum, die Botschaft einer Ausstellung aus dem sichtbaren Material, also der Ausstellung selbst abzuleiten.
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Objekten und Text gestaltet. Wie viel Vermittlung durch Texte und erklärende Medien findet statt? Was genau wird in den erklärenden Texten beschrieben, welche Themen werden behandelt, wie werden sie beschrieben? Werden die einzelnen Objekte mit ausführlichen kontextualisierenden Texten versehen, oder gibt es lediglich Angaben zur Entstehung, dem Autor bzw. dem Fundort des Objektes? Nachdem die Elemente der Ausstellung erfasst wurden, folgt die inhaltliche Analyse. Das Augenmerk richtet sich dabei auf die Beziehungen, die zwischen den einzelnen Ausstellungselementen geschaffen wurden: Wie korrespondieren die einzelnen Elemente miteinander? Welche Aussagen erwachsen aus der Analyse der Beziehung zwischen den Elementen? Stehen sie in einem sich ergänzenden Verhältnis zueinander oder stellen z. B. die Textelemente einzelne sinnbildende Einheiten dar, die nur wenig Berührungspunkte mit den Objekten aufweisen?¹⁷ Diese Frage zielt auf den Stellenwert der Objekte in einer Ausstellung. Stehen die präsentierten Objekte für sich und sollen allein durch ihre Präsenz Bedeutung und Sinn vermitteln, sind sie somit selbst Ausgangspunkt für das Erzählen einer Geschichte? Oder werden die Objekte in der Ausstellung als „Belege“ für eine Erzählung angesehen, die sich vor allem in den beschreibenden Texten manifestiert? Wird die Aussage der Ausstellung durch ihre Objekte transportiert, stehen die Objekte für die eingangs ermittelte Botschaft oder sind die vermittelnden Medien, wie etwa beschreibende Textelemente, hauptsächlicher Träger der Erzählung? Welche Schlüsse lassen sich aus diesen etwaigen Diskrepanzen zwischen gezeigten Objekten und erklärenden Elementen ziehen? Dieser Aspekt verweist darauf, dass die Objekte einer Museumssammlung für Ausstellungen in verschiedene inhaltliche Kontexte eingebunden werden können, was auf ihre prinzipielle Deutungsoffenheit hinweist. Es muss also ganz grundlegend danach gefragt werden, inwiefern die verwendeten Objekte und ihre Kontextualisierung zur Vermittlung der angedachten Botschaft beitragen oder andere Botschaften vermitteln.
Diese Fragen stammen aus einem Analyseraster, das mit den Begriffen der Oberflächenstruktur und inhaltlichen Tiefenstruktur zur Analyse der Elemente von Schulbüchern arbeitet. Die Fragen wurden für diese Studie neu zusammengestellt. Dieser Bezug bietet sich insofern an, als in Schulbüchern ähnlich wie in Ausstellungen (jedoch ohne die räumliche Dimension und den Objektbezug) verschiedene Text- und Bildelemente komponiert werden, die aufgrund ihrer Konstellation bestimmte Botschaften und Aussagen transportieren. Vgl. Alexander Schöner: Die Eichstätter Schulbuchanalysen. Zur Methode kategorialer Inhalts- und Strukturanalysen, in: Waltraud Schreiber/Alexander Schöner/Florian Sochatzy: Analyse von Schulbüchern als Grundlage empirischer Geschichtsdidaktik. Stuttgart , S. – .
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Das führt zum letzten Punkt der Inhaltsanalyse, bei dem die Themen der Ausstellung und ihr konzeptioneller Zuschnitt im Mittelpunkt stehen. Sind die Themen anhand zentraler Begriffe oder markanter Ereignisse gefasst und gegliedert? Wie wird überhaupt mit Sprache umgegangen? Dienen die sprachlichen Mittel dazu, eine geschlossen formulierte Geschichte zu vermitteln, oder werden durch das Formulieren von Fragen Interpretationsspielräume geöffnet? In diesem Bereich muss auch danach gefragt werden, aus welcher Position die Geschichte der Ausstellung erzählt wird: Aus einer „objektiv“ beschreibenden, oder wird der Besucher in die Position einer beteiligten Person versetzt, die das Dargestellte selbst erlebt hat und berichtet? Wird „erleben“ nachgestellt und Empathie aufgebaut oder aus einer sachlichen Perspektive berichtet? Mit der Erzeugung von Empathie für die Lebenswirklichkeit der Menschen gehen Museen sehr unterschiedlich um. Das gewollte Nachempfinden der Sichtweisen einer Person, die ggf. auch mit Leid verbunden sein kann, weckt zwangsläufig eine Vielzahl von Emotionen beim Besucher. Es fördert somit die Intensität der Auseinandersetzung mit dem ausgestellten Thema, kann gleichzeitig aber zu einer Vereinseitigung der Darstellung führen und dem Besucher das Bilden eines eigenen Standpunktes, einer eigenen Betrachtungsweise und Meinung erschweren.¹⁸ Als letzter wichtiger Punkt der Inhaltsanalyse muss auf die Leerstellen innerhalb des Ausstellungskonzeptes verwiesen werden. Für eine Ausstellung wird immer eine Auswahl getroffen, etwa welche Objekte zur Anschauung kommen sollen. Es muss daher untersucht werden, welche Aspekte des ausgestellten Themas vernachlässigt, was in der Schau (bewusst) nicht gezeigt wird, um damit andere Inhalte und Botschaften zu betonen. Thomas Thiemeyer bringt den zentralen Aspekt der Beziehung zwischen beschreibendem Text, Objekten und inszenatorischen Elementen einer musealen Ausstellung prägnant auf den Punkt: Museen […] sind Orte, die zwei Diskurstypen nutzen, um synästhetische Erfahrungen herzustellen. Sie bedienen sich des Diskurses der Wissenschaft, der die Schrift benötigt, weil er Eindeutigkeit will, und ergänzen ihn um den Diskurs der Kunst. Er arbeitet mit Metaphern, bedient sich mehrdeutiger Raumbilder aus inszenierten Objekten und Kulissen.¹⁹
Ein Beispiel für eine sehr ausgeprägte Perspektivik ist das Immigrationsmuseum „Pier “ im kanadischen Halifax. Es richtet seine Narration und Inszenierung konsequent an der Perspektive derjenigen aus, die nach Kanada einwandern wollten, und zwingt folglich auch den Besucher dazu, diese Sicht einzunehmen. Vgl. Joachim Baur: Einwanderungsmuseen als neue Nationalmuseen. Das Ellis Island Immigration Museum und das Museum „Pier “, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe (), URL http://www.zeithis torische-forschungen.de/-Baur-- (Zugriff . . ). Vgl. Thiemeyer, Museum als Quelle (), S. .
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Aufgrund der Deutungsoffenheit und der Interpretationsspielräume von Museumsbildern muss danach gefragt werden, welche Wirkung die Inszenierung entfalten soll. Wie interagieren Texte, Musik, Raum, Bilder und Objekte – welche spezifische Atmosphäre entsteht? Verfügt die Ausstellung über ein Kernstück, das eine bestimmte Atmosphäre erzeugen soll, und wird auch entsprechend atmosphärisch argumentiert? Zielt die Schau insgesamt stärker auf Ästhetik und sinnliche Erfahrung ab, oder steht der dokumentarische Charakter im Mittelpunkt, der auf der Wirkung der Objekte beruht? Steht die Beweiskraft der Objekte im Blick, oder wird ein szenografisch inszeniertes Geschichtserlebnis geboten?²⁰ Soll sich der Besucher mit dem Dargestellten mittels Schock und Empathie identifizieren, und spielt körperliches Erleben als Erkenntnisgröße eine Rolle? Thomas Thiemeyer merkt in seinem Aufsatz zur geschichtswissenschaftlichen Analyse von Museen als Quellen an, dass sich Ausstellungen in „drei Agenturen differenzieren“²¹ lassen, die bei der Analyse jeweils einzeln als Quelle herangezogen werden können: Das Produkt (Ausstellung), die Rezipienten (Besucher)²² und die Produzenten (Ausstellungsmacher). Das Vorgehen für eine Analyse der Ausstellung wurde oben bereits intensiv besprochen. In einem abschließenden Analyseschritt soll das Hauptaugenmerk stärker auf die Produzenten der Schau gelegt werden. Die Produzenten werden dabei als Autoren der Quelle, ihre Urheber, betrachtet, die dafür verantwortlich sind, welche Darstellung einer Geschichte die Öffentlichkeit dargeboten bekommt. Hier ergeben sich deutliche Ähnlichkeiten zur oben eingeführten Vorgehensweise der Analyse des Geschichtsbewusstseins von Narrateuren. Es stehen Fragen der Biografie des Kurators, seiner Herkunft, seiner wissenschaftlichen Sozialisation, sowie einer möglichen „Schule“, der er angehört, im Fokus. Ist er Fachfremder und blickt möglicherweise anders und frischer auf alte Themen, oder teilt er die Perspektive der Kollegen? Welchen Werten ist er verpflichtet, und welche Meinungen vertritt
Zu einer Differenzierung zwischen Inszenierung und Szenografie im Museum siehe: Thomas Thiemeyer: Inszenierung und Szenografie. Auf den Spuren eines Grundbegriffs des Museums und seiner Herausforderer, in: Zeitschrift für Volkskunde (), S. – . Ebd., S. . Auf die Erforschung der Rezipienten wird innerhalb dieser Studie verzichtet, da Besucherforschung ein eigenständiger, auf empirischen Methoden beruhender Zweig der Museumsforschung ist. Die Wirkung einer Ausstellung bei den Besuchern ist schwer messbar und erfordert einen soziologischen Zugriff, der hier nicht geleistet werden kann. Die Konzentration liegt auf den präsentierten historischen Narrationen und den Produzenten dieser Narrationen. Zur Einführung in die verschiedenen Methoden der Besucherforschung empfiehlt sich die Lektüre von Volker Kirchberg: Besucherforschung in Museen: Evaluation von Ausstellungen, in: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld , S. – .
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er? Zu fragen wäre außerdem danach, wer neben dem Kurator an der Erarbeitung dessen, was letztlich als Ausstellung entstanden ist, beteiligt war. Gab es etwa Auftraggeber, die den Rahmen einer Ausstellung von vornherein definierten? Denn zumeist handelt es sich bei Ausstellungen um Kompromisslösungen des Machbaren zwischen vielen beteiligten Parteien, Rahmenbedingungen und Umständen und nur höchst selten um die exakte Umsetzung der Vorstellungen und Ideale des Kurators.²³ Auch die Auftraggeber einer Ausstellung, seien es Vereine, Firmen, Forschungszentren, politische Träger oder aber die Leitungsebene des Museums, verfolgen eigene Ziele mit einer Ausstellung. Thomas Thiemeyer fasst das Spektrum möglicher Intentionen zusammen: „Wollen sie kritische Geschichtsschreibung oder Traditionspflege, Dokumentation der neusten Forschung oder Durchsetzung eines Geschichtsbildes, eine Stärkung der regionalen Identität oder […] nationale Perspektiven überwinden?“ Diese gewünschten Richtungsentscheidungen der Auftraggeber können mit der Intention des Kurators unvereinbar sein, gar im Gegensatz stehen. Wie wirkt sich ein solcher Konflikt auf die Botschaft aus, die die Schau vermitteln soll? Der Analyserahmen der äußeren und inneren Quellenkritik gibt Fragen an die Hand, die zur Dekonstruktion einer historischen Ausstellung in ihren institutionell-formalen Bezügen und inhaltlichen Schwerpunkten anleitet, dabei aber auch die Perspektive des Kurators sowie ggf. der Auftraggeber einer Ausstellung einschließt. Dieses Vorgehen ergibt vielfältige Übereinstimmungen mit der oben beschriebenen geschichtsdidaktischen Matrix zur Dekonstruktion historischer Narrationen, deren Fokussierungen auf die Ausstellungsanalyse übertragbar sind. So kann auch anhand von Ausstellungen die Fokussierung auf die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart oder Zukunft ermittelt und danach gefragt werden, ob es sich beim Dargestellten vornehmlich um Vergangenheitsdeutungen oder historische Sinnbildungen handelt. Das wird besonders deutlich, ruft man sich vor Augen, dass auch in Ausstellungen die verschiedenen Zeitebenen repräsentiert werden. Auf der Ebene der Vergangenheit sind die Objekte angesiedelt, auf der Ebene der Gegenwart die erklärenden und beschreibenden Texte, die in Abhängigkeit der Darstellungsweise auch eine Fokussierung auf die Zukunft haben können. Aus der Analyse der Beziehung zwischen der Oberflächen- und Tiefenstruktur lassen sich Schlüsse auf die Art der Sinnbildung ziehen, die in einer Ausstellung betrieben wird. Ebenso können Fragen der Triftigkeit der Erzählung geklärt werden. Die fachliche, empirische „Haltbarkeit“ wird jedoch aufgrund des Auf diese Punkte verweist auch Thiemeyer, Museum als Quelle (), S. . Dennoch muss nach den Positionen und Einstellungen des Kurators gefragt werden, da diese entscheidenden Einfluss auf Inhalt und Form der Ausstellung haben. Als geeignete Form der Datenerhebung steht das Interview mit dem Kurator zur Verfügung.
4.3 Untersuchungsmethoden jenseits der Dekonstruktion
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Umfanges der zu analysierenden Ausstellung nur stichprobenartig an ausgewählten Erzählsträngen erfolgen. Die narrative Triftigkeit wird bei der Untersuchung der inneren Quellenkritik berücksichtigt, indem die Stringenz der Darstellung historischer Narrationen aus der Beziehung zwischen Objekten, beschreibenden Medien und inszenatorischen Elementen in den Blick genommen wird. Normative Triftigkeit kommt vor allem in den beschreibenden Texten der Ausstellung oder ihrem Begleitmaterial zum Vorschein, die auf Sinn und Zweck der Schau verweisen, Orientierungsangebote bieten und Sinnbildungen ermöglichen. Die Perspektive des Kurators hat sowohl auf die narrative als auch die normative Triftigkeit der Ausstellung Einfluss.
4.3 Untersuchungsmethoden jenseits der Dekonstruktion Die Analyse des städtischen Raumes Das Kapitel über Erzählstränge im städtischen Raum sowie das Kapitel über Diskurse unterscheiden sich in ihrer Untersuchungsmethodik vom Vorgehen im Hauptteil. In beiden werden nicht einzelne Narrationen dekonstruiert und nach ihrem sinnbildenden Potenzial befragt, sondern kontextualisierende Entwicklungen und Prozesse in der Stadt beschrieben. Eine solche Kontextualisierung ist unerlässlich, können doch nicht alle Informationen, die zum Verständnis der Vorgänge in der Stadt notwendig sind, anhand der Dekonstruktion vermittelt werden. So steht im ersten, hinführenden Kapitel die Analyse des städtischen Raumes und der in ihm angelegten Erzählstränge über die Geschichte von Katowice im Vordergrund. Das Kapitel zum städtischen Raum beschäftigt sich mit der Frage, welche Zeit- und Entwicklungsetappen der Geschichte von Katowice gegenwärtig im urbanen Gefüge der Stadt „lesbar“ und nachvollziehbar sind. Der städtische Raum wird somit als Ausgangspunkt einer Annäherung an die Art und Weise begriffen, wie in Katowice Geschichte im öffentlichen Raum repräsentiert wird. Mit Hilfe eines stadtethnologischen Zuganges wird der städtische Raum beschrieben, aus der Beschreibung werden Hypothesen zur Repräsentation von Geschichte in der Stadt abgeleitet. Grundlage für die Beobachtungen des Stadtraumes ist die Annahme, das sich hier die Geschichte der Stadt, aber auch Machtverhältnisse materialisiert haben. Derartige Zugänge zum städtischen Raum finden sich etwa in den Ausführungen des Stadtethnografen Edward Soja, der in städtischen Räumen nicht nur die Folgen gesellschaftlicher Bedingungen, sondern auch ihre Ursachen vermutet. Die soziologische und ethnologische Forschung zu städtischen Räumen geht demnach von der Annahme aus, dass der Stadtraum nicht nur als passive Bühne, sondern als Auslöser, sogar als Akteur
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gesellschaftlicher Strukturierung zu verstehen sei.²⁴ Als Akteur soll der physische Raum in dieser Untersuchung nicht verstanden werden, wohl aber als Begriff, der nicht mehr der Vorstellung eines statischen Containers entspricht, sondern als „kulturell definiert(er) und beladene(r) ‚Ort‘“ verstanden wird. So gesehen schreibt sich Geschichte in den städtischen Raum ein, ist in ihm verankert und verändert ihn immer wieder.²⁵ Dem städtischen Raum als kulturell definiertem und symbolisch beladenem Ort kommt demnach eine zentrale Rolle für die Wahrnehmung der Stadt sowie für das Denken, Handeln und Fühlen ihrer Einwohner zu. Es soll daher einführend danach gefragt werden, welche Geschichte(n) der städtische Raum über Katowice erzählt, welche Erzählstränge in ihm angelegt sind. Gleichzeitig wird dieses hinführende Kapitel dafür genutzt, um einen Überblick über die historische Entwicklung der Stadt vom oberschlesischen Dorf zum deutschen Kattowitz bis hin zum polnischen Katowice zu geben.
Diskurse als Bestandteil öffentlicher Geschichte Die Überschrift des letzten Teils der Untersuchung darf nicht fehlleiten. Der Titel Diskurse wurde nicht gewählt, um an die Dekonstruktionen des Hauptteils eine Diskursanalyse anzuschließen. Hier geht es vielmehr in Anlehnung an den Abschnitt zum städtischen Raum um weitere kontextualisierende Bestandteile öffentlicher Geschichte, die als Phänomene beschrieben, jedoch nicht dekonstruiert werden. Als Diskurse werden in diesem Kapitel im Unterschied zu den vorausgegangenen zum Großteil keine fertigen, also vorliegenden und somit analysierbaren historischen Narrationen untersucht. Es geht vielmehr darum, Themen vorzustellen, die von unterschiedlichen historisch interessierten und engagierten Akteuren in der Stadt während des Untersuchungszeitraumes der Studie diskutiert bzw. teilweise auch in Initiativen und Projekten umgesetzt wurden. Diese ergänzenden Betrachtungen sind insofern notwendig, als die im Hauptteil analysierten Narrationen – trotz ihrer hohen öffentlichen Sichtbarkeit und Präsenz – nur einen Teilbereich öffentlicher Geschichte abbilden. Am Ende der Untersuchung müssen demnach Antworten auf die Fragen gegeben werden, welche Geschichten im
Vgl. Kokot/Hengartner/Wildner: Kulturwissenschaftliche Stadtforschung (); auch Volker Kirchberg: Das Museum als öffentlicher Raum in der Stadt, in: Joachim Baur (Hg.): Museumsanalyse. Methoden und Konturen eines neuen Forschungsfeldes. Bielefeld , S. – , hier S. . Vgl. Aleida Assmann: Geschichte findet Stadt, in: Moritz Csáky/Christoph Leitgeb (Hg.): Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem „Spacial Turn“. Bielefeld , S. – , hier S. .
4.3 Untersuchungsmethoden jenseits der Dekonstruktion
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städtischen Raum, in den Museen der Stadt oder im Rahmen der Imagebildung nicht erzählt wurden, und warum das so ist. Ferner geht es darum, wer diese „anderen“ Geschichten erzählt, die bislang nicht zu einer ähnlichen Präsenz in den öffentlichen Geschichtsdarstellungen der Stadt gelangt sind. Die Analyse materialisierter Formen historischen Wissens wird dem Untersuchungsgegenstand Stadt im Strukturwandel folglich nur zum Teil gerecht. Auch wenn die zur Dekonstruktion angewandte geschichtsdidaktische Matrix großen Wert auf die Einbeziehung der Entstehungsbedingungen und den Kontext von Narrationen legt, bleibt der Fokus auf den verobjektivierten Formen historischen Wissens im Rahmen einer Dekonstruktion bestehen. Um das Bild des öffentlichen Umganges mit Geschichte und Vergangenheit in Katowice zu vervollständigen, stehen im letzten Kapitel dieser Arbeit daher zwei Arten von Narrationen im Mittelpunkt: Solche, die sich zum Zeitpunkt der Untersuchung noch im Stadium der Diskussion befanden, sowie Ideen und Vorstellungen, die bereits als verobjektivierte Formen (z. B. als Film oder Buch) vorliegen, in die öffentlichen Geschichtsdarstellungen bislang jedoch nicht in größerem Umfang Eingang gefunden haben. Es werden Akteure und Initiativen vorgestellt, die an der Gestaltung öffentlicher Geschichte einen wesentlichen Anteil haben, da sie Diskussionen prägen und gestalten, Kritik an Bestehendem üben und somit Kontroversen auslösen. Es handelt sich um Beiträge zu einer Debatte in einer Stadt, deren öffentlicher Umgang mit Geschichte gerade erst beginnt, sich als Thema von allgemeinem Interesse und Bedeutung zu etablieren. Diese Akteure sind mit ihren Ideen, Projekten oder Initiativen in diesem Sinne Vorreiter einer sich öffnenden Diskussion über eine angemessene Darstellung der Geschichte der Stadt im öffentlichen Raum. Mit ihrem Agieren entwerfen auch sie Vergangenheitsdeutungen und beschreiben ihre Sicht auf die Geschichte von Katowice. Diesen Erzählungen über die Vergangenheit wird im letzten Teil der Untersuchung Raum gegeben. Dabei kristallisieren sich Themenkomplexe heraus, die sich immer wieder auch auf die im vorangegangenen Kapitel analysierten Narrationen beziehen, ihre Leerund Schwachstellen herausstellen, diese aber auch weiterdenken und um neue thematische Ausrichtungen bereichern.
5 Annäherungen an öffentliche Geschichte in Katowice 5.1 Erzählstränge im Stadtraum. Einführung in eine kurze Stadtgeschichte Die Historiker, die sich mit der Geschichte Krakaus, Breslaus oder Posens beschäftigen, haben eine leichtere Aufgabe. Ihre Städte wuchsen mit der Zeit und nahmen die umliegenden Ortschaften in sich auf. Bei uns ist es so: Es gab eine Reihe bäuerlicher Siedlungen, und auf einmal entstand in ihrer Mitte ein industrielles Kleinod, das dank seiner günstigen Bedingungen am stärksten wurde und das Stadtrecht erhielt.¹
Diese Synopse der Entstehungsgeschichte von Katowice verweist auf ein zentrales Ereignis: die geplante und hastig realisierte Gründung der Stadt auf dem Gebiet bäuerlicher Gemeinden und ihr anschließender rasanter Aufstieg zur Industriemetropole der Region Oberschlesien. Diese Gründungsgeschichte und die turbulente Entwicklung der Stadt am Ende des 19. und während des 20. Jahrhunderts soll im Folgenden erzählt werden. Die Annäherung an die Stadtgeschichte folgt dabei nicht vorrangig der Chronologie politik-, wirtschafts- und gesellschaftsgeschichtlicher Ereignisse. Sie orientiert sich vielmehr an einem stadtethnologischen Zugang und stellt eine Hypothese in den Mittelpunkt, die sich aus Beobachtungen während der Feldforschungen entwickelt hat. So ist in Katowice ein spezifisches Nebeneinander in der städteplanerischen Anlage und den architektonischen Formen zu beobachten, das die drei wichtigsten Epochen ihrer Entwicklung aus heutiger Perspektive in besonderer Weise nachvollziehbar macht: Der Stadtkern aus dem 19. Jahrhundert ist auch heute noch als ursprüngliches Zentrum der Stadt erkennbar. Die anschließende Zeit als Hauptstadt der Woiwodschaft Schlesien innerhalb der Zweiten Polnischen Republik zwischen 1922 und 1939 hat ganz eigene bauliche Repräsentationen hinterlassen. Die Periode zwischen 1945 und 1989, als Katowice das industrielle Rückgrat der Volksrepublik Polen war, hat wiederum ihren eigenen Raum und schließt sich südlich an das Stadtzentrum aus dem 19. Jahrhundert an. In Katowice sind, so die Hypothese weiter, die wichtigsten Ereignisse der Stadtgeschichte durch das weitgehende Ausbleiben von kriegsbedingten Zerstörungen und Überlagerungen wie Erzählstränge in den städtischen Raum eingeschrieben und lassen sich aus heutiger So der Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums in Katowice, Dr. Jacek Siebel, über die Geschichte der Stadt in der Gazeta Wyborcza. Vgl. Anna Malinowska: U mnie nikt nie będzie się nudzić [Bei mir langweilt sich niemand], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. .
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Perspektive nachvollziehen und „lesen“. Für diese Untersuchung ist das insofern wichtig, als dass die architektonische und städtebauliche Substanz der Stadt die Vielschichtigkeit ihrer Vergangenheit auch in der Gegenwart in hohem Maße erfahrbar macht. Ziel der folgenden Ausführungen ist es, anhand eines Überblickes über die Stadtgeschichte von Katowice zu überprüfen, ob diese Hypothese stimmig ist. Im Umkehrschluss impliziert dieses Vorgehen die Frage, welche Ereignisse jenseits des eigenwilligen Nebeneinanders deutscher und polnischer Geschichte im städtischen Raum heute weniger prägnant oder vielleicht gar nicht repräsentiert bzw. „überschrieben“ sind? Um dieser Frage nachzugehen, werden nach den städtebaulichen und architektonischen Formen in einem zweiten Schritt Denkmäler und Straßennamen in die Analyse einbezogen. Erzählen diese historischen Repräsentationen eine andere Geschichte? Die Analyse der im städtischen Raum angelegten Erzählstränge ist von zentraler Bedeutung für die gesamte Untersuchung, da sie den Hintergrund für alle neu entstehenden historischen Narrationen im öffentlichen Raum bilden, die in den nachfolgenden Kapiteln untersucht werden.
Erste Annäherungen an den Stadtraum In Kattowitz […] changieren die Fassaden außerhalb der wenigen renovierten Straßen zwischen Dunkelgrau und Rabenschwarz. Die Bauepochen – hier ornamentreiche Mietskasernen der deutschen Kaiserzeit, dort die faden Blocks des Realen Sozialismus, dazwischen die triumphalistischen Kolossalbauten der polnischen Zwischenkriegs-Republik unter Marschall Piłsudski – stoßen unvermittelt aneinander.²
Die erste Annäherung an den Stadtraum von Katowice verwirrt den unvorbereiteten Besucher unweigerlich, denn herkömmliche Orientierungsmuster mitteleuropäischer Städte versagen an diesem Ort. Ein Blick auf den Stadtplan bietet kaum Anhaltspunkte: Kein mittelalterliches Stadtzentrum markiert die Stadtmitte, keine alten Kirchen, keine Reste barocker Festungsanlagen im Stadtgrundriss, kaum gründerzeitliche Neustadt. Dafür Industrieanlagen nicht nur an der Peripherie, sondern hineingebaut bis ins Stadtzentrum. Eine historisch gewachsene Altstadt sucht man vergeblich. Die ältesten Kirchen sind neugotisch, die Stadt verfügt über keine älteren Bauten, dafür verleiht eine ausgeprägte sozialistische
Vgl. Konrad Schuller: Kattowitz. Der neue Schlesier, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom . . , URL http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/kattowitz-der-neue-schlesier-. html (Zugriff . . ).
5.1 Erzählstränge im Stadtraum. Einführung in eine kurze Stadtgeschichte
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Spätmoderne der Innenstadt ihr Gesicht. Das seit der Mitte des 18. Jahrhunderts für europäische Städte prägende Merkmal eines Marktplatzes als Zentrum des Handels, gebaut um einen zentralen Platz oder Ring mit den damit verbundenen repräsentativen Bauten und symbolischen Orten, fehlt in Katowice gegenwärtig weitgehend. Zwar gab es diesen Platz, den sogenannten Ring, bis 1945; er gehört jedoch zu den wenigen Stellen in Katowice, die infolge des Zweiten Weltkrieges zerstört und in gänzlich anderer Form wieder bebaut wurden. Noch heute lässt sich ein zentraler Platz ungefähr in der Stadtmitte ausmachen, die städtischen Charakteristika eines Zentrums erfüllt dieser jedoch kaum.³ Die Wahrnehmung des Platzes als Stadtzentrum wird vor allem durch den Auto- und Straßenbahnverkehr beeinträchtigt, der quer darüber verläuft. Doch im Herzen der Stadt soll zukünftig ein angemessenes, modern-funktionales Zentrum entstehen.⁴ Die städtebauliche Substanz, die das heutige Stadtbild von Katowice prägt, lässt sich grob in drei räumlich weitgehend separierte und in ihrer Entstehung zeitlich aufeinanderfolgende Einheiten einteilen: Die seit der Stadtgründung im Jahr 1865 schnell gewachsene preußische Industrie- und Verwaltungsstadt bildet mit dem damals angelegten, heute jedoch nicht mehr als solchen wahrnehmbaren Ring, dem Bahnhof und dem Theater bis heute die Stadtmitte. Im anschließend errichteten und sich nach Süden ausdehnenden Bebauungsgebiet aus der Zwischenkriegszeit, als die Stadt zur Zweiten Polnischen Republik gehörte, befinden sich heute wichtige Verwaltungseinrichtungen der Stadt und der Woiwodschaft wie etwa das Woiwodschaftsamt und der Schlesische Sejm. Um diese Repräsentations- und Verwaltungsgebäude herum hat sich neben der aus deutscher Zeit stammenden Stadtmitte ein zentraler Ort in der Stadt etabliert, angelegt bereits in
Vgl. hierzu den Ersteindruck bei einem Besuch in Katowice von Benedikt Hotze, den er in der Zeitschrift Baunetzwoche schildert. Benedikt Hotze: Kattowitz. Zentrum der polnischen Moderne, in: Baunetzwoche. Das Querformat für Architekten (), S. – . „Funktional und freundlich“ sollte der Markplatz nach Willen der Stadtverwaltung in Zukunft gestaltet werden: Durch Granitplatten sowie Bänke, Springbrunnen, begrünende Elemente und kleine Pavillons, in denen Blumen und Snacks verkauft werden.Vgl. ohne Autor: Katowice podały nową datę zakończenia przebudowy centrum [Katowice hat ein neues Datum zur Fertigstellung des Umbaus im Zentrum bekannt gegeben], Gazeta Wyborcza vom . . , URL http://kato wice.gazeta.pl/katowice/,,,Katowice_podaly_nowa_date_zakonczenia_przebu dowy_centrum.html (Zugriff . . ). Als Umbau in einer „typisch polnischen Konvention urbaner Banalität“ bezeichnete hingegen Piotr Sarzyński die Erneuerungspläne unlängst in der Zeitschrift Polityka. Auch dem Regisseur und Senator Kazimierz Kutz widerstreben die lange diskutierten Pläne zur Neugestaltung des Stadtzentrums von Katowice: Man solle eine Menge Bäume pflanzen und aus dem Platz einen Park machen, dann würde sich das Problem von allein lösen, so Kutz.Vgl. Piotr Sarzyński: Zadymione i zielone [Verqualmt und grün], Polityka (), S. – , hier S. . Von dort stammt auch das Zitat von Kazimierz Kutz.
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den 1920er Jahren als sogenanntes Forum. Nördlich an das Stadtzentrum aus dem 19. Jahrhundert schließt ein Gebiet an, das seine maßgebliche Prägung nach dem Zweiten Weltkrieg unter den Vorzeichen sozialistischer Stadtplanungen erfahren hat. Vom ehemaligen Ring aus erstreckt sich mit der Korfanty-Allee eine breite Aufmarschstraße in Richtung der futuristisch anmutenden Mehrzweckhalle, aufgrund ihrer Form Spodek (Untertasse) gennant. Ein erster Streifzug durch das Stadtzentrum hinterlässt den Eindruck einer kurzen, aber intensiven städtischen Erfolgsgeschichte, die ihren Zenit jedoch seit dem Bedeutungsrückgang von Bergbau und Stahlindustrie für die polnische Industrie sichtbar überschritten hat. Auffällig ist ferner, dass die Stadt in Bezug auf die Ereignisse vor der Stadtgründung im Jahr 1865 merkwürdig geschichtslos wirkt.⁵ Hinweise darauf, dass die Stadt eine 250-jährige Vorgeschichte als Dorf aufzuweisen hat, finden im Stadtbild nur Kenner. Der Grund dafür liegt im abrupten Übergang vom Dorf zur Stadt, die von Architekten am Reissbrett geplant und auf den ehemals dörflichen Strukturen errichtet wurde. Dabei lässt sich die Vorgeschichte der Stadtgründung bis auf einen 1397 errichteten Eisenhammer in Bogucice/Bogutschütz, einem heutigen Stadtteil von Katowice, zurückverfolgen.
Die Vorgeschichte der Stadtgründung bis 1865 Auf dem zum Bogutzker Hammer gehörenden Gebiet entstand gegen Ende des 16. Jahrhunderts das Dorf Kattowitz.⁶ Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war Kattowitz eng mit dem Hammer verbunden, und beide Bezeichnungen, Bogutschütz und Kattowitz wurden bis dahin synonym verwendet.⁷ Errichtet wurde das Dorf vor allem, um die zum Hammer gehörigen Ländereien wirtschaftlich zu erschließen und nutzbar zu machen. Die Siedler des Dorfes erhielten Ackerstreifen, die sich senkrecht vom Fluss Rawa fortführten, der das heutige Stadtzentrum von Katowice in west-östlicher Richtung durchquert. An die Zeit vor der Stadt Merkwürdig ist das deshalb, weil die Stadt auch vor ihrer Gründung im Jahr eine Geschichte als Dorf hatte, die jedoch gegenwärtig in der Physiognomie der Stadt überhaupt nicht mehr zu erkennen ist. Auch Straßennamen oder Ortsbezeichnung verweisen nur selten auf die Vergangenheit des Gebietes, das zur Stadt wurde. Ausnahmen bilden die Namen einiger Stadtteile, etwa Bogucice/Bogutschütz, die nach und nach eingemeindet wurden. Vgl. Karski, Kattowitz bis zur Stadtgründung (), S. . Karski geht darauf ein, dass Katowice das erste mal in einem Protokoll des Pfarrers Kazimierski, der die Pfarrgemeinde Bogutschütz besuchte, schriftlich als „nova villa Katowicze“ erwähnt wird. Der Bogutzker Hammer wurde als Eisenhammer im . Jahrhundert auf dem Gebiet des wüsten Dorfes Bogutschütz gegründet. Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. .
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gründung, an das Gut und den Bogutzker Hammer erinnert in der heutigen Stadtstruktur fast nichts mehr. Zwar wurde die alte, in ostwestlicher Richtung verlaufende Dorfachse als städtische Hauptstraße im heutigen Grundriss der Stadt konserviert, baulich repräsentiert sind die Zeitschichten aber erst ab der Verleihung der Stadtrechte in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Einzig zwei Straßenbezeichnungen im Stadtzentrum haben sich aus den dörflichen Anfängen der Stadt erhalten: Das Teilstück einer Straße, die auf den Ring zuführt, knüpft mit der Bezeichnung ulica Św. Jana an die ehemalige Johannesstraße des Dorfes an; die ulica Starowiejska, ein kleiner Abzweig der West-Ost-Achse in Richtung Marienkirche, ist eine direkte Übersetzung der deutschen Bezeichnung Alte Dorfstraße. Die Entwicklung des Dorfes Kattowitz unterschied sich von den umliegenden oberschlesischen Orten wie Chorzów/Königshütte oder Siemianowice Śląskie/ Laurahütte, die ebenso im Zuge der aufblühenden Kohleförderung gegen Ende des 18. Jahrhunderts entstanden waren, durch einige empfindliche wirtschaftliche Rückschläge, von denen sich der Ort nicht wieder erholen konnte. Viele Gruben auf dem Gebiet des Dorfes mussten nach dem Tod des Eigentümers der Güter, Johann Friedrich Kouhlhaaß, 1808 geschlossen werden. Der Übergang des Gutes in den Besitz der Familie von Winckler (ab 1854 Tiele-Winckler) im Jahr 1839 brachte zwar eine neue wirtschaftliche Dynamik für Kattowitz, der Vorsprung in der ökonomischen Entwicklung der umliegenden Orte konnte jedoch nicht mehr eingeholt werden. Noch im Jahr des Erwerbes von Kattowitz verlegte Winckler die Verwaltung seiner Industriebetriebe hierher. Die industrielle Entwicklung blieb ein wichtiger, aber nun nicht mehr der entscheidende Entwicklungsfaktor. In Kattowitz entstand in den folgenden Jahrzehnten ein Knotenpunkt für Verwaltung, Handel und Verkehr für das umliegende Gebiet.⁸ Der Anschluss an das Eisenbahnnetz hatte darauf entscheidenden Einfluss. Bereits 1842 wurde unter Einwirkung von Winckler und seinem Verwalter Grundmann entschieden, dass die Strecke von Breslau nach Krakau durch Kattowitz führen sollte, die Stadt war somit früh an das ost- und mitteleuropäische Schienennetz angeschlossen. Der damalige Ortsvorsteher Kazimierz Skiba setzte sich gegen diese Modernisierungstendenzen und für eine Selbstständigkeit der ansässigen Bauern ein, die sich von der ökonomischen und sozialen Entwicklung bedroht und marginalisiert fühlten. Nachdem im Jahr 1846 die Leibeigenschaft aufgehoben wurde, konnten auch Nichtbauern, Kaufleute und Handwerker im Dorf Grund und Boden erwerben, was den Zuzug von Personen aus anderen Gebieten des Deutschen Reiches verstärkte. Mit den Zuzüglern aus dem Reich kamen Personen nach Kattowitz, die sich maßgeblich von den alteingesessenen Bauern unterschieden. Sie waren li-
Vgl. Karski, Kattowitz bis zur Stadtgründung (), S. ff.
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beralkonservativ geprägte Protestanten und glaubten an den kulturellen wie industriellen Fortschritt. Die Volkskultur der einheimischen Bauern bildete einen starken Kontrast zu ihrem Fortschrittsglauben und musste ihnen zwangsläufig als Hemmnis auf dem Weg der weiteren Entwicklung erscheinen.⁹
Alles nach Plan: Eine neue Stadt entsteht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Der Übergang vom Dorf zur Stadt vollzog sich nicht allmählich und organisch, sondern abrupt und folgte einem Plan, der von einer Gruppe Zugezogener um den Gutsverwalter Friedrich Wilhelm Grundmann und den Arzt Dr. Richard Holtze ausgearbeitet wurde. Bereits 1856 ließ Grundmann wegen des beschleunigten Wachstums und der sich zunehmend verdichtenden Bebauung des Dorfes mithilfe des Architekten Heinrich Moritz August Nottenbohm einen Stadtentwicklungsplan erstellen, der die Anlage breiter Straßen und Plätze vorsah. Als Kattowitz 1865 die Stadtrechte verliehen wurden, entstand die Stadt nicht in Kontinuität zur dörflichen Struktur, sondern als dezidierter Gegenentwurf.¹⁰ Die Kattowitzer Stadtanlage ist nach einem klaren Ordnungsprinzip angelegt, das sich entlang einer zentralen West-Ost-Achse, parallel zum Fluß Rawa erstreckt. Zwei Plätze, zum Ruhm der Hohenzollern im Westen als Wilhelms-, im Osten als Friedrichsplatz benannt, sollten der neu zu bebauenden Fläche einen Rahmen verleihen. Die Plätze wurden durch die nach dem Gutsverwalter benannte Grundmannstraße miteinander verbunden. Um den Friedrichsplatz, der auch als Ring oder Markt bezeichnet wurde, entstand mit dem Hotel „De Prusse“ und einem Theatersaal – das Stadttheater wurde erst im Jahr 1907 fertiggestellt – die erste städtische Infrastruktur in der bislang vornehmlich dörflich geprägten Stadttopografie.¹¹ Neben der natürlichen Grenze des Flusses Rawa bildeten die Eisenbahnschienen eine weitere stadträumliche Begrenzung für die erste Bebauungswelle. Erst in den 1870er Jahren wurde damit begonnen, auch die südlich von Schienen und Fluss gelegenen Gebiete für die Bebauung zu erschließen. Aufgrund des schnellen Wachstums der Stadt sollte auf den vorhandenen Flächen Wohnraum
Vgl. Tomasz Fałecki: Gedenkstätten- und Ortsnamenwandel in Kattowitz im . und . Jahrhundert als Beispiel für die politische Instrumentalisierung von Geschichtskultur, in: Joachim Kuropka (Hg.): Regionale Geschichtskultur: Phänomene – Projekte – Probleme aus Niedersachsen, Westfalen, Tschechien, Lettland, Ungarn, Rumänien und Polen. Münster , S. – , hier S. f. Ebd., S. f. Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. .
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in groß angelegten Mietshäusern geschaffen werden. Die rasante Geschwindigkeit des Wachstums lässt sich an der Zahl der neu gebauten Mietshäuser ablesen: Zwischen 1869 und 1872 sind 182 Wohngebäude errichtet worden.¹² Die ursprünglich dreistöckigen Mietshäuser im Zentrum der Stadt wurden mit zunehmender Einwohnerzahl aufgestockt, und die Innenhöfe in Karreebauweise bebaut. Der historistische Stil mit roten Ziegelfassaden, Ornamentik und architektonischen Ausschmückungen war Ausdruck eines architektonischen Gestaltungsprinzips, das kaum Spielraum für regionale Einflüsse oder individuelle Lösungen ließ.¹³ Es entstand ein ungewöhnlich geschlossenes, an funktionalen Prinzipien ausgerichtetes städtisches Zentrum, das trotz historisierender Gestaltungselemente den Charakter einer Neuschöpfung trug. Der Neubeginn der preußischdeutschen Stadt wurde durch den zum Universalen neigenden und regionale Einflüsse kaum berücksichtigenden Historismus symbolisch zusätzlich verstärkt. In seinem Aussehen unterschied sich Kattowitz in den ersten Jahren seines Bestehens nicht maßgeblich von anderen deutschen Städten. Die Mietshäuser der Innenstadt erinnern auch in der Gegenwart an einigen Stellen an die Wohnbebauung die zur gleichen Zeit etwa in Berlin entstanden ist – auch wenn die rote Ziegelbauweise in Katowice überwiegt, die in anderen deutschen Großstädten nicht so häufig ist. Gleichzeitig entstanden im neuen Stadtzentrum aber auch Villen mit Gartengrundstücken, unter anderem die klassizistisch anmutende Villa des Gutsverwalters Grundmann. Die Wohnbebauung der schließlich fünf- bis sechsgeschossigen Mietshäuser im Zentrum war im historisierenden Stil der Gründerzeit und des späteren Jugendstil detailreich verziert und wurde von Monumentalbauten wie Firmensitzen oder öffentlichen Gebäuden und Ämtern gerahmt. In den an die Stadt grenzenden Siedlungen – die damals großteils nicht auf dem Stadtgebiet lagen, nach Stadtgebietsreformen inzwischen aber ein fester Bestandteil des städtischen Gefüges sind – entstanden um die Bergwerke und Eisenhütten herum Arbeitersiedlungen mit den familoki genannten Familienhäusern. Nottenbohms Bebauungsplan sah darüber hinaus vor, die Industrieanlagen aus dem Stadtgebiet zu verdrängen. Einige größere Gruben und Hütten wurden stillgelegt, es blieben vor allem kleine Betriebe bestehen. Nur 15 % der Gesamtfläche der Stadt waren für die Nutzung zu gewerblichen Flächen vorgesehen.¹⁴ In den Jahren nach 1880 setzte eine verstärkte Bautätigkeit ein, die in Form von Firmensitzen, Konzernfilialen, staatlichen Ämtern und öffentlichen Gebäuden Die Zahlen stammen aus Szaraniec, Osady i osiedla [Siedlungen und Wohngebiete] (), S. . Vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] (), S. . Vgl. Karski, Kattowitz bis zur Stadtgründung (), S. .
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repräsentative und monumentale Bauten im Stadtzentrum hervorbrachte. Bereits um 1905 war ein komplett funktionsfähiger Stadtorganismus nach Nottenbohms Vorstellungen geschaffen worden, der den ursprünglich zur Bebauung vorgesehenen Stadtraum zwischen dem Rawa-Fluss und den Eisenbahnschienen in Gänze ausfüllte. Mit seiner auf dem Reißbrett angelegten Struktur unterschied sich Kattowitz deutlich von anderen, früher angelegten und organischer gewachsenen oberschlesischen Städten wie etwa Bytom/Beuthen oder Gliwice/Gleiwitz.¹⁵ Die neue Stadt im oberschlesischen Industriegebiet hatte eine hohe Anziehungskraft weit über die Region hinaus. Nach der Stadtgründung herrschte eine Goldgräberund Aufbruchstimmung, die in der Literatur gern mit den Entwicklungen in den nordamerikanischen Städten verglichen wird.¹⁶ Entsprechend rasch stieg auch die Bevölkerungszahl an: Während die Stadt im Jahr 1866 rund 4 200 Einwohner zählte, verdoppelte sich diese Zahl bereits 1872 auf circa 8 150. Die Stadtbevölkerung wuchs kontinuierlich, im Jahr 1893 hatte die Stadt 18395 Einwohner, die Bevölkerung stieg nochmals an, nachdem Kattowitz 1895 Dienstsitz der Eisenbahndirektion Oberschlesiens wurde, auf knapp 21 200.¹⁷ Viele der neu zugewanderten Bürger waren jüdischen Glaubens. Zwar lebten Juden bereits seit Beginn des 19. Jahrhunderts in Kattowitz, Anfang der 1860er Jahre betrug ihr Anteil an der Stadtbevölkerung etwa 350 Personen, was circa 7 % der Stadtbevölkerung ausmachte.¹⁸ Seit ihrer Anbindung an das Eisenbahnnetz und ihrem schnellen Aufstieg zum Handels- und Verwaltungszentrum sowie aufgrund ihrer grenznahen, für Handelszwecke strategisch günstigen Lage zum Russischen Reich und zur Habsburgermonarchie wurde die Stadt zu einem Zentrum jüdischer Ansiedlung. Die Zahl der jüdischen Bürger in Kattowitz nahm proportional zum ökonomischen Aufstieg der Stadt zu. Neben Kaufleuten siedelten sich vor allem jüdische Ärzte, Rechtsanwälte und Bankiers an, die gemeinsam mit den Zugezogenen aus dem Deutschen Reich die neue bürgerliche Mittelschicht der jungen Stadt bildeten. Es zogen aber auch Juden aus Galizien und dem Königreich Polen nach Kattowitz, in der Hoffnung, ihre sozialen und materiellen Lebensumstände zu verbessern.¹⁹
Eine ähnliche Entstehungsgeschichte wie Kattowitz hat das angrenzende Chorzów/Königshütte. Zum Beispiel auch bei Karski, Kattowitz bis zur Stadtgründung (), S. . Ebd., S. . Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. . Vgl. Wojciech Jaworski: Struktura społeczno-zawodowa ludności żydowskiej w Katowicach w XX w [Soziale und berufliche Bevölkerungsstruktur der jüdischen Einwohner in Katowice im . Jahrhundert], in: Antoni Barciak (Hg.): Katowice w . rocznicę uzyskania praw miejskich [Katowice zum . Jubiläum der Erlangung des Stadtrechtes]. Katowice , S. – , hier S. f.
5.1 Erzählstränge im Stadtraum. Einführung in eine kurze Stadtgeschichte
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Auch für Juden, die aus dem Russischen Reich flohen, war Kattowitz aufgrund seiner günstigen Verkehrslage ein häufig gewählter erster Zufluchtsort. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts vergrößerte sich die Kattowitzer jüdische Gemeinde bedeutend, 1905 lebten in der Stadt 2 700 Personen jüdischen Glaubens; Kattowitz war damit das größte Zentrum des Judentums in Oberschlesien.²⁰ Im Jahr 1865 erwirkten die ansässigen jüdischen Familien per königlicher Verfügung die Gründung einer jüdischen Gemeinde in der Stadt, was die Errichtung eigenständiger religiöser Einrichtungen ermöglichte. Bis zu diesem Zeitpunkt gehörte Kattowitz dem Synagogenbezirk Myslowitz an, wo auch das Ritualbad und der Friedhof genutzt wurden. Zwar bestanden religiöse Einrichtungen wie Bethaus, Religionsunterricht und Schlachthaus in Kattowitz seit 1850, sie wurden aber aus privaten Mitteln der jüdischen Familien finanziert. 1862 konnte an der Grundmannstraße ein Stück Land erworben und eine eigene Synagoge errichtet werden, die nach der Konstituierung der Gemeinde als selbstständige Körperschaft auf diese übertragen wurde.²¹ Zehn Jahre später bot die Synagoge jedoch nicht mehr ausreichend Platz für alle Gemeindemitglieder. 1896 begannen die Planungen für den Bau eines neuen Gotteshauses, das im Jahr 1900 als Neorenaissancebau mit neugotischen Elementen entstand. Unweit der älteren Synagoge an zentraler Stelle in der Stadt gelegen, fasste sie über 1 000 Personen. Im Nebengebäude waren der Gemeindevorstand, ein rituelles Bad, eine Bäckerei und eine Fleischerei untergebracht. Einen Friedhof hatte die Gemeinde bereits im Jahr 1877 angelegt, eine Schule wurde im Jahr 1860 gegründet. Nachdem die Infrastruktur der Gemeinde ausgebaut worden war, entfaltete sich auch das geistige jüdische Leben in Kattowitz, und es entstand eine Vielzahl von Vereinen unterschiedlicher Ausrichtungen. Einen Rückgang verzeichnete die Zahl der jüdischen Bürger zu Beginn der Zwischenkriegszeit, als die Stadt in den neu entstandenen polnischen Staat eingegliedert wurde. In dieser Zeit verließen viele Juden die Stadt, da sie sich unter nationalen Gesichtspunkten vorrangig als Deutsche fühlten. Wie eine Vielzahl ihrer deutschen Landsleute wanderten sie aufgrund von antideutscher Propaganda und Verfolgungen aus dem nun polnischen Katowice in Richtung Deutschland aus.²² Von den circa 3 500 Juden, die im Jahr 1921 in Kattowitz leb-
Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. . Vgl. Rolf P. Schmitz: Die jüdische Gemeinde in Kattowitz, in: Helmut Kostorz/Sigmund Karski (Hg.): Kattowitz. Seine Geschichte und Gegenwart. Ein Jubiläumsbuch zum . Gründungsjahr. Dülmen , S. – , hier S. . Zur Zwischenkriegszeit siehe ausführlich den Abschnitt Eine komplexe Geschichte: Kattowitz zwischen Deutschland und Polen. Polen unterzeichnete am . Juni einen Minderheitenschutzvertrag, der auch die Rechte der Juden mit einschloss. Dennoch war die Zwischenkriegszeit
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ten,verließen etwa 2 000 in den Jahren von 1922 bis 1924 die Stadt. Es handelte sich vor allem um Staats- und Verwaltungsbeamte, die vormals in der deutschen Verwaltung tätig waren, und Angehörige der freien Berufe, die in der polnischen Stadt keine Verdienstmöglichkeiten mehr hatten. Während die angestammten jüdischen Familien in die Weimarer Republik übersiedelten, kam in der Zwischenkriegszeit eine Großzahl ärmerer Juden aus den nun polnischen Teilen Galiziens und dem zentralpolnischen Gebiet des ehemaligen Königreich Polen. Die Zahl der jüdischen Bürger war im Jahr 1938, kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges, wieder auf circa 9 100 Personen angestiegen.²³ Nach dem deutschen Überfall auf Polen wurde die jüdische Bevölkerung aus der Stadt vertrieben und später zum großen Teil vernichtet. Die Vernichtung der Kattowitzer Juden bedeutete jedoch nicht das Ende des jüdischen Lebens in der Stadt. Noch im Jahr 1945 kamen ehemalige Häftlinge aus den Konzentrationslagern in die Stadt, 1946 kam die Mehrzahl der zuziehenden Juden aus den im Anschluss an die Westverschiebung Polens nunmehr zur Sowjetunion gehörenden Gebieten.²⁴ So betrug die Zahl der jüdischen Personen im Juli 1946 in Katowice bereits über 5 000.²⁵ Die
in Polen von antijüdischen Tendenzen geprägt, die in Wellen immer wieder auftraten. Dieses unfreundliche Klima hat ebenfalls zur Emigration der Kattowitzer Juden beigetragen, vor allem jedoch gegen Ende der er Jahre. Vgl. Heiko Haumann: Geschichte der Ostjuden. München ,vor allem S. – ; einen guten Überblick über die Entwicklung der jüdischen Gemeinde in Katowice gibt außerdem das Internetportal des Museums für die Geschichte der polnischen Juden Wirtualny Sztetl (Virtuelles Schtetl), das sich mit der lokalen jüdischen Geschichte in Polen beschäftigt. URL http://www.sztetl.org.pl/pl/article/katowice/,historia-miejscowosci/?action= view&page= (Zugriff . . ). Vgl. Jaworski, Struktura społeczno-zawodowa [Soziale und berufliche Bevölkerungsstruktur] (), S. . Dennoch hatten seit der Übernahme der Macht durch die Nationalsozialisten bis Ende der er Jahre viele jüdische Familien Katowice verlassen, da sie zunehmenden Repressionen ausgesetzt waren. Zuzug aus dem Osten und Emigration schienen sich die Waage zu halten. Siehe ausführlich zur Situation der Juden im Nachkriegspolen: Alina Skibińska: Powroty ocalałych i stosunek do nich społeczeństwa polskiego [Die Rückkehr der Geretteten und das Verhältnis der polnischen Gesellschaft zu ihnen], in: Feliks Tych/Monika Adamczyk-Garbowska (Hg.): Następstwa zagłady Żydów. Polska – . [Die Konsequenzen der Judenvernichtung. Polen – ]. Lublin , S. – . Skibińska gibt an, dass sich der Großteil der überlebenden Juden nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Gebiet der Sowjetunion befunden hat. Im Vorwort zu diesem Sammelband wird ferner angegeben, dass sich im Jahr etwa eine Viertelmillion Juden in Polen befunden habe, die den Holocaust überlebt hatte.Vgl. Feliks Tych/Monika Adamczyk-Garbowska: Przedmowa [Vorwort], in: dies. (Hg.): Następstwa zagłady Żydów. Polska – . [Die Konsequenzen der Judenvernichtung. Polen – ]. Lublin , S. – , hier S. . Vgl. Jaworski, Struktura społeczno-zawodowa [Soziale und berufliche Bevölkerungsstruktur] (), S. .
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meisten Juden verließen die Stadt jedoch aufgrund des landesweit anwachsenden Antisemitismus bis zum Jahr 1970 und wanderten großteils nach Israel aus.²⁶ Seit 1993 gibt es wieder eine jüdische Gemeinde in Katowice, die etwa 200 Mitglieder zählt.²⁷ Obwohl die jüdische Bevölkerung beim Auf- und Ausbau der Stadt in der zweiten Hälfte des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine entscheidende Rolle gespielt hat, ist ihre vormalige Präsenz heute kaum noch wahrzunehmen. Die große, repräsentative Synagoge wurde nach dem Einmarsch von den Deutschen zerstört, ein Stein mit einer Gedenkplakette erinnert seit 1988 im Stadtzentrum an ihren ehemaligen Standort. Zwar besteht der jüdische Friedhof weiterhin, er liegt jedoch am Rande des Stadtzentrums, abgeschlossen und abgeschottet hinter hohen Mauern in einem unwirtlichen Gelände in unmittelbarer Nachbarschaft eines großen Bahnareals, und ist für Besucher weder einsehbar noch zugänglich. Zwar ist der jüdische Friedhof in Gänze erhalten, in der gegenwärtigen Topografie der Stadt stellt er jedoch keine feste Größe dar. Wer den Friedhof sucht, der findet ihn, er ist ausgewiesen und somit auch wahrnehmbar und „lesbar“. Sein abgeschottetes Dasein verweist jedoch darauf, dass die jüdische Geschichte der Stadt Katowice gegenwärtig nicht zu den präsenten Erzähl-
Ebd., S. . Feliks Tych gibt an, dass im Jahr bzw. etwa Juden in Polen lebten. Infolge der sog. Märzkampagne emigrierten laut Tych landesweit etwa Juden. Den Emigranten wurde lediglich ein Ausreisedokument ausgehändigt, kein Pass, eine Rückkehr nach Polen war somit ausgeschlossen. Laut Haumann verließen im Jahr insgesamt Juden Polen, etwa blieben im Land. Die Ausreisewelle war Folge einer antijüdischen Kampagne. Juden wurden unter Verweis auf den israelisch-arabischen Krieg von , in dem Israel als Aggressor aufgetreten sei, für den Ausbruch von Studentenprotesten und anschließenden Unruhen auch in Polen verantwortlich gemacht. Diese „Argumentation“ stellte auch die Juden in Polen als Anhänger einer aggressiven Politik dar. Eine scharfe antijüdische Vorgehensweise, die auch von Parteichef Gomułka unterstützt wurde, war die Folge. Viele Juden verloren ihre Stellungen – zuerst in der kommunistischen Partei, später in Wissenschaft, Kunst und Kultur. Sie wurden verhört oder sogar verhaftet und reisten schockiert von dieser unerwarteten judenfeindlichen Stimmung im Land aus.Vgl. Haumann, Geschichte der Ostjuden (), S. f. Sehr detailliert zu den Gründen des „größten antisemitischen Ausbruches im Nachkriegseuropa nach den bekannten antisemitischen Kampagnen Stalins in den Jahren – “ siehe Feliks Tych: „Marzec ’“. Geneza, przebieg i skutki kampanii antysemickiej lat / [„März ’“. Genese, Verlauf und Folgen der antisemitischen Kampagne der Jahre /], in: ders./Monika Adamczyk-Garbowska (Hg.): Następstwa zagłady Żydów. Polska – . [Die Konsequenzen der Judenvernichtung. Polen – ]. Lublin , S. – . Das Zitat stammt von Seite , die eingangs erwähnten Zahlen von Seite bzw. . Vgl. das Internetportal Wirtualny Sztetl, URL http://www.sztetl.org.pl/pl/article/katowice/ ,historia-miejscowosci/?action=view&page= (Zugriff . . ).
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strängen gehört, sie ist vielmehr ein Teil der Vergangenheit, der heute nur noch Eingeweihten und Interessierten aus dem Stadtgrundriss ersichtlich wird. Daran sieht man, dass doch nicht alle Vergangenheitsschichten der Stadtgeschichte in ähnlichen Anteilen präsent sind, wie zu Beginn dieses Kapitels vermutet wurde. Während etwa die deutsche Geschichte aus der Zeit der Industrialisierung auch in der Gegenwart anhand der Architektur nachvollziehbar ist, fehlen Verweise und Repräsentationen der Vorgeschichte der Stadt als slawisches Dorf sowie der Beitrag der jüdischen Bevölkerung zu ihrer Entstehung in der städtischen Topografie weitgehend. Dass sich die jüdische Geschichte von Kattowitz an der gegenwärtigen Gestalt des Stadtraumes kaum ablesen lässt, ist jedoch teilweise auf den Umstand zurückzuführen, dass die jüdische Geschichte viele Überlappungen mit der deutschen Geschichte der Stadt aufweist und nicht differenziert voneinander betrachtet wird.
Eine komplexe Geschichte: Kattowitz zwischen Deutschland und Polen Prägnant eingeschrieben in die Gestalt der Stadt hat sich die Zeit zwischen 1922 und 1939, in der Katowice Hauptstadt der neu gegründeten polnischen Woiwodschaft Schlesien war. Für diesen Umbruch in der Stadtgeschichte waren allerdings nicht die Kampfhandlungen und Frontverläufe des Ersten Weltkriegs entscheidend. Die Stadt blieb während der Kriegszeit weitgehend unversehrt, erst die politischen Ereignisse im Nachgang des Ersten Weltkrieges hatten nachhaltige Auswirkungen auf ihre Entwicklung. Kattowitz und die gesamte Region Oberschlesien waren nach dem Ende des Ersten Weltkrieges eine der europäischen Regionen, in denen sich die gewaltsamen Auseinandersetzungen trotz des offiziellen Kriegsendes noch über Jahre hinweg fortsetzten. Oberschlesien wurde zum Streitfall, sowohl zwischen dem besiegten Deutschland und dem wieder entstandenen Polen als auch zwischen den Siegermächten Frankreich und Großbritannien, die ihren Konflikt über die hegemoniale Vormachtstellung auf dem europäischen Kontinent bis in die Frage einer Teilung Oberschlesiens hinein austrugen. Die Geschichte der Stadt nach 1918 wurde beeinflusst von den Entwicklungen auf regionaler, nationaler und sogar internationaler Ebene und lässt sich ohne diesen weit gefassten Kontext nicht verstehen. Nach dem offiziellen Ende des Ersten Weltkrieges begann das Ringen um die nationale Zugehörigkeit Oberschlesiens sowohl in der Region – zwischen Deutschen und Polen – als auch auf europäischer Ebene während der Friedensverhandlungen in Versailles. Dort for-
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derte die polnische Delegation unter Roman Dmowski²⁸ und Ignacy Jan Paderewski²⁹ mit Bezug auf Punkt 13 des Wilsonschen 14-Punkte-Programms, dass alle Gebiete mit polnischer Bevölkerung zu Polen gehören sollten.³⁰ Der Anschluss Oberschlesiens an den im Entstehen begriffenen polnischen Staat wäre die Folge gewesen, was im ersten Vertragsentwurf des Versailler Vertrages auch so vorgesehen war.³¹ Auf britischer Seite führte das zu schweren Bedenken³², während Frankreich traditionell auf polnischer Seite stand. Die Oberschlesienproblematik
In der polnischen politischen Elite wurden zwei gegenläufige Modelle eines neuen polnischen Staates favorisiert: Während Józef Piłsudski, der mit einer provisorischen Regierung nominell die Macht übernahm, im Osten für die Wiedererrichtung der jagiellonischen Hegemonialstellung Polens über Litauer, Weißruthenen und Ukrainer mit Waffengewalt kämpfte, richtete sein nationaldemokratischer Rivale Roman Dmowski das Augenmerk ganz auf die preußischen Ostprovinzen, so auch auf Oberschlesien. Recht bald sah Piłsudski die Notwendigkeit, mit Dmowski paktieren zu müssen und übertrug ihm die Leitung der am . Januar gebildeten polnischen Delegation bei der Friedenskonferenz in Paris. Diese „Aufgabenteilung“ erwies sich für Polen als ausgesprochen günstig: Während Piłsudski mit Hilfe eines rasch mobilisierten polnischen Heeres seine Vorstellung eines polnischen föderativen Ostreiches zu verwirklichen suchte, vertrat Dmowski in Paris die Idee einer antideutschen polnischen Westorientierung. Außer Roman Dmowski gehörte auch Ignacy Jan Paderewski ( – ) der polnischen Delegation an. Paderewski war Pianist, Komponist und Politiker. / vertrat er das polnische Nationalkomitee in den USA. Ab war Paderewski polnischer Ministerpräsident. Vgl. Guido Hitze: Carl Ulitzka ( – ) oder Oberschlesien zwischen den Weltkriegen. Düsseldorf , S. . Nach Ende des Ersten Weltkrieges stellte nicht nur Polen, sondern auch die Tschechoslowakei gegenüber dem besiegten Deutschland Ansprüche auf oberschlesisches Gebiet. Prag forderte die südlichen Teile des Kreises Ratibor und Leobschütz sowie Abschnitte südlich der Linie BauerwitzRybnik-Pleß. Die polnischen und tschechoslowakischen Interessen kollidierten somit erheblich. Den Forderungen Prags wurde nur teilweise entsprochen. Nur das Hultschiner Ländchen (der südliche Teil des Kreises Ratibor, der seit zu Preußen gehörte) wurde ohne weitere Bedingungen – jedoch unter starken Protesten der Bevölkerung – dem tschechoslowakischen Staat angegliedert. Konflikte zwischen Polen und der Tschechoslowakei gab es ferner um das Olsagebiet, das bis zum Habsburger Kaiserreich gehörte. Polen erhob aufgrund eines großen polnischsprachigen Bevölkerungsanteils Ansprüche auf dieses Gebiet, das die Tschechoslowakei als Teil des historischen Österreichisch-Schlesiens betrachtete. Beide Staaten einigten sich auf einen Grenzverlauf, im Januar kam es dennoch zu einem gewaltsames Konflikt. wurde unter internationalem Druck der Grenzverlauf von wieder hergestellt, und die Region war in der Zwischenkriegszeit zwischen Polen und Tschechien geteilt. Vgl. Lesiuk, Plebiszit und Aufstände (), S. . Nicht davon betroffen gewesen wären die ganz im Westen Oberschlesiens gelegenen Kreise Neisse und Neustadt, die nach diesem ersten Vertragsentwurf bei Deutschland verbleiben sollten. Vgl. Hitze, Carl Ulitzka (), S. .
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entwickelte sich zunehmend zum Konfliktfall zwischen den Alliierten.³³ Die langwierigen alliierten Beratungen über das Schicksal der Region und der Protest deutschgesinnter Einwohner vor Ort rückten das relativ kleine Oberschlesien ins Blickfeld der Weltöffentlichkeit. Dies umso mehr, als Wilson am 4. Juli 1919 die Durchführung eines Plebiszites für Oberschlesien unter alliierter Kontrolle erklärte.³⁴ Am 28. Juni 1919 unterschrieben sowohl Deutschland als auch Polen den Versailler Vertrag, der einen überarbeiteten Artikel 88 mit einem Passus über das oberschlesische Plebiszit enthielt.³⁵ Die Einwohner Oberschlesiens selbst sollten nun darüber entscheiden, zu welchem Staat sie gehören wollten, da auf diplomatischer Ebene keine Einigung erzielt werden konnte. Die „dritte Option“ einer Autonomie für Oberschlesien oder gar eine staatliche Unabhängigkeit, wie sie die regionale Bewegung des Bundes der Oberschlesier (Związek Górnoślązaków) forderte, wurde von den Alliierten nicht zur Abstimmung gestellt.³⁶
Großbritannien befürchtete bei einer kompletten Abtretung Oberschlesiens aufgrund seiner Bodenschätze und seiner beachtlichen Industrieproduktion eine zu große Schwächung des deutschen Wirtschaftspotenzials zugunsten Polens. Dies hätte zudem den gleichzeitigen, indirekten Ausbau der französischen Hegemonialstellung auf dem europäischen Kontinent begünstigt. Außerdem fürchtete man die Entstehung einer mächtigen deutschen Irredenta-Bewegung und setzte sich daher für einen Verbleib ganz Oberschlesiens bei Deutschland ein. Vgl. Waldemar Grosch: Deutsche und polnische Propaganda während der Volksabstimmung in Oberschlesien – . Dortmund , S. . Die Gewährung einer Volksabstimmung anstelle der sofortigen, kompletten Abtretung des Gebietes an Polen war das einzige Zugeständnis, das die Pariser Friedenskonferenz der deutschen Regierung zubilligte.Von polnischer Seite wurde die Entscheidung für ein Plebiszit als Niederlage gewertet und Protest erhoben. Paderewski bezeichnete den Spruch der Siegermächte, vor allem in Bezug auf Danzig und Oberschlesien, als einen „grausamen Schlag“, den er nur mit „tiefem Bedauern“ zur Kenntnis nehmen könne, hatte man den Polen schließlich vorher bereits „ganz Oberschlesien versprochen“. Roman Dmowski gab noch eine Erklärung ab, in der er seine Überzeugung bekundete, dass das bevorstehende Plebiszit mit einem großen polnischen Sieg enden werde. Zitat nach Hitze, Carl Ulitzka (), S. . Wörtlich hieß es in Artikel des Friedensvertrages: „In dem Teile Oberschlesiens, der innerhalb der nachstehenden Grenzen beschrieben ist, werden die Einwohner berufen, im Wege der Abstimmung kundzutun, ob sie mit Deutschland oder Polen vereinigt zu werden wünschen.“ Das Abstimmungsgebiet wurde darin auf den gesamten Regierungsbezirk Oppeln einschließlich der südlichen Teile des mittelschlesischen Kreises Namslau, jedoch abzüglich der nahezu vollständig deutschsprachigen Kreise Neisse, Grottkau, Falkenberg sowie dem westlichen Teil des Kreises Neustadt festgelegt. Die niederschlesischen Kreise Guhrau, Militsch, Groß Wartenberg und der nördliche Teil des Kreises Namslau wurden ohne Abstimmung dem polnischen Staat zugesprochen. Zitat Ebd., S. . Vgl. Günther Doose: Die separatistische Bewegung in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg ( – ). Wiesbaden .
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Exkurs: Der deutsch-polnische nationale Antagonismus in Oberschlesien Bevor auf die weitreichenden Konsequenzen eingegangen wird, die die Entscheidung für ein Plebiszit im Fall des kulturell, sprachlich und religiös vielfältig geprägten Oberschlesien hatte, steht ein Exkurs. Denn die Beschreibung der Situation nach 1918 bliebe unvollständig und unverständlich ohne Verweis auf die Rolle der von außen in die Region und an ihre Einwohner herangetragenen Konkurrenz um ihr nationales Bewusstsein bzw. ihre nationale Zugehörigkeit. Der Antagonismus der nationalen Bewegungen war ein bestimmender Faktor in der Entwicklung der Region, Oberschlesien war in gleichem Maße Spielball und Testgelände nationaler deutscher und polnischer Bestrebungen. Auf die in den jeweiligen nationalen Diskursen an die Region herangetragenen Zuschreibungen und Ansprüche sowie auf ihre spezifischen Ausprägungen wird im Folgenden eingegangen.³⁷
Der polnische Historiker Bernard Linek schlägt eine Betrachtung der oberschlesischen Geschichte vor, die sich weniger am „statischen Begriff eines Grenzlandes“ orientiert, der vor allem die Ansprüche und Auswirkungen der unterschiedlichen Nationalismen auf das Gebiet in den Mittelpunkt rückt. Linek zieht den Begriff einer Übergangsregion (region przejściowy) vor, der die Dynamik der Region sowie die Bestimmungsfaktoren für ihre Entwicklung besser zur Geltung bringe. Dementsprechend liegt der Fokus seiner Betrachtungen auf Prozessen der Akkulturation (akulturacja), verstanden als Übernahme bestimmter gruppenbezogener Verhaltensmuster und Wertvorstellung durch andere Personen oder Gruppen, sowie der Assimilation (asymilacja) im Sinne eines Einsschlusses von Personen oder Gruppen einer Minderheit bzw. einer nicht dominierenden Gruppe in die Mehrheit bzw. die dominierende Gruppe. Ausgeführt hat Linek diese Betrachtungsweise oberschlesischer Geschichte am Beispiel der Arbeiter der Borsigwerke, die heute zum Stadtgebiet von Zabrze gehören. In seiner mikrohistorischen Studie kommt er zu dem Schluss, dass „die oberschlesischen Arbeiter […] ihre autonome kulturelle Welt gewahrt hatten, auf die verschiedene Gruppen Ansprüche erhoben“. Keine dieser Gruppen konnte diese kulturelle Welt letztlich gänzlich integrieren oder als eigene übernehmen. Vgl. Bernard Linek: Robotnicy Borsigwerku. Procesy akulturacji/asymilacji wśród robotników górnośląskich (od drugiej połowy XIX do pierwszej połowy XX wieku) [Die Arbeiter der Borsigwerke. Prozesse der Akkulturation/ Assimilation bei oberschlesischen Arbeitern (von der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts bis zur ersten Hälfte des . Jahrhunderts], in: Robert Traba (Hg).: Akulturacja/asymilacja na pograniczach Europy Środkowo-Wschodniej w XIX i XX wieku. Sąsiedztwo polsko-niemieckie [Akkulturation/Assimilation in den Grenzgebieten Mittelosteuropas im . und . Jahrhundert. Polnisch-Deutsche Nachbarschaf]. Bd. Warszawa , S. – . Die Zitate stammen von den Seiten sowie . In der Einleitung zu diesem Band weist Robert Traba auch auf das Konzept der Beziehungsgeschichte hin, das seit den er Jahren dank der Arbeiten von Klaus Zernack inspirierende Ansätze für die Untersuchung benachbarter Nationen liefert. Das Konzept der Beziehungsgeschichte, das danach fragt, „auf welchen Ebenen und in welchen spezifischen Kontexten die Geschichte zweier benachbarter Nationen miteinander verbunden sind“ könnte auch für die Beschreibung der oberschlesischen Geschichte wertvolle Impulse liefern.Vgl. Robert Traba:
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Im 19. Jahrhundert weckte Oberschlesien die Aufmerksamkeit sowohl der deutschen als auch der polnischen Nationalbewegung, die ihre Ansprüche auf die Region geltend machen und die Bevölkerung in ihrem Sinne national beeinflussen wollten. Sowohl die deutsche als auch die polnische Nationalbewegung untermauerten ihre Argumentation der Zugehörigkeit des Gebietes zu ihrem Staatsgefüge mit historischen Argumenten. Die deutsche Argumentation stützte sich auf eine staatliche Kontinuität seit dem Vertrag von Berlin aus dem Jahr 1742, der Oberschlesiens Abtretung von Österreich und den Anschluss des Großteils des Gebietes an Preußen regelte. Für die Berliner Beamten war Oberschlesien jedoch lange Zeit nicht mehr als ein Anhängsel des zu diesem Zeitpunkt wirtschaftlich und kulturell wesentlich interessanteren Niederschlesien. Der im Vergleich zur protestantischen, deutschsprachigen Einwohnerschaft Niederschlesiens überwiegend katholischen und polnischsprachigen Bevölkerung Oberschlesiens³⁸ brachten sowohl die preußischen Beamten als auch die deutsche Öffentlichkeit ein beträchtliches Maß an Misstrauen entgegen. Ihre Sprache – ein aus dem Altpolnischen hervorgegangener, im Laufe der Zeit mit zahlreichen Germanismen sowie Entlehnungen aus dem Tschechischen versetzter Dialekt – wurde aus deutscher Sicht abwertend und diffamierend als „Wasserpolnisch“ bezeichnet.³⁹ Distanz und Unverständnis prägten das Verhältnis der preußischen Behörden
Procesy akulturacji/asymilacji w perspektywie badań historycznych [Prozesse der Akkulturation/ Assimilation in der Perspektive historischer Forschungen], in: Ders. (Hg.): Akulturacja/asymilacja na pograniczach Europy Środkowo-Wschodniej w XIX i XX wieku. Sąsiedztwo polsko-niemieckie [Akkulturation/Assimilation in den Grenzgebieten Mittelosteuropas im . und . Jahrhundert. Polnisch-Deutsche Nachbarschaft]. Bd. Warszawa , S. – , Zitat S. . Die geschichtliche Sonderentwicklung Oberschlesiens innerhalb der Gesamtregion Schlesien begann bereits im . Jahrhundert mit der Teilung der Herzogtümer Breslau und Oppeln-Ratibor. Sie setzte sich im . Jahrhundert durch den abnehmenden Zustrom deutscher Siedler nach Oberschlesien fort, der zur Folge hatte, dass die ausgedehnten Wald- und Sumpfgebiete entlang der oberen Oder und speziell am rechten Oderufer fast durchgehend von einer slawischen Bevölkerung besiedelt blieben. Nach Beendigung des -jährigen Krieges war zudem in Oberschlesien der ursprünglich katholische Charakter der Region wieder hergestellt. Seither korrespondieren in Oberschlesien die sprachlichen Verhältnisse in ungewöhnlich starkem Ausmaß mit den konfessionellen. Vgl. Hitze, Carl Ulitzka (), S. . Zur historischen Entwicklung und Einordnung des oberschlesischen Dialektes vgl. Gerd Hentschel: Das Schlesische – eine neue (oder auch nicht neue) slavische Sprache? in: Matthias Weber (Hg.): Deutschlands Osten – Polens Westen. Vergleichende Studien zur historischen Landeskunde. Frankfurt/Main , S. – . Der Begriff „Wasserpolnisch“ – ursprünglich ohne jeden negativen Beiklang verwendet – leitet sich wahrscheinlich von der Sprache der polnischen Ruderer und Flößerknechte auf der Oder ab („das Polnisch, das auf dem Wasser gesprochen wird“). Erst zu Beginn des . Jahrhunderts wird der Begriff in abwertend gemeinter Bedeutung auf die polnischsprachigen Oberschlesier übertragen. Vgl. Hitze, Carl Ulitzka (), S. .
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gegenüber ihren oberschlesischen Untertanen, die aus Angst vor Illoyalität als ständiger Unsicherheitsfaktor galten. Eine soziale Kluft trennte die Masse der ländlichen Bevölkerung sowie das rasch anwachsende Industrieproletariat, die sich nicht vorrangig als Deutsche fühlten⁴⁰, von einer schmalen Schicht an Großgrundbesitzern, Industriellen und aus dem Reichsinneren zugezogenen Beamten und Militärs, die national deutsch eingestellt waren. Diese deutschsprachige, protestantische, soziale, städtische Elite grenzte sich zunehmend von der alteingesessenen oberschlesischen Bevölkerung ab, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr in das sich stetig verengende Selbstverständnis der deutschen Nation passte.⁴¹ Die Mehrheit der Bevölkerung, die überwiegend auf dem Land lebte, zu Hause nicht deutsch sprach und katholisch war, wurde von der deutschen nationalen Bewegung nicht erreicht.⁴² Die Reichsgründung im Jahr 1871 machte aus den slawischsprachigen Untertanen der preußischen Krone unfreiwillig Bürger eines deutschen Nationalstaates. Bismarcks Germanisierungspolitik war auf die Assimilierung der Bevölkerung ausgerichtet, im Kulturkampf erklärte er schließlich die Katholiken zu „Reichsfeinden“. Es wurde zunehmend schwieriger, ein katholischer, slawischsprachiger Untertan des preußischen Königs zu sein. Die attraktive Alternative bildete das Polentum – eine „Identität mit großer Geschichte und zur damaligen Zeit [aufgrund der Teilungen Polens] keiner Gegenwart“, von der keine repressive Gefahr ausging.⁴³ Herausgefordert wurde das preußisch-deutsche Superioritätsbewusstsein durch die sich formierende polnische Nationalbewegung. Auch hier wurden die Ansprüche auf Oberschlesien historisch begründet, und die Zugehörigkeit der oberschlesischen Gebiete im 11. und 12. Jahrhundert zum polnischen Staatsgebilde als Grund angeführt.⁴⁴ Bereits zum Zeitpunkt der Teilungen Polens im 18. Jahr-
Vgl. Phillip Ther: Schlesisch, deutsch oder polnisch? Identitätenwandel in Oberschlesien – , in: Kai Struve/Phillip Ther (Hg.): Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit. Marburg , S. – , hier S. . Ebd., S. . Am effektivsten wurde die Ausbreitung einer national deutschen Identität durch die Möglichkeit sozialen Aufstiegs und die deutsche Prägung der Städte gefördert, obwohl nur sehr wenige einheimische Oberschlesier in der Staatsverwaltung, dem Militär oder der Privatwirtschaft Karriere machten. Vgl. Twardoch, Śląsk [Schlesien] (), S. . Seit der Eroberung durch Mieszko I. im Jahr gehörte Schlesien zum polnischen Staatsgebilde. Es verselbstständigte sich aber, was in engem Zusammenhang mit der nach dem Tod Bolesławs III Krzywousty (Schiefmund) eingeführten Senioratsverfassung stand, die Polen in mehrere rivalisierende Teilfürstentümer spaltete, und die eigenständige schlesische Linie der Piasten begründete. Die schlesischen Piasten regierten das Land von bis , stellten ihre
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hundert war die Region jedoch für die meisten Polen zu einer terra incognita geworden. Seit dem 14. Jahrhundert gehörte das Gebiet nicht mehr zum polnischen Staatsgebilde, ein gemeinsamer Bezugspunkt auf einen der stärksten Identifikationspunkte der polnischen Nation, die 1795 untergegangene polnische Adelsrepublik, existierte nicht. Interessant wurde die Region für das nationalpolnische Projekt erst, als sich das Nations- und Geschichtsverständnis der polnischen Eliten von der Tradition der szlachta (Adelsnation), die im Adel die politische Nation sah, aber nicht an eine gemeinsam Sprache, Kultur oder Religion gebunden war, hin zu einer Vorstellung der Nation als Gemeinschaft der Polnischsprachigen (Ethnonation) wandelte.⁴⁵ Mit der Gemeinschaft der Polnischsprachigen als Trägerin des „nationalen Bewusstseins“ wurden die oberschlesischen, aber auch die masurischen Bauern mit ihren altpolnischen Dialekten wiederentdeckt. In den 1880er Jahren erklärten Intellektuelle⁴⁶ das lud, also das Volk, und somit nichts anderes als die polnischsprachige Bauernschaft zur eigentlichen Substanz der Nation. Diese neue Nation war jedoch zunächst nur potenziell, sie musste durch eine erzieherische Anstrengung, einen integrativen Kraftakt erst erschaffen werden. Das seit Jahrhunderten von Polen abgetrennte Oberschlesien wurde deshalb aufgrund seines vorindustriell-ländlichen Charakters und seiner einen polnischen Dialekt spresich immer mehr aufspaltenden Fürstentümer im . Jahrhundert jedoch nach und nach unter böhmische Lehnshoheit. Im Vertrag von Trentschin () erkannte Kazimierz Wielki (der Große) die neuen Machtverhältnisse und somit die böhmische Oberhoheit über Schlesien an. Ausführlich zur mittelalterlichen Geschichte Schlesiens vgl. Peter Moraw: Das Mittelalter, in: Norbert Conrads (Hg.): Deutsche Geschichte im Osten Europas. Schlesien. Berlin , S. – . Gehrke argumentiert, dass die polnischen Eliten nach den Teilungen infolge zweier gescheiterter Aufstände (/ und ) den romantischen Patriotismus samt der Vorstellung, den verlorenen Staat durch einen bewaffneten Aufstand wieder herstellen zu können, aufgaben. Stattdessen setzten sich die Wortführer des Positivismus mit ihrem Konzept der „organischen Arbeit“ durch, das den Fortbestand der Nation in naher Zukunft auch ohne die Existenz eines eigenen Staates gewährleisten sollte. Der Logik dieser Konzeption zufolge war Polen als historischer Akteur jedoch vorerst abgetreten, und die Polen mussten sich – wie andere Volksgruppen ohne staatliches Territorium in Mittel- und Osteuropa auch – als ethnolinguistische Gemeinschaft definieren. Damit rückten die Oberschlesier und Masuren mit ihren an das Polnische angelehnten Dialekten ins Blickfeld der Nationalbewegung.Vgl. Roland Gehrke: Die territorialen Ansprüche der polnischen Nationalbewegung auf Oberschlesien und ihre Entstehung im . und . Jahrhundert, in: Kai Struve (Hg.): Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Studien zu einem nationalen Konflikt und seiner Entstehung. Marburg , S. – , hier S. . Die beiden führenden polnischen Intellektuellen waren der Herausgeber der Zeitschrift Głos (Stimme), Jan Ludwik Popławski, in Warschau, sowie der Begründer der in Lwów/Lemberg erscheinenden Zeitschrift Przegląd Społeczny (Gesellschaftliche Rundschau), Bolesław Wysłouch. Beide wurden zu geistigen Vätern der sich um die Jahrhundertwende herausbildenden polnischen Nationaldemokratie. Ebd., S. .
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chenden, bäuerlichen Einwohner zum „Testgelände und Schrittmacher der angestrebten ‚nationalen Wiedergeburt‘, und somit zum Vorbild für das restliche Polen“, erklärt.⁴⁷ In einer sich verschärfenden Wechselwirkung zwischen negativer deutscher Polenpolitik und der Verfestigung des deutschen Feindbildes auf polnischer Seite wurde Oberschlesien – hauptsächlich in der Wahrnehmung der polnischen Nationaldemokraten⁴⁸ – zu einem Gebiet, an dem die polnische Nation ihre Fähigkeit zur Selbstbehauptung demonstrieren konnte. Um die polnischen Ansprüche auf Oberschlesien auch in der Bevölkerung zu popularisieren, wurden historische Reminiszenzen zu alltagstauglichen, leicht verständlichen Bildern geformt. Das nunmehr als das „uralte piastische Land“ bezeichnete Oberschlesien erhielt im Rahmen der nationaldemokratischen Restitutionspläne seinen festen Platz als „Bastion des polnischen Abwehrkampfes“ gegen PreußenDeutschland.⁴⁹ Die polnische Bewegung konnte in Oberschlesien vor allem aufgrund von sozialen Problemen und wirtschaftlichen Benachteiligungen der polnischsprachigen Einwohner Stimmen gewinnen. Da die polnische Nationalbewegung aufgrund der Teilungen Polens jedoch nicht über einen eigenen Staat verfügte, blieb sie ein „Nationalismus der Underdogs“. Zudem fielen die vielgestaltigen kulturellen Unterschiede zwischen den slawischsprachigen Oberschlesiern, die sich jahrhundertelang unter österreichischer, preußischer und deutscher Herrschaft entwickelt hatten, und den Polen ins Gewicht.⁵⁰
Ebd., S. . Um die Relevanz der Region Oberschlesien für das polnische politische Denken vor und nach dem Ersten Weltkrieg einordnen zu können, müssen die beiden gegensätzlichen Konzeptionen zur Wiederherstellung des polnischen Staates nach Berücksichtigung finden. Die Wiederherstellungspläne der Nationaldemokraten um Roman Dmowski verorteten den Schwerpunkt polnischer Staatlichkeit in West- und Zentralpolen und setzten auf die Schaffung eines ethnisch geschlossenen Nationalstaates in direkter Konfrontation zu Deutschland. In Anlehnung an das mittelalterliche Staatsgebilde der polnischen Piasten-Könige wird diese Konzeption auch als „piastische Idee“ bezeichnet. Mit dem Kriterium der ethnischen Geschlossenheit des zu schaffenden Nationalstaates waren Gebiete wie Oberschlesien und Masuren für das nationaldemokratische Lager von zentraler Bedeutung. Dem gegenüber stand die Idee Józef Piłsudskis, der im Rückgriff auf den zur Zeit der Jagiellonen gegründeten polnisch-litauischen Staat eine Konföderation unter Einschluss nichtpolnischer Völker im Osten mit explizit antirussischer Stoßrichtung bilden wollte. Für die föderalistische Konstruktion Piłsudskis spielte Oberschlesien nur eine untergeordnete Rolle. Vgl. Rudolf Jaworski/Christian Lübke/Michael G. Müller: Eine kleine Geschichte Polens. Frankfurt/Main , S. f. Vgl. Gehrke, Die territorialen Ansprüche (), S. . Vgl. Philipp Ther: Der Zwang zur nationalen Eindeutigkeit und die Persistenz der Region: Oberschlesien im . Jahrhundert, in: Philipp Ther/Holm Sundhausen (Hg.): Regionale Bewegungen und Regionalismen in europäischen Zwischenräumen seit der Mitte des . Jahrhunderts. Marburg , S. – , hier S. .
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Jenseits der deutschen und polnischen Nation: Die Oberschlesier Neben den Ansprüchen auf Oberschlesien, die von den miteinander konkurrierenden Nationalbewegungen formuliert wurden, bildete sich unter der einheimischen, vor allem auf dem Land lebenden Bevölkerung eine eigene Identität heraus, die sich durch eine starke Bindung an die Region auszeichnete.⁵¹ Die Oberschlesier selbst hielten sich nach der Eingliederung der Region in den preußischen Staat für katholische Untertanen des preußischen Königs, die po naszymu, also „auf unsere Art“ sprachen. Für diese Gruppe war nicht die deutsche oder polnische Nation, sondern die Region das wichtigste Objekt der Identifizierung, und die Angehörigen dieser Gruppe entzogen sich den Kategorisierungen und Zuschreibungen deutscher und polnischer nationaler Muster weitgehend. Unter dem Einfluss der Nationalbewegungen bildete sich jedoch bei vielen ein deutsches oder polnisches sekundäres Nationalbewusstsein heraus, das die Erstidentifikation mit der Heimatregion nicht tangierte.⁵² Eine politische Bewegung entstand auf Grundlage dieser regionalen Identifikation vor 1918 in Preußen allerdings nicht, da die Oberschlesier keine säkulare politische Elite hervorbrachten.⁵³ Die Sprache der einheimischen Oberschlesier gehört zur slawischen Sprachfamilie. Trotz bestehender Ähnlichkeiten verband sie aber nur wenig mit den benachbarten Polen, die während des 19. Jahrhunderts durch eine intensive Pflege ihrer eigenen Sprache und Kultur den Zustand der Staatenlosigkeit zu überdauern suchten.⁵⁴ Auch eine Anbindung an die slawischen Nachbarn im tschechisch-mährischen Kulturraum bestand nicht, da im Westen Oberschlesiens der deutschsprachige Landesteil Schlesiens den direkten (Sprach)Kontakt verhinderte. Die oberschlesischen Slawen waren in diesem Sinne isoliert, gleichwohl aber eng an das in der Region vorherrschende deutsche Element gebunden, das mit sozialem Aufstieg konnotiert war. Die Frage der Sprache wurde damit zu einer sozialen. Da der slawische Dialekt der Einheimischen nicht kodifiziert war und soziale Anerkennung nur im Rahmen des Deutschen zu erwarten war, wurde der slawische Dialekt auch von der gebildeten Schicht ihrer Sprecher nicht weiterentwickelt und blieb auf der Stufe einer als rückständig, alltagssprachlich und derb bewerteten Bauern- und Arbeitersprache stehen.⁵⁵ Es gelang der einheimi-
Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Vgl. Manfred Alexander: Oberschlesien im . Jahrhundert – eine missverstandene Region, in: Geschichte und Gesellschaft (), S. – , hier S. f. Ebd., S. .
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schen Bevölkerung weder, ein Bürgertum mit einem Bewusstsein für die eigene Sprache auszubilden, noch, sich als politische Bewegung zu etablieren oder eigenständige politische Eliten hervorzubringen. Wichtige Bildungseinrichtungen wie die Schule funktionierten in deutscher Sprache, und die Kenntnis des Deutschen galt als Entree in eine gesellschaftliche und berufliche Besserstellung. Die Organisation der Bereiche Bildung, Verwaltung und Wirtschaft auf deutsch weckten nicht das Bedürfnis – ließen aber auch kaum die Möglichkeit – eine eigene Intelligenz jenseits des Deutschen zu entwickeln: „Das Motiv des sozialen Aufstiegs in der eigenen Sprache fehlte.“⁵⁶ Die soziale und politische Dominanz der deutschen Sprache vermittelte gleichsam eine Hierarchie der Sprachen. Deutsch galt als „fein“, „gebildet“ und „neuzeitlich“: „co dajcz, to fajn“⁵⁷ (Was deutsch ist, ist fein). Das Sprachspektrum der Oberschlesier begrenzte sich jedoch nicht auf ihren Dialekt und das Deutsche, das je nach Situation im Alltag eingesetzt wurde. Man konnte sich als Oberschlesier fühlen, zu Hause Dialekt sprechen, mit den Nachbarn polnisch und auf dem Amt das geforderte deutsch. Die oberschlesische Identität ließ sich folglich nicht an der Sprache festmachen, die je nach Lage situativ und variabel verwendet wurde. Folglich konnte die eigene Ethnizität der Oberschlesier von ihnen selbst nicht als solche benannt werden, es fehlte eine Selbstbezeichnung für die eigene Gruppe. Oberschlesier bezeichneten sich als „Hiesige“, im regionalen Dialekt tutejszy, die „auf unsere Art“ (po naszymu) sprachen. Es hätte einer eigenen Intelligenz bedurft, um solchen Bezeichnungen Definierbarkeit und Akzeptanz im kulturell gemischten Oberschlesien zu verleihen. Anstelle dieser einheimischen politische Elite oder Intelligenz, der eigenen „Erwecker“, waren es deutsche und polnische Einflüsse von außen, die um die Region konkurrierten.⁵⁸ Die Auffassungen darüber, wie die Gruppe der „autochthonen“, der einheimischen Oberschlesier zu bewerten sei, gehen jedoch auseinander. Im Gegensatz zum oben zitierten deutschen Osteuropahistoriker Manfred Alexander sieht die Oppelner Soziologieprofessorin Dorota Simonides in der oberschlesischen Bevölkerung eine eigenständige ethnische Gruppe zwischen Deutschen und Polen par excellence. Sie erklärt diesen Umstand damit, dass es sich bei den Oberschlesiern um eine Bevölkerungsgruppe [handelt], die am Berührungspunkt zweier oder mehrerer Kulturkreise lebt. Durch den Zusammenstoß mit den fremden Kulturen wird die eigene zu einem selbstständigen, übergeordneten Wert, was jedoch nicht die Übernahme einiger Elemente aus den fremden Kulturen ausschließt.
Ebd., S. . Zitat nach Ebd., S. . Ebd., S. .
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Im Unterschied zu einer nationalen Minderheit, die durch die Verschiebung von politischen Grenzen entsteht, entwickelten die Oberschlesier auf ihrem angestammten Territorium unter wechselnden Herrschaftsverhältnissen eine spezifische Kultur mit eigenem Dialekt, eigenen Sitten, Gebräuchen, Symbolen und Kulturwerten. Simonides stellt fest, dass die Oberschlesier eine sehr starke Bindung an ihre Region, „starke innerfamiliäre Bindungen, […] eine tiefe Religiosität, ein ausgeprägtes ethnisches Bewusstsein bei häufigem Fehlen eines Nationalbewusstseins, dem eine starke Bindung an die Gemeinschaft gegenübersteht“⁵⁹, kennzeichnet. Der polnische Publizist Szczepan Twardoch argumentiert in ähnlicher Weise wie Manfred Alexander und geht davon aus, dass unter den Oberschlesiern zwar stets ein Gefühl der Fremdheit oder des Andersseins bestimmend war, ihr Bewusstsein sich jedoch zumindest bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts nicht anhand ethnischer Kriterien, sondern der Klassen- oder Religionszugehörigkeit beschreiben lässt. Twardoch zufolge fühlten sich die Oberschlesier als „katholische Preußen, die ‚auf unsere Art‘ (po naszymu) sprachen, wobei das Wort Preuße keine ethnische Bezeichnung war, sondern eine Bezeichnung für einen Untertan des preußischen Königs“.⁶⁰ Es handelte sich somit um eine vormoderne Form von Loyalität gegenüber dem König bzw. eine vormoderne Form von Nationalität. Die „polnische Option“ wurde für die Oberschlesier erst dann interessant, als es zunehmend schwieriger wurde, ein loyaler slawischsprachiger preußischer Untertan zu sein und sich die polnische Identität als attraktive Alternative abzeichnete. Seither, so Twardoch weiter, herrsche eine „völlig ahistorische Überzeugung, dass die Oberschlesier irgendwann einmal Polen gewesen seien und im Laufe der Zeit ihre Polonität verloren hätten.“ Für Twardoch hat das Problem einer fehlenden historisch gewachsenen Selbstbeschreibung der Oberschlesier, die stets zwischen einer deutschen und einer polnischen Option standen, auch eine gegenwärtige Dimension. In der Zeit seit 1989 sei das Gefühl, sich nicht mehr [zwischen einer deutschen oder polnischen Identität, JT] entscheiden zu müssen, befreiend. Doch ist die Beschreibung dessen, was man nicht ist, nicht gleichzusetzen mit einer Antwort auf die Frage, wer man ist. Die Antwort „Wir sind Oberschlesier“ ist daher recht fragil.⁶¹
Vgl. Dorota Simonides: Gibt es ein oberschlesisches Ethnikum? in: Gesellschaft für interregionalen Kulturaustausch (Hg.):Wach auf, mein Herz, und denke. Zur Geschichte der Beziehungen zwischen Schlesien und Berlin-Brandenburg von bis heute. Berlin/Opole , S. – hier S. ff. Vgl. Twardoch, Śląsk [Schlesien] (), S. . Ebd., S. . Über die „schlesischen nationalen Dilemmata“ der jüngeren und älteren Generation der Oberschlesier berichtet die Soziologin Antonina Kłoskowska.Vgl. Antonina Kłoskowska: Kultury narodowe u korzeni [Die Wurzeln nationaler Kulturen]. Warszawa , S. – .
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Kattowitz wird polnisch Mit dem Plebiszit am 20. März 1921 wurde von den Einwohnern Oberschlesiens eine eindeutige Entscheidung darüber eingefordert, ob sie zukünftig in Polen oder Deutschland leben wollen. Die Entscheidung zwischen diesen beiden nationalen Optionen oder das nationale Bekenntnis, sich deutsch oder polnisch zu fühlen, stellte die national nicht festgelegten Oberschlesier vor eine Alternative, die ihrer Identität widersprach. Trotzdem wurde Oberschlesien, das als sprachliche, kulturelle und ethnische Übergangszone gelten kann, infolge der Abstimmung anhand nationaler Linien zwischen Deutschland und Polen aufgeteilt. Die Wahlbeteiligung lag bei 97,5 %⁶², von den abgegebenen Stimmen entfielen 479369 (40,4 %) auf Polen, 707488 (59,6 %) auf Deutschland. In den Städten (u. a. Oppeln mit 95 %, Ratibor mit 90 %, Kattowitz mit 85 %) und den Gebieten links der Oder stimmten die Menschen mehrheitlich für Deutschland, rechts der Oder und auf dem Land für Polen.⁶³ Obwohl sich ein zahlenmäßig eindeutiges Ergebnis des Plebiszits ermitteln ließ, blieben wichtige Fragen offen. So waren die Stimmen im Industrierevier etwa gleich verteilt, und es ergab sich ein Mosaik aus deutschen Mehrheiten in den Städten und polnischen in den umliegenden Bergbaugemeinden. Am 12. Oktober 1921 gab schließlich der Völkerbund als Resultat des Plebiszits einen Aufteilungsmodus für die Region bekannt, dem zufolge circa 71 % der Fläche des Abstimmungsgebietes bei Deutschland verblieb und etwa 29 % Polen zugesprochen wurde. Die bedeutenden Industriezentren wie Kattowitz und Königshütte, die mit deutlicher Mehrheit für Deutschland gestimmt hatten, fielen ebenso an Polen wie etwa 90 % der bekannten Steinkohlevorräte und 75 % der Industrieanlagen Oberschlesiens. Die neue deutsch-polnische Grenze wurde mitten durch die Montanregion gezogen; Polen erhielt zwar den kleineren aber ökonomisch wertvolleren Teil der Region, der für die überwiegend landwirtschaftlich geprägte Zweite Polnische Republik von größter Wichtigkeit werden
Zugelassen waren insgesamt Stimmberechtigte. Die Zahlen stammen aus Ther, Nationale Eindeutigkeit (), S. . Hitze konstatiert dazu: „Die nahezu ausschließlich polnischsprachige, national indifferente, aber abstimmungsentscheidende Bevölkerungsschicht folgte eben nicht einem ausgeprägten National-, sondern einem starken Heimatgefühl, angesichts dessen rein nationale Kategorien nur eine sekundäre Rolle spielten. Sie dachte in landschaftlichen und regionalen Bezügen und traf ihre Entscheidung aus einem komplexen Motivationsgefüge heraus, in welchem materielle und soziale Belange, aber auch historische Argumente, eigene Zukunftsperspektiven, religiös-kulturelle Interessen, sentimentale Erinnerungen und ein wenn auch schwach entwickeltes Staatsbewusstsein ein nur schwer zu entwirrendes Konglomerat ergaben.“ Vgl. Hitze, Carl Ulitzka (), S. f.
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sollte.⁶⁴ Aufgrund des wirtschaftlichen Potenzials der Region war die Teilung Oberschlesiens eine Maßnahme ohne Präzedenzfall in der europäischen Geschichte.⁶⁵ Sie durchtrennte nicht nur die einheitliche Wirtschaftsstruktur⁶⁶ der Montanregion, sie hinterließ auf beiden Seiten der neu gezogenen Grenze außerdem große nationale Minderheiten. In der Woiwodschaft Schlesien handelte es sich um circa 226 000 Personen, im deutschen Oberschlesien um circa 195 000. Zur Abmilderung der Folgen und zur Etablierung praktikabler Lösungen der Völkerbundsentscheidung wurde 1922 in Genf die Oberschlesienkonvention⁶⁷ (Genfer
Polen erhielt beispielsweise von Steinkohlebergwerken ( aktive), Deutschland dagegen nur . Die neun Eisenerzgruben der Region lagen ausnahmslos auf polnischem Territorium. Zehn von Zink- und Bleierzgruben sowie drei von vier Brikettfabriken wurden polnisch. In der Woiwodschaft Schlesien befanden sich alle Zink-, Blei- und Silberhütten, darüber hinaus fielen über % aller Betriebe außerhalb der kohle- und metallverarbeitenden Industrie an Polen. Diese Angaben siehe ausführlicher bei Lesiuk, Plebiszit und Aufstände (), S. . Die Eigentumsrechte der privaten Unternehmer blieben jedoch großteils unangetastet, was den deutschen Großindustriellen – wie den von Donnersmarck und Stinnes – auch in Polen ihren Besitz sicherte. Ebd., S. . Wiesław Lesiuk fasst die Schwierigkeiten der Teilung Oberschlesiens treffend zusammen: „Eine Grenzziehung, die gleichzeitig das Ergebnis der Volksabstimmung und die wirtschaftliche Struktur des strittigen Gebietes berücksichtigte, stieß daher auf jedem Schritt auf schwere, häufig nicht zu überwindende Hindernisse. Kompromisslösungen konnten nur darauf abzielen, das kleinere Übel zu wählen. So fielen von den großen Monopolen und Kartellen im Bergwerks- und Hüttenwesen sechs an Polen, fünf an Deutschland; elf Unternehmen lagen auf beiden Seiten der Grenze. Auch viele Firmen und Konzerne mussten aufgeteilt werden, weil die neue künstliche Grenze durch Gruben und Schächte, Kohlefelder und Zink- und Bleifelder lief und die Infrastruktur vieler metallverarbeitender Betriebe durchschnitt. Förderschächte wurden so durch die Grenze von Kohlelagern getrennt, Hochöfen von verarbeitenden Betrieben. Teilweise ließen sich die Missstände schließlich durch bilaterale Verhandlungen über den Grenzverlauf korrigieren, die sich noch über ein Jahr nach der formellen Aufteilung Oberschlesiens hinzogen. Alle Mängel […] ließen sich freilich nicht beseitigen: Die Grenze durchtrennte normale und neun Schmalspurbahnlinien, sieben Straßenbahnlinien, zwölf Hochspannungs- und vier Gasleitungen.“ Ebd., S. f. Am . Mai unterschrieben Regierungsvertreter des Sejm und des in Trauerflor ausgeschmückten Reichstags in Genf die Oberschlesienkonvention, die mit Artikeln noch umfangreicher war als der Versailler Vertrag. Am . Juni trat das Abkommen für eine Dauer von Jahren in Kraft. Zur Durchsetzung und Überwachung wurde eine deutsch-polnische Gemischte Kommission in Kattowitz, bestehend aus einem Vorsitzenden aus einem neutralen Land sowie einem deutschen und einem polnischen Vertreter, eingesetzt. Ein ähnlich besetztes Schiedsgericht in Beuthen stand noch über der Gemischen Kommission, gegen dessen Urteil konnte weder eine Appellation noch eine Revision eingelegt werden. Für eine Übergangsperiode von Jahren sollten diese Institutionen sicherstellen, dass die noch ausstehenden Probleme gelöst würden.Vgl. Bahlcke, Schlesien und die Schlesier (), S. .
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Beschlüsse) formuliert, die unter anderem den Minderheitenschutz regelte und Deutschen und Polen das Recht einräumte, die Staatsbürgerschaft des Nachbarlandes anzunehmen bzw. in das jeweils andere Land zu emigrieren.⁶⁸ Die Zeit vor dem Plebiszit und der Teilung Oberschlesiens war nicht nur von Propagandakampagnen bestimmt, auch Waffengewalt kam während dreier Aufstände in den Jahren 1919, 1920 und 1921 zum Einsatz, in denen versucht wurde, die Ergebnisse der diplomatischen Bemühungen um die Zugehörigkeit der Region vorwegzunehmen bzw. zu beeinflussen. Während die ersten beiden Aufstände vor dem Plebiszit ausbrachen, begann die dritte Erhebung nach dem Plebiszit, unter anderem aufgrund der von Großbritannien und Italien vorgeschlagenen Aufteilung Oberschlesiens, der zufolge dreiviertel der Region und alle Industriezentren bei Deutschland verbleiben sollten. Laut dem britisch-italienischen Vorschlag hätte Polen nur einen sehr kleinen Teil im Osten Oberschlesiens erhalten, mit dem sich die Verfechter der „polnischen Option“ nicht abfinden wollten. Daraufhin wurden die Teile Oberschlesiens besetzt, die nach Auffassung der Aufständischen zu Polen gehören sollten. Die deutschen und polnischen kämpfenden Einheiten wurden im Juni 1921 von alliierten Truppen getrennt, am 5. Juli 1921 wurde ein Waffenstillstand unterzeichnet. So gelangte die Entscheidungsgewalt über die Zukunft Oberschlesiens letztlich nach Genf an den Völkerbund, der ein Aufteilungsverhältnis der Region von etwa Zweidrittel zu Eindrittel zwischen Deutschland und Polen festlegte. Die polnische Historiografie bezeichnet diese Erhebungen als Schlesische Aufstände, da sie als das entscheidendste polnisch-nationale Symbol in der Geschichte Oberschlesiens angesehen werden.⁶⁹ Die Bezeichnung ist insofern irreführend, als die Auseinandersetzungen vor allem von polnischen und deutschen Politikern außerhalb der Region angeheizt und von paramilitärischen Einheiten unterstützt wurden, die nur teilweise aus Oberschlesiern bestanden.⁷⁰ In dem Polen zugesprochenen Teilungsgebiet entstand die Woiwodschaft Schlesien, deren Hauptstadt Katowice wurde. Die Woiwodschaft Schlesien war die kleinste unter den 16 Gebietseinheiten des polnischen Staates. Sie zählte aber aufgrund ihrer Bevölkerungsdichte und ihres industriellen Charakters, die sie deutlich vom Rest der vornehmlich agrarischen und ländlich geprägten Landes-
Vgl. Ther, Nationale Eindeutigkeit (), S. . Bis zum Jahr machten circa Personen auf beiden Seite der Grenze von diesem Recht Gebrauch. Vgl. Kai Struve: Einleitung: Geschichte und Gedächtnis in Oberschlesien. Die polnischen Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg, in: ders. (Hg.): Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Studien zu einem nationalen Konflikt und seiner Erinnerung. Marburg , S. – , hier S. . Vgl. Ther, Nationale Eindeutigkeit (), S. .
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teile unterschieden⁷¹, zu den Prestigeprojekten des jungen Staates. Am 20. Juni 1922 zog durch einen aus Steinkohle errichteten Triumphbogen das polnische Militär in die Stadt ein. Dieser symbolische Akt bedeutete den Auftakt zur Übernahme der Verwaltung durch polnische Staatsbeamte. Trotz gegenseitiger Loyalitätsbekundungen des neuen polnischen Oberbürgermeisters Dr. Alfons Górnik und des Stadtverordnetenvorstehers Dr. Max Reichel verließ etwa die Hälfte der Kattowitzer Deutschen, circa 20 000 Personen, infolge der veränderten politischen Situation die Stadt. Polnische Optanten aus den bei Deutschland verbliebenen schlesischen Gebieten zogen in den Ostteil Oberschlesiens, circa 16 000 Personen siedelten sich allein im Jahr 1923 in Katowice an.⁷² Im Verlaufe der Zwischenkriegszeit veränderte sich die Bevölkerungsstruktur der Stadt grundlegend. Die vormalige deutsche Mehrheitsgesellschaft verwandelte sich in eine Minderheit, die während der Zwischenkriegszeit kontinuierlich schrumpfte – im Jahr 1931 gaben nur noch 13 % der Stadtbevölkerung Deutsch als ihre Muttersprache an –, sie siedelte aber weiterhin kompakt in den Innenstadtquartieren, und viele Deutsche besetzten noch Anfang der 1930er Jahre entscheidende Führungspositionen in der Industrie.⁷³ Der Stadt in jeglicher Hinsicht ein polnisches Gesicht zu verleihen war daher nicht nur pragmatisches Ziel der neuen Verwaltung. Vielmehr stand der Nachweis der Legitimität der Völkerbundsentscheidung, mithin das Bedürfnis, die Zuteilung des Gebietes an Polen im Nachhinein durch die Betonung seiner Polonität zu rechtfertigen, im Mittelpunkt der polnischen politischen Agenda. Die Polonisierungsbestrebungen betrafen sowohl die Verwaltungs- und Wirtschaftsebene⁷⁴ als auch den Kulturbereich⁷⁵ und die Stadt-
Vgl. Maria W. Wanatowicz: Historia społeczno-polityczna Górnego Śląska i Śląska Cieszyńskiego w latach – [Gesellschaftspolitische Geschichte Oberschlesiens und des Teschener Schlesien]. Katowice , S. . Grundlage dafür war die in den Genfer Konventionen festgelegte Optantenregelung. Vgl. Zygmunt Woźniczka: Katowice – Stalinogród – Katowice. Z dziejów miasta – [Katowice – Stalinogród – Katowice. Aus der Geschichte der Stadt – ]. Katowice , S. . Ebd., S. . Woźniczka erläutert weiter, dass auch das deutsche Vereinsleben in der Stadt fortbestand und im Jahr noch deutsche Zeitungen erschienen. Eine schnelle wirtschaftliche Integration Oberschlesiens in das polnische Wirtschaftssystem sollte etwa durch Aktiengesellschaften wie Skarboferm erreicht werden, die das oberschlesische Wirtschaftskapital an polnische Unternehmer banden. Ausführlich zu den einzelnen Faktoren Vgl. Maria W. Wanatowicz: Rola Katowic jako stolicy województwa w procesie integracji Śląska z macierzą ( – ) [Katowices Rolle als Woiwodschaftshauptstadt im Prozess der Integration Schlesiens mit dem Mutterland ( – )], in: Stanislaw Michalkiewicz (Hg.): Miasto w ciągu wieków.Wybrane problemy [Die Stadt im Laufe der Jahrhunderte. Ausgewählte Aspekte]. Katowice , S. – . Durch ein breit angelegtes Kulturförderungsprogramm sollte Katowice zu einem bedeutenden Zentrum der polnischen Kultur im westlichen Grenzgebiet ausgebaut werden. Neben dem Ausbau
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planung. Für das neue administrative Zentrum der Woiwodschaft wurde ein umfangreiches städtebauliches Aus- und Umbauprogramm erarbeitet. Der wichtigste Investor dieses groß angelegten Entwicklungsprogrammes war das Woiwodschaftsamt. Entscheidungsfreiheit in der Planung und Finanzierung der städtebaulichen Entwicklung hatte das Woiwodschaftsamt aufgrund einer weitreichenden Autonomie der Schlesischen Woiwodschaft, die eine Ausnahme im Staatsgefüge Polens darstellte.⁷⁶ Die Woiwodschaft verfügte mit dem Schlesischen Sejm über ein eigenes Parlament, das als Instrument der Selbstverwaltung mit weitreichenden Kompetenzen auf der Gesetzgebungsebene und einer eigenen Finanzverwaltung ausgestattet war. Das Funktionieren des öffentlichen Lebens in der Woiwodschaft wurde somit weitgehend durch die Selbstverwaltung bestimmt.⁷⁷ Entsprechend dem führenden wirtschaftlichen Rang und der ideologischen Bedeutung für den neu errichteten polnischen Staat wurde für Katowice ein architektonisch und städtebaulich einheitliches, vor allem aber modernes Konzept zur Umgestaltung als Woiwodschaftshauptstadt erarbeitet. Bevor die Moderne das Gesicht der Stadt prägen konnte, galt eine größtmögliche Distanz zum bestehenden Architekturensemble als Leitlinie für die architektonische Umgestaltung. Angestrebt wurde ein Bruch mit dem historisierenden und klassizistischen Stil der
von Schulen und Bibliotheken war auch das Theater eine Institution, die zur Verbreitung der polnischen Sprache sowie nationaler Werte und Kultur beitragen sollte. Das Kattowitzer Stadttheater wurde in Teatr Polski (Polnisches Theater) umbenannt und sollte der grundsätzlichen Verwurzelung und Fortentwicklung der polnischen Kultur in Oberschlesien dienen.Vgl. Agnieszka Rzeszutko: Towarzystwo Przyjaciół Teatru Polskiego w Katowicach ( – ) [Die Gesellschaft der Freunde des polnischen Theaters in Katowice ( – )]. Magisterarbeit Katowice ; Mirosław Fazan: Życie kulturalne i artystyczne [Das kulturelle und künstlerische Leben], in: Franciszek Serafin: Województwo śląskie ( – ). Zarys monograficzny, [Die Woiwodschaft Schlesien ( – ). Ein monografischer Abriss]. Katowice , S. – . Beschlossen wurde der Autonomiestatus der Woiwodschaft im Gründungsstatut der Woiwodschaft Schlesien (Statut Organiczny Województwa Śląskiego) durch die Verfassunggebende Nationalversammlung (Sejm Ustawodawczy) am . Juli . Der Sejm in Katowice entschied eigenständig über Investitionen in der Region, musste aber die Kosten aus Steuereinnahmen und Abgaben der Einwohner decken. Über eine Rückkopplung an die Beschlüsse des gesamtstaatlichen Parlaments in Warschau war der Sejm in Katowice zur Annahme der dort verabschiedeten Gesetzte verpflichtet. Gebunden war das Schlesische Parlament außerdem an die gesamtpolnischen Richtlinien in der Außen- und Zollpolitik. Sämtliche woiwodschaftsinternen Belange wie die Sozialpolitik, das Schul- und Gerichtswesen, das Gesundheitssystem, die Polizei sowie die Verwaltung oblagen dem Woiwodschaftsparlament, das mit seinen Abgeordneten als Vertretung aller Einwohner galt. Gleichwohl wurde ein Teil der in Oberschlesien eingenommenen Steuern nach Warschau für gesamtstaatliche Ausgaben abgeführt. Vgl. Janota, Katowice między wojnami [Katowice zwischen den Kriegen] (), S. .
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deutschen Stadt sowie den im Stadtbild stark präsenten roten Backsteinbauten, die als Backstein-Neogotik bezeichnet und nach 1922 mit dem Nationalstil des eroberungssüchtigen Nachbarn gleichgesetzt wurden. Die polnische Kultur und der polnische Nationalstil, die von nun an Katowice prägen sollten, wurden in ausdrücklicher Opposition zur als deutsch angesehenen Neogotik definiert.⁷⁸ Vor Modernismus und Funktionalismus war es der Klassizismus, der in vielfach modifizierter Form als polnischer Baustil angesehen wurde.⁷⁹ Die neue Formensprache sollte nicht in das bereits bestehende städtebauliche Ensemble integriert werden. Vielmehr sollte ein neues bauliches Gefüge entgegengestellt, ein neuer, polnisch geprägter symbolischer Raum in der Stadt geschaffen werden.⁸⁰ Der Bauboom, der die Stadt nachhaltig prägte, setzte allerdings erst gegen Ende der 1920er Jahre ein, da die Investitions- und Bautätigkeit anfangs aufgrund der finanziellen Belastungen des Stadthaushaltes durch die Teilung der Region stark eingeschränkt war. Bis 1926 entstanden in Katowice kaum neue Objekte, Improvisationslösungen hielten die öffentliche Infrastruktur aufrecht. Auch die aufgrund des Rohstoffabbaus schwierigen Bodenverhältnisse im Stadtgebiet brachten Einschränkungen für die Umsetzung weitreichender Umbaupläne mit sich. Das kleine Stadtgebiet war seit der Stadtgründung fast vollständig bebaut worden, nur in den südlichen Gebieten des Zentrums standen noch freie Bauflächen zur Verfügung.⁸¹ Dort wurden vor allem repräsentative Monumentalbauten errichtet, die die Rolle der Stadt als Woiwodschaftshauptstadt und als vitales Zentrum des öffentlichen Lebens, von Kultur und aufstrebender Wirtschaft der Region wider-
Vgl. Störtkuhl, Von „deutscher Bauart“ (), S. . Vgl. Barbara Szczypka-Gwiazda: Architektura i urbanistyka autonomicznego województwa śląskiego w obrębie II Rzeczypospolitej – [Architektur und Stadtplanung der autonomen Woiwodschaft Schlesien in der Zweiten Polnischen Republik – ], in: Ewa Chojecka (Hg.): Sztuka Górnego Śląska od średniowiecza do końca XX wieku [Die Kunst Oberschlesiens vom Mittelalter bis zum Ende de . Jahrhunderts]. Katowice , S. – , hier S. . In Polen galt, ähnlich wie in Deutschland, der Klassizismus des ausgehenden . Jahrhunderts als letzte große künstlerische Epoche. Nach der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit war der Klassizismus ein Anknüpfungspunkt an die Zeit vor den Teilungen des Landes. Diese nationale Konnotation des Klassizismus als Bestandteil der Architekturtradition Polens eignete sich in Katowice besonders gut, um die Kontinuität einer Polonität Oberschlesiens zu repräsentieren. Vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] (), S. . Zur Ausweitung des Stadtgebietes wurde im Jahr Katowice Wielkie/Groß-Kattowitz gegründet, die umliegenden Gemeinden wurden eingemeindet. Das Stadtgebiet wuchs damit um das fünffache, % der neuen Stadtfläche gehörte jedoch Bergwerken oder Konzernen. Die Weiterentwicklung der Stadt konzentrierte sich deshalb nach wie vor auf das relativ kleine Gebiet des Stadtzentrums. Vgl. Szczypka-Gwiazda, Architektura i urbanistyka [Architektur und Stadtplanung] (), S. .
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spiegeln sollten. Hauptsächlich entstanden Gebäude, die den neu entstandenen polnischen Institutionen und Verwaltungseinrichtungen Platz boten.⁸² Das größte und monumentalste Bauprojekt im klassizistischen Stil war das in den Jahren 1924 bis 1929 errichtete Gebäude des Woiwodschaftsamtes und des Schlesischen Sejms.⁸³ Der eindrucksvolle Bau bildete mit seiner Größe und Monumentalität den Ausgangspunkt für die Entstehung eines neuen Zentrums, das die geschlossene Stadtstruktur durch einen vierflügligen, an eine Festung erinnernden Bau⁸⁴ aufbrechen und den Raum um das Gebäude für die Entstehung eines neuen zentralen Platzes, eines städtischen Forums, öffnen sollte. In diese erste, am Klassizismus orientierte Bauphase der Zwischenkriegszeit fällt auch der ähnlich umfangreiche Bau der Christkönigskathedrale.⁸⁵ Mit dem Bau der Kathedrale wurden ähnliche Ziele verfolgt wie mit dem Woiwodschaftsgebäude, besonders unterstrichen wurde die Bedeutung der Kirche als Symbol für die polnische Kultur und den polnischen Staat.
Vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] (), S. . Ausführlich zur Entstehungs- und (Um)nutzungsgeschichte sowie zum ikonografischen Programm des Gebäudes siehe Anna Syska/Agnieszka Woźniakowska: Architektura narodowa w formie i treści. Gmach Urzędu Wojewódzkiego i Sejmu Śląskiego w Katowicach [Nationale Architektur in Form und Inhalt. Das Gebäudes des Woiwodschaftsamtes und des Schlesischen Sejm in Katowice], URL http://www.scdk.pl/new/index.php?option=com_content&view=article&id= :architektura-narodowa-w-formie-i-treci-gmach-urzdu-wojewodzkiego-i-sejmu-lskiego-w-ka towicach&catid=:architektura-i-urbanistyka&Itemid= (Zugriff . . ). Der militärische Akzent wurde durch die sehr regelmäßige Fassade mit ihren großen Säulen unterstrichen, die sich an allen Seiten des Gebäudes stark ähnelt. Ein Fries am oberen Rand des Baus beinhaltet außerdem ein symbolisches Programm, dass die Funktion des Gebäudes als Sitz der polnischen Machthaber in der Woiwodschaft Schlesien und ihre Souveränität unterstrich. Ein Wechselspiel aus römisch-antiken Symbolen und eindeutig polnisch-national konnotierten Zeichen wie Adlern, dem Staatswappen und den Initialen der Rzeczpospolita Polska (RP) versinnbildlichte die Suche nach nationalen Ausdrucksweisen an diesem Prestigeobjekt. Auf die Schwierigkeiten, geeignete Vorbilder für die Planung polnischer öffentlicher Gebäude zu finden, vor denen die Krakauer Architekten Kazimierz Wyczyński, Stefan Żeleński und Piotr Jurkiewicz standen, macht Irma Kozina aufmerksam. Aufgrund der Teilung Polens war die Tradition des Bauens monumentaler öffentlicher Gebäude nicht weiterentwickelt worden, und es fehlten nationale Vorbilder für ein Gebäude dieses Ausmaßes. Vgl. Kozina, Chaos i uporządkowanie [Chaos und Ordnung] (), S. . In der Woiwodschaft Schlesien deckte sich die Staatsgrenze nicht mit den Verwaltungsgrenzen der Kirche. Bis zum Jahr gehörte Ostoberschlesien noch der Diözese Breslau an, obwohl eine Bischofsdelegation für Oberschlesien eingesetzt wurde, die den Oberschlesier August Hlond als Bischof bestimmte. wurde die selbstständige Diözese Katowice gegründet, die administrativ zur Krakauer Metropolie gehörte.Vgl. Wanatowicz, Historia społeczno-polityczna [Gesellschaftspolitische Geschichte] (), S. .
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Abb. 1: Das Gebäude des Schlesischen Sejms wurde in den Jahren 1924 bis 1929 im klassizistischen Stil errichtet. Quelle: Wikimedia Commons, Autor: Jan Mehlich URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/ commons/a/ac/Katowice_-_Gmach_Sejmu_%C5 %9Al%C4 %85skiego_01.jpg?uselang=de
Waren die ersten städtebaulichen Großprojekte im polnischen Katowice noch von einer traditionellen Formsprache geprägt, begann um das Jahr 1928 eine Wende hin zu modernen Architekturformen. Gemessen an der gesamtpolnischen Architekturentwicklung wurden in der Woiwodschaft Schlesien bereits früh avantgardistische architektonische Formen verwendet, Modernismus bzw. Funktionalismus wurden als Symbole des polnischen Fortschrittes in der Stadt angesehen.⁸⁶ Die Hinwendung zu Modernismus und Funktionalismus in der Architektur war demnach keine rein ästhetische Entscheidung. Sie wurde mitgetragen von den Hauptinvestoren der Bauprojekte, vor allem den Woiwodschaftsbehörden, die in den neuen architektonischen Formen ein Sinnbild von wirtschaftlicher Dynamik, von Aufschwung und Unternehmergeist ihrer Region sahen. Architektonische und gesellschaftliche Vorbilder dafür kamen aus den USA. Wolkenkratzer und ein fortschrittliches Gesellschaftsmodell standen für technische Höchstleistungen und gesellschaftliche Zukunftsvisionen.⁸⁷ Auch die Wirtschaft war für die funktionalistische Bauweise aufgeschlossen, denn die Stahlskelette generierten in der krisenanfälligen Zeit Aufträge für die Stahlindu-
Vgl. Szczypka-Gwiazda, Architektura i urbanistyka [Architektur und Stadtplanung] (), S. . Auch in Gdynia/Gdingen und in Warschau wurde in der Zwischenkriegszeit umfangreich im Stil der Moderne gebaut. Vgl. Beate Störtkuhl: Gdynia – Meeresmetropole der Zweiten Polnischen Republik, in: Arnold Bartetzky/Marina Dmitrieva/Stefan Troebst, unter Mitarbeit von Thomas Fichtner: Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit . Köln , S. – . Vgl. Barbara Szczypka-Gwizada: Polish and German concepts in architecture and townplanning in Upper Silesia between World War I and World War II, in: Katarzyna Murawska-Muthesius (Hg.): Borders in Art: Revisiting „Kunstgeographie“. Warsaw , S. – .
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strie. Die fortschrittsfreundliche Einstellung seitens Verwaltung und Wirtschaft fielen gegen Ende der 1920er Jahre mit dem Willen der jungen oberschlesischen Architekten zusammen, sich von traditionellen Mustern in der Architektur zu lösen. 1925 entstand eine eigenständige Abteilung des Polnischen Architektenverbandes in Schlesien (Związek Architektów na Śląsku), dem Tadeusz Michejda vorstand, die sich von den bisher dominierenden Einflüssen der Krakauer Schule abwandte und eine Herausforderung in der Suche nach Ausdrucksformen für eine eigene Identität des polnischen Teils Oberschlesiens sah. Das Bedürfnis, in der Architektur nationale Akzente zu setzen, wurde gegen Ende der 1920er Jahre vom Bewusstsein abgelöst, der oberschlesischen Sonderrolle im polnischen Staatsgefüge eine Form zu geben, die nicht traditionalistisch und rückwärtsgerichtet, sondern zukunftszugewandt war. Das Zusammenwirken dieser Faktoren brachte eine Konstellation hervor, die in Katowice zu einem funktionalistischen Bauboom führte, der die Gestalt des gesamten Stadtteils südlich des Zentrums aus dem 19. Jahrhundert prägte. Doch nicht nur innerhalb des polnischen Staates sollten die funktionalistischen Bauten einer besonderen oberschlesischen Identität Ausdruck verleihen, auch über die nahe Landesgrenze hinaus wurde ihnen Symbolwirkung zugeschrieben. Während in Katowice Hochhausbauten mit Stahlskeletten entstanden, ersannen Städteplaner auf der deutschen Seite der Grenze Großprojekte wie die Dreistädteeinheit Gleiwitz-Beuthen-Hindenburg⁸⁸ um ihrerseits Überlegenheit und Fortschritt zum Ausdruck zu bringen. Auf beiden Seiten der Grenze wurden die Städte symbolisch in Stellung gebracht.⁸⁹
Das vorgestellte Projekt sah eine völlige Neuordnung der drei Städte vor, die durch die Neuziehung der Grenze ihren bisherigen Verwaltungssitz Kattowitz verloren hatten, sich nun in unmittelbarer Grenzlage befanden und aufgrund der Optantenregelung der Genfer Konventionen den Zuzug einer großen Anzahl von Menschen zu bewältigen hatte. Der Verkehr sollte neu organisiert und parallel ablaufende Prozesse in den drei Städten durch eine einheitliche Verwaltung gebündelt werden. In Hindenburg, das bis dahin von den drei Städten über die geringsten urbanen Strukturen verfügte, da es erst Stadtrechte erhielt, sollte ein neues repräsentatives Stadtzentrum entstehen. Umgesetzt wurde das ehrgeizige Vorhaben jedoch nur teilweise. Vor allem in Hindenburg ist ein moderner Stadtkern entstanden, während Beuthen und Gleiwitz von dem Plan weitgehend unberührt blieben. Vgl. C. Schabik/A. Stütz/Paul Wolf: Dreistädteeinheit. Beuthen, Gleiwitz, Hindenburg. Berlin u a. . Eine sehr konzise Zusammenfassung des symbolischen Wettrüstens in der Architektur auf beiden Seiten der neu entstandenen Grenze liefert Beate Störtkuhl: Architecture in the Tension-Zone of National Assertiveness – the Examples of Poznań and Upper Silesia in the First Decades of the th Century, in: ARTMARGINS, Online-Ausgabe, . August , URL http://www.artmargins.com/in dex.php/-articles/-architecture-in-the-tension-zone-of-national-assertiveness-the-examples-ofpoznan-and-upper-silesia-in-the-first-decades-of-the-th-century (Zugriff . . ). Störtkuhl verweist auch auf das Paradox, dass an der neuen deutsch-polnischen Grenze der „Internationale Stil“ der Architekturmoderne auf polnischer wie auf deutscher Seite jeweils als Ausdruck nationaler Ideen
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Fast alle funktionalistischen Gebäude, die zwischen Ende der 1920er und in den 1930er Jahren errichtet wurden, sind bis heute erhalten geblieben. Viele Gebäude haben die Zeit ohne Renovierungen im Originalzustand überdauert. Allein die Anzahl der Gebäude, vor allem aber ihre gedrängte Lage im südlichen Stadtzentrum machen sie aus heutiger Perspektive zu einem zentralen Erzählstrang des Stadtraumes von Katowice. Zu den bekanntesten Bauten zählt der sogenannte Wolkenkratzer von Tadeusz Kozłowski und Stefan Bryła, erbaut 1931/ 32, der zu jener Zeit eines der höchsten Gebäude im Europa der Zwischenkriegszeit und bis zur Errichtung des Warschauer Prudential-Hochhauses im Jahr 1934 das höchste Gebäude Polens war.⁹⁰ Eine Vielzahl an Wohnhäusern und Villen – Architekt Michejda selbst baute sich eines der aufsehenerregendsten – aber auch Verwaltungsgebäude wie der Magistrat, die Schlesische Hochschule für Technik oder auch das Rundfunkgebäude in Katowice entstanden in dieser Zeit.⁹¹ Zu den herausragendsten Beispielen zählen das Wohnhaus für die Angestellten der Eisenbahndirektion von Tadeusz Michejda, das als eines der wenigen Gebäude nicht im neu bebauten Süden, sondern im Stadtzentrum aus dem 19. Jahrhundert inmitten von Mietshäusern mit seinen sieben Stockwerken emporragte. Selbst in der Sakralarchitektur, die in anderen Regionen Polens eine Bastion des Traditionalismus blieb, wurden in Katowice die Grundsätze des modernen Bauens umgesetzt. In den Jahren 1930 bis 1933 entstand die Garnisonskirche als erster fertiggestellter Kirchenneubau im polnischen Katowice. Ausgesprochene Schlichtheit bestimmt das Gebäude: Das Kirchenschiff entspricht einem Quader, dessen einzige Schmuckelemente in die Seitenwände eingearbeitete Säulen bilden. Unweit der Garnisonskirche, am Forum, wurde das monumental-klassizistische Woiwodschaftsamt von funktionalistischen Gebäuden umstellt. Auf der gegenüberliegenden Seite entstand ein schlicht und streng wirkendes Behördengebäude (Gmach Urzędów Niezespolonych), das als langgestrecktes Rechteck mit seinen glatten Fassaden ein Gegenstück zum symbolisch aufgeladenen Ge-
sowie ökonomischer und kultureller Überlegenheit instrumentalisiert werden konnte. Die neue Grenze brachte somit eine eigentümliche Mischung hervor, einerseits getragen von dem Wunsch, den unliebsamen neuen Nachbarn zu übertrumpfen, als auch von der Vorstellung, eine positive Wahrnehmung im eigenen Land zu fördern. Zur Geschichte des Gebäudes vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] (), S. f. Interessant ist, dass der Architekt Stefan Bryła sowohl an der Entstehung des Wolkenkratzers von Katowice als auch am Warschauer Prudential-Gebäude mitgewirkt hat. Während das Warschauer Hochhaus im Zweiten Weltkrieg stark zerstört und nach Kriegsende wieder aufgebaut wurde, blieb der Wolkenkratzer von Katowice unbeschädigt. Eine Übersicht über die wichtigsten Gebäude hat Zofia Oslislo zusammengestellt. Vgl. Zofia Oslislo: Katowicka Moderna – [Moderne in Katowice – ]. Katowice , S. f.
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bäude des Woiwodschaftsamtes bildete. Mit dem Neubau des Schlesischen Museums befand sich eines der prestigeträchtigsten Projekte des Funktionalismus auch am Forum und schloss den neuen symbolischen Raum in Katowice ab. Zum zehnjährigen Jubiläum der Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen sollte das Schlesische Museum mit seiner Ausstellung über das historische Anrecht Polens auf die Region Auskunft geben. Nicht nur die Museumssammlung, auch seine Architektur sollte ein Symbol für die Souveränität des polnischen Staates sein. Das Museum war ein Novum sowohl für die Stadt, die über keine Museumstradition verfügte, als auch auf Landesebene. Während bei den Neubauten der beiden Nationalmuseen in Krakau und Warschau in den 1930er Jahren weiterhin eine traditionalistische, auf die Vergangenheit bezogene Architektur vorherrschte und die Museen als „Paläste oder heilige Stätten der Kunst“⁹² verstanden wurden, setzte man in Oberschlesien auf funktionalistische Lösungen in der Architektur und ein emanzipatorisches Bildungsprogramm. Direktor Tadeusz Dobrowolski schuf ein Mehrspartenmuseum, das mit seinem enzyklopädischen Panorama Wissen über die Welt und den Menschen vermittelte, in das die Geschichte Oberschlesiens eingebettet wurde.⁹³ Der Gebäudekomplex, von dem im Woiwodschaftsamt angestellten Ingenieur Karol Schayer geplant, hatte aus der Vogelperspektive betrachtet die Form des Buchstaben H. Das Gebäude stand senkrecht zur südlichen Fassade des Woiwodschaftsamtes und verfügte über zwei Flügelgebäude. Der Mittelteil des Museums wurde von Säulen getragen, verlief über die Dąbrowskiego-Straße und ging in zwei viergeschossige Flügel über. Die optische Unterteilung des Gebäudes in drei Teile entsprach deren jeweiliger Funktion: Im mit großen Fensterfronten versehenen Hauptkorpus befanden sich die Ausstellungsräume, in den Nordflügeln die Wohn- und Arbeitsräume der Mitarbeiter sowie eine Bibliothek. Der Südteil, der die Hauptfassade des Museums bildete, beinhaltete repräsentative Räume. Die Stahlkonstruktion im Dach ermöglichte die Anlage einer weitläufigen Ausstellungsfläche, die nicht durch tragende Elemente im Raum gestört wurde.
Vgl. Dorota Głazek: Budynek Muzeum Śląskiego w Katowicach w dwudziestolecia międzywojennym [Das Gebäude des Schlesischen Museums in Katowice in der Zwischenkriegszeit], in: Ewa Chojecka (Hg.) Z dziejów sztuki Górnego Śląska i Zagłębia Dąbrowskiego [Aus der Kunstgeschichte Oberschlesiens und des Zagłębie Dąbrowskie]. Katowice , S. – , S. . Vgl. Szczypka-Gwiazda, Architektura i urbanistyka [Architektur und Stadtplanung] (), S. . Im deutschen Beuthen entstand mit dem Oberschlesischen Landesmuseum (eröffnet ) eine Institution mit ähnlicher Zielsetzung. Beide Museen waren als Regional- oder Landesmuseen konzipiert und umfassten in ihren Sammlungen die Vorgeschichte bis hin zur Gegenwart, um die Präsenz von Deutschen bzw. Polen in Oberschlesien wissenschaftlich zu fundieren und einem breiten Publikum in Form von Ausstellungen zugänglich zu machen.
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Abb. 2: Der sogenannte Katowicer Wolkenkratzer wurde für das Finanzamt in den Jahren 1931/1932 errichtet und zählte damals zu den höchsten Gebäuden Europas. Autor: Vojtĕch Veškrna
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Abb. 3: Modernes Bauen in Katowice in der Zwischenkriegszeit: Wohngebäude an der ulica Kopernika 13 Autor: Vojtěch Veškrna
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Abb. 4: Modernes Bauen in Katowice in der Zwischenkriegszeit: Detailaufnahme eines Wohngebäudes an der ulica Podchorążych 3 Autor: Vojtěch Veškrna
Nicht nur das riesenhafte Ausmaß des Museums verlieh ihm einen denkmalartigrepräsentativen Charakter, es überragte die umliegende Bebauung weit und strahlte durch seine strengen, geometrischen Formen Autorität aus.⁹⁴ Der Muse-
Dass der Entwurf Schayers ein durchschlagender Erfolg war, lässt sich nicht nur am Echo der Fachpresse ermessen, die voller Lob für die Funktionalität und Repräsentativität des Gebäudes war, sondern auch darin, dass bei der Errichtung des Pommerschen Landesmuseums in Toruń/
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umsbau war in seiner monumentalen Größe und Höhe als optisches Äquivalent zur massiven, jedoch aufgelockerten Silhouette des Woiwodschaftsgebäudes entworfen worden. Das Zusammenspiel der Gebäude war symbolischer Art: Neben der Verwaltungszentrale entstand mit dem Schlesischen Museum eine Einrichtung, die die historische und kulturelle Legitimation der Präsenz Polens in Oberschlesien sowohl im Ausstellungsprogramm als auch in der Außengestaltung des Gebäudes gewährleisten sollte.⁹⁵ Das Museum wurde offiziell Kraft eines Beschlusses des Schlesischen Sejms vom 23. Januar 1929 errichtet. Kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1939 war es bezugsfertig. Eröffnet werden konnte das Museum jedoch nicht mehr; 1941 wurde das Gebäude von den deutschen Besatzern aufgrund seiner Symbolhaftigkeit bis auf die Grundmauern abgetragen und als Baumaterial verwendet.⁹⁶ Die deutsche Wehrmacht hatte die Stadt im September 1939 eingenommen, Katowice wurde samt seinem Landkreis direkt dem deutschen Reichsgebiet angeschlossen, und die Stadt zum Sitz des Regierungsbezirkes sowie der Provinz Oberschlesien erklärt. Die Besatzungspolitik war darauf ausgerichtet, die Polonisierungsbestrebungen der Jahre nach der Abtretung Ostoberschlesiens an Polen rückgängig zu machen. Bauten und Symbole, die als besonders polnisch galten, wurden zerstört, darunter das Schlesische Museum, das Denkmal des Komponisten Stanisław Moniuszko sowie Denkmäler zu Ehren der Schlesischen Aufstände sowie die Synagoge.⁹⁷ Das Forum, funktionalistisch geprägtes Kernstück der polnischen Vision und dezidierter Gegenentwurf zum deutschen Stadtzentrum aus dem 19. Jahrhundert,
Thorn trotz der völlig anderen architektonischen Gestaltung Elemente des Schlesischen Museums kopiert wurden.Vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] (), S. . Zusätzlich unterstützt werden sollte die symbolische Aussage des Gebäudes durch ein Denkmal des ersten polnischen Königs Bolesław Chrobrys, das vor dem Museum errichtet werden sollte. An den Fassaden sollten Reliefs von Bergarbeitern und Frauen in oberschlesischen Regionaltrachten angebracht werden. Diese geplanten Elemente konnten jedoch nicht mehr fertiggestellt werden. Ebd., S. – . Die Interpretation, dass das Gebäude aufgrund seiner Symbolhaftigkeit zerstört wurde, findet sich in der Mehrheit der polnischen Publikationen, auch die deutsche Kunsthistorikerin Beate Störtkuhl argumentiert in diese Richtung. Der Historiker Tobias Weger weist hingegen darauf hin, dass auch die jüdische Religionszugehörigkeit des Architekten Schayer der Grund für die nationalsozialistische Aggression gegen das Gebäude gewesen sein könnte, das als „entartete Kunst“ eingestuft wurde. Schlüssig ist dieses These deshalb, weil die restlichen funktionalistischen polnischen Bauten in Katowice von der NS-Propaganda als vorbildlich gepriesen wurden. Vgl. Tobias Weger: Glück auf, Kattowitz. „Amerikanisch pionierhaft“ – Jahre Stadtrecht einer außergewöhnlichen Stadt in Oberschlesien, in: Silesia Nova () S. – , hier S. . Das Gebäude des Schlesischen Sejm etwa blieb erhalten, weil der Gauleiter des neu gebildeten „Gau Oberschlesien“ dort seinen Sitz hatte.
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ist heute noch in weiten Teilen erhalten, wenngleich es seine ursprüngliche Form verloren hat. Die Architektur des Woiwodschaftsamtes blieb über die Jahre weitgehend unverändert, der funktionalistische Bau auf der gegenüberliegenden Seite wurde seiner neuen Funktion als Universitätsgebäude angepasst und innerlich wie äußerlich stark verändert. Wo bis 1941 das Schlesische Museum gestanden hat, befindet sich heute das in den Jahren 1950 – 1954 im sozialistischen Realismus erbaute Haus der Gewerkschaften, das gegenwärtig als Marschallamt genutzt wird. Der eigentliche Platz des Forums zwischen den beiden Gebäuden dient aktuell als Parkplatz für die öffentlichen Einrichtungen sowie das Kulturzentrum, das an der nördlichen Seite entstanden ist. Trotzdem ist das Forum aufgrund der Dichte von Bildungs- und Verwaltungseinrichtungen auch heute noch einer der wichtigsten und meistfrequentierten Orte in Katowice.
Die sozialistische Musterstadt Mit der Westverschiebung Polens 1945 verlor Katowice seine exponierte Lage an der deutsch-polnischen Grenze und befand sich nun im polnischen Landesinneren. Trotzdem blieb die Stadt ein Prestigeprojekt – unter veränderten staatlichen Vorzeichen nunmehr für das neue sozialistische Polen. Im Vergleich zur Zwischenkriegszeit definierte sich Prestige fortan weniger über Kultur⁹⁸ als über Produktivität. Katowice und die Region sollten zum größten Wirtschaftszentrum des sozialistischen Polen sowie zur Beamten- und Verwaltungsstadt, zum industriellen Herzen des Landes und zur Musterstadt der polnischen Arbeiter ausgebaut werden.⁹⁹ Mit dem Fokus auf Produktion und Industrie wurde Katowice im Laufe der Nachkriegszeit in erster Linie zur Arbeiterstadt, in der das Warenangebot breiter war als in anderen Regionen Polens, was die privilegierte Stellung im Landesvergleich unterstrich.¹⁰⁰ Grundlage für das Gelingen der sozialistischen Neuplanungen war eine Homogenisierung der städtischen Bevölkerungsstruktur, an deren Ende eine polnische Bevölkerungsmehrheit stehen sollte. Die deutschen Kattowitzer mussten die Stadt verlassen, was ein Großteil nach der Kriegsniederlage entweder unter dem Druck der veränderten Verhältnisse „freiwillig“ oder unter Zwang durch
So wurde in der Zwischenkriegszeit beispielsweise dem Theater eine wesentliche Rolle bei der Verbreitung der polnischen Hochkultur in Oberschlesien zugeschrieben. Vgl. Woźniczka, Katowice – Stalinogród (), S. f. Vgl. dazu ausführlich das Kapitel . Dynamiken einer Transformation nach .
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die polnischen Sicherheitskräfte tat.¹⁰¹ Es wird von einer Gesamtzahl von etwa 150 000 vertriebenen Personen für das Jahr 1945 in Oberschlesien ausgegangen.¹⁰² Viele Deutsche wurden vor und während der Aussiedlungen in Lagern inhaftiert und teilweise zur Zwangsarbeit genötigt.¹⁰³ Dabei war in der gemischt besiedelten Region nur schwer eine eindeutige nationale Trennlinie zwischen den Bevölkerungsanteilen zu ziehen: Wer war Deutscher und wer einheimischer Oberschlesier, der dank seiner deutschen Wurzeln deutsch sprach, darüber hinaus aber auch
Woźniczka gibt an, dass sich im Juli und August Personen in Katowice für eine freiwillige Ausreise nach Deutschland registriert hatten. Ausgesiedelt wurden den Angaben Woźniczkas zufolge aus der Stadt . Personen. Zygmunt Woźniczka: Katowice po roku – od tygla ludnościowego do jednorodności narodowej [Katowice nach – vom ethnischen Schmelztiegel zur nationalen Einheit], in: Katowice w . rocznicę uzyskania praw miejskich [Katowice zum . Jubiläum der Verleihung des Stadtrechtes]. Katowice , S. – , hier S. . Diese Angabe stammt aus Ingo Eser: Die Deutschen in Oberschlesien, in: Włodzimierz Borodziej/Hans Lemberg (Hg.): „Unsere Heimat ist uns ein fremdes Land geworden …“ Die Deutschen östlich von Oder und Neiße – . Dokumente aus polnischen Archiven. Band : Zentralpolen,Wojewodschaft Schlesien (Oberschlesien). Marburg , S. – , hier S. . Es finden sich allerdings abweichende Zahlenangaben. So gibt Bernard Linek an, dass bereits vor den Potsdamer Beschlüssen zur Aussiedlung der Deutschen etwa Personen aus der gesamten Region Oberschlesien vertrieben wurden. Weitere circa Personen mussten das Gebiet infolge der Potsdamer Entscheidung verlassen.Vgl. Bernard Linek: Deutsche und polnische nationale Politik in Oberschlesien – , in Kai Struve/Phillip Ther (Hg.): Die Grenzen der Nationen. Identitätenwandel in Oberschlesien in der Neuzeit. Marburg , S. – , hier S.. Dass die Zahlen der vertriebenen Deutschen nach wie vor nicht genau zu bestimmen sind, machen Abweichungen in den neusten Publikation zur Geschichte Oberschlesiens deutlich. Hier wird von Personen gesprochen, die Oberschlesien verlassen mussten. Nicht eingerechnet sind in diese Angaben Personen, die in die Sowjetunion deportiert wurden. Vgl. Adam Dziurok/Bernard Linek: W Polsce Ludowej ( – ) [In der Volksrepublik Polen ( – )], in: Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki/Ryszard Kaczmarek (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu [Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur einer europäischen Region]. Gliwice , S. – , hier S. . Die polnischen Behörden übernahmen für diese Inhaftierungsaktionen Gefängnisse und Lager vom sowjetischen NKWD. Dieser hatte zuvor eine Reihe nationalsozialistischer Lager und Gefängnisse zu Durchgangslagern umfunktioniert, um Oberschlesier zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion zu verschleppen. Diesem Zweck diente unter anderem auch das nationalsozialistische Vernichtungslager Auschwitz. Aus heutiger Perspektive lässt sich nicht mehr genau ermitteln, wie viele Gefängnisse und Lager es im Frühjahr und Sommer in Oberschlesien gegeben hat. Nach Ingo Eser hatten die Lager drei grundlegende Funktionen: Aussiedlungslager (zur Unterbringung von Deutschen bis zu ihrer Abschiebung), Arbeitslager (Reservoir für dringend benötigte Arbeitskräfte) und Straflager (zur Sühnung der Unterstützung des nationalsozialistischen Regimes und der Beteiligung an deutschen Kriegsverbrechen). Vgl. Eser, Die Deutschen in Oberschlesien (), S. .
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polnisch und den regionalen schlesischen Dialekt? Wer musste gehen, wer sollte bleiben? Nach Willen der polnischen Regierung sollten die einheimischen Oberschlesier in der Region bleiben. Der schlesische Woiwode Aleksander Zawadzki stellte die Entscheidungsfindung unter das Motto: „Wir wollen keinen einzigen Deutschen und wir geben keine einzige polnische Seele her.“¹⁰⁴ Als Entscheidungshilfe, wer nach 1945 in Oberschlesien als Deutscher galt und nicht bleiben sollte, nutzten die polnischen Behörden ein von den Nationalsozialisten 1941 zur Kategorisierung der mehrsprachigen und ethnisch gemischten Bevölkerung Ostoberschlesiens eingeführtes Dokument, das als „Deutsche Volksliste“¹⁰⁵ bezeichnet wurde. Ziel der Einführung der Volksliste war es, die rassische Gemengelage der vom Dritten Reich annektierten oder besetzten Gebiete zu entwirren und „die Teile des ‚arisch-deutschen‘ Blutes wieder für das ‚Deutschtum‘ [zu gewinnen], die durch die ‚Vermischung mit polnischem Blut‘ ‚verloren‘ gegangen waren“.¹⁰⁶ Dieser Liste lag das nationalsozialistische Prinzip eines gestaffelten Deutschtums zugrunde. In einer polizeilichen Volkszählung waren die Einwohner in vier Kategorien in die Liste aufgenommen und mit unterschiedlichen Rechten ausgestattet worden. In die erste Kategorie wurden Personen aufgenommen, die bereits vor dem Krieg „ihr Deutschtum aktiv unter Beweis gestellt“ hatten (92 000), in die zweite sogenannte „passive Deutsche“ (207000), die dritte Kategorie beschrieb sogenannte „polonisierte Personen deutscher Herkunft“ (940 000), und in die vierte Kategorie wurden „nationale Renegaten“ und „aktive Polen“ (49 000) eingetragen.¹⁰⁷ In die erste und zweite Kategorie der „Volksliste“ wurden demnach alteingesessene „Volksdeutsche“ eingetragen, also Deutsche, die bereits vor der Besatzung in diesen Gebieten gelebt hatten. Die dritte Kategorie war für Personen
Zitat Ebd., S. . Die „Deutsche Volksliste“ wurde von Heinrich Himmler (als Reichskommissar für die Festigung deutschen Volkstums) im Jahr eingeführt; am . März wurde sie rechtsverbindlich. Die „Volksliste“ diente dazu, in den an das Reich angeschlossenen bzw. eingegliederten Ostgebieten die „Deutschstämmigen“ und die „wertvollen Fremdstämmigen“ ausfindig zu machen und sie von den „Wertlosen“ zu trennen, um sie als „einbürgerungsfähig“ zu kennzeichnen. Vgl. Haubold-Stolle, Mythos Oberschlesien (), S. . Jerzy Kochanowski weist ferner darauf hin, dass die „Volksliste“ auch in Zentralpolen und im Generalgouvernement zur Anwendung kam, hier aber kein Zwang zur Eintragung bestand wie etwa in Oberschlesien oder in Pommerellen. Vgl. Jerzy Kochanowski: Verräter oder Mitbürger? Staat und Gesellschaft in Polen zum Problem der Volksdeutschen vor und nach , in: ders./Maike Sachs (Hg.): Die „Volksdeutschen“ in Polen, Frankreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Mythos und Realität. Osnabrück , S. – . Vgl. Haubold-Stolle, Mythos Oberschlesien (), S. . Vgl. Linek, Deutsche und polnische nationale Politik (), S.. Die Zahlen beziehen sich nicht auf Katowice, sondern auf die gesamte Region Ostoberschlesien.
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vorgesehen, die die Nationalsozialisten für „eindeutschungsfähig“ hielten, also etwa die national nicht festgelegten Oberschlesier.¹⁰⁸ Polen hingegen wurden in die vierte Kategorie eingestuft, die „nur bis zur für später geplanten Aussiedlung als Bevölkerung minderen Rechts toleriert“¹⁰⁹ wurden. Nach 1945 machten sich die polnischen Behörden diese nationalsozialistische Nationalitätenselektion zunutze. Das führte dazu, dass alle Personen, die auf der Liste – unabhängig von der ihnen zugeschriebenen Kategorie – verzeichnet waren, als verdächtig und dem neuen polnischen Staat gegenüber als illoyal eingestuft wurden. Man ging davon aus, dass sich ein Großteil der Personen aus Hoffnung auf eine Verbesserung der sozialen Lage 1941 freiwillig in die Liste hatte eintragen lassen. Deshalb mussten selbst diejenigen, die in Gruppe drei und vier als „polonisierte Personen“ oder „aktive Polen“ eingetragen waren, ein Rehabilitationsverfahren durchlaufen, indem sie einen Treueeid auf den polnischen Staat und die polnische Nation ablegten.¹¹⁰ Erst im Anschluss erhielten sie eine, zuerst nur für sechs Monate gültige, Bescheinigung über ihre polnische Staatsbürgerschaft. Am kompliziertesten war das Verfahren zur Rehabilitierung der Personen in Gruppe zwei.¹¹¹ Sie erhielten die Staatsbürgerschaft erst nach langwierigen Antrags- und Gerichtsverfahren. Die Bearbeitung der Anträge verlief schleppend, bis Ende 1945 konnten gerade 3 600 Anträge bearbeitet werden.¹¹² Die Rehabilitation und die Rückgewinnung der Bürgerrechte hätte sich so über Jahrzehnte hinziehen können. Die Betroffenen waren in dieser Zeit häufig in Lagern interniert.¹¹³ Ehemalige Mitglieder der ersten Gruppe der Volksliste hatten in der Regel keine Chance, die polnische Staatsbürgerschaft zurückzugewinnen. Sie wurden als
In anderen an das Dritte Reich angeschlossenen oder eingegliederten Gebieten waren in der Kategorie drei etwa Kaschuben gelistet.Vgl. Martin Broszat/Norbert Frei (Hg.): Das Dritte Reich im Überblick. Chronik – Ereignisse – Zusammenhänge. München , S. . Ebd. Vgl. Dziurok/Linek, W Polsce Ludowej [In der Volksrepublik Polen] (), S. . Kochanowski stellt etwas generalisierend fest, dass in Oberschlesien „nach einer Loyalitätserklärung eine nahezu automatische Rehabilitierung durch die staatliche Verwaltung (Landrat)“ für die Volksdeutschen der dritten und vierten Gruppe vorgesehen war, sowie „eine Rehabilitierung der Volksdeutschen der . Gruppe durch Zivilgerichte.“ Vgl. Kochanowski, Verräter oder Mitbürger? (), S. . Woźniczka gibt an, dass in Katowice Personen in der zweiten Gruppe der „Volksliste“ geführt worden waren, in der gesamten Woiwodschaft waren es Personen.Vgl. Woźniczka, Katowice po roku [Katowice nach ], (), S. . Eingereicht wurden im Ostteil der neu gebildeten Woiwodschaft Schlesien bis Ende etwa Anträge. Von den rund bearbeiteten wurden positiv entschieden und negativ. Vgl. Eser, Die Deutschen in Oberschlesien (), S. . Vgl. Dziurok/Linek, W Polsce Ludowej [In der Volksrepublik Polen] (), S. .
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sogenannte „Volksdeutsche“ als feindliches Element angesehen und aus der Region vertrieben. Das Ziel der Behörden war eine komplette „Entdeutschung“¹¹⁴ Oberschlesiens, demnach eine „Beseitigung aller Spuren, die die deutsche Sprache und Kultur in Oberschlesien hinterlassen hatte“.¹¹⁵ Zuerst verschwanden großflächig die materiellen Spuren der fremden Okkupation. Es wurden deutsche Aufschriften auf Bahnhöfen, Häusern, Geschäften, Straßenschildern, aber auch Grabinschriften entfernt oder übermalt. Nach der Etablierung der kommunistischen Herrschaft ging man in den Jahren 1947 bis 1948 kleinteiliger vor, und auch Alltagsgegenstände wie Bierdeckel, deutsch bestickte Handtücher oder Waagen mit deutschen Aufschriften in Geschäften wurden entfernt.¹¹⁶ Nachdem bis Dezember 1950 der Großteil der Deutschen vertrieben und diejenigen, die in der Stadt geblieben waren, als Polen „verifiziert“ worden waren, gab es in Katowice kaum noch deutsche Spuren.¹¹⁷ Von den Bewohnern wurde erwartet, dass sie ihre deutsch klingenden Nachnamen polonisierten und Kurse besuchten, um die polnische Sprache in Gänze zu erlernen. Der Gebrauch der deutschen Sprache war öffentlich und privat verboten, und die Behörden gaben Listen heraus, die Vornamen für Kinder verzeichneten, die von nun an zu vergeben waren.¹¹⁸ Nach der forcierten Aussiedlung der Deutschen wurden in mehreren Wellen Personen aus den polnischen Ostgebieten, speziell aus der Region Galizien, die an die Sowjetunion gefallen waren, angesiedelt. Nach Katowice kamen allein 1946 circa 25 500 polnische Bürger, die ihre Heimat im Osten verlassen mussten.¹¹⁹ Infolge der umfassenden erzwungenen Migrationsprozesse der direkten Nachkriegsjahre verlor Katowice an ethnischer Vielfalt, es formierten und verfestigten sich aber neue gesellschaftliche Trennlinien zwischen den einheimischen Oberschlesiern und den neu Zugezogenen. Die meisten einheimischen Oberschlesier identifizierten sich auch unmittelbar nach dem Krieg noch in erster Linie mit ihrer Region. Für die Zugewanderten und die polnische Regierung war das Bekenntnis zu einer oberschlesischen Identität jedoch Anlass zu Misstrauen. Die regionale ober-
Der polnische Historiker Bernard Linek spricht von „kultureller ‚Repolonisierung‘“ und „Entdeutschung“ in der direkten Nachkriegszeit ab . Vgl. Linek, Deutsche und polnische nationale Politik (), S. . Vgl. Eser, Die Deutschen in Oberschlesien (), S. . Vgl. Dziurok/Linek, W Polsce Ludowej [In der Volksrepublik Polen] (), S. . Vgl. Woźniczka, Katowice po roku [Katowice nach ], (), S. . Vgl. Linek, Deutsche und polnische nationale Politik (), S. ; Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. . Woźniczka zitiert die Zahlen anhand der Akten des Staatlichen Repatriierungsamtes. Vgl. Woźniczka, Katowice po roku [Katowice nach ], (), S. .
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schlesische Kultur sowie der oberschlesische Dialekt wurde von den polnischen Machthabern unterdrückt. Das Verhältnis zwischen Einheimischen und Polen war entsprechend von Vorurteilen und Missverständnissen geprägt. Die Zuzügler verstanden die komplexe Gemengelage in Oberschlesien nicht und sahen in den einheimischen, dialektsprechenden Oberschlesiern keine Landsleute, sondern eher verdeckte Deutsche. „Sie befürchteten, dass Oberschlesien gesagt, aber Deutschland gemeint und gefühlt wird.“¹²⁰ Die Einheimischen fühlten sich von den neuen Machthabern degradiert, kulturell abgewertet und wollten sich nicht „kultivieren“ lassen. Sowohl die Einheimischen als auch die Zuzügler stellten ihre kulturellen Eigenheiten in den Vordergrund, beide Gruppen grenzten sich voneinander ab. Am effektivsten funktionierte die Abgrenzung der Oberschlesier gegenüber den Polen durch Fundamentalopposition zum vorherrschenden Status quo, indem sie sich selbst als Deutsche bezeichneten, was schließlich mit der Fremdbeschreibung durch die Polen übereinstimmte. „Die Fremdwahrnehmung als Deutsche und die Konfrontation mit ‚den Polen‘ führte innerhalb weniger Jahre dazu, dass sich auch solche Einheimische als Deutsche fühlten, die sich zuvor nicht oder nur begrenzt so verstanden hatten.“¹²¹ Die Situation war paradox: Einerseits reagierten die Behörden auf merkliche prodeutsche Einstellungen mit Repressalien und versuchten so, diese zu unterbinden. Gleichzeitig führte die unter der Regierung Władysław Gomułkas (1905 – 1982) in den Jahren 1956 bis 1970 gestattete Möglichkeit der Spätaussiedlung nach Deutschland¹²² zu einer verstärkten Annäherung der einheimischen Oberschlesier an die deutsche Identität. Denn um eine Ausreiseerlaubnis zu erhalten, mussten bestimmte Anzeichen eines „Deutschtums“ erfüllt werden.¹²³ Die massenhaften Auswanderungen verfestigten die Bindungen der Einheimischen nach Deutschland, da die Ausgewanderten Kontakt zu ihren Familien und Bekannten in Polen hielten. In den Jahren zwischen 1956 und 1959 machten über 100 000 Einheimische aus den Woiwodschaften Opole und Katowice von der Möglichkeit Gebrauch, in die Bundesrepublik auszureisen. Nach Auffassung der polnischen Regierungsbehörden war das „deutsche Problem“ in Oberschlesien jedoch bereits Ende des Jahres 1946 gelöst¹²⁴, und man
Vgl. Ther, Nationale Eindeutigkeit (), S. . Ebd. Noch im Jahr gaben rund Oberschlesier an, deutscher Nationalität zu sein. Für diesen Personenkreis wurde in den er Jahren die Möglichkeit geschaffen, legal in die DDR auszureisen. Für Westdeutschland wurden ähnliche Vereinbarungen im Jahr getroffen. Vgl. Eser, Die Deutschen in Oberschlesien (), S. . Vgl. Linek, Deutsche und polnische nationale Politik (), S. . Ebd., S. .
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konzentrierte sich auf den Aufbau einer einheitlichen polnischen Nation aus den zugewanderten Gruppen. Nicht nur die Bevölkerungsstruktur, auch das Antlitz der im Krieg kaum zerstörten Stadt sollte vereinheitlicht werden. Unter sozialistischer Ägide entstand der eingangs erwähnte dritte städtebauliche und architektonische Komplex, der die Gestalt der Stadt auch in der Gegenwart noch auf eigentümliche Weise prägt. In der Nachkriegszeit wurde Katowice zum Experimentierfeld für Ingenieurskunst und zum Labor für avantgardistische architektonische Vorhaben. Einige der bedeutendsten Bauten der Nachkriegsmoderne sind in Katowice entstanden. Die ersten Stadtumbaupläne für ein neues Stadtzentrum stammen aus den Jahren 1946 bis 1947, konnten zu dieser Zeit aber aus finanziellen Gründen nicht umgesetzt werden.¹²⁵ Vereinzelt entstanden Gebäude im Stil des sozialistischen Realismus, darunter der Palast der Jugend (1951) und das Haus der Gewerkschaften. Erst im Jahr 1953 gab die Regierung umfassende Richtlinien für die Entwicklung des Oberschlesischen Industriegebietes (Górnośląski Okręg Przemysłowy, GOP) heraus, auf dessen Grundlage 1954 ein Raumentwicklungsplan für Katowice ausgearbeitet wurde. Das Zentrum der sozialistischen Stadt sollte entsprechend seiner neuen Größe und Rolle ausgebaut und um den erheblich erweiterten Ring herum angelegt werden. Auch dem Namen nach sollte Katowice einen Neuanfang erleben, um die Stadt in den neuen politischen Realitäten Polens zu verankern. Im Todesjahr Stalins, 1953, wurde die Stadt zu Ehren des Verstorbenen in Stalinogród (Stalinstadt) umbenannt, diesen Namen behielt sie bis zum Jahr 1956. Mit Ausnahme des frühmodernistischen monumentalen Theatergebäudes von Carl Moritz aus dem Jahr 1907 sollten alle restlichen Gebäude als Erbe der kapitalistischen Epoche modernen Verwaltungs- Handels- und Kultureinrichtungen weichen. Nach Einzug der Roten Armee kam es am Ring zu Zerstörungen einiger Gebäude durch Brände. Diese beschädigten Gebäude wurden anschließend abgerissen und durch neue Bauten ersetzt. Mit der Straße der Roten Armee (ul. Armii Czweronej), heute Korfanty-Allee (al. Korfantego), wurde vom Ring ausgehend Richtung Süden eine breite Paradestraße zu Repräsentationszwecken, aber auch zur Lösung der Verkehrsprobleme in der Innenstadt angelegt. Während die städtebauliche Konzeption der Innenstadt aus den 1940er und 1950er Jahren stammt und deutliche Züge des sozialistischen Realismus trägt, gehören die entlang dieser Anlage errichteten Gebäude wie die Warenhäuser Zenit und Skarbek und das Haus der Presse am Ring sowie der riesenhafte Wohnblock, die sogenannte Superjednostka (Supereinheit), zu den herausragenden Beispielen
Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. . Die Mittel wurden für den Aufbau der stärker zerstörten polnischen Nord- und Westgebiete eingesetzt.
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Abb. 5: Der größte Wohnblock Polens steht in Katowice und wird aufgrund seiner Größe auch Superjednostka (Supereinheit) genannt. Erbaut zwischen 1961 und 1970 bietet das Gebäude Wohnraum für über 3000 Menschen. Die Ansicht stammt aus dem Jahr 2007 vor der Renovierung des Gebäudes. Im Vordergrund des Bildes ist das Denkmal für die Schlesischen Aufständischen zu sehen. Quelle: Wikimedia Commons, Autor: WhiskeySix URL: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/e/e0/Katowice_Spodek-_Nowa_ele wacja.jpg?uselang=de
Abb. 6: Unweit der Superjednostka befindet sich die bekannte Katowicer Mehrzweckhalle, die aufgrund ihrer avantgardistisch geschwungenen, halbrunden Dachkonstruktion Spodek (Untertasse) genannt wird. Sie wurde 1971 errichtet. Quelle: Wikimedia Commons, Autor: Pawel from Poland URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Spodek_in_Katowice.jpg?uselang=de
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einer späten Moderne.¹²⁶ Die entlang der Straße der Roten Armee in den Jahren 1961 bis 1970 erbaute Superjednostka war mit Wohnungen für circa 3 000 Personen zu dieser Zeit der größte Wohnblock Polens.¹²⁷ Das Ende der Aufmarschstraße markierte seit Mitte der 1960er Jahre ein Kreisverkehr mit der ersten Fußgängerunterführung Polens, der den Ring als Verkehrsknotenpunkt entlasten sollte. 1971 wurde das Ensemble durch die große Veranstaltungshalle Spodek (Untertasse) ergänzt.¹²⁸ Neben der Umgestaltung des südlichen Stadtzentrums zählen der Bahnhof ¹²⁹, entstanden in den Jahren 1965 bis 1972 sowie die Wohnsiedlungen zu den entscheidenden Bauvorhaben der Nachkriegsjahre, die Katowice zur modernen sozialistischen Großstadt umgestalteten. Die Stadt sollte für bis zu 200 000 Einwohner ausgebaut und Wohngebiete außerhalb des Stadtzentrums in den südlichen Stadtgebieten durch Grünanlagen von den Industrieanlagen abgetrennt werden.Während der 1970er Jahre entstanden in Plattenbauweise die PaderewskiSiedlung sowie die Siedlungen in Bogutschütz im Nordwesten und Nordosten der Stadt. Der Bau der größten Siedlung Tausendjähriges Bestehen des polnischen Staates (Osiedle Tysiąclecia Państwa Polskiego) für rund 45 000 Personen begann 1961 und zog sich bis in die 1980er Jahre hin. Als letztes wurden in der Mitte der Siedlungen die charakteristischen, in ihrer Gestalt an Maiskolben erinnernden Wohnhochhäuser fertiggestellt, die mit 87 bzw. 56 Metern noch immer zu den höchsten Wohnhäusern Polens gehören. Ebenfalls in den 1980er Jahren wurden die aufgrund ihrer achteckigen Gestalt als Sternenhäuser bezeichneten Hochhäuser am nordwestlichen Rand der Innenstadt für circa 4500 Personen fertiggestellt. Die Bauaktivtäten der Nachkriegszeit konzentrierten sich auf die Innenstadt rund um den Ring und die nördlich anschließenden Gebiete. Vgl. Aneta Borowik: Pamięc miejsca. Nierealizowane projekty Tadeusza Łobosa na przebudowanie rynku w Katowicach [Das Gedächtnis des Ortes. Die nicht realisierten Projekte von Tadeusz Łobos zum Umbau des Marktes in Katowice], in: Antoni Barciak (Hg.): Katowice w . rocznicę uzyskania praw miejskich [Katowice zum . Jubiläum der Verleihung des Stadtrechtes]. Katowice , S. – , hier S. . Angelehnt war das Projekt des Architekten Mieczysław Król an Le Corbusiers Unité d’Habitation.Vgl. Irma Kozina: Obok tyskiego eksperimentu [Neben dem Experiment in Tychy], in: Ewa Chojecka (Hg.): Sztuka Górnego Śląska od średniowiecza do końca XX wieku [Die Kunst Oberschlesiens vom Mittelalter bis zum Ende des . Jahrhunderts]. Katowice , S. – , hier S. . Die Multifunktionshalle verfügte mit einem Hockeystadion, einer Gymnastikhalle und einer Haupthalle, die für politische oder kulturelle Veranstaltungen genutzt werden konnte, insgesamt über Plätze. Im Komplex befanden sich außerdem ein Hotel, ein Restaurant, ein Café, eine Schwimmhalle mit Saunen sowie sportärztliche Praxen. Vgl. ebd., S. . wurde das Gebäude trotz der Bürgerproteste abgerissen und durch einen neuen Bahnhof mit angeschlossenem Einkaufszentrum ersetzt. Der neue Bahnhof erinnert zwar in seiner Gestalt an den alten, ist jedoch ein kompletter Neubau.
5.1 Erzählstränge im Stadtraum. Einführung in eine kurze Stadtgeschichte
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Lesen im städtischen Raum – Zusammenfassung Katowice ist seit der Verleihung der Stadtrechte in der Mitte des 19. Jahrhunderts im Entstehen, Wachsen und Werden begriffen. Die eingangs formulierte Hypothese geht davon aus, dass jeder dieser Entwicklungszeiträume seit 1865 sich gleichrangig in das Stadtbild eingeschrieben hat. Der städtische Raum erzählt demnach nicht die Geschichte untergegangener Epochen großen Glanzes und Ruhmes, in dessen Schatten versucht wird, in der Gegenwart an diese vergangene Zeit anzuknüpfen. Es ist vielmehr eine beständige Fortschrittsgeschichte, die sich seit Bestehen der Stadt in immer neuen Formen für Wachstum und Wandel auf der immer gleichen Grundlage von Bodenschätzen und Industrie ausgedrückt hat. Es sind, so könnte man meinen, Variationen des gleichen Themas von Modernisierung und Industrialisierung, die der städtische Raum von Katowice bereithält. Lesen kann man all das, weil die Stadt – gemessen an den Zerstörungen, die andere Industriestädte während zweier Weltkriege erfahren haben – über ein weitgehend erhaltenes städtebauliches Ensemble verfügt, das sich kontinuierlich weiterentwickeln konnte. Auffällig ist dabei, dass es nicht zu einer großflächigen Überlagerung oder einem Ineinandergreifen von architektonischen Formen unterschiedlicher Stile kam. Die für Großstädte häufig zu beobachtenden, palimpsestartigen Überschreibungen des städtischen Raumes sind in Katowice nur am zentralen Platz der Stadt sowie der zu sozialistischen Zeiten angelegten Paradeund Aufmarschstraße Straße der Roten Armee, der heutigen Korfanty-Allee, anzutreffen. Dem Ausbau des Ringes und der Straße der Roten Armee sowie dem Baugebiet im nordwestlichen Zentrum sind bei der architektonischen Umgestaltung nach 1945 großflächig historische Bauten aus dem 19. Jahrhundert zum Opfer gefallen und durch spätmoderne Neubauten ersetzt worden.¹³⁰ Mit der Überbauung des zentralen Platzes wurde die Wirkung des aus deutscher Zeit stammenden Innenstadtensembles aufgebrochen, ein Ringen um die Deutungshoheit über das symbolische Stadtzentrum ist erkennbar. Während in der Zwischenkriegszeit das Stadtzentrum mit dem Forum in die neu entstandenen südlichen Stadtviertel verlagert wurde, fand der zentrale Platz als Herzstück der Stadt mit dem höchsten Symbolwert nach 1945 wieder die Aufmerksamkeit der Stadtplaner. Heute ist der Marktplatz eine der bedeutenden Baustellen der Stadtentwicklung, deren Gestaltung den Weg der Stadt in die Zukunft weisen soll.
Woźniczka verweist darauf, dass auf dem Gebiet für die Umsetzung der sozialistischen Stadtumbaupläne nördlich des Ringes vor allem Lager- und Industriegebäude von geringem architektonischen Wert gestanden haben. Vgl. Woźniczka, Katowice – Stalinogród (), S. .
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Trotz der weitgehend erhaltenen Bausubstanz wurden in der Geschichte der Stadt unweigerlich immer wieder Gebäude zerstört, abgerissen, umgebaut oder ersetzt. Beispiele dafür sind etwa das ursprüngliche Gebäude des Schlesischen Museums oder die Große Synagoge, die von den Nationalsozialisten zerstört worden sind. Nach dem Zweiten Weltkrieg zerstörten die kommunistischen Machthaber im Rahmen der „Entdeutschung“ die Villa eines der Gründungsväter der Stadt, Grundmann, und ließen den evangelischen Friedhof einebnen, auf dem ein weiterer Stadtgründer, Holtze, sowie Grundmann begraben waren. Die Zerstörung oder Überbauung ganzer Stadtgebiete, die für einen bestimmten Abschnitt der Stadtgeschichte stehen, blieb jedoch aus. Die eingangs formulierte Hypothese eines eigenwilligen baulich-architektonischen Nebeneinanders der historischen Epochen der Stadtentwicklung, angefangen bei der deutschen Stadtgründung, über die polnische Woiwodschaftshauptstadt aus der Zwischenkriegszeit bis zur sozialistischen Nachkriegsperiode in Katowice, hat demnach Bestand. Die räumliche Koexistenz der städtebaulichen Ensembles aus deutscher und polnischer Zeit kann jedoch auch zu fehlgeleiteten Interpretationen führen. Das Nebeneinander im Stadtbild sollte nicht über den deutsch-polnischen Antagonismus, die Auseinandersetzung um die Zugehörigkeit des Gebietes und seiner Bewohner zur jeweils eigenen Nation hinwegtäuschen, die die Entwicklung der Stadt im 19. und 20. Jahrhundert maßgeblich geprägt hat. Der eingangs angestrebte Abgleich zwischen den wichtigsten Entwicklungen der Stadtgeschichte und der Analyse von Repräsentationen im städtischen Raum zeigt ferner, dass im Stadtraum eine überproportionale Sichtbarkeit deutscher und polnischer Zeitschichten zu beobachten ist. Beide haben sich so prägnant und dominant in den Stadtraum eingeschrieben, dass andere Ereignisse und Entwicklungslinien der Stadtgeschichte keine Repräsentationen gefunden haben. So kommt es letztlich auch in Katowice zu einer ganz eigenen Art der Überlagerung und Überschreibung: Die sichtbaren, dominanten deutsch-polnischen Erzählstränge überlagern beispielsweise die Vorgeschichte der Stadt als Dorf, vor allem aber die Geschichte der jüdischen und der einheimischen oberschlesischen Bevölkerungsgruppe. Die drei prägnanten Erzählstränge über die deutsche Zeit und die beiden polnischen Epochen der Stadtgeschichte legen demnach für den gegenwärtigen Betrachter nur einen Teil der Stadtgeschichte offen, deren Komplexität jedoch weit über das deutsch-polnische Ringen um ihre nationale Zugehörigkeit hinausgeht. So verdrängt der deutsch-polnische Antagonismus mit der Dominanz seiner Repräsentationen die Anteile an der Entwicklung der Stadt, die die lokale Spezifik Katowices und der Bewohner widerspiegeln würden. Anstelle dieser komplexen Verhältnisse geben Architektur und Städtebau die nationalen Ansprüche Deutscher und Polen auf dieses Gebiet wieder – die Entstehung eines „nationalisierten“ Stadtraumes ohne regionale und
5.2 Symbolische Repräsentationen im städtischen Raum
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lokale Nuancen war die Folge. Dieser Befund wird im weiteren Verlauf der Argumentation eine wichtige Rolle spielen.
5.2 Symbolische Repräsentationen im städtischen Raum Die Gewichtung der Erzählstränge zur deutschen bzw. polnischen Geschichte vor und nach dem Zweiten Weltkrieg verändert sich, bezieht man die symbolischen Repräsentationen im Stadtraum mit in die Betrachtung ein. Während sich aus dem Stadtgrundriss und der Architektur der deutsche Teil der Stadtgeschichte als Erzählstrang eindeutig herauslesen lässt, fehlt er auf der Ebene der symbolischen Repräsentationen hingegen fast vollständig. So ergibt sich eine auffällige Diskrepanz zwischen dem komplett erhaltenen architektonischen Innenstadtensemble aus deutscher Zeit und der fast vollständigen Abstinenz deutscher Aufschriften auf diesen Häusern, die auf dort ansässige Läden oder Einrichtungen verwiesen haben müssen. Das Fehlen lesbarer oder erklärender Zeichen im Stadtraum, die an das deutsche Kulturerbe erinnern würden, macht es schwer, die Architektur aus deutscher Zeit als solche zu erkennen. Denn Architektur ist ohne Kontextkenntnis nicht verständlich bzw. kann nur von Experten gedeutet und zugeordnet werden.
Die Denkmallandschaft von Katowice Während die Architektur in Katowice relativ unbeschadet bis in die Gegenwart hinein überdauert hat, zeitigt die mit Nachdruck betriebene „Entdeutschung“ des öffentlichen Raumes nach 1945 aufgrund des vollständigen Entfernens deutscher Spuren auch heute ihre langfristigen Folgen. Das Beispiel der Gebäudeaufschriften eröffnet den Blick auf das weite Feld symbolischer Formen im städtischen Raum, zu dem unter anderem Denkmäler, Erinnerungstafeln, Straßen- und Ortsbezeichnungen gehören. Im Gegensatz zu Architektur und Städtebau sind sie als Bedeutungsträger austauschbarer und unterliegen folglich in höherem Maße Fluktuationen infolge politischer Wechsel. Das Beispiel der Denkmallandschaft von Katowice verdeutlicht dies eindrücklich. In der überwiegenden Zahl sind die gegenwärtig anzutreffenden Denkmäler in der Stadt in der Zeit nach 1945 entstanden. Sie prägen bis in die Gegenwart den städtischen Raum mit ihren Aussagen und Botschaften maßgeblich. Teilweise sind die Denkmäler als Detail städtebaulicher Anlagen projektiert worden. Beispielsweise bildete das Denkmal der Schlesischen Aufständischen (Pomnik Powstanców Śląskich) das Schlussstück des Umbaus des nördlichen Stadtzentrums am Rondo und der Mehrzweckhalle Spodek. Die drei über
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60 Tonnen schweren Bronzeelemente in Gestalt von in die Luft ragenden Flügeln wurden 1967 auf einem künstlich angelegten Hügel errichtet. Sie erinnern an die
Abb. 7: Das Denkmal für die Schlesischen Aufständischen befindet sich unweit des Spodek und erinnert an die drei Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg. Quelle: Wikimedia Commons, Autor: Wasielgallery URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Katowice_Pomnik_Powsta%C5 %84c%C3 % B3w_%C5 %9Al%C4 %85skich_2010.JPG?uselang=de
Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg, die als zentrales nationalpolnisches Ereignis in der oberschlesischen Geschichte sowie als Wegbereiter für die Abtretung des Ostteils Oberschlesiens an Polen gelten. Das Denkmal liegt an einer der Hauptverkehrsstraßen und ist durch seine Größe auch im Vorbeifahren gut erkennbar, für Passanten aufgrund der erhöhten Lage jedoch kaum zugänglich.¹³¹
Vgl. Barbara Szczypka-Gwiazda: Malarstwo, Grafika, Rzeźba [Malerei, Grafik, Plastik], in: Ewa Chojecka (Hg.): Sztuka Górnego Śląska od średniowiecza do końca XX wieku [Die Kunst Oberschlesiens vom Mittelalter bis zum Ende des . Jahrhunderts]. Katowice , S. – , hier S. f. Ein ähnliches Flügelmotiv in Form von Adlerflügeln, aus der eine Gruppe Soldaten heraustritt, prägt auch das Denkmal des Polnischen Soldaten (Pomnik Żołnierza Polskiego) in der Paderewski Siedlung aus dem Jahr . Das dynamische Denkmal wirkt inmitten der Wohnblöcke der Siedlung wie ein Gegenpol. Es ist dem heldenhaften Kampf der polnischen Soldaten im
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Unweit des Ringes, inmitten des nach dem Zweiten Weltkrieg urbanistisch und architektonisch neu geordneten Gebietes, wurde während des Kriegszustandes im Jahr 1983 ein Denkmal für die Pfadfinder und Pfadfinderinnen errichtet, das in realistischer und plastischer Formensprache eine Gruppe junger Menschen vor einer durchbrochenen Mauer zeigt. Sie erinnern an den Widerstand der Pfadfin-
Abb. 8: Denkmal zur Erinnerung an den Widerstand der Pfadfinderinnen und Pfadfinder zu Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939 im Zentrum von Katowice. Autor: Juliane Tomann
derinnen und Pfadfinder zu Beginn des Zweiten Weltkrieges im September 1939. Ein weiteres Denkmal, das mit dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung steht, befindet sich auf dem Freiheitsplatz (plac Wolności), einem der Plätze im Zentrum von Katowice, der häufig umcodiert wurde.¹³² Seit 1948 symbolisiert dort das
Zweiten Weltkrieg gewidmet. Das Denkmal befindet sich nicht im unmittelbaren Stadtzentrum und wird daher hier nur am Rande erwähnt. Zum Zeitpunkt der Stadtgründung im . Jahrhundert war der damalige Wilhelmsplatz einer der beiden zentralen Plätze der Stadt, auf dem seit Ende des . Jahrhunderts das Zwei-KaiserDenkmal für Wilhelm I und seinen Sohn Friedrich III stand. Während der Auseinandersetzungen um die Zugehörigkeit der Stadt zu Deutschland oder Polen nach dem Ersten Weltkrieg wurde das
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Abb. 9: Das 1948 errichtete Denkmal der Dankbarkeit gegenüber der Roten Armee (Pomnik wdzięczności żołnierzom Armii Czerwonej) zeigt einen sowjetischen und einen polnischen Soldaten und symbolisiert die sowjetisch-polnische Waffenbrüderschaft im Zweiten Weltkrieg. Am 14. Mai 2014 wurde das Denkmal von seinem Standort entfernt. Quelle: Wikimedia Commons, Autor: Jan Mehlich URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Katowice_-_Pomnik_%C5 %BCo%C5 %82nierzy_ radzieckich_02.JPG?uselang=de
Denkmal der Dankbarkeit gegenüber der Roten Armee (Pomnik wdzięczności żołnierzom Armii Czerwonej) in Gestalt eines sowjetischen und eines polnischen Soldaten die sowjetisch-polnische Waffenbrüderschaft und erinnert an die Befreiung der Stadt durch die Rote Armee.¹³³ Während der sozialistischen Zeit wurde
Denkmal von Unbekannten zerstört, entstand an seiner Stelle das Grab des Unbekannten Schlesischen Aufständischen. Das Denkmal der Waffenbrüderschaft hat bisher am längsten auf dem Platz gestanden, obwohl es bereits eine Vielzahl von Ideen gab, wie der Platz umgestaltet werden könnte. Siehe dazu etwa den Artikel von Grażyna Kuźnik/Tomasz Borówka: Co zrobić z pomnikiem wdzięczności Armii Czerwonej w Katowicach? [Was soll mit dem Denkmal der Dankbarkeit gegenüber der Roten Armee in Katowice geschehen?], Dziennik Zachodni, . . , URL http://www.wia domosci.pl/artykul/co_zrobic_z_pomnikiem_wdziecznosci_armii_czerwonej_w_.html (Zugriff . . ). Im Juli berichteten verschiedene Medien darüber, dass der Stadtrat beschlossen hat, PLN zur Verfügung zu stellen, um das Denkmal aus der Stadtmitte auf einen russischen Militärfriedhof zu translozieren. Vgl. Justyna Przybytek: Pomnik Armii Radzieckiej w Katowicach ma zniknąć. Ambasada Rosji zgody nie dała [Das Denkmal der Sowjetischen Armee in Katowice soll verschwinden. Die russische Botschaft hat ihre Zustimmung
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außerdem das Denkmal für den polnischen Komponisten Stanislaw Moniuszko im Jahr 1959 am Karol-Miarka-Platz (plac Karola Miarki) wieder aufgestellt. Es war ursprünglich im Jahr 1930 errichtet worden, wurde aber während der deutschen Besatzung zerstört. Das Adlermotiv des Denkmals für die Schlesischen Aufständischen wiederholt sich in einem Denkmal aus dem Jahr 1984, das zwei Adler auf einem Obelisken zeigt, die sich zum Flug bereit machen. Es steht am Standort des ehemaligen Schlesischen Museums am Forum aus der Zwischenkriegszeit. Im Vergleich zu den anderen, während der Zeit der Volksrepublik errichteten Denkmälern, ist es verhältnismäßig klein und kann seine Wirkung auf dem großen Platz und vor dem Hintergrund der eindrucksvollen Gebäude, die das Forum rahmen, nicht entfalten. Denkmäler vereinigen in sich stets verschiedene Zeitebenen, mithin sind sie Ausdruck der Zeit, in der sie entstanden, erinnern jedoch an ein Ereignis in der Vergangenheit, dem sie eine Form geben, die in der jeweiligen Gegenwart des Betrachters wirkt. Eine Analyse der Vergangenheitsebene, auf die sich die während der Volksrepublik errichteten Denkmäler beziehen, ergibt zwei dominierende Motive: die Schlesischen Aufstände als nationalpolnische Erhebung, die die Grundlage für die moderne polnische Staatlichkeit in Oberschlesien gelegt haben, sowie den Zweiten Weltkrieg, in dem das polnische Katowice gegen die deutschen Angreifer verteidigt bzw. mit Hilfe der Roten Armee von ihnen befreit wurde. Dieser Befund lässt sich auch am Denkmal für das Schlesische Museum ablesen, das thematisch eigentlich mit den Schlesischen Aufständen oder dem Zweiten Weltkrieg in Verbindung steht. Das Denkmal schreibt das Museum jedoch in die Aufstands- und Kriegsgeschichte ein: Statt an das architektonisch und technisch so herausragende Gebäude sowie die inhaltlich wegweisenden Sammlungen oder die fortschrittliche Ausstellungsarchitektur zu erinnern, bezieht sich das Denkmal allein auf die Zerstörung des Gebäudes durch die Nationalsozialisten. Ferner beinhaltet die Inschrift den Verweis darauf, dass das Museum in der Zwischenkriegszeit ein „Symbol der Rückkehr Schlesiens zum Mutterland“ gewesen sei und legt somit den einseitigen Akzent auf die Erinnerung an das Schlesische Museum als national bedeutender Einrichtung, die zu Legitimität der polnischen Herrschaft über Oberschlesien beigetragen hat.¹³⁴
verweigert], Dziennik Zachodni, . . , URL http://www.dziennikzachodni.pl/artykul/ ,pomnik-armii-radzieckiej-w-katowicach-ma-zniknac-ambasada-rosji-zgody-nie-da la,id,t.html (Zugriff . . ). Am . Mai wurde das Denkmal letztendlich von seinem Standort entfernt. Vgl. Jan Dziadul: Na historycznej huśtawce [Auf der historischen Schaukel], Polityka (), S. – , hier S. . Der gesamte Text der Inschrift lautet: W tym miejscu stało Muzeum Śląskie – symbol powrotu Śląska do Macierzy, zniszczone przez hitlerowców w r., Katowice, styczeń (An dieser
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Abb. 10: Gedenkplatte zur Erinnerung an die Zerstörung des Schlesischen Museums durch die Nationalsozialisten. Autor: Juliane Tomann
Nach 1989 hat sich die Denkmallandschaft von Katowice pluralisiert, sie wurde weiter ausgebaut und um bislang tabuisierte Aspekte ergänzt. Ein großer Bildersturm, der sich gegen die kommunistischen Hinterlassenschaften gerichtet hätte, blieb jedoch aus. So erinnert seit 2001 im südlichen Zentrum am Andreasplatz (plac Andrzeja) ein Monument an die Verbrechen des sowjetischen NKWD: Denkmal zu Ehren der 1940 vom NKWD in Katyn, Charkow und Miednoje Ermordeten (Pomnik ku czci ofiar pomordowanych w 1940 roku przez NKWD w Katyniu, Charkowie i Miednoje).¹³⁵ Auch im südlichen Teil der Stadt befinden Stelle stand das Schlesische Museum – ein Symbol der Rückkehr Schlesiens zum Mutterland, zerstört durch die Nationalsozialisten im Jahr , Katowice, Januar ). Bis zum Jahr wurden in der offiziellen Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg, die von der PZPR gesteuert wurde, alles vermieden, was Zweifel an der engen Verbindung zwischen Polen und der Sowjetunion hätten wecken können. Dazu zählten etwa der Ribbentrop-Molotov-Pakt, der damit verbundene Überfall auf Polen durch die Sowjetunion sowie die stalinistischen Kriegsverbrechen. Vgl. Laura Hölzlwimmer: Jahre Erinnerung an den Krieg und Krieg um die Erin-
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Abb. 11: Das Denkmal zu Ehren der vom NKWD Ermordeten in Katyn, Charkow und Miednoje im Jahr 1940 (Pomnik ku czci ofiar pomordowanych w 1940 roku przez NKWD w Katyniu, Charkowie i Miednoje) erinnert seit 2001 am Andreasplatz (plac Andrzeja) an die Verbrechen des sowjetischen NKWD. Autor: Juliane Tomann
sich am Forum seit den 1990er Jahren zwei zentrale Denkmäler. Zwischen Woiwodschaftsamt und dem Haus der Gewerkschaften, in dem sich heute das Marschallamt befindet, wurde 1993 ein Reiterstandbild von Marschall Józef Piłsudski¹³⁶ eingeweiht. Schräg gegenüber des Piłsudski-Denkmals, zwischen Uni-
nerung: Das Beispiel Polen, in: Carola Sachse/Edgar Wolfrum (Hg.): Nationen und ihre Selbstbilder. Postdiktatorische Gesellschaften in Europa. Göttingen , S. – , hier S. . Das Denkmal war als Abschluss des Forums in der Zwischenkriegszeit geplant worden und sollte an die Wiederherstellung des polnischen Staates erinnern, die die Grundlage für die Wiedereingliederung Oberschlesiens nach Polen war. Das Denkmal wurde erst fertiggestellt und
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Abb. 12: 1993 wurde das Reiterstandbild Piłsudskis vor dem Marschallamt und gegenüber des Schlesischen Sejms eingeweiht. Das Werk des jugoslawischen Künstlers Antun Augustinčić wurde bereits vor dem Zweiten Weltkrieg gefertigt, konnte jedoch 1939 nicht mehr nach Polen gebracht werden. 1990 wurde es aus Kroatien nach Katowice gebracht und restauriert. Quelle: wikimedia commons, Autor: Jan Mehlich URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Katowice_-_Pi%C5 %82sudski.JPG?uselang=de
Abb. 13: In Sichtweite zum Piłsudski-Denkmal, zwischen dem Gebäude der Schlesischen Universität und dem Schlesischen Sejm wurde im Jahr 1999 ein Denkmal für den damaligen politischen Gegenspieler Wojciech Korfanty errichtet. Quelle: wikimedia commons, Autor: Jan Mehlich URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Kato wice_-_Wojciech_Korfanty.jpg?uselang=de
überdauerte den Krieg im Atelier seines Schöpfers, des kroatischen Bildhauers Antun Augustinčić. Nach dem Zweiten Weltkrieg verlor es jedoch seine Aktualität und blieb in Jugoslawien. Erst wurde es nach Katowice gebracht und in seiner jetzigen Form auf einem sechs Meter hohen Sockel errichtet. Vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] (), S. ; Janota, Katowice między wojnami [Katowice zwischen den Kriegen] (), S. .
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versitätsgebäude und Woiwodschaftsamt, steht seit 1999 ein Denkmal für den Anführer der Schlesischen Aufstände, Wojciech Korfanty. Mit Korfanty wurde Piłsudskis politischer Gegenspieler aus der Zwischenkriegszeit nunmehr zu seinem räumlichen Gegenüber. Am Fuße des Denkmals für die Schlesischen Aufständischen wurde im Jahr 2005 eine Bronzestatue für den ehemaligen Woiwoden Jerzy Ziętek errichtet. Er selbst war aktiv an den Schlesischen Aufständen beteiligt und bekleidete nach 1945 verschiedene hohe politische Ämter auf Woiwodschaftsebene. Aus dem Jahr 2006 stammt eine über drei Meter hohe Statue des Papstes Jan Paweł II., die neben der Kathedrale steht. Der Papst hatte die Stadt 1983 besucht und ist ihr Ehrenbürger. Erwähnt werden muss aufgrund seines Bekanntheitsgrades auch das Denkmal vor der Grube Wujek, das allerdings außerhalb des Stadtzentrums liegt und daher nicht zum eigentlichen Untersuchungsgebiet gehört. Das 33 Meter hohe Kreuz erinnert an die neun Bergmänner, die im Dezember 1981 bei der gewaltsamen Niederschlagung des Streikes in diesem Bergwerk umgekommen sind.¹³⁷ Ein zusammenfassender Blick auf die Zeitebenen, die die nach 1989 entstandenen Denkmäler thematisieren, ergibt ein differenziertes, teilweise gegensätzliches Bild. Auffällig ist, dass der Perspektive auf den Zweiten Weltkrieg, die sich zur Zeit der Volksrepublik etablierte, nach 1989 weitere Aspekte hinzugefügt wurden. Neben den Motiven des heldenhaften Kampfes als Verteidiger (Pfadfinder) bzw. Befreier (Rotarmisten gemeinsam mit polnischem Soldaten) aus der Vorwendezeit wurde nach 1989 auch an den diametral entgegengesetzten Aspekt, die sowjetischen Verbrechen am polnischen Volk, erinnert. Die Städte Katyn, Charkow und Miednoje stehen dabei als Symbol für die Ermordung der polnischen militärischen und intellektuellen Elite durch die Sowjetunion im Jahr 1941. Die Korfanty- und Piłsudski-Statuen thematisieren hingegen die unterschiedlichen politischen Ausrichtungen der polnischen Zwischenkriegszeit in der Stadt. Das Denkmal des polnischen Papstes wurde zwar aus Anlass seines Besuches, den er der Stadt im Jahr 1983 abstattete, im Jahr 2006 errichtet. Es erinnert in seiner Formensprache bzw. durch seine Aufschrift Totus Tuus (Ganz dein) jedoch nicht an dieses konkrete Ereignis, sondern bleibt in seiner Aussage universalistisch. Ebenso schwierig ist es, einen konkreten Zeitbezug für die Statue Jerzy Zięteks auszumachen. Ziętek kämpfte sowohl in den Schlesischen Aufständen, arbeitete zwischen 1922 und 1939 in der polnischen Selbstverwaltung der Woiwodschaft Schlesien, bekleidete nach 1945 verschiedene hohe politische Ämter, um schließlich von 1973 bis 1975 schlesischer Woiwode zu werden. Ein Hauptaspekt überwiegt in der Erinnerung an Jerzy Ziętek: Er gilt den Einwohnern von Katowice
Ausführlicher dazu siehe das Kapitel . Dynamiken einer Transformation nach .
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bis in die Gegenwart als Figur, die sich in der Nachkriegszeit für das Wohlergehen ihrer Stadt eingesetzt hat. Er ließ Wohnungen und Straßen bauen, und Neonbeleuchtungen mit Sprüchen, Symbolen und Motiven schmückten das Stadtbild. Der größte Freizeitpark Polens, der gleichzeitig als grüne Lunge der Stadt fungiert, und die Errichtung des Spodek waren seine Verdienste.¹³⁸ Als die Krakauer Filiale des Instituts für Nationales Gedenken die Stadtverwaltung von Katowice während der Regierungszeit der Kaczyński-Brüder aufforderte¹³⁹, auch Ziętek aus dem Stadtbild verschwinden zu lassen, rührte sich in Oberschlesien Protest. Ziel der landesweiten „Bereinigungsaktion“ war es, die Namen kommunistischer Führer von Gebäuden, Plätzen und Straßen in Polen verschwinden zu lassen. Das Denkmal blieb trotz der kommunistischen Vergangenheit Zięteks stehen.¹⁴⁰
Abb. 14: Am Fuße des Denkmals für die Schlesischen Aufständischen wurde im Jahr 2005 eine Bronzestatue für den ehemaligen Woiwoden Jerzy Ziętek errichtet. Quelle: wikimedia commons, Autor: Jan Mehlich URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File: Katowice_-_Zietek.jpg?uselang=de
Die Denkmallandschaft verdeutlicht anhand der gegensätzlichen Themen die Aufund Umbrüche in der städtischen Entwicklung. Sie ist Zeugnis der Diskontinuitäten und politischen Wechsel, die die Geschichte der Stadt geprägt haben, wobei Vgl. Aleksandra Klich: Bez mitów. Portrety ze Śląska [Ohne Mythen. Porträts aus Oberschlesien]. Racibórz , S. . Zur sogenannten „neuen Geschichtspolitik“ in Polen siehe Robert Traba: Geschichte als Raum des Dialogs, in: Interfinitimos (), S. – sowie Krzysztof Ruchniewicz: Die polnische Geschichtspolitik der Nach-„Wende“-Zeit am Scheideweg, in: Stefan Troebst (Hg.) unter Mitarbeit von Susan Baumgartl: Postdiktatorische Geschichtskulturen im Süden und Osten Europas. Bestandsaufnahme und Forschungsperspektiven. Göttingen , S. – . Ebd., S. .
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die Repräsentationen der Ereignisse des polnischen Nationalkanons eindeutig überwiegen. Nach 1989 sind in der Denkmallandschaft der Stadt vor allem die großen politischen Themen Polens verankert worden, kaum jedoch lokale oder regionale Fragestellungen. Die Denkmallandschaft von Katowice ist vielmehr Teil und Spiegelbild der gemeinschaftlichen Anstrengung zur Erfindung einer neuen nationalen Meistererzählung im Nachgang der Wendejahre 1989/1990. Dabei wurde auch an bestehende Selbstbilder angeknüpft, die während der kommunistischen Zeit tabuisiert waren. Mit dem Piłsudski-Denkmal schreibt sich die Stadt etwa in eines der Zentralthemen der polnischen historischen Erinnerung bzw. des Selbstverständnisses der polnischen Nation ein: den in den vergangenen 200 Jahren ausgefochtenen Freiheits- oder Unabhängigkeitskampf.¹⁴¹ Auch die differenzierte Betrachtung des Zweiten Weltkrieges nach der politischen Wende ist ein gesamtpolnisches Phänomen (Denkmal für die stalinistischen Kriegsverbrechen in Katyn, Charkow und Miednoje)¹⁴² ebenso wie der katholische Glauben als Grundpfeiler der polnischen Gesellschaft (Papst-Denkmal).¹⁴³ Die Entwicklungen der Denkmallandschaft unterscheiden sich demnach nicht grundlegend von den Entwicklungen in anderen großen polnischen Städten. Interessant ist das ZiętekDenkmal, da es neben den „großen Linien“ des polnischen Erinnerungsdiskurses auch seine Ambivalenzen verdeutlicht. Während die polnischen oppositionellen Kreise davon ausgegangen sind, dass die Zeit der Volksrepublik Polen von einer klaren „Trennung zwischen ‚uns‘ und ‚denen da oben‘“¹⁴⁴, also zwischen Gesellschaft und Macht geprägt war, herrscht vor allem bei Personen mittleren Alters und Alten eine nostalgische Einstellung in Bezug auf diese Zeit vor.¹⁴⁵ Sie erinnern
Vgl. Krzysztof Ruchniewicz: Die historische Erinnerung in Polen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, / (); online einsehbar unter URL http://www.bpb.de/apuz//die-histori sche-erinnerung-in-polen?p=all (Zugriff . . ). Eine differenzierte Betrachtung des Zweiten Weltkrieges bringt dabei nicht nur die stalinistischen Kriegsverbrechen in die Diskussion. Auch Themen wie die Mittäterschaft bei der Ermordung von Juden in Polen (Jedwabne-Debatte, seit dem Jahr ) oder die Diskussion um die Zwangsaussiedlung der Deutschen seit Mitte der er Jahre stellen das „Autostereotyp der einheitlichen polnischen Opfernation“, das von der Polnischen Arbeiterpartei während des Kommunismus propagiert wurde, in Frage. Vgl. Hölzlwimmer, Jahre Erinnerung an den Krieg (), S. . Besonders Papstdenkmäler oder Papst-Statuen sind in Polen keine Seltenheit. Das weltweit größte Papstdenkmal wurde kürzlich unweit von Katowice in Jasna Góra in Częstochowa/ Tschenstochau mit über Metern Höhe errichtet.Vor allem seit dem Tod des Papstes im Jahr nahm die Zahl der Papstdenkmäler in Polen erheblich zu. Vgl. Paul Flückiger: Papst-Statuen wie Gartenzwerge, in: Neue Zürcher Zeitung vom . . , URL http://www.nzz.ch/aktuell/inter national/aufgefallen/papst-statuen-wie-gartenzwerge-. (Zugriff . . ). Vgl. Ruchniewicz, Historische Erinnerung (), ohne Seitenzahlen. Ebd.
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sich an den angeblichen Wohlstand der Ära von Regierungschef Gierek in den Jahren 1970 – 1980, der in Katowice durch den Woiwoden Jerzy Ziętek verkörpert wurde. Der Erinnerung an das kommunistische Polen, das vielfach als „Loch in der polnischen Geschichte“, also als Fehlentwicklung oder „höchstens [als] Kapitel in der martyrologischen Geschichte der polnischen Nation“¹⁴⁶ angesehen wird, stellt das Festhalten der Einwohner von Katowice am kommunistischen Woiwoden Ziętek einen alternativen Zugang entgegen. Dabei vermischen sich höchstwahrscheinlich nostalgische Erinnerungen an eine Zeit des Aufschwunges zu Beginn der 1970er Jahre in der Region mit der Erinnerung an eine Person, die sich in besonderer Weise für Oberschlesien eingesetzt hat.
Erinnerungstafeln und -plaketten Neben den Denkmälern ist der städtische Raum mit einem dichten Netz an Erinnerungstafeln überspannt, die ebenfalls fast ausschließlich auf den nationalen Kampf um die Zugehörigkeit Oberschlesiens zu Polen im Zusammenhang der Schlesischen Aufstände oder des Zweiten Weltkrieges verweisen. Der überwiegende Teil der Tafeln stammt aus der Zeit der Volksrepublik Polen. Diese wurden nach dem politischen Umbruch 1989 teilweise durch neue Plaketten ergänzt, die nunmehr mit den älteren koexistieren. Auch wenn die Tafeln oftmals nicht mit Entstehungsdaten versehen wurden und diese auch im Denkmalverzeichnis der Schlesischen Woiwodschaft nicht vermerkt sind, lassen sie sich anhand ihrer Gestaltung, ihres Inhalts und der darauf verwendeten Formulierungen der Zeit der Volksrepublik zuordnen.¹⁴⁷ Zur Illustration seien hier nur einige Beispiele angeführt wie etwa eine Platte am innerstädtischen Freiheitsplatz Nr. 12 (plac Wolności), die an die Handwerker erinnert, die „im Kampf um die Polonität Schlesiens während der Schlesischen Aufstände und im Zweiten Weltkrieg gestorben sind“.¹⁴⁸ Eine weitere Tafel in der Innenstadt am Gebäude des Kinos Zorza in der Matejko-Str. 3 (ul. Matejki) erinnert ebenfalls gemeinsam an die Schlesischen Beide Zitate stammen vom polnischen Soziologen Jerzy Szacki, zitiert nach Ruchniewicz, Historische Erinnerung (), ohne Seitenzahlen. Die Übersicht Ewidencja Miejsc Pamięci Województwa Śląskiego (Liste der Erinnerungsorte der Woiwodschaft Schlesien) wird vom Woiwodschaftsamt für alle Städte des betreffenden Gebietes erstellt. Auch für Katowice ist das Dokument auf den Seiten des Woiwodschaftsamtes einsehbar unter URL http://www.katowice.uw.gov.pl/mp/katowice.html (Zugriff . . ). Der Originaltext der Tafel lautet „W hołdzie bohaterom rzemieślnikom poległym w walce o polskość ziemi Śląskiej – oraz w II Wojnie Światowej“ (Zu Ehren der heldenhaften Handwerker, die im Kampf um die Polonität des Schlesischen Landes in den Jahren – sowie während des Zweiten Weltkrieges gefallen sind).
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Aufstände und den Zweiten Weltkrieg, hier jedoch durch den Verweis auf bestimmte Personengruppen: Schlesische Aufständische und Pfadfinder starben hier gemeinsam den Heldentod beim Einmarsch der nationalsozialistischen Truppen.¹⁴⁹ Am Schlesischen Theater am Marktplatz wurde im Jahr 1982 eine Tafel zum 60. Jahrestag der „Rückkehr Oberschlesiens zum Mutterland im Jahr 1922“ angebracht.¹⁵⁰ Interessant ist ein Stein mit einer Plakette im Stadtzentrum aus dem Jahr 1988, der an dem Ort aufgestellt wurde, wo sich bis zum Jahr 1939 die Große Synagoge befand. Die Inschrift zeigt auf Polnisch und Hebräisch an, dass an die jüdischen Einwohner von Katowice erinnert werden soll, die von den Nationalsozialisten in den Jahren 1939 bis 1945 ermordet wurden. Ferner verweist die Plakette darauf, dass an diesem Ort die Große Synagoge gestanden hat, die von den Nationalsozialisten im Jahr 1939 zerstört wurde. Auffällig ist hier, dass neben den polnischen auch die jüdischen Opfer erwähnt werden. Sieht man diese Tafel im Kontext der anderen Erinnerungsplaketten, treten die jüdischen Opfer jedoch in den Hintergrund. Die Tafel erinnert nur in zweiter Linie an die Opfer und die verlorene Synagoge. Der Umstand wurde vielmehr dafür genutzt, die feindliche Aggression seitens der Nationalsozialisten als zu erinnerndes Ereignis herauszustellen. Das Woiwodschaftsamt verfügt nicht über Aufzeichnungen, aus denen hervorgeht, ob nach 1989 Erinnerungsplaketten aus dem Stadtbild entfernt worden sind. Belegbar ist jedoch aus dem Denkmalregister, dass auch nach 1989 Erinnerungstafeln an städtischen Gebäuden angebracht wurden. Dabei ist festzustellen, dass sich die Tendenz, Orte mit Plaketten zu versehen, an denen Polen durch die Nationalsozialisten umgebracht wurden, über den Umbruch von 1989 hinweg fortgesetzt hat. Eine der neuesten Tafeln im Zentrum von Katowice an der Jagiellonen-Straße 17 (ul. Jagiellońska) stammt aus dem Jahr 2007 und erinnert namentlich an drei Polen, die in diesem Gebäude 1939 erschossen wurden.¹⁵¹ Nicht
Der Originaltext der Tafel lautet „W tym miejscu zgineli smiercią bohaterską powstańcy śląscy i harcerzy w walce z najeźdzcą hitlerowskim we wrześniu r. Cześć ich pamięci (An diesem Ort starben Schlesische Aufständische und Pfadfinder den Heldentod beim Angriff der Nazitruppen im September . Ehre ihrem Andenken). Der Originaltext der Tafel lautet „W sześćdziesątą rocznicę powrotu Górnego Śląska do Macierzy na przypomnieniu wielkiej patriotycznej uroczystości w dniu czerwca na katowickim rynku. Mieszkańcy Katowic“ (Zum . Jahrestag der Rückkehr Oberschlesiens zum Mutterland und zur Erinnerung an die großen patriotischen Feierlichkeiten am . Juni auf dem Marktplatz von Katowice. Die Einwohner von Katowice). Der Originaltext der Tafel lautet: „Pamięci Polaków zamordowanych przez hiterowców w piwnicy i na podwórzu tego budynku we wrześniu r. Z osób rozstrzelanych w tym miejscu ustalono następujące nazwizka ofiar: Marta Bimczok, Edmund Trzeciecki, Władysław Lorenc“ (Zum Gedenken an die von den Nationalsozialisten im Keller und im Hof dieses Gebäudes im
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nur für die im Zweiten Weltkrieg ermordeten Polen wurden neue Erinnerungszeichen geschaffen, auch die Zeit der Schlesischen Aufstände erhielt nach 1989 neue Formen der Erinnerung. Aus dem Jahr 2004 stammt beispielsweise eine Mischform aus Denkmal und Gedenkplatte, ein Stein im Stadtzentrum, der von der Stadtverwaltung an dem Ort aufgestellt wurde, an dem der polnische Arzt und Stadtratsabgeordnete Andrzej Mielęcki im Jahr 1920 von Deutschen ermordet wurde. Auffällig ist, dass sich die Sprache der Aufschrift im Vergleich zu den Tafeln aus der sozialistischen Zeit kaum verändert hat. Die Deutschen werden nach wie vor als bojówkarzy, als Schläger oder Terroristen bezeichnet. Auch der Begriff hitlerowcy wird weiterhin verwendet, wie der Text der Tafel an der Jagiellonen-Straße 17 zeigt.¹⁵² Verändert hat sich hingegen die Darstellung des polnischen Opfers, das auf dieser Tafel nicht mehr namenlos bleibt wie auf den Tafeln auf der Zeit nach 1945 („Handwerker“, „Pfadfinder“). Der polnische Arzt wurde, ähnlich den drei Erschossenen auf der Tafel aus dem Jahr 2007, konkret benannt und zusätzlich mit der Eigenschaft als Retter von Verletzten eines Straßenkampfes ausgestattet.¹⁵³ Trotz dieser Tendenz ist auch bei den Erinnerungstafeln, die nach 1989 angebracht wurden, eine Pluralisierung der Ereignisse festzustellen, auf die sie verweisen. Zwei Tafeln in der Innenstadt sind der sogenannten Kattowitzer Konferenz im Jahr 1884 gewidmet. Dieses internationale Treffen von Vertretern der Choveve-Zion-Vereine, die sich für Landerwerb in Palästina und dessen Aufbau einsetzten, bildete eine Frühform des organisierten Zionismus. Auffällig ist, dass nicht die Stadt Katowice der Initiator dieser Tafeln war. Die Tafel am Szewczyk-Platz (plac Szewczyka) gibt vielmehr in drei Sprachen (Polnisch, Hebräisch, Englisch) darüber Auskunft, dass eine israelische Jugenddelegation an den 120. Jahrestag dieses Ereignisses im Jahr 2004 erinnerte. Die Tafel in der Młyńska-
September ermordeten Polen. Von den an diesem Ort Erschossenen konnten die Namen der folgenden Opfer ermittelt werden: Marta Bimczok, Edmund Trzeciecki, Władysław Lorenc). Das Wort hitlerowcy stammt aus den er Jahren und wurde in der Volksrepublik Polen seither als Äquivalent für das Wort Deutsche verwendet. Seine Einführung steht im Zusammenhang mit der Gründung der DDR und dem Wunsch der polnischen Kommunisten, die Bürger der DDR nicht für die Verbrechen der Nationalsozialisten verantwortlich zu machen. Vgl. Zuzanna Bogumił/Joanna Wawrzyniak/Tim Buchen/Christian Ganzer/Maria Senina: The Enemy on Display. The Second World War in Eastern European Museums. New York u. a. , S. . Der Originaltext lautet: „W tym miejscu . sierpnia roku został zamordowany przez bojówkarzy niemieckich niosący pomóc rannym w zamieszkach ulicznych polski lekarz dr Andrzej Mielęcki, członek Rady Miasta Katowice. Miasto Katowice, r.“ (An diesem Ort wurde am . August der polnische Arzt und Mitglied des Stadtrates von Katowice, Andrzej Mielęcki, von deutschen Schlägern ermordet, während er Verletzten bei einem Straßenkampf Hilfe leistete. Die Stadt Katowice, ).
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Straße 13 (ul. Młyńska) bezog sich hingegen auf die Bedeutung des Ereignisses und berichtet, dass die „Kattowitzer Konferenz“ in ihrer Konsequenz zur israelischen Staatsgründung im Jahr 1948 geführt habe. Für eine langsam beginnende Pluralisierung der im städtischen Raum repräsentierten historischen Ereignisse spricht auch die Errichtung einer Erinnerungsplatte am Geburtshaus der deutschen Physiknobelpreisträgerin des Jahres 1963, Maria Göppert-Mayer, an prominenter Stelle gegenüber der Stadtverwaltung in der Młyńska-Straße 5.Weder die Platte selbst noch das Denkmalregister gibt Auskunft darüber, wann genau sie angebracht wurde. Deutlich hervorgehoben wird jedoch auch in diesem Fall, dass nicht die Stadtverwaltung der Absender der transportierten Botschaft war, sondern die Tageszeitung Dziennik Zachodni die Platte finanziert hat.
Die Umbenennungspraxis von Straßennamen nach 1989 Ein interessantes Bild ergibt sich ferner aus der Analyse der nach 1989 umbenannten Straßennamen und der Personen, für die sich der Stadtrat¹⁵⁴ in Katowice bei der Benennung entschieden hat. Insgesamt wurden auf dem Stadtgebiet bis zum Jahr 2012 über 150 Straßen mit einem neuen Namen versehen, der sich einer konkreten Person oder Gruppe zuordnen lässt. Mit über 95 von 156 geänderten Straßennamen überwogen in der Umbenennungspraxis Bezeichnungen mit Personen, die durch Geburt, Wirken oder Sterben einen Bezug zu Katowice oder zu Oberschlesien haben. Die restlichen 61 Benennungen verweisen auf Personen, die politisch, religiös, kulturell oder militärisch mit Polen allgemein in Verbindung stehen. Als Beispiel für das Anknüpfen an die gesamtpolnische Geschichte steht etwa der Bezug zu König Jagiełło. Dessen Straße reiht sich seit 2012 neben der Mieszko IStraße (ul. Mieszka I.) sowie der Bolesław-Krzywousty-Straße (ul. Bolesława Krzywoustego) in die Ahnengalerie polnischer Herrscher in der Siedlung des Tausendjährigen Bestehens des Polnischen Staates ein. Ein weiteres Beispiel ist
Alle Angaben zu Um- oder Neubenennungen von Straßennamen gehen auf Beschlüsse des Stadtrates von Katowice zurück und sind in den Protokollen der Sitzungen des Stadtrates dokumentiert. Die Protokolle sind für die Sitzungen ab Juli online auf den Seiten der Stadtverwaltung einsehrbar unter URL http://bip.um.katowice.pl/index.php?s=&r= (Zugriff . . ). Die früheren Jahrgänge befinden sich im Archiv der Stadtverwaltung Katowice (Archiwum Urzędu Miasta w Katowicach). Die Analyse der Straßennamen basiert auf einer internen Auflistung aller umbenannten Straßen in Katowice sowie ihrer Namenspatrone aus dem Jahr , die von Mitarbeitern der Stadtverwaltung erstellt und geführt wird. Das Dokument befindet sich im Archiv der Autorin.
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die Feliks-Nowowiejski-Straße (ul. Feliksa Nowowiejskiego) im Stadtteil Josefowiec, die an den polnischen Komponisten (1877– 1946) erinnert. Betrachtet man die Straßennamen mit lokalem oder regionalem Bezug genauer, fällt vor allem die Vielzahl der kirchlichen Würdenträger auf, die nunmehr einer Straße von Katowice ihren Namen geben. So ist beispielsweise seit 1991 eine Straße nach dem Bischof Stanisław Adamski benannt, der von 1930 bis 1967 der Diözese Katowice vorstand. Gefolgt werden die kirchlichen Würdenträger von Personen, die mit dem Plebiszit, den Schlesischen Aufständen oder der Woiwodschaft Schlesien in der Zwischenkriegszeit in Verbindung zu bringen sind.¹⁵⁵ Der schlesische Woiwode der Jahre 1926 bis 1939, Michał Grażyński, ist seit 1991 Namensgeber für eine Straße im innenstadtnahen Stadtteil Koszutka. Eine der zentralen Innenstadtstraßen trägt seit 1990 den Namen Wojciech Korfantys. Als drittgrößte namensgebende Gruppe lassen sich Personen ausmachen, deren Leben bzw. Sterben mit dem Zweiten Weltkrieg verbunden war. An den polnischen Widerstand im Zweiten Weltkrieg erinnert seit 1990 die Straße der Heimatarmee im Stadtteil Piotrowice. Ferner zählt zu dieser Gruppe etwa Zygmunt Walter-Janke, General der Polnischen Streitkräfte und Anführer der Schlesischen Abteilung der Heimatarmee. Seinen Namen trägt seit 1990 eine Straße im Stadtteil Piotrowice. Während die Straße der Roten Armee aus der Innenstadt verschwunden ist (heute Korfanty-Allee), wird der Zweite Weltkrieg nunmehr durch den Bezug auf den polnischen Widerstand erinnert, jedoch gleichzeitig von der Innenstadt an den peripheren Stadtteil Piotrowice verlagert. Als vierte und fünfte Gruppe von Namensgebern lassen sich Wissenschaftler, Künstler oder Sportler bzw. Personen, die mit der Gewerkschaft Solidarność verbunden waren, identifizieren. Vielsagend ist der Befund, dass von den 156 Personen, an die seit der politischen Wende in Katowice in Form eines Straßenamens erinnert wird, nur zehn Personen keine ethnischen Polen oder Oberschlesier waren. Zu ihnen gehören: der schottisch-deutsche Bauingenieur John Baildon, der den ersten Hochofen auf dem europäischen Festland in der Nähe von Katowice errichtete und somit als Pionier der Industrialisierung gilt, die von der katholischen Kirche selig gesprochene Mutter Teresa, der französische General Henri Le Rond, der während des Plebiszits in Oberschlesien war, der amerikanische Präsident Ronald Reagan, der serbischstämmige, amerikanische Wissenschaftler Nikola Tesla, die in Kattowitz geborene, deutsche Physiknobelpreisträgerin Maria Göppert-Mayer sowie der in Königshütte geborene, deutsch-amerikanische Filmkomponist Franz Waxman.
Bei manchen Personen überschneiden sich die Kategorien, sodass auf genaue Zahlenangaben verzichtet wird.
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Auch zwei der Männer, die maßgeblich an der Gründung der Stadt Katowice beteiligt waren, sind bei der Benennung bedacht worden: Seit 2007 hat Katowice (wieder) eine Grundmann-Straße und seit 2011 trägt der Platz des ehemaligen, während der Zeit der Volksrepublik zerstörten, evangelischen Friedhofes neben der Schlesischen Bibliothek den Namen Richard Holtzes. An die aus Charlottenburg bei Berlin stammenden Architekten der Siedlungen Gieschewald und Nickischschacht, Emil und Georg Zillmann, erinnert seit 2009 ein kleiner Platz in Nikiszowiec. Die dritte, für die Stadtgründung entscheidende Person, Franz von Tiele-Winckler, hat bislang noch keine Berücksichtigung bei der Vergabe von Straßen- und Platznamen gefunden. Aus dieser Vergabepraxis lässt sich eine starke Präferenz des Stadtrates für Personen erkennen, die sich als (oberschlesische) Polen um die Stadt verdient gemacht haben, hier geboren oder gestorben sind. Interessant ist, dass mit Ronald Reagan oder Nikola Tesla die Erinnerung an Personen bevorzugt wird, die keine direkte Verbindung zur Stadtgeschichte aufweisen, während ein Tiele-WincklerPlatz oder eine nach dem dritten Stadtgründer benannte Straße im Stadtbild von Katowice bislang fehlen. Der Rekurs auf den amerikanischen Präsidenten der 1980er Jahre, der mit seiner veränderten Außenpolitik eine Zeitenwende eingeleitet hatte und die Chance eines unabhängigen Polens jenseits der west-östlichen Blockkonfrontation erhöhte, weist einen starken gesamtpolnischen Bezug auf. Der Rekurs auf Mutter Teresa hat eine religiös-universalistische Prägung, ordnet sich aber durch die Konnotation mit dem katholischen Glauben in einen gesamtpolnischen Identitätskanon ein. Der französische General Henri Le Rond hingegen weist einen regionalen Bezug auf: Er war Leiter der Interalliierten Regierungs- und Plebiszitkommission für Oberschlesien, die von 1920 bis 1922 mit der Aufgabe betraut war, die Region zu verwalten, bis eine Lösung für den deutsch-polnischen Konflikt um ihre Zugehörigkeit gefunden war. Über den Verweis auf den französischen General wird an die lokale Geschichte, insbesondere an den deutschpolnischen Konflikt um die Region erinnert. Welche Verbindungen zwischen Nikola Tesla und Katowice bestehen, bzw. welche Symbolik von Tesla in Bezug auf Katowice wirksam werden soll, bleibt unklar. Für Franz Waxmann kann nur die unmittelbare Nähe zur Nachbar- und seiner Geburtsstadt Königshütte konstatiert werden. Bezieht man die zeitliche Ebene mit in die Analyse ein, so geht das Wirken der meisten Namensgeber auf die Schlesischen Aufstände und das Plebiszit, die Zwischenkriegszeit, den Widerstand während des Zweiten Weltkrieges sowie teilweise auf die Ereignisse rund um die Gründung und das Verbot der Gewerkschaft Solidarność in den 1980er Jahren zurück.
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Zusammenfassung symbolische Repräsentationen Die Analyse der Denkmallandschaft, der Erinnerungstafeln sowie der Namenspatronen für Straßen zeigt deutlich, dass der symbolische Raum der Stadt zum Untersuchungszeitpunkt fast ausschließlich mit Zeichen und Symbolen besetzt war, die – bei allen aufgezeigten Differenzierungen – auf ein national-polnisches Narrativ verweisen. Der Großteil der Denkmäler und Erinnerungstafeln bezieht sich auf die aus polnischer Perspektive als Zentralereignisse der Geschichte der Region gewerteten Schlesischen Aufstände sowie den Zweiten Weltkrieg. Diese symbolischen Repräsentationen erzählen eine Stadtgeschichte, die zumeist im Jahr 1945, manchmal im Jahr 1922, beginnt und überwiegend auf die polnische Vergangenheit der Stadt rekurriert. Zwar hatten sich nach dem Systemwechsel der Jahre 1989/1990 vielfach Änderungen in der Interpretation der im städtischen Raum repräsentierten historischen Ereignisse ergeben. So war seither etwa eine veränderte Sicht auf den Zweiten Weltkrieg und eine Pluralisierung der Wahrnehmung der Zwischenkriegszeit im Stadtbild nachvollziehbar. Am historischen Koordinatensystem, das durch den öffentlichen Raum von Katowice navigiert, hat sich jedoch nichts Grundlegendes geändert: Die Stammdaten der Stadtgeschichte bleiben das Jahr 1922 bzw. 1945. Selbst im Bereich der Kunst ist eine Konzentration auf die polnische Perspektive der städtischen Vergangenheit prägend, was eine neu errichtete Künstlergalerie am Grundwaldplatz (plac Grunwaldzki) verdeutlicht. Ein Rundgang durch die dort aufgereihten Künstlerbüsten zeigt ausschließlich polnische Kunstschaffende und verweist auf eine lange Tradition polnischer Künstler in der Stadt. Deutsche wie etwa der 1902 in Kattowitz geborene Fotograf und Maler Hans Bellmer fehlen in dieser Auswahl. Auch die Analyseergebnisse der Straßenumbenennungen schreiben sich in diesen Befund ein und machen eine Konzentration auf die polnische Sicht auf die Vergangenheit deutlich. Bei der Umbenennungspraxis wurde mehrheitlich entweder ein regionaler Zugriff gewählt, indem an Personen erinnert wurde, die als propolnisch gelten, oder ein national-polnischer, der von Personen des nationalen, gesamtpolnischen Erinnerungskanons getragen wird. Aus allen drei Analysefeldern geht deutlich hervor, dass es auf den nichtpolnischen Teil der Vergangenheit auch im gegenwärtigen Stadtbild nur wenige Verweise gibt. Das gilt neben der deutschen auch für die jüdische Vergangenheit der Stadt.¹⁵⁶ Vor allem aber betrifft es die Repräsentation der Geschichte der Wobei der deutsche und der jüdische Anteil der Stadtgeschichte vor allem im . und frühen . Jahrhundert schwer zu differenzieren ist. Viele Juden kamen als Deutsche in die Stadt und verließen sie, als sie an Polen abgetreten wurde. Andererseits kamen in der Zwischenkriegszeit viele Juden aus den östlichen polnischen Landesteilen nach Katowice.
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einheimischen oberschlesischen Bevölkerung, die stets im Spannungsverhältnis zwischen Deutschen und Polen stand. Zwar wird das Schlesische in vielerlei Hinsicht in den symbolischen Repräsentation betont, es verfügt dabei jedoch nicht über eine eigenständige Bedeutung und wird letztlich mit Polen gleichgesetzt. Nachvollziehbar ist dieser Prozess der Gleichsetzung von ‚polnisch‘ und ‚schlesisch‘ am Beispiel der Schlesischen Aufstände, einem der Zentralthemen im Stadtbild. Die Bezeichnung der Aufstände als ‚schlesische‘ überlagert einen Teil der historischen Ereignisse, etwa den Kampf eines Teils der hier lebenden, sich als schlesisch fühlenden Bevölkerung um Souveränität während der Kampfhandlungen. Dieser Aspekt bleibt in den meisten Fällen unerwähnt. Statt dessen gelten die Schlesischen Aufstände als wichtigstes Ereignis im Kampf um die Zugehörigkeit Oberschlesiens zum polnischen Staat. Das historische Ereignis der Aufstände in den Jahren 1919 bis 1921 wird allein aus polnischer Perspektive betrachtet und in das polnisch nationale Narrativ eingeschrieben. Das Denkmal der Schlesischen Aufständischen im Zentrum von Katowice ist nur ein Beispiel dafür, wie die Bezeichnung ‚schlesisch‘ von ‚polnisch‘ vereinnahmt bzw. überlagert wird. Aus der Analyse des städtischen Raumes geht hervor, dass die Bezeichnung (ober) schlesisch keine eigenständige Bedeutung außerhalb eines polnischen Interpretationsrahmens erlangen konnte. Sie tritt im städtischen Raum zumeist dann auf, wenn ein Ereignis der nationalpolnischen Geschichte repräsentiert wird – das (Ober)Schlesische wird in das nationale polnische Narrativ integriert. Als eigenständige Bezeichnung für Ereignisse oder Personen, die mit der Region oder Stadt verbunden waren, tritt die Bezeichnung (ober)schlesisch im städtischen Raum bislang selten auf. Der städtische Raum in Katowice kann daher als Beispiel eines polnisch-schlesischen Bedeutungszusammenhang angesehen werden. Seit Beginn der 2000er Jahre kam jedoch Bewegung in dieses bis dahin symbolisch festgefahrene System. Die oben angeführte Benennung einer Straße bzw. eines Platzes nach den Stadtgründern Grundmann und Holtze kann hierfür als aussagekräftiges Beispiel gelten. Einerseits ließ sich anhand der Vergabe dieser Straßennamen die Einsicht der Stadtverwaltung erkennen, dass die nichtpolnischen Anteile der Stadtgeschichte nicht länger unberücksichtigt bleiben konnten. Andererseits dominierte weiterhin Zurückhaltung in Bezug auf die Erinnerung an die deutschen Stadtgründer im Zentrum von Katowice, an der Stelle ihres früheren Wirkens. Die deutschen Stadtgründer wurden stattdessen symbolisch und räumlich an den Rand gedrängt, was die Benennung eines Teilstücks einer neu gebauten Umgehungsstraße als Grundmannstraße verdeutlicht. Diese liegt zwar unweit des Freiheitsplatzes in der Innenstadt, es befindet sich an ihr jedoch kaum Wohnbebauung, die Straße führt de facto durch ein Niemandsland zwischen Eisenbahnunterführungen und der Schnellstraße Richtung Königshütte. Als Adresse oder Ortsangabe, die in den Sprachgebrauch von Einwohnern oder Be-
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suchern eingeht, findet die Grundmannstraße daher kaum Verwendung. Stattdessen erlangte die Entlastungs- und Umgehungsstraße aufgrund ihrer ständigen Stauanfälligkeit im lokalen Verkehrsfunk zweifelhafte Berühmtheit. Dabei ist Grundmann nicht der einzige Namenspatron: Das zweite Teilstück dieser wenig attraktiven Umgehungsstraße trägt den Namen der in Katowice geborenen deutschen Nobelpreisträgerin Maria Göppert-Mayer. Dass dieser neue Straßenname auch aufgrund seiner Lage nur schwer Eingang in das Bewusstsein der Einwohner findet, verdeutlicht der Brief eines Mitgliedes des Stadtrates an Stadtpräsidenten Piotr Uszok. Er forderte Uszok im Jahr 2012 dazu auf, endlich angemessen an die Nobelpreisträgerin zu erinnern und eine Straße nach ihr zu benennen. Der sich Beschwerende war im Jahr 2007, als die Entscheidung zur Benennung der GöppertMayer-Straße im Stadtrat gefällt wurde, selbst Mitglied des Gremiums.¹⁵⁷ Dass er an der Entscheidung, die Umgehungsstraße nach der Physiknobelpreisträgerin zu benennen, beteiligt war, hatte er scheinbar vergessen und die Existenz der Straße in Katowice bisher auch nicht wahrgenommen. Ähnliches trifft für den nach Richard Holtze benannten Platz zu, der den wenigsten Einwohnern von Katowice bisher aufgefallen sein dürfte. Der Platz wird auch in internetgestützten Stadtplänen, die Änderungen von Straßennamen in der Regel sehr schnell abbilden, nicht angezeigt.¹⁵⁸ Doch gibt es ihn seit 2011 in Katowice, und er wird durch ein Straßenschild markiert.¹⁵⁹ Der Holtze-Platz (skwer Holtzego) befindet sich auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof, verfügt jedoch kaum über urbane Qualitäten und befindet sich an einer Stelle der Stadt, die wenig frequentiert wird. Es handelt sich um ein Stück Parkanlage neben der Schlesischen Bibliothek, das von Passanten kaum und von Besuchern der Bibliothek höchstens zu Erholungszwecken genutzt wird. Zusätzlich markiert wird der Holtze-Platz seit 2002 von einem Stein mit einer Tafel, die zum Gedenken an die auf dem ehemaligen evangelischen Friedhof Beerdigten aufruft, unter ihnen „die Stadtgründer sowie andere herausragende Einwohner von Katowice“.¹⁶⁰ Wer
Vgl. die Berichterstattung in der Gazeta Wyborcza vom . . unter dem Titel Radny chce ulicy dla noblistki. Zapomniał, że już taka jest? [Ein Abgeordneter möchte eine Straße für die Nobelpreisträgerin. Hat er vergessen, dass es diese schon gibt?], ohne Autor, URL http://katowice. gazeta.pl/katowice/,,,Radny_chce_ulicy_dla_noblistki__Zapomnial__ze_juz. html (Zugriff . . ). Eine Suche bei googlemaps zu „plac Holtzego“ oder „skwer Holtzego“ (beides im Deutschen Holtzeplatz) in Katowice ergab am . . keine Einträge. Grundlage für die Benennung des Platzes war der Beschluss des Stadtrates Nr.VI// vom . . . Der Originaltext auf dem Stein lautet: Pamięci spoczywających na byłym cmentarzu ewangelickim, w tym założycieli miasta i innych wybitnych obywateli Katowic. Miasto Katowice, Parafia Ewangelicko-Augsburska, Katowice, . (Zur Erinnerung an die hier auf dem ehema-
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die Stadtgründer und die herausragenden Persönlichkeiten gewesen sind, derer an dieser Stelle gedacht wird, wann sie gelebt haben oder wie sie hießen, lässt die Inschrift offen. Der fehlende historische Kontext und das gezielte Aussparen von Informationen mindert den Aussagewert der Tafel deutlich. Letztlich wissen nur Eingeweihte, an wen hier erinnert werden soll und dass es sich dabei um die deutschen Stadtgründer sowie andere deutsche Einwohner der Stadt gehandelt hat. Franz von Tiele-Winckler, der deutsche Unternehmer, der das Dorf Kattowitz 1839 kaufte und mit der Verlagerung der Verwaltung seiner Güter dorthin den Grundstein für die Stadtgründung legte, hat im städtischen Raum noch keine Erwähnung gefunden. Es sei noch keine entsprechende Straße gefunden worden, außerdem gebe es zahlreiche andere Anfragen zur Benennung von Straßen, zitiert die Gazeta Wyborcza den Sprecher der Kommission zur Umbenennung von Straßen in Katowice.¹⁶¹ Weit weniger Berührungsängste mit der nichtpolnischen Vergangenheit der Stadt zeigt hingegen die Industrie, die einen Kontrapunkt zum unentschlossenen und zurückhaltenden Agieren der Stadtverwaltung setzt. Im Oberschlesischen Industriepark (Górnośląski Park Przemysłowy) entstand ein energieeffizientes Hochhaus, das den Namen der Physiknobelpreisträgerin Göppert-Mayer in großen Lettern über dem Eingang trägt. In Zukunft sollen weitere Hochhäuser die Namen von Nobelpreisträgern erhalten, die in Oberschlesien geboren wurden. Benannt werden sollen die Gebäude nach dem Physiker Otto Stern, dem Chemiker Kurt Alder und dem Biochemiker Konrad Bloch.¹⁶² Das Einschreiben in eine positive Tradition Oberschlesiens als Geburtsort von Nobelpreisträgern scheint für den Oberschlesischen Industriepark keine nationale, sondern eine Frage des Prestiges als zukunftsträchtiger Standort zu sein. Dass die Stadtverwaltung nicht über ein Monopol auf die Gestaltung der geschichtskulturellen Landschaft im städtischen Raum verfügt, zeigt ferner eine Initiative der Polnische Nationalbank (Narodowy Bank Polski). An ihrem eindrucksvollen Neubau in der Bankstraße (ul. Bankowa) in der Innenstadt von Katowice erinnert eine Tafel an die Grundmann-Villa, die ursprünglich auf diesem Gelände gestanden hat.
ligen evangelischen Friedhof Begrabenen, unter ihnen auch die Stadtgründer sowie andere herausragende Bürger von Katowice. Stadt Katowice, Evangelisch-Augsburgische Pfarrei, Katowice, ). Vgl. Przemysław Jedlecki: Ten Niemiec Winckler [Dieser Deutsche Winckler], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Vgl. die Berichterstattung in der Gazeta Wyborcza: Ohne Autor (PJ): Oszczędny biurowiec [Ein sparsames Bürogebäude], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. .
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Am eindrücklichsten Auskunft über den offiziellen Umgang mit Geschichtsrepräsentationen im städtischen Raum gibt das Beispiel der geplanten Errichtung eines Denkmals für Richard Holtze. Im Jahr 2004, sieben Jahre bevor der eingeebnete evangelische Friedhof als Platz nach ihm benannt wurde, gab es bereits eine Initiative zur Errichtung eines Denkmals für einen der drei Stadtgründer. Im Februar 2003 initiierte die Regionalausgabe der Gazeta Wyborcza eine Diskussion darüber, ob und wie an die beiden Stadtgründer Holtze und Grundmann erinnert werden sollte. Die Namen Holtze und Grundmann standen in der Debatte synonym für die Forderung nach einem veränderten Umgang mit der Vergangenheit der Stadt. Dieser sei bei den Verantwortlichen im Magistrat noch immer von einer unbestimmten Angst gegenüber Menschen geprägt, die seit über 100 Jahren tot seien und deren Gräber nicht mehr existierten. Der Journalist Bartosz T. Wieliński von der Gazeta Wyborcza stellte im Juli 2003 dazu fest: „Seit längerer Zeit meidet die Stadtverwaltung von Katowice Gespräche über Holtze oder Grundmann wie der Teufel das Weihwasser. Auf den Gängen des Magistrats hören wir: Warum fragt ihr ständig nach diesem Denkmal? Seid ihr etwa Deutsche?“¹⁶³ Wieliński erkannte darin ein großes Paradox, schließlich sei Katowice eine der wenigen großen Städte Polens, die ihre Gründungsväter eindeutig benennen und ihre Stadtgeschichte auf das Wirken von reellen Personen zurückführen könne – im Gegensatz etwa zu Krakau, das sich auf mythische Figuren wie König Krak berufen müsse.Warum, so Wieliński weiter, fiele es den Stadtoberen so schwer, ihren Vorgängern im Amt angemessen zu gedenken, deren Wirken auch für den gegenwärtigen Erfolg von Katowice noch von grundlegender Bedeutung sei? Dass eine der größten polnischen Städte sich nicht mit ihrer Geschichte auseinandersetzen wolle – wo es doch im Land so viele positive Beispiele wie etwa Breslau und Stettin gebe – schätzte der Journalist als bedenklich ein.¹⁶⁴ Die entstandene Diskussion fokussierte sich nachfolgend hauptsächlich auf die Person Richard Holtzes. Dessen Statue befand sich zwischen 1895 und dem Ende der 1920er Jahre in Katowice vor der von ihm aus eigenen Mitteln mitfinanzierten städtischen Badeanstalt. Stadtpräsident Uszok flüchtete sich in die Aussage, dass es nicht die Aufgabe der Stadtverwaltung sei, Denkmäler zu bauen, das sei nur zu Zeiten der Volksrepublik Polen der Fall gewesen. Die Initiative zu einem Denkmal müsse, so Uszok weiter, von den Bewohnern der Stadt ausgehen.¹⁶⁵ Daraufhin riefen in Katowice lebende Künstler und Intellektuelle die
Vgl. Bartosz T. Wieliński: Zły Niemiec czy głuchy prezydent? [Ein böser Deutscher oder ein tauber Präsident?], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Ebd. Vgl. Bartosz T. Wieliński: Będzie komitet [Es wird ein Komitee geben], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. .
5.2 Symbolische Repräsentationen im städtischen Raum
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Gründung eines Komitees aus, das sich mit der Errichtung des Denkmals befassen sollte. Beteiligt waren unter anderem der evangelische Bischof Tadeusz Szurman, der Komponist Wojciech Kilar und der Journalist Michał Smolorz. Der Rektor der Schlesischen Medizinakademie, Professor Tadeusz Wilczok, machte den Vorschlag, das Denkmal vor der Akademie im Zentrum von Katowice an der Warschauer Straße (ul. Warszawska) errichten zu lassen. Gegenstimmen zu diesem Vorschlag kamen unter anderem von einer Gruppe von Veteranen der Heimatarmee.¹⁶⁶ Sie argumentierten, dass an einer Stelle, an der Andrzej Mielęcki, ein polnischer Arzt und Aufständischer, gestorben sei, kein Platz sei für die Erinnerung an den deutschen Stadtgründer. Zwar konnte der Historiker Piotr Greiner von der Schlesischen Universität in Katowice keinen Zusammenhang zwischen dem Ort, an dem Mielęcki im Jahr 1920 von Deutschen getötet wurde und dem deutschen Stadtgründer Richard Holtze erkennen, der bereits 1891 gestorben war.¹⁶⁷ Die Stadtverwaltung entschied sich im Konflikt zwischen der Erinnerung an den polnischen Arzt und Aufständischen und dem deutschen Stadtgründer letztlich für das polnische Narrativ. Michał Smolorz, Journalist und Mitglied des Komitees zur Errichtung des Holtze Denkmals, berichtete über die symbolische Besetzung des für das Holtze-Denkmal vorgesehenen Ortes, dass die Stadtverwaltung diese Stelle in einer hastigen Aktion, quasi über Nacht, mit dem Denkmal für Andrzej Mielęcki „besetzen“ ließ.¹⁶⁸ Das Denkmal für Richard Holtze entstand schließlich im Jahr 2005 am ehemaligen Gebäude der städtischen Badeanstalt, seinem ursprünglichen Standort. Eine kleine Büste mit einer Aufschrift, die ihn als Mitbegründer der Stadt kenntlich macht und neben seinen Lebensdaten an seine Funktion als erster Vorsitzender des Stadtrates erinnert, wurde an dem Haus angebracht. Ersichtlich wird aus der
Ein Protestbrief ging bei der Stadtverwaltung ein, der von zwei Organisationen verfasst wurde: Vom Weltverband der Soldaten der Heimatarmee (Światowy Związek Żołnierzy AK) und dem Verband der Veteranen der Republik Polen und der ehemaligen politischen Häftlinge (Związek Kombatantów RP i Byłych Więźniów Politycznych). Vgl. Bartosz T. Wieliński: Kombatanci protestują przeciwko odbudowie popiersia Holtzego [Veteranen protestieren gegen die Errichtung der Holtze-Büste], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice vom . . , URL http://kato wice.gazeta.pl/katowice/,,.html (Zugriff . . ).Wieliński berichtet weiter, die Veteranenverbände hätten bereits gegen die Errichtung des Denkmals für Friedrich Wilhelm von Reden (Direktor des Höheren Bergbauamtes in Breslau und preußischer Oberberghauptmann) in Königshütte protestiert. Die Argumentation Greiners stammt aus dem gleichen Artikel von Bartosz T. Wieliński. Vgl. ebd. Vgl. Interview mit Michał Smolorz, Katowice, Januar . Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin.
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5 Annäherungen an öffentliche Geschichte in Katowice
Inschrift auch, dass die Stadtverwaltung die Tafel zum 140. Jahrestag der Verleihung der Stadtrechte angebracht hat. Piotr Uszok, so zitiert die Gazeta Wyborcza zur Einweihung der Büste, sah in ihr einen Ausdruck der Dankbarkeit gegenüber Holtze: Gleichzeitig erinnern wir an die historische Wahrheit: Richard Holtze war Deutscher und deshalb verschwand sein Name aus den Schulbüchern im Nachkriegspolen. Doch Katowice ist dank der Anstrengungen vieler entstanden, die hier gelebt und ihre Spuren hinterlassen haben: Polen, Deutsche, Tschechen und Juden.¹⁶⁹
Die bescheidene Büste an der Wand des Gebäudes, anstelle einer raumgreifenden Skulptur war das Ergebnis einer über zwei Jahre (2003 – 2005) dauernden intensiven Diskussion in Katowice. Die Kontroverse um das Holtze-Denkmal kann als wichtiger Schritt zu einem veränderten Umgang mit der multinationalen und multiethnischen Vergangenheit der Stadt gewertet werden. Zu einem grundlegenden Wandel der Repräsentation von Geschichte im öffentlichen Raum hat sie jedoch nicht geführt, wie die Analyse der Erzählstränge im öffentlichen Raum sowie der symbolischen Repräsentation, die in den Jahren 2011und 2012 durchgeführt wurde, gezeigt hat.
Piotr Uszok zitiert nach Kazimierz Kutz/Angelika Swoboda: Dziękujemy, Doktorze, mądry polityk [Vielen Dank Herr Doktor, ein kluger Politiker], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. .
6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte: historische Narrationen in den beiden Geschichtsmuseen von Katowice 6.1 Museen als Ort historischer Repräsentation und Sinnstiftung Geschichtsmuseen gehören mit ihren Dauer- und Sonderausstellungen zu den Zentraleinrichtungen öffentlicher Geschichtspräsentationen. Dabei sind historische Museen zumeist hochselektive und partikulare Einrichtungen. Selektiv sind sie aufgrund ihrer Sammlungen und Bestände, für die gezielt kulturelle Produkte ausgewählt werden, die zur offiziellen Bewahrung auch in Hinblick auf die Nachwelt einen Wert verkörpern und die anschließend ausgestellt werden können. Partikular sind sie insofern, als die für die Sammlung ausgewählten Objekte nie die Totalität einer Vergangenheit spiegeln, sondern selbst stets nur einen bestimmten Ausschnitt der Vergangenheit verkörpern. Das Zurschaustellen von Objekten aus dem Fundus der auf Selektion und Partikularität beruhenden Sammlungen verlangt zudem einen weiteren Akt der Selektion, an dessen Ende das Konstrukt einer historischen Ausstellung, einer Narration über die Vergangenheit, steht. Geschichtsmuseen sind somit Orte der Repräsentation, aber auch der Produktion und Verbreitung von historischem Wissen. Fragen der Repräsentation gehen einher mit dem Aspekt des Einschreibens von Bedeutung, aber auch der Anerkennung von Identitäten. Sharon Macdonald beschreibt die Institution Museum mit dem Begriff eines „etablierten Identitätsraumes“, der durch „Architektur, räumliche Anordnung und Inszenierung sowie [eine] durch diskursive Kommentare geformte Sprache der Faktizität und Objektivität, des gehobenen Geschmacks und autoritativen Wissens“¹ bestimmt wird. So gesehen sind Museen Agenturen der Identitätspolitik, die vor allem durch ihre Ausstellungen das Geschichtsbild einer Mehrheitsgesellschaft formen und stützen, während Minderheiten der „unter- und missrepräsentierten Identitäten“ um Anerkennung in den musealen Darstellungen und Räumen ringen.² Der Ethnologe Eric Gable ist der Ansicht, dass Repräsentationen in Form von Ausstellungen, Filmen oder Büchern immer einigen schaden, während sie anderen helfen, indem sie bestimmte Vorstellungen naturalisieren und bestimmte Sichtweisen privilegieren.³ Hinter die-
Vgl. Macdonald, Museen erforschen (), S. . Ebd., S. . Vgl. Gable, Ethnographie (), S. .
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
ser Perspektive auf Ausstellungen als Repräsentationen verbirgt sich eine analytische Frage, die dem Feld der Ethnologie zuzuordnen ist: Wie kommen Entscheidungen darüber zustande, was öffentlich ausgestellt werden soll, und wer sollte an diesem Prozess beteiligt sein? Abstrakter formuliert steht dahinter die Frage danach, wie Museen oder Ausstellungen „produziert werden“. Die Aufmerksamkeit wird somit auf einen Aspekt gelenkt, der im Folgenden diskutiert werden soll: Wie verlief der Produktionsprozess dessen, was schließlich als Vorstellung über den Verlauf der Stadtgeschichte von Katowice in den städtischen (Geschichts)museen zur Ausstellung gebracht wurde? Museen werden durch eine solche Betrachtung zu Orten gesellschaftlicher Sinnstiftung, deren Ausstellungen als historische Sinnangebote angesehen werden können.⁴ Für die Dauer einer Ausstellung bringen Museen eine Lebenswirklichkeit, die entweder weiter zurückliegt oder erst kürzlich vergangen ist, wieder zur Anschauung und zu sinnlicher Präsenz. Dafür präsentieren Museen anstelle von Kopien oder Rekonstruktionen möglichst Originale, die „historische Substanz verkörpern und als Erinnerungsträger eine besondere Aura entfalten“.⁵ Folglich sind Museen Orte der Repräsentation und der Performanz, der Inklusion und Exklusion, der Inszenierung von Identität und Alterität. Ausstellen im spezifischen Zusammenhang eines Museums bedeutet, etwas zur Anschauung bringen und zu zeigen, etwas mit jemandem zu teilen, mithin zur sinnlichen Wahrnehmung zu bringen, zur Verfügung zu stellen. Die museale Ausstellung kann als Botschaft verstanden werden, die auf der Basis der Sammlungen des Museums beruht. Der Museologe Friedrich Waidacher weist darauf hin, dass das Darstellungsmittel einer Ausstellung in erster Linie die Musealie selbst sein sollte, die nicht als beliebiges Objekt verstanden wird, sondern als „Dokument einer bestimmten Wirklichkeit und Vertreter von gesellschaftlichen Werten“.⁶ Ausstellungen stellen nicht nur zur Schau, sie vermitteln auch wissenschaftlich abgesicherte Belege für das zur Schau Gestellte. Dabei stellt jede museale Ausstellung eine eigene Wirklichkeit dar, eine an die Gegenwart und Örtlichkeit gebundene Form der Interpretation. Als museale Ausstellung gilt daher die interpretierende Präsentation bestimmter Sachverhalte mit Hilfe von authentischen Belegstücken.⁷ Eine museale
Vgl. Kristiane Janeke: Zeitgeschichte in Museen – Museen in der Zeitgeschichte,Version: ., in: Docupedia-Zeitgeschichte, URL http://docupedia.de/zg/Zeitgeschichte_in_Museen?oldid= (Zugriff . . ). Vgl. Aleida Assmann: Konstruktion von Geschichte in Museen, in: Aus Politik und Zeitgeschichte: Museen und Gesellschaft, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament () URL http://www.bpb.de/apuz//konstruktion-von-geschichte-in-museen (Zugriff . . ). Vgl. Friedrich Waidacher: Handbuch der Allgemeinen Museologie. Wien , S. . Ebd., S. .
6.1 Museen als Ort historischer Repräsentation und Sinnstiftung
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Ausstellung zeigt und erzählt, sie ist Schaustellung und Interpretation, sie präsentiert Musealien und ihre deutende Erklärung, wobei Erkenntnisse nicht nur vermittelt, sondern durch die Musealien bewiesen werden sollen.⁸ Museale Präsentationen basieren immer auf einer erneuten, sekundären Selektion, indem aus einem Sammlungsfundus jene Objekte ausgewählt werden, die für den Zusammenhang der Ausstellung besondere Aussage- und Beweiskraft besitzen. Dabei darf ein museales Objekt nicht allein wegen seiner historischen Bedeutung ausgestellt werden, es muss immer auch etwas für die Gegenwart bedeuten: „Bestimmend für die museale Präsentation ist, dass sie auf Sammlungen beruht, deren Objekte wegen ihrer intersubjektiven Bedeutung nach museologischen Grundsätzen selegiert und musealisiert worden sind.“⁹ Das Ausstellen und Interpretieren von Musealia dient dazu, in einem kommunikativen Akt Sinn zu transportieren, den die Besucher erkennen und ablesen sollen. Die Vermittlung von Sinn, auf den der gesamte Planungsvorgang zur Erstellung einer Ausstellung ausgerichtet ist, ist das oberste Ziel musealer Kommunikation.¹⁰ Dieser Charakterisierung zufolge sind historische Ausstellungen Narrationen, die historische Sinnstiftung für einen breiten Rezipientenkreis betreiben und für diesen aufgrund der Musealia einen hohen Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch behaupten. Sie sind in hohem Maße konstruiert, inszenieren Geschichte durch eine Choreografie sowie Raum- und Lichtelemente, sie ordnen Objekte, weisen ihnen einen Platz zu, heben damit hervor oder stellen zurück. Sie lenken die Aufmerksamkeit der Betrachter und den Sinnbildungsprozess, der bei jedem einzelnen Besucher einer Ausstellung abläuft. Ausstellungen rufen eine an sich vergangene und verlorene Vergangenheit als „Kunde von fremder Erfahrung“¹¹ wieder ins Bewusstsein. Diese „Kunde“ vollzieht sich in Museen und Ausstellungen anhand zweier Kategorien: der Vergangenheit als Inhalt und der Geschichte als Ausdruck. Das Museum macht damit die Vergangenheit nicht wieder lebendig, erzeugt aber Geschichtserlebnisse und Geschichtserfahrungen neu. Als hochkomplexe Konstrukte können historische Ausstellungen analysiert und dekonstruiert werden – sowohl auf der Ebene der Inszenierung als auch der Vermittlung textlich gefasster Inhalte. Stadtmuseen spezialisieren sich als Untergruppe historischer Museen auf den Bereich der städtischen Geschichte, sie können somit als entscheidender Ort gelten, an dem Objekte aus der Vergangenheit der Stadt gesammelt und in-
Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Vgl. Reinhart Koselleck: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frankfurt/ Main , S. .
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
ventarisiert, diese aber auch erforscht und gezeigt werden. Die Ausstellungen städtischer Geschichtsmuseen formieren und vermitteln ein als repräsentativ geltendes Geschichtsbild einer Stadt. Entlang der im Methodenteil eingeführten Analyseschritte der äußeren und inneren Quellenkritik wird die Dauerausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Katowice (Muzeum Historii Katowic) auf das in ihr vermittelte Geschichtsbild, sowie die Art der Sinnstiftung, befragt. Die Museumsanalyse schließt damit an die Ergebnisse des vorausgegangenen Kapitels an. Die Analyse der Erzählstränge im städtischen Raum hat gezeigt, dass das architektonische Ensemble in der Gegenwart die verschiedenen Entwicklungsperioden zwischen deutscher und polnischer Vergangenheit der Stadt seit Mitte des 19. Jahrhunderts repräsentiert. Auf symbolischer Ebene herrscht im Stadtraum hingegen eine fast ausschließlich polnische Erzählung über die städtische Vergangenheit vor. Wie wird nun im Stadtgeschichtlichen Museum mit der wechselvollen Vergangenheit der Stadt umgegangen? Wann beginnt die Stadtgeschichte in der Narration des Museums? Welche Erzählperspektive wird für die historische Dauerausstellung der Stadtgeschichte gewählt, und welche Aspekte mit welcher Intention besonders hervorgehoben? Ist das spannungsvolle Verhältnis zwischen Deutschland und Polen der Ausgangspunkt für das Erzählen über die Vergangenheit von Katowice, oder wird eine Geschichte aus polnischer Perspektive erzählt? Neben dem Stadtgeschichtlichen Museum ist das Schlesische Museum (Muzeum Śląskie) eine der zentralen Einrichtungen, die sich in Katowice mit der Vergangenheit beschäftigen. Zwar steht hier nicht explizit die Stadtgeschichte im Mittelpunkt, das Schlesische Museum beschäftigt sich in einem breiter angelegten Fokus mit der gesamten Region Oberschlesien. Als Woiwodschaftshauptstadt sowie als Standort des Museums spielt Katowice dennoch eine besondere Rolle. Abschließend wird daher auch auf das Schlesische Museum eingegangen und danach gefragt, welches Bild der Geschichte von Katowice dort vermittelt wird.¹²
Auch das Museum der Erzdiözese Katowice hat eine kleine historische Sammlung. Der Schwerpunkt des Museums liegt jedoch auf religiöser Kunst. Es wird daher nicht mit in die Analyse eingeschlossen.
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
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6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum Ausstellungsanalyse I: äußere Quellenkritik Die äußere Quellenkritik beginnt mit der Umgebung einer Ausstellung, mithin dem Museum, in dem sie entstanden ist und gezeigt wird.¹³ Das Stadtgeschichtliche Museum wurde im Jahr 1981 gegründet, besteht als selbstständige Institution seit 1983 und ist somit eine vergleichsweise junge Einrichtung. Zum Zeitpunkt der Untersuchung war das Museum eine eigenständige Kultureinrichtung der Stadt Katowice, die das ihr seitens der Stadt zugesprochene Budget sowie die erwirtschafteten Einnahmen selbständig verwaltete. Der Museumsdirektor war mit weitreichenden Befugnissen ausgestattet und trug die Verantwortung für alle inhaltlichen, organisatorischen und finanziellen Belange und Entscheidungen. Das Museum beschäftigte 29 Mitarbeiter, die in verschiedenen Abteilungen und an verschiedenen Standorten arbeiteten.¹⁴ Ein eigens entworfenes und den musealen Zwecken angepasstes Gebäude besaß das Museum zum Zeitpunkt der Studie nicht, es war in einem Gründerzeitbau in der Szafranek-Straße 9 (ul. Szafranka), einer kleinen Seitenstraße am westlichen Ende der aus deutscher Zeit stammenden Innenstadtbebauung, untergebracht. Das als Wohnhaus konzipierte, viergeschossige Gebäude aus dem Jahr 1910 diente vollständig den Zwecken des Museums, hier waren sowohl die historischen Sammlungen sowie die beiden Dauerausstellungen zur Geschichte der Stadt untergebracht, aber auch der administrative Bereich, etwa die Museumsleitung.¹⁵ Von außen machte das Gebäude den Eindruck eines intakten Wohnhauses; dass sich hier das Stadtgeschichtliche Bei der äußeren Quellenkritik wird das Umfeld analysiert, in dem sich die Ausstellung befindet. Im Fall des Stadtgeschichtlichen Museums gehört dazu die organisatorische Verfasstheit des Museums, seine Entstehungsgeschichte, Architektur sowie inhaltliche Zielsetzungen und die Sammlungsschwerpunkte. Ferner wird bei der äußeren Quellenkritik auf wichtige Faktoren für die Entstehung der Ausstellung verwiesen. Ausführlich zur äußeren Quellenkritik siehe Kapitel . Dekonstruktion historischer Narrationen II: Museumsanalyse. Vgl. Statut Muzeum Historii Katowic w Katowicach [Statut des Stadtgeschichtlichen Museums Katowice], Załącznik do Uchwały Nr XXXV// Rady Miasta Katowic z dnia marca (Anhang zum Beschluss Nr. XXXV// des Stadtrates von Katowice am . März ). Neben Räumlichkeiten für pädagogische Veranstaltungen wie Filmvorführungen oder Vorträge befand sich im Parterre des Gebäudes auch die Publikationsabteilung des Museums mit einer Verkaufsstelle für die im Rahmen der Museumsarbeit entstandenen Publikationen über Katowice. Einen Museumsshop mit vielgestaltigem Angebot gab es zum Untersuchungszeitpunkt nicht, die Publikationen hingen in Glasvitrinen verschlossen an den Wänden aus, bei Bedarf wurden sie von einem Mitarbeiter aus dem Magazin zum Verkauf bereitgestellt. Auch ein gastronomisches Angebot, etwa ein Museumscafé, das zum Ausruhen und Reflektieren nach dem Rundgang durch das Museum einlädt, gab es nicht.
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
Museum befand, fiel erst bei genauerem Hinsehen auf, zumal die Hinweisschilder neben der Eingangstür eher zurückhaltend gestaltet waren. Am Gebäude waren keine großformatigen Schriftzüge oder Werbetafeln angebracht, die auf Daueroder Wechselausstellungen hingewiesen hätten. Das in vielen Städten angewandte Konzept von Museen als Teil des Stadtmarketings oder als touristischer Anziehungspunkt spielte dem äußerlichen Erscheinungsbild nach für das Stadtgeschichtliche Museum keine Rolle. Als potenzieller Besucher musste man wissen, dass es das Museum gab und wo es sich befand, als Passant vermutete man hinter dieser Fassade kaum ein historisches Museum. Einzig eine Bronzefigur neben dem Eingang zog seit ihrer Enthüllung im Jahr 2007 mit ihrem freundlichen und einladenden Gesichtsausdruck die Aufmerksamkeit der wenigen Passanten auf sich. Es handelte sich um die lebensgroße Skulptur des polnischen Malers Stanisław Ignacy Witkiewicz, genannt Witkacy (1885 – 1939). Seine Präsenz am Eingang des Museums verwies jedoch nicht auf die beiden historischen Dauerausstellungen des Museums, sondern auf die 26 Bilder umfassende Porträtsammlung Die asymmetrische Dame, die der Künstler von einem Modell angefertigt hat. Die Kollektion wurde dem Museum zu Beginn seiner Tätigkeit von dem porträtierten Modell, dem die Kunstwerke seit dem Tod Witkacys gehörten, geschenkt und ist seither in seinem Besitz. Der Künstler Witkacy am Eingang des Stadtgeschichtlichen Museums verwies also darauf, dass sich das Museum nicht nur mit der Stadtgeschichte im engeren Sinne befasste, sondern über einen sehr weit gefassten Sammlungsschwerpunkt verfügte. Zu den insgesamt sechs Abteilungen gehörten zum Untersuchungszeitpunkt neben der historischen auch eine Abteilung für Kunst, Stadtethnologie, Fotografie¹⁶, die Grafische Abteilung „Paweł Steller“¹⁷ sowie die Theater- und Filmabteilung¹⁸. In den Kunstsammlungen des
Die Abteilung für Fotografie besaß neben Bildern und Dias etwa Postkarten mit Motiven aus Katowice sowie historische Fotoapparate. In der Sammlung befanden sich zudem Nachlässe, etwa Objekte von Józef Dańda ( – ), vor allem Aufnahmen mit dokumentarischem Charakter aus der Zwischenkriegszeit sowie von nach . Die grafische Abteilung des Museums beschäftigte sich in erster Linie mit dem Nachlass des Grafikers Paweł Steller ( – ), der von bis an sein Lebensende in Katowice gelebt und gearbeitet hat. Steller war sowohl in Polen als auch international anerkannt, neben seinen Grafiken umfasst die Sammlung auch zeitgenössische grafische Werke, die mit Oberschlesien in Verbindung stehen. Die Theater- und Filmabteilung befand sich nicht im Hauptgebäude des Museums, sondern in der ehemaligen Wohnung von Barbara und Stanisław Ptak. Barbara Ptak (*) hat als eine der bekanntesten polnischen Kostümbildnerinnen für eine Vielzahl polnischer Theater und Opernhäuser gearbeitet, aber auch Filmkostüme entworfen, etwa für Polanskis „Das Messer im Wasser“ (). Den Großteil ihres Schaffens hat Ptak mit ihrem Mann, einem berühmten Operettensänger,
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
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Museums befanden sich neben den Arbeiten Witkacys ferner eine Kollektion schlesischen Porzellans, Malerei und Plakatkunst aus der Zwischenkriegszeit sowie bürgerliche Alltags- und Gebrauchsgegenstände aus der zweiten Hälfte des 19. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts. Die stadtethnologische Abteilung bestand seit 1999 und konzentrierte sich seither auf die Kultur der Industriestädte Oberschlesiens mit einem besonderen Augenmerk für Katowice. Hier wurden Gegenstände der Arbeiterkultur der Bergleute und „anderer nicht elitärer Bevölkerungsschichten“¹⁹ gesammelt und erforscht. Die Abteilung beschäftigte sich mit Kulturgegenständen, die das Leben in Industriestädten dokumentieren, vor allem aber die Lebenswirklichkeit in den Fabrik- und Bergarbeitersiedlungen.²⁰ Dieses Beispiel verdeutlicht, dass die Vielfalt und Breite der Sammlungsschwerpunkte nicht allein im Hauptgebäude, das auf der Internetseite des Museums als „historisches Bürgerhaus“ bezeichnet wurde, realisiert werden konnte. Außenstellen des Museums befanden sich über das gesamte Stadtgebiet verteilt.²¹ Der hauptsächliche Zweck des Museums besteht laut seinen Statuten in der „Dokumentation der Vergangenheit von Katowice sowie der Verbreitung historischer, künstlerischer und ästhetischer Werte der Stadt als Teil des oberschlesi-
in Katowice verbracht, was das Museum mit dem Sammlungsschwerpunkt in der ehemaligen Wohnung der Künstlerin dokumentieren und würdigen wollte. Vgl. die Beschreibung der Abteilung auf den Internetseiten des Museums unter URL http:// www.mhk.katowice.pl/index.php?option=com_content&view=article&id=&Itemid= (Zugriff . . ). Teil der Sammlung dieser Abteilung sind auch die Werke der sogenannten Janower Gruppe (Grupa Janowska), einer Künstlergruppe, die naive, meist religiöse Darstellungen aus der Welt der Bergarbeiter geschaffen hat. Die Stadtethnologische Abteilung hatte ihren Sitz in enger Anlehnung an ihren inhaltlichen Schwerpunkt im Gebäude der ehemaligen Wasch- und Mangelanstalt im Zentrum der ehemaligen Arbeitersiedlung des Gieschekonzerns Nikiszowiec/Nickischschacht, außerhalb des Stadtzentrums von Katowice. Auch die grafischen Sammlungen hatten eigene Räumlichkeiten in einer Wohnung an der Kościuszkostraße (ul. Kościuszki). Zu den Außenstellen zählte ferner die Erzengel Michael Holzkirche im Kościuszko-Park, die vor dem Zweiten Weltkrieg aus dem Dorf Syrynia in der Woiwodschaft Schlesien nach Katowice gebracht wurde. Im Jahr wurde auf Anregung des Stadtpräsidenten in der Kirche eine Außenstelle des Stadtgeschichtlichen Museums eingerichtet. Die Kirche stammt vermutlich aus dem Jahr und erfüllt auch gegenwärtig noch ihre sakrale Funktion, gehört aber dem Museum. Jede dieser Einzeleinrichtungen hat eigene Öffnungszeiten, einen Überblick darüber sowie über die Lage der Einrichtungen vermittelt die Internetseite des Museums, auf der eine Karte die Außenstandorte verzeichnet. Vgl URL http:// www.mhk.katowice.pl/ (Zugriff . . ). Auch die obigen Angaben zur den Sammlungsschwerpunkten stützen sich auf die Angaben der Internetseite des Museums.
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
schen, polnischen sowie europäischen Erbes“.²² Dieser Aufgabe soll das Museum zuvorderst gerecht werden durch das Sammeln und Konservieren von Kunstwerken sowie historischen Erinnerungsstücken, dokumentarischem Material, Büchern und Archivalien, die mit dem Tätigkeitsbereich des Museums in Verbindung stehen und entweder käuflich erworben wurden oder auf dem Weg der Schenkung, der Übertragung als Deposit oder zu Forschungszwecken in den Besitz des Museums gelangt sind.²³
Weiterhin gehört es zu den zentralen Aufgaben des Museums, Wissen über die Vergangenheit von Katowice in Polen, aber auch im Ausland zu verbreiten. Ferner wurden die Inventarisierung und Katalogisierung der Sammlungen sowie deren Erforschung genannt, gefolgt von Publikations-, Bildungs- und Informationstätigkeiten. Erst an achter Stelle der Statuten wird die Ausstellungstätigkeit des Museums erwähnt, die nicht nur in Polen, sondern auch im Ausland stattfinden soll. Weiterhin werden die Organisation von Konferenzen sowie die Bereitstellung der Sammlungen zu Forschungszwecken aufgezählt. Damit sind laut den Statuten die wichtigsten Bereiche der Museumsarbeit berücksichtigt: Sammeln, Konservieren, Erforschen, Ausstellen. Die Statuten besagen weiterhin, dass der Sammlungszeitraum „von der Entstehung Katowices im 16. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert“ reicht, während auf der Internetseite des Museums angegeben wird, dass die historischen Sammlungen zu Katowice und Oberschlesien das 18. bis 20. Jahrhundert umfassen.²⁴ Auf diese Diskrepanzen wird bei der Analyse der Ausstellung noch eingegangen. Im Hauptgebäude des Museums befanden sich zum Zeitpunkt der Untersuchung zwei Dauerausstellungen, die das Thema Stadtgeschichte aus verschiedenen Perspektiven und mit unterschiedlichen Herangehensweisen aufgriffen und darstellten. Die Schau Aus der Geschichte von Katowice (Z dziejów Katowic) stellte den Verlauf der Stadtgeschichte vom frühen Mittelalter bis zum Jahr 1990 in chronologischer Abfolge mit Objekten, erklärenden Texten und einigen wenigen Elementen räumlicher Inszenierungen dar. Die Ausstellung befand sich ganz oben, in der dritten Etage des Museumshauptgebäudes. Als Besucher musste man die Anstrengung auf sich nehmen und die Holztreppen des Gebäudes bis ganz nach oben steigen, um die Ausstellung zu sehen. Über einen Fahrstuhl verfügte das Vgl. Statut Muzeum Historii Katowic w Katowicach, Załącznik do Uchwały Nr XXXV// Rady Miasta Katowic z dnia marca [Statut des Stadtgeschichtlichen Museums Katowice in Katowice, Anhang zum Beschluss Nr XXXV// des Stadtrates vom . März ], Abschnitt Zakres działania [Tätigkeitsbereich], § . Ebd. Vgl. die Internetseite des Museums unter URL http://www.mhk.katowice.pl/index.php?opti on=com_content&view=article&id=&Itemid= (Zugriff . . ).
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
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Gebäude nicht; für ältere Besucher konnte dieser Umstand zum Hindernis werden, für Gehbehinderte war er ein definitives Ausschlusskriterium. Die Ausstellung war nicht nur ganz oben im Gebäude untergebracht, sie befand sich zudem hinter verschlossenen Türen, die für jeden Besucher speziell geöffnet wurden – auch zu den regulären Öffnungszeiten des Museums. Ferner wurde für jeden Besucher die Beleuchtung eingeschaltet, und eine Person aus der Bildungsabteilung im Parterre nach oben in die Ausstellungsräume beordert, um den Gast in den Ausstellungsräumen nicht gänzlich allein zu lassen. Diese Situation erweckte den Eindruck, als ob man etwas zu sehen bekomme, was gut behütet und versteckt ist – und deshalb auch wenig frequentiert wird.²⁵ Die ursprüngliche Version der Ausstellung wurde im Jahr 1986 eröffnet. Nach den politischen Umbrüchen 1989/90 wurde sie mehrfach leicht, im Jahr 2005 jedoch grundlegend überarbeitet und hatte in dieser Form bis zum Jahr 2015 Bestand. Die erste Ausstellungsversion aus den 1980er Jahren zeigte die Zeitgeschichte bis zum Jahr 1945²⁶; die zum Untersuchungszeitpunkt zu sehende Schau bezog auch die Nachkriegszeit bis zum Jahr 1990 mit ein. Verantwortlich für die letzte Überarbeitung der Ausstellung im Jahr 2005 war Dr. Jacek Siebel (*1970).²⁷ Der an der Universität in Katowice ausgebildete Historiker kam im Jahr 1996 ans Museum und arbeitete als Leiter der historischen Abteilung. Zwischenzeitlich wechselte er zum Bergwerk Guido (Kopalnia Guido), einem Museumsbergwerk in der Nachbarstadt Zabrze.²⁸ Nachdem die langjährige, seit der Gründung des
Sooft ich im Museum war, sei es, um die Ausstellungen zu sehen oder zu Gesprächen mit dem Direktor bzw. der Direktorin, war ich die einzige Besucherin der Ausstellung. Das heißt aber nicht, dass das Museum nicht besucht worden wäre. Im Parterre des Gebäudes hielten sich häufig Schulklassen auf, oder es fanden Veranstaltungen der Seniorenakademie statt. Die Ausstellungsräume in den oberen Etagen wirkten im Vergleich dazu verwaist. Dieser Eindruck lässt sich mit den Zahlen der Besucherstatistik untermauern. Im Jahr haben insgesamt etwa Personen das Museum mit all seinen Abteilungen besucht. Davon sahen sich Personen die historische Dauerausstellung im Hauptgebäude an. Die Auskunft über die Besucherstatistik stammt von der Leiterin der historischen Abteilung des Museums, Joanna Tofilska. Vgl. Interview mit der langjährigen Direktorin des Museums, Jadwiga Lipońska-Sajdak, die das Museum in den Jahren bis geführt hat. Interview vom Mai , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Siehe dazu auch den Ausstellungskatalog der ersten Ausstellung zur Stadtgeschichte. Vgl. Joanna Starnawska: Dzieje Katowic ( – ) [Die Geschichte von Katowice ( – )]. Katowice . Auf der Internetseite wird zusätzlich Dr. Halina Gerlich als Kuratorin für den ethnographischen Saal angegeben. Sie wurde während des Gespräches mit Jacek Siebel jedoch nicht als Kuratorin erwähnt. Bei Zabrze wird auf die Nennung der deutschen Bezeichnung Hindenburg verzichtet. Die Dörfer, aus denen sich Zabrze entwickelte, waren überwiegend mit diesem slawischen Ortsnamen verbunden. wurde Zabrze zu Ehren des Generalfeldmarschalls Paul von Hindenburg in
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Museums tätige Direktorin Jadwiga Lipońska-Sajdak in den Ruhestand ging, kehrte Siebel im Jahr 2013 als neuer Direktor an das Stadtgeschichtliche Museum zurück. Als Leiter der historischen Abteilung war er im Jahr 2005 hauptverantwortlich für die Neugestaltung der Dauerausstellung zur Stadtgeschichte, die bis dahin trotz Anpassungen und Umbauten noch maßgeblich auf der in den 1980er Jahren entstanden Schau Der Weg Katowices in die Volksrepublik Polen basierte. Den Anstoß für die Überarbeitung der alten, den veränderten politischen Rahmenbedingungen nach 1989 nur oberflächlich angepassten Ausstellung gab nicht nur das Bedürfnis, dieses Provisorium zu beenden, sondern vor allem ein Loch im Museumsdach. Dieses fügte der Ausstellung durch einen Wassereinbruch erheblichen Schaden zu. Siebel berichtete in einem Interview im März 2014 zu diesem Vorfall, dass „die Ausstellung dann lange geschlossen war. Wir haben sie innerhalb weniger Monate überarbeitet und neu eröffnet, in einem ganz neuen Arrangement.“²⁹ Der Ablauf des Prozesses der Überarbeitung und Neueröffnung ist aus heutiger Perspektive nur noch schwer zu rekonstruieren, da sich nach Aussage Siebels keine schriftlichen Aufzeichnungen der Überarbeitungsphase erhalten haben: Das Drehbuch [für die Überarbeitung der Ausstellung, JT] hatte ich damals von A bis Z im Kopf. Ich habe Notizen gemacht, was wo verändert, ab- und umgehängt werden muss, aber das Drehbuch an sich hatte ich im Kopf. Ich habe das aus dem Gedächtnis gemacht, und das ist gar nicht negativ gemeint, ich hatte einfach keine Zeit, das aufzuschreiben.³⁰
Für eine lange Konzeptionalisierungs- und Diskussionsphase schien bei der Umgestaltung der Ausstellung im Jahr 2005 keine Zeit gewesen zu sein. Diese Interviewpassage verdeutlicht neben der Art des Vorgehens bei der Umarbeitung ferner, dass Siebel die wesentliche Instanz bei der Veränderung und Neugestaltungen gewesen sein muss. Als Kurator war er derjenige, der darüber entschied, was wie verändert und gezeigt werden sollte. Es muss daher davon ausgegangen werden, dass ein Großteil seiner Ideen und Konzepte zur Darstellung der Stadtgeschichte realisiert wurde. Neben dieser chronologischen Erzählung und Darstellung wichtiger Stationen der Stadtgeschichte verfügte das Hauptgebäude über eine weitere, themenorienHindenburg O.S. umbenannt. Seit hieß die Stadt wieder Zabrze. Der Ortsname Hindenburg wird nur dann angeführt, wenn historische Sachverhalte beschrieben werden, etwa die Dreistädteeinheit Gleiwitz-Beuthen-Hindenburg. Vgl. Interview mit Jacek Siebel, Kurator der historischen Dauerausstellung, seit Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums, März , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Ebd.
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
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tierte Dauerausstellung: Zwei der ehemaligen Wohnungen des Mietshauses wurden als bürgerliche Wohnungen unter dem Titel Bürgerliche Interieurs (Wnętrza mieszczańskie) rekonstruiert. Die „modellhaften Bürgerwohnungen aus der Zeit des Umbruches vom 19. zum 20. Jahrhundert“ zeigten anhand der Inneneinrichtungen die Lebensverhältnisse einer sehr wohlhabenden Bürgerfamilie³¹ sowie einer Familie, die aufgrund ihrer finanziellen und sozialen Stellung der bürgerlichen Mittelschicht zugerechnet wurde.³² Sowohl die Ausstellung zur Stadtgeschichte als auch die Bürgerwohnungen sind im Museum selbst konzipiert und erstellt worden. Es waren ausschließlich Mitarbeiter des Museums beteiligt, und die Objekte stammten aus den eigenen Sammlungen. Zur äußeren Quellenkritik gehört im Falle des Stadtgeschichtlichen Museums zwangsläufig ein Blick in die ungewöhnliche Geschichte des Hauses. Katowice konnte bei der Eröffnung des Museums im Jahr 1981 nicht auf eine lange Tradition als Museumsstandort zurückblicken. Als Katowice in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gegründet wurde, „war die Stadt zu jung für die Eröffnung eines eigenen Museums, alles war noch viel zu gegenwärtig, um es zu archivieren“.³³ Während in den älteren oberschlesischen Städten, etwa in Gleiwitz oder Ratibor, bereits Ende des 19. Jahrhunderts Museen eröffnet wurden, entstand ein Museum in Katowice erst in der Zwischenkriegszeit. Die Gründung des Schlesischen Museum, das 1939 zwar fertiggestellt war, aber nicht mehr eröffnet werden konnte, war als politischer Akt zu verstehen. Das Haus sollte nach der Übernahme der Stadt durch den polnischen Staat im Jahr 1922 die „wahre“ Geschichte dieser Region dokumentieren.³⁴ Die Nationalsozialisten zerstörten das für seine Zeit hochmoderne Gebäude nach ihrem Einmarsch bis auf die Grundmauern; nach 1945 wurden, wiederum politisch motiviert, Versuche eines Wiederaufbaus des Gebäudes unterbunden. Im nunmehr kommunistischen Polen sollte die neue Woiwodschaftshauptstadt „frei von einer ‚schlechten Vergangenheit‘ sein, zu der
Dieser Teil der Ausstellung trug den Titel Im Bürgerhaus. Alltag und Feiertag (W kamienicy mieszczańskiej. Codzienność i odświętność). Dieser Teil der Ausstellung trug den Titel Bei den Nachbarn, in den Zimmern und der Küche (U sąsiadów, na pokojach i w kuchni). Die Idee zur Rekonstruktion der Bürgerwohnungen ergab sich laut der Gründungsdirektorin Jadwiga Lipońska-Sajdak aus der Zuweisung dieses Bürgerhauses an das Museum bereits, als es seine Tätigkeit aufnahm. Eröffnet werden konnte die erste Ausstellung bürgerlicher Wohnkultur jedoch erst im Jahr . Die zweite folgte im Jahr . Vgl. Interview Lipońska-Sajdak, Katowice, , sowie Interview Siebel, Katowice, . Vgl. Jadwiga Lipońska-Sajdak: Powstanie i rozwój Muzeum Historii Katowic [Die Entstehung und Entwicklung des Stadtgeschichtlichen Museums Katowice], in: Antoni Barciak (Hg): Katowice w . rocznicę uzyskania praw miejskich [Katowice zum . Jahrestag der Verleihung der Stadtrechte]. Katowice , S. – , hier S. . Ebd., S. .
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die Zugehörigkeit zu Deutschland, aber auch zum Polen der Sanacja-Zeit gehörte“.³⁵ Die Stimmen der wenigen Intellektuellen, die einen Wiederaufbau des Schlesischen Museums in Katowice forderten, verhallten ungehört. Die Devise der neuen Machthaber bestand darin, die Geschichte der Stadt im Jahr 1945 völlig neu beginnen zu lassen, und historische Einrichtungen störten diese Bestrebungen. Hinzu kam, dass mit dem Oberschlesischen Museum (Muzeum Górnośląskie) in Beuthen, dem ehemaligen Oberschlesischen Landesmuseum, das nach der Teilung Oberschlesiens in der Zwischenkriegszeit auf deutscher Seite als Konkurrenzeinrichtung zum Schlesischen Museum Katowice gegründet worden war, in nächster Nachbarschaft bereits ein historisches Museum bestand.³⁶ Dennoch wurde im Jahr 1970, unter strenger Aufsicht der kommunistischen Partei, die Soziokulturelle Vereinigung Katowice gegründet, die auch über eine kleine Museumssektion verfügte.³⁷ Organisiert wurde diese Vereinigung von Personen im Ruhestand, die keine Repressalien wie etwa den Verlust des Arbeitsplatzes mehr zu befürchten hatten. Im Jahr 1972 organisierte die Vereinigung eine Heimatstube (Izba Muzealna), die vor allem aus Andenken und Gegenständen der Mitglieder der Vereinigung bestand. Dieser Schritt war insofern entscheidend, als nun in Katowice eine Anlaufstelle geschaffen war, wo die Einwohner ihre Hinterlassenschaften und Andenken abgeben konnten. Bis zu diesem Zeitpunkt schickten die Bewohner ihre Erinnerungsstücke, etwa an die Schlesischen Aufstände, beispielsweise nach Lesnica, wo ein großes Aufstandsmuseum entstehen sollte; der Stadt Katowice gingen sie somit verloren.³⁸ Auch die gesellschaftlichen Umstände hatten sich in der Regierungszeit Edward Giereks geändert.³⁹ Zu dieser Zeit wurde in die Stadt massiv investiert, ein umfangreiches Wohnungs- und Siedlungsbauprogramm wurde umgesetzt. Mit dem zunehmenden Wachstum und der gestiegenen Bedeutung der Stadt entstand auch das Bedürfnis nach neuen städtischen Institutionen, die dem veränderten Status Ausdruck verleihen sollten. Dazu gehörte unter anderem auch eine Museum. Die Kulturabteilung der Stadtverwaltung begrüßte daher die Aktivitäten der Heimatstube und konnte dieser im Jahr 1975, nach einer Genehmigung seitens der Partei, Räumlichkeiten in der SzafranekStraße 9, dem heutigen Sitz des Museums, zur Verfügung stellen. Eine 150 qm
Ebd., S. . Als Sanacja wurde das Regierungslager Józef Piłsudskis zwischen und bezeichnet. Nach dem Maiputsch forderte Piłsudski die moralische Heilung der Gesellschaft, woher sich die Bezeichnung Sanacja ableitete. Die Sanacja propagierte einen autoritären Regierungsstil. Vgl. Interview Siebel, Katowice, . Vgl. Lipońska-Sajdak, Powstanie i rozwój [Entstehung und Entwicklung] (), S. . Vgl. Interview Lipońska-Sajdak, Katowice, . Siehe dazu ausführlich das Kapitel . Dynamiken einer Transformation nach .
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
201
große Wohnung wurde den Ausstellungszwecken angepasst, und am 22. Juli 1976 konnte das Gemeinschaftsmuseum der Geschichte in Katowice (Społeczne Muzeum Historii Katowic) mit der ersten Ausstellung unter dem Titel Der Weg von Katowice in die Volksrepublik Polen (Droga Katowic do Polski Ludowej) eröffnet werden.⁴⁰ Die erste Ausstellung des Gemeinschaftsmuseums zeigte eine eigenwillige Zusammenstellung von Exponaten. Es wurde schlicht alles ausgestellt, was die Aktivisten der Heimatstube im Vorfeld hatten zusammentragen können: einige wenige Dokumente und Fotografien aus der Stadtgeschichte, Ausrüstungsgegenstände der polnischen und sowjetischen Armee aus dem Zweiten Weltkrieg, eine mechanische Druckmaschine vom Ende des 19. Jahrhunderts sowie oberschlesische Trachten. Den Abschluss der Ausstellung bildete ein großes Bild Edward Gierek inmitten von Arbeitern. ⁴¹ Im Jahr 1976 fasste der Städtische Nationalrat (Miejska Rada Narodowa)⁴² einen Beschluss, auf dessen Grundlage das Gemeinschaftsmuseum in eine staatliche Institution umgewandelt werden sollte.⁴³ Konsultationen zu den inhaltlichen Schwerpunktsetzungen des zukünftigen Museums sowie praktische Fragen der Umsetzbarkeit zogen sich bis zum Jahr 1981 hin, als das Museum in Gestalt einer Zweigstelle des Oberschlesischen Museums in Beuthen gegründet wurde.⁴⁴ Die Statuten sahen folgende Schwerpunkte vor: eine Abteilung zur Stadtgeschichte von Katowice, eine Abteilung zur Geschichte der Eisen- und Buntmetallverarbeitung, eine Abteilung zu zeitgenössischer Kunst, Archiv, Bibliothek sowie eine Abteilungen zu Bildungszwecken und künstlerischtechnische Werkstätten.⁴⁵ Die Objekte des Gemeinschaftsmuseums wurden an das neu gegründete staatliche Museum als Sammlungsgrundstock übertragen, ihre Zahl schätzte die damals als Direktorin eingesetzte Jadwiga Lipońska-Sajdak auf
Vgl. Lipońska-Sajdak, Powstanie i rozwój [Entstehung und Entwicklung] (), S. . Ebd., S. . Es handelte sich dabei um örtliche Gruppen des Nationalrats, also regionale Organe der Staatsmacht der Volksrepublik Polen. Vgl. Lipońska-Sajdak, Powstanie i rozwój [Entstehung und Entwicklung] (), S. . Die ersten Konzepte waren sehr breit angelegt und hätten in mehreren Häusern umgesetzt werden müssen. Es stand jedoch nur das Haus in der Szafranek-Straße zur Verfügung. Vorgesehen waren in den ersten Entwürfen außerdem ein Kino, ein Café, ein Restaurant, Hotelzimmer, Dienstwohnungen und ein Vereinsraum für die Vereinigung der Kunsthistoriker. Auch diese Vorschläge konnten aufgrund des begrenzten Platzangebotes nicht umgesetzt werden. Die für ein Museum grundlegenden Magazine sollten hingegen in unzureichend großen Räumlichkeiten im Keller untergebracht werden. Inhaltlich entsprachen die ersten Planungen eher dem Aufgabenfeld eines Woiwodschaftsmuseums, da nicht nur der städtische Bereich abgedeckt werden, sondern auch das Gebiet Oberschlesiens Berücksichtigung finden sollte.Vgl. Lipońska-Sajdak, Powstanie i rozwój [Entstehung und Entwicklung] (), S. . Ebd., S. .
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etwa 300.⁴⁶ Die Sammlung sollte erweitert werden, und die Bevölkerung von Katowice wurde aufgerufen, ihre Erinnerungsstücke an die Stadtgeschichte im neu entstandenen Museum abzugeben. Auf diese Möglichkeit wurden die Einwohner von Katowice mit Plakaten in der Stadt hingewiesen, und in den lokalen Zeitungen wurden Aufrufe veröffentlicht. Der Rücklauf blieb jedoch gering, und der Aufbau einer Sammlung wurde zur entscheidenden Herausforderung für das neu gegründete Haus.⁴⁷ Schwierig gestalteten sich neben den Aufrufen an die Bevölkerung auch die Versuche, Objekte für die Sammlung zu kaufen. Das Museum konnte anfänglich nicht eigenverantwortlich Objekte anschaffen, vielmehr entschied eine für die gesamte Woiwodschaft tätige Kommission über den Kauf sowie die spätere Verteilung und Vergabe der Objekte an alle Museen der oberschlesischen Verwaltungseinheit.⁴⁸ Auch war das Budget des Museums in Katowice anfangs an die Mutterorganisation, das Oberschlesische Museum in Beuthen, gekoppelt und sah nur geringfügige Posten zur Anschaffung von Objekten in der Abteilung in Katowice vor. Den grundlegenden Aufgaben eines Museums (Sammeln, Konservieren, Erforschen, Zeigen) konnte das Museum in dieser Form kaum nachkommen, was im Jahr 1982 auch die Verantwortlichen im Warschauer Ministerium für Kultur und Kunst einsahen.⁴⁹ Auf Antrag der Stadtverwaltung von Katowice wurde das Museum im Jahr 1983 zu einer selbstständigen Institution und erhielt acht neue Mitarbeiterstellen sowie ein eigenes Budget.⁵⁰ Neben der institutionellen war anfangs auch die räumliche Situation schwierig. Aus dem Wohnhaus an der Szafranek-Straße 9 mussten erst die Mieter ausziehen, anschließend musste es an die Bedürfnisse eines Museums angepasst werden. Das Gebäude war zudem von Bergbauschäden betroffen, die tiefe Risse und Spalten in der Fassade und dem Treppenhaus hinterlassen hatten. Erst im Jahr 1985 konnte die Sanierung des Hauses abgeschlossen werden. Anschließend wurde seine Aufteilung beschlossen, die in groben Zügen bis heute erhalten geblieben ist: Die dritte Etage wurde der historischen Abteilung zur Verfügung gestellt, die somit über eine Ausstellungsfläche von 200 qm für die Dauerausstellung zur Stadtgeschichte verfügte. In der zweiten Etage war eine Fläche von 190 qm für Wechselausstellungen vorbehalten, der Rest wurde der Bibliothek und administrativen Einheiten übergeben. In der ersten Etage hatte sich der ursprüngliche
Vgl. Interview Lipońska-Sajdak, Katowice, . Ebd. Ebd. Im Jahr akzeptierte das Warschauer Ministerium die vorher eingereichte Vorlage für die Statuten des Museums, die es zu einer eigenständigen Institution werden ließ. Vgl. LipońskaSajdak, Powstanie i rozwój [Entstehung und Entwicklung] (), S. . Ebd., S. .
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Zustand am besten erhalten, hier sollten zwei Bürgerwohnungen (etwa 140 und 250 qm) nachgebildet werden. Zusätzlich entstanden hier Räume für das Fotoarchiv sowie eine Werkstatt zur Bearbeitung von Fotografien.⁵¹ Problematisch gestaltete sich vor allem die Dokumentation der deutschen Geschichte der Stadt. In dem vom Gemeinschaftsmuseum hinterlassenen Fundus waren keine Objekte aus deutscher Zeit enthalten, und die Kommission zum Ankauf von Museumsstücken lehnte alle zum Kauf vorgeschlagenen Objekte aus dieser Zeit ab. Auch die am weitesten zurückliegende Geschichte der Stadt als Siedlung eines Hammerwerkes war nicht dokumentiert. Die ehemalige Museumsdirektorin berichtet über die Anfänge des Sammlungsaufbaus: Vor allem aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg, aus der preußischen Zeit, haben wir fast gar nichts, die Leute haben das weggeschmissen, weil sie Angst hatten. Außerdem gab es im Jahr 1922 einen großen Bevölkerungsaustausch, auch 1945 sind viele Deutsche gegangen.⁵²
Aufgrund fehlender Objekte in den Sammlungen, hatte sich die damalige Leiterin dazu entschieden, Exponate nachbilden zu lassen: Also blieb uns nichts anderes übrig, als Exponate nachzubilden. Wir haben zum Beispiel ein Porträt von Walenty Roździeński in Auftrag gegeben, wir haben ein Modell des Hammers anfertigen lassen. […] Auch die Porträts von Grundmann, Holtze und Winckler haben wir bei zeitgenössischen Malern in Auftrag gegeben. Denn es haben sich nur in einzelnen Büchern Bilder erhalten, und selbst wenn man diese vergrößert hätte, wären sie noch zu klein gewesen, um sie in einer Ausstellung zu zeigen. Seit 1990 kaufen wir selbstständig, und es werden langsam immer mehr Exponate. Jetzt schauen wir auch in deutschen Antiquariaten und kaufen dort. Es hat sich jedoch immer noch nicht das Gesamtbild ergeben, das wir gern hätten.⁵³
Gebessert hat sich die Situation der musealen Sammlungen erst nach 1990, seither kann das Museum im Rahmen seines Budgets selbstständig über den Kauf von Exponaten entscheiden. Die schwierigen Entstehungsbedingungen des Museums, seine räumliche Situation sowie der Zustand seiner Sammlungen bestimmen seine Arbeit sowie die Qualität seiner Ausstellungen nach wie vor. Bei der inneren Quellenkritik wird dieser Umstand noch einmal aufgegriffen werden.
Ebd., S. . Vgl. Interview Lipońska-Sajdak, Katowice, . Ebd.
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Exkurs: Die historische Dauerausstellung in den Bürgerwohnungen Zur historischen Dauerausstellung des Museums gehörten neben der chronologischen Schau Aus der Geschichte von Katowice zur Zeit der Untersuchung auch die beiden bereits erwähnten Bürgerwohnungen. Diese verfügten über einen sehr spezifischen Charakter, der sich von der chronologischen Geschichtsausstellung abhob und mit anderen musealen Mitteln arbeitete. Bei den Bürgerwohnungen handelte es sich um reine Objektausstellungen, die in den Räumen des ehemaligen Wohnhauses die Lebensverhältnisse zweier bürgerlicher Familien um etwa 1900 nachbildeten. Die Wohnungen unterschieden sich durch ihre Größe und Ausstattung. Die Wohnung der Familie aus gehobenen Verhältnissen verfügte über mehr Zimmer, wie etwa ein Herrenzimmer oder einen Salon, während die weniger wohlhabende Bürgerfamilie nur ein Wohnzimmer zur Verfügung hatte. Die einzelnen Zimmer der Wohnungen waren komplett möbliert und eingerichtet und konnten entlang eines markierten Rundgangs besucht werden.
Abb. 15: Detail aus der Ausstellung in den Bürgerwohnungen: Schlafzimmer der wohlhabenden Familie. Autor: Juliane Tomann
Dieses Ausstellungskonzept verzichtete auf jegliche Objektbeschreibungen und erklärende Textelemente, es erinnerte eher an eine ethnografische Schau als an
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eine stadtgeschichtliche Dauerausstellung. Zwar vermittelte diese rein auf sinnliche Wahrnehmung ausgerichtete Inszenierung der Wohnräume die Präsenz einer vergangenen Lebenswelt, die durch ihren Detailreichtum und die Andeutung von alltäglichem Lebensvollzug ein eindrückliches Erlebnis schuf. Die hauptsächliche inhaltliche Aussage der Ausstellungen lässt sich jedoch knapp zusammenfassen: Die bürgerliche Schicht der Stadt war wohlhabend, gut situiert und muss aufgrund dessen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung der städtischen Gesellschaft gehabt haben. Eine Erklärung oder Beschreibung des Ausgestellten fehlte jedoch, sodass dieser Eindruck vom Besucher nicht verifiziert werden konnte. Es ging hier scheinbar im Gegensatz zur chronologischen Dauerausstellung nicht darum, detaillierte Informationen über die Stadtgeschichte zu vermitteln – Kontext und Beschreibung des Ausgestellten fehlten schlicht. Ferner blieben die Objekte und ihr Arrangement in den Wohnräumen ausschließlich auf der Ebene der Vergangenheit, Gegenwartsbezüge, die dem Besucher eine Orientierung über die Bedeutung und Relevanz des Ausgestellten an die Hand gegeben hätten, wurden an keiner Stelle hergestellt. Da es sich um eine ethnografische Schau handelte, die keinerlei historische Informationen oder Einordnungen lieferte, werden die Bürgerwohnungen im Rahmen dieser Studie als Exkurs behandelt. Aus der Perspektive einer historischen Analyse ist das Vorenthalten von Informationen sowohl darüber, woher die Objekte stammen, als auch über ihre konkrete zeitliche Einordnung schwierig. Das Fehlen dieser Informationen hinterließ den Eindruck, es handele sich bei den Ausstellungsobjekten um die originalen Einrichtungsgegenstände, die sich in dem Bürgerhaus vor der Umnutzung als Museum befunden haben müssen. Die fehlenden Objektbeschreibungen und ihre Herkunft schufen eine Atmosphäre der Authentizität. Dass es sich bei den Bürgerwohnungen um eine Inszenierung handelte, die auf angekauften und durch einen Kurator arrangierten Objekten beruhte, wurde nicht ersichtlich. Die Bürgerwohnungen transportierten dafür eine umso klarere Botschaft: Katowice war in der Vergangenheit nicht nur eine Arbeiterstadt, sondern auch eine bürgerliche Metropole. Eine historisch nachvollziehbar dargelegte Begründung für diese Annahme fehlte jedoch.⁵⁴ Erklären lässt sich dieser eigenwillige Umgang mit dem Thema Bürgerlichkeit aus dem spezifischen Entstehungskontext der Ausstellung in den Bürgerwohnungen innerhalb des Museums. Das Vorhaben der Museumsdirektorin, Mitte der 1980er Jahre
Laut Aussage der gegenwärtigen Leiterin der Historischen Abteilung des Museums, Joanna Tofilska, stammte der überwiegende Teil der Möbel, die in den beiden Bürgerwohnungen gezeigt wurden, aus Katowice und anderen oberschlesischen Städten. Einige Stücke seien auch aus anderen polnischen Städte angekauft worden. Es handelte sich dabei jedoch stets im Möbel, die auch in Bürgerwohnungen in Katowice gestanden haben könnten.
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Abb. 16: Detail aus der Ausstellung in den Bürgerwohnungen: Esszimmer der Familie aus mittleren Verhältnissen. Autor: Juliane Tomann
bürgerliche Wohnungen auszustellen, traf in der Stadtverwaltung zu dieser Zeit auf wenig Gegenliebe. Bürgertum und Bürgerlichkeit waren im kommunistischen Polen als Element des Kapitalismus verpönt, und der damit verbundene deutsche Teil der Stadtgeschichte sollte möglichst nicht öffentlich thematisiert werden. Auf dem vorgesehenen Weg zur zukünftigen kommunistischen Arbeiterstadt störte dieser „bourgeoise“ Teil der Vergangenheit der Stadt. Das Museum sollte sich dementsprechend nach Willen der Stadtverwaltung vor allem der Arbeiterkultur in Katowice widmen. Die für Ankäufe von Objekten zuständige Woiwodschaftskommission weigerte sich, Möbel für eine solche Sonderausstellung zu erwerben. In der Weltanschauung des Marxismus galt das Bürgertum als überwunden und sollte folglich nicht als Kulturschöpfer oder als Grundlage der Stadtentwicklung von Katowice dargestellt werden.⁵⁵ Die Entscheidung, Bürgerlichkeit auszustellen, hat Lipońska-Sajdak in den 1980er Jahren entgegen dieser ideologischen Vorgaben ganz
Vgl. Interview Lipońska-Sajdak, Katowice, .
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bewusst getroffen. Einerseits sollte sich das Museum in Katowice dadurch von anderen Einrichtungen abheben, denn „Arbeiterwohnungen [hatte] fast jedes Museum“. Außerdem war die ehemalige Museumsdirektorin der Ansicht, dass die bürgerliche Kultur immer eine führende Rolle in Katowice gespielt habe, das Bürgertum sah sie als Kulturschöpfer an. Die Arbeiterklasse hingegen sei in Katowice niemals von entscheidender Bedeutung gewesen, sie hätte sich der bürgerlichen Kultur immer untergeordnet oder ihr gar nachgeeifert.⁵⁶ Zwar wurde bereits in den 1980er Jahren unter schwierigen Bedingungen begonnen, Objekte für die Ausstellungen in den Bürgerwohnungen anzukaufen, der Großteil der Erwerbungen konnte jedoch erst nach der politischen Wende 1989/90 getätigt werden. Fertiggestellt und eröffnet werden konnten die erste Ausstellung im Jahr 1991, die zweite folgte Ende der 1990er Jahre, berichtete die ehemalige Direktorin.⁵⁷ Am Konzept der Ausstellungen, das seinen Ursprung in den politisch-ideologischen Konstellationen der 1980er Jahre hat, wurden bis in die Gegenwart hinein jedoch keine grundlegenden Änderungen vorgenommen. Aus ihrem Entstehungskontext der 1980er Jahre heraus kann die rein objektbezogene, ethnologische Darstellung von Wohn- und Lebenswelten der bürgerlichen Schicht als Strategie betrachtet werden, diesen damals unterdrückten, unliebsamen Teil der Vergangenheit im Museum überhaupt zur Anschauung bringen zu können. Dafür wurde ein Ansatz gewählt, die Objekte und ihren Kontext nicht explizit zu beschreiben und stattdessen auf eine reine Inszenierung zu setzen. Insofern können die Bürgerwohnungen als Versuch gelten, einem für die Entwicklung der Stadt maßgeblichen Zeitabschnitt mit musealen Mitteln gerecht zu werden, der aus ideologischen Gründen im Konzept der Dauerausstellung zu dieser Zeit nicht vorgesehen war. Für die 1980er Jahre war diese Strategie bemerkenswert. In der Gegenwart muss jedoch gefragt werden, ob eine so zustande gekommene Kompromisslösung noch zeitgemäß ist. Museumsdirektor Siebel wollte dennoch an den Bürgerwohnungen als integralem Teil der Dauerausstellung festhalten, sie zukünftig sogar um ein Gästezimmer erweitern. Die fehlenden Objektbezeichnungen und Kontextualisierungen sah Siebel nicht als problematisch an. Auch die Tatsache, dass die Ausstellungen in den Bürgerwohnungen kaum weitergehende Fragen zur Verfasstheit der städtischen Gesellschaft um 1900 aufwarfen, der Zeit also, die sie thematisierten, schien für Siebel unproblematisch bzw. blieb unreflektiert. Die Sorgen des Museumsdirektors bezüglich der Bürgerwohnungen waren eher pragmatischer Natur: Sie nahmen einen
Ebd. Die Aussagen zu den Schwierigkeiten im Ankaufsprozess der Möbel für die Ausstellungen in den Bürgerwohnungen bestätigte die Leiterin der Historischen Abteilung, Joanna Tofilska.
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Großteil des im Museum ohnehin sehr knappen Raumes ein, da sie eine ganze Etage besetzten. Dennoch wollte Siebel am einmal etablierten Konzept festhalten und die Bürgerwohnungen mit weiteren Exponaten anreichern – schließlich seien sie doch „sehr schön“.⁵⁸
Ausstellungsanalyse II: innere Quellenkritik Im Mittelpunkt der inneren Quellenkritik⁵⁹ steht der chronologische Teil der Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums mit dem Titel Aus der Geschichte von Katowice. Als Ausgangspunkt für die eingehende inhaltliche Analyse der inneren Quellenkritik soll nochmals der Kurator der letzten Überarbeitung der Ausstellung im Jahr 2005, Jacek Siebel, zu Wort kommen. Er wollte mit dieser stadtgeschichtlichen Schau eine klare Botschaft zum Ausdruck bringen: „Zeigen, was am Wichtigsten war.“⁶⁰ Diese für eine Ausstellungskonzeption recht knappe leitende Grundannahme wurde von Siebel während eines im März 2014 geführten Interviews mit weiteren Thesen und Annahmen zur Geschichte von Katowice angereichert, die Einfluss auf den inhaltlichen Zuschnitt und das Erscheinungsbild der Ausstellung hatten. Zentral wichtig erschien ihm die Annahme einer Kontinuität in der Stadtgeschichte. Diese Kontinuität bezog er in erster Linie auf eine Beständigkeit der Besiedlung des heutigen Stadtgebietes, das jedoch gleichsam immer wieder von „Unterbrechungen der kulturellen Kontinuität“⁶¹ erschüttert wurde. Siebel hob etwa die kontinuierliche Besiedlung der mittelalterlichen Dörfer hervor, die auf dem heutigen Stadtgebiet lagen. Zwar wurden diese Siedlungen durch eine Migrationswelle deutscher Zuzügler ab den 1870er Jahren erschüttert, seine Vorstellung von Kontinuität gefährdeten diese Ereignisse jedoch nicht. Auch die anschließenden Wechsel staatlicher Zugehörigkeiten der Stadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellten in seiner Konzeption der Geschichte von Katowice keinen Einschnitt dar: Dann kam Polen, nach einem großen Gewitter, aber das war auch nicht so ein diametraler Einschnitt. Ein Teil der Deutschen reiste aus, ein anderer ging zu politischen Aktivitäten über, wieder andere haben sich gänzlich zurückgezogen. Dann kamen die Deutschen zurück, und
Das Zitat sowie die Aussagen dieses Abschnittes vgl. Interview Siebel, Katowice, . Zur Differenzierung zwischen äußerer und innerer Quellenkritik siehe das Kapitel . Dekonstruktion historischer Narrationen II: Museumsanalyse. Vgl. Interview Siebel, Katowice, . Ebd.
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
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die Polen flüchteten oder wurden in Lager geschickt oder sind irgendwo auf der Straße umgekommen.⁶²
Als tatsächlichen Bruch artikulierte Siebel jedoch das Jahr 1945: „Und dann kam das Jahr 1945, und das war ein gänzlicher Bruch der Kontinuität. Vorher gab es nur Schwankungen, aber 1945 wurde die Kontinuität unterbrochen.“⁶³ Er begründete die Annahme eines Bruches damit, dass die Deutschen nach 1945 „aufgehört haben zu existieren“ und ein Großteil der Oberschlesier vernichtet worden sei: „Einen Teil haben die Deutschen getötet. Ein Teil ging ins Ausland, andere wurden in die UdSSR verschleppt, und es kehrten nur sehr wenige zurück. Es blieben nur wenige Personen. Und das hat die kulturelle Kontinuität unterbrochen.“ Zusammenfassend stellte sich die Geschichte von Katowice für ihn so dar: „Die Stadt verfügt also über Kontinuität. Was die Bevölkerung betrifft, ist das schwieriger. Es gab entweder Einschnitte oder Brüche, so wie im Jahr 1945.“⁶⁴ Eine weitere Entwicklungslinie, die Siebel in der Ausstellung hervorheben wollte, war die Entwicklung der Industrie. Das Besondere an der Etablierung der Industrie sah er in Oberschlesien in einer Dualität der dörflichen und industriellen Entwicklung: Einerseits gab es bereits die Industrie, die rauchenden Schornsteine, auf der anderen Seite noch das klassische Dorf. Und diese haben nebeneinander existiert. Und die Bauern wussten das und waren seit Generationen mit dem Vorläufer der Industrie vertraut. Deshalb war es für sie leicht, später in die moderne Industrie einzusteigen, denn die moderne Industrie entwickelte sich vor ihrer Haustüre, vor ihren Augen.“⁶⁵
Aus dieser spezifischen Konstellation zwischen ländlicher Tradition und einer Vertrautheit mit der industriellen Entwicklung schlussfolgerte Siebel eine über Generationen hinweg entstandene und etablierte besondere Fähigkeit zu mechanisch-technischer Arbeit, die er bezeichnenderweise nur im oberschlesischen Dialekt als grajfka, und nicht im Standardpolnischen, benennen konnte. Die angedeutete Andersartigkeit von Stadt und Region erkannte Siebel weiterhin in der Vielsprachigkeit: „Hier sind also andere Umstände, und ich wollte das in der Ausstellung zeigen. Ich wollte zeigen, dass es hier Bauern gab, die polnisch sprachen, denn dafür gibt es jede Menge Belege. Und es gab die Besitzer, die verschiedene Sprachen gesprochen haben.“ In diese Gemengelage hinein hat die sich herausbildende Industrie durch den Zuzug weitere Personengruppen ge
Ebd. Ebd. Ebd. Ebd.
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bracht, die die spezifische Bevölkerungsstruktur begründeten. Wichtig war für Siebel, dass die ursprünglich im Stadtgebiet siedelnden Bauern polnischsprachig waren. In der Auseinandersetzung darum, ob es sich bei Oberschlesien um ein Gebiet handelt, dass „schon immer“ slawisch besiedelt war, hat er somit deutlich Stellung bezogen. Kontinuität der Besiedlung, Dualität zwischen ländlicher Tradition und industrieller Entwicklung sowie die damit zusammenhängende Migration, die eine spezifische Mischung aus Einheimischen und Zugezogenen schuf, waren die drei Hauptelemente, die Jacek Siebel als Kurator bei der Überarbeitung der Ausstellung im Jahr 2005 zum Ausdruck bringen wollte. In Bezug auf die Umsetzung dieser thematischen Schwerpunkte berief sich Siebel darauf, dass eine Ausstellung immer an einem Ideal orientiert sei, das nicht erreicht werden könne, da eine Ausstellung stets ein Kompromiss sei. Allein in der Akzentuierung könne ein Weg gefunden werden, mit diesen Herausforderungen umzugehen: „Die Kunst, etwas in einer Ausstellung zu zeigen, ist die Kunst des Akzentuierens. Es ist ganz natürlich, dass wir nach Objektivität streben und zeigen, was hier und dort und anderswo geschehen ist. Wichtig ist dabei, wo wir den Akzent setzen.“⁶⁶ Welche inhaltlichen Akzente die Ausstellung setzte und wie diese zur Anschauung gebracht wurden, steht im Mittelpunkt der weiteren Analyseschritte der inneren Quellenkritik.
Ausstellungsarchitektur, Raumkonzept und Farbdesign Dafür wird zunächst der Ausstellungsraum genauer betrachtet. Die räumliche Situation der Ausstellung kündigte sich mit den schweren hölzernen Eingangstüren bereits an: Die ehemalige Bestimmung des Gebäudes als Wohnhaus und die Nutzung ehemaliger Wohnräume als Ausstellungsfläche war in den Räumlichkeiten nach wie vor präsent. Zwar wurden alle ursprünglichen Wohnungsfenster durch Ausstellungswände verstellt, der Stuck an den Decken und das dunkle Parkett auf dem Boden, die hölzernen Türrahmen an einigen Übergängen zwischen den Sälen machten die Umgestaltung der ehemaligen Wohnräume für Ausstellungszwecke jedoch sichtbar. Angelegt war die Schau als Rundgang von aufeinanderfolgenden, etwa gleichgroßen Räumen, die durch die Zwischenwände, aus denen die Türen entfernt wurden, voneinander abgegrenzt waren. Einzig den ersten und den zweiten Saal trennte ein langer schmaler Gang, eine Art Korridor. Bis auf diesen Korridor,
Ebd.
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in dem sich an der rechten Wand nebeneinander Tafeln mit Nachbildungen von Siegeln verschiedener Gemeinden befanden, war jeder Raum einem speziellen Thema bzw. einer Entwicklung in der Geschichte der Stadt gewidmet. Diese Themen wurden bis auf den zweiten Saal, an dessen Eingang am Türrahmen die Überschrift Die Ursprünge des Hammers zu lesen war, nicht speziell benannt, sodass die Gliederung der inhaltlichen Bereiche teilweise schwer erkennbar war. Als Grundprinzip ließ sich dennoch ein chronologisches Abarbeiten der Stadtgeschichte von der Frühgeschichte bis zur Zeitgeschichte ausmachen. Die Ausstellung begann mit einer Darstellung der Geschichte des Stadtgebietes im 10. Jahrhundert und ging anschließend zu den Hammerwerken und den Siedlungen über, die im Mittelalter dort bestanden haben. Daran schloss ein ethnografischer Saal an, der die chronologische Darstellung unterbrach und die Lebenswelt der Menschen vor der Industrialisierung thematisierte. Der darauffolgende Raum griff die Chronologie wieder auf und fokussierte den Übergang vom Dorf zur Stadt, während die nächste räumliche Einheit die Stadtwerdung von Katowice in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts behandelte. Es schloss sich ein Saal zu den Schlesischen Aufständen, dem Plebiszit und dem anschließenden Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit der Stadt 1922 an. Die beiden letzten Säle thematisierten die Zwischenkriegszeit und anschließend die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis zum Jahr 1990. Die insgesamt neun Säle reihten sich eng und gedrängt aneinander; Platz für Inszenierungen oder ein abstraktes Raumnutzungskonzept blieb wenig. Durch die verstellten Fenster fiel in die Ausstellungsräume kein Tageslicht, die Beleuchtung musste daher die Sicht- und Lesbarkeit von Objekten und Dokumenten sicherstellen. Texte und Objekte wurden durch Deckenstrahler ausgeleuchtet. Die Ausstellungsarchitektur orientierte sich stark an den räumlichen Gegebenheiten und nutzte vorrangig die Wände zur Hängung von Darstellungen. Leitend schien bei der Erstellung des Raumnutzungskonzeptes der Pragmatismus sowie der Wunsch, den kleinen Raum mit möglichst vielfältigen Inhalten auszufüllen. Ausnahmen bildeten in drei Räumen durchsichtige, hohe Panels, die mit schwarzem Text bedruckt waren, direkt gegenüber dem Eingang im Raum standen und somit eine Art Sperre bildeten, die den Besucher am Weitergehen hinderte. Damit wurde das auf die Wände konzentrierte Wahrnehmungsmuster und Leitsystem für den Besucher aufgebrochen und die Aufmerksamkeit auf diese zentralen Elemente gelenkt. Ein weiteres Charakteristikum der Raumnutzung bestand darin, dass neben diesen durchsichtigen Panels die jeweils wichtigsten Objekte des Raumes in einer erhöhten Vitrine in der Raummitte platziert wurden. Andere raumgreifende Objekte, wie etwa der massive Schreibtisch des Woiwoden Michał Grażynski, fügten sich jedoch in das Ordnungsmuster entlang der Wände ein oder standen in
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Ecken gedrängt. Räumliche Eindrücke vermittelte einzig eine nachgestellte Kampfszene im Raum zu den Schlesischen Aufständen. Im Mittelpunkt der Kampfszene stand ein automatisches Maschinengewehr als beschriftetes Objekt. Dieses wurde von einer Schützenpuppe bedient, die hinter Sandsäcken und einer Kiste verbarrikadiert lag. Die Inszenierung verstellte dabei den Zugang zu den an der Wand befindlichen Tafeln und Plakaten.
Abb. 17: Beispiel der Präsentation des wichtigsten Objektes für den Raum in einer erhöhten Vitrine. Autor: Juliane Tomann
Die Ausstellungsarchitektur basierte farblich hauptsächlich auf einem dunklen Rot sowie Gelb. Auf roten erhöhten Podesten befanden sich die Vitrinen mit den wichtigsten Objekten. Rote, flach abgehobene Podeste auf dem Boden markierten auch Bereiche, auf denen sich Objekte befanden. Rot war auch eine der Farben der zahlreichen Tafeln an den Wänden, auf denen Nachbildungen von Dokumenten,
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Fotografien oder beschreibender Text untergebracht waren. Die roten Tafeln unterschieden sich in ihrer Aufmachung nicht von den gelben. Auch auf den gelben Tafeln wurden Fotografien und Textelemente nachgebildet, die sich meist auf Personen bezogen. Die roten Tafeln behandelten meist Gegenstände, Gebäude oder abstrakte Themen wie Kultur oder Wissenschaft. Bis zum Ende durchgehalten wurde diese inhaltlich begründete Differenzierung zwischen roten und gelben Tafeln nicht. Zur Ausstellungsarchitektur zählten auch große, in Holz- und Brauntönen gehaltene Vitrinen, in denen kleinteilige Objekte und Dokumente untergebracht waren.
Objekte der Ausstellung und ihre Präsentation Die Objekte der Ausstellung waren sehr vielfältig und gaben Auskunft über unterschiedliche Bereiche der städtischen Entwicklung und des Lebens in der Stadt. Sie reichten von Schriftstücken und Papiererzeugnissen, wie Ausweisen oder Zeitungen über Alltags- und Gebrauchsgegenstände aus dem häuslichen Bereich sowie dem Bergbau und der industriellen Produktion über traditionelle Bekleidungen und Uniformen, Sportgeräte, Kriegsgeräte bis hin zu Büsten und Porträts wichtiger Persönlichkeiten. Auch kartografisches Material wurde vielfältig eingesetzt. Manche Stellen des Rundgangs waren uneindeutig. So befand sich in einem der Säle etwa in der Mitte der Ausstellung ein alter Kachelofen; aufgrund fehlender Kennzeichnungen blieb unklar, ob es sich hier um ein Ausstellungsobjekt oder um eine Hinterlassenschaft der vormaligen Nutzung der Räume als Wohnung handelte. Neben den Objekten bestand die Schau zusätzlich aus Ausstellungsstücken, etwa Nachbildungen in Form von Modellen, so eines Hammerwerkes und der angrenzenden Siedlung oder einer Kirche. Diese waren als Modelle, die in der Gegenwart entstanden sind und einen bestimmten Zustand in der Vergangenheit abbilden sollen, gekennzeichnet. Aus der Beschriftung ging jedoch häufig nicht hervor, auf welcher Grundlage die Modelle entstanden waren, also auf welche Quellen sich z. B. die Vorstellung über die Gestalt der Bogutschützer Kirche stützte. Auch der Autor der Nachbildungen wurde konsequent nicht benannt. Die Präsentation der Objekte ließ eine deutliche Hierarchie zwischen einigen wenigen herausgehobenen Objekten und einer Vielzahl anderer erkennen. Es wurde bereits angedeutet, dass einige Objekte gut einsehbar, erhöht auf einem Podest und hinter beleuchteten Glasvitrinen gezeigt wurden. Kleinteilige Objekte wurden in thematischen Gruppen in großen Glasvitrinen ausgestellt,während eine Großzahl von Objekten gänzlich ohne Schutz an der Wand hing oder – wie im Fall von Trachten oder Haushaltsgegenständen – an der Wand stand. Zum Bereich der Objektpräsentation
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zählte nicht nur die Frage der räumlichen oder inszenierten Darstellung, sondern auch ihre Kontextualisierung, mithin ihre Beschriftung. Nicht alle Ausstellungsobjekte haben eine Beschreibung erhalten, viele blieben wie der oben angesprochene Kachelofen ohne jegliche textliche Erklärung. Die detaillierte Erläuterung eines Objektes ist nicht immer zwangsläufig notwendig. Lässt es sich offensichtlich in das Thema eines Raumes einordnen, etwa im Falle von Gerätschaften zum Bearbeiten von Eisen im Saal Der Ursprung des Hammers, kann unter Umständen darauf verzichtet werden. Derartige konzeptionelle Überlegungen ließen sich hinter dem Umgang mit den Objekten in der Schau jedoch schwerlich vermuten. Denn hier fehlten den Objekten nicht nur kontextualisierende Beschreibungen, in vielen Fällen gab es gar keine Angaben über ihren Ursprung, den Autor, den Fund- oder Einsatzort sowie Entstehungsdaten. Die fehlende Beschreibung von Herkunft und Entstehungszeit ließ die Objekte beliebig wirken, sie vermittelten wenig Authentizität, vielmehr Austauschbarkeit. Problematisch war auch die Differenzierung zwischen Ausstellungsobjekten und Darstellungen von Objekten. Dominiert wurde die Schau bis auf wenige Stellen nicht von den Objekten selbst, sondern von den oben erwähnten gelben und roten Darstellungstafeln. Die Differenzierung fiel deshalb schwer, da auf den Tafeln Fotografien oder Abbildungen zu einem Themenschwerpunkt zusammengestellt wurden. Die Fotografien wurden nicht auf den Tafeln angebracht; alle Abbildungen wurden als Nachbildungen direkt in die Tafel eingearbeitet, wodurch sie ihre ursprüngliche Materialität verloren. Mit den Tafeln wurden demnach nicht die Objekte selbst zur Anschauung gebracht, sondern eine thematisch gezielt arrangierte Zusammenstellung von bildlichen Darstellungen im weitesten Sinne. Die Tafeln besaßen meist eine Überschrift, häufig fehlte jedoch die Nennung der Bildquellen, des Autors oder eine Jahreszahl; teilweise verfügten diese Tafeln auch über keine textlichen Erklärungen, und die bildlichen Darstellungen standen für sich allein. Die nachgebildeten Objekte wurden so zu Sinneinheiten zusammengefügt, deren Ursprung unklar blieb, ebenso wie der Auswahlprozess und die Zusammenstellung für den spezifischen Zweck der Ausstellung. Ähnlich wurde auf den Darstellungstafeln mit schriftlichen Quellen verfahren. Teile aus Schriftstücken wurden abgedruckt, meist mit einem Datum versehen, jedoch ohne Informationen über das Dokument, aus dem der Auszug herausgelöst wurde.
Erklärende Texte und Medien Zur inneren Quellenkritik gehören auch die erklärenden Texte bzw. Medien, die in einer Ausstellung eingesetzt werden. Berührt wurde dieser Bereich bereits bei den nur in Teilen vorhandenen Beschriftungen der Objekte. Erklärende Text-
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elemente befanden sich neben den Objektbeschriftungen auch auf einigen Darstellungstafeln, vor allem aber auf den eingangs erwähnten durchsichtigen Panels, die sich jedoch nur in einigen ausgewählten Räumen befanden. Die durchsichtigen Panels lieferten größere zusammenhängende Texteinheiten, die als Einführungstexte der jeweiligen Räume die historischen Entwicklungen des betreffenden Zeitraumes chronologisch darstellten.⁶⁷ Bei der Verteilung der Textelemente über die Säle fiel ein Ungleichgewicht ins Auge.Während der Beginn der Ausstellung stark auf Texten basierte, nahmen die beschreibenden Bestandteile gegen Ende des Rundganges ab. Im ersten Saal zu den Anfängen der Stadtgeschichte wurde überwiegend mit beschreibenden Texten gearbeitet, während etwa der Saal zur Zwischenkriegszeit ohne erklärendes Panel auskommen musste und Textelemente allein in Bildunterschriften auf den Ausstellungstafeln oder in den Objektbeschriftungen zu finden waren. Alle Texte, seien es Objektbeschreibungen oder erklärende Einheiten, waren ausschließlich auf Polnisch verfasst. Es gab in der Ausstellung keine Mehrsprachigkeit. Einzig die Sprache der ausgestellten Objekte, etwa von Dokumenten, war teilweise Deutsch oder Latein. Auf Übersetzungen ins Polnische wurde jedoch verzichtet.
Die Ausstellungsinhalte der einzelnen Räume Aufschlussreich für die inhaltliche Schwerpunktsetzung der Ausstellung waren vor allem die ersten beiden Säle, die sich mit der Geschichte von Katowice im Mittelalter und der Frühen Neuzeit beschäftigen. Bereits die Eingangssituation definierte einen entscheidenden inhaltlichen Akzent für die gesamte Ausstellung. Das erste, was der Besucher wahrnahm, war eines der bereits angesprochenen durchsichtigen Panels, die quer im Raum standen und somit die Bewegungsrichtung vorgaben und die Aufmerksamkeit auf sich lenken sollten. Das Panel trug
Ein multimediales, erklärendes Element befand sich nur an einer Stelle: Ein Animationsfilm im zweiten Raum zeigte das Leben und Arbeiten in einem Hammerwerk in der Frühen Neuzeit. Dieser Film wurde im Jahr nachträglich in die Ausstellung eingefügt und hob sich von dem sonstigen, auf Objekt-Text-Korrelation beruhenden Ausstellungsdesign stark ab. Hier wurde ohne Schrift und Wort, nur mit Bild und Ton gearbeitet. Der dargestellte Inhalt wirkte daher stark von der Gegenwart und den gegenwärtigen Sehgewohnheiten einer vor allem jungen Zielgruppe inspiriert. Der Film gab die im Raum ausgestellten Inhalte zur Geschichte des Hammers in der Frühen Neuzeit in einer medialen Bearbeitung wieder, er wählte dabei jedoch einen lebensweltlichen Zugang durch die Perspektive der arbeitenden Menschen. Dennoch wirkte der animierte Inhalt des Filmes wie eine Wiederholung der Inhalte des im Raum Ausgestellten mit anderen Mitteln.
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
die Überschrift Es begann in Domb und war dicht mit Text beschrieben.⁶⁸ Das nachfolgende Zitat des gesamten Paneltextes gibt einen Eindruck von der sprachlichen Verfasstheit des Textes, seiner Dichte, dem Aufbau sowie der Informationsstruktur⁶⁹: Es begann in Domb Schlesien wurde zusammen mit der Hauptstadt Breslau Ende des 10. Jahrhunderts Teil des ersten Piastenstaates. Das Gebiet, auf dem Katowice entstand, hat zum Gebiet Kleinpolens gehört und befand sich in den Grenzen des Bistums Krakau. Infolge der Teilung des polnischen Staates durch Bolesław Schiefmund im Jahr 1138 gelangten Schlesien und Kleinpolen unter die Herrschaft Władysławs, genannt der Vertriebene. Doch schon 1173 kam es zur Teilung Schlesiens in drei Teile: Bolesław der Lange erhielt Niederschlesien mit Breslau, Mieszko Kreuzbein, das Gebiet um Ratibor, und Jarosław das Gebiet um Oppeln. Kazimierz der Gerechte, der Kleinpolen beherrschte,vermachte dem Fürsten von Ratibor den westlichen Teil des Krakauer Gebietes, also die Kastellanei Sewerien-Beuthen und Auschwitz. Nach dem Tod Mieszko Kreuzbeins, dem Stammvater der oberschlesischen Piasten, haben hier seine Nachkommen geherrscht: Kazimierz, Mieszko der Dicke und Władysław von Oppeln, der das Fürstentum in vier Teile teilte. Das Gebiet des heutigen Katowice wurde Teil des Fürstentums Teschen-Ratibor, das von den Söhnen Władysławs, Mieszko I. und später Przemysław, dem Fürsten von Ratibor, beherrscht wurde. Zu seiner Zeit entstand die Kastellanei Pless. Sie umfasste den gesamten östlichen Teil des Fürstentums Ratibor, darunter auch die Gebiete des späteren Kattowitz. Die Kastellanei teilte das Schicksal des Fürstentums, das der nächste Herrscher, Leszek, im Jahr 1327 als Lehen dem böhmischen König, Johann von Böhmen, unterstellte. Formal verzichtete Kazimierz der Große im Jahr 1339 zugunsten des böhmischen Königs auf Schlesien. Mit dem Tod des letzten Ratiborer Piasten, Leszek, übernahm Nikolaus II. aus der Dynastie der Přemysliden, der Fürst von Troppau, das Gebiet. Die Nachkommen von Nikolaus regierten das Fürstentum bis 1474. Der inzwischen in Schlesien herrschende ungarische König Matthias Corvinus, übergab die Plesser Güter an Henrik, Fürst von Münsterberg, den jüngsten Sohn des böhmischen Königs Georg von Podiebrad. Der Nachfolger Henriks, Viktorin von Podiebrad, übergab sie dem inzwischen mächtigen Fürsten von Teschen, Kasimir II., der dieses Gebiet im Jahr 1517 dem ungarischen Magnaten Alexius Thurzo verkaufte.
Des Weiteren befanden sich auf diesem ersten Panel zwei Wappen, die keinerlei textliche Erklärung besaßen. Es blieb unklar, um welche Wappen es sich handelt, aus welcher Zeit sie stammen und welche Beziehung sie zum Inhalte des Textes auf dem Panel haben. Bei der Übersetzung wurde versucht, die Satzstrukturen auch im Deutschen in etwa so wiederzugeben, wie sie im polnischen Ausgangstext waren. Im Original wurden viele Einschübe, Bindestriche etc. verwendet, die das Verständnis des ohnehin sehr dichten Inhaltes zusätzlich erschweren. Im polnischen Original wurden ferner keine genauen Herrscherbezeichnungen genutzt, sondern Namenszusätze wie Bolesław Schiefmund, anstelle von Bolesław III. (Schiefmund), die eine genaue Einordnung der betreffenden Personen in ihren historischen Zusammenhang zum Teil erschweren. In der Übersetzung sind die Namen der Herrscher wie im Originaltext angegeben.
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Abb. 18: Das Panel im ersten Ausstellungsraum des Stadtgeschichtlichen Museums mit der Überschrift „Es begann in Domb“. Autor: Juliane Tomann
Auffällig war zunächst, dass die Überschrift des Panels keinen Bezug zum nachfolgenden Text aufwies. Statt einer Erklärung zur Frage, was Domb ist, begann der Ausstellungstext mit einer nationalen Zuordnung Schlesiens zum Herrschaftsgebiet der polnischen Piasten. Der Text lieferte auch in seinem weiteren Verlauf keine Erklärung dafür, worum es sich bei Domb handelte und warum es einen prominenten Platz in der Überschrift erhalten hatte. Verständlich ist die Wahl der Überschrift nur mit der Information, dass Domb der Stadtteil von Katowice ist, der erstmals urkundlich erwähnt wurde und deshalb als Ursprung der Stadt angesehen wird. Die Überschrift verlieh dem Text eine lokale Perspektive auf die Stadtgeschichte, während anschließend die Geschichte mittelalterlicher Herrscher und ihrer Territorien erzählt wurde. Der fehlende Bezug zwischen
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Überschrift und Text auf dem Panel verwies bereits auf die Art der Informationsvermittlung in der Ausstellung, die an vielen Stellen nicht konzise war. Wichtig war die Absicht, in der Überschrift einen konkreten Bezug auf Katowice herzustellen, da der nachfolgende Text einen allgemeinen Abriss der wechselnden Herrschaftsverhältnisse im mittelalterlichen Schlesien lieferte, der auf einem abstrakten Niveau verblieb und die Ebene der Stadtgeschichte kaum berührte. Der Text wird hier dennoch so ausführlich behandelt, da er für das Verständnis der Botschaft der Ausstellung von zentraler Bedeutung ist. Gleich zu Beginn der Ausstellung definierte dieser Text den national-polnischen Rahmen, in den die Stadtgeschichte von Katowice in dieser Schau gestellt wurde. Die wichtigste Aussage des Textes bestand darin, dass auch die Geschichte der Stadt mit den polnischen Piastenkönigen begann, die als erste polnische Könige und Begründer des ersten polnischen Staatsgebildes angesehen werden. Ausgehend vom Staat der polnischen Piasten beschrieb der Text einen Abriss der Herrschaftsgeschichte: Herrscher und Herrschaftsgebiete des 10. bis zum Beginn des 16. Jahrhunderts wurden aufgelistet, in der Beschreibung entstanden neue Territorien, Akteure unterschiedlicher nationaler Zugehörigkeiten werden genannt, verschwinden jedoch auch ohne Erläuterung wieder. So erfuhr der Betrachter anschließend an den ersten Satz, dass das Gebiet, auf dem später Katowice entstand, im 10. Jahrhundert gar nicht zum erwähnten Schlesien, sondern zu Großpolen und aus kirchlicher Sicht zum Bistum Krakau gehörte. Der Text sprach weiter davon, dass durch die „Teilung des polnischen Staates“ im Jahr 1138 durch Bolesław III. (1085 – 1138) Schlesien und Teile Kleinpolens unter die Herrschaft Władysław II. (1105 – 1159) fallen, der die Linie der schlesischen Piasten begründete.⁷⁰ Vorausgesetzt wurde, dass der Besucher weiss, wer dieser Herrscher waren. Eine Erklärung, um wen es sich handelte, blieb der Text schuldig, suggerierte aber, dass es polnische Könige gewesen sein müssen. Dieser Umgang mit Informationen
Bolesław III. hinterließ in seinem Testament eine Thronfolgeregelung, die das Land an seine Söhne aufteilte. Bolesławs Söhne erhielten jeweils erbliche Teilgebiete des polnischen Staatsgebildes, und Schlesien gelangte mit Breslau unter die Herrschaft seines ältesten Sohnes Władysław II. Zu diesem von Bolesław III. eingeführten sog. Senioratsprinzip gehörte auch, dass der jeweils älteste Sohn die Oberhoheit über die Jüngeren als Senior ausüben sollte und die Verantwortung für das Gemeinwesen in Fragen des Heeres, der Verwaltung, der Münze, des Gerichtes etc. zu tragen hatte. Der Senior als jeweils ältester des Geschlechts erhielt zu seinem Erbteil noch das westliche Kleinpolen mit Krakau, das als Sitz des Seniors zugleich Hauptstadt Polens war. Mit der im Paneltext angesprochenen „Teilung des polnischen Staates“ ist höchstwahrscheinlich die Einführung des Senioratsprinzipes gemeint. Das würde auch erklären, warum im Text davon gesprochen wird, dass Władysław II. neben Schlesien auch Teile Kleinpolens beherrschte. Als Senior stand ihm dieses Gebiet zu. Vgl. Jaworski/Lübke/Müller, Kleine Geschichte Polens (), S. f.
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
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lässt einen Rückschluss auf die Zielgruppe der Ausstellung zu: Während ein mit dem polnischen Geschichtskanon vertrauter Besucher weiss, wer die Piastenkönige waren, bleiben Personen, die mit polnischer Geschichte nicht vertraut sind, außen vor. Ein deutscher Besucher der Ausstellung, der vielleicht seinem nun polnischen Geburtsort einen Besuch abstattet und nur geringe historische Vorkenntnisse hat, wird aufgrund der unerklärten Detailfülle keinen Erkenntnisgewinn haben. Der Zielsetzung aus den Statuten des Museums, die Stadtgeschichte auch im Ausland bekannt zu machen, widerspricht dieses Vorgehen. Als weitere wichtige Entwicklungsschritte wurden die Zugehörigkeit der Stadt Katowice zum Herzogtum Teschen-Ratibor genannt, wobei eine genaue zeitliche Angabe fehlte, ab wann und bis wann Katowice zu dieser territorialen Einheit zugehörig war. Zeitliche Bezüge wurden anhand von Bezeichnungen wie „zu seiner Zeit“ hergestellt, die sich auf den jeweiligen Herrscher bezogen, jedoch aufgrund der fehlenden Lebensdaten der Herrschenden für den Betrachter keine Orientierung boten. Die Nennung des Herzogtums Teschen-Ratibor war insofern von Bedeutung, als es sich um ein eigenständiges schlesisches Fürstentum handelte, das vom polnischen Staatsgebilde bereits unabhängig war. Im Jahr 1202 wurde das sogenannte Senioratsprinzip aufgegeben, das in Polen die Erbfolge festlegte und die einzelnen Teilgebiete des polnischen Staates zusammenhalten sollte. Infolgedessen erlosch die staatsrechtliche Verbindung der schlesischen Gebiete zu Polen, und die schlesischen Herzogtümer erlangten relative politische Unabhängigkeit.⁷¹ Der Ausstellungstext enthielt diesbezüglich keine Information, sondern konzentrierte sich auf das „Schicksal“ des Herzogtums Teschen-Ratibor, das 1327 unter böhmische Lehnshoheit gestellt wurde. Es lässt sich vermuten, dass die eigenständige Entwicklung der schlesischen Herzogtümer vor der böhmischen Lehnsherrschaft nicht thematisiert wurde, weil sie der Absicht, einen polnischnationalen Rahmen für die Stadtgeschichte zu verdeutlichen, entgegenlaufen würde. Der Umstand, dass die oberschlesischen Gebiete bereits im 12. Jahrhundert nicht mehr zum polnischen Staatswesen gehört haben, blieb unerwähnt. Anschließend wurde auf die tschechische Lehnshoheit eingegangen, die im Vertrag von Trentschin aus dem Jahr 1335 festgelegt wurde. Der polnische König Kazimir III. verzichtete darin auf die schlesischen Territorien und bestätigte die politische Trennung Schlesiens von Polen. Der Vertrag von Trentschin stammt aus
Das Erlöschen des Senioratsprinzipes im Jahr brachte in Schlesien auch innere Machtkämpfe mit sich. Ein Teilungsvertrag hob das Erbrecht zwischen der Breslauer und der Ratiborer Fürstenlinie auf. Dieser bildete auch den Grundstein für eine eigenständige Entwicklung des oberschlesischen Raumes. Die in Oberschlesien regierenden Fürsten entwickelten ein eigenes Zusammengehörigkeitsgefühl und grenzten sich fortan von den Herzögen, die in Mittel- und Niederschlesien regierten, deutlich ab. Vgl. Bahlcke, Schlesien und die Schlesier (), S. .
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dem Jahr 1335, im Ausstellungstext wird zwar Kazimir III. genannt, als Datum für die Anerkennung der böhmischen Lehnshoheit wird jedoch das Jahr 1339 angegeben. Es ist davon auszugehen, dass auch im Ausstellungstext der Vertrag von Trentschin gemeint war. Warum das Jahr 1339 als Datum genannt wurde, bleibt hingegen unklar. Am Ende des Textes wurden in nur zwei Sätzen der „ungarische König Matthias Corvinus“⁷², der „böhmische König Georg von Podiebrad“⁷³, der „inzwischen mächtige Fürst von Teschen, Kasimir II.“⁷⁴ und der „ungarische Magnat Alexius Thurzo“⁷⁵ genannt. Bezug genommen wurde auf die „Plesser Güter“, die zwischen diesen Herrschenden übergeben und am Ende dem „ungarischen Magnaten Alexius Thurzo“ verkauft wurden. Die „Plesser Güter“ wurden vorher im Text als das Gebiet beschrieben, auf dem später Katowice entstehen sollte. Somit wurde ein Bezug der Herrschenden zur Stadtgeschichte hergestellt. Wichtig wäre in Hinsicht auf das Herzogtum Pless, dass es durch seine Zugehörigkeit zum Bistum Krakau eine Sonderstellung in der Region eingenommen hat. Außerdem erwirkte
Matthias Corvinus ( – ) war zwischen und König des Königreichs Ungarn und in Personalunion auch des Königreichs Kroatien, in den Jahren bis war er (Gegen) König von Böhmen. Matthias Corvinus wurde von den Katholiken in Böhmen zum König gewählt und stand somit im Konflikt mit Georg von Podiebrad. fielen die schlesischen Gebiete unter die Herrschaft von Matthias Corvinus.Vgl. Joachim Bahlcke: Geschichte Tschechiens. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart. München , S. f. Georg von Podiebrad ( – ) wurde von den böhmischen Ständen zum König gewählt und regierte bis . In den böhmischen Nebenländern wie den Lausitzen, Mähren und Schlesien regte sich jedoch Widerstand gegen ihn, denn er hatte dem katholischen Glauben abgeschworen und die Konfession der Hussiten (Utraquisten) angenommen. Georg wurde vom Papst exkommuniziert, und dieser forderte auch sein Abtreten als König. In dieser Situation eroberte der ungarische König Matthias Corvinus an der Spitze einer katholischen Koalition einen großen Teil Mährens und Schlesiens und wurde in Olomouc/Olmütz zum Böhmischen König gekrönt. Ebd., S. f. Kasimir II. von Teschen ( – ), erwarb die Herrschaft Pless von Viktorin von Podiebrad, erwirkte die Entlassung aus dem böhmischen Lehen und wandelte diese in ein Allod um (Eigengut). Im Jahr konnte er dieses an den oberungarischen Bergbauunternehmer Alexius Thurzo verkaufen. Alexius Thurzo, auch Alexej Thurzo oder Aleksy Thurzo ( – ) gehörte zu einer sehr wohlhabenden Kaufmannsfamilie der Frühen Neuzeit. Diese dominierte zeitweise das Wirtschaftsleben in Städten wie Banská Bystrica/Neusohl, aber auch im nieder- und oberschlesischen Gebiet und in Kleinpolen. erwarb er das Fürstentum Pleß. Die Familie hatte enge Kontakte zum polnischen Königshof. Vgl. Christian-Frederik Felskau: Dzieje polityczne ( – ) [Politische Geschichte ( – )], in: Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki/Ryszard Kaczmarek (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu [Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur einer europäischen Region]. Gliwice , S. – , hier S. .
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
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Kasimir II. von Teschen um 1500 die Entlassung aus dem böhmischen Lehen und wandelte diese in ein Allod um, das von feudalen Verpflichtungen frei war und weitervererbt werden konnte. Aus diesem Grund konnte es 1517 an Alexius Thurzo verkauft werden.⁷⁶ Eine Vielzahl von Erklärungen wäre notwendig, um aus den einzelnen geografischen oder herrschaftsgeschichtlichen Informationen im Text Zusammenhänge erschließen zu können. Ein wirkliches Verständnis für die sehr komplexen Vorgänge auf dem Gebiet Oberschlesiens im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit fördert diese Art der Darstellung nicht. Die Ausstellungsmacher agierten vielmehr von einem abgehobenen Standpunkt aus, der als pseudofachlich bezeichnet werden kann. Der Ausstellungsmacher ist der Wissende, der den Besucher belehrt: Herrscher (unterschiedlicher Länder) und Jahreszahlen werden genannt, ohne auf die für ein Verständnis notwendigen Zusammenhänge zwischen ihnen hinzuweisen. Gleichwohl wurden Wendungen wie „Schicksal“ gebraucht, um beispielsweise die Unterstellung des Herzogtums Ratibor-Teschen unter böhmische Lehnshoheit zu beschreiben. Ursachen und Auswirkungen für diesen Umstand wurden jedoch nicht genannt. Am Ende des Textes blieb im Unklaren, was die Information, dass die Plesser Güter an einen ungarischen Kaufmann verkauft wurden, für die Entwicklung des Gebietes bedeuteten. Der Erzählstrang wurde zwar im weiteren Verlauf des ersten Saales noch einmal aufgegriffen, indem der Bruder von Alexius Thurzo, Jan Thurzo, erwähnt wird. Ein Bezug zum Text auf dem Panel am Eingang, das so abrupt und unvermittelt mit dem Verkauf an Alexius Thurzo endete, wurde jedoch nicht hergestellt, die Geschichte also nicht wieder aufgegriffen. Auch dass es sich bei Jan Thurzo um den Bruder von Alexius Thurzo handelt,wurde nicht gesagt. Es erschließt sich dem Besucher demnach nur schwer, warum „Fakten“, Daten oder Herrschende in dem Eingangstext auf dem Panel erwähnt werden. Transparente Kriterien oder Leitkategorien, die dem Aufbau der Ausstellung und ihren inhaltlichen Schwerpunktsetzungen zugrunde liegen, wurden nicht deutlich. Dass die Ausstellungsmacher die Stadtgeschichte mit den polnischen Piasten beginnen ließen, verstärkt die eingangs erwähnte national-polnische Perspektive als Erzählrahmen der Stadtgeschichte. Direkt neben dem Paneltext befand sich das zentrale Objekt des Raumes. Bei dem handgeschriebenen Dokument handelte es sich laut Beschriftung um den „Vertrag über Verkauf und Kauf von Katowice, geschlossen am 18. September 1796 zwischen Joseph Mikusch und Bernhard Mleczko, Abschrift von 1797“.⁷⁷ Die di-
Ebd., S. . Nach Auskunft der Leiterin der Historischen Abteilung des Museums, Joanna Tofilska, handelte es sich bei diesem Dokument um das Original.
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rekte räumliche Nähe zwischen Panel und Objekt legte einen inhaltlichen Zusammenhang zwischen Text und Objekt nahe, der jedoch nicht bestand. Der Paneltext endete im Jahr 1517, das Dokument stammte vom Ende des 18. Jahrhunderts. Auch die beiden Protagonisten der Objektbeschriftung, Joseph Mikusch und Bernhard Mleczko, waren im Paneltext nicht genannt, und der beschriebene Akt des Kaufes bzw.Verkaufes von Katowice blieb unkontextualisiert. Im Paneltext war bisher nur vom „Gebiet, auf dem später Katowice entstand“ die Rede. Siedlung, Dorf oder Stadt existierten zur beschriebenen Zeit noch nicht. Das Objekt verwies auf einen zeitlich viel später angesiedelten Prozess. Ähnlich verhielt es sich mit der rechts des Panels an der Wand angebrachten gelben Darstellungstafel. Diese beschäftigte sich mit der Pfarrei in Bogutschütz. Der Text informierte darüber, dass die Pfarrei in Bogutschütz die älteste auf dem Gebiet des heutigen Katowice sei: „Sie entstand Ende des 14. Jahrhunderts. In der Kirche des heiligen Stephan versammelten sich Gläubige aus Bogutschütz, Zalezie, Bogutzker Hammer und Brynow.“ Weiter berichtete der Text davon, dass in der Neuzeit auch Einwohner aus Katowice und den umliegenden Gemeinden diese Kirche besuchten. Unter diesem kurzen Text befanden sich zwei Abbildungen: Die Nachbildung einer Fotografie eines Bogenbalkens der Kirche, auf der das Datum 1761 sichtbar war, sowie die Nachbildung einer Radierung aus dem 17. Jahrhundert ohne Angaben des Autors. Zwischen allen drei Ausstellungselementen in der Eingangssituation der Ausstellung ließ sich trotz ihrer räumlichen Nähe kein direkter inhaltlicher Bezug herstellen, der eine kohärente Geschichte zur Darstellung bringen würde. Dieser Befund aus der Analyse der Eingangssequenz war symptomatisch für die gesamte Ausstellung und lässt sich an verschiedenen Stellen veranschaulichen. Aufgegriffen wurde der in der Überschrift des Paneltextes angekündigte Ursprung in Domb auf einer gelben Darstellungstafel an der Wand links des Eingangs. Es begann in Domb lautete auch hier die Überschrift und der Beginn des darunter befindlichen Textes glich im Duktus dem des Panels. Eine eindeutige Erklärung, warum die Stadtgeschichte in Domb begann, war aber auch hier nicht zu finden. Vielmehr kamen zur bestehenden Liste der bislang erwähnten Herrscher, geografischen Bezeichnungen und Begriffe mit diesem Text noch weitere hinzu, ohne den Bezug zur Überschrift zu erhärten. Der erste Raum verfügte über drei weitere, ähnliche gelbe Darstellungstafeln, die sich mit den Gemeinden Bogucice/Bogutschütz, Załęże/Zalenze, Szopienice/Schoppinitz, sowie Podlesie/ Podlesche, Piotrowice/Petrowitz und Zarzecze/Zarzetsche beschäftigten, die „mit der Zeit die heutige Stadt bildeten“. Diese Siedlungen befinden sich auf dem heutigen Stadtgebiet von Katowice und sind teilweise auch heute noch eigenständige Stadtteile. Die letzte Tafel in dieser Reihe der „Ahnengalerie“ der Ge-
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meinden, die später Katowice bildeten, trug die Überschrift … et nova villa Katowice. Unter dieser Überschrift war die Replik eines in Latein verfassten „Fragmentes eines Visitationsprotokolls“ abgebildet, so die Bildunterschrift. Das Dokument war nicht übersetzt. Grafisch hervorgehoben wurde der für die inhaltliche Aussage wichtige Teil „Bogucice, Załęże et nova villa Katowice“. Unter der Replik des Dokumentes, dessen Ursprung und Autor nicht genannt wurde, folgte ein erklärender Text: „Jan Thurzo verkaufte im Jahr 1536 Stanisław Salomon aus Benedyktowice einen Teil des Besitzes in Pless – die Güter in Myslowitz. In deren westlichem Teil entstand in der Nachbarschaft eines Hammers ein neues, von Gärtnern bewohntes Dorf KATOWICE. Die erste Erwähnung stammte aus dem Jahr 1598, als ein Vertreter des Krakauer Bischofs beim Besuch der Pfarrei Bogutschütz in einem Protokoll das „neue Dorf Katowice“ als Bestandteil dieser Pfarrei erwähnte.“⁷⁸ Hier fand sich der Anknüpfungspunkt an den abrupt endenden Text des einführenden Panels, der mit der Information schloss, dass Alexius Thurzo die Plesser Güter im Jahr 1517 kaufte. Eine Verbindung zwischen Jan und Alexius Thurzo wurde jedoch nicht genannt. Ferner blieb offen, wer Stanisław Salomon war und welche Rolle er spielte. Das zentrale Ereignis der ersten schriftlichen Nennung von Katowice war demnach in einem für den Besucher verwirrenden Kontext von Namen eingebettet, die das Verständnis der Zusammenhänge erschwerten. Im Anschluss folgte unter der Überschrift Lageskizze des heutigen Zentrums von Katowice (1686) eine gezeichnete Karte, auf der das heutige Stadtzentrum ins Verhältnis zu den Dörfern Brynów/Brynow, und Zalenze aus dem Jahr 1686 gesetzt wurde. Wann diese Karte gezeichnet wurde, von wem und auf welcher Grundlage, blieb unerwähnt. Auch ließ sich das heutige Stadtzentrum auf der Karte nur schwer erkennen. Es handelte sich um einen Größenvergleich der außerdem die Zeitebenen Gegenwart und Vergangenheit miteinander verbinden sollte, offenbar, um die Anschaulichkeit und Relevanz des Themas für Besucher zu erhöhen. Es sollte verdeutlicht werden, wo sich die Siedlungen Brynow und Zalenze im Jahr 1686 befunden haben, die heute auf dem Stadtgebiet liegen, und wo sich im Verhältnis dazu das gegenwärtige Stadtzentrum befindet, um sich einen Eindruck vom Wandel der räumlichen Verhältnisse zu verschaffen. Interessant ist ferner, dass der Historiker Wilhelm Szewczyk in seinem Bildband über Katowice von der Gründung bis zu Gegenwart diesen Plan ebenfalls zur Illustration heranzog. Szewczyk gibt an, dass der Plan von Krzysztof Mieroszewski im Jahr 1686 gezeichnet wurde, und bezeichnet ihn als „ältesten Plan der Gebiete, auf denen
Hervorhebung im Original.
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später die Stadt Katowice entstand“.⁷⁹ Während die Ausstellungsmacher mit der Überschrift Lageskizze des heutigen Zentrums von Katowice suggerierten, dass es einen Bezug zur Gegenwart gibt, der jedoch auf der Karte nicht zu erkennen war, verortete Szewczyk den Stadtplan in seinen historischen Bezügen. Am Übergang des Saales zum Korridor befand sich das letzte Ausstellungselement: ein Modell der Bogutschützer Kirche sowie eine grafische Darstellung des Gemeindegebietes vom 14. bis zum 19. Jahrhundert ohne weiteren erklärenden Text. Die Bogutschützer Holzkirche wurde bereits zu Beginn des Saales auf einer Tafel thematisiert und als „älteste Pfarrei auf dem Gebiet des heutigen Katowice“ beschrieben. Dieses Beispiel verdeutlichte die Schwierigkeiten der Raumnutzung. Obwohl die beschreibende Tafel und das Modell der Kirche sich beide auf der rechten Seite des Raumes und sich unmittelbar nebeneinander befanden, gehörte die Tafel zur Eingangssituation der Ausstellung, während das Modell am Übergang zum nächsten Saal stand. Diese räumliche Situation entstand, da das durchsichtige Panel und das zentrale Objekt des Raumes senkrecht zu Tafel und Modell eingeschoben wie eine Sperre standen und somit den Besucher nach links leiteten. Eine Bewegung entlang der rechten Wand war bei der Besichtigung nicht möglich. Die rechte Seite des Saales war somit zweigeteilt und markierte Anfang und Ende des Rundganges im Saal. Warum die als thematische Einheit zu betrachtenden Darstellungen und Erklärungen zur Pfarrei in Bogutschütz nicht an einem Ort im Saal standen, konnte nicht ermittelt werden. Leitend für die Darstellung der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte der Stadt Katowice war im ersten Saal ein territorialer Zugriff. Es wurde versucht, die Geschichte des Gebietes zu veranschaulichen, auf dem später Katowice entstand. Dafür wurde einerseits die erste Nennung des heutigen Stadtteils Domb im Jahr 1299 als Ursprung der Stadt beschrieben. Der territoriale Zugriff wurde nicht durch eine enger gefasste inhaltliche Fragestellung weiter ausdefiniert. Stattdessen orientierten sich die Ausstellungsmacher an der Herrschaftsgeschichte dieser Gebiete. Das gab ihnen die Möglichkeit, die Stadtgeschichte mit dem polnischen Herrschaftsgeschlecht der Piasten beginnen zu lassen und Katowice somit in einen national-polnischen Rahmen zu stellen. Dieser einmal gewählte Zugriff bedingte auch, dass die hochkomplexen Herrschaftsverhältnisse im Mittelalter und der Frühen Neuzeit für das Gebiet der späteren Stadtgründung dargestellt werden mussten. Die Quellenlage zu diesem Zeitabschnitt ist eher dünn; das trifft auch für andere Städte zu und Katowice ist hier kein Sonderfall. Die Museumsstatuten weisen für Katowice einen Sammlungszeitraum „von der Entstehung Katowices im 16. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert“ aus, die Internet-
Vgl. Moskal, Bogucice, Załęże (), S. .
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seite des Museums informiert darüber, dass historische Sammlungen zu Katowice und Oberschlesien aus dem 18. bis zum 20. Jahrhundert vorliegen.⁸⁰ Offensichtlich verfügte das Museum über keine oder nur sehr wenige Objekte aus der Zeit vor 1600. Dennoch versuchten die Ausstellungsmacher die Zusammenhänge von Besitzerwechseln und dynastischen Verhältnissen aus dieser Zeit darzustellen. Diesen komplexen historischen Wirklichkeiten wurden die Texte in ihrer sprachlichen und argumentativen Form nicht gerecht. Die Texte hatten wenig beschreibenden oder erklärenden Charakter, sie verblieben vielmehr auf der Ebene von Orts- oder Namensnennungen. Um den ersten Saal in seinen historischen Dimensionen zu verstehen, müsste dem Besucher ein ganzes Glossar von Begriffen und Namen an die Hand gegeben werden, um die Übersicht zu behalten. Für einen nicht polnischsprachigen Besucher, der die mittelalterliche polnische Geschichte nicht kennt, war Orientierung kaum möglich. Nicht nur aufgrund fehlender Übersetzungen aus dem Polnischen, sondern auch weil die Kenntnis des nationalen Narrativs polnischer Geschichte beim Besucher voraussetzt wurde. Aufgrund der schlechten Quellenlage zur mittelalterlichen Geschichte wurde im ersten Ausstellungssaal vorrangig mit Darstellungen und Texten gearbeitet, während Objekte fast vollständig fehlten oder Nachbildungen gezeigt wurden. Die beschreibenden Texte sollten aufgrund der detailliert aufgelisteten Geschichte der Herrscher und Besitzer den Eindruck einer genauen Dokumentation dieses frühen Abschnittes der Geschichte der einzelnen Siedlungen vermitteln, die auf dem heutigen Stadtgebiet liegen. Es entstand der Eindruck, dass nicht das Erzählen einer Geschichte bei diesem Vorgehen im Vordergrund stand, vielmehr zeugte das in dokumentarischem Duktus gehaltene Auflisten von Details von dem Wunsch nach genauer Erfassung und Festschreibung. Der Dokumentation von Fakten kam eine höhere Wertigkeit zu als dem Kontext, in dem sie stehen. Dieses Vorgehen wäre nachvollziehbar, gäbe es in diesem Raum eine Vielzahl von Objekten, die einen derart dokumentarischen Stil der Ausstellung tragen würden. Doch das einzige nicht als Nachbau erkenntliche Objekt des Raumes, die Kanzleiabschrift einer Verkaufsurkunde von Katowice, stammte aus dem Jahr 1797. Alle anderen Dokumente waren Nachbildungen auf Darstellungstafeln, die nur in Ausschnitten nach- bzw. grafisch bearbeitet abgebildet wurden und über deren Existenz der Besucher aufgrund fehlender Angaben zum Original nichts erfuhr. Der Saal bestand demnach bis auf ein einziges Objekt⁸¹ allein aus beschreibenden Textele-
Vgl. die Internetseite des Museums unter URL http://www.mhk.katowice.pl/index.php?op tion=com_content&view=article&id=&Itemid= [Zugriff . . ]. Zu den originalen Objekten des ersten Raumes können ferner drei Karten Oberschlesiens aus dem . Jahrhundert gezählt werden, die mit den beschriebenen Vorgängen vom . bis zum frühen . Jahrhundert jedoch nicht in Verbindung stehen.
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menten, die großen Spielraum zum Erklären der Details bzw. zum Erzählen einer Geschichte über die Ursprünge von Katowice geboten hätten. Hinzu kommt, dass das einzige Originalobjekt vom Ende des 18. Jahrhunderts stammte, die im Saal beschriebene Geschichte aber im 10. Jahrhundert ansetzte, es tangierte den erzählenden Text somit kaum. Der Text und die dargestellten Elemente, etwa die Auszüge aus Dokumenten, versuchten, Faktizität für einen Zeitabschnitt der Stadtgeschichte zu vermitteln, für den es an Belegen und somit an ausstellbaren Objekten sichtbar mangelte. Dass die Quellenlage für diesen Zeitabschnitt nicht nur für die Stadt Katowice, sondern auch für viele andere Städte schwierig ist, wurde bereits angedeutet. Anstelle diesen Mangel an Quellen transparent zu machen und den Besucher darüber zu informieren, dass das Wissen über die betreffende Zeit im Grunde genommen gering ist, haben die Ausstellungsmacher den entgegengesetzten Weg eingeschlagen und die übergeordnete Perspektive der Herrschaftsgeschichte gewählt. Die wechselnden Herrschaftsgeschlechter und Zugehörigkeiten zu unterschiedlichen Staatszusammenhängen vermittelten so den Eindruck einer gut dokumentierten Geschichte von Katowice im Mittelalter – obwohl weder Dorf noch Stadt zu dieser Zeit existierten. Vor diesem Hintergrund ist es umso interessanter, dass die als Begleitmaterial erhältliche, schmale Broschüre eine kurze und präzise Beschreibung der inhaltlichen Ausrichtung aber auch der Schwierigkeiten bei der Gestaltung des ersten Saales beinhaltet. Das Eingangspanel wird darin als Möglichkeit bezeichnet, „in der kürzestmöglichen und kompaktesten Form die Geschichte Oberschlesiens [zu beschreiben], von der Teilung des polnischen Staates im Jahr 1138 bis zur Entstehung des Fürstentums Schlesien“.⁸² Erstaunlich ist auch die Aussage: „Es sind keine Exponate erhalten geblieben, die auf irgendeine Art und Weise die dörflichen Anfänge der Stadtgeschichte illustrieren könnten.“⁸³ Zu klären bleibt dann die Frage, wie die Nachbildungen der Dokumente auf den gelben Darstellungstafeln der Ausstellung zustanden gekommen sind, die das Bestehen der einzelnen Siedlungen belegen sollen, wenn sich laut Katalogtext nichts erhalten hat? Die Diskrepanzen sowohl im Inhalt als auch in der Form der Darstellung zwischen der Ausstellung und dem Katalog sind merklich. Das ist umso verwunderlicher, als Jacek Siebel der Autor sowohl der Ausstellung als auch eines überwiegenden Teils des Kataloges war. Die Hinweise auf den Umgang mit Objekten, Texten und weiteren Ausstellungselementen sowie fehlende Verweise der einzelnen Elemente untereinander Vgl. Muzeum Historii Katowic: Z dziejów Katowic. Przewodnik po wystawie [Aus der Geschichte der Stadt Katowice. Führer durch die Ausstellung], ohne Seitenzahlen, Kapitel: Sala . Wiejskie początki [Saal . Dörfliche Anfänge]. Katowice . Ebd.
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oder mangelhafte Bildunterschriften, wie sie in Saal 1 deutlich wurden, ließen sich auf die gesamte Ausstellung übertragen und bildeten eines der grundlegendsten Probleme dieser Schau. Im Folgenden wird darauf nur noch an ausgewählten Stellen eingegangen. Es wird vielmehr versucht, die Grundaussage der Räume zu erfassen, um einen Überblick über den Inhalt der Ausstellung zu geben. Auch der zweite Saal ist für das Verständnis, wie die Stadtgeschichte von Katowice im Stadthistorischen Museum dargestellt wurde, von Bedeutung. Der zweite Saal berichtete laut Überschrift von den Ursprüngen des Hammers und überschnitt sich zeitlich mit den Darstellungen des ersten Raumes. Zur Dokumentation der ersten Erwähnung des Hammers war ein Teil aus einem Dokument, ausgestellt 1397 vom bischöflichen Gericht in Krakau, auf eine gelbe Tafel übertragen worden. Dort wurden neben anderen Ortsbezeichnungen wie „Szopieniecz“ (Schoppinitz) auch eine Kuznica, eine Schmiede, erwähnt. Ob es sich bei der im Dokument als „Schmiede“ bezeichneten Institution tatsächlich um den Bogutzker Hammer gehandelt hat, blieb unklar. Eine verifizierbare Raumbezeichnung wurde nicht mit ausgewiesen. Der Aussagewert des Dokumentes, das die erste Nennung des Bogutzker Hammers belegen sollte, blieb daher fraglich. Unter der Darstellungstafel befand sich das zentrale Objekt des Raumes: Grundbuchakten des Bogutzker Hammers aus dem Jahr 1736 lagen in einer hohen, gut einsehbaren Vitrine. Diese Grundbuchakten, laut Objektbeschreibung aus dem 17. Jahrhundert, waren auf Deutsch verfasst.⁸⁴ Eine Übersetzung gab es nicht, und auch der Umstand, dass deutsche Akten ausgestellt werden, blieb unthematisiert. Dass die Vergangenheit der Stadt vorrangig aus polnisch-nationaler Perspektive erzählt werden sollte, wurde an dieser Stelle erneut sichtbar. Die nachfolgenden Elemente des Raumes fokussierten auf das Alltagsleben im Hammer: Lithografien aus dem 19. Jahrhundert, ein Modell des Hammers, außerdem ein großes Wandfresko, das die Arbeit in einem Hammer darstellte. Davor befanden sich Werkzeuge, die über keine genaue Bezeichnung verfügten und ohne Orts- und Jahresangabe präsentiert wurden. Interessanter für das Narrativ über die Stadt war der nicht weit entfernt gelegene Hammer in Rosdzin, der ebenfalls im zweiten Saal eingeführt wurde. Eine rote Darstellungstafel, bestehend aus Text und abgebildeten Dokumentausschnitten, berichtete in der Überschrift von Schmied Sych, der diesen Hammer, dessen Eigentümer Ende des 16. Jahrhunderts Walenty Roździeński war, im Jahr 1546 gründete. Darunter waren zwei vom Standardpolnischen abweichende Textauszüge abgedruckt, wobei der zweite mit der Angabe: „1612 auf Polnisch und
Nach Auskunft der Leiterin der Historischen Abteilung des Museums, Joanna Tofilska, handelte es sich bei diesem Dokument um ein Original.
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Latein“, ohne jede weitere Erklärung blieb. Daneben hing ein großes Porträt von Walenty Roździeński mit der Beschriftung „Etwa 1570 – 1640. Hüttenarbeiter, Poet und Humanist“, jedoch ohne Jahresangabe und Autor. Dass es sich bei den abgebildeten Dokumenten um die Titelseite des Poems Officina Ferraria sowie ein Zitat aus diesem Werk Roździeńskis handelte, blieb dem Besucher beim Lesen der Ausstellungstafel verschlossen. Eine Erklärung befand sich wiederum nur im Ausstellungskatalog. Ebenso thematisierte nur der Katalogtext die Gründe für den Bau der Hämmer: Aufgrund günstiger natürlicher Gegebenheiten hatte sich in der Region Eisenerz abgelagert, das als Grundstoff genutzt werden konnte. Interessant ist die Erwähnung Roździeńskis und seines Werkes Officina Ferraria abo huta i warsztat z kuźniami szlachetnego dzieła żelaznego ⁸⁵ insofern, als es in der polnischen Geschichtsschreibung als „weltweit einmaliges Poem über die Geschichte des Hüttenwesens“⁸⁶ angesehen wird. Roździeński hat darin in Reimform über die Arbeit in einer Schmiede berichtet, aber auch die zeitgenössischen Technologien zur Herstellung von Eisen beschrieben und das Leben und die Bräuche der Schmiede sowie die Gefahren, die mit ihrem Beruf verbunden waren. Er beschrieb die Werkzeuge, die Erfindungen dieser Zeit und die Welt der Legenden der Bergleute. Nach dem Erscheinen der Officina Ferraria im Jahr 1612 in Krakau verschwand das Werk und wurde erst im Jahr 1929 in einem Gnesener Kloster wiederentdeckt.⁸⁷ Für die Botschaft der Ausstellung waren sowohl der Inhalt als auch die Form des Lehrgedichtes zentral. Die Officina Ferraria kann aufgrund der Beschreibungen des Schmiede- und Hüttenwesens als Beweis dafür angesehen werden, dass die Grundlagen der oberschlesischen Industrie auf polnische Schmiedemeister zurückzuführen sind. Ferner war die Form von Bedeutung, da das Werk als Poem in Versform und auf Polnisch verfasst wurde. Der Direktor der Schlesischen Bibliothek in Katowice, Professor Jan Malicki, ordnete im Jahr 2012 zum 400-jährigen Jubiläum der Publikation die Bedeutung und die Spezifik der Officina Ferraria wie folgt ein: Es handelt sich zweifelsohne um ein großes kulturelles Phänomen. Das Poem stammt aus dem Jahr 1612. Das ist der Moment in der Geschichte, als sich die polnische Kultur beginnt zu sarmatisieren. Die Adligen hatten eine sehr distanzierte Haltung zu allem, was sie umgab, zu den Bürgern, zu den Bauern. Alle nicht adligen Stände waren marginalisiert. Und plötzlich
In der Übersetzung in etwa „Die Eisengewinnung oder Hütte und Werkstatt mit den Schmieden des edlen Eisengewerbes“. Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. . Vgl. Grażyna Barbara Szewczyk: Literatura na Górnym Śląsku [Literatur in Oberschlesien], in: Joachim Bahlcke/Dan Gawrecki/Ryszard Kaczmarek (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu [Geschichte Oberschlesiens. Politik, Wirtschaft und Kultur einer europäischen Region]. Gliwice , S. – , hier S. .
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erscheint das Werk eines Handwerkers, Bergmannes und Poeten, aber ein sehr spezifisches Werk, das alle Anforderungen eines sogenannten Lehrgedichtes erfüllt. Es kann mit allen zeitgenössischen Leistungen der großen Literatur verglichen werden. Aus diesem Grund haben wir es mit einem Meisterwerk zu tun.⁸⁸
Roździeński stand synonym dafür, dass in Oberschlesien im frühen 17. Jahrhundert kulturelle Höchstleistungen hervorgebracht wurden, über die auf Polnisch berichtet wurde, was ihre Zugehörigkeit zur polnischen Kultur unterstrich. Ferner wurde Roździeńskis Werk als Gegenthese zu der Annahme gelesen, Bergbau und Hüttenwesen in Oberschlesien seien eine „deutsche Erfindung“. Roździeńskis in polnischer Sprache verfasstes Lehrgedicht wurde vielmehr als Beweisstück angeführt, dass Bergbau und Hüttenwesen auch in der polnischen Tradition in Oberschlesien verankert sind.⁸⁹ Vor allem der zeitliche Faktor spielte bei dieser Interpretation eine Rolle. Roździeński schrieb über das Hüttenwesen in Oberschlesien lange bevor die zu preußischer Zeit beginnende Industrialisierung und der Ausbau des Bergbaus der Region ihre bis heute sichtbare Charakteristik verliehen. Die Officina Ferraria bildete demnach den Ausgangspunkt für eine gegenläufige Narration, die sich der der deutschen Stadtgründer widersetzt. So schrieb Richard Holtze im Jahr 1871 in seinem Buch Die Stadt Kattowitz. Eine kulturhistorische Studie über Kattowitz: Die Geschichte von Kattowitz ist neu und beginnt eigentlich erst um das Jahr 1840. Denn vorher glich seine Vergangenheit der eines schlichten Menschen, welcher ohne besondere
Das Zitat stammt aus einer Meldung der Polnischen Presseagentur (PAP) vom . Oktober , die über eine Konferenz im Museum in Sosnowitz anlässlich des . Jahrestages des Erscheinens der „Officina Ferraria“ stattfand. Vgl. Polska Agencja Prasowa: Poemat „Officina Ferraria“ sprzed lat fenomenem kulturowym [Das Jahre alte Poem „Officina Ferraria“ ist ein kulturelles Phänomen]. URL http://ksiazki.onet.pl/wiadomosci/poemat-officina-ferrariasprzed--lat-fenomenem-kulturowym/nr (Zugriff . . ). Ähnliche Ansichten lassen sich aber auch in anderen Publikationen finden. Die „Offizina“ sei das „erste Werk über den menschlichen Arbeitsethos in Europa, das in der Nationalsprache – polnisch geschrieben“ worden sei. Es handle sich um ein „herausragendes Werk der polnischen, jedoch nicht nur der polnischen Literatur, denn Walenty Roździeński hat sich aufgrund seiner soliden Arbeit und seines literarischen Talentes für immer in die polnische und europäische Kultur eingeschrieben“. Vgl. Jan Myrcik: Gmina Koszęcin i jej patron Walenty Roździeński [Die Gemeinde Koszęcin und ihr Patron Walenty Roździeński]. Ohne Ortsangabe . Diese Interpretation Roździeńskis lässt sich auch in wissenschaftlichen Abhandlungen zu seinem Werk finden. So geht etwa Jerzy Piaskowski davon aus, dass Roździeński über „die Technik der Eisenerzeugung in den vergangenen Epochen auf polnischem Gebiet“ sowie in den „polnischen Schmieden“ geschrieben hat. Vgl. Jerzy Piaskowski: Walenty Roździeński i jego poemat hutniczy „Officina ferraria“ [Walenty Roździeński und sein Bergbau-Poem „Officina ferraria“]. Katowice , S. .
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Erlebnisse mit der großen Menge die breite Bahn des gewohnten Daseins dahinwandelt, nur von Nachbarn gekannt seinen Kohl pflanzt und als eine an sich gleichgültige Person ohne eigene Verdienste höchstens im Gefolge eines vornehmen Herren der Ehre einer Vorstellung gewürdigt wird, bis gewisse Verhältnisse die Entwicklung in ihm schlummernder Anlagen begünstigen oder ein seine Selbsttätigkeit bestimmender Anstoß ihn veranlasst, sich durch eine Wirksamkeit bemerklich zu machen, deren Einfluss in erweiterten Wechselbeziehungen zur Geltung gelangt.⁹⁰
Mit der Gleichsetzung der Stadt mit einem „schlichten Menschen“, beschrieb Holtze Kattowitz als Ort, der vor dem „Eingreifen“ deutscher Adliger und Unternehmer⁹¹ keine „eigenen Verdienste“ hervorgebracht hatte. Die in der Ausstellung präsentierte Officina Ferraria aus dem Jahr 1612 stand als „Kulturphänomen“ dieser Ansicht entgegen. Roździeńskis Werk wurde in der Ausstellung als Beleg angeführt, dass die deutschen Stadtgründer nicht die „Kulturträger“ waren, als die sie sich selbst stilisierten. Die polnische Kultur in Oberschlesien wurde in der Ausstellung als die ältere, weiter in die Vergangenheit zurückreichende gekennzeichnet. Die Ausstellungsmacher konstruierten über den Bezug auf Roździeński eine weit in die Vergangenheit zurückreichende polnische, kulturelle und industrielle Tradition in Oberschlesien.⁹² Die chronologische Erzählung der (polnischen) Ursprünge Katowices wurde im dritten Saal in einer Art Exkurs aufgebrochen. Auch die Ausstellungsarchitektur veränderte sich. Im Raum befanden sich zahlreiche Objekte, die jedoch
Vgl. Holtze, Die Stadt Kattowitz () S. . Mit dem Verweis auf das Jahr zielte er auf den Erwerb der Güter Katowice durch den Bergbauunternehmer Franz von Tiele-Winckler ab. Dass die Deutung Roździeńskis durchaus umstritten ist, zeigt der Blick in eine deutsche Stadtgeschichte über Kattowitz aus dem Jahr . Sigmund Karski argumentiert, dass die „Officina Ferraria […] der Zeit entsprechend in oberschlesischer Mundart geschrieben“ wurde, also nicht auf Polnisch. Ferner erklärt Karski, dass „Meister Valentin [Roździeński] in seinem Poem ausschließlich der deutschen Eisenhämmersiedlung ein literarisches Denkmal gesetzt hat“. Karski zitiert Roździeński wie folgt: „Von den Deutschen haben hier die Polen zuerst die Eisenerzeugung gelernt und so weit gebracht, dass sie jedes Gerät in deutscher Sprache benennen konnten.“ Der Autor konsultiert dafür jedoch nicht das Original, sondern beruft sich bei diesem Zitat auf ein im Jahr in Salzgitter erschienenes Buch unter dem Titel Kattowitz – die jüngste deutsche Schöpfung von W. Majowski. Abschließend kommt Karski zu folgendem Urteil: „Festzuhalten ist, daß, ungeachtet des in der ‚Officina Ferraria‘ enthaltenen Bekenntnisses des Verfassers zu seiner deutschen Abstammung, er von Polen als Landsmann betrachtet wird.“ Vgl. Sigmund Karski: Kattowitz bis zur Stadtgründung, in: Sigmund Karski/Helmut Kostorz: Kattowitz. Seine Geschichte und Gegenwart. Ein Jubiläumsbuch zum . Gründungsjahr. Dülmen , S. – , hier S. – . Dieses Buch erschien im „Oberschlesischen Heimatverlag“ und lässt eine Sichtweise erkennen, die sich eindeutig an einem deutsch-nationalen Narrativ über Kattowitz orientiert.
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nicht in Vitrinen aufbewahrt waren, sondern hinter einem Absperrband im Raum verteilt waren. In einem ethnografischen Zugriff sollten die Objekte das Alltagsleben der Bevölkerung illustrieren sowie „Zeichen und Symbole der lokalen Tradition, ihre Veränderung über die Zeit sowie die Beständigkeit dessen, was für die oberschlesische Identität am wichtigsten ist“⁹³ zeigen. In diesem Saal standen nicht mehr die Zusammenhänge der Herrschafts- oder Wirtschaftsgeschichte im Zentrum, sondern die ansässigen Menschen. Die Objekte stammten entsprechend aus dem Bereich des Arbeitens, Wohnens, der Kleidung sowie der Religion. An den Wänden befanden sich erklärende Texttafeln, die über Bergbautraditionen in Oberschlesien sowie die Gruppe der Bergleute mit ihrem „Arbeitsethos, ihrer Folklore sowie ihrer reichen Sphäre des Glaubens und der Bräuche […] als ein in Polen und Europa außergewöhnliches Phänomen“ Auskunft gaben. Die Texte beschrieben diese „oberschlesische Bergarbeiterkultur“ als vergangenes Phänomen, das Mitte des 20. Jahrhunderts nach vielen Veränderungen untergegangen sei.⁹⁴ Diese Gruppe sei mit Beginn des Steinkohleabbaus entstanden und stark von der „Kultur und den Werten der ländlichen Tradition“ geprägt gewesen. Eine auffällige Diskrepanz herrschte zwischen den ausgestellten Objekten, die vielfach deutsche Inschriften trugen wie etwa ein Teller mit dem Schriftzug „Glaube“ auf einem nachgestellten Küchentisch oder eine Kondolenzkarte, die ihr „Herzliches Beileid“ ausdrückte. Die erklärenden Texte sparten den Aspekt der Sprache und der Identität der beschriebenen Gruppe jedoch gänzlich aus. Die Objekte gaben somit Auskunft über Aspekte, die in den erklärenden Texten nicht aufgegriffen wurden. Dem Besucher wurde aufgrund der ausgestellten Objekte der Eindruck vermittelt, dass die beschriebene Gruppe aus deutsch- und polnischsprachigen Mitgliedern bestanden haben muss. Der Ausstellungskatalog informiert hingegen darüber, dass es sich bei der alteingesessenen Bevölkerung Oberschlesiens trotz deutscher Einflüsse um eine polnischsprachige Gruppe gehandelt habe.⁹⁵ Die Absicht der Ausstellungsmacher bestand folglich darin, die alteingesessene oberschlesische Bevölkerung als polnisch zu charakterisieren. Es bleibt offen, warum sich in der Ausstellung dennoch deutschsprachige Objekte befanden, die auf eine deutschsprachige Bevölkerung hinwiesen.
Vgl. Muzeum Historii Katowic: Z dziejów Katowic. Przewodnik po wystawie [Aus der Geschichte der Stadt Katowice. Führer durch die Ausstellung], ohne Seitenzahlen, Kapitel: Sala – etnograficzna. Na pograniczu. Między wsią a miastem [Saal – Ethnografie. Im Grenzgebiet. Zwischen Dorf und Stadt]. Katowice . Die Zitate stammen von der Ausstellungstafel „Bergbautraditionen“ im dritten Saal der Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums. Vgl. Muzeum Historii Katowic, Z dziejów Katowic [Aus der Geschichte der Stadt Katowice], ohne Seitenzahlen, Saal , ().
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Nach diesem Exkurs griff der vierte Saal die chronologische Erzählweise wieder auf. Eine gelbe Tafel kündigte mit der Überschrift den inhaltlichen Schwerpunkt an: Vom Dorf zur Stadt. Aus dem anschließenden Text wurde deutlich, dass im 19. Jahrhundert „große Veränderungen“ und eine „gewaltige industrielle Entwicklung“ Kattowitz und die umliegenden Siedlungen ergriffen haben. Eisenhütten und Arbeitersiedlungen entstanden, eine Eisenbahnlinie wurde gebaut, und einer der Besitzer des Gutes, Franz Winckler, verlegte schließlich die Verwaltung seiner Güter nach Kattowitz.⁹⁶ Deutlich wurde an dieser Stelle der Schau der volatile Umgang bei der Vermittlung von Inhalten. Die im ersten Saal etablierte Hierarchie der erklärenden Texte, verteilt auf das einführende Panel zu Beginn des Raumes und weitere Darstellungstafeln an der Wand, wurde spätestens hier vernachlässigt. Der einführende, kontextualisierende Text für den gesamten Raum hätte eines Panels am Eingang zum Saal bedurft, um die im ersten Saal etablierte Art der Informationsvermittlung beizubehalten. Inhaltlich war der Sprung vom zweiten Saal, der sich im Zeittraum des 14. bis 17. Jahrhunderts bewegte, ins 19. Jahrhundert groß. Der Betrachter erfuhr außerdem weder von den wechselnden staatlichen Zugehörigkeiten der Stadt, die inzwischen zu Preußen gehörte, noch über die biografischen Hintergründe derjenigen, die in diesem Saal als Hauptakteure der Entwicklung von Kattowitz eingeführt und dargestellt wurden (Franz Winckler, Richard Holtze). Im Vergleich zur akribisch-detaillierten, chronologischen Beschreibung der Herrschaftsverhältnisse der polnischen bzw. schlesischen Piasten im ersten Saal wirkte das Fehlen von Angaben zur staatlichen Zugehörigkeit von Stadt und Akteuren im 19. Jahrhundert wie eine bewusste Aussparung. Auch der Katalogtext bleibt implizit. „Zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann im preußischen Staat eine Ära der Reformen. Große Veränderungen fanden auch im Dorf Katowice statt.“ Seit wann und warum Katowice nunmehr zu Preußen gehörte, wurde nicht explizit erklärt. Ferner war der Bezug zwischen den ausgestellten Objekten und der Stadtgeschichte auch in diesem Raum nicht eindeutig zu erkennen. So konnten etwa die Grabbüste und die Reisekiste John Baildons⁹⁷ als Objekte weder Aussagen
Die direkten und indirekten Zitate stammen von der Ausstellungstafel „Vom Dorf zur Stadt“ im vierten Saal der Ausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums. John Baildon ( – ), schottischer Bauingenieur und Konstrukteur. Durch die Bekanntschaft mit dem preußischen Oberbergamtskommissar Friedrich Wilhelm von Reden, der in Großbritannien nach Fachleuten für die sich entwickelnde oberschlesische Industrie suchte, kam Baildon nach Oberschlesien. Dort war er als technischer Berater unter anderem am Bau der Königlich-Preußischen Eisengießerei in Gleiwitz beteiligt. Baildon installierte dort im Jahr den ersten Hochofen auf dem europäischen Festland. Baildon war auch am Bau der größten
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transportieren noch Wirkung entfalten, da ihre Verbindung zu Katowice nicht erklärt wurde. Erst der Katalog gab Auskunft darüber, dass Baildon eine der ersten Hütten in Katowice gründete, die fast 200 Jahre Bestand hatte und seinen Namen trug. Ähnlich unverständlich blieb das zentrale Objekt des Raumes. Neben einem Siegel des Dorfvorstehers Kazimierz Skiba, das laut Beschriftung „aus der Mitte des 19. Jahrhunderts“ stammt, befand sich eine Dokumentseite mit folgender Erklärung: „Die Antwort der Deputierten aus 46 Gemeinden des Kreises Beuthen 1848.“ Weder der Vorgang noch seine Auswirkungen wurden erklärt. Um beim Besucher ein Verständnis zu erreichen, hätte beschrieben werden müssen, dass Kazimierz Skiba (1812– 1890) als Dorfvorsteher von Katowice sich gemeinsam mit den anderen Mitgliedern des Gemeinderates gegen die Pläne unter anderem Richard Holtzes zur Wehr setzte. Holtze⁹⁸ wollte das Dorf industriell ausbauen und zu einer Stadt umgestalten. Der Dorfvorsteher Skiba fürchtete erhöhte Steuerausgaben, etwa für den Bau von Straßen, aber auch den vermehrten Zuzug von Fremden. Skibas Protest blieb letztlich erfolglos, und er verlor sein Amt. Nachfolger im Amt des Dorfvorstehers wurde Luis Troll, der den Plänen Holtzes zugeneigt war.⁹⁹ Der Weg für die Umsetzung von Holtzes Plänen war somit frei. Da Skiba polnischsprachig war, wird in der polnischsprachigen Literatur häufig argumentiert, dass sich das „polnische Dorf“ gegen die Pläne der deutschen Zuzügler zur Wehr setze, hier eine „deutsche Stadt“ zu errichten.¹⁰⁰ Hierin könnte der Grund bestehen, dass in der Ausstellung diese Vorgänge nicht erläutert wurden. Die Schau beließ es bei einer Nennung Skibas ohne weitere Erklärungen, um die vermeintliche „Niederlage“ des letzten polnischen Dorfvorstehers nicht explizit machen zu müssen. Dem Ziel der Ausstellungsmacher, eine polnische Geschichte der Stadt zu erzählen, würde das entgegenlaufen. Saal Nummer vier und Saal Nummer fünf standen in enger thematischer Verbindung. Der fünfte Saal verfügte über ein durchsichtiges Panel am Eingang, dem jedoch die Überschrift fehlte. Berichtet wurde im Paneltext vom Prozess der Stadtwerdung, bei dem die Akteure des vierten Saales nunmehr eingeführt und
Eisenhütte Europas in der Nähe von Königshütte beteiligt. Er entwarf ferner Pläne für eine Dampfmaschine, plante Brücken. Ein ausführliches Biogramm Baildons findet sich bei Greiner, Historia gospodarcza [Wirtschaftsgeschichte] (), S. f. Gemeinsam mit Holtze gehörte auch der als Verwalter der Wincklerschen Güter eingesetzte Friedrich Wilhelm Grundmann zu denjenigen, die sich für eine Urbanisierung des Dorfes Katowice einsetzen, gegen die sich der Dorfvorsteher Skiba wehrte. Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] () S. . Vgl. Lech Szaraniec: Osady i osiedla Katowic [Siedlungen und Wohngebiete von Katowice]. Katowice , S. .
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um weitere ergänzt wurden: Franz Winckler¹⁰¹, der als Montanunternehmer gemeinsam mit seiner Frau Maria von Aresin in den Jahren 1838/39 die Güter in Myslowitz und Kattowitz erwarb. Anschließend verlegte Winckler die Verwaltung seiner Güter nach Kattowitz¹⁰² und setzte einen Verwalter ein, Friedrich Wilhelm Grundmann. Auch Richard Holtze kam im fünften Saal als erster Stadtratsvorsitzender von Kattowitz noch einmal vor. Genannt wurde ferner der „preußische König“, der der Stadt im Jahr 1865 die Stadtrechte verliehen hatte. Er blieb jedoch namenlos. Beschrieben wurde im Paneltext die rasante Stadtentwicklung samt Infrastruktur, der gesellschaftliche, kulturelle und demografische Aufstieg der Stadt dank der Entwicklung der Schwerindustrie. Wer die Einwohner der Stadt waren, woher sie kamen, wer in den neuen Behörden und Kultureinrichtungen arbeitete, und was mit der im ethnografischen Saal beschriebenen, einheimischen Bevölkerung geschah, wurde nicht erklärt. Auch der deutsche Name der Stadt, Kattowitz, wurde an keiner Stelle in den beschreibenden Texten benannt. Kattowitz blieb konsequent Katowice. Deutsche wurden in diesem, der deutschen Geschichte der Stadt gewidmeten Saal paradoxerweise auf nur einer Tafel explizit erwähnt – unter der Überschrift Die letzten deutschen Stadtväter: Alexander Pohlmann, Kattowitzer Bürgermeister in den Jahren 1906 bis 1919 oder Anton Zimmermann, der laut Bildunterschrift „mehrere Male in den Stadtrat gewählt wurde“. Einer Kontextualisierung bedürften auch vier Objekte zum Ersten Weltkrieg, die zwischen einer Darstellungstafel zur Entwicklung der Industrie in Katowice und dem Übergang zum nächsten Raum hingen. Eine Erinnerungsurkunde für die Familie eines „fürs Vaterland“ gefallenen deutschen Soldaten aus dem Jahr 1917 und eine Darstellung¹⁰³, die anlässlich des vierten Kriegsjahres 1918 erstellt wurde
Franz Winckler ( – ), wurde als von Winckler in den preußischen Adelsstand erhoben. Winckler war Montanunternehmer in Oberschlesien. Vgl. Arkadiusz Kuzio-Podrucki: Die Tiele-Wincklers. Eine Oberschlesische Kohle- und Stahlaristokratie. Tarnowskie Góry/Kiel , S. – . Diesem Schritt wird vor allem in der deutschen Sichtweise auf die Stadt große Bedeutung zugewiesen. Richard Holtze schrieb dazu in seiner Stadtgeschichte aus dem Jahr : „Wir können vermuthen, daß Kattowitz, wäre es nicht in den Besitz von Herrn Franz von Winckler gelangt, heute wenig mehr als ein von Bauern, vielen Arbeitern und einigen kleinen Gewerbetreibenden bewohntes Dorf, gleich Bogutschütz oder Zalenze sein würde; denn abgesehen von dem Einflusse, welchen an sich der Umstand und die individuelle Hebung des Ortes hatte, daß letzterer zum Sitze der Hauptverwaltung über die bedeutenden Besitzungen jenes Herren erwählt wurde, ist ihm vielleicht der Vorzug mit zuzuschreiben, daß die Oberschlesische Eisenbahn gerade hier eine Station errichtete.“ Vgl. Holtze, Die Stadt Kattowitz (), S. . Die Darstellung zeigte den ans Kreuz geschlagenen Christus sowie einen Grabstein, auf dem die Jahreszahlen – zu sehen waren. Der Grabstein war umgeben von einem Flugzeug,
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und das Sterben im „blutigen Weltkrieg“ zeigte, veranschaulichten die Wahrnehmung des Kriegs aus deutscher Perspektive. Interessant ist, dass sehr private Objekte zur Ausstellung gebracht wurden, die weder staatliche Kriegspropaganda noch Durchhalteparolen abbildeten, sondern das Leid der Familien in den Mittelpunkt rückten. Direkt daneben hing eine Bekanntmachung General von Heinemanns aus Breslau aus dem Jahr 1916, der über die Entstehung des Königreiches Polen informiert sowie darüber, dass die in Deutschland in den kriegswichtigen Bereichen arbeitenden Polen, Deutschland nicht verlassen dürften. Hier kam mit der Schaffung des von Deutschland und Österreich abhängigen Königreichs Polen im Jahr 1916 ein für die polnische Geschichte im Allgemeinen sehr bedeutsames Ereignis zur Anschauung, jedoch ohne Kommentar oder Einordnung in größere Ereigniszusammenhänge. Darunter befand sich ein Steckbrief aus Tschenstochau vom 18.02.1918 mit der Fahndung nach einem katholischen Pfarrer (Adam Opalski), der zum Widerstand gegen Deutsche aufgerufen hatte. Auch dieses Objekt ist interessant, es bleibt jedoch unklar, wer Adam Opalski¹⁰⁴ war, und warum zum Widerstand aufgerufen wurde. Die polnische Perspektive und das Ringen um die nationale Wiedergeburt könnten anhand dieser – in ihrer Auswahl und Zusammenstellung bemerkenswerten Objekte – thematisiert werden. Doch gab es außer den Bildunterschriften keine weitere Einführung zu den politischen und militärischen Konstellationen des Ersten Weltkriegs. Er wurde in diesem Raum an keiner weiteren Stelle erwähnt oder erklärt. Die Objekte wirkten wie ein Einschub in die Darstellung der Stadtgeschichte, wurden aber nicht mit dieser in Zusammenhang gebracht. Der sechste Saal war den Schlesischen Aufständen gewidmet, die in einem direkten zeitlichen und ereignisgeschichtlichen Zusammenhang mit dem Ersten Weltkrieg stehen. Die Schlesischen Aufstände sind aus polnischer Perspektive das zentrale Ereignis der Katowicer, aber auch der oberschlesischen Geschichte. Sie haben dazu geführt, dass der östliche Teil Oberschlesiens (mit Kattowitz) dem neu entstandenen polnischen Staat angegliedert wurde. Der westliche Teil der Region verblieb bei Deutschland. Der Bedeutung der Aufstände für das polnische nationale Narrativ wollten die Ausstellungsmacher gerecht werden und widmeten den Aufständen und dem Plebiszit einen ganzen Saal. Die besondere Bedeutung der Aufstände veranschaulichte ferner eine nachgestellte Kampfszene: In einer
einem Zeppelin und kämpfenden Soldaten in einer waldigen, hügligen Landschaft. Inschriften: „Der blutende Heiland, ein Vorbild des blutigsten Weltkrieges und ein Andenken an den . August als vier Jahre des blutigsten Weltringens.“ sowie: „Einst hast du Herr auf den Hilferuf des Apostel Paulus: „Herr hilf uns“ wir gehen zu Grunde dem Moor Ruhe geboten, o so gebiete auch jetzt den streitenden Völkern Ruhe und gieb uns den ersehnten Frieden wieder.“ Nähere Angaben zu Adam Oplaski konnten nicht ermittelt werden.
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Ecke des Raumes befand sich hinter einer Barrikade aus Sandsäcken und Holz eine Puppe, die einen Aufständischen im Kampf mit einem Maschinengewehr darstellte. Derartige Elemente der Inszenierung befanden sich in keinem anderen Raum. Die inszenierte Kampfszene bildete einen interessanten Gegensatz zu den text- und bildbasierten Tafeln. Sie verstellte dem Besucher allerdings den Zugang zu diesen und erschwerte die Sicht auf eine sehr dicht und in kleiner Textgröße bedruckte rein textbasierte Ausstellungstafel, die hinter der Installation an der Wand hing.
Abb. 19: Inszenatorische Elemente im Raum zu den Schlesischen Aufständen. Autor: Juliane Tomann
Die detaillierte Präsentation der Schlesischen Aufstände war ähnlich der mittelalterlichen Geschichte der Stadt im ersten Saal angelegt: Den Besucher erwartete eine Fülle von Informationen, Daten und (unerklärter und unaufgelöster) Abkürzungen, die wenig beschrieben und kontextualisiert oder durch aussagekräftige Objekte veranschaulicht wurden. Das einführende Panel mit den Überschriften „Schlesische Aufstände“, „Plebiszit“ und „Feierlichkeiten zur Angliederung Kattowitzes an Polen“ berichtete jeweils über den Ausbruch und schilderte stichpunktartig den Verlauf der drei Aufstände. Es erklärte, dass eine Volksabstimmung am 20. März 1921 über die nationale Zugehörigkeit Oberschlesiens entscheiden sollte, und schilderte die Teilung des Gebietes aufgrund des ver-
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Abb. 20: Die Objektbeschreibung weist auf das Maschinengewehr hin. Autor: Juliane Tomann
schieden interpretierten Ergebnisses, in dessen Folge Katowice nunmehr zu Polen gehörte. Die Texte vermittelten eine ausschließlich polnische Perspektive auf das Geschehen. Die gegnerischen Deutschen traten einzig als Auslöser der Aufstände in Erscheinung und wurden darüber hinaus nicht thematisiert. Welche Motive sie hatten, welche Siege oder Niederlagen errungen oder erlitten wurden, blieb unerwähnt. Wie der Einführungstext des Panels war die Darstellung des gesamten Saales um eine Chronologie der Ereignisse bemüht. Auf dem Paneltext wurden jedoch die drei Aufstände nacheinander dargestellt, erst im Anschluss das Plebiszit. Das vermittelte den Eindruck, der dritte Aufstand sei vor dem Plebiszit ausgebrochen, er war jedoch eine Folge des Abstimmungsergebnisses des Plebiszites. Ferner war bei der Darstellung der drei Aufstände ein deutlicher Akzent auf dem zweiten
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Aufstand zu beobachten. So wurde etwa der erste Aufstand nur auf dem Paneltext beschrieben: Der erste Aufstand brach am 17. August 1919 aus. Den direkten Auslöser bildete die Erschießung von 10 Personen vor der Grube „Myslowitz“ durch den deutschen Grenzschutz. Die Kämpfe fanden in den heutigen Vororten von Katowice statt, am härtesten wurde um die Einnahme von Schoppinitz am 20. August 1919 gerungen.
Das Ende dieses Textabschnittes suggerierte mit der Einnahme von Schoppinitz durch die Aufständischen, dass der Aufstand erfolgreich verlief. Damit stellt sich die Frage, warum weitere Aufstände vonnöten waren. Die Information, dass die deutsche Reichswehr das Aufstandsgebiet bis zum 23. August 1919 wieder unter ihre Kontrolle gebracht hatte, wurde in diesem Text nicht gebracht. Ferner blieben die sozialen Forderungen der Arbeiter unerwähnt, die den Aufstand der Minenarbeiter in den Kreisen Rybnik und Pless auslösten, der als erster Schlesischer Aufstand gilt.¹⁰⁵ Das würde die gesamte Betrachtungsweise des ersten Aufstandes verändern, denn einen nationalen Charakter hatten die Aufstände anfangs demnach nicht. Durch das Ausbrechen des ersten Schlesischen Aufstandes wurde in Oberschlesien jedoch erstmalig nach Unterzeichnung des Versailler Vertrages in die Ausführungen seiner Bestimmungen eingegriffen.¹⁰⁶ Zwar ging die Warschauer Regierung im Nachhinein auf Distanz zu den Aufständischen, die Tolerierung des Geschehens machte jedoch die Unzufriedenheit Polens mit den Versailler Bestimmungen deutlich, das genau wie die Deutschen dem Ausgang der im Versailler Vertrag festgelegten Volksabstimmung über die staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens mit Ungewissheit entgegensah und deshalb bereits im Vorfeld den Versuch startete,vollendete Tatsachen zu schaffen.¹⁰⁷ Diese Metaperspektive blieb in den Darstellungen außen vor. Die Ereignisse in Oberschlesien, das sich in den Vgl. Haubold-Stolle, Mythos Oberschlesien (), S. . Der Hauptgrund für die Unzufriedenheit der Bevölkerung war in den wirtschaftlichen Problemen zu suchen, besonders als Ende Versorgungsschwierigkeiten aus dem Deutschen Reich Anlass zu Protesten gaben. Die Ausschreitungen in der Region nahmen bereits Anfang des Jahres in einem derartigen Ausmaß zu, dass am . Januar von der deutschen Administration das Kriegsrecht über das Industrierevier verhängt werden musste. Am . Juni unterschrieben sowohl Deutschland als auch Polen den Versailler Vertrag, der einen überarbeiteten Artikel mit einem Passus über das oberschlesische Plebiszit enthielt. Während der Verhandlungen in Versailles gab es große Differenzen über den Verbleib Oberschlesiens. Während Polen die Abtretung des gesamten Gebietes forderte, befürchtete etwa Großbritannien, das auf Ausgleich auf dem Kontinent bedacht war, eine zu große wirtschaftliche Schwächung Deutschlands. Letztlich wurde festgelegt, ein Plebiszit durchzuführen. Vgl. Ralph Schattkowsky: Deutschland und Polen von / bis . Frankfurt/Main , S. .
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Jahren 1919 bis 1921 aufgrund der ungelösten Frage seiner staatlichen Zugehörigkeit im Lichte der Weltöffentlichkeit befand, wurden nicht in einen größeren Kontext eingebettet. Es überwog eine strikte Konzentration auf das (Kampf)Geschehen vor Ort. Für die museale Darstellung einer Stadtgeschichte ist dieser stark regionalisierte Blickwinkel prinzipiell begrüßenswert. In diesem Fall ging die Fokussierung auf kleinste Räume und Stadtteile jedoch zu lasten einer Einordnung des Gesamtgeschehens. Gerade für das Verständnis der Oberschlesienfrage, die nicht nur eine binationale deutsch-polnische, sondern eine internationale Angelegenheit war, wäre das von grundlegender Bedeutung. Die internationalen Zusammenhänge, die das Geschehen in Oberschlesien in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg bestimmten, standen demnach nicht im Interesse der Ausstellungsmacher. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem zweiten Aufstand in der Ausstellung zuteil. Über ihn wird auf dem Eingangspanel berichtet: Der zweite Aufstand brach in der Nacht vom 18. zum 19. August 1920 aus. Im Vorfeld kam es zu Auseinandersetzungen, deutsche Schlägertruppen zerstörten das Kattowitzer Lokal des Polnischen Plebiszitkommissariats und verprügelten die Mitglieder; ermordet wurde der polnische Aktivist Andrzej Mielęcki. Am 20. August hielten die Aufständischen Klein-Dombrowka, Rosdzin, Schoppinitz, Bogutschütz, Zawodzie, Janow und Gieschewald. Schwere Kämpfe fanden in Zalenze, Domb und Welnowiec statt.
Über den genauen Verlauf des zweiten Aufstandes berichtete ferner eine eigene, überwiegend textbasierte Darstellungstafel im weiteren Verlauf des Rundganges im Raum. Den Schlüssel zum Verständnis, warum dem zweiten Aufstand eine so überproportionale Aufmerksamkeit zuteil wurde, liegt im ersten Satz dieser Ausstellungstafel: „Der zweite Schlesische Aufstand endete für die polnische Seite mit einem Erfolg.“ Dass besonders der zweite Aufstand als Erfolg hervorgehoben wurde, mag daran liegen, dass das Jahr 1920 eigentlich ein sehr schwieriges für den jungen polnischen Staat war. Neben den Ereignissen in Oberschlesien war es vor allem durch den Polnisch-Russischen Krieg geprägt, der mit dem Vorstoß der sowjetischen Truppen auf Warschau im August 1920 in einer Niederlage zu enden drohte. Als Niederlage mussten ferner die Abstimmungsergebnisse der Plebiszite in Olsztyn/Allenstein und Kwidzyn/Marienwerder vom 11. Juni 1920 verbucht werden, wo lediglich 2,1 % bzw. 7,6 % der Stimmberechtigten für Polen votiert hatten.¹⁰⁸ Vor diesem negativen Szenario wirkte der Erfolg des Aufstandes
Vgl. Hitze, Carl Ulitzka (), S. .
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besonders beeindruckend.¹⁰⁹ Der auf der Ausstellungstafel betonte Erfolg bestand darin, dass die polnischen Aufständischen mehr als eine Woche über den östlichen Teil der Provinz herrschten, wobei es zu zahlreichen Greultaten und einem regelrechten Terror gegen all diejenigen kam, die sich noch nicht endgültig für die polnisch-nationale Option entschieden hatten.¹¹⁰ Um den Aufstand beizulegen, traten die deutschen Parteien und Gewerkschaften schließlich an Korfanty heran; daraufhin überreichte er am 25. August 1920 in Gleiwitz den deutschen Vertretern seine Bedingungen zur Beendigung des Aufstandes. Unterstrichen wurde das sieghafte Vorgehen in der Ausstellung auch durch Formulierungen wie: „Gewonnen hat auch die Moral der polnischen Bevölkerung, die zeigte, dass ein Sieg über die Deutschen möglich ist.“ Gleichzeitig berichtete die Tafel von den „zahlreichen Verlusten“, nennt aber keine Opferzahlen sondern erklärt lediglich, dass „viele starben und polnische Einrichtungen zerstört wurden.“ Auch der dritte Schlesische Aufstand hatte eine eigene Tafel im Raum erhalten, diese verzichtete jedoch völlig auf erklärende Textelemente und zeigte stattdessen ausschließlich nachgebildete Fotografien, u. a. von Wojchech Korfanty¹¹¹, sowie Anführer von Kampfeinheiten, z. B.Walenty Fojkis, einem polnisch-
Für das polnisch gesinnte Milieu in Oberschlesien boten diese von deutscher Seite ausgehenden Ausschreitungen den Anlass für den zweiten Versuch, die Abtretung ganz Oberschlesiens durch den Einsatz von Waffengewalt zu erzwingen. Die Polen erschienen als unschuldige Opfer brutaler deutscher Aggression, gegen die sie sich legitimerweise zur Wehr setzten. Gegen diese These einer „spontanen polnischen Erhebung“ als Reaktion auf die deutschen Repressionen spricht jedoch die generalstabsmäßige Planung, mit der die Aktionen während des zweiten Schlesischen Aufstandes durchgeführt wurden. Ebd., S. . Trotz dieses Ausnahmezustandes griffen die französischen Truppen der Interalliierten Kommission nicht ein, zogen sich in ihre Kasernen zurück und schützten lediglich die Verwaltungszentren Oppeln, Gleiwitz und Kattowitz. Vgl. Grosch, Deutsche und polnische Propaganda (), S. . Wojciech Korfanty, ein christlich geprägter Nationaldemokrat aus Großpolen, entstammte einer Bergmannsfamilie, die seit zwei Generationen in einer Grubensiedlung nahe Kattowitz lebte. In Ermangelung einer polnischen Schule besuchte er dort eine deutsche Volksschule, um später auf das Kattowitzer Gymnasium zu wechseln, von dem er wegen seiner propolnischen Einstellung kurz vor dem Abitur verwiesen wurde. Kirchliche Kreise setzten sich für ihn ein, und er durfte sein Abitur nachholen. Nach einer erneuten Relegierung vom Berliner Polytechnikum, studierte Korfanty an der Breslauer Universität Jura. Während seiner Studienzeit wurde er Mitglied der Polnischen Liga und stieg zu einem ihrer führenden Aktivisten auf. kandidierte er als unabhängiger polnischer Kandidat – auch gegen die polnisch-katholische Zentrumspartei – und gewann das Mandat im Wahlkreis Kattowitz-Zabrze. Als Mitglied des Polnischen Kreises im Reichstag wuchs er zum wichtigsten Führer der jungen Generation national gesinnter Polen heran. Seine publizistischen Arbeiten brachten ihm sechs Monate Festungshaft ein, Korfanty wurde bis circa mal polizeilich bzw. gerichtlich bestraft. Vgl. Julian Bartosz/Hannes Hofbauer:
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nationalem Aktivisten in Oberschlesien. Weder Korfantys noch die Bedeutung Fojkis’ ging jedoch aus der Darstellung hervor. Zum dritten Aufstand lieferte die Ausstellung demnach nur die Informationen auf dem Paneltext zu Beginn des Raumes: Der dritte Aufstand brach aufgrund des Bekanntwerdens der für Polen ungünstigen Pläne der Teilung des Plebiszitgebietes aus. Dem Aufstand ging ein Streik voraus, der in der Nacht vom 2. zum 3. Mai 1921 begann. Schon in den ersten Tagen eroberten die Aufständischen einen großen Teil der Kattowitzer Innenstadt, verließen diese nach einer Intervention französischer Truppen jedoch, die einen dichten Kordon bildeten. In den Händen der Aufständischen befanden sich stattdessen: Zalenze, Domb, Brynow, Bogutschütz und Schoppinitz. Die Kommandantur der aufständischen Truppen befand sich in Schoppinitz.
In der Perspektive der Ausstellung trug die deutsche Seite die Verantwortung für den Terror, den die Aufstände für Oberschlesien mit sich brachten. Außerdem wurden nur Opfer auf der polnischen Seite erwähnt, obwohl es während der Zeit der Aufstände auf beiden Seiten zu zahlreichen Verlusten gekommen war.¹¹² Auch wurden die jeweiligen Forderungen von polnischer und deutscher Seite, zu welchem Staat Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg gehören sollte, als Ursache für die Aufstände an keiner Stelle explizit gemacht. Die Gründe für die Aufstände, unter anderem eine einordnende Darstellung der Versailler Friedensordnung nach dem Ersten Weltkrieg oder das Wiedererstehen des polnischen Staates wurden verkürzt in der Formel einer „deutsch-polnischen Rivalität um Oberschlesien“ zusammengefasst und blieben unerklärt. Wer gegen wen gekämpft hat, welche Motive im Hintergrund standen und welche Ziele verfolgt wurden, wurde nicht ersichtlich. Auch ein Verweis auf die zeitweilig sehr starke separatistische Bewegung in Oberschlesien im Nachgang des Ersten Weltkrieges fand sich in der Ausstellung nicht.¹¹³ Statt dem Betrachter Kontextualisierungen dieser komple-
Schlesien. Europäisches Kernland im Schatten von Wien, Berlin und Warschau. Wien , S. . Vgl. Kai Struve: Einleitung: Geschichte und Gedächtnis in Oberschlesien. Die polnischen Aufstände nach dem Ersten Weltkrieg, in: ders.: Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg. Studien zu einem nationalen Konflikt und seiner Erinnerung. Marburg , S. – , hier S. . Der starke Anstieg der deutsch-polnischen Spannungen und Konfrontationen im Zuge der Aushandlungen und Umsetzungen der Bestimmungen des Versailler Vertrages mündete bei vielen Bewohnern Oberschlesiens in massiven Forderungen nach der Einheit der Region und dem Bestreben, innerhalb des Nationalitätenkampfes eine eigene Position zu beziehen. Anstatt zwischen Polen und Deutschland zerrieben und zerteilt zu werden, forderte das Anfang Dezember gegründete „Oberschlesische Komitee“ einen selbstständigen Freistaat Oberschlesien für das „oberschlesische Volk“, das als eine genuine Mischung betrachtet wurde. Das Komitee hatte die Aufgabe, alle separatistischen Bestrebungen in Oberschlesien zu koordinieren, die Vorstellung
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xen Vorgänge an die Hand zu geben, verloren sich die Texte in Abkürzungen zu deutschen und polnischen Polizei- oder Kampfeinheiten.¹¹⁴ Ähnlich der Tafel zum dritten Aufstand war die Darstellungstafel zum Plebiszit gestaltet. Zusammenhängende, erklärende Textelemente fehlten. Es wurden Bilder von Akteuren und Gebäuden zusammengestellt, die mit dem Plebiszit in Verbindung standen. Die einzige Orientierung lieferte der Paneltext zu Beginn des Raumes: Das Plebiszit sollte über die staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens entscheiden. Im Januar 1920 übernahm die Interalliierte Plebiszitkommission die Regierung, der auch die nach Oberschlesien geschickten französischen, britischen und italienischen Armeeeinheiten unterstanden. Das Plebiszit fand am 20. März 1921 statt. Bei der Abstimmung wurden 40,3 % der Stimmen für die staatliche Zugehörigkeit zu Polen abgegeben, im Kreis Kattowitz-Land 55,6 %, im eigentlichen Stadtgebiet (der heutigen Stadtmitte) 14,6 %. Im Ergebnis des Plebiszites wurde Oberschlesien geteilt und Kattowitz dem polnischen Staat angeschlossen.
Das zentrale Objekt im Raum neben dem Panel zeigte ein polnischsprachiges Schriftdokument, das im Gegensatz zu den kleinteiligen Beschreibungen im Raum die großen Entwicklungslinien nach dem Ersten Weltkrieg in Oberschlesien aufzeigte. Es handelte sich um eine „Erinnerungsurkunde an die Verbindung Oberschlesiens mit der Rzeczpospolita“. Diese Objektbeschreibung enthielt kein Datum und informierte auch nicht über den Ursprung des Dokumentes oder darüber, ob es sich um ein Original handelte oder nicht. Es begann mit dem Versailler Vertrag, nannte das Selbstbestimmungsrecht der Völker und leitete daraus das Plebiszit ab: Der Friedensvertrag […] der am 28. Juni 1919 in Versailles unterzeichnet wurde, stützt sich auf das geheiligte Recht der Selbstbestimmung der Völker und legte in Artikel 88 eine Bezugnahme auf die Bevölkerung Oberschlesiens mit dem Ziel fest, ihren Willen bezüglich der staatlichen Zugehörigkeit festzustellen.
eines oberschlesischen Staates in der Bevölkerung zu propagieren und die Einstellung politischer Kreise in Berlin, Warschau und Prag zu einer möglichen Verselbstständigung Oberschlesiens zu sondieren. Nachdem die Berliner Regierung den separatistischen Bestrebungen aus Angst vor dem Verlust der Region mit allen Mitteln versuchte Einhalt zu gebieten, gründeten die Mitglieder des Oberschlesischen Komitees im Januar den Bund der Oberschlesier – Związek Górnoślązaków (BdO), in dem „beide Nationen und alle Schichten der Bevölkerung“ eine Vertretung finden sollten. Vgl. Ther, Schlesisch, deutsch oder polnisch? (), S. f. Das Zitat im letzten Satz stammt aus Doose, Die separatistische Bewegung (), S. . So etwa „Sipo“ für Sicherheitspolizei, POW G.Śl. für Polska Organizacja Wojskowa Górnego Śląska (Polnische Militärorganisation Oberschlesiens) und viele weitere.
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Ferner wurden die Teile Oberschlesiens genannt, die im Anschluss an das Plebiszit an den polnischen Staat angeschlossen wurden. Diese wurden „im Geiste des ausgedrückten Volkswillens wieder mit dem Mutterland verbunden.“ Die Schlesischen Aufstände, die erheblichen Einfluss auf die territoriale Gestalt Oberschlesiens hatten, kamen in dieser „Erinnerungsurkunde“ jedoch nicht vor. Sie stellte die Ereignisse bis zur Teilung Oberschlesiens so dar, als hätte allein die Entscheidung der polnischen Bevölkerung Oberschlesiens zum „Mutterland“ Polen zurückzukehren über den Verlauf der Ereignisse entschieden. Das wichtigste Objekt des Raumes erzählte demnach eine andere Geschichte als die Texte der Ausstellung. Der nachfolgende Saal empfing den Besucher ohne eine einführende Verortung des Inhaltes. Das erste erklärende Textelement befand sich auf einer gelben Tafel unter der Überschrift „Die Stadtväter“. Gezeigt wurde unter anderem die Replik einer Fotografie von Dr. Alfons Górnik „Stadtpräsident von Katowice in den Jahren 1922 bis 1928“. Diese und die Jahreszahlen unter den abgebildeten Porträts verwiesen auf die Zwischenkriegszeit. Weitere gelbe Darstellungstafeln zeigten Nachbildungen der Fotografien der Woiwoden sowie der Bischöfe von Katowice. Ergänzt wurden diese durch große Portraits der einzelnen Personen an den Wänden. Rote Tafeln informierten über neu errichtete öffentliche Gebäude in der Stadt und zeigten u. a. die Nachbildung einer Fotografie vom Bau des Wolkenkratzers. Bei seiner Errichtung kamen modernste Techniken zum Einsatz wie etwa geschweißte und genietete Stahlskelette. Diese Technologie war in Polen zu jener Zeit einzigartig.¹¹⁵ Neben dem Finanzamt beherbergte das Gebäude auch luxuriös geschnittene und ausgestattete Wohnungen für die Mitarbeiter des Woiwodschaftsamtes. Der Wolkenkratzer zählte zu den Prestigeprojekten der Zwischenkriegszeit in Katowice. Eine weitere rote Tafel berichtete über den Ausbau der Industrie und zeigte Repliken von Fotografien einzelner Industriekomplexe. Der Saal fokussierte somit sowohl auf die administrative Seite und zeigte die neuen Machthaber in der nunmehr polnischen Stadt. Anderseits wurden die Errungenschaften dargestellt, die ihren Ausbau und ihre Blüte zur Anschauung bringen sollen. Auch der achte Saal war der Zwischenkriegszeit gewidmet. An den Raumverhältnissen zeigte sich wie vorher bei den Schlesischen Aufständen, dass die Zwischenkriegszeit für die Ausstellungsmacher von besonderer Bedeutung gewesen sein muss. Der Schwerpunkt der Darstellung lag im achten Saal jedoch nicht mehr auf der Herrschafts- oder Verwaltungsgeschichte in der Stadt. Das
Vgl. Ryszard Nakonieczny: Die Wolkenkratzer von Katowice, in: Bauwelt (), S. – , hier S. .
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Alltagsleben, Kultur, Sport und gesellschaftliche Organisationen standen nunmehr im Fokus. Damit änderte sich auch die Ausstellungsgestaltung, und eine Vielzahl von Objekten kam zur Anschauung. Darunter eine große Anzahl von Sportgeräten, die auf sehr kleinem Raum gezeigt wurden. So hing etwa ein Fahrrad unter der Decke. Diese Fokussierung auf Objekte aus lebensnahen Bereichen machte die Ausstellung in diesem Saal lebendiger. Es entstand gleichzeitig der Eindruck, auf sehr wenig Raum möglichst viel zeigen zu wollen. Das Alltagsleben der Stadt in der Zwischenkriegszeit sollte dem Besucher möglichst facettenreich und vielgestaltig präsentiert werden. Der Wechsel der Perspektive sowie der Ebene der Darstellung auf die Alltagsebene wirkte ansprechender und lebendiger als die Erzählung auf der Ebene von Herrschaftsverhältnissen. Beim Besucher sollte der Eindruck erweckt werden, die Zwischenkriegszeit sei besonders vielfältig und ereignisreich für Katowice gewesen. Beide Räume präsentierten die Vergangenheit der Stadt in der Zwischenkriegszeit aus einer polnischen Perspektive. Das dominante Narrativ beider Räume stellte Katowice als polnische Stadt dar, regiert von Polen und mit einem ausdifferenzierten Alltagsleben. Es wurde auf das Theater und seinen Spielplan verwiesen, in dem vor allem polnische Opern gespielt wurden, aber auch auf den Bau des Schlesischen Museums, einem weiteren Prestigeprojekt der polnischen Stadtverwaltung. Sehr wenige Hinweise gab es hingegen darauf, dass auch Deutsche nach der Eingliederung in den polnischen Staat in Katowice lebten. Exemplarisch für die Präsentation der Geschichte der Deutschen im polnischen Katowice stand eine Vitrine, in der laut Beschreibung „Produkte von Firmen aus Katowice“ ausgestellt waren. Teilweise trugen diese Produkte deutsche Aufschriften wie etwa ein Thermometer von „Fotooptik Berndt Kattowitz“. Diese Art der Präsentation ließ darauf schließen, dass es in der Zwischenkriegszeit deutsche Firmen in Katowice gegeben haben muss. Das auf die deutsche Vergangenheit der Stadt hinweisende Objekt wurde eingerahmt von Objekten gezeigt, die polnische Aufschriften trugen. Eine textliche Kontextualisierung erfolgte nicht, auch waren keine Jahreszahlen oder Angaben zu finden, worum es sich bei den Objekten handelte. Die deutsche Vergangenheit der Stadt in der Zwischenkriegszeit wurde somit gezeigt, jedoch nicht erklärt. Ferner blieb in beiden Räumen die Frage ungeklärt, wie sich der Übergang von einer deutschen zu einer polnischen Stadt z. B. auf der Ebene städtischer Institutionen, im Vereins- und Kulturleben, im Sport und in den Medien, im Handel und Produktionsbereich gestaltet hat. Der Betrachter musste aufgrund des Inhaltes der Ausstellung davon ausgehen, dass die Stadt nach 1922 plötzlich und fast komplett polnisch war.Wie sich etwa die Bevölkerungsstruktur veränderte, woher die polnische Bevölkerung Katowices kam und was mit den Deutschen in der Stadt nach 1922 passierte, die nunmehr in einem anderen Staat lebten, wurde nicht
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thematisiert. Fragen danach, ob die deutschen Einwohner von Katowice die Stadt verlassen mussten oder vor Ort bleiben konnten bzw. danach, wie sich das Zusammenleben zwischen Deutschen und Polen gestaltete, blieben offen. Das Ende des Saales zur Zwischenkriegszeit wurde von einer Tafel zum Zweiten Weltkrieg bestimmt, die die Überschrift Vor Ausbruch des Krieges trug. Der Krieg blieb unbenannt, es wurde nicht vom Zweiten Weltkrieg gesprochen. Interessant waren die Bilder, die die Situation vor Ausbruch des Krieges charakterisierten: Gezeigt wurden Repliken von Fotografien, unter anderem eine „Geländeübung der Luftabwehr der Frauen“ von August 1939, sowie ein „Kurs zur Feuerbekämpfung“ (so die jeweilige Bildunterschrift), ebenfalls von August 1939. Die Jahreszahlen ermöglichten eine Kontextualisierung, dass es sich um den Zweiten Weltkrieg handelt. Dargestellt wurde die Kriegsvorbereitung und eine auf Kampfhandlungen und ihre Folgen vorbereitete Zivilbevölkerung. Das passte zu weiteren Objekten im Raum, etwa einem gerahmten Gruppenfoto mit der Bildunterschrift: „Erinnerung an die Tätigkeit des 73. Regiments sowie die Organisation vorbereitender Maßnahmen der Zivilbevölkerung auf den Kriegsfall. Auf der Fotografie: Offiziere des 73. Regimentes, 1933.“ Die Stadtbevölkerung spielte in der Ausstellung meist eine untergeordnete Rolle, der Weg in den Krieg wurde jedoch zu einem Großteil über die Abbildung der Einwohner der Stadt dargestellt. Im letzten Saal der Ausstellung wurde die lange Zeitspanne von 1939 bis 1990 ausgestellt. Ein durchsichtiges Panel machte anhand der Überschriften die Schwerpunktsetzungen für diesen zeitgeschichtlichen Saal deutlich: Während der Okkupation sowie In der Volksrepublik Polen. Der Text zur Okkupation erwähnte als erstes die in Anbetracht der Übermacht der hitlerowcy ¹¹⁶ kurze,von Freiwilligen organisierte Verteidigung der Stadt Katowice, um anschließend von den Repressionen gegen die polnische Bevölkerung sowie der Vernichtung von Symbolen polnischer Staatlichkeit zu berichten. Dass die Okkupation im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg stand, wurde nicht erwähnt. Neben der Zerstörung des Schlesischen Museums berichtete der Text weiterhin von der Zerstörung einer Synagoge. Der Betrachter erfuhr auf der Tafel außerdem, dass „gegen Mitglieder des Widerstandes“ hohe Strafen verhängt und „viele Einwohner in Konzentrationslager gebracht“ wurden. Wer genau Widerstand geleistet hat und wer in ein Konzentrationslager deportiert wurde, blieb unerklärt. Der Text vermittelte aufgrund fehlender Informationen über andere Bevölkerungsgruppen in der Stadt den Eindruck, als wären vor allem Polen Opfer der nationalsozialistischen Re Hitlerowcy ist eine Bezeichnung aus den er Jahren, die in der Volksrepublik Polen anstelle von „Deutsche“ genutzt wurde. Seine Verwendung zeigt, dass der Text entweder noch aus der Zeit der PRL stammte oder der für die Überarbeitung Verantwortliche kein Bewusstsein für die Herkunft des Begriffes hatte.
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pressionen gewesen. Es wurde nicht erwähnt, dass in Katowice auch Juden gelebt haben, die laut der nationalsozialistischen Ideologie vernichtet werden sollten und in Konzentrationslager deportiert wurden. Einen impliziten Hinweis auf die jüdischen Einwohner Katowices lieferte der Paneltext durch die Erwähnung der zerstörten Synagoge. Interessant ist diese Stelle deshalb, weil die jüdischen Einwohner der Stadt in der gesamten Schau kaum erwähnt wurden.¹¹⁷ Der wesentliche Beitrag der jüdischen Bewohner zur Entwicklung der Stadt, die spätestens seit der Stadtgründung von dem aufblühenden Industrie- und Handelszentrum angezogen wurden, blieb in der ganzen Ausstellung unerwähnt. Thematisiert wurden die jüdischen Bürger der Stadt erst, als sie zu Opfern der Nationalsozialisten werden, wobei ihr Schicksal mit der Zerstörung der Synagoge nur angerissen, nicht aber erzählt wurde. Unter der Überschrift In der Volksrepublik Polen wurde im ersten Satz eine direkte Verbindung des Einmarsches der Roten Armee am 27. Januar 1945 und der Einführung des kommunistischen Systems hergestellt: „Mit dem Einmarsch der Roten Armee in Katowice am 27. Januar 1945 begann in der Geschichte der Stadt die Etappe des Kommunismus.“ Die Rote Armee galt in dieser Darstellungsweise nicht als Befreierin von der nationalsozialistischen Herrschaft, sie brachte den Kommunismus in die Stadt. Die Darstellung eines „übergestülpten“ Kommunismus suggerierte eine negative Bewertung. Auch die konkreten Auswirkungen für die Stadt wurden beschrieben: Die deutschen Einwohner wurden nach 1945 vertrieben. Die „Unterwürfigkeit der polnischen und schlesischen kommunistischen Machthaber gegenüber der Sowjetunion“ wurde als derart weitreichend geschildert, dass die Stadt nach dem Tod Stalins in Stalinogród (Stalinstadt)¹¹⁸ umbenannt wurde. „Doch das kommunistische System führte bald zu Widerstand in der Gesellschaft“, so der Text. Die Gründung der Solidarność im August 1980 wurde erwähnt, das Kriegsrecht von 1980 bis 1983 sowie der Streik der Bergarbeiter in der Grube Wujek im Jahr 1981, der mit neun Toten infolge von Waffengebrauch durch die Miliz endete. Das „Dunkel“ des Kriegszustandes „erhellte“ der Besuch des Papstes in Katowice am 20. Juni 1983, so der Text weiter. 1,5 Millionen Men Auf einer Tafel im siebten Saal war etwa die Große Synagoge zu sehen, die sich bis zu ihrer Zerstörung durch die Nationalsozialisten im Stadtzentrum befunden hat. Die Entscheidung für die Umbenennung erfolgte am . März in Warschau. In Katowice hatten die lokalen Organe der PZPR jedoch Bedenken, die erst durch einen Anruf des Generalsekretärs Bolesław Bierut beseitigt wurden. Dort wurde argumentiert, dass Katowice eine alte Stadt sei und dass neu gebaute Städte wie Tychy oder Nowa Huta sich besser eignen, den Namen Stalins zu tragen. Der Historiker Zygmunt Wozniczka mutmaßt, dass Katowice mit der Namensänderung bestraft werden sollte, da die Stadt dem Kommunismus noch immer widerwillig gesinnt war.Vgl. Wozniczka, Katowice – Stalinogród (), S. . Im Jahr wurde die Umbenennung rückgängig gemacht und der Name Katowice wieder eingesetzt.
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schen kamen zu einem Treffen mit dem Kirchenoberhaupt. „Unter dem Einfluss der gesellschaftlichen und politischen Veränderungen in der Sowjetunion sowie der immer schlechteren Stimmung in der polnischen Gesellschaft entschied sich die Regierung für Gespräche am ‚Runden Tisch‘.“ Als Ergebnis dieser Gespräche zwischen kommunistischen Machthabern und der Opposition wurden Wahlen für den Sejm und den Senat angesetzt: „Die ersten freien Wahlen fanden am 4. Juni 1989 statt.“ Der Text endete mit den ersten freien Wahlen für die Organe der Selbstverwaltung im Juni des Jahres 1990. Der letzte Raum war dominiert von Objekten der nationalsozialistischen Besatzungs- und Kriegszeit; über ein zentrales Objekt verfügte dieser Saal jedoch nicht. Zwischen zwei Vitrinen mit Dokumenten und Objekten wie Gasmasken oder einem selbstgebauten Radio befand sich ein blau-weiss gestreifter Sträflingsanzug mit der Beschreibung „Kleidung in einem Konzentrationslager, sog. Sträflingsanzug“. Ein kleiner roter Winkel auf der Brust des Anzuges, versehen mit dem Buchstaben P, deutete auf die von den Nationalsozialisten genutzte Kennzeichnung für politische Gefangene hin. Dies implizierte eine Interpretation, der zufolge die ideologischen bzw. politischen Gegner der Nationalsozialisten, etwa Kommunisten, die vorrangigen Opfer nationalsozialistischer Repressionen waren. Diese Sicht auf den Nationalsozialismus wurde vor allem während der Zeit der Volksrepublik in den Mittelpunkt gestellt. Eine Überarbeitung der Ausstellung gab es an dieser Stelle scheinbar nicht, die kommunistische Sichtweise auf den Nationalsozialismus entfaltete hier ungebrochene Wirkung. Das zeigte sich auch bei der jüdischen Bevölkerung, die als Opfergruppe in der Ausstellung zwar nicht verschwiegen wurde, die Darstellung legte jedoch nahe, dass die überwiegende Opfergruppe politische Gefangene waren. Die restlichen Objekte und Darstellungstafeln illustrierten die im Paneltext erwähnten Ereignisse der Umbenennung der Stadt in Stalinogród, den Kriegszustand und den Papstbesuch. Der Rundgang endete mit Wahlplakaten der Solidarność aus dem Jahr 1989, die sich direkt neben einer braunen, an einen Wohnungseingang erinnernden Holztür befanden, durch die der Besucher die Ausstellung verließ. Die 1960er und 1970er Jahre wurden in dieser Darstellung der Zeitgeschichte nicht erwähnt. Dieser Abschnitt, in dem für die Stadt so wichtige Bauten wie etwa die Mehrzweckhalle Spodek oder der Riesenwohnblock Superjednostka entstanden, die bis heute das Stadtbild prägen, wurde aus der Erzählung ausgeklammert. Die Narration des Saales hatte einen deutlich politischen Zuschnitt und konzentrierte sich auf die Installierung des Kommunismus als Einschnitt in die Geschichte der Stadt und stellte nachfolgend dar, wie das kommunistische System überwunden wurde. Innerhalb dieser Narration vom Überstülpen und Überwinden des Kommunismus war nach wie vor die aus kommunistischer Zeit stammende Darstellung des Nationalsozialismus zu sehen.
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Abb. 21: Der letzte Saal zur Geschichte seit Ausbruch des Zweiten Weltkrieges bis zum Jahr 1990 verfügte nicht über ein zentrales Objekt. Die Aufmerksamkeit des Besuchers zog jedoch aufgrund seiner Größe und der Präsentation das Modell eines Sträflingsanzuges auf sich. Die Objektbeschriftung wies ihn als „Kleidung in einem Konzentrationslager, sog. Sträflingsanzug“ aus. Autor: Juliane Tomann
Bei der letzten Neugestaltung der Ausstellung schien die Überarbeitung der Darstellung der kommunistischen Herrschaft und ihres Endes von größerer Wichtigkeit gewesen zu sein als eine Neugestaltung der Darstellung des Nationalsozialismus.
Gesamtanalyse und Triftigkeitsprüfung Für eine abschließende, strukturierte Gesamtbetrachtung der Ausstellung liefert die Überprüfung der Triftigkeiten¹¹⁹ sinnvolle Anhaltspunkte. Die innere Quellenkritik hat bereits Hinweise auf die empirische und narrative Triftigkeit der Ausstellung gegeben, die im Folgenden aufgegriffen und um den Aspekt der normativen Triftigkeit erweitert werden. Die empirische Triftigkeit fragt danach, welche Belege es für das behauptete vergangene Geschehen einer historischen Narration gibt und wie repräsentativ das beschriebene historische Phänomen ist. Die analysierte Ausstellung erreichte empirische Plausibilität nur dort, wo die Geschichte von Katowice als polnische Stadt dargestellt wurde. Außerhalb dieses Narrativs war die Schau mit ver-
Zum Konzept der Triftigkeiten historischer Narrationen und ihrer Untersuchung siehe Kapitel . Dekonstruktion historischer Narrationen I: Triftigkeitsprüfung sowie Kapitel . Dekonstruktion historischer Narrationen II: Museumsanalyse.
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gleichsweise wenig empirisch überprüfbarem Material (Objekten) ausgestattet. Doch auch innerhalb der Darstellung von Katowice als polnischer Stadt war die empirische Triftigkeit häufig nur schwach ausgeprägt. Es sei nochmals auf den ersten Saal verwiesen, der die mittelalterliche und frühneuzeitliche Geschichte schilderte, dessen zentrales Objekt jedoch aus dem 18. Jahrhundert stammte. Zur in Texten und anderen Medien dargestellten Geschichte wurden in diesem Raum keine Objekte gezeigt, die die Argumentation tragen bzw. unterstützen würden. Das war bedingt durch die schlechte Quellenlage für diesen Abschnitt der Stadtgeschichte, die im Sinne der Transparenz der Darstellung hätte thematisiert werden können. Das Stadtgeschichtliche Museum setzte jedoch vor allem im ersten Saal nicht auf Transparenz, sondern wählte eine Darstellungsstrategie die versuchte, eine empirisch nachweisliche Geschichte zu erzählen, die jedoch auf der Ebene der Objekte nicht trug. In den zeitlich späteren Ausstellungsteilen zum 19. und 20. Jahrhundert war die empirische Triftigkeit des polnischen Narrativs über Katowice umfassender mit Objekten ausgestattet und untermauerte die Argumentation auf vielfältige Art. Narrative Triftigkeit untersucht, wie Aussagen über die Vergangenheit in Kontexte gesetzt bzw. als Geschichte dargestellt werden und auf welche Weise diese erzählt wird. Dabei werden die sprachlichen und argumentativen Konstruktionskriterien einer Narration überprüft. Die narrative Darstellung der beschreibenden Texte bzw. Objektbeschreibungen war aufgrund ihrer Sprunghaftigkeit, fehlender Bezüge zwischen den Texten, auf einzelnen Medien wie Panels und Darstellungstafeln sowie einem an manchen Stellen nachlässigen Umgang mit Sprache wenig stringent. Besonders deutlich wurde dieser Befund im Raum zu den Schlesischen Aufständen. Die Argumentationsstruktur der beschreibenden Texte war hier einseitig und ausschließlich auf eine polnische Betrachtungsweise bezogen. Der einführende Paneltext beschrieb die Ereignisse ausschließlich aus einer polnischen Perspektive, während kontextualisierende Einordnungen von Ursachen oder Motiven des Konfliktes fehlten. Eine Einordnung der Ziele der Aufständischen und auch der deutschen Gegner, die in den Texten zwangsläufig immer mit auftauchen, wäre selbst innerhalb der Erzählkonvention einer polnischen Perspektive auf die Stadtgeschichte für die Argumentation verständnisfördernd gewesen. Die Argumentationsstruktur wurde ferner von der Art der sprachlichen Darstellung beeinflusst. So wurde in den Texten etwa mit unaufgelösten Abkürzungen von polnischen und oberschlesischen Kampfeinheiten gearbeitet, die sich störend auf den Lesefluss und das Verstehen auswirkten. Nachteilig auf die narrative Triftigkeit wirkte sich nicht nur die fehlende Kohärenz in den Texten aus, sondern auch das räumliche Verhältnis zwischen Darstellungstexten und den Objekten, auf die sie Bezug nahmen. Die Beziehung zwischen Text und Objekt wurde gestört, da keine räumliche Nähe zwischen ihnen
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gegeben war und Texte auf Objekte oder Ereignisse Bezug nahmen, die in anderen Räumen bzw. inhaltlichen Zusammenhängen zu sehen waren. Ferner war der Duktus der Texte nicht offen und am Besucher orientiert sondern akademisch und belehrend. Die Art, in der die Texte geschrieben waren, erweckte den Eindruck, dass es den Ausstellungsmachern nicht um Verständlichkeit, sondern um diskussionsfreie Wissensvermittlung ging. Die Ausstellung stand als Beispiel für einen Top-down-Prozess der Wissensvermittlung, bei dem die Rollen des Vermittlers (Ausstellungsmacher) und des Rezipienten (Besucher) eindeutig definiert waren. Ein Diskurs wurde nicht angestrebt, vielmehr herrschte eine Art der Darstellung vor, die möglichst wenig Ansatzpunkte für eine Diskussion bot. Offenheit in der Argumentation, abwägendes Fragen oder die Andeutung von Alternativen als Elemente sprachlicher Gestaltung waren in den Ausstellungstexten nicht zu finden. Die Ausstellungsmacher blieben der Form eines akademischen Diskurses treu, der durch eine Ausstellung „nach außen“ verlagert wurde. Die normative Triftigkeit einer historischen Narration bezieht sich auf die orientierende Leistung ihrer Botschaften und Verortungsangebote, die sie durch historische Sinnbildungen für Gegenwart und Zukunft aufzeigt. Die Darstellung der Stadtgeschichte war im überwiegenden Teil auf das Zeigen vergangenen Geschehens konzentriert und somit auf der Ebene der Vergangenheitsdeutungen angesiedelt. Es gab nur wenige Stellen, wo sich die Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft berührten und infolgedessen historische Sinnbildungen entstanden. Ein Beispiel für das Überlagern der Zeitebenen war im ersten Ausstellungssaal zu finden. In die Darstellungen der „Lageskizze des heutigen Zentrums von Katowice (1686)“ waren die Dörfer Brynow und Zalenze sowie das frühneuzeitliche Hammerwerk in Bogutschütz eingetragen und mit dem heutigen Straßennetz des Stadtzentrums von Katowice überlegt. Wenngleich die Darstellung aufgrund der schlechten grafischen Qualität für den Besucher schwer zu erkennen war, wurde die Absicht deutlich. Es sollte gezeigt werden, dass sich auf einem Großteil der Fläche der heutigen Innenstadt im 16. Jahrhundert der Hammerteich von Bogutschütz befunden hat und in welchem Verhältnis die Dörfer Brynow und Zalenze zum heutigen Stadtzentrum stehen. In dieser Form wurden Vergangenheit und Gegenwart in einen Bezug gesetzt, der einen Orientierungsgewinn für den in der Jetztzeit lebenden Ausstellungsbesucher mit sich bringt. Orientierung bedeutet, eine Entwicklung zwischen Zuständen in der Vergangenheit und der Gegenwart erkennen zu können und somit die Verhaftung in einer ausschließlich gegenwärtigen Perspektive durch eine historische zu erweitern. Historische Sinnbildungen fanden sich in der untersuchten Ausstellung nicht in den beschreibenden Texten, sondern ausschließlich in ausgewählten bildlichen oder grafischen Darstellungen. Das war vor allem in den ersten Ausstellungsräumen der Fall, die die Zeit vor der Stadtwerdung behandelten. Dem Besucher
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sollte scheinbar besonders diese weit zurückliegende Zeit als Deutungsangebot für die Gegenwart veranschaulicht werden. Eine Orientierungsleistung für Gegenwart und Zukunft war dennoch in der Ausstellung nur schwach angelegt. Wenn Orientierung gegeben wurde, dann bezog sie sich auf die Vorstellung einer polnisch-nationalen Stadtgemeinschaft in der Vergangenheit und teilweise in der Zeitgeschichte. Die Ausstellung endete jedoch im Jahr 1990, und es bestand ein deutlicher zeitlicher Abstand zwischen der Gegenwart der Besucher und dem zeitlichen Ende der Ausstellung. Das schuf eine zeitliche Distanz, die die Vergangenheit von der Jetztzeit und der Zukunft abtrennte.¹²⁰ Eine Ausnahme bildete der zur Ausstellung angefertigte Katalog mit einem kurzen, die Schau mit ihren Zielen und ihrer Machart verortenden Einleitungstext, der aus einer gegenwärtigen Perspektive geschrieben wurde. Sinnbildungen als Interpretationen der Vergangenheit, die auf ein Verständnis der Gegenwart und das Eröffnen von Handlungsoptionen für die Zukunft hinarbeiten, fehlten aber auch in dieser Broschüre weitgehend. Die normative Triftigkeit der Ausstellung war nicht nur aufgrund fehlender Bezüge in die Gegenwart oder Verweise auf eine zu gestaltende Zukunft schwach ausgeprägt. So blieben dem Besucher etwa auch Hinweise auf die Auswahl- oder Konstruktionskriterien, die zur Gestaltung der Ausstellung in der zu sehenden Form geführt haben, weitgehend verschlossen. Ein Einführungstext zu Beginn der Schau, der die Ziele, Ausgangspunkte oder Motivationen thematisiert, die hinter dem Gezeigten stecken, hätte für mehr Transparenz gesorgt. Der kurze Einführungstext in der Broschüre zeigt, dass das möglich ist. Auf der Ebene der Vergangenheitsdeutungen besaß die Ausstellung dennoch ein sehr deutlich formuliertes und zur Anschauung gebrachtes Orientierungsangebot, das an die Gegenwart heranreichte: Sie erzählte eine Gründungs- und Aufbaugeschichte, die durch die Veranschaulichung einer weit zurückreichenden, ausschließlich positiv besetzten Geschichte eine Legitimitätsgrundlage für die Gegenwart schaffen sollte.Vor allem die ersten beiden Säle zum Mittelalter und der Frühen Neuzeit wurden herangezogen, um ein polnisches Narrativ über die Stadt zu etablieren. Der Bezug auf Gewährsmänner wie den Hüttenarbeiter und in polnischer Sprache dichtenden Poeten Walenty Roździeński waren dafür ein anschaulicher Beleg. Die Bezugnahme auf derart weit zurückreichende Zeitabschnitte der Stadtgeschichte diente ferner der Herausbildung eines gegenläufigen Narratives zur deutschen Erzähltradition über Katowice, der zufolge die Stadt Die zeitliche Distanz könnte überwunden werden, indem etwa Fragen der urbanen Stadtentwicklung, der städtischen Identität oder die Transformation von einer Industrie- zu einer Postindustriestadt nach thematisiert würden. Diese Fragen besitzen in Katowice seit ungebrochene Aktualität.
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dank der Industrialisierung erst in der preußischen Zeit eine Blüte erlebte. Dieser deutsche Teil der Stadtgeschichte war in der Ausstellung auch präsent, wurde jedoch zeitlich nach vorn und hinten von einem polnischen Narrativ eingerahmt. Wichtig für diese Art der Darstellung war die Markierung des Beginns der Stadtgeschichte mit den polnischen Piastenkönigen und das Aufzeigen einer Kontinuität der polnischen staatlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Einflüsse in der Stadt. Zwar wurden Brüche in der städtischen Entwicklung verschiedentlich zur Anschauung gebracht, wirkliche Einschnitte wie etwa Zerstörungen infolge von Kriegen, menschliches Leid oder (Zwangs)Migration der Bevölkerung blieben unerwähnt. Diese traten zugunsten der Konstruktion einer positiv gestalteten Kontinuität der polnischen Stadtgeschichte in den Hintergrund. Zu fragen wäre am Ende der Analyse, worin die Gründe für die beschriebene Art der Darstellung der Stadtgeschichte von Katowice liegen. Angerissen wurde dieser Fragenkomplex bereits zu Beginn, als auf die Geschichte des Museums und der Ausstellung eingegangen wurde. Weitere Klärungen finden sich im erwähnten kurzen Einleitungstext des Ausstellungskataloges. Aus ihm lassen sich Leitfragen für die Erstellung der Schau sowie die Motivation für diese Art der Darstellung herauslesen. Der Text geht etwa auf den mehrfachen Wechsel staatlicher Zugehörigkeiten der Stadt ein, der besonders zu Beginn des 20. Jahrhunderts in schneller zeitlicher Folge die wechselnde Lage der Stadt in Deutschland und Polen bedingte. Der Text erklärt, dass diese häufigen Wechsel eine instrumentalisierte bzw. einseitig nationale Darstellung der Stadtgeschichte bedingt hätten. Die Ausstellung bilde nunmehr den Versuch einer „objektiven Darstellung der Geschichte von Katowice“¹²¹. „Objektiv“ ist in Bezug auf eine Ausstellung ein schwieriger Begriff ¹²², da bei der Erarbeitung einer Schau stets Auswahlentscheidungen für bzw. gegen bestimmte Objekte, Darstellungen, Kontextualisierungen getroffen werden müssen.¹²³ Für eine Ausstellung könnte eine Annäherung
Vgl. Muzeum Historii Katowic: Z dziejów Katowic [Aus der Geschichte der Stadt Katowice], ohne Seitenzahlen, Wstęp [Einführung]. Vgl. die einleitenden drei Seiten dieses Kapitels, wo der Prozess der Entstehung einer Ausstellung erläutert wird. Die Ausstellungsmacher waren sich der Schwierigkeiten des Objektivitätsbegriffes jedoch teilweise bewusst und reflektierten seine Grenzen. So informiert der Einführungstext auch darüber, dass es trotz intensiver Bemühungen nicht gelungen sei, zu allen Zeitabschnitten der Vergangenheit Objekte zu finden und ausstellen zu können. Die Ausstellungsmacher waren daher „an vielen Stellen gezwungen, speziell angefertigte Schautafeln oder Modelle einzusetzen, die unserer Meinung nach das Verständnis der komplexen Geschichte von Katowice fördern.“ Die anvisierte „objektive“ Darstellung der Vergangenheit sei ferner aufgrund der Begrenzung auf neun Säle zusätzlich erschwert: „Deshalb deuten wir nur die wichtigsten, oft mit Brüchen verbundenen
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
253
an „Objektivität“ bestenfalls das Darstellen und Herausarbeiten verschiedener Perspektiven auf das ausgestellte Geschehen meinen. Eine derartige Multiperspektivität war jedoch in der Schau des Stadtgeschichtlichen Museums nicht zu erkennen. Was die Ausstellungsmacher unter Objektivität verstanden, zeigte sich am Umgang mit den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Der Duktus der Ausstellung orientierte sich an einer Dokumentation vergangenen Geschehens. Der eigene, in der Gegenwart verhaftete Standpunkt der Ausstellungsmacher wurde nicht deutlich gemacht. Ebenso fehlten überwiegend Sinnbildungen, die die Vergangenheit auf Gegenwart und Zukunft bezogen hätten. In der Konzentration auf die Vergangenheit und das Vernachlässigen des Konstruktionsstandpunktes der Ausstellungsmacher in der Gegenwart könnte – so paradox das klingen mag – die laut Katalogtext angestrebte „Objektivität“ des Dargestellten liegen. Nach Ansicht der Ausstellungsmacher, die sie im Katalog zum Ausdruck brachten, wurde die Geschichte der Stadt im 20. Jahrhundert von antagonistischen Nationalismen instrumentalisiert, um Ansprüche auf die Stadt zu rechtfertigen. Einer „objektiven“ Betrachtung der Vergangenheit stand dieser instrumentalisierende Blick den Autoren zufolge entgegen. Um die Vergangenheit der Stadt vor derartigen Betrachtungs- und Nutzungsweisen zu schützen, entschieden sich die Autoren für eine Entkoppelung der Zeitebenen. Dass in der Ausstellung keine Gegenwarts- und Zukunftsperspektive angelegt war, hat demnach weniger mit Nachlässigkeit zu tun, es scheint vielmehr eine bewusste Entscheidung gewesen zu sein. Von einem Fokus auf die Vergangenheit in der Darstellung versprachen sich die Kuratoren eine „objektive“ Sicht auf die Stadtgeschichte, deren Deutung nicht den Konjunkturen politischer oder staatlicher Zugriffe unterliegt. Die Vergangenheit der Stadt sollte abgeschlossen und ohne Anknüpfung an die Gegenwart und Zukunft gezeigt werden, um sie nicht für gegenwärtige Zwecke instrumentalisieren zu können. Durch diese Entkoppelung von Gegenwart und Vergangenheit wurde wiederum eine bestimmte Sicht auf die Vergangenheit festgeschrieben und die Vergangenheitsdeutung einer Diskussion bewusst entzogen. Ein Diskurs über die Vergangenheit von Katowice, eine eigenständige Reflexion der Besucher, Interpretation oder Bewertung des Gesehenen gehörten nicht zu den Intentionen der Kuratoren. Insofern handelte es sich bei der Ausstellung nicht um ein offenes Deutungsangebot, sondern um eine gesetzte Sinnstiftung, die festschrieb, wie die Vergangenheit verstanden werden sollte. Die Ergebnisse der Triftigkeitsanalyse von Ausstellung und Begleitkatalog bilden einen Kontrast zu den Aussagen des Kurators, Jacek Siebel, zu Intentionen,
historischen Ereignisse an.“ Vgl. Muzeum Historii Katowic: Z dziejów Katowic [Aus der Geschichte der Stadt Katowice], ohne Seitenzahlen, Wstęp [Einführung].
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
Motivationen und dem Entstehungshintergrund der Ausstellung. Bereits zu Beginn der Analyse wurde auf das Hauptanliegen Siebels verwiesen: „zeigen, was am Wichtigsten war“.¹²⁴ Diese positivistische Einstellung zu Geschichte deckt sich weitgehend mit der im Katalogtext angestrebten „Objektivität“ der Darstellung. Die weiteren Überschneidungen zwischen Siebels Ideen und Vorstellungen, die ihn während des Kuratierens geleitet haben und die er im Interview formulierte und dem, was in der Schau zu sehen war, sind weitaus geringer. Eines der leitenden Prinzipien war für Siebel die Kontinuität der Besiedlung des Stadtgebietes. Dieses sei jedoch von unterschiedlichen Kulturen beeinflusst worden, weshalb eine kulturelle Kontinuität in Katowice nicht gegeben sei: „Es gab entweder Einschnitte oder Brüche, so wie im Jahr 1945.“ Zeigen wollte Siebel ferner eine Dualität zwischen ländlicher Tradition und industrieller Entwicklung sowie die damit zusammenhängende Migration, die eine spezifische Mischung aus Einheimischen und Zugezogenen in der Stadt schuf. Zwar legte sich Siebel fest, dass die ursprünglichen Bewohner des Stadtgebietes einen slawischen Dialekt gesprochen haben, und die Vorstellung eines slawischen Ursprunges der Stadt prägte das Denken des Kurators. Dennoch lagen die inhaltlichen Zielsetzungen Siebels und das tatsächlich in der Ausstellung zu Sehende weit auseinander. Die oben beschriebenen Vorstellungen des Kurators etwa zur Rolle der Migration, der Beziehung zwischen polnischen Bauern und deutschen Zuzüglern, zur Vielsprachigkeit und dem Zusammenleben zwischen den Einwohnern in der Stadt, den Brüchen und der Kontinuität ihrer Entwicklung, haben in der Ausstellung kaum Niederschlag gefunden. An einigen Stellen ließen sich derartige Akzente herauslesen, den Grundtenor einer polnisch-nationalen Sicht auf die Vergangenheit tangierten sie jedoch nicht. Warum sich die vom Kurator beschriebenen inhaltlichen Konzepte und Zugriffe in der Schau nur an sehr wenigen Stellen wiederfinden ließen, konnte während des Interviews nicht geklärt werden. Weder mit den Objekten, noch auf der Ebene der Interpretationen sah Siebel Probleme: „Alles, was wir hatten, konnten wir zeigen.“ Das einzige Problem bestehe darin, dass nach wie vor Objekte in den Sammlungen fehlten. Abgesehen davon seien interpretatorische oder politische Probleme kein relevantes Thema in der Arbeit des Museums.
Ebd.
6.2 Das Stadtgeschichtliche Museum
255
Ausblick: Neuinszenierung der Dauerausstellung Dass die Ausstellung mit ihrem hier vorgestellten inhaltlichen Zuschnitt von ihrem damaligen Kurator, dem jetzigem Direktor des Museums, als unproblematisch betrachtet wurde, machten ferner die Ausbaupläne des Museums deutlich. Mehr als eine halbe Million Zloty standen aus Mitteln des Kultusministeriums sowie aus Eigenmitteln des Museums zur Verfügung, um die Ausstellung in den Jahren 2014 und 2015 grundlegend umzugestalten.¹²⁵ Zur Konzeption der neuen Ausstellung hob Siebel hervor: Die Chronologie ist die gleiche [wie bei der jetzigen Ausstellung, JT], der Großteil der Fakten auch, denn die Fakten wollen wir nicht ändern. Wenn wir einmal ein bestimmtes Wissen besitzen, ist das eben so. Es sei denn, wir entdecken irgendwo was. Das passiert auch, aber eher selten. Es geht vielmehr um [eine Veränderung, JT] des Formates.¹²⁶
Unter Format verstand Siebel den Zuschnitt der Präsentation bzw. die Präsentationstechnik.Während die bisherige Ausstellung einen klassisch chronologischen Ansatz verfolge, werde die neue Ausstellung szenografisch aufgearbeitet. Die erzählte Geschichte bleibe die gleiche, so Siebel, nur das Arrangement verändere sich. Nach einem Drehbuch entstehe eine Schau, die den Besucher dank eines komplexen Licht- und Raumkonzeptes mit auf eine „Zeitreise“ nehme und ihm den Eindruck des Erlebens der vergangenen Wirklichkeit ermögliche. Schaukästen, Darstellungstafeln und all die traditionellen Elemente, die die Ausstellung in ihrem bisherigen Zustand prägten, würden verschwinden und etwa im Raum zum Ursprung des Hammers durch das nachempfundene Innere eines Hammerwerkes ersetzt. Trotz dieser aufwändigen und teuren Umbaupläne, die die Geschichte von Katowice nach Willen des Direktors erleb- und nachvollziehbar machen sollten, ändert sich nichts an der räumlichen Situation von Museum und Ausstellung. Auch die neue Erlebniswelt zur Geschichte von Katowice wird sich in der letzten Etage des Bürgerhauses in den neun kleinen Sälen befinden. Die bisherige Aufteilung der Stationen der Stadtgeschichte auf die einzelnen Säle werde daher beibehalten, so Jacek Siebel. Es wird sich zeigen, ob die Neuinszenierung des Inhaltes auch dafür genutzt wird, der Ausstellung eine stringente Geschichte zu verleihen, die in ihren Kontexten verankert ist und beim Besucher zum Ver-
Im September wurde der erste Teil der neu gestalteten Dauerausstellung eröffnet, der jedoch nicht mehr in diese Untersuchung einfließen konnte. Die Analyse der bisherigen Ausstellung bietet einen guten Ausgangspunkt für einen Vergleich mit der neuen Ausstellung, nachdem sie in vollem Umfang zu sehen sein wird. Ebd.
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
ständnis der Vergangenheit beiträgt. Ganz sicher wird sich nach Abschluss des Umbaus der Ausstellung eine interessante Spannung zwischen der inszenierten Dauerausstellung zur Stadtgeschichte und den dagegen statisch anmutenden Inneneinrichtungen der Bürgerwohnungen ergeben.
6.3 Das Schlesische Museum Kunst statt Geschichte? Zur Frage der Dauerausstellungen im Schlesischen Museum Zentraler als das Stadtgeschichtliche Museum, im Stadtzentrum unweit des Marktplatzes gelegen, befand sich das Schlesische Museum. Ganz ähnlich zu seinem stadtgeschichtlichen Pendant verfügte das Schlesische Museum zum Zeitpunkt der Untersuchung nicht über einen eigens für seine Bedürfnisse errichteten Museumsbau, sondern war in einem Neorenaissancegebäude aus dem 19. Jahrhundert untergebracht, dem ursprünglichen Sitz des Grand Hotel Wiener. Dem Namen nach unterschied sich das Schlesische Museum in seiner programmatischen Ausrichtung vom Stadtgeschichtlichen Museum durch einen erweiterten Fokus auf die gesamte Region. Aus den Statuten des Museums geht jedoch hervor, dass es sich um eine Institution handelt, die gemeinsam von der Woiwodschaft sowie dem Ministerium für Kultur und nationales Erbe getragen wird. Laut Statuten beschäftigt sich das Museum mit der Aufbewahrung, Konservierung, dem Zur-Verfügung-Stellen und der Vermittlung von Objekten „aus dem Bereich polnische und andere Kunst, Ethnografie, Archäologie, Geschichte sowie der polnischen Szenografie“ und führt „wissenschaftliche Untersuchungen sowie pädagogische Tätigkeiten in den oben genannten Bereichen“ durch.¹²⁷ Ein Fokus auf Stadt oder Region ist in den Statuten des Museums nicht vorgesehen, vielmehr eine Konzentration auf den gesamtpolnischen Kontext, vor allem im Bereich der Kunst. Die Bereiche Ethnografie, Archäologie und Geschichte wurden in den Statuten nicht eingehender mit einer geografischen Definition versehen. Den in den Statuten formulierten Arbeitsbereichen entsprechend, beschäftigten sich zwei der insgesamt vier Dauerausstellungen im Hauptgebäude des Museums mit polnischer Kunst. Eine Dauerausstellung war der polnischen Kunst von 1800 bis 1945 gewidmet, eine zweite thematisierte den Zeitraum nach 1945
Vgl. Statut Muzeum Śląskiego w Katowicach [Statut des Schlesischen Museums in Katowice], § und § , Fassung vom . Januar , einzusehen online unter URL http://bip.muzeumslas kie.pl/dokument_.html (Zugriff . . ).
6.3 Das Schlesische Museum
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Abb. 22: Ansicht des Gebäudes, in dem das Schlesische Museum seit Mitte der 1980er bis 2015 seinen Sitz hatte. Quelle: wikimedia commons, Autor: Przykuta URL: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Muzeum_Slaskie1.jpg?uselang=de
bis zur Gegenwart.¹²⁸ Geschichte wurde in diesen beiden Ausstellungen indirekt über die Kunstwerke aus den vergangenen zwei Jahrhunderten thematisiert. Die beiden klassischen Formate einer Kunstausstellung, wie sie etwa in Museen für bildende Kunst anzutreffen sind, vermittelten einen spezifischen Eindruck über das künstlerische Schaffen in Polen seit 1800 und stellten Polen als Kunst- und Kulturnation dar. Zur Erklärung der gezeigten Werke konnten Audioguides ausgeliehen werden, die den Betrachter auf die künstlerischen Besonderheiten der Bilder aufmerksam machten und den historischen und künstlerischen Entstehungshintergrund erläuterten. Insofern wurden die gezeigten Werke als Ausdruck bestimmter zeitlicher Zustände, gesellschaftlicher, politischer und kultureller Entwicklungen in der Vergangenheit verortet. In einer weiteren Dauerausstellungen unter dem Titel Die oberschlesische Industrie in der Waffenproduktion des 20. Jahrhunderts präsentierte das Museum eine Sammlung militärischer sowie Transportobjekte für Kriegszwecke. Dafür wurde ein Luftschutzbunker aus dem Jahr 1939 im Keller des Museums nachgebildet, der mit Unikaten aus dem Bereich
Die Titel der Ausstellungen lauteten Galerie der polnischen Malerei – (Galeria Malarstwa Polskiego – ) und Galerie der polnischen Malerei nach (Galeria Malarstwa Polskiego po roku).
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
der Kriegstechnik, u. a. des Zweiten Weltkrieges, ausgestattet wurde.¹²⁹ Die vierte Dauerausstellung trug den Titel In der Druckerei Jan Eichhorns und beinhaltete Druckmaschinen sowie die dazugehörigen Sätze an Druckbuchstaben vom Beginn und aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Zwar behandelten die Ausstellungen aufgrund ihres thematischen Fokus überwiegend historische Themen, eine allgemein-einführende historische Ausstellung zur Geschichte der Region Oberschlesien gab es im Museum jedoch nicht. Mit den vier Dauerausstellungen wurden jeweils sehr spezifische Themenfelder aufgegriffen, die unverbunden nebeneinander standen. Neben den Dauerausstellungen zeigte das Museum jedes Jahr eine Vielzahl an Wechselausstellungen aus allen Sammlungsschwerpunkten. Im Jahr 2013 konnten mehrere Ausstellungen zu verschiedenen polnischen Künstlern besichtigt werden (unter anderem des polnischen Künstlers Stanisław Żywolewski), eine Schau zur Volkskunst rund um das Thema Weihnachten und zu Winterbräuchen, aber auch eine Exposition über die albanische Kultur im multiethnischen Kosovo, sowie Ausstellungen zu Oberschlesien, etwa Fotografien aus oberschlesischen Städten unter dem Titel Metropolen sowie eine Ausstellung zum 85. Jubiläum des polnischen Radios in Oberschlesien, die die Entstehungszeit des Senders in Katowice in der Zwischenkriegszeit thematisierte. Diese kleine Auswahl an thematischen Wechselausstellungen macht die thematische Vielfalt und Spannbreite deutlich, mit der sich das Museum beschäftigte. Deutlich wird daraus, dass sowohl unterschiedliche Themen aus der Region Oberschlesien behandelt wurden als auch Schwerpunkte, die Polen und andere europäische Länder in den Mittelpunkt rückten. Eine synthetisierende Darstellung zu Fragen der Gegenwart und Vergangenheit der Region Oberschlesien, wie sie etwa die Dauerausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums zur Geschichte von Katowice in Grundzügen umsetzte, gab es im Schlesischen Museum nicht. Eine Analyse, analog dem Vorgehen bei der chronologischen Ausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum, war somit aufgrund der fehlenden Grundlage nicht möglich. Wichtig sind jedoch zwei Aspekte: Der Befund als solcher, dass die Geschichte Oberschlesiens im Schlesischen Museum hauptsächlich in den Wechselausstellungen und somit nur in ausgewählten Aspekten eine Rolle spielte und es keine zusammenfassende Darstellung gab. Anstelle einer Synthese zur Geschichte oder auch zu Fragen gegenwärtiger
Vgl. die Beschreibung der Dauerausstellung auf der Internetseite des Schlesischen Museums, URL http://www.muzeumslaskie.pl/wystawy-wystawy-stale-przemysl-slaski-w-produkcji-zbroje niowej-xx-wieku.php (Zugriff . . ).
6.3 Das Schlesische Museum
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Entwicklungen Oberschlesiens präsentierte das Museum eine breit angelegte Themensammlung. Dieser Zustand des Schlesischen Museums kann überwiegend aus der Geschichte der Institution erklärt werden. Zwar blickt das Schlesische Museum im Gegensatz zum Stadtgeschichtlichen Museum auf eine längere Tradition bis in die Zwischenkriegszeit zurück, eine kontinuierliche Entwicklung hat das Museum dennoch nicht genommen.¹³⁰ Geplant wurde während der Zweiten Polnischen Republik sowohl ein eindrücklicher avantgardistischer Museumsbau als auch die Erstellung einer musealen Sammlung, die von Grund auf angelegt werden musste. Eine derart umfangreiche Museumsgründung war in den 1920er Jahren im polnischen Oberschlesien ein Novum, da die Region bis dahin, abgesehen von den kleinen musealen Sammlungen in Cieszyń/Teschen, nicht über Museen verfügte.¹³¹ Gegründet wurde das Museum auf Grundlage eines Beschlusses des Schlesischen Sejm im Januar 1929, der auch das Geld für den Neubau und den Ankauf der Sammlungen zur Verfügung stellte. Eine Fertigstellung des Museumsbaus und der Ausstellungen war zum zehnjährigen Jubiläum der „Rückkehr“ Oberschlesiens zum „Mutterland“ im Jahr 1932 vorgesehen. Geplant wurde bereits seit 1927, und die Gründer sahen im denkmalartigen Charakter des Museums einerseits ein Symbol für die Souveränität des polnischen Staates, andererseits sollte das Museum ein Zeichen für den zivilisatorischen und kulturellen Fortschritt Oberschlesiens sein.¹³² Es sollte die Errungenschaften der polnischen Herrschaft auf dem Gebiet seit 1922 dokumentieren, gleichzeitig auch eine nachträgliche Legitimation für die politische Entscheidung liefern, diesen Teil der Region dem polnischen Staat zuzuschlagen. Beide Aspekte sollten sich sowohl in der Sammlung als auch der modernen Architektur des Museums widerspiegeln. Als Landesmuseum war die Sammlung auf Exponate aus der Vorzeit bis in die unmittelbare Gegenwart ausgelegt. Die Sammlungsschwerpunkte des Museums
Zur Geschichte des Schlesischen Museums siehe auch Kapitel . Erzählstränge im Stadtraum. Einführung in eine kurze Stadtgeschichte. Vgl. Ewa Chojecka: Słowo wstępne [Einführende Worte], in: Śląski Instytut Naukowy (Hg.): Muzeum Śląskie. Szkice z przeszłości [Das Schlesische Museum. Skizzen aus der Vergangenheit]. Katowice , S. – , hier S. . Ein Museum mit ähnlicher Programmatik entstand zur gleichen Zeit im nahegelegenen deutschen Beuthen. Dort sollte der deutsche Charakter, die Besiedlung und Kultur Oberschlesiens ausgestellt werden. Vgl. Störtkuhl, Von „deutscher Bauart“ (), S. . Welchen Stellenwert die Errichtung des Museums für die Woiwodschaftsbehörden hatte, lässt sich daran ablesen, dass das Großprojekt trotz der großen Wirtschaftskrise, die die Region zwischen und erlitt und in deren Folge ein fast vollständiger Baustopp einsetzte, realisiert wurde. Die Weiterführung der Bautätigkeit des Woiwodschaftsamtes konnte in der Zeit der Wirtschaftskrise in erster Linie durch amerikanische Kredite gewährleistet werden. Vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] (), S. .
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6 Institutionalisierte öffentliche Geschichte
umfassten die Vorgeschichte, Archäologie, Ethnografie, Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts, kirchliche Kunst, Kunsthandwerk sowie die oberschlesische Industrie und Erinnerungsstücke aus der Zeit des Plebiszites und der Aufstände.¹³³ Mit dem Museum sollte ein „synthetisches Bild der gesamten damaligen Woiwodschaft“ geschaffen werden, jedoch stets vor dem Hintergrund einer „gesamtpolnischen Synthese“¹³⁴, die die örtliche Spezifik und Besonderheit berücksichtigen sollte. Die Schwerpunktsetzung der Museumstätigkeit bestand demnach sowohl in einer regionalorientierten als auch einer allgemeinpolnischen Komponente, die sich gegenseitig ergänzten. Mit dem Museum sollte keine „Schatzkammer für Archivalien“ geschaffen werden, sondern ein „lebendiger Ort zur Vertiefung des Wissens über Schlesien innerhalb Polens […] Man hat daher nicht zufällige oder gewöhnliche Objekte zusammengestellt, sondern nur die besten der möglichen.“¹³⁵ Großen Wert legte der Gründungsdirektor des Museums, Tadeusz Dobrowolski¹³⁶, auf die Sammlung polnischer Malerei aus dem 19. und 20. Jahrhundert, wobei er für das Museum nur die qualitativ hochwertigsten Werke auswählte und sie in einer modernen, didaktischen Hängung präsentieren wollte.¹³⁷ Die etwa 250 Werke umfassende Sammlung gab einen Überblick über die moderne polnische Kunst und konnte dank des vom Schlesischen Parlament zur Verfügung gestellten Budgets in Antiquariaten, Kunstsalons oder von privaten Besitzern bzw. den Künstlerinnen und Künstlern selbst im In- und Ausland angekauft werden. Nach Willen Dobrowolskis sollte die Gemäldesammlung vor allem der ästhetischen Bildung der oberschlesischen Bevölkerung dienen und erst
Vgl. Chojecka, Słowo wstępne [Einführende Worte] (), S.. Ebd. Vgl. Andrzej Ryszkiewicz: Muzeum Śląskie w Katowicach [Das Schlesische Museum in Katowice], in: Śląski Instytut Naukowy (Hg.): Muzeum Śląskie. Szkice z przeszłości [Das Schlesische Museum. Skizzen aus der Vergangenheit]. Katowice , S. – , hier S. . Tadeusz Dobrowolski ( – ), Kunsthistoriker; vor seiner Tätigkeit als Direktor des Schlesischen Museums in Katowice war er Leiter des Städtischen Museums in Bromberg/Bydgoszcz. Während des Zweiten Weltkrieges war Dobrowolski im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert. In den er Jahren leitete er das Krakauer Nationalmuseum, anschließend war er als Professor für Kunstgeschichte an der Jagiellonen Universität in Krakau tätig.Vgl. Tadeusz Dobrowolski: Wspomnienia o muzeum, którego nie ma. [Erinnerungen an ein Museum, das es nicht gibt], in: Śląski Instytut Naukowy (Hg.): Muzeum Śląskie. Szkice z przeszłości [Das Schlesische Museum. Skizzen aus der Vergangenheit]. Katowice , S. – . Vgl. Zofia Krzykowska: Galeria Malarstwa Polskiego w Muzeum Śląskim w Katowicach [Die Galerie Polnischer Malerei im Schlesischen Museum in Katowice], in: Śląski Instytut Naukowy (Hg.): Muzeum Śląskie. Szkice z przeszłości [Das Schlesische Museum. Skizzen aus der Vergangenheit]. Katowice , S. – , hier S. .
6.3 Das Schlesische Museum
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in zweiter Linie einen Einblick in die Errungenschaften und Qualität der polnischen Malerei bieten.¹³⁸ Der Neubau des Museums wurde im Jahr 1936 begonnen und 1939 fertiggestellt. Während der Bauzeit wurden erste Exponate im gegenüberliegenden Gebäude des Schlesischen Sejm ausgestellt. Der Museumsbau konnte zwar noch fertiggestellt werden, die für das Frühjahr 1940 vorgesehene Eröffnung der ersten Ausstellung im Museum fand jedoch nicht mehr statt.¹³⁹ Am 4. September 1939 marschierten deutsche Truppen in Katowice ein. Während der Besatzung wurde beschlossen, das Gebäude gegenüber dem neuen Sitz des Gauleiters im Woiwodschaftsamt abzureißen. Für die Entscheidung, trotz des andauernden Krieges, Menschen und Material zur Vernichtung des Gebäudes einzusetzen, werden in der Literatur verschiedene Gründe angegeben: Für die neuen deutschen Machthaber stellte das Schlesische Museum das vor Ausbruch des Krieges auf deutscher Seite errichtete Oberschlesische Landesmuseum in Beuthen in den Schatten, und man diffamierte die Architektur des Gebäudes als „entartete Kunst“, die die kosmopolitischen Tendenzen in der Architektur hervorheben würde.¹⁴⁰ In der Selbstdarstellung des Museums wird erklärt, es habe sich aus Sicht der Nationalsozialisten um ein mächtiges und eindrucksvolles „Symbol des Polentums“ gehandelt, das deshalb zerstört werden musste.¹⁴¹ Andere Historiker argumentieren, die jüdische Herkunft des Architekten Karol Schayer sei einer der Gründe für den Abriss gewesen.¹⁴² Der Abbruch des Gebäudes von über 80 000 Kubikmetern umbautem Raum, das auf einer Stahlskelettkonstruktion beruhte, dauerte bis zum Jahr 1945. Es blieben lediglich Reste der Fassade und des nordöstlichen Flügels stehen, die als Wohnungen für die Mitarbeiter des Museums vorgesehen waren. Nach 1945 entschied man sich im kommunistischen Polen gegen den Wiederaufbau des Schlesischen Museums und baute an der Stelle ein neues Gebäude für den Sitz der Gewerkschaften.¹⁴³ Während das Museumsgebäude abgebrochen wurde, gingen die Sammlungen des Schlesischen Museums teilweise an das Oberschlesische Landesmuseum in Beuthen über und wurden dort von den Nationalsozialisten
Ebd., S. . Vgl. Józef Matuszak: Losy Muzeum Śląskiego w czasie II Wojnie Światowej i po odzyskaniu niepodległości [Das Schicksal des Schlesischen Museums während des Zweiten Weltkrieges und nach der Erlangung der Unabhängigkeit], in: Śląski Instytut Naukowy (Hg.): Muzeum Śląskie. Szkice z przeszłości [Das Schlesische Museum. Skizzen aus der Vergangenheit]. Katowice , S. – , hier S. . Vgl. Chojecka, Słowo wstępne [Einführende Worte] (), S. . Vgl. URL http://www.muzeumslaskie.pl/o-muzeum-historia.php (Zugriff . . ). Vgl. Tobias Weger, Glück auf, Kattowitz (), S. . Vgl. Chojecka, Słowo wstępne [Einführende Worte] (), S. .
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zu Kunstwerken des „germanisch-deutschen Kulturkreises“ uminterpretiert.¹⁴⁴ Auch nach Kriegsende ging ein Großteil der in der Region in Klöstern oder andernorts ausgelagerten Musealien aufgrund des fehlenden Museumsgebäudes an das Museum in Beuthen, das die Tätigkeit des Museums in Katowice seither übernahm.¹⁴⁵ Der überwiegende Teil der Kunstwerke aus der Gemäldesammlung wurde auf diese Weise – bis auf etwa 100 Bilder, die als Kriegsverlust galten – Bestandteil der Sammlungen des Museums in Beuthen und bildete nach seiner Verstaatlichung im Jahr 1950 unter dem Namen Oberschlesisches Museum in Beuthen (Muzeum Górnośląskie w Bytomiu) den Kern der dortigen Gemäldesammlung. Obwohl es nach 1945 verschiedene Initiativen zum Wiederaufbau des Museumsgebäudes bzw. zur Wiederaufnahme der Museumstätigkeit in Katowice gegeben hatte¹⁴⁶, konnte das Museum erst im Jahr 1984 im oben erwähnten Neorenaissancegebäude des ehemaligen Hotels Wiener seine Tätigkeit wieder aufnehmen. Der Prozess der Wiedereröffnung wies Ähnlichkeiten zur Geschichte der Gründung des Stadtgeschichtlichen Museums auf. Auch beim Schlesischen Museum ging der Impuls von den Einwohnern der Stadt aus. Ein gesellschaftliches Komitee setzte sich für die Wiedereröffnung ein, das nach 1981 in einer durch die Solidarność-Bewegung veränderten gesellschaftlichen Situation in Polen erfolgreich war. Die Stadt wies dem Museum vorerst einen Raum in dem ehemaligen Hotel zu, das nach und nach renoviert und an die Bedürfnisse eines Museums angepasst wurde. Endgültig fertiggestellt wurden die Umbauarbeiten erst im Jahr 1992.¹⁴⁷ Bei der Wiedereröffnung im Jahr 1984 knüpfte das neue Schlesische Museum dezidiert an die Tradition des Museums aus der Zwischenkriegszeit an. Zwar hatte die Institution aufgrund der veränderten Rahmenbedingungen und des herrschenden territorialen und politischen Status quo der 1980er Jahre ihren ursprünglichen, in den 1930er Jahren definierten Auftrag zur Stärkung des Polentums in Schlesien verloren. Die Museumsmitarbeiter sahen sich dennoch an
Vgl. Matuszak, Losy Muzeum Śląskiego [Das Schicksal des Schlesischen Museums], S. f. Vgl. Krzykowska, Galeria Malarstwa Polskiego [Galerie der polnischen Malerei], S. . Eine Initiative des Polnischen Verbandes der Bauingenieure und des Polnischen Architektenverbandes verlief etwa im Jahr erfolglos. Erfolgreich war letztlich ein im Jahr gegründetes Gesellschaftliches Komitee zum Wiederaufbau des Schlesischen Museums in Katowice. Vgl. Chojecka, Słowo wstępne [Einführende Worte] , S. . Vgl. die Beschreibung der Geschichte des Museums auf der Internetseite der Einrichtung URL http://www.muzeumslaskie.pl/o-muzeum-historia.php (Zugriff . . ). Diese Angaben stimmen überein mit den Aussagen des gegenwärtigen Leiters der Historischen Abteilung des Schlesischen Museums, Jarosław Racięcki, der seit im Museum tätig ist.
6.3 Das Schlesische Museum
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die damals geschaffenen konzeptionellen Grundlagen gebunden und betonten die Kontinuität der Einrichtung.¹⁴⁸ Trotz dieser Traditionslinien aus der Vergangenheit handelte es sich gleichwohl um einen Neustart, da die Sammlungen des Museums, das schon bei seiner ersten Gründung als Mehrsparteneinrichtung angelegt war, ab Mitte der 1980er Jahre gänzlich neu aufgebaut werden mussten.¹⁴⁹ Einzig die Gemäldesammlung polnischer Malerei hatte das Museum von der Einrichtung in Beuthen zurückbekommen. Diese wurde um einige Werke ergänzt, die als Kriegsverlust galten, später wiedergefunden und dem Museum zurückgegeben wurden. Die restlichen Bestände des Museums in Katowice, die nach Kriegsende nach Beuthen gebracht worden waren, wurden in den 1980er Jahren aufgrund akuten Platzmangels nicht zurückgefordert. So befand sich ein Großteil der ethnografischen Sammlungen des Vorkriegsmuseums nach wie vor im Oberschlesischen Museum in Beuthen. Deutlich zeigt sich aus dieser Zusammenstellung, dass der inhaltliche Zuschnitt des Museums mit seiner historischen Entwicklung in enger Verbindung stand. Die Tradition des auf mehrere Sparten angelegten Hauses wurde bei der Neugründung weitergeführt; die Gemäldesammlung polnischer Malerei gehörte nach Ansicht des Leiters der Historischen Abteilung, Jarosław Racięcki, zu den wertvollsten Exponaten in der Sammlung des Museums: „Dass wir hier eine Galerie mit polnischer Malerei haben, das ist eben nunmal so. Wir sind sehr stolz auf sie und zeigen sie in Teilen auf der ganzen Welt.“¹⁵⁰ Dass anstelle einer historischen Dauerausstellung zu oberschlesischen Themen und Fragestellungen eine Schau polnischer klassischer sowie Gegenwartskunst zu sehen war, kann ferner aus dem Anspruch des Museums erklärt werden, keine regionale Einrichtung sein zu wollen: „Wir wollten ein Museum auf nationalem Niveau sein, ein Museum, dass in Polen zählt.“¹⁵¹ Eine Verwurzelung dieses Anspruches lässt sich auch in der Tradition aus der Zwischenkriegszeit ausmachen, als Oberschlesien durch eben diese museale Institution symbolisch und ästhetisch in den polnischen Gesamtstaat integriert werden sollte. Dennoch, führte der Leiter der historischen Abteilung weiter aus, liege der Sammlungsschwerpunkt auf der schlesischen Vergangenheit. Diese Aussage verband er gleichzeitig mit einer rhetorischen Frage: „Soll das Schlesische Museum nur Schlesien zeigen? Und das Museum in Berlin nur Berlin? Den Besuchern sollten
Vgl. Interview Jarosław Racięcki, Katowice, März . Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Ebd. Ebd. Ebd.
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wir so viel wie möglich mit einem so breit wie möglich angelegten Fokus darbieten. Denn sie kommen schließlich hierher, um etwas zu lernen.“¹⁵² Dass eine Dauerausstellung zur oberschlesischen Geschichte in diesem Museum dennoch als Fehlstelle empfunden wurde, zeigte sich, als Racięcki von den langjährigen Bemühungen um eine historische Dauerausstellung berichtete: Momentan gibt es keine Dauerausstellung im Museum,vor allem aufgrund des Platzmangels. Denn in diesem Gebäude gibt es keinen Platz, um so etwas zu zeigen. Wenn wir hier auf zwei Etagen eine Dauerausstellung zur schlesischen Geschichte zeigen würden, dann hätten wir keinen Platz mehr für die Wechselausstellungen. Es ist aber nicht richtig, dass wir eine Dauerausstellung zur schlesischen Geschichte nicht wollten. Wir haben seit Jahren daran gearbeitet. Einige Gruppen haben sich darüber Gedanken gemacht, was man wie zeigen könnte, unter der Maßgabe, dass es irgendwann mehr Platz gibt für eine Ausstellung.
Für die inhaltliche Ausrichtung historischer Ausstellungen sind nicht in erster Linie die Raumverhältnisse entscheidend, sondern der Wille und die Intention der Ausstellungsmacher sowie der Verantwortlichen im Museum. Die Gründe für das Fehlen einer historischen Ausstellung müssen auf einer anderen Ebene gesucht werden.
Exkurs: Der Neubau des Schlesischen Museums und die neue Dauerausstellung zur oberschlesischen Geschichte Bereits bei der Wiedereröffnung des Museums im Jahr 1984 bestand die Idee, die Institution mit angemessenen Räumen auszustatten. 1986 gewann der Warschauer Architekt Jan Fiszer eine Ausschreibung für den Neubau des Schlesischen Museums, der im südlichen Stadtzentrum in der Nähe des Kościuszko-Parkes errichtet werden sollte.¹⁵³ Ein Baugrundstück für das Vorhaben wurde allerdings erst im Jahr 2002 zugewiesen. Ein Jahr später gingen die Planungen bereits in eine andere Richtung. Es entstand die Idee, anstelle eines kompletten Neubaus das Gelände und die Gebäude der ehemaligen Steinkohlegrube „Katowice“ im Stadtzentrum als Museumskomplex umzubauen.¹⁵⁴ Mit diesem Vorschlag war gleichzeitig ein Umnutzungskonzept für eine der größten postindustriellen
Ebd. Vgl. Informationen auf der Internetseite des Museums unter URL http://www.muzeumslas kie.pl/o-muzeum-historia.php (Zugriff . . ) sowie das Interview Racięcki, Katowice, . Vgl. Informationen auf der Internetseite des Museums unter URL http://www.muzeumslas kie.pl/o-muzeum-historia.php (Zugriff . . ).
6.3 Das Schlesische Museum
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Brachflächen in der Innenstadt von Katowice geboren. Einige der postindustriellen Gebäude sollten erhalten und an die musealen Zwecke angepasst werden. Das Herzstück des Museums sollte jedoch in einem teilweise unterirdischen, in die Erde eingelassenen und übererdig eher flachen Neubau bestehen. Dieser Neubau des Schlesischen Museums wurde im Jahr 2015 abgeschlossen und avancierte zu einem der Prestigeprojekte des Stadtumbaues entlang der neu angelegten sogenannten Kulturachse. Mit der Umnutzung der postindustriellen Gebäude und dem
Abb. 23: Der Neubau des Schlesischen Museums auf der ehemaligen Grube Katowice unweit des Spodek. Der größte Teil der Ausstellungshalle befindet sich im unterirdischen Bereich des neuen Museums. Autor: Juliane Tomann
Neubau sollte sich die Raumsituation des Museums grundlegend ändern. Nun stand ausreichend Platz für eine Dauerausstellung zur oberschlesischen Geschichte zur Verfügung. Das erste Mal wurde der Versuch unternommen, eine ganzheitliche, synthetisierende Darstellung oberschlesischer Geschichte öffentlich zur Anschauung zu bringen. Dass das Projekt einer historischen Ausstellung über Oberschlesien heikel und keineswegs eine Selbstverständlichkeit war, belegen die Aussagen des ehemaligen Direktors, Leszek Jodliński, der die Einrichtung zwischen 2008 und 2013 leitete. In einem Interview mit der Gazeta Wyborcza
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berichtete er im Jahr 2012 darüber, dass bei Antritt seiner Direktorenstelle im Museumsneubau kein Platz für eine geschichtliche Dauerausstellung¹⁵⁵ vorgesehen war. Stattdessen sollte die Sparte Kunst um eine westeuropäische Gemäldegalerie – die allerdings noch hätte erworben werden müssen – erweitert werden.¹⁵⁶ Trotz des prestigeträchtigen Neubaus entschied man sich gegen eine Neuausrichtung der kulturellen Breitenarbeit sowie der Ausstellungstätigkeit des Museums. Diese war auch nach dem politischen Umbruch von 1989/90 noch lange Zeit in der allgemeinpolnischen, zentralstaatlichen Erinnerungspolitik verhaftet. Doch wurden in einer Zeit vermehrter gesellschaftlicher und sozialer Veränderungen auch Wünsche laut, sich mit dem vielgestaltigen und mehrsprachigen Kulturerbe Schlesiens auseinanderzusetzen und es öffentlich zugänglich zu machen.¹⁵⁷ Letztlich setzte sich Jodliński mit seinem Konzept einer historischen Schau durch, und sowohl das Gebäude als auch die neue Geschichtsausstellung, für die nunmehr eine Fläche von 1350 Quadratmetern zur Verfügung gestellt wurde, sollten im Jahr 2013 fertiggestellt und eröffnet werden. Der geplante Eröffnungstermin konnte aus verschiedenen Gründen nicht eingehalten werden. Nicht nur die bauliche Adaption der ehemaligen, postindustriellen Grubenanlagen verzögerte sich. Um die inhaltliche und konzeptionelle Ausrichtung der Dauerausstellung entbrannte eine öffentliche Kontroverse, in deren Konsequenz der Direktor des Museums und Ideengeber des Ausstellungskonzeptes entlassen wurde. Die Querelen um die neue Dauerausstellung haben dazu geführt, dass der Gesamtkomplex erst im Juni 2015 eröffnet werden konnte.¹⁵⁸
Das geht auch aus internen Dokumenten des Museums hervor.Vgl. Chronologia przygotowań do wyłonienia projektu wystawy stałej Historii Górnego Śląska w nowej siedzibie Muzeum Śląskiego w Katowicach [Chronologie der Vorbereitungen zum Projekt der Dauerausstellung zur Geschichte Oberschlesiens im Neubau des Schlesischen Museums in Katowice]. Aus diesem Dokument wird ersichtlich, dass die Ausstellung zur Sakralkunst Oberschlesiens verkleinert wurde, und erst durch diesen Schritt die historische Ausstellung zur wichtigsten Dauerausstellung werden konnte. Dokument ohne Datum, ohne Ort, einsehbar im Schlesischen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin. Vgl. Przemysław Jedlecki: Interview mit Leszek Jodliński: Patrzenie na los Śląska przez pryzmat polityki źle się kończy. Rozmowa z Przemysławem Jedleckim [Leszek Jodliński: Das Schicksal Schlesiens durch das Prisma der Politik zu betrachten, endet nicht gut. Interview mit Przemysław Jedlecki], Gazeta Wyborcza, . . , URL http://katowice.gazeta.pl/katowice/ ,,,Leszek_Jodlinski__Patrzenie_na_los_Slaska_przez_pryzmat. html#ixzzTBbfDRzz (Zugriff . . ). Vgl. Marcin Wiatr: Eine Schifffahrt ins Ungewisse. Zum Streit um die Oberschlesien-Ausstellung, in: Deutsch-Polnisches Magazin Dialog (), S. – . Die neue Dauerausstellung konnte vor Fertigstellung des Manuskriptes nicht mehr eingehend untersucht werden. Für eine Überblicksrezension vgl. Juliane Tomann: Das Licht der Ge-
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Grundlage der vorwiegend von Politikern und Publizisten ausgetragenen Auseinandersetzung war die inhaltliche Ausrichtung der Ausstellung, die einen Fokus auf die letzten 200 Jahre der oberschlesischen Vergangenheit legte. Diese Herangehensweise brach mit der vorherrschenden narrativen Konvention, die oberschlesische Geschichte müsse ausgehend von den Piastenkönigen erzählt werden und sich somit in ein polnisches nationales Narrativ einschreiben.¹⁵⁹ Jodliński vertrat eine gegensätzliche Ansicht und war der Meinung, das Ausstellungsprojekt müsse sich der bisherigen, zentralstaatlich ausgerichteten Meistererzählung über Oberschlesien entziehen. Es ginge darum, so Jodliński weiter, den längst überfälligen Schritt zu tun, „die Geschichte dieser historischen Grenzregion endlich jenseits nationaler Trennlinien, unversöhnlicher Feindbilder, ja jenseits nationaler Paradigmen zu zeigen. Dies heißt nichts anderes, als bei einer historischen Erzählung im Museum auf andere Topoi als die des Nationalstaates zu setzen.“¹⁶⁰ In Jodlińskis Vorstellungen sollte stattdessen die Industrialisierung als Ausgangspunkt der Schau betrachtet werden: „Wir sind zu dem Ergebnis gekommen, dass die Industrialisierung den Transmissionsriemen liefert, auf dessen Grundlage wir alle Themen ausbreiten können. Die Industrialisierung ist das am stärksten multikulturelle und moderne Element.“¹⁶¹ Mit der neuen Ausstellung sollte eine europäische Dimension der Wahrnehmung Oberschlesiens aufgebaut werden. Denn im bisherigen Diskurs über die Identität der Region seien europäisch anschlussfähige Faktoren wie etwa Modernisierung, Globalisierung oder wirtschaftliche und soziale Aspekte zu wenig beachtet worden, so Jodliński. Nach Ansicht des ehemaligen Direktors sollten historische Fragestellungen, die kontraproduktive Emotionen evozieren, zurückgestellt werden. Stattdessen sollten, laut Jodliński, Phänomene wie Mehrsprachigkeit, Multiethnizität, religiöse Vielfalt oder der Strukturwandel von einer agrarisch geprägten zu einer industrialisierten Gesellschaft den Ausgangspunkte für eine historische Narration über Oberschlesien bilden.¹⁶²
schichte. Oberschlesien im Wandel der Zeiten, in: H-Soz-Kult, . . , URL http://www.hsoz kult.de/exhibitionreview/id/rezausstellungen- (Zugriff . . ). Die Gegner von Jodlińskis Konzept betonten, dass eine Ausstellung zur oberschlesischen Geschichte mit Mieszko I. im Jahr anzufangen habe, als Schlesien zusammen mit anderen slawischen Landesteilen zum polnischen Staatsverbund zählte.Vgl. Przemysław Jedlecki: Jodliński odwołany przez telefon. [Jodliński wurde am Telefon gekündigt], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Jodliński zitiert nach Wiatr, Schifffahrt ins Ungewisse (), S. . Zitat nach Martin Sander: „Das Gespenst des Deutschtums“. In Kattowitz wird um die Neuausrichtung des Schlesischen Museums gestritten, Deutschlandfunk, . . , URL http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute// (Zugriff . . ). Vgl. Wiatr, Schifffahrt ins Ungewisse (), S. .
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Auskunft über die Ziele der von Jodliński geplanten Ausstellung geben die konzeptionellen Grundlagen, die für die Ausschreibung zur Konzeption und Umsetzung ausgearbeitet wurden. Aus dem Konzept geht hervor, dass sich die Exposition entlang der „Schlüsselmomente oberschlesischer Geschichte“ entfalten sollte, die in einer „eigenen geistlichen, künstlerischen, sozialen sowie in mancherlei Hinsicht auch sprachlichen Identität“ ihren Ausdruck gefunden habe und in der die Industrie eine zentrale Rolle bei der Entwicklung der Region gespielt habe.¹⁶³ Dementsprechend sollte am Beginn der Ausstellung eine Dampfmaschine als Symbol der beginnenden Industrialisierung zu sehen sein, die im unweit von Katowice gelegenen Tarnowskie Góry/Tarnowitz im Jahr 1790 aufgestellt wurde. Auch das Epigramm An die Knappschaft zu Tarnowitz von Goethe, der die sich rasant entwickelnde Region damals bereiste, sollte gezeigt werden.¹⁶⁴ Dabei blendete diese Konzeption die Geschichte Oberschlesiens bis zur Industrialisierung nicht aus; 12 Zeitkapseln hätten wichtige Ereignisse und Strukturen, die die Region vor 1800 prägten, zusammenfassend präsentiert. Diese komprimierten Darstellungen sollten sich unter anderem den Piastenkönigen, der tschechischen Herrschaft über Schlesien, der Gegenreformation oder dem Dreißigjährigen Krieg widmen.¹⁶⁵ Seinen inhaltlichen Zugriff begründete der Museumsdirektor zum einen mit der Verfasstheit der Sammlungen seiner Institution, die überwiegend die letzten 200 Jahre umfassen würden. Weiterhin führte er an, dass aufgrund der räumlichen Situation eine Auswahl bzw. eine thematische Einschränkung bei der Darstellung der Geschichte unausweichlich gewesen sei. Ferner hätten Meinungsumfragen ergeben, dass sich die potenziellen Besucher vor allem für die neuere Geschichte der Region interessieren würden, wobei dieser Befund auch von wissenschaftlicher Seite unterstützt worden sei.¹⁶⁶ Dass die neue historische Dauerausstellung über Oberschlesien das „deutsche Narrativ“ und den deutschen Einfluss auf die Region bedienen würde, war einer der zahlreich vorgebrachten Kritikpunkte. Eine der prominentesten Stimmen
Vgl. Założenia ogólne do wystawy stałej Historii Górnego Śląska (wyciąg z Regulaminu Konkursu) [Allgemeine Angaben zur Dauerausstellung über die Geschichte Oberschlesiens (Auszug aus der Ausschreibungsordnung)], ohne Datum, ohne Ort, einsehbar im Schlesischen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin. Vgl. Konkurs na scenariusz wystawy stałej historii Górnego Śląska w nowej siedzibie Muzeum Śląskiego w Katowicach; Załącznik B. do Regulaminu Konkursu – Opis do diagramu [Ausschreibung für das Ausstellungsdrehbuch zur Dauerausstellung über die Geschichte Oberschlesiens im neuen Sitz des Schlesischen Museums in Katowice; Anhang B.. zur Ausschreibungsordnung – Beschreibung des Diagramms], ohne Datum, ohne Ort, einsehbar im Schlesischen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin. Vgl. Ebd. Vgl. Jedlecki, Patrzenie na los Śląska [Das Schicksal Schlesiens], ().
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in der Diskussion hatte der Vizewoiwode, Piotr Spyra (Platforma Obywatelska (Bürgerplattform)), früher stand er PiS (Prawo i Sprawiedliwość (Recht und Gerechtigkeit)) und der LPR (Liga Polskich Rodziń (Liga Polnischer Familien)) nahe¹⁶⁷, der selbst ausgebildeter Historiker ist. Ihm missfiel die Vorstellung, dass eine Ausstellung zur oberschlesischen Geschichte zeitlich an einem Punkt einsetzen sollte, als die Region zu Preußen gehört hat: Oberschlesien wird im Ausstellungskonzept aus der Sicht der damaligen deutschen Eliten Schlesiens vorgestellt. Meiner Meinung nach sollte man sich aber auf die Entwicklung konzentrieren, die zur Herausbildung der schlesischen Identität führte. Dieser Prozess begann im Völkerfrühling des 19. Jahrhunderts in Opposition zum Deutschtum. Er führte dazu, dass Schlesien polnisch wurde. Und polnische Kulturinstitutionen dürfen das nicht außer Acht lassen – auch nicht im Namen einer deutsch-polnischen Versöhnung.¹⁶⁸
Die Intensität und Dauer der Diskussion um die oberschlesische Vergangenheit und ihre museale Repräsentation verdeutlichte, dass die Auseinandersetzung über den Charakter, über die Herkunft und somit auch die Zukunft der Region anhielt. Aus der Debatte wurde ersichtlich, wie schwer es vielen innerhalb und außerhalb der Region fiel, sich eine Oberschlesien-Erzählung ohne das nationale Paradigma vorzustellen. Die Kunsthistorikerin Ewa Chojecka (*1933), Vorsitzende des Programmrats für den Neubau des Schlesischen Museums, sah in der Ausstellung eine einmalige Möglichkeit, die zum Weiterdenken über die Region anregen sollte. Die neuralgischen Punkte der Debatte darüber fasste sie in einer Stellungnahme zusammen: Hier geht es darum, dass Oberschlesien aus polnischer Perspektive nicht zur polnischen Adelsrepublik gehört hat, wie sie vor den Teilungen Polens bestanden hatte, und folglich nicht das Syndrom der sarmatischen Kultur¹⁶⁹ und ihrer romantischen Nachfolger [geteilt
Die Liga Polnischer Familien (LPR) gilt als nationalkonservative, klerikale und katholische Partei, die sich für katholisch-konservative Werte einsetzt. Manche Mitglieder der LPR machen mit antisemitischen, extremistischen und homophoben Ansichten auf sich aufmerksam. Recht und Gerechtigkeit (PiS) gilt als nationalkonservative Partei. Zitat nach Sander, „Das Gespenst des Deutschtums“ (). Die deutsch-polnische Versöhnung war für die inhaltliche Ausrichtung des Ausstellungskonzeptes kein leitendes Kriterium. Unter Sarmatismus wird die Kultur des polnischen Adels im . und . Jahrhundert verstanden. Der Begriff geht auf die Selbstbeschreibung des polnischen Adels zurück, der sich genealogisch in der Nachfolge der Sarmaten, einem „freiheitsliebenden (…) Reitervolk“ sah. Vgl. Martin Pollack:Vorwort, in: Ders (Hg): Sarmatische Landschaften. Frankfurt/Main , S. – , hier S. . Heinrich Olschowsky vereist darauf, dass der Sarmatismus neben dem Herkunftsmythos des mittleren polnischen Adels auch seinen Lebensstil beschreibe. Den politischen Kern des Sarmatismus als Lebensstil bildete die „goldene Freiheit“, die Rechte und Privilegien des Adels, die er dem König abgetrotzt und gegen die Magnaten und den Klerus durchgesetzt hatte:
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hat]. Stattdessen entstand hier eine großindustrielle Landschaft mit familoki [charakteristischen, aus roten Ziegelsteinen errichteten Wohnhäusern für Arbeiterfamilien, JT] und dem Erbe der „Feuermaschinen“, vor dem Hintergrund der Notizen Goethes und der Bilder Menzls […]. Diese Phänomene können heute auf zwei Arten interpretiert werden: Als nicht polnisch, als fremd und ablehnenswert oder als mit Hilfe der kulturellen Stärke der Region zu adaptierendes und assimilierendes Kulturerbe – als Vorbild für das gesamte Europa, das übersät ist mit derartigen Inkohärenzen.¹⁷⁰
Chojecka verwies vor allem auf die historische Entwicklung der Region, die sich bereits im Mittelalter vom polnischen Staatsgebilde trennte. Für Polen wichtige identitätsrelevante historische Ereignisse und Zustände wie die Adelsrepublik oder die Teilungen Polens hatte Oberschlesien nicht miterlebt. Für Oberschlesien war die Industrialisierung das entscheidende Entwicklungsmoment, und Chojecka stellte implizit die Frage, ob diese unterschiedlichen historischen Erfahrungen in der Gegenwart zusammen gedacht werden können. In ihrem Schreiben forderte Ewa Chojecka ferner dazu auf, die politischen Streitigkeiten zur Interpretation der Geschichte ruhen zu lassen und sich auf wissenschaftliche Forschungsergebnisse zu stützen, die in den vergangenen Jahren erzielt worden seien: Die Geschichte Oberschlesiens ist in ihrem Wesen ein existenzielles und kulturelles Drama, für das die Fragen der politischen Gräben nur den Hintergrund bilden, nicht aber das Ziel sein können. Die Ausstellung sollte auf wissenschaftliche Forschungen zurückgreifen, deren Motivation die Eigenständigkeit des wissenschaftlichen Denkens ist.¹⁷¹
Auch Jarosław Racięcki als Leiter der historischen Abteilung des Schlesischen Museums wünschte sich eine entpolitisierte Debatte:
„Dazu zählte die Gleichheit aller Edelleute untereinander, ausgedrückt in der Anrede ‚Herr Bruder‘, die keine Rücksicht auf Ränge und Titel kannte, wie sie in Westeuropa galten. Ob kleiner Gutsbesitzer oder Woiwode, jeder besaß das unveräußerliche Recht der Königswahl, entschied im Reichstag über Steuern und Krieg. Die persönliche Freiheit der Adeligen kannte keine Subordination, weder unter die Autorität des geschwächten Königs noch unter die Mehrheit im Reichstag, denn dort herrschte der Grundsatz der Einmütigkeit.“ Vgl. Heinrich Olschowsky: Sarmatismus, Messianismus, Exil, Freiheit – typisch polnisch?, in: Andreas Lawaty/Hubert Orłowski (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München , S. – , hier S. . Vgl. Ewa Chojecka: Uwagi dot. przygotowań do wystawy Historii Górnego Śląska po odbytym konkursie na szenariusz tejże wystawy w dniach – paźdernika [Bemerkungen zur Vorbereitung der Ausstellung Geschichte Oberschlesiens im Anschluss an die Ausschreibung der gleichen Ausstellungen am .–. Oktober ], Dokument in Briefform, einsehbar im Schlesischen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin. Ebd.
6.3 Das Schlesische Museum
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Diese Ausstellung soll zeigen, was gewesen ist. Die Interpretation dessen ist schon wieder eine andere Sache. So ist das z. B. mit den Schlesischen Aufständen: Ist es ein Aufstand oder ein Bürgerkrieg? Ich wäre da sehr vorsichtig. Diese Art von Interpretation würde ich versuchen zu vermeiden, aber der Kampf und die Resultate müssen gezeigt werden.¹⁷²
Für Racięcki stand das Erzählen einer Geschichte im Mittelpunkt, die Entwicklungen erkennen lässt und dafür gezielt auf Details verzichtet, die zu sehr in die Tiefe gehen. Racięcki war gemeinsam mit einer Firma, die für die Umsetzung des Ausstellungsdrehbuches und der -gestaltung beauftragt wurde, für die Fertigstellung der Exposition im Neubau des Museums verantwortlich. Dass die Herausforderung genau darin bestand, die von Diskontinuitäten und politischideologischen Vereinnahmungen geprägte Geschichte Oberschlesiens in einem Format zu zeigen, das eine stringente Geschichte erzählt, darüber war sich Racięcki im Klaren: „Natürlich wird die Ausstellung nicht jedem gefallen, da bin ich sicher.“¹⁷³ Mit dieser Aussage brachte er auf den Punkt, wie schwierig es ist, eine Narration über die Geschichte Oberschlesiens zu entwerfen und zur Ausstellung zu bringen, da sowohl unter den Einwohnern der Region als auch in den restlichen polnischen Landesteilen sehr unterschiedliche Vorstellungen über die Vergangenheit der Region herrschen. Diese in einem Narrativ zusammenzufassen, war eine große Herausforderung, die mit einem hohen Risiko verbunden war – das war Racięcki in vollem Umfang bewusst.
Vgl. Interview Racięcki, Katowice, . Ebd.
7 Neue Bilder über die Stadt. Historische Narrationen im Zeichen städtischer Imagebildung Mit so prestigeträchtigen Projekten wie dem Neubau des Schlesischen Museums auf einer postindustriellen Brachfläche im Herzen der Stadt veränderte Katowice sein Erscheinungsbild maßgeblich. Veränderungen des gebauten Raumes bzw. der Raumnutzung waren ein weitreichender Schritt in der Transformation hin zu einer postindustriellen Stadt. Die Veränderungen beschränkten sich jedoch nicht darauf. Auch das Bild der Stadt unter den Einwohnern selbst, aber auch nach außen hin sollte sich wandeln. Dieses Bedürfnis hatte die Stadtverwaltung als eines ihrer zentralen Handlungsfelder erkannt und finanzierte zwei groß angelegte Imagebildungskampagnen in den Jahren 2010 bis 2012, die die Selbst- und Fremdwahrnehmung von Katowice in neue Wege leiten sollten. Imagebildung und Identitätsstiftung waren bei diesem Prozess eng miteinander verwoben. Es wird daher im Folgenden davon ausgegangen, dass der englische Begriff des Image über seine wörtliche Übersetzung eines Bildes hinausgeht und die doppelte Ausrichtung des angestrebten Wandlungsprozesses von Selbst- und Fremdwahrnehmung aufgreift. Images bilden sich aus „einem Zusammenspiel von subjektiven Einstellungen und objektiven Gegebenheiten, eine[r] Verbindung dessen, was von außen zugeschrieben und von innen geschöpft“¹ wird. Sie werden deshalb einerseits als Vorstellungen über eine Stadt verstanden, die in einen regionalen, nationalen oder internationalen Kontext getragen werden. Als Repräsentationen wirken sie jedoch gleichzeitig auf die Wahrnehmung, die die Einwohner von ihrer Stadt haben, zurück. Dem Soziologen Ralph Richter zufolge sind Images in Anlehnung an Erving Goffmann Vorstellungsbilder, also „ein Set an positiv konnotierten Eigenschaften, die sich eine Stadt in ihrer Außendarstellung über einen längeren Zeitraum erwirbt.“ Images sind dabei weder dauerhaft stabil, noch in ihren Wirkungen direkt kontrollierbar. Mit Images können durch „Verdichten und Verschieben ausgewählter Eigenschaften lediglich Angebote gemacht werden
Zur Einführung in das Thema Stadtbilder und Abgrenzungsstrategien von Städten vgl. Löw, Soziologie der Städte (), hier vor allem die Einleitung, S. – ; ferner Martina Löw/ Georgios Terizakis (Hg.): Städte und ihre Eigenlogik. Ein Handbuch für Stadtplanung und Stadtentwicklung. Frankfurt/Main u. a. . Spezieller zum Thema Geschichte und Imagebildung in Städten vgl. Carla Assmann/Sebastian Rojek: Tagungsbericht: Stadt – Image – Identität: Konstruktion und Wandel von Städtebildern im . und . Jahrhundert, URL http://hsozkult.ge schichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id= (Zugriff . . ).
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7 Neue Bilder über die Stadt
[…] welche die Adressaten übernehmen oder eben nicht.“² Auch die Ethnologin Alexa Färber betont, dass sich nicht „jede Bildstrategie in Form einer städtischen Werbekampagne […] als nach außen erfolgreich oder nach innen plausibel“ erweisen muss. In ihren Untersuchungen zu Berlin zeigt sie, dass ein gezielt eingesetztes Bild der Stadt „sich nur dann als plausibel und damit auch erfolgreich erweist, wenn es mit dem Imaginären der Stadt korrespondiert.“ Das Imaginäre oder imaginary der Stadt versteht sie als Produkt sozialer Praxis. Es verweist zum einen auf den „Erfahrungsraum der Stadt, der durchdrungen ist von Symbolisierungen materieller wie immaterieller Art: Architektur, Literatur, Werbung aber auch Erzählungen über die Stadt prägen als ‚Vokabular‘ die Wahrnehmung des Stadtraumes.[…] Das Imaginäre wird alltagskulturell produziert und ist im Alltag wirksam.“ Während das Imaginäre einer Stadt „widerständig“, „langsam“ oder „zähflüssig“ sein kann, sind die Bilder oder Images situationsbezogen und an bestimmten (stadtpolitischen) Zielen orientiert. Als „urbanes Imagineering“ bezeichnet Färber das „Zusammenwirken von medialen Repräsentationen der Stadt und städtischer Realität.“³ Der Fokus auf die städtische Realität hebt hervor, dass Imagebildung neben der Verfestigung oder Veränderung des Selbstbildes der Stadtbewohner immer auch im Zusammenhang mit der Gestaltung des materiellen Erscheinungsbildes der Stadt gesehen werden muss. Es ist keiner Marketingstrategie gegeben, unabhängig von der Spezifik des Ortes, der „kumulativen Textur dieser Stadt“ ein Image auf Dauer stellen zu können.⁴ Das Stadtmarketing schafft vielmehr Deutungsangebote für Selbstbeschreibungen, es konstruiert Bilder des Eigenen aus den Gegebenheiten vor Ort heraus mit dem Ziel, diese dauerhaft als positiv herausstellen zu können. In den europäischen Metropolen gehört die Herausbildung und Pflege eines städtischen Images zum Aufgabenspektrum des Stadtmarketings. Das Stadtmarketing orientiert sich nach innen und nach außen, es zielt einerseits auf die nachhaltige Sicherung und Steigerung der Lebensqualität der Bürger und will dabei gleichzeitig die Attraktivität der Stadt im Standortvergleich erhöhen. Mit dem Stadtmarketing soll möglichst viel „Zufriedenheit und Zuspruch“ für eine Ralph Richter: Differenzierungen inszenieren: Der Fall Stadtmarketing, in: Sybille Frank/Petra Gehring/Julika Griem/Michael Haus: Städte unterscheiden lernen. Zur Analyse interurbaner Kontraste. Frankfurt/Main u. a. , S. – , hier S. f. Vgl. Alexa Färber: Urbanes Imagineering in der postindustriellen Stadt: Zur Plausibilität Berlins als Ost-West-Drehscheibe, in: Thomas Biskup/Marc Schalenberg (Hg.): Selling Berlin. Imagebildung und Stadtmarketing von der preußischen Residenz bis zur Bundeshauptstadt. Stuttgart , S. – , hier S. f. Vgl. Sybille Frank/Petra Gehring/Julika Griem/Michael Haus: Städte unterscheiden lernen, in: Dies. (Hg.): Städte unterscheiden lernen. Zur Analyse interurbaner Kontraste. Frankfurt/Main u. a. , S. – , hier S. .
7 Neue Bilder über die Stadt
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Stadt generiert werden.⁵ Das Stadtmarketing legt ferner wert auf die Definition von Alleinstellungsmerkmalen sowie die Positionierung auf dem nationalen und internationalen Tourismusmarkt.⁶ In der permanenten Konkurrenzsituation mit anderen Städten geht es nicht nur um „das Gleichziehen mit anderen konkurrierenden Städten […], sondern auch [um] das Herausstellen der Differenz, der Unterscheidbarkeit zu anderen Städten.“⁷ Die Entfaltung des Eigenen, die Suche nach einer städtischen Identität, städtischen Traditionen und dem Selbstverständnis einer Stadt und ihrer Bewohner sind in einer Zeit permanenten Wettbewerbes zwischen Städten von grundlegender Bedeutung.⁸ Die Herausbildung oder Veränderung von Images und Identitäten muss dabei als Ergebnis und Ziel eines Prozesses angesehen werden, der von der Suche und Stärkung von positiven oder bisher unentdeckten Aspekten der Vorstellungen über die Stadt geprägt wird. In Katowice waren es weniger die Traditionen oder das alt Bewährte, das in die Imagebildungen eingeflossen ist. Die spezifische Umbruchsituation des Strukturwandels brachte es vielmehr mit sich, dass die Akteure das Unerwartete in den Mittelpunkt rückten und überraschend neue Perspektiven auf Katowice kreierten. Dass die städtische Realität bzw. das Imaginäre hinter den ambitionierten Vorhaben der Imagemaker teilweise zurückblieben, wird im Folgenden anhand der beiden Imagebildungskampagnen Katowice – Gartenstadt (Katowice – Miasto Ogrodów) sowie Route der Moderne (Szlak Moderny) deutlich werden. Beide Kampagnen können im oben beschriebenen Sinne als imagebildend verstanden werden, zielten sie doch sowohl auf die Veränderung der materiellen Stadt-
Vgl. Richter, Differenzierungen (), S. . Vgl. Agnes Weichselgärtner: Tagungsbericht: History Sells! Stadt, Raum, Identität. Wissenschaftliche Jahrestagung des Brauweiler Kreises für Landes- und Zeitgeschichte e.V., URL http:// hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id= (Zugriff . . ). Vgl. Marianne Rodenstein: Neue Hochhäuser – Globalisierung und Differenz, in: collage. Zeitschrift für Planung, Umwelt und Städtebau (), S. – , hier S. . Im Zusammenhang von Stadtmarketing und Kulturpolitik in Städten wird nicht nur von Imagebildung, sondern auch von Branding gesprochen. Branding wird als glaubhafte und authentische Produktion urbaner Identität verstanden, der eine „Politik der Differenz“ zugrunde liegt. Vgl. Therese Kaufmann: Jenseits des visibility-Mantras. Transnationale Kulturpolitiken. European Institute for Progressive Cultural Policies, Wien, URL http://eipcp.net/policies/kaufmann/de (Zugriff . . ). Regina Bittner spricht in ihrer Studie über die Identitätssuche in Dessau von „Brandingstrategien“ und meint damit die „symbolische Neuverortung von Städten unter dem Druck von Globalisierungsdynamiken“. Sie verweist weiterhin darauf, dass „städtische Brandingstrategien wie die Bauhausstadt“ nur dann erfolgreich sein können, „wenn sie auf die eigenlogischen Strukturen Bezug nehmen.“ Vgl. Bittner, Bauhausstadt Dessau (), S. . Martina Löw zitiert in der Einleitung zu ihrem Buch Soziologie der Städte die Süddeutsche Zeitung vom . . , die das . Jahrhundert genuin als Epoche des Städtewettbewerbes charakterisiert. Vgl. Löw, Soziologie der Städte (), S. .
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7 Neue Bilder über die Stadt
struktur als auch ihre Repräsentationen und Wahrnehmungen ab. Das spezifische Augenmerk der Untersuchung liegt jedoch nicht vorrangig auf dem Auseinanderdriften von medialen Repräsentationen der Stadt und städtischer Realität. Von Bedeutung ist vielmehr die Frage, wie in den Imagebildungskampagnen mit der Geschichte der Stadt umgegangen wurde, wie sie als Ressource zur Selbstbeschreibung, zur Erschaffung eines Selbstbildes genutzt wurde, welche historischen Narrationen in diesem Prozess entstanden und wie diese stadträumlich verankert wurden. Geschichte als Alleinstellungsmerkmal ist eine zentrale Ressource im Wettbewerb der Städte um ein attraktives Image, mit dem sich die Stadt abgrenzt und abhebt.⁹ Die Frage nach dem Umgang beider Imagebildungsprojekte mit der Vergangenheit der Stadt sowie die darin angelegten Versuche, eine veränderte Sicht auf Gegenwart und Vergangenheit von Katowice zu fokussieren, steht im Mittelpunkt des folgenden Kapitels. Es werden zum einen die Vorstellungen untersucht, die durch die Imagekampagnen in der Gegenwart und für die Zukunft von Katowice entworfen wurden. Zum anderen wird nach der historischen Grundlage gefragt, die für die Imagebildungen herangezogen wurde. Beide Kampagnen bedienten sich umfangreicher historischer Rückbezüge und entwarfen Erzählungen über die Vergangenheit der Stadt, die sowohl den Einwohnern von Katowice als auch potenziellen Investoren oder Touristen eine charakteristische, klar verständliche Vorstellung bestimmter Aspekte der Stadtgeschichte vermitteln sollten. Die Analyse wird geleitet von der im theoretischen Teil eingeführten Matrix zur Dekonstruktion historischer Narrationen. Zusätzlich kommt das Geschichtsbewusstsein derjenigen Akteure ins Blickfeld, die maßgeblich an der Entstehung der Images und der darin angelegten historischen Narrationen beteiligt waren.
Vgl. Weichselgärtner, Tagungsbericht: History Sells ().
7.1 Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2016
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7.1 Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2016 oder: Wie aus Katowice eine Gartenstadt werden sollte Als Katowice seine Teilnahme am Wettbewerb bekannt gab, herrschte die Überzeugung, dass der Hauptpreis sicher nicht gewonnen wird, sich die Teilnahme aber trotzdem lohnt, denn vielleicht entsteht aus dem Prozess etwas Interessantes. Das Ergebnis der Arbeit des Bewerbungsbüros, aber auch der Einwohner von Katowice, hat sogar die besten Voraussagen übertroffen.¹⁰
Am Nachmittag des 21. Juni 2011 drängten sich auf der Marienstraße (ul. Mariacka), einer der zentralen Innenstadtstraßen von Katowice, an der sich seit einigen Jahren verstärkt Lokale und Geschäfte für ein jüngeres Publikum ansiedeln, gespannt wartende Menschen. Ähnliche Szenen spielten sich zur gleichen Zeit in Breslau, Danzig, Lublin und Warschau ab. Die Aufmerksamkeit der Wartenden richtete sich auf die polnische Hauptstadt, wo am Nachmittag in der Orangerie des Łazienki-Parkes die Entscheidung über die Vergabe des Titels Kulturhauptstadt Europas 2016 im Landesausscheid bekannt gegeben wurde. In Katowice herrschte kurz nach 16.00 Uhr beklemmte Stimmung, während sich die Breslauer freuten. Der Titel ging nicht an die ober- sondern die niederschlesische Woiwodschaftshauptstadt.¹¹ Viele Einwohner von Katowice hatte der Prozess, den ihre Stadt von der Entscheidung über die Teilnahme am Wettbewerb Ende 2009 bis hin zum Erreichen der Endrunde durchlebt hatte, bewegt, vor allem unter den jüngeren Einwohnern hatte er eine große Dynamik und Bereitschaft zum Engagement entfaltet.¹² Die Zeitungsbilder des 21. Juni 2011 zeigten Menschen auf der Marienstraße, die sich die Tränen aus den Augen wischten, viele schauten bedrückt zu Boden.¹³ Andere waren auch am Tag der Bekanntgabe der Ergebnisse noch skeptisch und fragten sich, wo denn in ihrer Stadt die viel besagten Gärten seien, mit denen das Bewerbungsbüro seit April 2010 die nationale und internationale
Vgl. Małgorzata Cekierka: Silesia Culture Center, Res Publica Nowa vom . . , URL http://publica.pl/teksty/silesia-culture-center/ (Zugriff . . ). Vgl. die Berichterstattung der Regionalausgabe Katowice der Gazeta Wyborcza, u. a. vom . . ; Przemysław Jedlecki/Iwona Sobczyk: ESK nie dla Katowic, ale mamy plan „B“ [Katowice wird nicht Kulturhauptstadt Europas, aber wir haben einen Plan „B“], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Betont wurde in allen geführten Interviews mit den Organisatoren die Begeisterung vor allem der jüngeren Einwohner von Katowice über die Möglichkeit, sich aktiv an der Veränderung der Stadt zu beteiligen, Ideen und Vorschläge für Projekte einzubringen, die unbürokratisch durch kleine Projektbudgets umgesetzt werden konnten. Vgl. auch die Bildstrecke zum Artikel Jedlecki/Sobczyk, ESK nie dla Katowic [Katowice wird nicht Kulturhauptstadt], Gazeta Wyborcza vom . . , S. .
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7 Neue Bilder über die Stadt
Jury des Wettbewerbes sowie die Einwohner der Stadt von ihren Ideen zu überzeugen versucht hatte. Die Symbolik des Gartens wird im Verlaufe dieses Kapitels noch eine entscheidende Rolle spielen. Die Entscheidung, dass Katowice sich am nationalen Wettbewerb um die Europäische Kulturhauptstadt beteiligt, wurde in der zweiten Hälfte des Jahres 2009 gefällt. Turnusmäßig waren Spanien und Polen von der Europäischen Initiative zur Nominierung jeweils einer Stadt aufgerufen, die im Jahr 2016 parallel den Titel Kulturhauptstadt Europas trägt. Am 1. April 2010 richtete die Stadtverwaltung das Büro der Europäischen Kulturhauptstadt (Biuro Europejskiej Stolicy Kultury, ESK) ein. Es diente als Knotenpunkt der Koordination des Antrages sowie aller damit in Verbindung stehenden Aktivitäten, sowohl vor Ort als auch auf nationaler und internationaler Ebene. Die Mitarbeiter dieses Büros um den künstlerischen Leiter Marek Zieliński und den Geschäftsführer Piotr Zaczkowski arbeiteten zwei Anträge aus, die Katowice bis in die Endrunde des zweistufigen Ausscheides brachten.¹⁴ Piotr Zaczkowski führte das überraschende Erreichen der Endrunde unter anderem auf die besonderen Qualitäten seiner Mitarbeiter im Bewerbungsbüro zurück. Es war ein junges Team aus Akademikern und Künstlern, das die Geschicke der Kulturhauptstadtsbewerbung lenkte: Das sind sehr junge Leute, voller Energie, voller Ideen und Wissen, die große Kompetenzen mitbringen […] Es sind Absolventen, Studenten kurz vor dem Studienende, Doktoranden sowohl von der Schlesischen Universität als auch der Akademie der Schönen Künste. […] Es ist einfach ein wirklich junges und energiegeladenes Projekt […] und ich denke, dass es noch nicht zum Standard [in Polen, J.T.] gehört, dass junge Menschen über das Gestalten derartiger Ereignisse selbstständig entscheiden.¹⁵
Strukturell unterstützt und inhaltlich begleitet wurden diese jungen Kreativen von einem Programmrat, der mit regional bedeutenden Personen aus Wissenschaft, Kultur und Medien besetzt war. Dem Programmrat¹⁶ oblag die Beratung
In der ersten Bewerbungsrunde reichten elf polnische Städte ihre Unterlagen zur Bewerbung ein: Toruń/Thorn, Poznań/Posen, Bydgoszcz/Bromberg, Danzig, Lodz, Breslau, Szczecin/Stettin, Warschau, Białystok, Katowice, Lublin. Vgl. Interview mit Piotr Zaczkowski, Geschäftsführer des Bewerbungsbüros für den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai , Transkript, S. . Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Der Programmrat stand unter der Leitung von Tadeusz Sławek, Professor an der Schlesischen Universität Katowice für Vergleichende Literaturwissenschaften. Dem Gremium gehörten an: Leszek Jodliński (Leiter des Schlesischen Museums in Katowice), Zbigniew Kadłubek (Literaturwissenschaftler, Schlesische Universität Katowice), Andrzej Klasik (Professor für strategische und regionale Forschung, Ökonomische Hochschule Katowice), Eugeniusz Knapik (Professor an der Musikhochschule Katowice), Mirosław Neinert (Theater „Korez“, Katowice), Ewa Niewiadomska-
7.1 Die Bewerbung zur Kulturhauptstadt Europas 2016
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bzw. Vorgabe inhaltlicher Leitlinien, während im Bewerbungsbüro diese Ideen, Vorstellungen und Vorschläge in konkrete Projekte übersetzt und den formalen Antragsbedingungen angepasst wurden. Sowohl der Programmrat als auch die Mitarbeiter des Bewerbungsbüros waren für Inhalt und Form der Antragsunterlagen verantwortlich. Als Katowice sich im Jahr 2010 am Bewerbungsprozess um den Titel Kulturhauptstadt Europas beteiligte, existierte diese europäische Kulturinitiative bereits seit 25 Jahren. Eingeführt wurde sie 1985 vom Ministerrat der Europäischen Union mit dem Ziel, den Reichtum, die Vielfalt und die Gemeinsamkeit des Europäischen Kulturerbes anhand von Städten hervorzuheben sowie das Verständnis der europäischen Bürger füreinander und das Verständnis für eine europäische Bürgerschaft zu fördern.¹⁷ In einer Zeit des integrationspolitischen Stillstandes in Europa formulierte die damalige griechische Kultusministerin Melina Mercouri die Idee, anhand der Kultur(haupt)städte¹⁸ einen intensiven und lebendigen Dialog zwischen den Kulturen Europas zu schaffen und die kulturelle Vielfalt Europas zu nutzen, um die Zustimmung der Bevölkerung zum europäischen Einigungsprozess zu stärken. Die primär auf wirtschaftliche Integration ausgerichtete europäische Integration sollte nunmehr um eine gesellschaftlich-symbolische Ebene ergänzt werden. Von diesen idealistischen Grundgedanken war vor allem der Beginn der Initiative geprägt. Die Idee des besseren gegenseitigen Kennenlernens der europäischen Länder und ihrer Kulturen ist inzwischen in den Hintergrund getreten, und die Initiative hat sich zu einem eigenständigen, institutionell verankerten und finanziell gut ausgestatteten Projekt der Europäischen Kommission entwickelt, das sich über die Jahre als wichtiges Instrument der europäischen Integration und Ciesielska (Leitung der Kulturabteilung des Polnischen Radios in Katowice), Magdalena Piekorz (Regisseurin), Stanisław Ruksza (Kunsthochschule Katowice), Michał Smolorz (Journalist, Katowice), Tomasz Szabelski (Direktor Filmfestival „Kultfilme“ Katowice), Lesław Tetla (Kunsthochschule Katowice), Henryk Waniek (Maler), Joanna Wnuk-Nazarowa (Leiterin des Polnischen Radiosymphonieorchesters). Vgl. die Beschreibung des Programms Kulturhauptstadt Europas auf der Internetseite der Europäischen Kommission URL http://ec.europa.eu/culture/our-programmes-and-actions/doc _de.htm (Zugriff . . ). Die ursprüngliche Bezeichnung der Aktion lautete Kulturstadt Europas. Da die Übersetzung des griechischen Originalvorschlages auch eine Variante als Kulturhauptstadt erlaubt und Städte wie Florenz (), Amsterdam () und Kopenhagen () bereits mit dem Titel Kulturhauptstadt Europas geworben hatten, wurde der schlichtere Titel Kulturstadt Europas im Jahr fallen gelassen. Seither firmieren alle Städte als Kulturhauptstädte. Vgl. Jürgen Mittag: Die Idee der Kulturhauptstadt Europas: Vom Instrument europäischer Identitätsstiftung zum tourismusträchtigen Publikumsmagneten, in: ders. (Hg.): Die Idee der Kulturhauptstadt Europas. Anfänge, Ausgestaltung und Auswirkungen europäischer Kulturpolitik. Essen , S. – , hier S. .
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als europäisches kulturelles Großereignis etabliert hat.¹⁹ Zu dieser Entwicklung gehörte auch, dass anfangs nur die Hauptstädte oder kulturell auf der europäischen Landkarte fest verankerte Metropolen wie Athen, Florenz, Amsterdam oder Paris nominiert und die Auswahl politisch und ohne Wettbewerb gefällt wurde.²⁰ Mit der Nominierung Glasgows im Jahr 1990 wurde diese Praxis durch die Auswahl einer Stadt aufgebrochen, die sich in einer tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Transformationsphase befand und Kultur als Entwicklungsfaktor in diesem Prozess eine zentrale Rolle zugeschrieben hatte. Während sich die vorherigen Kulturhauptstädte Europas in erster Linie an den erreichten kulturellen Leistungen orientierten, führte die Nominierung Glasgows zu einer weitgehenden Neuinterpretation der Intentionen der Kulturhauptstadt Europas: Die bisher im Mittelpunkt stehende Hochkultur rückte zugunsten einer systematischen Imagewerbung, einer neu hinzugekommenen städtebaulichen Dimension sowie der Berücksichtigung der Nachhaltigkeit in den Hintergrund. Der Titel Kulturhauptstadt Europas galt seither als werbewirksamer Publikumsmagnet und wird mit Imagewerbung und der Ankurbelung des Städtetourismus verbunden.²¹ Nachvollziehen ließ sich dieser konzeptionelle Wandel der Initiative etwa am Beispiel Luxemburgs, das den Titel Kulturhauptstadt Europas im Jahr 1995 erhielt, obwohl die Stadt über kein ausgeprägtes Image als Kulturmetropole verfügte.²² Die Initiative hat im Laufe ihres Bestehens nicht nur konzeptionelle Veränderungen erfahren, auch die Rahmenbedingungen zur Ernennung der Städte sowie zur Durchführung und Evaluation des Kulturhauptstadtjahres haben sich mehrfach verändert. So war etwa aufgrund des großen Erfolges der Initiative Kulturhauptstadt Europas bereits im Jahr 1990 beschlossen worden, jeweils (bzw. höchstens) zwei Städte gleichzeitig zur Kulturhauptstadt Europas zu küren. Das
Vgl. Joanna Sanetra-Szeliga: Laboratorium zmiany [Das Labor der Veränderung], Interview mit Jacek Purchla in Herito (), S. – , hier S. . Weiterhin zur Entwicklung des Programms Kulturhauptstadt Europas vgl. Kiran Klaus Patel: Das Programm Kulturhauptstadt Europas. Zum Zusammenspiel von Expertise und Integration seit den er Jahren, in: Michaela Bachem-Rehm/Claudia Hiepel/Henning Türk (Hg.): Teilungen überwinden. Europäische und Internationale Geschichte im . und . Jahrhundert. München , S. – . Bis zum Jahr wurden die Städte auf Regierungsebene benannt und der Rat musste der Auswahl zustimmen. Unter der deutschen Ratspräsidentschaft von wurde das bislang zwischenstaatliche Auswahlverfahren in ein gemeinschaftliches umgewandelt, diese Regelung trat in Kraft. Vgl. Mittag, Idee der Kulturhauptstadt (), S. . Die Hauptstadt des Großherzogtums besaß weder hochkulturelle Einrichtungen, wie eine Oper oder ein Nationalballett, noch verfügte sie bis über eine Universität. Das Ringen Luxemburgs um ein neues Image als Kulturmetropole während des Kulturhauptstadtjahres wurde dennoch als Erfolg gewertet. Vgl. Ebd., S. .
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symbolträchtige Jahr 2000 brachte dieses System jedoch bereits wieder aus den Fugen. Aus symbolischen Gründen, und weil sich der Europäische Rat nicht auf eine Auswahl verständigen konnte, wurden im Jahr 2000 alle eingegangenen Bewerbungen aus insgesamt neun Städten akzeptiert. Unter ihnen war auch das unweit von Katowice gelegene Krakau²³ sowie Prag, also Städte in Ländern, die zu diesem Zeitpunkt den Anwärterstatus auf eine Mitgliedschaft in der EU hatten.²⁴ Seit 2007 haben auch Nicht-Mitgliedsstaaten der EU die Möglichkeit einer Nominierung.²⁵ Seither ist auch die Kombination einer ost- und einer westeuropäischen Stadt zu einem festen Strukturprinzip der Kulturhauptstadt Europas geworden. Verändert hat sich seit Beginn der Initiative auch das Vergabeverfahren. Ferner wurde ein nationaler Städtewettbewerb festgelegt, der den Nominierungen seither vorausgeht. Auch wurde von da an für jeden Mitgliedsstaat, der eine Kulturhauptstadt stellen darf, eine Jury zur Vergabeentscheidung einberufen, die aus 13 unabhängigen Experten zusammengesetzt wird.²⁶ Einen entscheidenden Wandel nahm die Aktion ferner durch die Einführung von Kriterien, die einerseits das Element des nationalen Wettbewerbs der Städte untereinander um den Titel verstärken sollten, andererseits die Rolle von Kultur als Katalysator und Entwicklungsfaktor vor allem für mittelgroße Städte in Transformationsphasen in den Fokus rückten.²⁷ Von der Etablierung der Europäischen Kulturhauptstadt als Instrument strategischer Entwicklung zeugt die Einführung von Auswahlkriterien wie die Verbesserung des städtischen Images, ihre Positionierung und die Auf-
Krakau hat neben dem Titel Kulturhauptstadt Europas im Jahr bereits im Juni den ersten Europäischen Kulturmonat organisiert und durchgeführt. Diese Aktion, die heute nicht mehr besteht, ähnelte in den Grundzügen der Kulturhauptstadt Europas, fand aber in einem kürzeren Zeitraum und nur einmal im Jahr statt. Die Aktion richtete sich vor ihrem Beitritt von vor allem an die Länder Mittel- und Osteuropas außerhalb der EU. Zu den weiteren Titelträgern gehörten Avignon, Bergen, Bologna, Brüssel, Helsinki, Reykjavik und Santiago di Compostella. So war neben dem ungarischen Pécs/Fünfkirchen und Essen auch Istanbul im Jahr Kulturhauptstadt Europas. Sieben Mitglieder stammen von europäischen Organen, sechs weitere aus den jeweiligen Mitgliedsstaaten. Diese Jury einigt sich zunächst auf eine Liste von Kandidaten, die ihre Bewerbung präzisieren dürfen. Neun Monate später tagt die Jury erneut, um die weiter konkretisierten Programme der auf der Liste stehenden Städte zu sichten. Anschließend wird eine der Städte zur Kulturhauptstadt Europas benannt. Unter Berücksichtigung einer Stellungnahme des Europäischen Parlaments und der Berichte der Jury ernennt der Rat anschließend zwei Städte zu Kulturhauptstädten. Vgl. Mittag, Idee der Kulturhauptstadt (), S. f. Die Kriterien wurden auf Grundlage des Beschlusses //EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom . Oktober eingeführt und traten am . Januar in Kraft. Der Beschluss ist einzusehen im Amtsblatt L / vom . . ; URL http://eurlex.europa. eu/LexUriServ/LexUriServ.douri=OJ:L:::::DE:PDF (Zugriff . . ).
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wertung von Alleinstellungsmerkmalen, die Einführung neuer kultureller Infrastrukturen und ihre Verwaltung bzw. Evaluation.²⁸ Das gesamte Jahr, in dem eine Stadt als Kulturhauptstadt Europas firmiert, ist von einer Vielzahl kultureller Veranstaltungen in verschiedenen Sparten geprägt. Angefangen von klassischen Formaten kultureller Großereignisse wie Konzerte bis hin zu kleineren Formaten wie Ausstellungs- oder Street-Art-Projekten, die durch Kunst und Kultur den städtischen Raum einbeziehen und gestalten. Seit der Veränderung und Konkretisierung der Auswahlkriterien im Jahr 2007 stand außerdem nicht mehr nur die Anziehungskraft hochkultureller Formate, die der Kulturhauptstadt als „Leuchtturmveranstaltungen“ erhöhte europäische Aufmerksamkeit und Besucherzahlen bescheren, im Mittelpunkt. Auch dem Einbezug der Einwohner in das Geschehen wurde seither eine entscheidende Rolle zugeschrieben. Durch die Unterstützung bei der Umsetzung eigener Ideen, aber auch Teilhabe an und Mitgestaltung von kulturellen Ereignissen sollen die Einwohner die Qualität ihres Lebensumfeldes aktiv mitgestalten und somit verbessern können. Katowice gehörte unter den Bewerbern eindeutig zu den Städten, die nicht als etablierte Kulturzentren unten den polnischen Metropolen galten. Andererseits
Die Webseite der Europäischen Kommission gibt Auskunft darüber, dass Studien zufolge die Verleihung des Titels Kulturhauptstadt Europas die Möglichkeit beinhaltet, Städte umzugestalten, neue kulturelle Vielfalt zu initiieren, internationale Bekanntheit und somit auch den Tourismus zu fördern und das Image der Stadt in den Augen seiner Bewohner zu verbessern.Vgl. URL http://ec.euro pa.eu/culture/our-programmes-and-actions/doc_de.htm (Zugriff . .). Ausführlich zur Entwicklung und zu den Zielen des Wettbewerbes siehe ferner Daniel Habit: Europäische Kulturhauptstädte. Zwischen lokaler Eigenlogik und gesteuerter Harmonisierung, in: Themenportal Europäische Geschichte (), URL http://www.europa.clio-online.de//Article= (Zugriff . . ). Habit beschreibt das Programm aus „einer historisch-kulturwissenschaftlichen Perspektive […] als Selbstvergewisserungs- und Selbstlegitimierungsstrategie der Union“ und sieht es entsprechend kritisch. Der Autor identifiziert einen „kaum zu lösende[n] Gegensatz“ in der Anlage des Programms Kulturhauptstadt Europas: „Dem immer wieder konstatierten Fehlen eines einenden, mehrheitsfähigen und widerspruchsfreien Narrativs, das von einer im Entstehen begriffenen europäischen Öffentlichkeit getragen wird, steht das Selbstverständnis der Union gegenüber, eben nicht als zentraler Wissensbevollmächtigter aufzutreten und dieses Narrativ für das zusammenwachsende Europa festzulegen.“ Letztlich, so Habits Fazit, werde mit dem Programm in den Bewerberstädten ein kulturelles Erbe generiert, dass von der EU als Beleg für die „Einheit in Vielfalt“ instrumentalisiert würde: „Dieser von unten generierte Fundus an europäisch codierten materiellen und immateriellen Kulturgütern dient als Projektionsfläche im Unifikationsprozess und wird als Beleg für dessen Gelingen instrumentalisiert; ein einheitliches Konzept von Kultur wird konstruiert, politisch instrumentalisiert und den Bürgern Europas erfahrbar gemacht.“
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zählte die Stadt zu den Kandidaten, die das Entwicklungspotenzial von Kultur für die städtische Infrastruktur und als strategischer Faktor in besonderer Weise erkannt hatten. Ihr Leitmotiv für die Bewerbung wählten die Verantwortlichen daher nicht aus dem engeren Bereich von Kunst und Kultur, sie griffen mit dem Motto Katowice – Gartenstadt (Katowice – Miasto Ogrodów) eine dem ganzheitlichen Charakter von Kultur entsprechende Vision auf, die sie als leitend für die zukünftig angestrebte Entwicklung ihrer Stadt ausmachten. Mit dem Anspruch des künstlerischen Leiters Marek Zieliński, die Stadt „neu zu definieren“²⁹ und zwar „sowohl im wirklichen, materiellen Raum, als auch im mentalen, physischen Bereich“³⁰ (geschäftsführender Direktor Piotr Zaczkowski) trug der Bewerbungsprozess deutliche Züge einer Imagebildung. Kommuniziert wurde die neue Vision der Stadt über den Slogan Gartenstadt, der sowohl inhaltlich als auch visuell zur wichtigsten Identifikationsfigur der Bewerbung wurde. Er fungierte als Schriftzug, unter anderem prangte er auf dem Titel aller Antragsformulare, die zur Wettbewerbsteilnahme ausgefüllt wurden, und avancierte damit zu ihrem übergeordneten Sinnbild. Grafisch wurde die Vision als Logo umgesetzt, das neben dem Schriftverkehr, Dokumenten und Veranstaltungsmaterialien sowie dem Internetauftritt auch im städtischen Raum in Gestalt von Plakaten und in figurativen Formen Sichtbarkeit erlangte. Die Antragsformulare für die aufeinanderfolgende erste und zweite Bewerbungsphase waren Kondensat und Kristallisationspunkt aller Ideen, die im Umfeld der Bewerbung entstanden waren, und beinhalteten damit die wichtigsten Quellentexte zur Beschreibung und Analyse des Imagebildungsprozesses. Als zentrales inhaltliches Fundament der Anträge fungierte die dezidierte Unterscheidung zwischen Industriestadt und Gartenstadt. Die Kategorisierung der Industriestadt als überkommenes gesellschaftliches Modell schrieb der Gartenstadt gleichzeitig eine Funktion als Zukunftsentwurf für Katowice ein. In der Vision der Antragschreiber bildete die Gegenüberstellung von Gartenstadt und Industriestadt den Ziel- und Endpunkt der ökonomischen und gesellschaftlichen Transformationsprozesse. Entsprechend stand die Industriestadt im Antrag synonym für Ausbeutung und Abbau, für die Unterordnung der Kultur unter die Natur, für eine belastete Vergangenheit, das Verschwinden von Traditionen sowie die Zerstörung der Umwelt. Dem gegenüber stand die Gartenstadt, die auf Grundsätzen der Verantwortung, des ausgeglichenen Wachstums, der Zukunftsorientierung, inspirierender Traditionen und eines aktiven Lebensstils beruhen sollte. In der Vgl. Interview mit Marek Zieliński, künstlerischer Leiter des Bewerbungsbüros für den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai , Transkript, S. . Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Vgl. Interview Zaczkowski, Katowice, , Transkript S. .
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Perspektive der Antragsteller galt der Garten als Ort der Zusammenarbeit, der Solidarität, der Vielfältigkeit. Die Industrie hingegen versinnbildlichte Egoismus, Rivalität und Einseitigkeit. Die Bewerbung von Katowice war demnach nicht nur auf das Erfüllen formaler Bewerbungskriterien ausgerichtet, etwa die Präsentation und Weiterentwicklung der städtischen Kultur und ihrer Traditionen im engeren Sinne. Die Entscheidungsträger sahen den Wettbewerb vielmehr als Chance, ihrer Stadt eine neue Vision und Entwicklungsrichtung für das Jahr 2016 zu verleihen.³¹ Der künstlerische Leiter Marek Zieliński ging noch weiter und bezeichnete die Ideen, mit denen Katowice in den Wettbewerb startete als „Zukunftsprojekt“ das an der grundlegenden Frage ausgerichtet war, „in welche Richtung sich Städte eigentlich entwickeln sollten.“ Geschäftsführer Piotr Zaczkowski kleidete die Aufbruchstimmung in folgende Worte: Hier wird keine Energie aufgewendet, um etwas Fiktives zu schaffen, etwas, was nur auf dem Papier einen Wert besitzt […] eine künstliche Realität. Wir bauen an etwas, das es streng genommen noch nicht gibt, sehr wohl wissend, dass wir uns auf einer realen Ebene der Wirklichkeit befinden.³²
Und tatsächlich legte der Blick auf den Zustand der städtischen Infrastruktur den Eindruck nahe, dass es sich beim Slogan der Gartenstadt um eine besonders kühne, ausgefeilte und vor allem weit in die Zukunft datierte Beschreibung der Stadt handeln musste. Die Antragsteller hatten mit ihrer Vision der Gartenstadt aber durchaus nicht nur die Zukunft im Visier, vielmehr sollte ihre Idee auch zu einem „frischen und mutigen Blick auf die Gegenwart inspirieren.“³³ Der frische Blick bezog sich vor allem auf die für Katowice gegenwärtig wichtigste Frage des Strukturwandels, der aber nicht nur auf einer ökonomischen Ebene betrachtet werden sollte. Die Gartenstadt sei vielmehr ein integratives Konzept, das die Grundkonstanten gesellschaftlichen Zusammenlebens in der Stadt thematisiere: „Die Garten-Metapher gibt die Harmonie vieler Bereiche menschlichen Handelns in besonderer Weise wieder, denn sie verbindet das Schöne mit dem Nützlichen. Sie hebt die
Zu diesem Ergebnis kamen auch zahlreiche Zeitungsberichte, die im Nachgang der Entscheidung für Breslau als Kulturhauptstadt die Bewerbungsphase in Katowice kritisch beleuchteten. Vgl. u. a. Przemysław Jedlecki: Katowice wybudzone z letargu [Katowice wurde aus der Lethargie geweckt], in: Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice, Nr. vom . . , S. . Vgl. Interview Zaczkowski, Katowice, , Transkript S. . Vgl. Miasto Katowice (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury [Katowice – Gartenstadt, Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas ], Antragsformular in Buchform gedruckt, Katowice, , S. .
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Ähnlichkeiten in der Entstehung einer Stadt und eines Gartens hervor: gemeinsame Verantwortung, Geduld und Sorge.“³⁴
Die Stadt, gedacht als Garten, wurde hier zum gemeinsamen Gut, das verbindet und dessen Stärke in seiner Vielfältigkeit und Offenheit bestand. In dieser Lesart wurde die Gartenstadt zur Aufforderung und Einladung an die Stadtbewohner, den öffentlichen städtischen Raum stärker zu nutzen und sich für seine Gestaltung und Entwicklung einzusetzen. Denn der Garten stand nicht nur für freundliche und angenehme öffentliche Räume, sondern auch für Offenheit gegenüber Ideen und Initiativen der Gärtner, also der Einwohner der Stadt. Das Denken in Analogien wie Zivilisation und Natur, Hochkultur und Unterhaltung für die Massen, der Sphäre des Geistigen und Materiellen sollte durch die integrative Vision des Gartens in der Stadt als anachronistisch entlarvt werden, da es keine Auswege aus den gegenwärtigen Problemlagen weisen könne. Vielmehr müsse eine neue Sprache gefunden werden, um den Herausforderungen der Gegenwart wie Deurbanisierung, Fragmentierung städtischer Räume und der damit verbundenen Veränderung zwischenmenschlicher Beziehungen, Lösungen entgegensetzen zu können. Dennoch ging es den Verantwortlichen „nicht nur darum, Gärten zu bauen […] es geht um die Gärten im Kopf. Es ist die Art des Denkens über den Ort, an dem man lebt“³⁵, fasste der künstlerische Leiter Marek Zieliński seine Grundüberzeugung für die Entwicklung der Stadt zusammen. Die Veränderung der städtischen Topografie sei demnach genauso wichtig wie eine Veränderung der Selbstwahrnehmung der Menschen. Deutlich wurde dieser Aspekt, wenn Piotr Zaczkowski den naheliegenden Vergleich zur Kulturhauptstadt 2010 in Essen und dem Ruhrgebiet zog: Wir haben viel von Essen gelernt. […] Die Situation in Schlesien ist ein wenig anders als im Ruhrgebiet. […] Dort mussten bestimmte Objekte, bestimmte Orte neu definiert werden, sie wurden zu Orten der Kultur. […] In der Woiwodschaft Schlesien geht es nicht nur um die Neudefinition bestimmter Orte im öffentlichen Raum. […] Hier muss auf der Ebene des Sozialen noch sehr viel nachgeholt werden.³⁶
Das Leitmotiv des Gartens als Sinnbild gesellschaftlicher Verantwortung sowie eines aktiven Lebensstils in einer Stadt, die auf Bildung, Kreativität, neue Technologien und eine umweltfreundliche Entwicklung setzt, verblieb nicht auf der Ebene des Abstrakten. Der Grundgedanke wurde von den Mitarbeitern des Be-
Ebd., S. . Vgl. Interview Zieliński, Katowice, , Transkript S. . Vgl. Interview Zaczkowski, Katowice, , Transkript S. .
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werbungsbüros in eine Vielzahl von Projekten übersetzt.³⁷ Viele dieser im Antrag ausformulierten Ideen für Projekte und Formate, die das postindustrielle Katowice bis zum Jahr 2016 in eine Gartenstadt neuen Typs verwandeln sollten, blieben aufgrund des Ausscheidens in der letzten Wettbewerbsrunde Visionen auf dem Papier. Trotz der Niederlage wurde die Entscheidung zur Bewerbung und der nachfolgende Auswahlprozess zu einem der zentralen Meilensteine auf dem Weg der Stadt zu einer neuen Selbstbeschreibung, Außendarstellung und -wahrnehmung, folglich eines veränderten Images.³⁸ Der Bewerbungsprozess setzte in der Stadt eine bislang unbekannte Dynamik frei, die zum überwiegenden Teil von jüngeren Menschen getragen wurde. Das lag vor allem daran, dass das Bewerbungsbüro es ermöglichte, eine Finanzierung für eigene Projektideen während der Bewerbungsphase zu erhalten. Das bedeutete, dass erstmals nicht nur die etablierten Kultureinrichtungen wie etwa die städtischen Museen oder Kulturhäuser das kulturelle Angebot der Stadt gestalteten, sondern Einzelne ihre Ideen mithilfe einer Projektfinanzierung ohne große bürokratische Hürden umsetzen konnten. Die teilweise fehlende Erfahrung der Projektleiter im Management nahm man in Kauf, das Büro unterstützte die Initiatoren bei der Umsetzung ihrer Projekte und leistete Hilfestellung bei problematischen Aspekten. Die umgesetzten Projekte fanden in der Stadt Anklang und mobilisierten entweder zur Teilnahme oder zur Initiation neuer Projekte.³⁹ Das unerwartet hohe Ausmaß an Beteiligung und
Einige der Projekte blieben sehr nahe an der Idee der Gartenstadt, etwa das Projekt Der private Garten (Prywatny ogród), ein Wettbewerb, bei dem die schönsten Gärten in Katowice gekürt werden sollten – auf eigenen Grundstücken, Balkonen und Terrassen oder auch auf den Dächern über der Stadt. Die Kunstaktion Skulpturen-Gärten (Rzeźby-Ogrody) sollte durch gartenähnliche Installationen im Stadtraum sowohl die bisher gängigen Präsentationsformen von Kunst in Galerien und Museen hinterfragen als auch auf die ungelösten Probleme der stadträumlichen Nutzung im Zentrum von Katowice aufmerksam machen. Die Gärten Europas (Ogrody Europy) stellten als Netz von Gärten in Anlehnung an verschiedene europäische Gartenbautraditionen (holländische, italienische, englische) einen Revitalisierungsversuch für verlassene Fragmente des städtischen Raumes dar. Die marginalisierten Räume sollten dank der installierten historischen Gärten in einen Dialog mit ihrem Umfeld treten und somit für Einwohner und Touristen zu attraktiven Orten der Gegensätze werden. Vgl. Miasto Katowice, Katowice – Miasto Ogrodów [Katowice – Gartenstadt] (), S. f. Vgl. Krzysztof Majak: „Stalinogród miasto – ogród“? Katowice przeżywają kulturalny renesans [„Stalinstadt als Gartenstadt“? Katowice erlebt eine kulturelle Renaissance], URL http://natemat.pl/ ,stalinogrod-miasto-ogrod-katowice-przezywaja-kulturalny-renesans (Zugriff . . ). Vgl. dazu ausführlich das Interview mit Zofia Oslislo, die im Bereich Grafik und Layout mit dem Büro der Kulturhauptstadt zusammengearbeitet hat. Oslislo geht auch darauf ein, dass das „verjüngte“ Kulturangebot der Stadt, das wiederum ein junges Publikum anzieht, in besonderer Weise zu den Zielen der Stadtverwaltung passt, Katowice ein neues Image zu verleihen. Interview mit Zofia Oslislo, Autorin des Buches „Katowicka Moderna – “ [Moderne in Katowice
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Engagement der Einwohner während der Teilnahme der Stadt am Wettbewerb und somit der deutliche Wille zur Veränderung des eigenen Lebensumfeldes wurde kurz nach Bekanntwerden der Niederlage auch von Stadtpräsident Piotr Uszok gewürdigt. Die Dynamik des Aufbruchs müsse, so Uszok, unbedingt aufrecht erhalten werden, wofür er weitere finanzielle Mittel und Strukturen seitens der Stadtverwaltung zusicherte.⁴⁰ Dieses Versprechen wurde eingehalten und die Struktur des Bewerbungsbüros in das zentrale Kulturbüro der Stadt überführt, das nun unter dem Namen Kulturinstitution – Katowice Gartenstadt (Instytucja Kultury – Katowice Miasto Ogrodów) als zentrale Anlaufstelle Kulturprojekte für die Stadt konzipiert und umsetzt.⁴¹ Das Gartenstadtmotiv war mit Beendigung des Wettbewerbes demnach nicht ad acta gelegt worden, es hat vielmehr einen Siegeszug bei den städtischen Entscheidungsträgern angetreten und gehört inzwischen zum festen Repertoire des städtischen Selbstverständnisses sowie der Kommunikations- und Werbestrategie der Stadt. Um nur ein vielsagendes Beispiel anzuführen: Das Gartenstadtmotiv hat im Juni 2012 die Abbildung des bisherigen Markenzeichens Spodek als offizielles Logo der Stadt abgelöst.⁴² Wie volatil die Selbstbilder und Selbstbeschreibungen der Stadt noch immer sind, darauf verweist die Kombination des Bildmotives der Gartenstadt mit einem neuen Slogan. Neben dem neuen Stadtlogo stand nun nicht mehr das ursprüngliche Schlagwort Katowice – Miasto Ogrodów, sondern der Slogan Katowice dla odmiany (Zur Abwechslung Katowice). Positiv gewendet könnte argumentiert werden, dass das Sinnbild der Gartenstadt sich inzwischen soweit verselbständigt hatte und als Image geprägt worden war, dass es auch ohne die wörtliche Erklärung der Gartenstadt auskam und daher mit einem neuen Slogan versehen werden konnte.⁴³ – ] und Mitarbeiterin des Büros der Bewerbung zur Kulturhauptstadt, Mai , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Vgl. Jedlecki, Smutny dzień dla Katowic [Ein trauriger Tag für Katowice] (). Vgl. den Internetauftritt der Kulturinstitution – Katowice Gartenstadt URL http://www.ka towice.eu/ (Zugriff . . ). Vgl. den Internetauftritt der Stadt Katowice, der sich nicht nur durch die Verwendung des Logos, sondern auch anhand der Farben und der grafischen Elemente an das Design der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas angelehnt hat. Seit war auf der Internetseite der Stadt im Header die Silhouette Katowices in den Farben Weiss und Blau nachempfunden, deren Mittelpunkt die im Zentrum von Katowice gelegene Mehrzweckhalle Spodek bildete. Der in den er Jahren errichtete Spodek zählte bisher aufgrund seiner Größe und außergewöhnlichen halbrunden Dachkonstruktion als Markenzeichen der Stadt, URL http://www.katowice.eu/ (Zugriff . . ). Der neue Slogan für Katowice ist Teil einer veränderten Kommunikations- und Promotionsstrategie der Stadt, die von der Stadtverwaltung bei privaten Kommunikationsagenturen in Auftrag gegeben wurde. Die Studie favorisierte ursprünglich den Slogan Katowice. Zentrum neuer Formen (Katowice. Centrum nowych form), als Alternative wurde Im Zentrum der Veränderungen (W
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Die starke Präsenz und Beliebtheit des Gartenstadtmotives trotz des Ausscheidens aus dem Wettbewerb war auf die oben beschriebene Dynamik zurückzuführen, die das Ringen um den europäischen Titel in der Stadt evoziert hatte.Während der mehr als einjährigen Bewerbungsphase konnte die Gartenstadt zwar nicht in voller Pracht „erblühen“, wie es die Organisatoren für das Jahr 2016 angedacht hatten, eine ausgewählte Anzahl von Projekten sollte jedoch als Vorgeschmack dafür sorgen, der Gartenstadtvision besondere Sichtbarkeit im städtischen Raum und eine hohe öffentliche und mediale Aufmerksamkeit zu verleihen.⁴⁴ So verwandelte beispielsweise eine Studentin der Kunsthochschule Katowice die Superjednostka, den bekannten Riesen-Wohnblock in der Innenstadt, mit einem halb künstlerischen und halb sozialen Projekt in ein Blumenmeer, das die graue Betonfassade an einen vertikalen Garten erinnern ließ. Für die Entstehung ihres sogenannten Supergartens (Super-Ogród) verteilte die Studentin vom Bewerbungsbüro finanzierte Balkonkästen mit Blumensetzlingen an die Bewohner von 260 der über 760 Wohnungen in der Superjednostka, die zugestimmt hatten, diese auf ihren Balkons zu pflegen.⁴⁵ Der Verteilaktion ging eine Vielzahl von Gesprächen mit den Bewohnern des Hauses voraus, die zur Teilnahme an dem Projekt überzeugt wurden und denen erklärt wurde, wie die Blumensetzlinge zu behandeln seien. Denn der Künstlerin, die selbst viele Jahre in dem Gebäude gelebt hat, ging es nicht nur um die äußerliche Verschönerung des Betonklotzes, es war ihr erklärtes Ziel, mit der Aktion einen Beitrag zur wirksamen und ökologischen Gestaltung des nächsten Lebensumfeldes zu leisten sowie den Gemeinsinn der am Projekt Teilnehmenden in dem sonst von Anonymität ge-
centrum przemian) angeboten. Nachdem sich vor allem gegen die erste Version des neuen Slogans eine Vielzahl einflussreicher Personen aussprach, etwa Marek Zieliński, der Ideengeber für die Bewerbung zur Kulturhauptstadt, zogen die Marketingexperten ihren Vorschlag zurück. Als Kompromissvorschlag hat sich Zur Abwechslung Katowice (Katowice dla odmiany) neben dem Gartenstadt-Logo durchgesetzt. Vgl. Przemysław Jedlecki: Po co ten pośpiech z konsultacjami? „W centrum przemian“ czy może „Katowice dla odmiany“? [Wozu die Eile bei den Konsultationen? „Im Zentrum der Veränderungen“ oder vielleicht „Zur Abwechslung Katowice“?], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Für die Umsetzung von Projekten im Rahmen der Bewerbung wurden Mittel bereitgestellt, um die sich Personen mit einer Projektidee unkompliziert bewerben konnten. Ziel der Mittelvergabe war zum einen die Verbesserung der Sichtbarkeit des Bewerbungsprozesses in der Stadt, zum anderen die Förderung der Einbindung, der Eigeninitiative und Teilhabe der Stadtbewohner an der Bewerbungsphase. Dies war eines der Wettbewerbskriterien. Die Stadt stellte für die Bewerbungsphase im Jahr insgesamt , Mio. PLN zur Verfügung, die zum Aufbau des Bewerbungsbüros, zur Finanzierung der beratenden Gremien und der Projektförderung vorgesehen waren.Vgl. Miasto Katowice, Katowice – Miasto Ogrodów [Katowice – Gartenstadt] (), S. . Vgl. Ohne Autor: Superjednostka zakwitła dzięki artysce [Die Superjednostka erblühte dank einer Künstlerin], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. .
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prägten Wohnblock zu wecken. Die blühende Fassade der Superjednostka war in der Innenstadt von Katowice 2011 ein weithin sichtbares Zeichen für die Lebendigkeit der Gartenstadt-Idee. Die Aktion war so erfolgreich, dass sie im Jahr 2013 inzwischen zum dritten Mal stattfand und auf weitere Gebäude der Innenstadt ausgeweitet wurde.⁴⁶
Die Vergangenheit der Zukunft: Die historischen Dimensionen des Gartenstadtmotives Zur höchsten Sichtbarkeit im städtischen Raum verhalf dem Gartenstadtmotiv die grafische Umsetzung in Form des bereits oben angesprochenen Logos.⁴⁷ Das Logo galt den Verantwortlichen als Essenz ihrer Ideen für Katowice im Jahr 2016; entsprechend häufig und in unterschiedlichen Formen war es im städtischen Raum präsent. Es prangte auf Plakaten, auch in Form beleuchteter Neonlichter an Straßenlaternen und auf großflächigen Werbetafeln oder öffentlichen Verkehrsmitteln war das Logo präsent. Das Logo in der eigenwilligen Form eines Herzens, in dem sich zwei Ebenen begegneten, war zweigeteilt: der untere Teil war in einheitlichem Schwarz gehalten, während die oben aufgesetzten Elemente vielfarbig geprägt waren. Aus der dunklen Schicht heraus wuchs jedoch nicht wie anzunehmen etwas Graues, sondern bunte Gebilde, die an die Silhouette einer Stadt erinnerten. Für die Verantwortlichen der Bewerbung stellte die schwarze Schicht einen eindeutigen Bezug zur Geschichte der Stadt her. Schwarz stand für Kohle und das industrielle Erbe, auf dem die Stadt errichtet wurde. Die Stadt, so die Botschaft, stehe auf einem Bergwerk und berufe sich somit ausdrücklich auf ihre Vergangenheit und die Traditionen des Ortes.⁴⁸ Die vielfarbige Stadtsilhouette versinnbildliche hingegen den Blick in die Zukunft, in der sie ihre Gestalt und ihre Farbe durch den
Vgl. die Projektbeschreibung Super-Ogród kwitnie w Katowicach [Der Super-Garten blüht in Katowice] auf der Seite der Kulturinstitution – Katowice Gartenstadt, URL http://www.kato wice.eu/ (Zugriff . . ). Das Logo wurde im Dezember aus Entwürfen ausgewählt. Der Entwurf stammt von Dr. Wojciech Janicki von der Kunsthochschule in Posen, der für sein Werk auch international viel Anerkennung erfuhr. Das Logo schaffte es auf die Shortlist verschiedener Wettbewerbe und wurde in internationalen Designmagazinen abgebildet. Vgl. ohne Autor: Historia logo ESK [Geschichte des Logos der Kulturhauptstadt Europas], internes, einseitiges Dokument des Bewerbungsbüros, Katowice, . Vgl. Ebd.; ferner das Interview mit Elżbieta Owczarek, Mitarbeiterin der Programmabteilung des Bewerbungsbüros um den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai , Transkript, S. . Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin.
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Einfluss neuer, kreativer Kräfte verändere. Im Logo verbanden sich nach Ansicht der Verantwortlichen die Zeitebenen Vergangenheit und Zukunft, das Erreichte gehe zusammen mit einem mutigen Blick nach vorn und nehme dabei gezielt die positiv konnotierte Gestalt eines Herzens an.⁴⁹
Abb. 24: Das Logo der Bewerbung um die Kulturhauptstadt 2016. Quelle: Instytucja Kultury Katowice Miasto Ogrodów
In Anlehnung an die geschichtstheoretischen Überlegungen Jörn Rüsens kann das Logo aufgrund der Verbindung zwischen den Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als historische Narration gelesen werden. Es vermittelte eine Geschichte mit einem klaren Anfangs- und Endpunkt, interpretierte dabei die Vergangenheit und zeichnete, davon ausgehend, eine Vision für die zukünftige Entwicklung der Stadt. Bei genauerem Hinsehen erschien die Verbindung zwischen der Vergangenheit und dem daraus entstehenden Neuen jedoch unterbrochen. Eine schmale Linie trennte die dunkle von der bunten Schicht, Gegenwart und Zukunft schienen sich von der Vergangenheit gelöst zu haben. Das legt die Interpretation nahe, dass in dieser Darstellung Gegenwart und Zukunft nicht durch die Vergangenheit beeinflusst wurden, sondern neue, äußere Einflüsse der Silhouette ihre Farben und Gestalt verliehen. Kann die bunte Zukunftsvision der Gartenstadt, wie sie im Logo versinnbildlicht wurde, letztendlich doch nur ohne die „schwarze“, „belastende“ Vergangenheit gedacht werden? Konnte der mit Blick auf den Istzustand der städtischen Infrastruktur als kühn geltende Zukunftsentwurf nur entstehen, wenn die industrielle Vergangenheit mit einem Schlussstrich abgeschüttelt und als etwas von der Gegenwart Abgetrenntes verstanden wurde? Für diejenigen, die die Imagekampagne führten, schien die Vergangenheit von Katowice keineswegs nur vom einheitlichen Schwarz der Kohle dominiert. Ganz im Gegenteil – man erzählte die Geschichte einer Gartenstadt. Die historische Spurensuche nach Anklängen einer solchen Gartenstadt musste jedoch im Stadtzentrum auf den ersten Blick erfolglos bleiben. Eine Anleitung zur Suche lieferten die Verantwortlichen der Bewerbung daher gleich mit. Sie gaben ein eigenwilliges, selektives Arrangement der städtischen Vergangenheit mit auf den
Ebd.
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Weg, das historische Anknüpfungspunkte für den Zukunftsentwurf der Gartenstadt gezielt in Szene setzte. Nachlesen konnte man das in den Antragsdokumenten oder in Marketingprodukten, in denen eine historische Narration entworfen wurde, die Katowice als traditionsreiche polnische Gartenstadt darstellte. Das liest sich in etwa so: „Die erste polnische Gartenstadt war der Katowicer Stadtteil Giszowiec. Die malerischen Häuschen der ehemaligen Arbeitersiedlung sind heute eines der Markenzeichen der Stadt.“⁵⁰ In einer Powerpoint-Präsentation hieß es: Vor genau 100 Jahren wurde in Katowice der Bau von Giszowiec abgeschossen. In der Stadt vollzogen sich in dieser Zeit grundlegende zivilisatorische Veränderungen, die in Zusammenhang standen mit der Entstehung der modernen Großstadt sowie der Formierung einer industriellen Gesellschaft. Giszowiec war die erste Gartenstadt Polens.⁵¹
Ähnliches war im Antragsdokument selbst zu lesen: „1907 begann der Bau einer Arbeitersiedlung für den Konzern ‚Giesches Erben‘ […] Das Leben in der Gartenstadt sollte den Arbeitern den Kontakt zur Natur ermöglichen und die Folgen der industriellen Revolution mildern.“⁵² Die Gartenstadt war folglich nicht nur eine in die Zukunft gerichtete Vision, auch die städtische Vergangenheit wurde neu arrangiert, um den Zukunftsvorstellungen eine tragfähige historische Grundlage zu verleihen. Die dafür kreierten Narrationen über die Stadtgeschichte werden im Folgenden einer eingehenden Analyse unterzogen.
Analyseebene I: Triftigkeitsprüfungen der Vergangenheitsbezüge Voraussetzung für eine solche Analyse ist, dass die Bezüge auf vergangenes Geschehen in Form einer Narration vorliegen und nicht als unverbundene, aneinandergereihte Behauptungen oder Aussagen über die Vergangenheit stehen bleiben.⁵³ Eine Analyse des Antragsdokumentes unter diesem Gesichtspunkt verdeutlichte, dass mit der Vergangenheit der Stadt zwar stets argumentiert und vielfältige Aussagen über sie getroffen wurden, eine historische Narration im oben Vgl. den Stadtplan Katowice Miasto Ogrodów [Gartenstadt Katowice], herausgegeben vom Büro der Kulturhauptstadtsbewerbung, Katowice, . Vgl. Ohne Autor: Prezentacja Katowice Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury [Präsentation Katowice Gartenstadt, Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas ], Powerpoint-Präsentation. Katowice . Vgl. Miasto Katowice, Katowice – Miasto Ogrodów [Katowice – Gartenstadt] (), S. . Zum narrativen Charakter von Geschichte siehe ausführlich Kapitel . Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart.
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definierten Sinne war jedoch an nur wenigen Stellen auszumachen. Dennoch hatten Geschichte und Vergangenheit für die Antragsschreiber einen hohen Stellenwert. Gleich zu Beginn des Antrages, im Einführungskapitel mit dem Titel Spiel mit der Zeit, lieferten die Autoren eine eigenwillige Beschreibung der Spezifik von Katowice in Gegenwart und Vergangenheit. Argumentativ bauten sie diese vor allem auf der Andersartigkeit der Stadt in diesen beiden Zeitebenen auf. So habe Katowice keine gewöhnliche Geschichte, keine typischen Sehenswürdigkeiten, die als touristische Highlights die Topografie der Stadt markieren würden. Die Stadt erlaube es den Menschen stattdessen, eigene Wege zu finden und diese zu gehen; sie fordere zum Spiel auf. Gespielt werden sollte mit Puzzleteilen, die zusammengesetzt werden mussten, denn die Stadt bestehe aus zersplitterten Fragmenten, deren Einheitlichkeit verloren gegangen sei. Die Vergangenheit der Stadt in ihrer Gesamtheit sei nicht erkennbar, sie könne einzig anhand von Details, etwa einzelner Stadtteile, einer Straße oder einer Toreinfahrt, erschlossen werden.⁵⁴ Die Stadt erzähle und überliefere keine einheitliche Geschichte, sie transportiere statt einer vorgefertigten Botschaft über ihre Herkunft und ihren Charakter nur Fragmente in die Gegenwart. Diese Fragmente erzählen ihre eigenen, unverbunden nebeneinander stehenden Geschichten, die sich nicht zu einer Ganzheit zusammenfügen ließen. Auch fehle der Stadt eine kontinuierliche Entwicklung in Raum und Zeit: „Stadt und Raum legen sich in Katowice nicht wie die Jahresringe eines Baumes umeinander, sie sind nicht von einem Zentrum aus organisiert.“⁵⁵ Die Entwicklung von Raum und Zeit wurde als das Überlappen von Erzählschichten beschrieben, die hin und wieder in der Gegenwart auftauchen, um ihre Geheimnisse preis zu geben. Folglich bleibe die Vergangenheit der Stadt dem Betrachter aus der Gegenwart verschlossen, sie verstecke sich und sei nur in Details auffindbar. Doch auch diese entzögen sich dem Zugriff: „Die Fragmente der Geschichte reißen sich los und ergeben nur für den Wissenden eine Ordnung.“ Dennoch verlangen die Fragmente danach, neu zusammengesetzt, neu gelesen und beschrieben zu werden. Die Einwohner der Stadt selbst könnten sich aus Vgl. Elżbieta Owczarek: Model do składania. [Ein Modell zum Zusammensetzen], in: Miasto Katowice (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury [Katowice – Gartenstadt, Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas ]. Antragsformular in Buchform gedruckt, Katowice , S. . Für einige Teile des Antragsdokumentes wie das hier zitierte sind die konkreten Autoren benannt, während andere Teilbereiche nicht über Autorenangaben verfügen. Auch für das gesamte Werk wird kein Autor angegeben. Im Impressum sind jedoch alle Mitarbeiter des Bewerbungsbüros um den Titel Kulturhauptstadt Europas, die an dem Antrag mitgewirkt haben, genannt. Die einzelnen Teilabschnitte werden nicht gesondert im Quellenverzeichnis ausgewiesen. Es wird nur das gesamte Antragsdokument im Quellenverzeichnis genannt. Ebd. S. .
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dieser als ausweglos erscheinenden Situation befreien. Durch ihr Agieren in der Stadt brächten sie die Fragmente neu miteinander in Verbindung und würden ihnen Sinn verleihen: „Die Wege der Menschen werden zu einer Schrift, die Stadt wird zum Text.“⁵⁶ Dass die Stadt nicht als gegebene Größe, sondern als von den Einwohnern zu gestaltendes Konstrukt, als Dialog anstelle eines Monologes zu denken sei, wurde auch im letzten Abschnitt der Einleitung herausgearbeitet. Als entscheidende Gestaltungselemente wurden „Kultur“ und die „Zivilgesellschaft“ benannt, die dem städtischen Raum zu einer neuen Gestalt und dem Denken über die Stadt zu einer veränderten Sprache verhelfen sollten.⁵⁷ Das Eingangskapitel beschrieb die Fragmentiertheit der Stadtgeschichte eingängig und entwarf eine Spezifik ihrer Wirkung in der Gegenwart: uneinheitlich, schwer fassbar und nur Eingeweihten und Wissenden zugänglich. Die nachfolgenden Kapitel warfen Schlaglichter auf ausgewählte Abschnitte dieser Vergangenheit, die damit zwar detaillierter, nicht aber ganzheitlicher erschien. Zusätzlich zur Lokalgeschichte wurden europäische Bezüge aufgezeigt. So verwies etwa das Kapitel Gartenstadt auf die Ursprünge der Gartenstadtidee in der Zeit der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts und die Herausforderungen für die Gestaltung moderner und funktionaler Städte. Der Brite Ebenezer Howard (1850 – 1928) wurde als Begründer dieses neuen Denkens über die Stadt benannt, dessen Ziel es war, die sich gegenüberstehenden Pole des Dorfes und der Stadt in Gestalt einer Gartenstadt zu vereinen und diese somit zu überwinden.⁵⁸ Diese Verbindung von dörflicher und städtischer Lebensweise griff das Kapitel Die Zivilisierung der Natur auf und bezog sie anhand der Beschreibung verschiedener Gartenformen auf Katowice. Vor allem in der Zeit der architektonischen Avantgarde der 1930er Jahre seien Gärten in Katowice entstanden, als Architekten und Städteplaner von „Sonne, Raum und Grün“⁵⁹ träumten. Zu den speziellen Gartenformen in Katowice werden etwa die Wintergärten gezählt, die während der Phase des modernen
Ebd. S. . Vgl. Tadeusz Sławek: Miasto w ruchu [Stadt in Bewegung], in: Miasto Katowice (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury [Katowice – Gartenstadt, Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas ]. Antragsformular in Buchform gedruckt, Katowice , S. . Vgl. Elżbieta Owczarek: Miasto-ogród [Gartenstadt], in: Miasto Katowice (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury [Katowice – Gartenstadt. Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas ]. Antragsformular in Buchform gedruckt, Katowice , S. . Vgl. Elżbieta Owczarek: Cywilizacja natury [Die Zivilisierung der Natur], in: Miasto Katowice (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury [Katowice – Gartenstadt. Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas ]. Antragsformular in Buchform gedruckt, Katowice , S. .
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Bauens in den 1930er Jahren in großer Zahl entstanden. Die verglasten Wohnungsanbauten greifen die Grundideen der Gartenstadt auf, durch ihre Bepflanzung, Sonne und Licht bringen sie Natur und Stadt miteinander in Verbindung. Als weiteres Garten-Spezifikum aus der Zwischenkriegszeit wurde auf die vier, über das Stadtgebiet verteilten, Jordangärten (Ogródki Jordanowskie) verwiesen. Benannt nach dem Krakauer Arzt Dr. Jordan, sollten diese Gärten, bestehend aus Spielplätzen, von Sand umgebenen Wasserbecken sowie Lehrpfaden, die Gesundheit von Kindern in Industrieregionen mit hoher Luft- und Umweltverschmutzung fördern und zu einem aktiven Lebensstil anregen. Unter der Überschrift Schwarzer Garten thematisierte das Einführungskapitel schließlich die oben angesprochene Siedlung Gieschewald. Wie bereits angedeutet, wurde sie als Stadtteil von Katowice beschrieben, in dem die Autoren Howards Idee der Gartenstadt realisiert sahen. Neben der Entstehungsgeschichte von Gieschewald verwies das Kapitel auch darauf, dass ein Teil der ursprünglichen Siedlungsbebauung in den 1970er Jahren elfgeschossigen Wohnblocks weichen musste. Zur Aufgabe von Katowice als Europäische Kulturhauptstadt gehöre es, die „Fragmente der Geschichte einer der ältesten Gartenstädte des Kontinents“⁶⁰ zu bewahren und die lokale Tradition mit einem mutigen Denken über die Zukunft zu verbinden. Die Stadtgeschichte wurde ausschließlich anhand des Gartenmotives arrangiert, und die eingangs postulierte Fragmentierung paradoxerweise durch die eigene Darstellungsweise der Antragssteller weiter fortgeschrieben. Sie erschien als schwer fass- und kategorisierbar, wies europäische Traditionen und lokale Spezifika auf. Diese fragmentierte und sprunghafte Darstellung der Stadtgeschichte verdeutlicht, dass Geschichte hier nicht zur Untermauerung einer bestimmten Sicht auf die Gegenwart genutzt wurde. Vergangenheit und Geschichte von Katowice schienen den Narrateuren vielmehr genauso in Bewegung wie die Gegenwart. Da die Vergangenheit der Stadt keine vorgefertigte, feste, identitätsrelevante Botschaft zu transportieren schien, wurde aus der Gegenwart heraus eine eigene Geschichte konstruiert. Für eine historische Narration waren diese Argumentationsgänge trotz ihrer ausgeprägten und vielfältigen historischen Bezüge nicht ausreichend geschlossen, zu sprunghaft und unterbrochen, und die Aussagen waren zu wenig miteinander verbunden. Als Gradmesser für die Bedeutung von Geschichte für die Bewerbung als Kulturhauptstadt lieferten sie jedoch bedeutsame Hinweise. Auch Vgl. Elżbieta Owczarek: Czarny Ogród [Der schwarze Garten], in: Miasto Katowice (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury [Katowice – Gartenstadt. Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas ]. Antragsformular in Buchform gedruckt, Katowice , S. .
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Abb. 25: Der Pavillon des Jordangartens an der Barbara-Straße 25 wird auch heute als Einrichtung für Kinder genutzt. Autor: Vojtěch Veškrna
Abb. 26: Detailansicht des Pavillons. Autor: Vojtěch Veškrna
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wenn es um die Zukunft der Stadt ging, war ihre Vergangenheit ein Zentralthema, das den Antragsdokumenten vorangestellt und nicht als Annex in die Querverweise, das Nachgeordnete oder Kleingedruckte verbannt wurde. Die Vergangenheitsbezüge des Einführungskapitels müssen darüber hinaus als Hinführung auf eine Narration gelesen werden, die alle oben beschriebenen historischen Rekurse in sich aufnahm und vereinigte. Zu Beginn des zweiten Kapitels ließ sich eine Narration ausmachen, die, bei einer Wiederholung der Überschrift aus dem Einleitungskapitel Gartenstadt, die drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in Verbindung brachte und daraus eine Geschichte mit einer eindeutigen Aussage für die Gegenwart sowie Orientierungsangeboten für die Zukunft formulierte: Katowice interpretiert die Idee der Gartenstadt neu. Die utopische Formel der Rückkehr zur Natur weicht der Konzeption einer nachhaltigen Entwicklung, die zu den grundlegenden Strategien der Europäischen Union zählt. Die Vision des englischen Gelehrten Ebenezer Howard kann heute nicht nur als spezifischer Vorschlag zur Raumnutzung verstanden werden, sie ist vor allem eine Inspiration für gesellschaftliche Veränderungen. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde in Katowice die Arbeitersiedlung Gieschewald gebaut, deren Konzept sich an den Ideen der Gartenstadt orientierte. Die Stadt durchlebte damals gewaltige zivilisatorische Veränderungen, die mit der Herausbildung der modernen Großstadt und der Industriegesellschaft verbunden waren. Neben den avantgardistischen Hochhäusern der Moderne der 1930er Jahre entstanden auch die sogenannten Jordangärten. Die bis heute existierenden Gartenkomplexe mit Pavillons und Sportanlagen bildeten eine durchdachte Mischung aus Architektur und Gartenkunst. Die Bildungsarbeit war eng verbunden mit der Propagierung eines neuen Lebensstils, der auf Hygiene, Gesundheit und physische Aktivität ausgerichtet war. Nur wenige Minuten Fußweg vom Stadtzentrum entfernt befanden sich Spielplätze mit Wasserbassins und Sandstränden. Die Gartenstadt verbindet die lokale Tradition mit der Notwendigkeit, mutig über die Zukunft nachzudenken. Kultur meint im wörtlichen Sinne den Anbau oder das Bewirtschaften von Land, den Prozess der Schaffung von Wirklichkeit, das Suchen eines neuen, aktiven, auf gesellschaftliche Verantwortung und das Gleichgewicht zwischen Natur und Zivilisation angelegten Lebensmodells. Das Projekt formuliert Antworten auf eines der zentralen Probleme von Katowice – die Zerstörung und das Fehlen attraktiver öffentlicher Räume. Die Gärten sollen zu einem attraktiven Element des städtischen Raumes werden, zu einem Treffpunkt und einem Ort zwischenmenschlicher Kontakte. Die moderne Gartenstadt ist keine utopische Idee. Sie ist voller Schwung und Tatkraft, gleichzeitig jedoch eine schwierige Herausforderung, der sich die Einwohner der Stadt stellen müssen.⁶¹
Vgl. Miasto Katowice, Katowice – Miasto Ogrodów [Katowice – Gartenstadt] (), S. .
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Hier lässt sich das Modell zur Dekonstruktion historischer Narrationen anwenden, das eine tiefgründige Analyse ermöglicht. Dafür wird als erstes festgestellt, welche Aussagen eine Narration über Vergangenheit trifft. Diese lauten wie folgt: 1) Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde mit Gieschewald in Katowice eine Arbeitersiedlung in Anlehnung an die Gartenstadtidee errichtet. 2) Zu dieser Zeit befand sich die Stadt in einer Phase großer zivilisatorischer Umbrüche, die im Zusammenhang mit der Herausbildung der modernen Großstadt und der Industriegesellschaft standen. 3) In den 1930er Jahren wurden neben den avantgardistischen Bauten außerdem sogenannte Jordangärten errichtet. Diese stellten mit ihren Pavillons und Sportplätzen eine wohl durchdachte Verbindung von Architektur und Gartenkunst dar. Pädagogische Maßnahmen verbanden sich mit der Propagierung eines neuen Lebensstils, der Hygiene, Gesundheit und körperliche Aktivität in den Mittelpunkt rückte. Im Zentrum der Stadt und fußläufig erreichbar befanden sich Spielplätze, Schwimmbecken und Sandstrände. Analysiert man die Ebene der Vergangenheit, die in einer Narration angelegt ist, steht die Frage nach der empirischen Triftigkeit der Aussagen im Fokus, mithin die Belegbarkeit und Repräsentativität der beschriebenen historischen Phänomene. Mit Bezug auf die unter 1) formulierte Aussage lässt sich festhalten: Dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit Gieschewald eine neu angelegte Siedlung für Beamte und Arbeiter der Giesche-Grube unweit von Katowice entstanden war, kann als historiografisch hinreichend belegter Fakt gelten. Über die Entstehung und Entwicklung der Siedlung herrscht in den verfügbaren Publikationen zur Stadtgeschichte weitgehender Konsens.⁶² Die Historiografie beschreibt Gieschewald übereinstimmend als Mustersiedlung für Arbeiter und Beamte, die auf Initiative des Generaldirektors der Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche’s Erben, Anton Uthemann, zum 200-jährigen Bestehen des Konzerns 1906 von den Architekten
Die Entstehung der Siedlung Gieschewald wird sowohl in den grundlegenden polnischsprachigen stadtgeschichtlichen Monografien als auch in kunsthistorischen Arbeiten zu Oberschlesien erwähnt und beschrieben. In der einzigen deutschsprachigen Monografie zur Geschichte und Entwicklung der Stadt Katowice aus dem Jahr findet Gieschewald hingegen keine Erwähnung.Vgl. Barbara Szczypka-Gwiazda: Urbanistyka i architektura drugiej połowy XIX wieku i początku XX stulecia [Stadtplanung und Architektur der zweiten Hälfte des . Jahrhunderts und zu Beginn des . Jahrhunderts], in: Ewa Chojecka (Hg.): Sztuka Górnego Śląska od średniowiecza do końca XX wieku [Die Kunst Oberschlesiens vom Mittelalter bis zum Ende des . Jahrhunderts]. Katowice , S. – , hier S. f; Irma Kozina: Chaos i Uporządkowanie, Dylematy architektoniczne na przemysłowym Górnym Śląsku w latach – [Chaos und Ordnung. Architektonische Dilemmata im industrialisierten Oberschlesien in den Jahren – ]. Katowice , S. ff; Kostorz/Karski, Kattowitz, .
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Georg Zillmann (1871– 1958) und Emil Zillmann (1870 – 1937) aus Charlottenburg bei Berlin geplant und bis zum Jahr 1910 fertiggestellt wurde. Uthemann selbst ließ sich am Rande der Siedlung eine Villa errichten, die sich in Größe und Stil von der restlichen Bebauung unterschied⁶³ und seine Stellung als Patron des Vorhabens verdeutlichte. Mit der Gründung von Gieschewald verfolgte Uthemann vorrangig das Ziel, die Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte aus dem oberschlesischen Bergbau in das Ruhrgebiet zu unterbinden, wo die Lebens- und Arbeitsbedingungen zu dieser Zeit attraktiver waren. Seinem Fachpersonal wollte er einen verbesserten Wohn- und Lebensstandard bieten, um es an den Standort zu binden.⁶⁴ Geplant war, die Siedlung auf einem gerodeten Waldstück für 600 Familien zu errichten, die in frei stehenden Ein- und Zweifamilienhäusern Wohnungen zwischen 38 qm (Arbeiter) und 104 qm (Ärzte, Lehrer, Beamte) beziehen sollten. Eine zeitgenössische Publikation aus dem Jahr 1910 bezeichnet Gieschewald aufgrund des ausschließlichen Baus von Zweifamilienhäusern als „oberschlesische Arbeiter-Musterkolonie“⁶⁵, die den Arbeitern gesunden und nach neusten Standards errichteten Wohnraum bieten und die Lebensbedingungen der Mietskasernen des 19. Jahrhunderts überwinden sollte. Die Verbesserung der Lebensumstände von Arbeitern und Fachpersonal entsprangen jedoch nicht philanthropischen Überzeugungen, als „Hauptzweck“ der Errichtung von Gieschewald wird vielmehr angeführt, „der Grubenbesitzerin dort Stämme guter Arbeiter anzusiedeln.“⁶⁶ Gieschewald lag von anderen Ortschaften in mindestens fünf Kilometer Entfernung, weshalb bei der Planung der Siedlung Einkaufsmöglichkeiten vorgesehen wurden, um die Versorgung der Einwohner zu gewährleisten. Der Betrieb einer Bäckerei und Fleischerei sowie die Bewirtschaftung des Gasthauses und einer Kantine wurde von der Bergwerksgesellschaft mit dem Ziel gesteuert, „den Arbeitern gute Waren zu billigen Preisen zu liefern und sie vor Überteuerung
„Das größte Haus gehört dem Generaldirektor der Firma Giesche. Es ist eine Residenz. Mit dem dörflichen Charakter der Kolonie hat sie nichts gemein, muss sie auch nicht. Denn die Pläne der Gebrüder Zillmann sehen vor, dass sie außerhalb steht (jedoch durch einen Spaziergang leicht zu erreichen), an der Chaussee nach Emanuelssegen. Die Architekten bedienten sich ein bisschen beim Barock, ein bisschen beim Klassizismus, haben die Asymmetrie des Jugendstils aufgebrochen und – o Wunder – daraus entstand eine schlichte, elegante Einheit. Der Bau erinnert an die reichen Breslauer Villen, so sollte es auch sein. Breslau ist nicht nur die sentimentale Heimat der Firma Giesche sondern auch der Sitz der damaligen Hauptverwaltung.“ Vgl. Małgorzata Szejnert: Czarny Ogród. [Der schwarze Garten]. Kraków , S. f. Vgl. Kozina, Chaos i Uporządkowanie [Chaos und Ordnung] (), S. . Vgl. Bernhard Reuffurth: Gieschewald, ein neues oberschlesisches Bergarbeiterdorf der Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche’s Erben. Charlottenburg-Kattowitz , S.. Professor Reuffurth war Dozent an der Königlichen Baugewerbeschule in Kattowitz. Ebd., S. .
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zu schützen“.⁶⁷ Dem Schuldenmachen, „dieser auch bei unserer Arbeiterbevölkerung so tief eingerissenen Misswirtschaft“ sollte in Gieschewald entgegengewirkt werden, indem „Waren auf Borg“⁶⁸ nicht abgegeben wurden. Zur Sicherstellung der Versorgung der Angestellten war außerdem der zu den Häusern gehörige Garten mit Wirtschaftsgebäuden vorgesehen, in dem die Ehefrauen sich dem Anbau von Gemüse für den Eigenbedarf sowie der Kinderpflege widmen konnten.⁶⁹ Die Gärten sollten aber auch den Bergleuten zugute kommen, die sich nach getaner, schwerer Arbeit unter Tage bei „gesunder leichter Beschäftigung und Bewegung an frischer Luft erholen“⁷⁰ sollten. Uthemann gab den Architekten den Auftrag, im Vorfeld des Siedlungsbaues die Architektur oberschlesischer Dörfer zu studieren.⁷¹ Die Architekten ließen sich bei der Planung der Häuser aber nicht nur vom ansässigen ländlichen Stil inspirieren, es entstand eine eigentümliche Mischung aus englischen Cottages und oberschlesischen Bauernhäusern. Zur Anlage der Siedlung, die durch konzentrisch auseinander laufende
Ebd., S. . In Essen im Ruhrgebiet, einer Oberschlesien strukturell vergleichbaren Region, entstand zur fast gleichen Zeit (ab ) die Gartenvorstadt Margarethenhöhe, eine Siedlung für Mitarbeiter der Krupp’schen Stahlwerke, in der sich aber auch Einwohner der Stadt Essen ansiedeln konnten. In der Tradition der Krupp’schen Wohlfahrtspflege wurde Margarethenhöhe mit dem Ziel angelegt, qualifizierten Arbeitskräften lebenswerten Wohnraum zur Verfügung zu stellen. Ähnlich wie Gieschewald entstand die Siedlung auf einer bewaldeten, landwirtschaftlich genutzten Fläche etwa drei Kilometer südwestlich des Hauptbahnhofes. Der Krupp-Konzern ließ Margarethenhöhe ebenso mit Einrichtungen zur Infrastruktur, wie einem Kaufhaus, Läden und Schulen ausstatten, wie es Anton Uthemann in Gieschewald tat. Es wurde ein Konsumverein gegründet, der den Arbeitern des Krupp Konzerns Lebensmittel zu günstigen Preisen zur Verfügung stellte. Großer Wert wurde außerdem auf die Begrünung der Anlage gelegt, Nutz- und Ziergärten waren ein elementarer Bestandteil. Margarethenhöhe wird als Gartenvorstadt bezeichnet, da wichtige sozialreformerische Elemente der ursprünglichen Gartenstadtidee, wie etwa die Selbstversorgung der Bewohner, die Bildung von Eigentum durch eine Genossenschaft, der die Gartenstadt gehörte, fehlten.Vgl. Deutsches Gartenbaumuseum: Neue Lebenswelten! Gartenstädte in Deutschland. (= Gartenbaugeschichte ()), S. . Vgl. Reuffurth, Gieschewald (), S. . Kartoffeln sollten in diesen Gärten jedoch nicht angebaut werden. Dieses Hauptnahrungsmittel stellte der Konzern den Einwohnern der Siedlung kostenfrei zur Verfügung. Vgl. Reuffurth, Gieschewald (), S. . Vgl. Szejnert, Czarny Ogród [Der schwarze Garten] (), S. f.Warum Uthemann die Häuser im regional-oberschlesischen Stil erbauen lassen wollte, kann nicht mit Sicherheit herausgestellt werden. Es wird argumentiert, dass sich Gieschewald durch die Anknüpfung an die lokale Bautradition von den Siedlungen, die im Ruhrgebiet und an anderen Stellen des Reiches entstanden, unterscheiden sollte. In einem Brief an den deutschen Architekten Karl Henrici schrieb Uthemann, dass er mit der stilistischen Anlehnung der Bebauung von Gieschewald an die oberschlesischen Bauernhäuser „diesen einheimischen Bauernstil vor dem Vergessen retten“ wollte. Uthemann zitiert nach Kozina, Chaos i Uporządkowanie [Chaos und Ordnung] (), S. .
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Straßen geprägt war, gehörten neben den Wohnhäusern weitere Gemeinschaftseinrichtungen wie drei Schulen, eine Post, ein Bad für Frauen und Kinder, eine Wäscherei, ein Restaurant, ein Gemeindehaus mit Theatersaal und einer Konzertmuschel sowie Wohnheime für alleinstehende Arbeiter. Die verfügbare Literatur beschreibt die Entstehung und Entwicklung der Siedlung Gieschewald in übereinstimmender Weise. Problematische oder konfligierende Interpretationen über die historische Entwicklung von Gieschewald gibt es nicht, was für die empirische Triftigkeit der Aussagen über Gieschewald spricht. An ihre Grenzen gerät diese Triftigkeit jedoch, wenn Gieschewald – wie etwa in den Antragsdokumenten zur Kulturhauptstadt – als „Gartenstadt Katowice“ bezeichnet wird. Zwei Aspekte sind besonders auffällig, da sie von der beschriebenen historischen Entwicklung abweichen: Weder hat Gieschewald zur Zeit seiner Entstehung zu Katowice gehört, noch kann die Siedlung als Gartenstadt bezeichnet werden. Auf die Lage von Gieschewald wurde bereits weiter oben verwiesen; die Siedlung befand sich bei ihrer Entstehung nicht auf dem Stadtgebiet von Kattowitz, sie entstand auf einem eigens gerodeten Waldstück weit außerhalb der Stadtgrenzen. Im Jahr 1909 erhielt sie den Status einer eigenen Verwaltungseinheit.⁷² Die Bewohner der Siedlung hatten deshalb mit der Stadt Kattowitz nur bedingt Berührungspunkte. Sie arbeiteten vor Ort in der neu angelegten Gieschegrube, im Nachbarort Janow oder der Zinkhütte in Schoppinitz. Ihre Kirchengemeinde war anfänglich im benachbarten Myslowitz, bis in der ebenfalls vom Gieschekonzern errichteten Siedlung Nickischschacht⁷³ mit dem Bau der St. Annakirche begonnen wurde.⁷⁴ Im Jahr 1914 wurde Gieschewald durch eine Schmalspurbahn mit der Gemeinde Janow sowie der benachbarten Siedlung Nickischschacht verbunden, das Stadtzentrum von Kattowitz erreichte man mit dieser Bahn jedoch nicht. Im Jahr 1924 wurde Gieschewald im Rahmen einer
Vgl. Szaraniec, Osady i osiedla [Siedlungen und Wohngebiete] (), S. . Der Bau von Nickischschacht ist eng mit der Erbauung von Gieschewald verbunden. Nickischschacht wurde ebenfalls von den Architekten Zillmann errichtet und gehörte zur GiescheGrube. Das „Arbeiterstädtchen“ wurde im Gegensatz zu Gieschewald für die weniger qualifizierten Arbeiter und demnach nicht mit frei stehenden Häusern ausgestattet, sondern in Blockbauweise aus charakteristischen roten Ziegeln errichtet. Nickischschacht sollte den Arbeitern des Konzerns Wohnraum bieten, der weniger komfortabel war als die Häuser in Gieschewald. So folgte Nickischschacht im Gegensatz zu Gieschewald dem bis dahin etablierten Muster der Errichtung günstiger Arbeiterwohnungen in großer Zahl unweit des Arbeitsortes, etwa dem Bau von Sozialwohnungen in Berlin. Dennoch waren alle circa Wohnungen mit einem Wasseranschluss ausgestattet, über Bäder verfügten jedoch nur die Wohnungen der Beamten. Vgl. Szejnert, Czarny Ogród [Der schwarze Garten] (), S. f; Kozina, Chaos i Uporządkowanie [Chaos und Ordnung] (), S. . Vgl. Szaraniec, Osady i osiedla [Siedlungen und Wohngebiete] (), S. .
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Gebietsreform der Gemeinde Janow angegliedert. In den Stadtgrenzen von Katowice befindet sich die Siedlung seit einer Gebietsreform aus dem Jahr 1960 und ist seither Bestandteil des Stadtgebietes.⁷⁵ Kontrovers diskutiert werden muss auch die Bezeichnung Gieschewalds als Gartenstadt im Sinne Ebenezer Howards. Diese Bezeichnung ist sowohl in der hier analysierten Narration der Bewerbung zur Kulturhauptstadt⁷⁶ anzutreffen, sie wird aber auch von einigen Autoren historischer Monografien über Katowice und Gieschewald verwendet.⁷⁷ Das erscheint erklärungsbedürftig. In einer zeitgenössischen Abhandlung über die Siedlung Gieschewald aus dem Jahr 1910 wird sie als „Walddorf“ oder als „neues oberschlesisches Bergarbeiterdorf“⁷⁸, so der Titel der Abhandlung, bezeichnet. Der Begriff Gartenstadt findet in der fast 100 Seiten starken, die Vorzüge der Siedlung preisenden Publikation hingegen keine Verwendung. Zwar werden die Gärten um die Zweifamilienhäuser ausführlich thematisiert und ihre Vorteile für die Gesundheit der Bergarbeiter, die Vorzüge für die Kindererziehung und die Pflege des Viehs sowie die Zucht von Gemüse gegenüber den Lebensbedingungen in den Mietshäusern des 19. Jahrhunderts hervorgehoben. Der Autor konzentriert sich ferner auf die Neuerung, die Gieschewald für den oberschlesischen Siedlungsbau mit sich brachte, stellt aber keine Verbindung zur Idee der Gartenstadt her. Fast 100 Jahre später griff die Journalistin Małgorzata Szejnert in ihrem großen Reportageband über die Geschichte der Siedlung Gieschewald, Der schwarze Garten (Czarny Ogród), die These der Siedlung als Gartenstadt hingegen an prominenter Stelle auf. Zu Beginn ihres Buches beschreibt sie Gieschewald als Ort, an dem der Konzern seinen Angestellten ein sorgloses und komfortables Leben ermöglichte: … eine Siedlung, in der die Tugend der Familie und der Arbeit erblühen sollte. Häuser mit hohen Schindeldächern standen zwischen Apfelbäumen. Und wenn ein Apfelbaum einging, schickte der Arbeitgeber einen Engel, einen großgewachsenen Mann in schwarzen Stiefeln, der einen neuen Stamm brachte und an die Pforte stellte.⁷⁹
Ebd., S. . Vgl. die zitierten Aussagen weiter oben im Text wie etwa „Die erste polnische Gartenstadt war der Stadtteil Giszowiec in Katowice“. Stellvertretend für andere bei Rzewiczok: „Osiedle zaprojektowane zostało w stylu ‚miastaogrodu‘, stworzonego przez angielskiego urbanistę Ebenezera Howarda.“ [Die Siedlung wurde im Stil der „Gartenstadt“ geplant, die vom englischen Stadtplaner Ebenezer Howard geschaffen wurde.] Vgl. Rzewiczok, Zarys dziejów [Abriss der Geschichte] (), S. . Vgl. Reuffurth, Gieschewald (), erstes Zitat im Satz auf Seite . Vgl. Szejnert, Czarny Ogród [Der schwarze Garten] (), S. . Die hier so stark hervorgehobene Fürsorge des Arbeitgebers für die Einwohner seiner Siedlung steht im Widerspruch zu den Ideen Howards, der sich für eine Freiheit und kooperative Lebensformen aussprach. Vgl. Peter
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An anderer Stelle konkretisiert sie die Idee der Siedlung und verbindet sie mit dem Gartenstadtkonzept: „Mit der Zeit sollte sich die ganze Kolonie in ein großes Grün verwandeln, das ist schließlich eine ideale Gartenstadt, gesund, bequem, freundlich, gut eingestimmt auf Leben und Arbeit.“⁸⁰ Die Vorstellungen Ebenezer Howards zur Gartenstadt umreißt die Autorin an früherer Stelle ihres Buches: Sie [die Gartenstädte, JT] sollen unabhängige Organismen sein, ausgestattet mit Beleuchtung, Gas,Wasserleitungen, Kanalisation, Schulen, Kirchen, Sozialeinrichtungen. Außerdem sollen sie mit den umliegenden Industriegebieten oder Landwirtschaftsbetrieben zusammenarbeiten, in denen die Bewohner arbeiten.⁸¹
Damit verweist die Autorin auf Howards Buch The Garden Cities of To-morrow (1902), verkürzt dessen ursprüngliche Argumentation zur Entstehung sowie Intention von Gartenstädten jedoch in signifikanter Weise. Szejnert greift nur den Teil der Gartenstadtidee heraus, der auf die Lage, den Aufbau und die Gestalt Gieschewalds problemlos übertragbar ist. Tatsächlich entspricht Gieschewald dem Muster ähnlicher Gartenstadtanlagen aus dieser Zeit in Hellerau bei Dresden (1909) oder Marga bei Senftenberg (1907). Auch diese Siedlungen wurden ringförmig um einen Markt oder zentralen Platz herum angelegt, von wo aus radial angelegte Straßen nach außen führen. Doch gehen die äußerlichen Ähnlichkeiten zwischen den Gartenstädten und Gieschewald über den Grundriss und Aufbau nicht hinaus. Gieschewald fehlten zentrale Aspekte, um eine Gartenstadt zu sein. Die Siedlung glich eher einer begrünten Siedlung an der Peripherie einer Großstadt. Howards Gartenstadtidee ging jedoch entscheidend über diese Vorstellungen hinaus. Er war in erster Linie Sozialreformer und verknüpfte seine Vorstellungen einer Gartenstadt mit der grundlegenden Veränderung der gesellschaftlichen Ordnung. Zwar bezog sich Howards Bezeichnung Gartenstadt auch auf die Lage dieser Siedlungen außerhalb der Großstädte, sie beinhaltete aber vor allem die Vorstellung einer Eigentümergemeinschaft von Einwohnern, die gemeinsam Land besaß und bewirtschaftete. Die Gartenstadt stand für Howard letztlich synonym für eine progressive Umgestaltung der kapitalistischen Gesellschaft in kooperative Gemeinwesen.⁸² Ausgangspunkt seiner Überlegungen waren die schlechten Wohnbedingungen in den Slums des Viktorianischen London. Die Vision eines besseren Woh-
Hall: Cities of Tomorrow. An Intellectual History of Urban Planning and Design in the Twentieth Century. Cambridge (Mass.) , S. . Vgl. Szejnert, Czarny Ogród [Der schwarze Garten] (), S. . Ebd., S. . Vgl. Hall, Cities of Tomorrow (), S. .
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nens war mit der Frage verbunden, wie Städte künftig menschenfreundlicher und hygienischer gestaltet werden konnten. Slums entstanden vor allem dort, wo sich die Stadt ungeordnet ausbreitete, Wohnviertel und Industrieanlagen ineinander übergingen und sich vermischten. Die Menschen litten unter diesen Auswüchsen der Industriegesellschaft, besonders die Luftverschmutzung in den Wohngebieten hatte eine ausgesprochen negative Auswirkungen auf ihre Gesundheit und ihr Wohlbefinden.⁸³ Die Großstadt wurde als Ursache für die sozialen Missstände angesehen. Die Lösung konnte demnach nicht im weiteren Ausbau der Städte liegen, Howard schlug vielmehr den Bau neuer Städte ringförmig um das bestehende Stadtgebiet vor, die jeweils durch öffentliche Verkehrsmittel gut mit der Kernstadt verbunden sein sollten. Die Planung der neuen Städte war vom zentralen Gedanken der strikten Zonierung von Wohn- und Arbeitsvierteln sowie Agrargebieten getragen, die kreisförmg angelegt werden sollten. Die Wohngebiete sollten mit Alleen und öffentlichen Grünanlagen, nicht zuletzt aber durch Hausgärten durchgrünt werden, was sich positiv auf die Gesundheit der Bewohner auswirken sollte.⁸⁴ Dem Chaos der Slums sollte die Ordnung der Siedlung entgegengesetzt werden, die die nachteilige Verflechtung der Bereiche Wohnen, Industrie sowie Agrar- und Gartenland verhindern sollte. Howard gehörte einer Gruppe philanthropisch gesinnter Bürger an, die ein umfassendes gesellschaftliches Reformmodell vertraten. Es bezog sich nicht nur auf Architektur und Stadtplanung, sondern erstreckte sich auf die Vision eines genossenschaftlichen Zusammenlebens und einer naturverbundenen gesundheitsorientierten Lebensweise.⁸⁵ Für die neuen Gartenstädte sollte billiges Agrarland in Bauland umgewandelt werden, der Gewinn der genossenschaftlich organisierten Allgemeinheit der neuen Stadt zugute kommen und einen großen Teil der Baukosten für die Häuser tragen. Das Land blieb in Besitz der Genossenschaft und wurde als Erbpacht weitergegeben, die Bewohner hatten Mietrecht auf Lebenszeit. Grund und Boden der Gartenstadt blieben in Gemeinschaftsbesitz, was Bodenspekulation verhindern sollte. 1899 wurde die Garden City Town Planning Association als organisatorische Zentrale der Reformbewegung gegründet. 1903 entstand in Letchworth, nördlich von London, die erste Gartenstadt Englands, wo 1914 insgesamt 14 000 Einwohner lebten. 1907 errichteten die Architekten Richard Barry Parker (1867– 1947) und Raymond Unwin (1863 – 1940) das Hampstead Garden Suburb. Dieses wich jedoch bereits von den ursprünglichen Ideen ab, da es als reines Wohngebiet gebaut wurde, dem die gewerblichen
Vgl. Deutsches Gartenbaumuseum, Neue Lebenswelten! (), S. . Ebd., S. . Ebd., S. .
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und industriellen Anlagen fehlten, und es die Idee der Gartenstadt als Selbstversorgungseinheit aufweichte.⁸⁶ Auch in Deutschland wurde die Idee der Gartenstadt von einer kleinen Gruppe von Lebens- und Sozialreformern aufgenommen, und die Deutsche Gartenstadt-Gesellschaft (DGG) wurde gegründet.⁸⁷ Dennoch breiteten sich anstelle der Gartenstädte⁸⁸ zu dieser Zeit an den Stadträndern der Metropolen vor allem Villenkolonien aus, etwa Berlin-Grunewald, oder der Werkswohnungsbau wurde vorangetrieben. Mit ihrem Aspekt der Selbstverwaltung, ihrem ganzheitlichen, sozial geprägten Anspruch stand die Gartenstadtidee Howards diesen Entwicklungen entgegen. Aus der ursprünglich sozialreformerisch geprägten Gartenstadtidee wurden in der Realität häufig Gartenvorstädte wie in Essen-Margarethenhöhe oder Leipzig-Marienbrunn. Diese wichen insofern vom Gartenstadtkonzept Howards ab, als ihnen Industrie- und Gewerbeanlagen fehlten, und sie nicht mehr die Eigenversorgung der Einwohner zum Ziel hatten. Geblieben war der Aspekt des gesunden Wohnens im begrünten Umfeld. Die komfortablen Wohnsiedlungen verfügten über Geschäfte, Schulen und gastronomische Einrichtungen.⁸⁹ Aufgrund dieser Praxis der Verkürzung von Howards Ideen stellt Peter Hall in seiner Geschichte der Stadtplanung fest: „Ebenezer Howard […] is the most important single character in this entire tale. So it is important to get him right; even though almost everyone has got him wrong.“⁹⁰ Auch die Bezeichnung der Siedlung Gieschewald als Gartenstadt schreibt sich in die Tradition ein, die Gartenstadt Howards zwar als alternatives städtebauliches Konzept zu begreifen, das in ihr angelegte, umfassende gesellschaftliche Reformmodell jedoch auszublenden. Während Howard mit seinem Gartenstadtkonzept die negativen Folgen des Kapitalismus und der Industriegesellschaft überwinden wollte, dienten gerade Siedlungen wie Gieschewald oder EssenMargarethenhöhe dem entgegengesetzten Zweck: Sie sollten die bestehende kapitalistische Wirtschaftsordnung nicht verändern, sondern stabilisierten. Indem
Ebd., S. . Die DGG entstand aus dem Friedrichshagener Dichter- und Künstlerkreis, der sich, nach einem Stadtteil am östlichen Rand Berlins benannt, mit der Reform künstlerischer, sozialer und kultureller Lebensfragen beschäftigte. Als Umsetzung der Ideen Howards kann in Deutschland die Siedlung Hellerau bei Dresden angesehen werden, die im Jahr nach Plänen von Richard Riemerschmied erbaut wurde. Die Mehrheit der deutschen Städtebauer hielt Howards Modell jedoch für eine soziale Utopie. Sie griffen daher bevorzugt auf die Konzepte von Camillo Sitte, die er in Der Städtebau nach künstlerischen Gesichtspunkten () dargestellt hatte, sowie die Ideen von Karl Henrici, der sich vor allem mit dem Bau von Arbeitersiedlungen beschäftigte, zurück. Vgl. Kozina, Chaos i Uporządkowanie [Chaos und Ordnung] (), S. . Vgl. Deutsches Gartenbaumuseum, Neue Lebenswelten! (), S. . Vgl. Hall, Cities of Tomorrow (), S. .
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der Konzern seinen Angestellten verbesserte Wohn- und Lebensbedingungen geschaffen hatte, band er sie an sein Unternehmen mit dem Ziel, ihre Leistungsfähigkeit und -bereitschaft zu steigern. Die soziale Utopie freier Menschen, die zusammen leben und über ihr Eigentum verfügen, wurde nicht umgesetzt. Siedlungen wie Gieschewald oder Essen-Margarethenhöhe wurden gebaut, um das kapitalistische System vorteilhafter zu gestalten, nicht um es zu überwinden. Auf die in historischen Monografien häufig anzutreffende, verkürzte und irreführende Übertragung von Howards Konzept der Gartenstadt auf die Siedlung Gieschewald weisen vor allem Kunsthistorikerinnen aus Katowice hin. Dorota Głazek fand bei ihrer Analyse in Gieschewald keine Merkmale einer Gartenstadt, vielmehr die Eigenschaften einer Patronats- und preußischen Mustersiedlung – einem Modell, das in Widerspruch zu den sozialemanzipatorischen Überlegungen Howards steht.⁹¹ Auch Irma Kozina verweist darauf, dass bei der Errichtung von Gieschewald der paternalistische Aspekt, mithin Kontrolle und Fürsorge des Gieschekonzerns bzw. des Generaldirektors Uthemann für seine Angestellten alle philanthropischen Ansätze überlagert haben. Die fürsorgliche Kontrolle ging so weit, dass ein angestellter Schutzmann über das Verhalten der Bewohner regelmäßig Bericht ablieferte. Positives Verhalten sowie die Pflege des den Bewohnern anvertrauten kleinen Anwesens wurden mit Auszeichnungen belohnt, während Fehlverhalten der Einwohner mit Geldstrafen belegt wurde.⁹² Kozina sprach sich deshalb für die Bezeichnung Gieschewalds als Gartenvorstadt, nicht als Gartenstadt aus.⁹³ Gleichwohl liefert Kozina selbst eine eigenwillige Erklärung dafür, wie die Zuschreibung der eigentlich als Patronatssiedlung angelegten Siedlung Gieschewald als Gartenstadt nach Howards Vorbild entstehen konnte. Sie vertritt die These, dass die „Entstehung“ der „Gartenstadt Gieschewald“ auf die 1970er Jahre zurückgeht. Zu dieser Zeit wurde von der kommunistischen Stadtverwaltung be-
Vgl. Dorota Głazek: Nationale Akzentsetzung im öffentlichen Raum. Zur Architektur der oberschlesischen Industriestädte vor und nach dem Ersten Weltkrieg, in: Andreas R. Hofmann/ Anna Veronika Wendland (Hg.): Stadt und Öffentlichkeit in Ostmitteleuropa – . Beiträge zur Entstehung moderner Urbanität zwischen Berlin, Charkiv, Tallinn und Triest. Stuttgart , S. – , hier S. . Laut Głazek soll in Gieschewald beispielsweise ein Bismarck-Denkmal gestanden haben, das der Siedlung deutliche nationale Akzente im gemischtnationalen Oberschlesien verliehen hat. Małgorzata Szejnert verweist in ihrem Reportageband Czarny Orgód darauf, dass Uthemann und die Gebrüder Zillmann zwar ein Bismarck-Denkmal für Gieschewald vorgesehen hatten, dieses sollte jedoch nicht auf dem zentralen Platz stehen, sondern in Gestalt einer Halbplastik an der Ecke des Verwaltungsgebäudes angebracht werden. Vgl. Szejnert, Czarny Ogród [Der schwarze Garten] (), S. . Vgl. Kozina, Chaos i Uporządkowanie [Chaos und Ordnung] (), S. . Ebd., S. .
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gonnen, die Siedlung als Überbleibsel einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung, vor allem aber als Sinnbild eines deutschen Erbes abzureißen. Der fortschreitende Abriss der historischen Bebauung konnte nur gestoppt werden, indem Gieschewald unter Denkmalschutz gestellt wurde. Einigen Intellektuellen gelang das recht umstandslos, nachdem sie den zuständigen Behörden erklärt hatten, dass Gieschewald nicht als preußische Mustersiedlung, sondern in Anlehnung an die Ideen des britischen Sozialisten Ebenezer Howard und seine Vorstellungen einer Gartenstadt erbaut worden sei.⁹⁴ Gieschewald als Erbe sozialistischen Gedankengutes passte zum damaligen Zeitgeist. Der Wechsel der ideologischen Vorzeichen unter denen Gieschewald errichtet wurde, ermöglichte den Eintrag in das Denkmalregister. Damit gelang es, zumindest einen Teil der historischen Gebäude vor der Zerstörung zu bewahren, während andere Häuser den neu errichteten Wohnblöcken zu diesem Zeitpunkt bereits hatten weichen müssen.⁹⁵ Aussage Nr. 2: Zu dieser Zeit [zu Beginn des 20. Jahrhunderts, JT] befand sich die Stadt in einer Phase großer zivilisatorischer Umbrüche, die im Zusammenhang mit der Herausbildung der modernen Großstadt und der Industriegesellschaft standen.
Die zweite Aussage über die Vergangenheit thematisiert die grundlegenden zivilisatorischen Veränderungen in der Stadt zur Zeit der Entstehung der Siedlung Gieschewald. Sie lässt sich in dieser Form nicht belegen. Ein besonders einschneidendes Ereignis kann zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Stadtgeschichte nicht nachgewiesen werden und ist in den einschlägigen Darstellungen nicht verbürgt. Die großen Auf- und Umbrüche der Stadt liegen in der Mitte des 19. Jahrhunderts, als Katowice vom Dorf zur Stadt avancierte und der Aufstieg zur Industrie- und Verwaltungsmetropole begann. Weitere wichtige Einschnitte in der Entwicklung der Stadt waren der Wechsel der staatlichen Zugehörigkeit zu Polen nach dem Ersten Weltkrieg, die deutsche Okkupation während des Zweiten Weltkrieges und die Zugehörigkeit zur Volksrepublik Polen von 1945 bis 1989. Die
Vgl. Anna Malinowska: Giszowiec nie jest miastem ogrodem. [Gieschewald ist keine Gartenstadt], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Der Prozess des Abrisses von Gieschewald wird eindrücklich in Kazimierz Kutz’ Film Wie Perlen im Rosenkranz (Paciorki jednego różanca) beschrieben. Mit der alten Bebauung sollte auch der Name Gieschewald bzw. Giszowiec verschwinden. Die neue Plattenbausiedlung, die anstelle der alten Siedlung entstehen sollte, trug seit den Namen Stanisław-Staszic-Siedlung (Osiedle Stanisława Staszica). entschied der Stadtrat, dass auch die Blocksiedlung den Namen Giszowiec tragen soll. Vgl. Szaraniec, Osady i osiedla [Siedlungen und Wohngebiete] (), S. .
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Zeit zwischen 1900 und dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges war in Kattowitz vielmehr eine von Kontinuität als von Wandel oder Veränderungen geprägte Epoche: Die Einwohnerzahl wuchs durch Zuwanderung und eine starke Geburtenrate beständig an, die Infrastruktur und die Verkehrswege wurden kontinuierlich ausgebaut und den Verhältnissen der sich ausdehnenden Stadt angepasst. Die Wirtschaft und die damit verbundene Verwaltung wuchsen, Fortschritt und Aufbruch prägten das Denken und Handeln eines Großteils der Einwohner. Industriegesellschaft, Wachstum, Fortschritt können als generelles Merkmal der Stadtentwicklung seit ihrer Gründung angesehen werden. Der damit verbundene zivilisatorische Wandel war ein Prozess, der mit der Umwandlung des Dorfes in eine Stadt in der Mitte des 19. Jahrhunderts einsetzte und fortan anhielt. Die Aussage suggeriert hingegen, dass dieser Prozess nach der Jahrhundertwende einsetzte, und es entsteht der Eindruck eines Zusammenhanges mit dem Bau der Siedlung Gieschewald. Die Zusammenführung von zivilisatorischem Wandel mit dem Entstehen von Gieschewald muss als empirisch nicht triftig eingestuft werden. Aussage Nr. 3: In den 1930er Jahren wurden neben den avantgardistischen Bauten außerdem sogenannte Jordangärten errichtet. Diese stellten mit ihren Pavillons und Sportplätzen eine wohldurchdachte Verbindung von Architektur und Gartenkunst dar. Pädagogische Maßnahmen verbanden sich mit der Propagierung eines neuen Lebensstils, der Hygiene, Gesundheit und körperliche Aktivität in den Mittelpunkt rückte. Im Zentrum der Stadt und fußläufig erreichbar befanden sich Spielplätze, Schwimmbecken und Sandstrände.
Die dritte Aussage über die Vergangenheit der Stadt verlässt die Zeit um 1900 und springt in die 1930er Jahre, als Katowice Hauptstadt der nach 1922 neu entstandenen polnischen Woiwodschaft Schlesien war. Sie bezieht sich auf den für diese Zeit prägenden Baustil der Moderne in der Stadt. Dass das moderne Bauen in der Zwischenkriegszeit in Katowice eine besondere Qualität und Quantität erreicht hatte, wird in den einschlägigen Publikationen ausführlich behandelt.⁹⁶ Der polnische Staat baute die Stadt nach der Teilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen im Jahr 1922 zu Repräsentations- und Verwaltungszwecken massiv aus. Neben Administrationsgebäuden und Kirchen entstanden Wohnhäuser und Villen für Beamte sowie Siedlungen für Arbeiter und Angestellte.
Neben den oben genannten Publikationen sind hier vor allem Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] () sowie Zofia Oslislo: Katowicka Moderna – [Moderne in Katowice – ]. Katowice zu nennen. Vgl. ferner Janota, Katowice między wojnami. [Katowice zwischen den Kriegen] (); Arnold Bartetzky: Kattowitz – die geheime Hauptstadt der Ostmoderne, in: Deutsche Bauzeitung (), S. – .
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Das sichtbarste Zeichen des Baubooms, der durch die Stahlbetonskelettbauweise ausgelöst wurde, war der sogenannte Wolkenkratzer. Das Hauptaugenmerk dieses Vergangenheitsbezuges liegt jedoch nicht auf der modernen Architektur. Da es um die Geschichte von Katowice als Gartenstadt geht, werden vielmehr die zur gleichen Zeit entstandenen sogenannten Jordangärten in Katowice fokussiert. Belegt wird das Bestehen dieser speziellen Gartenform vor allem in kunsthistorischen Publikationen.⁹⁷ Von der Existenz der Jordangärten aus den 1930er Jahren zeugen jedoch nicht nur Publikationen, sie sind auch in der heutigen Stadttopografie anhand erhaltener Pavillons sichtbar, die heute zum Teil als Grundschulen genutzt werden. Auch zeitgenössische Planungen und Zeichnungen zur Anlage von Jordangärten belegen, dass es diese Gartenform in Katowice gegeben hat.⁹⁸ Soweit ist die Aussage empirisch triftig. Die anschließend formulierte These, dass die Jordangärten eine besondere Verknüpfung von Natur und Architektur geschaffen haben, ist bis auf einen Artikel der renommierten Kunsthistorikerin Irma Kozina noch nicht erforscht. Die Repräsentativität dieser Aussage ist demnach fraglich.⁹⁹ Schwierig zu entscheiden ist auch die Frage der empirischen Triftigkeit der nachfolgend angeführten Beschreibung von Zielen und Aufgaben der Jordangärten. Hier wird in erster Linie auf die Propagierung und Popularisierung eines neuen Lebensstils, von Hygiene, Gesundheit sowie körperlicher Aktivität abgehoben. Diese stimmten mit den Intentionen des Arztes Henryk Jordan überein, der im Jahr 1889 in Krakau auf der Fläche von 22 Hektar einen Park zur Erholung und zum Spielen speziell für Kinder und Jugendliche errichtete. Jordans Idee zielte auf eine verbesserte physische und psychische Entwicklung der Kinder, die sich im Kontakt mit der Natur und Gleichaltrigen gesund entwickeln sollten. Die eigens gepflanzten Bäume und Blumen sowie die angelegten Grünflächen sorgten
So z. B. bei Oslislo, Katowicka Moderna – [Moderne in Katowice – ] (), S. f. sowie f; Ryszard Nakonieczny: Awangarda dla najmłodszych, czyli corbusierowskie okręty w ogrodach jordanowskich Górnego Śląska [Avantgarde für die Jüngsten oder Corbusiers Schiffe in den oberschlesischen Jordangärten], in: ARCHIVOLTA (), S. – . Diese interessieren sich jedoch nicht in erster Linie für die Gärten, sondern für die darin errichteten modernistischen Pavillons und behandeln diese unter architekturgeschichtlichen Gesichtspunkten. Vgl. zu Abbildungen der Planungen des Jordangartens an der Heilige-Barbara-Straße (ul. św. Barbary) in Katowice: Irma Kozina: Modernistyczne gesamtkunstwerk a koncepcja ogródków jordanowskich w Katowicach dwudziestolecia międzywojennego [Modernistisches Gesamtkunstwerk und die Konzeption der Jordangärten in der Zwischenkriegszeit in Katowice], in: ARCHIVOLTA (), S. – , hier S. . Ebd.
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ebenso wie Bassins mit Sandstränden, Sport- und Spielflächen wie Tenniscords, einer Eisbahn, Duschen und Umkleidekabinen für eine angemessene, kindgerechte Umgebung und erfüllten alle Bedingungen für eine außerschulische Freizeitgestaltung.¹⁰⁰ Die in dem Vergangenheitsbezug hervorgehobene alleinige Betonung der Förderung eines aktiven Lebensstils muss jedoch als selektives Herauslösen bestimmter Aspekte aus dem ursprünglichen Ideengebäude des Initiators angesehen werden. Denn Jordans Gartenkonzept basierte auf einer weiteren grundlegenden Komponente, die hier weggelassen wurde: Es zielte neben der physischen vor allem auf die patriotische Bildung der nachwachsenden Generation junger Polen ab. Polen existierte zu Lebzeiten Jordans als Staat nicht, das Gebiet des Landes war seit 1795 geteilt zwischen Preußen, Russland und Österreich-Ungarn, wobei Krakau sich in dem als liberal geltenden österreichischen Teilungsgebiet befand. Inmitten des Grün im Park veranlasste Jordan die Errichtung von Büsten der wichtigsten Persönlichkeiten, die für ein unabhängiges Polen standen. Diese wurden von speziell ausgebildeten Instrukteuren genutzt, um bei Kindern und Jugendlichen eine patriotische Gesinnung und Liebe zu ihrem als Staat nicht existenten Vaterland zu evozieren.¹⁰¹ Nach dem Tod Henryk Jordans geriet der Krakauer Park in Vergessenheit, nicht zuletzt deshalb, weil es an Mitteln zur Aufrechterhaltung der Aktivitäten fehlte, die Jordan großteils selbst finanziert hatte. In der Zwischenkriegszeit, als Polen seine Staatlichkeit wiedererlangt hatte, erlangten auch die Jordangärten neue Popularität. Die Grundidee des Prototyps wurde aufgegriffen, aber auch weiterentwickelt. Der Bildungsauftrag für die Jugendlichen zielte nun nicht mehr vorrangig auf die Wiederherstellung des Staates, sondern stärkte den Aspekt der physischen Kräftigung und die potenzielle Verteidigung des neu entstandenen Vaterlandes.¹⁰² Die Idee der Jordangärten fand nicht nur in Katowice, sondern auf dem gesamten Staatsgebiet viele Anhänger, in der Zwischenkriegszeit entstanden auch in Warschau sowie in anderen polnischen Städten wie etwa Lodz und Posen Jordangärten nach dem Krakauer Vorbild.¹⁰³ Vgl. die Beschreibung des Jordangartens in Krakau auf der Internetseite des heute noch bestehenden Jordangartens in Warschau von Katarzyna Radomska, URL http://www.ogrodjorda nowski.pl/strona..html (Zugriff . . ). Vgl. Kozina, Modernistyczne gesamtkunstwerk [Modernistisches Gesamtkunstwerk] (), S. . Auch Radomska berichtet von der Idee patriotischer Erziehung anhand der Denkmäler polnischer Persönlichkeiten im historischen Abriss einer der Warschauer Jordangärten. Vgl. URL http://www.ogrodjordanowski.pl/strona..html (Zugriff . . ). Vgl. Kozina, Modernistyczne gesamtkunstwerk [Modernistisches Gesamtkunstwerk] (), S. . Einige der Jordangärten existieren auch heute noch und stehen mit einem angepassten pädagogischen Konzept zur kostenfreien außerschulischen Betreuung von Kindern zur Verfü-
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Die Analyse der Narration auf der Ebene der Vergangenheit hat gezeigt, dass die angeführten Vergangenheitsbezüge teilweise empirische Triftigkeit besitzen. Alle angesprochenen Phänomene – die Siedlung Gieschewald, zivilisatorische Umbrüche im Zusammenhang von Großstadt und Industriegesellschaft sowie die Jordangärten – sind in der Stadtgeschichte nachweisbar und durch die historische Forschung belegt. Die Frage der Repräsentativität der Aussagen ist bereits komplexer. Zwar sind die Themen historisch erforscht und belegt, vor allem die Jordangärten sind jedoch ein bislang eher randständig erwähntes Thema. Am auffälligsten und wichtigsten für den Zusammenhang dieser Untersuchung ist die Strategie der Verknüpfung historisch belegbarer Ereignisse mit dem Hauptnarrativ der Gartenstadt. Gezielte Verknüpfungen in der Darstellung der historischen Phänomene dienen der Einpassung in das Gartenstadtnarrativ. Die Siedlung Gieschewald als Nukleus des gesamten Vergangenheitsbezuges wird mit einer gänzlich neuen Bedeutung als Gartenstadt versehen. Die Jordangärten werden zur Kinderfreizeitanlage, unter Auslassung des patriotischen Aspektes. Die einzelnen Aussagen sind bewusst aus ihren Entstehungskontexten gelöst, selektiv zusammengesetzt, teilweise ihrer eigentlichen Bedeutung beschnitten und durch neue Bedeutungszuschreibungen ergänzt worden. Wie die historischen Aussagen in ihre Bedeutungszusammenhänge gestellt werden, klärt die nächste Analyseebene mit der Frage nach der narrativen Triftigkeit. Der zweite Analyseschritt stellt mit der Fokussierung auf Geschichte in den Mittelpunkt, wie die oben festgestellten Aussagen über die Vergangenheit in Kontexte gesetzt werden, sodass daraus eine Geschichte entsteht, die narrativ triftig, also in sich geschlossen und überzeugend ist. Die narrative Triftigkeit fragt somit nach der Erzählstrategie, nach den Prinzipien und Grundannahmen, die der erzählten Geschichte zugrunde liegen. Sie sucht nach Mustern, die die Vergangenheitsbezüge in eine Verbindung und Ordnung zueinander bringen. Die leitende Aussage, die der gesamten Narration ihre Struktur verleiht, wurde unmittelbar zu Beginn der Narration formuliert: „Katowice interpretiert die Idee der Gartenstadt neu“. Das Motiv der neu interpretierten Gartenstadt arrangierte alle im vorangegangenen Kapitel herausgearbeiteten Vergangenheitsbezüge. Es bildete den Rahmen der Geschichte und definierte sehr eindrücklich die Perspektive und den Standpunkt der Urheber der Narration sowie ihren Ausgangspunkt und das Ziel, das sie mit der Narration verfolgten. Deutlich sichtbar wurde der Standpunkt der Narrateure immer dort, wo sie das ursprüngliche Gartenstadtkonzept Ebenezer Howards auf die Gegenwart bezogen und beispielsweise daraus schlussfolgerten,
gung. In Warschau gibt es beispielsweise aktuell noch fünf Jordangärten. Vgl. URL http://www.og rodjordanowski.pl/strona..html (Zugriff . . ).
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dass es bei der Gartenstadt nicht vorrangig um einen bestimmten städtebaulichen Entwurf oder ein Stadtentwicklungskonzept ginge, sondern in erster Linie um gesellschaftliche Veränderungen: „Die Vision des englischen Gelehrten Ebenezer Howard ist heute nicht nur als Vorschlag zur Raumnutzung zu sehen. Vor allem ist sie eine Inspiration für gesellschaftliche Veränderungen.“ Nicht der weitere Ausbau und die Ausdifferenzierung der Stadt, sondern die gesellschaftlichen Veränderungen, angelegt im Konzept der Gartenstadt waren der Kern, den die Narrateure auf die Gegenwart der Stadt übertragen wollten. Der konkrete Ort oder Ausgangspunkt der gesellschaftlichen Veränderung sollten in die Stadtlandschaft eingebundene Gärten sein. Gärten als Orte der Begegnung, der zwischenmenschlichen Kontakte, des Miteinanders: „Gärten sollten zu attraktiven Orten des städtischen Gewebes werden, aber auch zum Treffpunkt und zum Ort zwischenmenschlicher Kontakte.“ Mit der Vorstellung von Gärten als Ausgangspunkten gesellschaftlicher Veränderungen adaptierten die Urherber der Narration die Grundüberzeugungen Howards, der mit sozialreformatorischen Ansätzen in der Gartenstadt die kapitalistische Gesellschaft überwinden wollte. Sicher war das nicht die Absicht des Narrateure, sie sahen aber eine wichtige Vergleichsebene zwischen Howards und ihrem Denken über die Stadt: Katowice stand als postindustrielle Stadt vor großen Herausforderungen, die sowohl eine Veränderung wirtschaftlicher als auch gesellschaftlicher Strukturen bedurfte. Die Parallelen zu Howards Denken lagen demnach auf der Hand: In Katowice sollte mit der Industriestadt ein als veraltet angesehenes Konzept von Stadt überwunden und durch die an den veränderten Bedürfnislagen neu interpretierte Gartenstadt ersetzt werden. Der Unterschied zu Howards Ausgangsideen bestand darin, dass die Entfaltung der „neuen Gartenstadt“ in Gegenwart und Zukunft nicht durch die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaft erreicht werden sollte, sondern auf den Überzeugungen von Nachhaltigkeit basierte. Mit dem Bezug auf nachhaltige Entwicklung wählten die Antragsteller eine europäische Formel, die die Anschlussfähigkeit der eigenen Ideen und Vorstellungen an europäische Werte und Vorstellungen herausstellen sollte. Das schien von grundlegender Wichtigkeit, und wurde bereits im zweiten Satz deutlich formuliert: „Anstelle der utopischen Formel ‚Zurück zur Natur‘ geht Katowice vom Konzept nachhaltiger Entwicklung aus, das zu den Grundlagen der Europäischen Union zählt.“ Mit dem Bezug auf Nachhaltigkeit wollte man sich in den Reigen europäischer Werte und Grundüberzeugungen einschreiben, nicht zuletzt deshalb, da die Europäische Union und ihre Institutionen auch Adressat, vor allem aber Finanzier des Titels Kulturhauptstadt Europas waren. Deutlich zeigt das Beispiel der Nachhaltigkeit nicht nur die Adaption von Howards Denken an die Gegenwart, sondern auch den Einfluss äußerer Zwänge auf das Entstehen der Gartenstadt-Narration.
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Nachdem der übergeordnete Rahmen der „neuen Gartenstadt“ und die Anknüpfungspunkte zu aktuellen (europäischen) Entwicklungen abgesteckt waren, sollte ihr durch den Nachweis ihrer Verankerung vor Ort, in der lokalen Tradition, Nachdruck verliehen werden: „Die Gartenstadt verbindet die lokale Tradition mit dem Bedürfnis, mutig über die Zukunft nachzudenken.“ Lokale Tradition meint das Einschreiben der „neuen Gartenstadt“ und ihrer Elemente in die Geschichte der Stadt: Da die Vergangenheit von Katowice keine Anknüpfungspunkte an eine Gartenstadt bereithielt, konstruierten sie die Narrateure selbst. Die Siedlung Gieschewald konnte jedoch nur zum Vorläufer der „neuen Gartenstadt“ werden, indem sie von der preußischen Patronatssiedlung zur traditionsreichsten polnischen Gartenstadt uminterpretiert wurde. Mit den Jordangärten aus den 1930er Jahren verfuhr man in ähnlicher Weise. Sie wurden kurzerhand als wichtige Elemente einer Gartenstadt dargestellt, die im Stadtraum von Katowice umgesetzt wurden. Abgesehen von der verbindenden Idee, dass es sich bei den Jordangärten um Elemente einer lokalen Gartenstadttradition handele, fehlte den Vergangenheitspartikeln „Gartenstadt“ und „Jordangarten“ sowohl eine faktische als auch eine argumentative Verbindung bzw. Kontextualisierung. Aus dieser Konstellation ergibt sich daher das folgende Bild: In der Argumentation der Antragsteller wurde die deutsche Arbeitersiedlung Gieschewald in einen historischen Entwicklungszusammenhang mit polnischen Einrichtungen zur patriotischen Erziehung (Jordangärten) gestellt, die in der Gegenwart den Ursprung einer Gartenstadttradition in Katowice unter Beweis stellen sollten. Diese Erzählstrategie funktioniert allein durch gezieltes Ausblenden der Kontexte dieser historischen Phänomene mit dem Ziel, eine Kontinuitätsvorstellung über die Entwicklung der Stadt als Gartenstadt von der Vergangenheit in die Gegenwart hinein zu konstruieren. Der Garten als ein in der Gegenwart positiv konnotierter Aspekt wurde herausgegriffen und zum zentralen Ordnungsmuster für der Vergangenheit von Katowice erhoben. Demnach sollte der Garten als Leitmotiv nicht nur der Zukunft, sondern auch der Vergangenheit der Stadt eine positive, einheitliche Konnotation verleihen. Das konnte nur funktionieren, indem eine fragmentierte, sprunghafte Geschichte erzählt wurde, die ausschließlich Aspekte adressierte, die dem Gegenwartsentwurf von Katowice als „neuer Gartenstadt“ entsprachen. Eine weitere Erzählstrategie wird an dieser Stelle sichtbar: Die „neue Gartenstadt“ als Antwort auf die Gegenwartsprobleme der Stadt wurde durch das Aufzeigen historischer Vorläufer in die Vergangenheit hinein verlängert. Die Narrateure gingen damit auf Entwicklungen in der Stadtgeschichte ein, die eine Veränderung der Gegenwart als erreichbar und umsetzbar erscheinen lassen sollten. Mit der herausgearbeiteten Kontinuitätslinie blendeten die Urheber der Narration gezielt wichtige Ereignisse der Stadtgeschichte aus, etwa die über lange Zeiträume des 19. und 20. Jahrhunderts bestimmenden deutsch-polnischen Aus-
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einandersetzungen um ihre staatliche Zugehörigkeit. Ziel der Narrateure war es, eine gänzlich andere, alternative Geschichte über ihre Stadt zu erzählen. Dabei waren nicht Brüche, Konflikte und Kriege das zentrale Thema, ihre Vorstellung von Kontinuität konstruierten sie auf der empirisch hauchdünnen Schicht einiger Elemente der Gartenstadt, die sie in der Stadtgeschichte als empirisch nachweislich ansahen. Dieser Umgang mit der städtischen Vergangenheit muss als Alternativentwurf zu den bestehenden Geschichtsbildern über die Stadt gelesen werden. Die Antragsteller griffen mit den ersten drei Dekaden des 20. Jahrhunderts eine Zeit auf, die besonders häufig von Umbrüchen, Krisen oder Auseinandersetzungen um die staatliche Zugehörigkeit der Stadt geprägt war. Genau für diese von Brüchen gekennzeichnete, als unruhig und konfliktreich geltende historische Zeitspanne entwickelten die Narrateure durch das Herausarbeiten einer angeblichen Gartenstadttradition in Katowice eine Kontinuitätslinie. Das konnte nur gelingen, indem die historischen Kontexte der deutsch-polnischen Spannungen bis hin zu kriegerischen Auseinandersetzungen in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sowie der Zwischenkriegszeit nicht angesprochen wurden. Fragen nationalstaatlicher Zugehörigkeiten hatten im Denken der Narrateure scheinbar keinen Platz, sie waren nicht von Belang und wurden schlichtweg ausgeblendet. Dass die Siedlung Gieschewald entstand, als Kattowitz eine deutsche Stadt war, dass das moderne Bauen in Katowice seinen Siegeszug antrat, als die Stadt polnische Woiwodschaftshauptstadt war, und dass die Jordangärten als patriotischpolnisches Projekt der Zweiten Polnischen Republik geplant und umgesetzt wurden, spielte für die Begründung der „neuen Gartenstadt“ in der Gegenwart keine Rolle. Diese Konstruktion brachte einen weiteren Effekt mit sich: Ihre von nationalen Perspektiven bereinigte Sichtweise auf die Stadt verorteten die Antragsteller im Normen- und Werthorizont der Europäischen Union, die nationale Sichtweisen zugunsten supranationaler Prinzipien in den Hintergrund rückt. Eine abschließende Beurteilung der narrativen Triftigkeit fällt angesichts der Gemengelage nicht leicht. Einerseits: Um narrativ triftig zu erzählen, hätten die Kontexte der historischen Phänomene, auf die sich die Narrateure berufen, Berücksichtigung finden müssen. In der präsentierten Form wirkt die Narration aufgrund der fehlenden Kontextualisierung daher wenig überzeugend. Andererseits: Akzeptiert man die Setzung, dass eine alternative Geschichte über Katowice erzählt werden sollte, die bewusst mit dem bisherigen Bild der Vergangenheit der Stadt brechen wollte und sich stattdessen auf die Suche nach dem Ursprung für eine neue Deutung der Gegenwart und einen alternativen Weg der Stadt in die Zukunft machte, handelt es sich um einen interessanten Blick auf bislang wenig beachtete Elemente der städtischen Vergangenheit wie etwa die Jordangärten. Um eine narrativ triftige Geschichte zu erzählen, hätten die Einzelphänomene in ihren historischen Kontexten jedoch adäquat beschrieben werden müssen. Doch
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überwog bei den Antragstellern scheinbar der Wunsch, Alternativen für die gegenwärtige und zukünftige Entwicklung der Stadt mit ebenso alternativen Konstruktionen der Stadtgeschichte begründen zu wollen. Der dritte Analyseschritt bezieht sich auf die Zeitebenen Gegenwart und Zukunft, indem die Botschaften und Orientierungsangebote sowie die damit verbundenen Normen und Werte herausgearbeitet werden, die eine Narration vermittelt. Darauf aufbauend wird nach Mustern der Sinnbildung für Gegenwart und Zukunft gefragt. Die vorangegangenen Analyseschritte haben gezeigt, dass die aktive und bewusste Veränderung und Gestaltung von Gegenwart und Zukunft als Hauptziele der Narration anzusehen waren. Das Leitmotiv der „neuen Gartenstadt“ war das Orientierungsangebot, das die Narrateure zur Lösung der grundlegenden Fragen von Gegenwart und Zukunft für Katowice vorlegten. Als integrativer Bestandteil einer auf die Zukunft ausgerichteten Imagebildungskampagne mussten sie ihre Vision mit einem hohen Maß an Überzeugungskraft ausstatten, um sie für die Rezipienten nachvollziehbar erscheinen zu lassen. Überzeugungskraft wurde dem Motiv der „neuen Gartenstadt“ durch das Aufzeigen einer lokalen Traditionslinie in der Vergangenheit der Stadt verliehen. Daraus entstand die Konstruktion einer ‚anderen‘ Geschichte, einer alternativen Entwicklungslinie der Stadt zu Kohle und Schwerindustrie, die die „neue Gartenstadt“ als Weg der Veränderung für die Einwohner von Katowice aus der Vergangenheit über die Gegenwart bis in die Zukunft hinein vorstellbar werden lassen sollte. Überzeugungskraft verlieh der Narration außerdem ihr Partizipationspotenzial. Die Einwohner wurden auf einer direkten Ebene angesprochen, sich für ihre Stadt einzusetzen. Die Botschaft an die Rezipienten lautete: Beteilige Dich! Nur mit Dir kann Veränderung gelingen! Eingelöst werden sollte das Versprechen von Partizipation und Teilhabe mit dem Entstehen der „neuen Gartenstadt“. Daran lässt sich eine normative Haltung erkennen: Wandel konnte nicht allein durch das einseitige Agieren von Verwaltung und Politik erreicht werden.Veränderung war in der Vorstellung der Narrateure nur dann möglich, wenn die Einwohner selbst aktiv wurden. Die Narrateure schienen überzeugt, dass die Probleme der Gegenwart nur durch eine gemeinsame Anstrengung gelöst werden konnten, weshalb am Aufbau der „neuen Gartenstadt“ alle beteiligt sein sollten: „Die moderne Gartenstadt ist keine utopische Idee. […] In Wirklichkeit ist sie eine ernstzunehmende Herausforderung, der sich die Bürger stellen müssen.“ Letztlich sollte mit dem Entstehen der „neuen Gartenstadt“ ein verändertes Verständnis von Kultur etabliert werden, das auf Partizipation und Interaktion beruhte und ein neues Denken über die Stadt langfristig etablieren sollte: „Kultur meint im wörtlichen Sinne das Anbauen, den Prozess der Schaffung von Wirklichkeit, die Suche nach einem neuen, aktiven, auf sozialer Verantwortung und dem Gleichgewicht zwischen Natur und Zivilisation beruhenden Lebensmodell.“ Die normativen Grundlagen hinter diesem
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Kulturverständnis kamen deutlich zum Vorschein: Dieses ließ sich nur in einem demokratischen System realisieren, das auf Partizipation und Verantwortung für das eigene Tun, aber auch gegenüber anderen, ausgelegt ist. Die Übereinstimmung mit allgemeinen europäischen Grundwerten war hier erneut evident und dem Umstand geschuldet, dass die Gartenstadtnarration Teil eines Antragsdokumentes für eine Europäische Institution war. In der Zusammenschau der einzelnen Aspekte wird deutlich, dass die Gartenstadtnarration in erster Linie als sinnbildende Erzählung für Gegenwart und Zukunft geschaffen wurde. Diese sinn- und orientierungsstiftende Funktion historischen Erzählens hat Jörn Rüsen in Sinnbildungsmuster zusammengefasst. Eine Übertragung dieser Sinnbildungsmuster auf die Gartenstadtnarration ergibt ein disparates Bild; die Narration widerstrebt einer eindeutigen Zuordnung zu einem dieser Muster.¹⁰⁴ Der Ansatz einer exemplarischen Sinnbildung ist dort erkennbar, wo Elemente der Gartenstadt in der Vergangenheit der Stadt herausgearbeitet und für Gegenwart und Zukunft als anschlussfähig dargestellt werden. Damit wird eine Regelhaftigkeit der Geschichte erarbeitet, die aus immer wiederkehrenden, sich grundsätzlich ähnelnden Fällen besteht. Diese Regelhaftigkeit wird jedoch gleich zu Beginn der Narration durch die Feststellung in Frage gestellt, dass die Idee der Gartenstadt in der Gegenwart neu interpretiert wird. Somit wird ein qualitativer Unterschied zwischen den Fällen konstatiert, aus denen überzeitlich geltende Regeln abgeleitet werden sollen. Dieses Vorgehen steht im Gegensatz zur Grundannahme des exemplarischen Erzählens, das davon ausgeht, dass sich im Laufe der Geschichte nichts Wesentliches ändert. Die aus der Vergangenheit anhand einzelner Fälle erschlossenen Regeln könnten in die Zukunft übertragen werden. Hier müssen jedoch zwei Ebenen getrennt werden: Einerseits wurden die „Fälle“ der Gartenstadt in Katowice selbst erst durch die Zuschreibung von Merkmalen einer Gartenstadt auf das historische Phänomen der Siedlung Gieschewald konstruiert, um eine Regelhaftigkeit der Geschichte zu entwerfen. Andererseits distanzierten sich die Urheber der Narration von der Regelmäßigkeit, indem sie die Unterschiede zwischen der Entstehung der Gartenstadt zu Beginn des 20. Jahrhunderts und der Stadt im Strukturwandel am Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich kennzeichneten. Es handelt sich folglich nicht um „Fälle“ der gleichen Art, vielmehr hat eine Entwicklung stattgefunden, die in der Narration anerkannt und gekennzeichnet wird. Der Gedanke einer Entwicklung bildet das Grundmotiv genetischer Sinnbildung, weshalb hier eine Mischform aus exemplarischem und genetischem Erzählen vorliegt.
Die Sinnbildungsmuster sind ausführlich beschrieben in Kapitel . Geschichte: Sinnbildung und Orientierung in der Gegenwart.
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Ferner könnte argumentiert werden, dass es sich bei der Narration um eine Form traditionaler Sinnbildung handelt. Die Setzung, dass Katowice über die Tradition einer Gartenstadt verfüge, die in der Gegenwart nicht nur anschlussfähig sei, sondern in einer adaptierten Form die adäquate Antwort auf ihre drängendsten Probleme darstelle, entspricht der Beschreibung eines Ursprunges. Von diesem ursprünglichen Punkt ausgehend, hat die Idee der Gartenstadt im Verlaufe der Stadtgeschichte unterschiedliche Variationen durchlaufen, auch für die Zukunft wurde ihr Tragfähigkeit attestiert. Um diesen Ursprung als positiven Ausgangspunkt konstruieren zu können, wurde der überwiegende Teil der Vergangenheit von Katowice, vor allem die mit Konflikten, Leid oder Verlusterfahrung konnotierten Aspekte, ausgeblendet. Die Ursprungserzählung gleicht einer Vergewisserung der positiven Elemente der Stadtgeschichte, deren Erfahrungshorizont auf die Zukunft übertragen wurde. Hier liegt das traditionale Element der Erzählung, das sich ausschließlich auf einen ausgewählten Aspekt der Stadtgeschichte konzentriert und diesem bis in die Gegenwart und Zukunft hinein Relevanz zuschreibt. Anhand des Leitmotivs der Gartenstadt wurde eine Kontinuität in der Stadtgeschichte von Katowice konstruiert, derer es in der von schnellen Aufstiegen, Brüchen und Umbrüchen gekennzeichneten Entwicklung mangelt. In der Kontingenz der Gegenwart wird die Vision einer Kontinuität aus der Vergangenheit bis in die Gegenwart und Zukunft geschaffen. Statt die schmerz- und leidvollen Themen der Stadtgeschichte zu adressieren, wurde eine Vision entworfen, die eine positive, „grüne“ Entwicklung für die Stadt bereits in ihrer historischen Entwicklung erkennen lässt. Die Zusammenschau der drei Analyseebenen verdeutlicht, dass die Narration in ihrer Entstehung und angestrebten Wirkung stark von der gegenwärtigen Situation in Katowice inspiriert war, in der Antworten auf die Herausforderungen des Strukturwandels gefunden werden mussten. Die Narration wurde „lösungsorientiert“ angelegt und weist einen deutlich zweckgebundenen Charakter auf. Eine Geschichte über die Vergangenheit wurde nicht erzählt, um aufzuklären, zu reflektieren oder Rechenschaft über bestimmte vergangene Entwicklungen abzulegen; Geschichte wurde vielmehr gebraucht, um eine eindeutige Botschaft für die Gegenwart zu formulieren. Dafür war der historische Rekurs auf die „Gartenstadt Gieschewald“ notwendig, der einer doppelten bzw. in Parallelen angelegten Logik folgte: Er sollte aufzeigen, dass die bisher erzählten Geschichten über die Stadt nicht die einzig möglichen waren und Alternativen dazu offenlegen. Das Denken in Alternativen über die Vergangenheit sollte wiederum neuartige Vorstellungen über Gegenwart und Zukunft der Stadt inspirieren: Wenn Alternativen zur Frage der Herkunft und Entwicklung der Stadt denkbar und möglich waren, musste es diese auch in der Gegenwart geben.
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Die Analyse zeigt jedoch auch, dass die empirischen Bausteine der Geschichte (empirische Triftigkeit) sowie das Bedürfnis der Narrateure, sie argumentativ sinnvoll zu verbinden und zu kontextualisieren (narrative Triftigkeit), trotz des hoch gesteckten Anspruches der Veränderung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nur in Ansätzen erkennbar waren. Das Erzählen einer empirisch belastbaren und in sich stimmigen Geschichte war folglich nicht das Hauptanliegen bei der Entstehung dieser Narration. Diese Diagnose ist auf den Entstehungskontext der Narration als Teil einer Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas und somit als Imagekampagne zurückzuführen. Unter diesen Entstehungsbedingungen mussten eindeutige Botschaften für die Gegenwart und Zukunft formuliert werden, die Validität der erzählten Geschichte rückte stärker in den Hintergrund. Gerade aus diesem Grund ist es bemerkenswert, dass die Narrateure in ihrer Narration nicht auf bewährte und bestehende Sinnbildungsmuster über die Stadtgeschichte zurückgegriffen haben, sondern völliges Neuland betraten.¹⁰⁵ So wäre beispielsweise eine Reinterpretation des in vielfältiger Form vorfindbaren industriellen Erbes der Stadt denkbar gewesen, um es in der Gegenwart anschlussfähig zu machen. Vorläufer für den Weg eines kreativen Umganges mit postindustriellen Stätten bestanden in der vergleichbaren Region des Ruhrge Auch andere Städte, die den Titel Kulturhauptstadt Europas inne hatten, nutzten den Bewerbungsprozess sowie das anschließende Kulturhauptstadtsjahr, um sich von ihrer Vergangenheit deutlich zu distanzieren und eine Neuverortung in der Gegenwart zu fokussieren. Der Imagewandel des österreichischen Linz, das im Jahr Kulturhauptstadt Europas war, sollte die Stadt von einem Schwerindustriestandort und Hitlers „Lieblingsstadt“ zu einem „Schaufenster für die Vielfalt Europas“ machen. Die parallele Kulturhauptstadt des Jahres , Vilnius, hat versucht, sich von ihrem „postsozialistischen Erbe [zu] verabschieden und von der Peripherie ins Zentrum zeitgenössischer Kunst und Kultur in Europa“ zu rücken. Vgl. Therese Kaufmann: Jenseits des visibility-Mantras. Transnationale Kulturpolitiken, URL http://future-nonstop.org/c/ cdaccced (Zugriff . . ). Dieser allgemeinen Einschätzung, dass der Titel Kulturhauptstadt Europas zu einer Neupositionierung bzw. der Etablierung eines neuen Images von Städten genutzt wird, kann zugestimmt werden. Jeder Einzelfall bedarf dennoch einer genauen Untersuchung. In Linz hat man etwa versucht, mit einer Ausstellung die Pläne Adolf Hitlers zum Ausbau der Stadt als europäische Kulturstadt zu thematisieren und sich mit diesem Teil der Stadtgeschichte bewusst auseinander zu setzen. Vgl. Birgit Kirchmayr: Kulturhauptstadt des Führers. Kunst und Nationalsozialismus in Linz und Oberösterreich. Linz . In Vilnius wurde im Jahr ein Teil des im Jahr nach der Eingliederung Litauens ins russische Zarenreich endgültig zerstörten und nunmehr nachgebauten Schlosses des litauischen Großfürsten für die Öffentlichkeit eröffnet. Der Wiederaufbau des Schlosses hat sicher nichts mit Imagebildung zu tun, es handelt sich vielmehr um den Versuch der Stärkung einer litauischen nationalen Identität, indem an die Geschichte Litauens in der Frühen Neuzeit angeknüpft wurde. Vgl. Arnold Bartetzky: Hauptsache, die historische Anmutung stimmt: Steinerne Selbstentschädigung – Zweihundert Jahre nach der Zerstörung wurde in Vilnius das Schloss der litauischen Großfürsten nachgebaut, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom . . .
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bietes und der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas der Stadt Essen stellvertretend für das Ruhrgebiet spätestens seit dem Jahr 2010. Zudem gab es gute Verbindungen und einen regen Erfahrungsaustausch zwischen den Antragstellern aus Katowice und den Verantwortlichen der Kulturhauptstadt Ruhr 2010 in Essen. Eine Thematisierung des postindustriellen Erbes hätte einen starken Bezug zu Vergangenheit und Gegenwart von Katowice aufgewiesen. Doch scheinbar waren die Antragsteller in Katowice auf der Suche nach einem gänzlich neuen Ansatzpunkt, um in der Gegenwart der Stadt Veränderungen möglich zu machen. Das verdeutlicht ferner der Blick auf die Analyse der Sinnbildungsmuster: Mit der „neuen Gartenstadt“ wurde versucht, einen neuartigen Identitätsentwurf zu lancieren und ihm historische Geltung zu verleihen. Es handelte sich dabei nicht um Identitätssicherung auf historischer Grundlage, vielmehr wurden gänzlich neue identitätsrelevante Angebote geschaffen und öffentlichkeitswirksam in Szene gesetzt. Blickt man abschließend noch einmal auf das Bewerbungslogo und den feinen Strich, der die bunte Stadtsilhouette von der schwarzen Schicht im unteren Teil trennt, scheint der Gedanke eines Schlussstriches nicht mehr abwegig. Die industrielle und auf Bergbau basierende Vergangenheit der Stadt schien bei der Imagekampagne in der Gegenwart in keiner Weise anschlussfähig.
Analyseebene II: Das Geschichtsbewusstsein der Narrateure Die Analyse der Triftigkeiten einer Narration beruht auf der Untersuchung der Textstruktur, der im Text angelegten Argumentationsverläufe und -muster sowie dem Entstehungskontext. Eine weitere Untersuchungsebene bezieht die Einstellungen, Haltungen und Prägungen der Narrateure selbst als Einflussfaktor auf Inhalt und Form der Narration mit ein. Das Geschichtsbewusstsein der Urheber kann daher als „Rückraum“ einer Narration betrachtet werden, der auf ihre Genese erheblichen Einfluss hat. Weiterführende Antworten auf die Frage, warum die Kulturhauptstadtsakteure einen so selektiven Blick in die Vergangenheit warfen, kann daher die Analyse ihres Geschichtsbewusstseins liefern. Maßgeblichen Einfluss auf das Geschichtsbewusstsein hat das Geschichtsverständnis, ein Konzept das sich aus den theoretischen Annahmen darüber zusammensetzt, was Geschichte ist, welche Rolle sie in der Gegenwart spielt, wie sie entsteht und funktioniert bzw. wirkt. Das Geschichtsverständnis wird hauptsächlich durch persönliche Erfahrungen und das Umfeld geprägt, in dem Menschen sozialisiert werden und sich bewegen. Eine der aufschlussreichsten Informationen aus den Interviews ergab sich deshalb aus der Zusammenschau der biografischen Angaben der Interviewpartner. Diese waren entweder durch Geburt,
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Kindheit und Jugend, das Studium oder langjährige Berufspraxis intensiv mit Katowice oder Oberschlesien verbunden. Sie waren mit der komplexen Gemengelage der Gegenwart, aber auch den zentralen Fragen der Vergangenheit vor Ort aus dem informell-familiären oder dem beruflichen Umfeld vertraut.¹⁰⁶ Sie zählten bis auf die beiden Leiter, die mittleren Alters waren, zu einer im Entstehen begriffenen jungen und kreativen Elite der Stadt¹⁰⁷, die kurz vor oder nach ihrem Hochschulabschluss in geisteswissenschaftlichen Fächern an der Schlesischen Universität oder der Akademie der Schönen Künste in Katowice standen. Es waren junge Menschen, die mit der Stadt verbunden waren und sich für ihre Entwicklung einsetzten, weil sie ihre Lebensperspektive in der Stadt bzw. Region sahen.¹⁰⁸ Ihre Einstellungen und Haltungen zur Stadt haben sie aus eigener Anschauung ge-
Das ist nicht selbstverständlich. In der an der deutsch-polnischen Grenze gelegenen Doppelstadt Görlitz/Zgorzelec, die seit durch die Neiße als Grenzfluss in zwei Hälften geteilt ist, wurde die Kulturhauptstadtsbewerbung für das Jahr beispielsweise nicht von einheimischen Kulturschaffenden, sondern von westdeutschen Zugezogenen gesteuert. Diese neue regionale Elite hatte es sich zum Ziel gesetzt, ein grenzüberschreitendes Bewusstsein in Görlitz und dem auf dem anderen Neißeufer gelegenen Zgorzelec zu installieren. Der Veränderungsdruck der neuen regionalen Eliten überging dabei die Erfahrungen der eingesessenen Görlitzer Bevölkerung und ignorierte Kontinuitäten im Verhältnis der Einwohner von Görlitz und Zgorzelec zueinander. Ein Grund für das Scheitern der Kulturhauptstadtsbewerbung wurde darin gesehen, dass die transnationale Logik der Ideengeber, die Görlitz/Zgorzelec als „Europastadt“ in Szene setzen wollten, den lokalen Erfahrungs- und Erinnerungshorizonten der Einwohner widersprach. Die neuen regionalen Eliten wurden zunehmend ausgegrenzt, damit scheiterten jedoch auch viele deutschpolnische Projekte, die von den „Zugezogenen“ auf lokaler Ebene zur Umsetzung angeregt wurden. Vgl. Franziska Becker: Grenzüberwindung und Geschichtspolitik an der deutsch-polnischen Grenze, in: Thomas Hengartner/Johannes Moser (Hg.): Grenzen und Differenzen. Zur Macht sozialer und kultureller Grenzziehungen. . Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde Dresden . Leipzig , S. – . Auf die Schwierigkeiten der Herausbildung einer intellektuellen Elite in Katowice wurde in der Einleitung und dem Kapitel . Dynamiken einer Transformation nach verwiesen. Aus den Interviews wird deutlich, dass die Mitarbeiter des Bewerbungsbüros die Chance sahen, in Katowice etwas Außergewöhnliches zu realisieren: „[…] Jesteśmy w stanie odważne idee realizować i w odważny sposób jakby patrzeć na miasto, proponować takie rozwiązania, które nie są oczywiste.“ ([…] Wir sind in der Lage, mutige Ideen umzusetzen und auch auf eine mutige Art auf die Stadt zu blicken und Lösungen vorzuschlagen, die nicht selbstverständlich sind.) Zusammen mit Aussagen wie „identyfikuję się z tym regionen“ (Ich identifiziere mich mit der Region) lässt sich das Motivationsschema der Mitarbeiter gut erschließen. Beide Zitate stammen aus dem Interview mit Karol Piekarski, Mitarbeiter der Programmabteilung des Bewerbungsbüros um den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai , Transkript S. . Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin.
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wonnen. Sie sind keine Zugezogenen, die für die Bewerbungskampagne von außen angeworben wurden, um der Stadt ein neues Image zu verleihen. Das Geschichtsverständnis einer Person lässt sich unter anderem aus der Differenzierung der beiden Begriffe Vergangenheit und Geschichte¹⁰⁹ erschließen. Befragt danach, ob sie einen Unterschied zwischen den beiden Termini erkennen können, kamen die Imagemacher übereinstimmend zu dem Schluss, Geschichte sei etwas in hohem Maße Abstraktes und vom Menschen in der Gegenwart Konstruiertes. Schwerer fiel es hingegen den meisten, dem Begriff Vergangenheit eine genaue Bedeutung zu verleihen. Im Gegensatz zur schwach ausgeprägten Vorstellung darüber, was Vergangenheit ist, verfügten alle Befragten über weitreichende Definitionen von Geschichte. Stellvertretend soll das an einigen aussagekräftigen Passagen der Interviews nachvollziehbar gemacht werden. Der Leiter der Programmabteilung des Bewerbungsbüros beschrieb den Unterschied zwischen Vergangenheit und Geschichte wie folgt: Geschichte ist die Art, in der wir beschreiben oder uns vorstellen, was gewesen ist. Sie ist eine Art Narration und der Versuch einer Ordnung des vergangenen Geschehens. Geschichte ist schon eine Art menschlichen Handelns, also nicht das, was passiert ist. […] Vergangenheit ist das, was in Wirklichkeit passiert ist.¹¹⁰
Während er die Vergangenheit als gegebene Größe, als unberührtes Reservoir des wirklich Geschehenen ansah, wies er der vom Menschen zu bestimmten Zielen konstruierten Geschichte eine ordnende Funktion für die Fülle der vergangenen Ereignisse zu. Diese ordnende Funktion verleihe Geschichte gleichzeitig Züge des Fiktiven und Subjektiven, denn sie könne nie die Gesamtheit dessen „was in Wirklichkeit passiert ist“ abbilden. Seine Mitarbeiterin Elżbieta Owczarek ging noch einen Schritt weiter und vertrat einen konstruktivistischen Standpunkt sowohl gegenüber Geschichte als auch der Vergangenheit. Sie war auch den Quellen gegenüber kritisch, die Informationen aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportieren: Früher dachte man, Geschichte sei eine exakte Wissenschaft, man glaubte, dass die Geschichte die Vergangenheit richtig wiedergibt. Die Menschen hatten großes Vertrauen in Quellen, Überlieferungen und Chroniken. […] Heute sehen wir in der Geschichte Elemente der Literatur, also des Fiktiven. […] Geschichte ist keine objektive Wissenschaft, sie ist subjektiv in dem Sinne, dass immer eine Person erzählt.¹¹¹
In der polnischen Sprache funktioniert die Differenzierung zwischen den beiden Begriffen analog zum Deutschen. Vergangenheit wird als przeszłość, Geschichte als historia übersetzt. Vgl. Interview Piekarski, Katowice, , Transkript S. . Hervorhebungen JT. Vgl. Interview Owczarek, Katowice, , Transkript S. .
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Beide Beispiele stehen exemplarisch für das Bewusstsein über den Konstruktcharakter und die Perspektivität von Geschichte, das unter allen Befragten in ähnlicher Weise ausgeprägt war. Der geschäftsführende Leiter, Piotr Zaczkowski, verband mit dieser Auffassung von Geschichte eine ambivalente, teilweise emotional-negative Konnotation. Sein Unbehagen an Geschichte führte er auf die Möglichkeit der Manipulation und Einflussnahme zurück: Geschichte ist etwas, das ich aus der Perspektive von Werten beschreibe. Oder anders: Jede Geschichte ist eine manipulierte Geschichte. […] Geschichte begegnet uns immer schon in einer bestimmten Gestalt, in einer Form, die von jemandem bearbeitet wurde. […] Sie beschreibt etwas aus Sicht derjenigen, die diese Geschichte formulieren.¹¹²
Dass der Begriff Geschichte bei den Befragten überwiegend negativ besetzt war, drückte sich ferner in der Attributierung in den anderen Interviews aus, wenn der Begriff im Zusammenhang mit „Belastung“¹¹³ und „Zweifeln“ genannt, als „unglaubwürdig“ und „heikel“¹¹⁴ bezeichnet wurde. Elżbieta Owczarek fasste das wie folgt zusammen: „Geschichte ist etwas, woran wir bestimmte Zweifel haben“.¹¹⁵ Der geschäftsführende Leiter ging noch weiter und sprach von „Angst“ im Zusammenhang mit Geschichte: Die einzig sinnvolle Weise, über Geschichte zu sprechen, ist zu sagen, dass ich Angst hätte, über Geschichte nachzudenken. Ich hätte Angst über Geschichte nachzudenken, gegen eine solche Geschichte zu sein, die uns etwas vorschreibt oder gegen ein Denken, das uns vorgeschrieben wird.¹¹⁶
Die Brüche innerhalb der logischen Struktur des Satzes verliehen seiner ambivalenten Einstellung zu Geschichte besonders deutlich Ausdruck. Seine Abneigung gegenüber Geschichte schien aus der in ihr angelegten Festschreibung einer bestimmten Sicht auf Vergangenheit und Gegenwart zu resultieren. Besonders interessant sind diese Aussagen unter Berücksichtigung der Tatsache, dass Piotr Zaczkowski ausgebildeter Geschichtslehrer war und vor seiner Tätigkeit im Bewerbungsbüro in diesem Beruf gearbeitet hat. Die Ausbildung als Geschichtslehrer kam im weiteren Verlauf des Gespräches an einigen Stellen zum Ausdruck. So etwa, wenn er sich gegen eine Geschichtsauffassung aussprach, die allein Daten und Fakten vermittelt und Ereignisse mit einer bestimmten Deutung ver-
Vgl. Interview Zaczkowski, Katowice, , Transkript S. . Ebd., S. . Vgl. Interview Owczarek, Katowice, , Transkript S. . Ebd., S. . Vgl. Interview Zaczkowski, Katowice, , Transkript S. f.
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sieht, um aus ihnen eine unhinterfragbare Wahrheit abzuleiten. Als Beispiel eines solchen Vorgehens nannte er die in der polnischen Geschichtsschreibung zum nationalen Mythos avancierte Schlacht von Racławice. Anhand der Darstellung der Schlacht hob er die Ambivalenzen hervor, die ihn im Umgang mit Geschichte störten: Die Schlacht von Racławice war eine große Schlacht, die das Schicksal der Polen veränderte. Das hat sie nicht, denn es handelte sich nur um ein kleines Gefecht. Groß war die Schlacht nur in den Kategorien nationaler Mythen. Denn in dem Moment, als schon alles misslungen war, musste man einen Mythos erfinden, der uns Glauben machte, dass wir eine Schlacht gewonnen hatten.¹¹⁷
Anstelle der Festschreibung von historischen Ereignissen in einem nationalen Kanon sollte das Ziel einer jeden Beschäftigung mit Geschichte aus seiner Sicht „historisches Denken“ sein. Darin sah er auch den „einzige[n] Grund, Geschichte zu unterrichten“.¹¹⁸ Seine Vorstellungen zur Funktion von Geschichte richteten sich dezidiert gegen die Vermittlung einer „Faktensammlung, aus der die Wahrheit spricht“, und in diesem Verständnis sei „Geschichte sehr wichtig“.¹¹⁹ Unmittelbar im Anschluss fragte Zaczkowski jedoch, ob wir nicht in einer „posthistorischen Epoche leben“ in der „Geschichte überhaupt keine spezielle Bedeutung hat.“¹²⁰ Es sind diese Ambivalenzen der Aussagen über Geschichte, die Piotr Zaczkowski im Verlauf des
Ebd., S. . Die Schlacht von Racławice, ein kleiner Ort etwa Kilometer nordöstlich von Krakau gelegen, fand am . April statt. Dabei standen sich polnische und russische Streitkräfte gegenüber. Die russischen Streitkräfte befanden sich auf polnischem Territorium, da Russland und Preußen im Jahr in einem Vertrag die zweite Teilung der polnisch-litauischen Adelsrepublik beschlossen hatten. Der polnische Befehlshaber Tadeusz Kościuszko ging bei der nicht geplanten Schlacht geschickt gegen die russischen Truppen vor und gewann diese. Eigentlich befand sich Kościuszko mit seinen Truppen auf dem Weg nach Warschau, um die russischen Besatzer aus der Stadt zu vertreiben. Militärisch war dieser Sieg gänzlich bedeutungslos und führte sogar dazu, dass Kościuszko seinen Marsch nach Warschau nicht fortsetzen konnte und nach Krakau zurückkehrte. Psychologisch war er jedoch von entscheidender Bedeutung, da im Anschluss die Warschauer Bevölkerung mit Hilfe des Militärs die russischen Besatzer vertrieb. Trotz des Aufstandes in Warschau gelang es nicht, die russischen Truppen gänzlich von polnischem Territorium zu vertreiben, und die dritte, letzte Teilung Polens zwischen Russland, Preußen und Österreich-Ungarn im Jahr zu verhindern. Vgl. Hans Hecker: Nutzloser Sieg mit großer Wirkung: die Schlacht bei Racławice (. April ). Ein heroischer Mythos im polnischen Nationalbewusstsein, in: Gert Krumeich/Susanne Brandt (Hg.): Schlachtenmythen. Ereignis – Erzählung – Erinnerung. Köln , S. – , hier S. f. Vgl. Interview Zaczkowski, Katowice, , Transkript S. . Ebd., S. . Ebd., S.
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Interviews zum Ausdruck brachte, die es für eine Analyse seines Geschichtsbewusstseins so interessant machen. Als Geschichtslehrer hatte er eigentlich einen positiv besetzten Geschichtsbegriff, der unter dem Stichwort historisches Denken zur Selbstreflexion auffordert und den Einzelnen in die Lage der Kritikfähigkeit versetzten sollte. Dennoch überwog in seinen Aussagen eine negative Konnotation von Geschichte. Diese schien aus einer Diskrepanz zwischen seinen Vorstellungen über Geschichte als historischem Denken und dem gegenwärtig zu beobachtenden Umgang mit Geschichte zu resultieren. Diese distanzierte Haltung gegenüber Geschichte teilten, wie oben gesehen, die meisten anderen Interviewten. Geschichte schien für die Befragten keine Kategorie zu sein, aus der sie tragbare und belastbare Antworten auf die Herausforderungen ihrer gegenwärtigen Situation ableiten konnten. Gänzlich ausblenden ließ sich Geschichte andererseits jedoch nicht, schließlich sei sie „ein wichtiges Element der Identität“.¹²¹ Dieses ambivalente, ins Negative tendierende Verhältnis zu Geschichte könnte noch anhand zahlreicher weiterer Beispiele aus den Interviews belegt werden. Die hier dargestellte Auswahl soll zur Illustration ausreichen. Der Befund einer ambivalenten Einstellung zu Geschichte deckt sich auch mit den Ergebnissen der Triftigkeitsanalyse. Das aus den historischen Kontexten gelöste Konstruieren einer Geschichte von Katowice als „neuer Gartenstadt“ lässt sich mit der Einstellung der Narrateure erklären, Geschichte sei ein zu bestimmten Zielen und auf Grundlage bestimmter Werte formulierter Blick aus der Gegenwart in die Vergangenheit. Die Überzeugung, dass Geschichte stets den Bedürfnissen der Gegenwart anpassbar ist, lässt sich aus der Konstruktion der Geschichte von Katowice als Gartenstadt deutlich herauslesen. Diese Überzeugung führte bei den Befragten jedoch nicht zur gänzlichen Beliebigkeit in Bezug auf Geschichte, bestand doch unter ihnen ein Konsens darüber, dass Geschichte in der Gegenwart gebraucht werde, um neue Identität zu stiften. Ein Neuanfang, eine Zukunftsvision ohne historische Verankerung war für die Befragten nicht denkbar. In der Zusammenschau dieser ambivalenten Aussagen über Geschichte lässt sich feststellen, dass sie in der Perspektive der Interviewten zwar gebraucht wird, um in der Gegenwart glaubwürdig argumentieren zu können. Die Möglichkeit einer Selbstaufklärung oder tiefgreifender historischer Reflexion verbanden die Befragten mit dem Begriff Geschichte jedoch nicht. Geschichte stellte sich für sie eher als Mittel zum Zweck dar, das konstruiert werden kann, wenn der Bedarf danach besteht. Für die Beschreibung des Geschichtsbewusstseins der Narrateure war ferner von Relevanz, wie sie die Zeitebenen Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft
Vgl. Interview Piekarski, Katowice, , Transkript S. .
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aufeinander bezogen. Die Interviews verdeutlichen dazu eine übereinstimmende Tendenz. Die Befragten waren zwar der Meinung, es gäbe Zeitabschnitte in der Geschichte der Stadt, die für ihre Entwicklung von Bedeutung waren, die Gegenwart hingegen kategorisierten alle Interviewpartner als etwas, das sich gänzlich von der Vergangenheit unterscheidet, als grundlegend neu- und andersartig. Nach Ansicht der Befragten hob sich die Gegenwart in einer Art von der Vergangenheit ab, die Vergleiche unzulässig erscheinen ließ. Diese strikte Trennung von Gegenwart und Vergangenheit charakterisierte nicht nur die Art, wie die Befragten ihre Gegenwart wahrnahmen. Sie ist auch ein Indiz für ihre Einstellung zur Vergangenheit. Der bereits mehrfach erwähnte Befund, dass die Narrateure die Vergangenheit nicht als Reservoir ansahen, das Ansatzpunkte für Antworten auf ihre gegenwärtigen Fragen bereithielt, hat hier seinen Ursprung. So war allein Karol Piekarski in der Lage, historische Vorläufer der gegenwärtigen Situation in der Stadtgeschichte konkret zu benennen: Das ist eigentlich ganz klar […] die Zwischenkriegszeit. Und wenn man die Investitionen noch mit einbezieht, dann kann man ganz sicher noch die 1960er und 1970er Jahre mit hinzuzählen, auch wegen der wichtigen Veränderungen in der urbanen Struktur der Stadt. Diese beiden Zeiträume haben die Stadt und ihren Charakter geprägt. Und ich glaube, dass das,was heute passiert, in gewisser Weise diesen historischen Momenten der Geschichte der Stadt entspricht.¹²²
In Karol Piekarskis Denken lassen sich Ansätze der theoretischen Überlegungen Jörn Rüsens wiederfinden. Denn für die Herausforderungen der Gegenwart fand er in der Vergangenheit Vorläufer oder Anknüpfungspunkte, auf die er sich bezog. Dennoch blieb in den Ausführungen Piekarskis unbegründet, warum die beiden genannten Zeiträume einen Vergleich zur Gegenwart zulassen. Angedeutet wurde von ihm das Ausmaß der Veränderung im urbanen Gefüge der Stadt in den 1960er und 1970er Jahren, das Piekarski in der Gegenwart als ähnlich weitreichend bewertete. Unartikuliert vorausgesetzt hat er hingegen, dass die Gemeinsamkeit der beiden vergangenen Zeitabschnitte mit der Gegenwart darin bestand, dass Katowice eine polnische Stadt war bzw. ist. Die Zugehörigkeit zu Polen schien für Piekarski eine gesetzte Grundlage für die Vorstellung einer Kontinuität der städtischen Entwicklung zu sein. Seine Mitarbeiterin Elżbieta Owczarek sah die Situation anders und fasste ihre Sicht auf die Verbindung der Zeitebenen wie folgt zusammen: Es gibt keinen Zeitabschnitt, der mit der Gegenwart vergleichbar wäre. Es gibt ähnliche, gleiche Elemente zur Gegenwart, zum Beispiel, dass Katowice immer offen für Experimente
Ebd., S. .
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war. […] Historische Städte wir Krakau oder Breslau hätten bestimmte architektonische Realisierungen gar nicht zugelassen, wie man sie bei uns mit Erfolg umgesetzt hat. Bei uns konnte man das erfolgreich umsetzen, weil die Stadt immer offen war für Innovationen. Und solche Elemente aus der Vergangenheit wiederholen sich. Aber die Probleme oder die heutige Situation in Katowice ist nicht vergleichbar. Es hat sich in der Welt und in Polen so viel politisch, wirtschaftlich und im System verändert. Das ist einfach zu nichts vergleichbar. […] Besonders wenn man die neuen Medien mit einbezieht, das ist mit nichts vergleichbar. […] Die Art der Kommunikation und der Informationsfluss ist so wichtig, ich glaube, eine solche Situation hat es bisher noch nie gegeben.
Obwohl Elżbieta Owczarek den Vergleich mit anderen Zeitabschnitten in der städtischen Entwicklung ablehnte, bezog sie die Zeitebenen insofern aufeinander, als sie die Offenheit für Innovation und Experimente als übergreifende Typisierung für die Entwicklung der Stadt definierte. Diese war für sie sowohl in der Vergangenheit, als auch in der Gegenwart von Bedeutung. Das verdeutlicht, dass die Befragte über eine ausgeprägte Vorstellung von sowie vielfältiges Wissen über die Vergangenheit der Stadt und ihre historische Entwicklung verfügte. Sie machte begründete Aussagen über die Vergangenheit und setzte sie stets in Bezug zur Gegenwart. Die ambivalente Einstellung zu Geschichte und dem Umgang mit Geschichte kommt dennoch auch an dieser Stelle zum Vorschein. Ihre Aussage zur grundlegenden Verschiedenheit der Gegenwart von der Vergangenheit der Stadt ist nicht als ahistorische Verortung der Jetztzeit außerhalb eines Bezugssystems zu Vergangenem zu verstehen. Sie kann vielmehr als Ausdruck eines Wunsches nach einem bewussten Neuanfang gedeutet werden. Diesen Neuanfang bezog Owczarek jedoch nicht auf ein Abschneiden der Vergangenheit von der Gegenwart. Der Wunsch nach einem Neuanfang bezog sich vielmehr auf eine kritische Durchsicht bestehender Geschichtsbilder über die Stadt, die sich hauptsächlich auf nationale Interpretationen stützten. Elżbieta Owczareks Anliegen war es, sowohl die Gegenwart als auch die Vergangenheit von diesem stereotypen Blick zu befreien. Ihr Weg dahin bestand in der Ausarbeitung eigener Deutungsangebote zur Interpretation der Vergangenheit. Innovation und Experimentierfreudigkeit waren ihre Kategorien, die sie sowohl für die Beschreibung der Vergangenheit als auch der Gegenwart von Katowice für angemessen hielt. Mit diesem Ordnungsprinzip setzte sie sich über die gängigen Interpretationen der Vergangenheit in nationalen Kategorien hinweg. Ihre Kategorien standen für Offenheit und Integration und legten eine Vielzahl von Sichtweisen auf vergangenes Geschehen frei. Denn Vergangenheit und Geschichte der Stadt waren für Elżbieta Owczarek wichtige Faktoren, auf die sie immer wieder zu sprechen kam: In dieser Stadt ist Geschichte wie an kaum einem anderen Ort sichtbar, manchmal sogar sehr brutal. Unsere Stadt ist nicht direkt schön und zwar genau deshalb, weil sie vielfältige his-
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torische Erfahrungen gemacht hat. Der sozialistische Realismus hatte es sich hier zum Beispiel bequem gemacht. […] Aber in Katowice war es eben immer schon möglich, dass neue Dinge entstanden und experimentiert wurde. Deshalb haben wir ja so viele historische Spuren.¹²³
Zum wiederholten Male führte sie ihre Ordnungskategorie Innovation und Experiment aus und verdeutlichte daran, dass die Vergangenheit von Katowice in vielfältiger Weise interpretierbar sei. Es war ihr Plädoyer und gleichzeitig ihr eigener intellektueller Versuch einer Öffnung und Erneuerung des Geschichtsbildes der Stadt. Der geschäftsführende Direktor, Piotr Zaczkowski, machte seinen Standpunkt bezüglich einer Verbindung der Zeitebenen in komprimierter Weise deutlich: Hier hat es immer bestimmte Konflikte, Antagonismen und Streit gegeben […] Aus der Perspektive unseres Projektes hat das alles keine Bedeutung. […] Das ist ein Projekt, das unabhängig von der lokalen Spezifik einen universellen Schlüssel für weitere neue Projekte beinhaltet.¹²⁴
Er verdeutlichte damit ein weiteres Mal, dass er die Geschichte des Ortes als belastend empfand. Sein Anliegen war es, dieser belastenden Vergangenheit etwas gänzlich Neues entgegenzusetzen. Er wollte sich über die komplizierte Vergangenheit, die er als regionale Spezifik beschrieb, hinwegsetzen und mit dem Projekt „neue Gartenstadt“ ein universelles Angebot für einen Neuanfang der Stadt wagen. Ähnlich äußerte sich der künstlerische Leiter Marek Zieliński. Er sah sich in der Gegenwart eher lose mit der Vergangenheit verbunden. Als wichtige Epochen der städtischen Entwicklung nannte er die Etappe vor dem Ersten Weltkrieg sowie die Zwischenkriegszeit, denn „die Stadt hat sich damals dynamisch entwickelt und ihren Charakter herausgebildet“. Dennoch unterscheide sich die Gegenwart maßgeblich von der Vergangenheit, was er mit dem Bild beschrieb, dass „man […] nicht zweimal in den gleichen Fluss steigen“¹²⁵ könne. Neben dem Geschichtsverständnis und dem Bezugssystem der Zeitebenen ist die persönliche Motivation, sich mit Geschichte zu beschäftigen, ein zentrales Element der Analyse des Geschichtsbewusstseins. Dabei ist es wichtig, den Handlungsrahmen der Narrateure als Antragsteller für einen europäischen Kulturwettbewerb sowie als Imagemaker präsent zu behalten. Die Befragten setzten sich nicht als professionelle Historiker mit Geschichte auseinander, sie waren
Vgl. Interview Owczarek, Katowice, , Transkript S. . Vgl. Interview Zaczkowski, Katowice, , Transkript S. . Beide Zitate vgl. Interview Zieliński, Katowice, , Transkript S. .
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vielmehr Akteure auf dem Feld der Geschichtskultur. Insofern fühlten sie sich weniger an das Kriterium empirischer Triftigkeit gebunden, als es der wissenschaftlich regulierte Umgang mit Vergangenheit einfordert. Für sie stand das Produzieren wirksamer und tragfähiger Bilder im Mittelpunkt, nicht die wissenschaftlich geregelte Erkenntnis über die Vergangenheit. So bezog etwa Karol Piekarski die Motivation, sich mit Geschichte zu beschäftigen, aus dem Wunsch, die Gegenwart in Katowice zu verändern und Lösungsansätze für verbesserte Entwicklungsmöglichkeiten der Stadt zu kreieren. Sein Ziel bestand darin, das Bild von Katowice als Industriestandort möglichst bald und nachhaltig zu verändern. An eine „große Revolution“ glaubte er jedoch nicht; vielmehr setzte er auf eine Taktik der kleinen Schritte und eine kontinuierliche Verbesserung des Lebensstandards. Die Themen Bildung, Infrastruktur und der Ausbau der Innenstadt, mithin die Bildung eines Zentrums am Marktplatz standen für ihn im Vordergrund: „Ich denke, Bildung und ein langfristiges Denken über die Wirklichkeit, das ist es, was Katowice braucht.“¹²⁶ Viel zugespitzter, aber auch in entsprechend verkürzter Weise, beschrieb der künstlerische Leiter, Marek Zieliński, seine Handlungsmotivation: „Irgendwie schien mir die Idee der Gartenstadt in Bezug auf Katowice so falsch und hinterhältig, aber auch irgendwie ein bisschen mythisch. Sie verändert die Meinung gänzlich, und gleichzeitig […] ist sie wie eine Metapher.“ Auch in dieser Passsage wurde der Wunsch deutlich, die Gegenwart gezielt und nach eigenen Vorstellungen zu verändern. Während Karol Piekarski eine schrittweise Verbesserung der realen Lebensbedingungen der Menschen in Katowice anstrebte, nahm Marek Zieliński den großen Wurf einer grundlegenden Veränderung in Angriff. Die darin angelegte Ironie, etwas umzusetzen, was eigentlich gar nicht zu den Realia des Ortes passte, lässt sich unter dem Gesichtspunkt der Handlungsmotivation als Herausforderung beschreiben. Das Denken in Herausforderungen war auch dort deutlich, wo er davon sprach, eine „futuristische Vision der Stadt“ entwerfen zu können. Die Bewerbung als Kulturhauptstadt im Jahr 2016 schien für ihn dabei nicht das ausschlaggebende Datum zu sein, er dachte langfristig: „Mir schien, ein solches Projekt müsse auf die Jahre 2030 bis 2040 ausgerichtet sein.“ Sein Denken und Handeln zielte auf grundlegende Änderungen in der Stadt, die er nicht in die nahe, sondern eine ferne Zukunft datierte. Er arbeitete an einer langfristigen Vision, die konkrete Gestaltung der nahen Zukunft gehörte nicht in seinen Interessensbereich. Die Inspiration für seine „futuristische Vision der Stadt“ fand er im New Yorker Central Park, den er als „mythische Insel“ wahrnahm. Der Central Park als Referenzpunkt einer green city mündete schließlich in seiner Vorstellung
Vgl. Interview Piekarski, Katowice, , Transkript S. .
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von Katowice als Gartenstadt. Das korrespondierte mit dem zentralen Motiv im Gespräch mit Marek Zieliński – der Suche nach neuen, außergewöhnlichen Aspekten in Katowice, die sich zu Marketingzwecken einsetzen ließen. Katowice war daher in seiner Vorstellung nicht nur eine Gartenstadt unter vielen. Sie sei die erste, die die ursprünglich aus England stammende Idee auf dem europäischen Festland umgesetzt habe: In England, wo die Idee [der Gartenstadt, JT] von Howard erfunden wurde, wurde sie nur in einem Projekt umgesetzt. Die ersten Projekte auf dem Kontinent wurden in Katowice umgesetzt. […] Erst danach folgten die nächsten Realisierungen in Europa, vor allem in Deutschland, in der Nähe von Berlin und Dresden.
An dieser Stelle lohnt es sich, die Befunde der empirischen Triftigkeitsprüfung erneut vor Augen zu führen. Die Vorstellung von Katowice als Gartenstadt, hier noch gesteigert durch die Betonung der ersten Gartenstadt auf kontinentaleuropäischem Boden, haben demnach in den Ansichten Zielińskis ihren Ursprung. Empirisch waren die Postulate von Marek Zieliński nicht belastbar, bestimmten und begründeten aber die Narration von Katowice als Gartenstadt.¹²⁷ Dass es ihm als künstlerischem Leiter nicht um empirisch-historische Nachvollziehbarkeit seiner Ideen und auch nicht um konkret planbare Veränderungen in der Stadt ging, machte er selbst immer wieder deutlich: Von Anfang an habe ich gesagt, dass es nicht um die Errichtung irgendwelcher Gärten geht. Das ist nur ein Slogan […] Es ist eine Art Phantasiestadt, bei der es um die Gärten in den Köpfen geht. Das Wichtigste an der Idee der Gartenstadt sind die Gärten in unseren Köpfen. Diese Gärten haben eine sehr weitgefasste metaphorische Bedeutung, denn die reale ist ja offensichtlich.¹²⁸
Elżbieta Owczarek griff in Bezug auf ihre Handlungsmotivation den Identitätsdiskurs auf. Sie sah die aktuelle Offenheit der Situation, in der sich Katowice infolge des Strukturwandels befand, und den dadurch bedingten weitgehenden Auflösungsprozess bisheriger identitätsrelevanter Bereiche als handlungsleitend und -motivierend an. Auch aus ihren Aussagen ließ sich ein starkes Bedürfnis herauslesen, die Gegenwart zu gestalten und zu verändern sowie Einfluss auf ihre
Dass die Idee für den Slogan Katowice – Miasto Ogrodów (Katowice – Gartenstadt) auf Marek Zieliński zurückgeht, wurde von allen Befragten an verschiedenen Stellen der Interviews betont. Über die Urheberschaft der Gartenstadtidee für Katowice gab es keinen Dissens, auch in Medienberichten wurde stets betont, wer der Urheber der Idee war. Alle oben angeführten Zitate stammen aus dem Interview Zieliński, Katowice, , Transkript S. .
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Entwicklung zu nehmen. Die Ausgangslage, in der sie und ihre Kollegen agierten, fasste sie so zusammen: Nachdem die Industrie zu Ende gegangen war, als der große Krach kam, die Arbeit in den vorher prosperierenden Bergwerken zusammenbrach, hatte niemand eine Idee, was Katowice sein soll. […] Wir hatten unsere industrielle Identität verloren und noch keine neue Idee für uns selbst. […] Ich glaube, dass dieser Prozess immer noch anhält, dieses Suchen nach einer Identität.¹²⁹
Das Motiv einer „verlorenen Identität“ und der daraus resultierenden Leerstelle, die es nun zu füllen gelte, wiederholte sich im Verlauf des Gespräches: „Wir haben unsere industrielle Identität verloren, aber eine neue Idee zur Selbstbeschreibung haben wir noch nicht. […] Das dauert immer noch an, diese Suche nach etwas, das den Platz [der industriellen Identität, JT] einnehmen könnte.“¹³⁰ Deutlich lässt sich daraus der Wunsch ablesen, ein identitätsstiftendes Angebot in der aufgeworfenen Debatte um das sich wandelnde Selbstverständnis der Stadt zu formulieren. Im Gespräch umriss Elżbieta Owczarek einen weiteren Faktor, der ihre Motivation deutlich machte. Sie beschäftigte sich intensiv mit einer veränderten, positiven Darstellung der Stadtgeschichte von Katowice, die sie an verschiedenen Stellen ausführte. Kategorien wie nationale Antagonismen oder Industrie, in denen die Vergangenheit bislang mehrheitlich gefasst wurde, griffen in ihrer Vorstellung über die Vergangenheit deutlich zu kurz. Sie wünschte sich statt stereotyper Vereinfachungen einen vielgestaltigen Blick auf die Vergangenheit: Der Antrag baut darauf auf, was wir an Vergangenheit hatten, aber eine Vergangenheit, die sich aus anderen Elementen zusammensetzt. […] Wir verwenden die Geschichte, aber wir geben neue Elemente zu diesem Puzzle hinzu […]. Wir holen diese ganzen zusätzlichen Geschichten hervor, um zu zeigen, dass es hier nicht nur schwarz war. […] Das wichtigste, was wir in diesem Wettbewerb zeigen wollen, ist, dass dieser Ort ein gastfreundlicher Ort ist. […] Über viele Jahrzehnte haben hier Juden, Deutsche, auch Tschechen zusammengelebt. […] Die Leute haben es geschafft, an diesem Ort miteinander auszukommen. […] Menschen aus unterschiedlichen Ländern haben hier in Frieden und nicht in Krieg miteinander gelebt.¹³¹
Ihre kritische Haltung zu den bestehenden Geschichtsbildern über Katowice konkretisierte sie weiter: […] wir brauchen eine Erneuerung unserer selbst und keine Festschreibung in irgendwelchen Märchen, die irgendwer, irgendwann erzählt hat, dass hier Polen ist und folglich hier Polen
Vgl. Interview Owczarek, Katowice, , Transkript S. . Ebd., S. . Ebd., S. f.
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wohnen und dass Schlesier das und das sind. Wir müssen das alles neu durchdenken, aber ohne Komplexe und ohne Einflussnahme […]“
Das Motiv der Festschreibung bestimmter Sichtweisen und der Einflussnahme auf historische Deutungen spielte bereits zu Beginn des Gespräches, als Elżbieta Owczarek Geschichte definierte, eine wichtige Rolle. In diesem Teil des Interviews kehrte es am konkreten Beispiel der nationalen Perspektive auf die Vergangenheit von Katowice als polnischer Stadt wieder. Owczarek machte somit deutlich, dass die nicht polnischen Entwicklungslinien, etwa die deutschen, tschechischen oder die regional oberschlesischen Anteile der Vergangenheit, durch die nationalpolnische Vergangenheitsdeutung überlagert wurden. Diese Aussagen von Elżbieta Owczarek veranschaulichen ebenso ein Bedürfnis nach Selbstbestimmung und aktiver Gestaltung der Gegenwart wie den Wunsch nach einem selbstbestimmten Umgang mit der Vergangenheit der Stadt, in der sie lebte und mit der sie ihre persönliche Zukunft verband. In der oben angeführten Offenheit infolge des Zusammenbruches des maßgeblichen Interpretationsrahmens, der Katowice als polnische Industriestadt festschrieb, war es ihr Ziel, sich ohne äußere Vorgaben selbst in Gegenwart und Geschichte zu verorten. Sie suchte nach einem eigenständigen Umgang, einer selbstbestimmten und positiven Interpretation der Geschichte ihres Lebensumfeldes. Dieser Wunsch kulminierte in der Aussage: „[…] alle Komplexe aus der Vergangenheit sollen heilen und wir uns frei und gut fühlen.“ Die Analyse des Geschichtsbewusstseins hat gezeigt, dass alle Befragten über eine ausgeprägte Sensibilität für die Vergangenheit der Stadt verfügten. Alle Interviewten haben sich mit den Themen Vergangenheit und Geschichte der Stadt intensiv auseinandergesetzt. Dieses Geschichtsinteresse stand jedoch in einem auffälligen Kontrast zu einer negativen Einstellung zum Begriff Geschichte. Diese negative Einstellung bedeutete nicht, dass die Befragten Geschichte an sich ablehnten; vielmehr artikulierten sie durch einen negativen Geschichtsbegriff eine kritische und ablehnende Haltung zu den etablierten Geschichtsbildern über Katowice sowie den Umgang mit Geschichte in der Gegenwart. Besonders aussagekräftig illustriert diesen Umstand das Interview mit dem Geschäftsführer, Piotr Zaczkowski. Sein Geschichtsbegriff war negativ besetzt, da Geschichte für ihn stets mit Manipulationen und Festschreibungen bestimmter, oft national geprägter Sichtweisen verbunden war. Unter Geschichte verstand er als ausgebildeter Geschichtslehrer die reflektierende Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. Der von ihm beobachtete Umgang mit Geschichte, der auf die Etablierung und Festschreibung bestimmter Interpretationen über die Vergangenheit abzielte, entzog Geschichte jedoch ihr kritisches Potenzial. Hier lag seine negative Ein-
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stellung zu Geschichte begründet, da er einen solchen Umgang mit Geschichte ablehnte. Als zentrales Motiv der Interviews lässt sich die Wahl des Gartenstadtmotivs als Sinnbild für einen veränderten Zugriff auf Geschichte herauslesen, der die Vergangenheit in anderen Kategorien denkt und darstellt. Das Gartenstadtmotiv widersetzt sich in ganz offensichtlicher Weise den gängigen Vorstellungen und Deutungsangeboten zur Gegenwart und Vergangenheit der Stadt. Somit ist es als Versuch eines Neuanfangs zu werten sowohl in Bezug auf die Gegenwart als auch die Vergangenheit. Dabei ging es den Befragten nicht nur um das Abstreifen der industriellen Vergangenheit der Stadt. Diese Interpretation legt die Analyse des Logos nahe, das die bunte Gegenwart und Zukunft durch einen dünnen Strich von der „schwarzen“, industriellen Vergangenheit der Stadt trennte. Ein Neuanfang war für die Akteure auch aufgrund der bisher stark in nationalen Kategorien gefassten Geschichtsbilder über Katowice vonnöten. Denn eine Geschichte, gefasst in industriellen oder nationalen Kategorien, erschien den Narrateuren für die gegenwärtigen Problemlagen der Stadt in keiner Weise anschlussfähig. Sie suchten nach einem integrativen Modell, das die Vergangenheit in produktiver Weise für die Gegenwart fruchtbar machen, die Menschen zum gemeinsamen Handeln anregen und Trennendes überwinden sollte. Doch schien ihre Suche kompliziert und letztlich wenig erfolgversprechend. Die schwierige, komplexe Vergangenheit der Stadt eignete sich in ihrer Sicht nur bedingt als Reservoir für die Fundierung eines neuen Weges in die Zukunft. Für die Funktion von Geschichte bedeutet das, dass nicht die Identitätssicherung, sondern eine neue Identitätsstiftung im Mittelpunkt stand. Vom Motiv der Gartenstadt aus wurde doppelt konstruiert: Es entstand sowohl ein positiver Zukunftsentwurf als auch eine neue Sicht auf die Geschichte der Stadt. Der Garten galt kulturgeschichtlich oft als Ort der Zuflucht, und so war in Katowice die Konstruktion einer Gartenstadt an die Vorstellung einer zweifachen Heilung geknüpft – einer Heilung sowohl der Gegenwart als auch der Vergangenheit durch Geschichte. In der Gegenwart galt es, den Transformationsprozess von der Industriestadt zur postindustriellen Metropole zu gestalten, und das Gartenmotiv lieferte die notwendigen Ansatzpunkte, um den aktuellen Strukturwandel mit einer positiven Zukunftserwartung zu verbinden. Der Garten als ökologische, „grüne“ Vision stand der von Schwerindustrie geprägten Vergangenheit diametral entgegen und wurde folglich zu einem in die Zukunft projizierten Zufluchtsort. Dieser Entwurf umfasste auch die Einwohner von Katowice und lud sie dazu ein, sich aktiv an der Erschaffung bzw. der Umsetzung dieses Zukunftsentwurfes zu beteiligen. Die Wahl des Gartens als Leitmotiv der Bewerbung sollte demnach das Erreichen eines breiten Rezipientenkreises unter den Bewohnern der Stadt sicherstellen. Dafür entwarfen die Narrateure ein bestimmtes Bild des Gartens: als
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Ort der Begegnung, der Gemeinschaft, der zwischenmenschlichen Kontakte. Diese demokratische Vision eines Gartens¹³² war gleichbedeutend mit dem Wunsch, ein neues Miteinander in der Stadt sowie eine veränderte Art der Nutzung des öffentlichen Raumes anzuregen. Trotz dieser vielen positiven Zuschreibungen erinnert die Wahl des Gartenstadtmotivs für Katowice an einen der Buchtitel Jörn Rüsens, in dem er fragt: Kann gestern besser werden? Rüsen meint damit nicht die Veränderung eines faktischen Geschehens, das in der Vergangenheit lag und daher dem Zugriff und einer Veränderung aus der Gegenwart heraus entzogen war. Es geht ihm darum, dass „die Vergangenheit […] aus der Starre eines vorgegebenen Gewordenseins in die Bewegung der menschlichen Lebenspraxis, in das aktuelle […] Werden der durch sie Gewordenen hinein verflüssigt“ werde. „Besser“ bedeutet, dass die Vergangenheit nicht mehr „faktisch bedingend, sondern sinnhaft wirkend“ sein und als Bedingungsfaktor für das reale Leben der Gegenwart erkannt werden sollte.Wer sich der Vergangenheit in dieser Art deutend zuwende, kläre sich historisch über sich selbst und seine geschichtliche Bedingtheit auf. Ein „besser Werden“ der Vergangenheit gehe einher mit einer Bedeutung, die diese Vergangenheit für die Gegenwart und den Lebensvollzug der Menschen erhalte. Dies beinhalte gleich Die Verwendung des Gartenbegriffes in Verbindung mit Vorstellungen von Demokratie bedarf einer historischen Einordnung, da sie sich von den bisherigen Deutungsangeboten des Gartens wesentlich unterscheidet. Noch im . Jahrhundert galten Gärten als Ort der „Belehrung und Erbauung“ des Herrschers und der adligen Untertanen: „Gartenästhetik hatte in ihrer öffentlichen Repräsentation […] eine politisch-soziale Funktion zu erfüllen, denn sie stand für den Dialog zwischen Herrscher und Adel, der zwischen kultureller Angleichung und Abgrenzung schwankte.“ Der Garten hatte demnach eine entscheidende Bedeutung für die höfische und staatsmännische Repräsentation. Vor allem in der alten polnischen Adelsrepublik wurden prächtige Residenz- und Gartenanlagen angelegt. Die prunkvolle Ausgestaltung sollte der Herrschaft der vielen Fremden auf dem polnischen Thron Glanz, aber auch eine Machtsymbolik verleihen (besonders augenscheinlich war dies etwa bei August II., genannt August der Starke). Der einheimische polnische Adel (szlachta) legte ebenfalls Gärten an, die in ihrer Ästhetik und Symbolsprache „als Imaginationen der realpolitisch nicht mehr bestehenden polnischen Adelsrepublik“ dienten. Der Adelsgarten schuf eine „Idylle in einer Zeit, als Polen von schweren äußeren und inneren Konflikten heimgesucht wurde“. Ende des . Jahrhunderts wurde der Garten als sozialer Kommunikationsraum des Adels aufgebrochen und für eine breitere, bürgerliche Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Der Garten sollte vor allem gegen Ende des . Jahrhunderts in Form von städtischen Grünanlagen der Volksbildung und -erholung dienen. Die Vorstellung des Gartens als Ordnungsmuster eines demokratischen Gemeinwesens lässt sich historisch eher schwierig herleiten; es handelt sich vielmehr um eine Zuschreibung aus der Gegenwart. Zur Geschichte der Gärten in Polen vgl. Eva-Maria Stolberg: Die Entwicklung der Gartenkultur in Osteuropa als Zivilisationsentwurf im . und . Jahrhundert, in: dies.: (Hg.): Auf der Suche nach Eden. Eine Kulturgeschichte des Gartens. Frankfurt/Main u. a. , S. – ; die Zitate stammen in der Reihenfolge der Zitation von Seite und .
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wohl einen Aspekt der Aufklärung über das Gewordensein der menschlichen Lebenswelt. Aus den analysierten Antragsdokumenten wurde an verschiedenen Stellen die Forderung deutlich, die bislang anzutreffenden, also historisch bedingten, Selbstwahrnehmungen der Einwohner von Katowice und ihrer Stadt kritisch zu befragen, um eine Vision für die Zukunft entwerfen zu können. Eine kritische Auseinandersetzung mit diesen „Bedingungsfaktoren“ der Vergangenheit wurde jedoch aufgrund der umfassenden Gegenwarts- und Zukunftsorientierung weniger prioritär behandelt. Die Vergangenheit wurde zwar kritisch be- und hinterfragt, die sich daraus ergebenden Sinnbildungen schienen den Narrateuren jedoch mit ihren Ideen und Vorstellungen nicht vereinbar. Diese Sinnbildungen passten nicht zu dem positiven, neu zu gestaltenden Bild, das sie von Katowice erschaffen wollten. Das gegenwärtige Sinnbedürfnis der Narrateure wurde demnach so stark von dem Wunsch geprägt, etwas Neues zu erschaffen, dass ein kritisches Befragen der Vergangenheit in ihren Augen offenbar unnötig war. Anstelle einer kritischen Auseinandersetzung damit, welche Wirkungen die Vergangenheit in der Gegenwart entfaltete, schien der effizientere Weg zum Ziel das Lancieren einer alternativen Geschichte über Katowice als Gartenstadt. Ein „besseres Gestern“ war das im Sinne Rüsens nicht, denn eine kritische Selbstaufklärung war in diesem Vorgehen nicht angelegt. Deutlich wurde vielmehr die Absicht, in der Gegenwart einen Identitätsentwurf zu popularisieren, der scheinbar auch historisch begründbar sein sollte. Die Vergangenheit wurde deshalb nur insofern herangezogen, als sie dabei behilflich sein konnte, ein identitätsrelevantes Orientierungsangebot zu unterbreiten, das möglichst überzeugend sein und von den Rezipienten¹³³ angenommen und verstanden werden sollte. Das Element der Selbstaufklärung war in diesem Vorgehen nicht angelegt. Diese Konstellation legt die Deutung nahe, dass es sich bei dem „Alternativentwurf“ der Geschichte von Katowice als Gartenstadt um eine instrumentalisierte Nutzung der Vergangenheit handelte – wenn auch ein „besseres Morgen“ als Motivation für diesen Umgang mit Vergangenheit leitend gewesen ist. Eine Instrumentalisierung könnte vor allem im Ausschnitthaften der Vergangenheitsbezüge und der Vernachlässigung eines Gesamtbildes, demnach einer methodisch nicht „sauberen“ historischen Arbeitsweise gesehen werden. Aus dem Kontext, in
Als Rezipienten des Gartenstadtmotivs müssen sowohl die Einwohner von Katowice gesehen werden als auch eine breitere nationale und europäische Öffentlichkeit. Die Bewohner von Katowice sollten bis zum Jahr und besonders während des Kulturhauptstadtjahres mit dem Entwurf von Katowice als Gartenstadt konfrontiert werden. Der Slogan sollte gleichzeitig als Werbetext in einem regionalen, nationalen und europäischen Rahmen genutzt werden, um möglichst zahlreich Besucher in die Stadt zu bringen.
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dem das Gartenstadtmotiv entstand, wird ersichtlich, dass methodisch nachvollziehbares historisches Arbeiten nicht die oberste Priorität der Akteure war. Sie wollten sich auf vergangenes Geschehen berufen, um eine möglichst hohe Glaubwürdigkeit und Wirksamkeit ihrer Ideen und Zukunftsentwürfe zu erreichen. Als Imagekampagne des Stadtmarketings ging es jedoch nicht zuerst um historische Selbstaufklärung, sondern um die Schaffung wirkungsvoller Bilder. Insofern muss gerade der Bewerbungsprozess der Stadt Katowice besonders herausgehoben werden: An vielen Stellen des Antrages ist ersichtlich, dass sich die Akteure intensiv mit der Vergangenheit und dem Umgang mit Geschichte in ihrer Stadt beschäftigt haben. Am Ende dieses Prozesses stand für sie jedoch der bewusste Entschluss, sich für einen Gegenentwurf zum bisher Bestehenden zu entscheiden. Andererseits könnte dieser Gegenentwurf als besonders provokativer Akt gedeutet werden. In Katowice hat sich die von nationalen Antagonismen und der Industrialisierung geprägte Vergangenheit sehr prägnant in den städtischen Raum eingeschrieben und ist auch in der Gegenwart sehr sichtbar. Mit der Wahl des Gartens als Leitmotiv wurden diese im öffentlichen Raum sichtbaren Erzählstränge über die städtische Vergangenheit nicht aufgegriffen. Sie sollten stattdessen mit einem Garten begrünt werden; über diesen Teil der Vergangenheit sollte scheinbar im sprichwörtlichen Sinn „Gras wachsen“. Abschließend sei noch auf einen interessanten Aspekt verwiesen. Obwohl sich das Gartenstadtmotiv aus vielfältigen Perspektiven als Gegenentwurf zu bestehenden Betrachtungsweisen von Gegenwart und Vergangenheit der Stadt lesen lässt, bestehen zu diesen auch Parallelen. Besonders in den Interviews wurde deutlich, dass die nationale Perspektive auf Vergangenheit und Geschichte von den Gartenstadt-Akteuren als negativ angesehen wurde. Entgegen den in den Interviews geäußerten Ansichten, schrieben auch die Gartenstadt-Akteure diese nationale Betrachtungsweise der Vergangenheit fort, etwa indem sie die Siedlung Gieschewald als erste Gartenstadt Polens in einen nationalen Rahmen stellten. Dabei hätte gerade der Bezug auf Gieschewald die Möglichkeit geboten, die deutsche Vergangenheit der Stadt zu thematisieren und eine multinationale Geschichte zu erzählen. Stattdessen wurde Gieschewald zum Nukleus einer polnischen Erzählung über Katowice als Gartenstadt. Der Wille, ein neues Denken über die Stadt zu etablieren und die bestehenden Kategorien des Denkens zu verlassen, zeigte hier seine Genzen. Den nationalen Rahmen zu verlassen, überforderte scheinbar selbst die an Innovationen und einem grundlegenden Umdenken über die Stadt interessierten Gartenstadt-Akteure.
7.2 Katowice als Stadt der Moderne: Vom Stiefkind zum Imageprodukt
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7.2 Katowice als Stadt der Moderne: Vom Stiefkind zum Imageprodukt Die zweite Imagebildungskampagne der Stadt verlief unter anderen Vorzeichen als der zuvor beschriebene Versuch, Katowice als Gartenstadt neu zu denken. Einen anderen Hintergrund hat das Projekt, Katowice als Stadt der Moderne zu einer imagebildenden touristischen Marke auszubauen schon deshalb, weil kein europäischer Wettbewerb den Rahmen des Denkens und Handelns der Akteure absteckte. Die Beschäftigung mit der modernen Architektur der Stadt hatte ihre Wurzeln in Katowice selbst und wurde an einem bestimmten Punkt von der Stadtverwaltung aufgegriffen, um daraus ein Imageprodukt zu erstellen. Im Hintergrund dieses Prozesses stand jedoch die gleiche Frage, wie sie auch für die Bewerbung als Kulturhauptstadt leitend war: Welche Orientierungsangebote können in einer Stadt im Strukturwandel geschaffen werden, die für die Zukunft tragfähig und aus ihrer Vergangenheit herleitbar sind?
Die Architekturmoderne in Katowice: Dokumentation einer Wiederentdeckung Wir werden nie wie Krakau sein, das seine Tradition seit vielen Jahrhunderten pflegt.¹³⁴
Blickt man aus der Perspektive des benachbarten Krakau, der alten polnischen Hauptstadt, auf Katowice, erscheint der Ort mit seiner kurzen Stadtgeschichte tatsächlich vergleichsweise traditionsarm. Dass der Vergleich zwischen Katowice und Krakau in Hinblick auf Tradition für die oberschlesische Metropole immer nachteilig ausfallen muss, liegt demnach auf der Hand. Interessanter und mit deutlich mehr Erkenntnisgewinn verbunden erscheint daher die Frage, welche Kategorien außerhalb einer „jahrhundertealten Tradition“ für die Beschreibung von Gegenwart und Vergangenheit der oberschlesischen Stadt gefunden werden können. In der Terminologie Rüsens bedeutet das, dass in Katowice Alternativen zum traditionalen Erzählen gesucht wurden. Die Kunsthistorikerin Ewa Chojecka hat sich lange mit dieser Frage beschäftigt.¹³⁵ Sie plädierte dafür, den „kolonialen“
Vgl. Tomasz Malkowski: Katowice mają instynkt nowoczesności [Katowice hat den Instinkt der Modernität], Interview mit Professor Ewa Chojecka, Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Professor Ewa Chojecka (*) zählt zu den führenden Kunsthistorikerinnen der Region und gilt als Nestorin einer oberschlesischen Kunst- und Kulturgeschichtsforschung. Der von ihr Ende der er Jahre gegründete Lehrstuhl für Kunstgeschichte an der Schlesischen Universität
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oder „imperialen“ Blick abzusteifen, dann ergebe sich eine Sicht auf die Eigenheiten, die die Region und ihre Hauptstadt Katowice hervorgebracht haben. Chojecka sprach für Katowice anstelle von „Tradition“ bevorzugt von „Modernität“. Sie attestierte der Stadt gar einen „Instinkt der Modernität“, der sie stets geprägt habe und ihre Eigenart bis in die Gegenwart kennzeichne.¹³⁶ Als Kunsthistorikerin bezog Chojecka ihr Konzept von Modernität in erster Linie auf die klassische Architekturmoderne. So war ihr Lehrstuhl an der Universität Katowice auch der Ort, an dem die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Architektur der klassischen Moderne¹³⁷ in Katowice ihren Ausgang nahm.¹³⁸ Und damit leisteten sie und ihre Mitarbeiter Pionierarbeit, denn die klassische Architekturmoderne war aus ideologischen Gründen nach dem Zweiten Weltkrieg, aber auch über die Transformation von 1989 hinweg lange Zeit kein Thema in der Stadt. Sie
in Katowice war der erste, der sich dezidiert mit oberschlesischer Kunstgeschichte beschäftigt hat. Chojecka hat mit ihren Arbeiten maßgeblich dazu beigetragen, ein Verständnis für die Kunst und die Kunstgeschichte Oberschlesiens zu schaffen. Vgl. u. a. die Würdigung Chojeckas als Preisträgerin des Georg Dehio Kulturpreises im Jahr , URL http://www.kulturforum.info/de/arti cle/.feierliche-verleihung-des-georg-dehio-kulturpreises--an-prof-dr-ewa-choje cka-und-dr-irina-tscherkasjanowa.html (Zugriff . . ). Vgl. Malkowski, Instynkt nowoczesności [Instinkt der Modernität] (). Der Begriff klassische Architekturmoderne umfasst verschiedene Strömungen der Architektur etwa ab Mitte des . Jahrhunderts, die in Reaktion auf die industrielle Revolution entstanden sind und sich gegen die im . Jahrhundert stilbildenden Rückgriffe auf historische Baustile (Historismus) richteten. Geprägt wird diese Architektur durch die Verwendung von Materialien wie Eisenbeton, Stahl und Glas, die die Umsetzung von neuen architektonischen Ideen in adäquate Formen erlaubte. Richtungsweisende Impulse kamen aus London, etwa mit der Errichtung des Kristallpalastes (), aber auch aus Chicago, wo Louis Henry Sullivan als herausragender Vertreter der sogenannten Chicago School im Jahr die Prämisse der Funktion gegenüber der Form betonte. Nach dem Ersten Weltkrieg ließen die veränderten politischen und sozialen Verhältnisse die moderne Architektur zu einer einheitlichen Bewegung werden. In Deutschland entstand etwa im Jahr das Bauhaus in Weimar, in den Niederlanden wurde die Stijl-Gruppe gegründet. Beeinflusst wurde die moderne Architektur vom russischen Konstruktivismus und dem aus der Chicago School stammenden Funktionalismus, der Idee vom zweckdienlichen Bauen. Ab begann sich die moderne Architektur in ganz Europa zu etablieren. In Italien wurde sie toleriert, während sich in Deutschland ab eine Regionalarchitektur durchsetzte, die in die nationalsozialistische Architektur integrierte wurde. Mit der Schließung des Bauhauses im Jahr wurde die Tradition der klassischen modernen Architektur in Deutschland unterbrochen. Die modernen Bauten der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, die etwa bis entstanden sind, werden als Nachkriegsmoderne bezeichnet. Sie schließen stilistisch an die Architektur der klassischen Architekturmoderne an.Vgl. Wolf Stadler (Hg:): Lexikon der Kunst. Malerei, Architektur, Bildhauerkunst. Eggolsheim , S. sowie Roman Hillmann: Die erste Nachkriegsmoderne. Ästhetik und Wahrnehmung der westdeutschen Architektur – . Petersberg . Vgl. Odorowski, Architektura Katowic [Die Architektur in Katowice] ().
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prägte zwar die urbane und architektonische Gestalt der Stadt maßgeblich und war für den aufmerksamen Beobachter insofern auch kaum übersehbar. Dass es sich bei dem Ensemble von Gebäuden der Moderne um ein architektonisch wertvolles Erbe handelte, war jedoch eine Erkenntnis, die erst kürzlich allgemeine Anerkennung gefunden hat. Dabei kann sich das moderne Ensemble in Katowice tatsächlich der Außengewöhnlichkeit rühmen, schließlich verfügen in Polen nur Warschau und Gdynia über vergleichbare architektonische und urbane Anlagen aus der Zwischenkriegszeit.¹³⁹ Während diese beiden Städte ihr architektonisches Erbe bereits mit großer Intensität pflegen, schien es in Katowice trotz gleichwertiger Qualität und ähnlichen Umfangs auch in den 2000er Jahren noch keinen Platz in der öffentlichen Wahrnehmung gefunden zu haben. Noch im Jahr 2007 berichtete die Gazeta Wyborcza über die erfolgreiche Instandsetzung der modernistischen Gebäude in Gdynia, und mahnte Katowice, sich diese zum Vorbild zu machen: „Wenn man in Gdynia die Straße des 10. Februar entlanggeht, sieht man weiß blitzende Gebäude. Auf einer vergleichbaren Straße in Katowice, etwa der Skłodowskia-Curie-Straße, ist alles grau, und der Putz fällt von den Wänden.“¹⁴⁰ Auch ein Jahr später, 2008, stellte Ewa Chojecka noch fest: „Leider schätzt man das Erbe dieser Zeit heute nicht, besonders in Katowice.“ Das war laut Chojecka bedauerlich, da in ihren Augen gerade die klassische Architekturmoderne die „Identität dieser Stadt“ ausmache, und sich alle späteren Bauten auf dieses moderne Bauen berufen oder in Bezug dazu stehen.¹⁴¹ Zwar schritt die wissenschaftliche Erforschung und Dokumentation der Architekturmoderne in Katowice weiter voran, doch weder die Stadtverwaltung noch der Großteil der Einwohner konnten in der Architektur aus den 1920er und 1930er Jahren einen besonderen Wert erkennen. Die Mehrzahl der Gebäude stand nicht unter Denkmalschutz, was nicht denkmalgerechte Veränderungen an den Gebäuden durch Reparaturen und
Die Entwicklungen von Gdynia und Katowice in der Zwischenkriegszeit sind vergleichbar. Beide Städte haben sich aufgrund einer Aufwertung ihres Status (polnische Hafenstadt bzw. Woiwodschaftshauptstadt) in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg intensiv entwickelt und wurden ausgebaut. Es entstanden gänzlich neu angelegte Stadtviertel im Stil der Moderne, während in Warschau neben dem Stadtteil Żoliborz vor allem einzelne Gebäude gebaut wurden. Vgl. Beate Störtkuhl: Gdynia – Meeresmetropole der Zweiten Polnischen Republik, in: Arnold Bartetzky/Marina Dmitrieva/Stefan Troebst (unter Mitarbeit von Thomas Fichtner): Neue Staaten – neue Bilder? Visuelle Kultur im Dienst staatlicher Selbstdarstellung in Zentral- und Osteuropa seit . Köln u. a. , S. – . Vgl. Tomasz Malkowski: Gdyńska moderna może być wzorem [Die Moderne in Gdynia könnte ein Vorbild sein], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Vgl. Malkowski, Instynkt nowoczesności [Instinkt der Modernität] ().
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Instandsetzungen möglich machte, etwa durch Wärmedämmung mit Styropor an den Fassaden.¹⁴² Verändert hat sich die Einstellung zu den architektonischen Hinterlassenschaften der Zwischenkriegszeit in Katowice erst in den Jahren nach 2008. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Schlesische Zentrum für Kulturerbe (Śląskie Centrum Dziedzictwa Kulturowego) in Katowice, dessen Aufgabe neben der Dokumentation und Publikation auch darin besteht, ein Bewusstsein für die Vielfalt des oberschlesischen Kulturerbes in der Bevölkerung zu verankern.¹⁴³ So organisierten die Mitarbeiter des Zentrums beispielsweise Stadtspaziergänge durch das südliche Stadtzentrum und erklärten den Teilnehmenden die Besonderheiten der dort dicht nebeneinander errichteten modernen Gebäude. Die Stadtspaziergänge auf den Spuren der klassischen Architekturmoderne erfreuten sich zunehmender Beliebtheit, und aus der Initiative ging die Idee hervor, einen standardisierten Rundgang zu entwerfen. Unter dem Titel Route der Moderne sollte dieser die architektonisch wertvollsten Gebäude zusammenfassen und mit einer Erklärung zu den Entstehungsbedingungen und architektonischen Charakteristika versehen. Da das Zentrum für Kulturerbe als Einrichtung der Woiwodschaft für die gesamte Verwaltungseinheit zuständig ist, sollte sich das Projekt in seiner ursprünglichen Version nicht nur auf Katowice beschränken, sondern die moderne Architektur der gesamten Woiwodschaft in einer Route zusammenfassen.¹⁴⁴ Die Woiwodschaftsverwaltung hatte jedoch erst im Jahr 2006 mit der Route der Technikdenkmäler ¹⁴⁵ ein Großprojekt initiiert, das den Rahmen ihrer Aktivitäten im Bereich Kulturerbe und Tourismus für die folgenden Jahre absteckte. Im Fokus stand nicht die moderne Architektur sondern das industrielle Erbe der Region. Mit der Route der Technikdenkmäler verfolgte die Woiwodschaftsverwaltung das Ziel, „die Spezifik der Region wieder[zu]geben, in der die Industriekultur eines der
Vgl. Iwona Sobczyk: Katowicka moderna znika pod styropianem [Die Moderne in Katowice verschwindet hinter Styropor], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Das Schlesische Zentrum für Kulturerbe wurde im Jahr gegründet und ist für die gesamte Woiwodschaft zuständig. Die Ziele des Zentrums bestehen vor allem in der Popularisierung von Wissen über das Kulturerbe der Region, aber auch in der Konservierung von Kulturerbe. Weiterführende Informationen zum Schlesischen Zentrum für Kulturerbe finden sich auf den Internetseiten der Institution unter URL http://www.scdk.pl/new/ (Zugriff . . ). Vgl. Interview mit Anna Syska, Architektin, Mitarbeiterin des Schlesischen Zentrums für Kulturerbe und Mitinitiatorin der Route der Moderne, Januar , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Vgl. den Internetauftritt der Route der Technikdenkmäler URL http://www.zabytkitechniki.pl/ pl/t/SZT_Szlak_Zabytkow_Techniki (Zugriff . . ).
7.2 Katowice als Stadt der Moderne: Vom Stiefkind zum Imageprodukt
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grundlegenden Elemente der Identität bildet“.¹⁴⁶ Auf Woiwodschaftsebene wurden somit die Industrialisierung und ihre Nachwirkungen als grundlegendes und die gesamte Region gleichermaßen betreffendes Charakteristikum der Vergangenheit definiert, das die „Formen der traditionellen Kultur der Region“ widerspiegle. Interessant ist diese Initiative insofern, als die Industriekultur über einen langen Zeitraum, spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts, die Region und das Leben der Menschen maßgeblich prägte. Anhand der Route der Technikdenkmäler wird ersichtlich, wie sich die Wahrnehmung der Industrie und der damit verbundenen Kultur von einem prägenden Element der Gegenwart zu einem Teil der Vergangenheit, und in diesem Fall zu einem Teil der Tradition, gewandelt hat. Industriekultur und industrielles Erbe sollten als Teil des Kulturerbes der Region zur touristischen Marke der Woiwodschaft Schlesien ausgebaut werden und ihr Alleinstellungsmerkmal auf dem Markt der regionalen touristischen Angebote in Polen bilden. Mit „Authentizität“ und „Einzigartigkeit“ warben die Initiatoren um potenzielle Besucher. Mit dem Versuch einer Revitalisierung postindustrieller Orte durch Tourismus setzte die Woiwodschaft neben dem zentralen touristischen Akzent für die Region vor allem ein deutliches Zeichen, wie sie den Umgang mit ihrem industriellen Erbe gestalten wollte. Sie schrieb dem industriellen Erbe grundlegende Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft Oberschlesiens zu und beabsichtigte daraus einen „neuen Wert“¹⁴⁷ zu schöpfen. Entstanden war ein umfangreiches touristisches Angebot mit eigenem Design und Logo, das den Wiedererkennungswert sicherstellte. Auf den Stationen der Route können Besucher 32 ausgewählte, über die gesamte Region verteilte Technikdenkmäler anhand von dreisprachigen Tafeln entdecken. Ein Internetauftritt enthält zusätzliche Informationen, eine Landkarte und ein Begleitheft bieten inhaltliche Orientierung über Vergangenheit und Gegenwart der Objekte sowie praktische Informationen zu Anreise und Besichtigungsmöglichkeiten. Ein in einheitlichem Design gestaltetes Hinweissystem an den Landstraßen der Woiwodschaft weist schließlich den Weg zu den Industriedenkmälern. Katowice ist auf der Route der Technikdenkmäler mit vier Objekten vertreten: den beiden Bergarbeitersiedlungen Gieschewald und Nickischschacht, der Galerie für zeitgenössische Kunst im stillgelegten Wilsonschacht (Szyb Wilsona) und der noch immer intakten Porzellanfabrik Schlesisches Porzellan (Porcelana Śląska). Vor dem Entstehungshintergrund der Route der Technikdenkmäler werden die unterschiedlichen Interessen und Strategien der beiden Administrationseinheiten
Zitat aus der Beschreibung der Idee der Route auf dem dazugehörigen Internetauftritt URL http://zabytkitechniki.pl/pl/t/SZT_Idea_szlaku (. . ). Ebd.
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7 Neue Bilder über die Stadt
Woiwodschaft und Stadt deutlich: Während die Woiwodschaftsverwaltung das Erbe der Industrialisierung als identitätsrelevanten Bestandteil für die gesamte Region einschließlich ihrer Hauptstadt Katowice ansah, verfolgte die Stadtverwaltung von Katowice das gegenläufige Ziel, die Stadt vom Bild der Industrie- und Bergarbeiterstadt zu lösen und eine eigenständige zukunftsgerichtete Vision zu entwerfen.¹⁴⁸ Eine besondere Betonung der postindustriellen Hinterlassenschaften lag daher nicht in ihrem Interesse. Die geplante Route der Moderne entsprach den Interessenlagen der Stadtverwaltung hingegen in erheblichem Maße. Sie unterschied sich in ihrer Ausrichtung deutlich von der Technikroute, indem sie mit dem Bezug auf die 1920er und 1930er Jahre einen Teil der städtischen Vergangenheit hervorhob, der nicht in erster Linie mit Industrialisierung und Bergbau konnotiert war. Nachdem das Marschallamt die Finanzierung der Route der Moderne als weiteres, für die gesamte Woiwodschaft konzipiertes Tourismusangebot abgelehnt hatte, übernahm die Stadtverwaltung von Katowice die Koordination des Projektes.¹⁴⁹ Anstelle eines neuen Bestandteiles der Imagebildung für die gesamte Woiwodschaft wurde die moderne Architektur so zum exklusiven Charakteristikum für Katowice erklärt.Vermuten lässt sich hier auch eine Strategie der Abgrenzung gegenüber den benachbarten Städte Zabrze, Beuthen und Gleiwitz. Diese verfügen, wenn auch nicht in vergleichbarer Anzahl und Dichte, ebenso über Gebäude in diesem Stil und wären auf einer woiwodschaftsweiten Route mit diesen Objekten vertreten gewesen. Der Aufstieg der Architekturmoderne in Katowice zum Bestandteil städtischer Imagebildung ging folglich auf zwei Sachverhalte zurück: Zum einen auf ein Abgrenzungsbedürfnis der Stadtväter von Katowice gegenüber den benachbarten oberschlesischen Städten mit ähnlichem architektonischen Potenzial, zum anderen auf konkurrierende Vorstellungen zur Vermarktungs- und Tourismusstrategie der Verwaltungseinheiten auf Woiwodschafts- und Stadtebene. Fortan nahm die Marketingabteilung der Stadtverwaltung das Projekt einer Route der Moderne in ihre Verantwortung und integrierte es in die allgemeine Promotionsstrategie der Stadt Katowice: „Glücklicherweise haben wir [die Stadtverwaltung und das Schlesische Kulturerbezentrum, JT] die gleiche Idee gehabt, und wir haben einen Antrag bei der Europäischen Union zur Finanzierung der Route gestellt“, gab die Gazeta Wyborcza die Perspektive der Stadtmarketingabteilung wieder, die das Thema nunmehr zu ihrem Aufgaben-
Vgl. Interview Syska, Katowice, . Vgl. Przemysław Jedlecki: Milion złotych na katowicką modernę [Eine Million Zloty für die Moderne in Katowice], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Auch Anna Syska berichtete übereinstimmend über die Entstehung der Route der Moderne. Vgl. Interview Syska, Katowice, .
7.2 Katowice als Stadt der Moderne: Vom Stiefkind zum Imageprodukt
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gebiet erklärte.¹⁵⁰ Im Wandel der Auseinandersetzung mit der Architekturmoderne lässt sich hier ein Meilenstein festmachen: Die moderne Architektur war von diesem Moment an von einem ursprünglich randständigen Thema für Architekturexperten zu einem zentralen Aspekt der Imagebildung auf der Agenda der Stadtverwaltung avanciert. Der eingeleitete Wahrnehmungswandel der Architekturmoderne in Katowice gründete folglich nicht nur in einem zivilgesellschaftlich initiierten Prozess der Wiederentdeckung und Wiederaneignung durch die Bürger der Stadt, er war zum überwiegenden Teil ein „von oben“ gesteuerter Prozess. Zwar standen die Aktivitäten des Kulturerbezentrums in Form der Stadtspaziergänge an seinem Anfang, wurden durch das Aufgreifen der Idee durch die Stadtverwaltung jedoch auf eine administrative Ebene gehoben und dort mit der Fertigstellung der Route der Moderne zu einem vorläufigen Abschluss gebracht. Dass die Architekturmoderne ein „Element unseres Erbes [ist], auf das wir stolz sein können und mit dem wir uns hervortun sollten“, schien seither als Konsens Gültigkeit zu besitzen. Diese Aussage des stellvertretenden Stadtpräsidenten im Juni 2010 dokumentierte den Bewusstseinswandel, den Ewa Chojecka mit ihrer Feststellung, Katowice setze sich mit diesem Teil seiner Geschichte bislang nur unzureichend auseinander, noch im Jahr 2008 angemahnt hatte.¹⁵¹ Mit der Wiederentdeckung der modernen Architektur erhielt auch die Zwischenkriegszeit als Bezugspunkt auf die Vergangenheit der Stadt neue Relevanz. Ihren vorläufigen Höhepunkt fand diese Entwicklung mit der Aufnahme des gesamten südlichen Stadtzentrums, das hauptsächlich in der Zwischenkriegszeit im Stil der klassischen Architekturmoderne bebaut wurde, in das Denkmalregister der Woiwodschaft.¹⁵² Einige der wichtigsten modernen Gebäude, wie der Wolkenkratzer oder die Garnisionskirche, standen zu diesem Zeitpunkt bereits unter Denkmalschutz. Die Eintragung des gesamten Stadtteils hatte zum Ziel, neben den einzelnen Gebäuden von herausragendem architektonischen Wert, die gesamte Anlage des Stadtviertels mit seiner Dichte an Gebäuden in ihrer Einzigartigkeit hervorzuheben. In der Begründung des schlesischen Denkmalkonservators zu dieser Entscheidung hieß es:
Vgl. Jedlecki, Milion złotych [Eine Million Zloty] (). So der stellvertretende Stadtpräsident Arkadiusz Godlewski. Zitat nach ebd. Vgl. Śląski Wojewódzki Konserwator Zabytków [Schlesischer Denkmalkonservator], Decyzja w sprawie wpisania obiektu do rejestru zabytków „a“ [Entscheidung in der Angelegenheit der Aufnahme des Objektes in das Denkmalregister „a“], . März , Nr. K–RD–KL/// /, Registernummer A//, S. .
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Das Fehlen freier Bauflächen machte es, entgegen der damaligen (nach 1922; JT) Stadtplanungsstrategien, notwendig, die Gebäude in das dichte Netz der bestehenden Baugrundstücke einzupassen. Auf diese Art ist ein landesweit einzigartiger Komplex luxuriöser, großflächiger, großstädtischer Bebauung auf einer kleinen Fläche entstanden.¹⁵³
Von anderen polnischen Städten mit moderner Architektur, besonders dem vergleichbaren Gdynia, würde sich der Komplex in Katowice durch „seine Konzentration auf einem kleinen Gebiet, das nach den stadtplanerischen Richtlinien des 19. Jahrhunderts angelegt war und mit einem modernen Komplex aus dem 20. Jahrhundert bebaut wurde“¹⁵⁴ unterscheiden. Der Eintrag in das Denkmalregister bedeutete nicht nur die Aufwertung des Komplexes, er stellte auch die Gebäude vor Umbauten und Eingriffen unter Schutz, die ihre Gestalt verändert hätten. In der Begründung des Konservators wurde der Architektur ferner eine „historische und ideologische Bedeutung“ zugeschrieben, da sie als Relikt einer „Periode des größten Wachstums von Katowice in der Zwischenkriegszeit“ gelten könne: Die Teilung Oberschlesiens hatte die Region in eine völlig neue politische, administrative, ökonomische und gesellschaftliche Lage gebracht. Katowice wurde zur Hauptstadt einer jungen, dynamischen Woiwodschaft, die ihre Identität neu bestimmen musste. Eine große Rolle spielte dabei die Architektur.¹⁵⁵
Am 30. Oktober 2011 wurde die 5,5 Kilometer lange Route der Moderne mit einem Stadtspiel, bei dem sich die Einwohner in die Rolle von Investoren auf dem Immobilienmarkt von Katowice versetzen konnten, eingeweiht.¹⁵⁶ 16 Infoboxen markieren seither die Gebäude als Teil der Route und geben Auskunft über ihre architektonischen Besonderheiten, ihre Geschichte sowie die Architekten. Neben dieser stadträumlichen Verankerung der Route wurde zur Bewerbung eine eigene Webseite¹⁵⁷ geschaffen, darüber hinaus ein Moderne-Stadtplan mit der Route und den Gebäuden sowie ein Audioguide, der in der Tourismusinformation entliehen Ebd., S. . Ebd., S. . Ebd., S. . Über die Einweihung der Route wurde auch in den landesweiten Medien berichtet, etwa der großen Tageszeitung Rzeczpospolita: Polska Agencja Prasowa: Można już wędrować Szlakiem Moderny w Katowicach [Jetzt kann man in Katowice auf der Route der Moderne wandern], Rzeczpospolita vom . . , URL http://www.rp.pl/artykul/.html (Zugriff . . ); Przemysław Jedlecki: Podziwiajmy katowicką modernę [Lasst uns die Moderne in Katowice bewundern], Gazeta Wyborcza, Lokalausgabe Katowice Nr. vom . . , S. . Vgl. den Internetauftritt der Route der Moderne URL http://www.moderna.katowice.eu/ (Zugriff . . ).
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Abb. 27: Das Wohngebäude an der ulica Podchorążych 3 gehört zur Route der Moderne. Autor: Vojtěch Veškrna
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werden konnte und den Rundgang mit Hörstationen begleitete. Es wurde ein komplexes Informationsangebot geschaffen, das sich sowohl an Touristen als auch an die Einwohner von Katowice richtete, deren Interesse für die Architekturmoderne bis zum Zeitpunkt der Entstehung der Route stetig gestiegen war.¹⁵⁸
Abb. 28: Auch das Wohngebäude an der ulica PCK 10 ist Bestandteil der Route der Moderne. Autor: Vojtěch Veškrna
Die in charakteristischem Blau gehaltenen Infoboxen verliehen der Route der Moderne eine hohe Präsenz im städtischen Raum. Sie waren selbst zu Objekten des städtischen Raumes geworden, gestalteten ihn, indem sie die modernen Gebäude in besonderer Weise kennzeichneten und ihnen durch die historisch-architektonischen Erklärungen und Kontextualisierungen Relevanz zuwiesen. Die Wahrnehmung des städtischen Raumes wurde durch die Errichtung der Infoboxen gezielt auf die moderne Architektur gelenkt. Infoboxen und Werbematerialien kreierten folglich einen veränderten Blick auf den Stadtraum in doppeltem Sinne: Sie hoben die moderne Architektur aus der restlichen Bausubstanz der Stadt in besonderer Weise hervor und wiesen ihr einen spezifischen, mit Bedeutung aufgeladenen Status zu. Auf symbolischer Ebene bestand die Veränderung des Blickwinkels darin, dass inmitten der von Umwälzungen und Unsicherheiten
Anna Syska berichtete, dass sich für den letzten Stadtspaziergang zum Thema moderne Architektur vor der Entstehung der Route über Interessierte gemeldet hatten. Vgl. Jedlecki, Milion złotych [Eine Million Zloty] ().
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geprägten Zeit des Strukturwandels mit der Route der Moderne über Katowice nun eine Erfolgsgeschichte, eine Geschichte des Aufstieges und der architektonischen Rekordleistungen erzählt wurde. Die hohe Konzentration der Gebäude im südlichen Stadtzentrum verlieh dieser Narration von Fortschritt, Aufstieg und ökonomischer Stärke sichtbaren Nachdruck. Als Relikte der Vergangenheit ragten die Bauten in ihrer Form und Aussage in die Gegenwart hinein und vermittelten den Eindruck einer aufstrebenden, modernen Stadt aus der Zwischenkriegszeit, an die in der Gegenwart angeknüpft werden sollte. Die Route wartete entsprechend mit Superlativen auf: Das größte (Schlesischer Sejm) und das höchste (Wolkenkratzer) Gebäude der Zwischenkriegszeit waren hier zu finden; Wohnhäuser in Stahlbetonskelettbauweise wuchsen in den Himmel, Bank-, Verwaltungs- und Bildungseinrichtungen wie die Schlesische Bibliothek zeugten von der Bedeutung der Stadt zur Zeit ihrer Errichtung, luxuriöse Villen von Architekten wie Tadeusz Michejda¹⁵⁹ rundeten das Bild einer dynamisch wachsenden, einem hohen Arbeits- und Lebensstandard verpflichteten Metropole der Zwischenkriegszeit ab. Das gezielte Aufgreifen und die Nutzung dieser Erfolgs- und Fortschrittsgeschichte der 1920er und 1930er Jahre stand in diametralem Gegensatz zur Narration der Route der Technikdenkmäler. Diese erzählte die Geschichte des Niedergangs der industriellen Produktionsweise und konservierte die in der Gegenwart als veraltet geltende Bergwerkstechnik. Damit entstand eine gewisse Distanz zwischen Vergangenheit und Gegenwart, die nur durch Beispiele gelungener Nachnutzungen postindustrieller Objekte aufgebrochen wurde. Mit der Route der Technikdenkmäler wurde die Industriekultur zu einem Teil der Vergangenheit erklärt. Somit standen sich Niedergang und Aufbruch, Ende und Neubeginn als Leitideen der beiden Routen symbolhaft gegenüber.
Tadeusz Michejda ( – ) war Architekt und Gründer der Sektion des Verbandes Polnischer Architekten (SARP) in Katowice. Er studierte in Lemberg/L’viv Architektur, unterbrach jedoch sein Studium, um am Dritten Schlesischen Aufstand teilzunehmen. schloss er sein Studium ab und begann im Woiwodschaftsamt der Stadt Katowice zu arbeiten, bis er ein eigenes Architekturbüro gründete. Michejda zählt zu den wichtigsten Architekten der Zwischenkriegszeit in Katowice. Er hat Wohngebäude, unter anderem Villen sowie das Wohnhaus für die Kreisleitung der Eisenbahndirektion, aber auch öffentliche Bauten wie das Gebäude des Flughafens in Katowice projektiert. Ausführlich zur Biografie Michejdas als zentraler Figur der Architekturmoderne in Katowice siehe etwa Ewa Stachura: Tadeusz Michejda ( – ). Śląski architekt lat międzywojennych [Tadeusz Michejda ( – ). Schlesischer Architekt der Zwischenkriegszeit]. Katowice .
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Analyseebene I: Triftigkeitsprüfungen der Vergangenheitsbezüge Mit der Route der Moderne schuf die Marketingabteilung der Stadtverwaltung ein neues imagebildendes Element, das zu einem Bestandteil der übergeordneten Strategie zur Veränderung der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Stadt wurde. Grundlegendes Element dieses Imagebildungsprozesses ist der Bezug auf die Geschichte der Zwischenkriegszeit, mithin den Entstehungszeitraum der modernen Architektur in Katowice. Wie im Fall der Bewerbungsunterlagen zur Kulturhauptstadt besteht der erste Analyseschritt der Materialien zur Route der Moderne darin, historische Narrationen auszumachen, die der im Theorieteil eingeführten Definition einer Narration entsprechen. Eine erste, grobe Durchsicht der Begleitmaterialien warf bereits die Frage auf, ob die vielfältigen Vergangenheitsbezüge und Verweise auf Vergangenheitspartikel dort überhaupt zu einer aussagekräftigen Narration verarbeitet wurden, die für Gegenwart und Zukunft eine orientierende Funktion bereithält. Oder stand vielmehr die Beschreibung der Errungenschaften der Architekturmoderne auf der Ebene der Vergangenheitsdeutung im Vordergrund, ohne konkret Bezug auf die Situation in der Gegenwart zu nehmen? Grundlage für die Analyse waren die Texte zur Route der Moderne, die sich auf der eigens eingerichteten Webseite sowie den vor den Gebäuden errichteten Infoboxen befanden. Auf der Webseite der Route ließ sich anfänglich keine Narration ausmachen, die die Zeitebenen zu einer aussagekräftigen Darstellung verband. Dort befand sich weder ein einleitender Text, der die Relevanz der modernen Architektur für Vergangenheit und Gegenwart der Stadt erklärte, noch eine Projektbeschreibung, die derartige Elemente enthalten hätte. Hauptbestandteil der Webseite war vielmehr ein Stadtplan, auf dem die 16 Gebäude der Route markiert waren. Durch einen Klick wurden detaillierte Angaben zum Gebäude angezeigt, unter anderem zur Entstehungszeit und zum Architekten. Ferner wurde auf Eigenschaften verwiesen, die das jeweilige Gebäude dem Stil der klassischen Architekturmoderne zuordneten. Eine Reihe von fotografischen Detailaufnahmen vermittelte einen visuellen Eindruck des Bauwerkes sowie seines Inneren. Weiterhin enthielt die Seite Detailinformationen über die baulichen Besonderheiten der Architekturmoderne sowie ein Wörterbuch zur Erklärung architektonischer Fachbegriffe der Moderne, das Termini wie Wintergarten oder Loggia enthielt. Auch auf der Unterseite zur Projektbeschreibung konnte keine historische Narration ausgemacht werden. Die Seiten gaben lediglich Auskunft über die Kosten des Projektes, seine Finanzierung sowie eine Auflistung der Bauwerke, die sich auf der Route befanden. Eine einordnende Beschreibung, die den historischen Kontext der Entstehung der Architekturmoderne in Katowice beschrieb und somit eine Orientierung in der
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Geschichte der Stadt bot, befand sich in sehr knapper Form am Ende der Informationen über die Charakteristika der Moderne als Baustil: Katowice ist eine Stadt, die infolge eines gewaltigen Industriewachstums im 19. und 20. Jahrhundert entstanden ist. Die Stadt kam 1922 zu Polen und wurde zur Hauptstadt der neuen Woiwodschaft Schlesien, sie verfügte über einen Autonomiestatus und war Sitz des Schlesischen Sejms. Die Stadtverwaltung musste eine schnelle Lösung für das Fehlen von Verwaltungs- und Wohngebäuden für die stetig wachsende Einwohnerzahl der Stadt finden. Architekten und Stadtplaner taten alles erdenklich Mögliche, um dieser Aufgabe gerecht zu werden. […] Diese Phase der Stadtentwicklung ermöglichte es, die einmalige Route der Moderne in Katowice zu schaffen, deren Grundlage 16, vom Schlesischen Zentrum für Kulturerbe aus der Gesamtheit der modernen Bebauung aus den 1920er und 1930er Jahren ausgewählte Gebäude bilden. Die Objekte spiegeln die funktionale Vielfalt der einzigartigen, internationalen modernen Architektur, die Katowice den Namen „polnisches Chicago“ eingebracht hat.
Neben der Webseite zählten die vor den Gebäuden auf der Strecke errichteten Infoboxen als zentrale Textquelle. Die dort enthaltenen Informationen waren zum Zeitpunkt der Analyse jedoch identisch mit den Beschreibungen der Bauwerke auf der Webseite; weiterführende, historisch-einordnende Informationen zur Stadtgeschichte waren nicht enthalten. Weiterhin stand als Textquelle ein Flyer zur Verfügung, der als Werbematerial für das neue touristische Angebot produziert wurde und „Gästen, aber auch den Einwohnern selbst“¹⁶⁰ die Gebäude im Stil der Moderne näher bringen sollte. Der in den städtischen Institutionen wie der Tourismusinformation ausliegende, großformatige Flyer ähnelte in Inhalt und Struktur der Webseite: Neben dem Stadtplan mit den 16 Gebäuden und einer Kurzbeschreibung der Charakteristika der modernen Architektur befanden sich dort zwei kurze Texte, die die Vergangenheit der Stadt thematisierten. Den Texten vorangestellt waren unter der Überschrift Polnisches Chicago die Stichworte Monumentale Hochhäuser, Die Verbindung von Beton und Stahl sowie Gebäude mit einer leicht wirkenden Verglasung als wichtigste Informationen grafisch besonders hervorgehoben. Daran anschließend folgten zwei erklärende Texte: Katowice verdankt seinen originellen Charakter großteils der modernen Bebauung aus der Zwischenkriegszeit. Die Gebäude aus den 1920er und 1930er Jahren tragen viele Eigenschaften dieser architektonischen Richtung und machen die Stadt zu einer echten architektonischen Perle.
Diese und alle nachfolgenden Zitate vgl. das Informationsmaterial „Modernizm w Katowicach. Szlak Moderny“ [Moderne in Katowice. Die Route der Moderne]. Ohne Autor, ohne Jahresund Ortsangabe.
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Im Anschluss an diese Textpassage folgte eine Auflistung unter dem Titel Wusstest du, dass …?. Dort wurden Architekten wie Tadeusz Michejda und Karol Schayer angeführt, die in Katowice in der Zwischenkriegszeit tätig waren. Ihnen folgten bekannte polnische Regisseure, die ihre Filme in Katowice gedreht haben, sowie der Verweis auf den international bedeutenden Regisseur David Lynch „der erwog, Szenen für seinen nächsten Film vor der industriellen Szenerie der Stadt zu drehen.“ Die Aufzählung wurde von der Feststellung abgerundet, dass „das Ensemble der Moderne in Katowice polenweit einzigartig“ sei. Ein daran anschließender Text lieferte eine Zusammenfassung aller zuvor aufgegriffenen Aspekte unter der Überschrift Katowice gestern und heute: Die 1922 an Polen angeschlossene Stadt erlebte einen enormen Aufschwung und wurde zum Lebens- und Arbeitsort für immer neue Zuzügler. In dieser Zeit wurde Katowice in einen außergewöhnlichen und funktionalen Wohn- und Lebensraum umgestaltet. Die europaweit einzigartigen Konstruktionen schaffen die heutige ungewöhnliche Atmosphäre der Stadt. Katowice ist heute eine beständige Inspiration für Fotografen, Schriftsteller und Filmemacher.
Die Durchsicht der Begleitmaterialien zur Route der Moderne zeigt, dass nur an wenigen Stellen mit einer konzisen Verbindung der Zeitebenen gearbeitet wurde. Verbunden wurden die Zeitebenen vor allem für das hauptsächliche Argument: die Stadt verdanke ihre „heutige ungewöhnliche Atmosphäre“ und ihren „originellen Charakter“ den Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre und der damit verbundenen Architektur. Insofern wurde eine Kontinuität zwischen der aufstrebenden Stadt der Zwischenkriegszeit und der Gegenwart in Katowice hergestellt. Darüber hinaus fanden sich in den Materialien nur ausgewählte Stellen, die den Charakteristika einer historischen Narration entsprachen. Historische Narrationen zählten in den analysierten Materialien vielmehr zu den Randerscheinungen, sie gehörten nicht zu den zentralen Elementen, mit denen die Texte und Bilder arbeiteten. Die Materialien waren als touristische Produkte vielmehr auf die praktischen Belange der Besucher zugeschnitten. So stellten sie etwa Aspekte der Auffindbarkeit von Gebäuden anhand eines markierten Ausschnittes aus dem Stadtplan grafisch prominent in den Vordergrund. Nun könnten Narrationen auch über die verwendeten grafischen Elemente oder Bilder transportiert werden. Doch war das hier nicht der Fall. Die Bildelemente des Flyers bestanden neben dem Stadtplanausschnitt aus Teilansichten moderner Gebäude, sie hatten keinen Bezug zum Text, und auch untereinander konnten die Bilder nur aufgrund der Ähnlichkeit der Motive miteinander in Verbindung gebracht werden. Dennoch stand jede Detailansicht eines Gebäudes für sich, auch fehlten Bildunterschriften, die
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den Inhalt der Abbildung erklären oder einen Zusammenhang der Bildelemente herstellen könnten. Dennoch boten die zuvor vorgestellten Textstellen kontextualisierende Informationen zur modernen Architektur in Katowice und brachten diese auf unterschiedliche Art und Weise in Zusammenhänge mit der Gegenwart der Stadt. Die Verbindungen der Zeitebenen waren dabei jedoch nicht das vordergründige Ziel der Texte; ihr Hauptanliegen bestand vielmehr in der kompakten und leicht verständlichen Vermittlung von Informationen über die Zwischenkriegszeit. Eine Verbindung zwischen den Zeitebenen wurde nur dann erkenntlich, wenn die außergewöhnliche Geschichte der Moderne in Katowice von der Zwischenkriegszeit in die Gegenwart hinein verlängert werden konnte, indem Katowice beispielsweise auf dieser Grundlage als „Perle der Architektur“ beschrieben wurde. Für die Analyse der empirischen Triftigkeit war diese ausgeprägte Fokussierung auf die Vergangenheit von Vorteil. Die Aussagen über die Vergangenheit waren leicht identifizierbar und mussten nicht aus dem Text „herausgeschält“ werden. Sie ließen sich zudem zu einer zentralen Aussage zusammenfassen. Alle Vergangenheitsbezüge zielten darauf ab, die gestiegene politische und ökonomische Bedeutung sowie das allgemeine Wachstum der Stadt nach ihrer Eingliederung in den polnischen Staat im Jahr 1922 herauszuarbeiten. Ferner ging es in den Texten darum, den Status der neuen Woiwodschaftshauptstadt als mit weitreichender Autonomie innerhalb der Zweiten Polnischen Republik ausgestatteter Verwaltungseinheit zu konstatieren, der die Errichtung neuer Verwaltungs-, Repräsentations- und Wohngebäude unumgänglich machte. Es wurde ferner erklärt, wie die Vielzahl der modernen Gebäude in der Stadt zustande kam. Dafür wurde argumentiert, dass den damaligen Entscheidungsträgern der Baustil der Moderne als geeignetes Mittel zur Lösung der baulichen und repräsentativen Herausforderungen erschien. Diese Aussagen über die Vergangenheit konnten anhand der polnischen Literatur zur Stadtgeschichte als empirisch triftig verifiziert werden. Sie geben den Grundkonsens der Historiografie zur Zwischenkriegszeit der Stadt wieder und sind gleichzeitig in hohem Maße repräsentativ.¹⁶¹ Der Abgleich mit der Historiografie machte jedoch auch die Enge des Ausschnittes deutlich, der aus dem vergangenen Geschehen ausgewählt und zur Darstellung gebracht wurde. Die Auswahl der Vergangenheitspartikel war sehr selektiv, sie gaben nur einen verengten Blick auf die Zwischenkriegszeit in Ka-
Vgl. Janota, Katowice między wojnami [Katowice zwischen den Kriegen] (); Franciszek Serafin (Hg.): Województwo śląskie ( – ). Zarys monograficzny [Die Woiwodschaft Schlesien ( – ). Ein monografischer Abriss]. Katowice .
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towice frei. Im Unterschied zu den hier analysierten Texten verbleibt die Historiografie zudem nicht auf der beschreibenden Ebene, sie gibt Erklärungen für die Phänomene, die in den Texten zur Route der Moderne nicht anzutreffen waren. Die historiografischen Überblickswerke gehen beispielsweise darauf ein, dass nach 1922 dem preußisch-deutsch geprägten Zentrum der Stadt im bis dahin wenig entwickelten, südlichen Stadtzentrum ein polnisch geprägtes städtebauliches Gegenstück zuerst in Form des Neoklassizismus und später im Stil der Moderne entgegengesetzt wurde.¹⁶² Derartige Kontextualisierungen, die für ein umfassendes Verständnis der Entstehungsbedingungen der modernen Architektur von grundlegender Bedeutung gewesen wären, waren in den Materialien zur Moderne nicht enthalten. Der analysierte Text traf ferner widersprüchliche Aussagen bezüglich der Bedeutung der Architekturmoderne in Katowice. Zu Beginn der Darstellung auf dem Flyer wurde auf die polenweite Einzigartigkeit der modernen Stadtlandschaft in Katowice verwiesen, während weiter unten die europaweit einzigartigen Konstruktionen hervorgehoben wurden. Damit stößt die empirische Triftigkeit an ihre Grenzen. Zumindest die polnische Hafenstadt Gdynia verfügt über ein vergleichbares städtebauliches und architektonisches Ensemble, das zudem zeitgleich zur Architekturmoderne in Katowice entstanden ist.¹⁶³ Es ist demnach empirisch nicht belegbar, dass die Architekturmoderne in Katowice in Polen einzigartig ist. Ziel dieser Aussage schien es gewesen zu sein, Katowice ein Alleinstellungsmerkmal im nationalen Vergleich zuzuschreiben um damit einen marketingstrategischen Vorteil für das „Produkt Moderne“ zu erreichen. Bis auf derartige Ausnahmen war der Großteil der getroffenen Aussagen über die Vergangenheit jedoch empirisch nachweisbar. Deutlich trat jedoch die große Selektivität und Ausschnitthaftigkeit hervor, mit der die Vergangenheitspartikel ausgewählt wurden. Die Analyse der narrativen Triftigkeit zeigt, dass die Darstellung einer polnischen Erfolgsgeschichte sowie einer Aufschwungphase der Stadt als Leitmotiv für das Arrangement der Vergangenheitspartikel gewählt wurde. Die wenigen empirisch belastbaren Fakten, die als Grundlage aus einer sehr breiten Historiografie zur Zwischenkriegszeit herausgegriffen wurden, sind argumentativ überzeugend
Vgl. Szczypka-Gwiazda, Architektura i urbanistyka [Architektur und Stadtplanung] (), S. – , hier S. f. Szczypka-Gwiazda weist ferner darauf hin, dass anfangs, in den Jahren bis , vor allem im neoklassizistischen Stil gebaut wurde, da der Klassizismus als „Synonym für das Polentum“ galt. (S. ). Das Gebäude des Schlesischen Sejm und des Woiwodschaftsamtes sind in dieser Formensprache erbaut worden. Das Moderne Bauen setzte sich erst gegen Ende der er Jahre als bestimmender Baustil in Katowice durch, der „zum Symbol des polnischen Fortschrittes werden sollte“ (S. ). Vgl. Störtkuhl, Gdynia – Meeresmetropole (), S. – .
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zu einer Geschichte verarbeitet worden: Katowice wurde nach 1922 eine polnische Woiwodschaftsstadt, blühte auf und entwickelte sich. Es musste viel gebaut werden, um die wachsende Zahl der Einwohner beherbergen und den neuen Administrations- und Repräsentationsaufgaben gerecht werden zu können. Diese Stringenz in der Erzählung konnte jedoch nur erreicht werden, indem auf eine ausgewogene, umfassende Darstellung des Entstehungszusammenhanges der Architekturmoderne in der Stadt verzichtet wurde. So vermittelten die Texte auf dem Flyer beispielsweise den Eindruck, die Stadtgeschichte beginne mit einem ökonomischen Aufschwung und Bedeutungszuwachs nach der Eingliederung in die polnische Republik im Jahr 1922. Der Text auf der Webseite folgte einer ähnlichen Logik, wies aber auf eine Kontinuität der Stadtgeschichte als Verwaltungsund Industriezentrum hin, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht. Keiner der analysierten Texte thematisierte jedoch die Frage, zu welchem Staat Katowice vor 1922 gehörte; die Hinweise in den Texten ließen lediglich den Schluss zu, dass Katowice nicht zu Polen gehört haben kann.¹⁶⁴ Die Texte warfen gerade an der Stelle, die den Beginn der Erfolgsgeschichte markieren sollte, weiterführende Fragen auf, die unbeantwortet blieben. Das Erzählmuster, das deutlich von einer polnischen Perspektive geprägt war, stieß somit an seine Grenze und hätte spätestens an dieser Stelle erweitert werden müssen, um narrativ triftig zu bleiben. So wurde in den Texten etwa eine große Anzahl von Zuzüglern erwähnt.Woher diese Zuwanderer nach 1922 kamen oder ob es neben der Zuwanderung vielleicht auch das gegenläufige Phänomen der Abwanderung aus der Stadt gegeben hat, blieb im Unklaren. Um erklären zu können, warum so viele Menschen ab 1922 nach Katowice kamen, hätte auf die unmittelbare Nachkriegsgeschichte von Stadt und Region, auf die Teilung Oberschlesiens durch den Völkerbund infolge der Schlesischen Aufstände verwiesen werden müssen. Die Teilung der Region löste Migrationsströme aus, etwa unter den Polen, die in den bei Deutschland verbliebenen oberschlesischen Gebieten lebten, nach dem Wiederentstehen des polnischen Staates aber dorthin umsiedelten. Die neuen Einwohner der Stadt waren demnach hauptsächlich polnisch gesinnte Die Texte auf dem Informationsmaterial sprachen die Zeit vor überhaupt nicht an, sie wurde an keiner Stelle thematisiert. Alle Texte bezogen sich ausschließlich auf das Jahr und begannen zumeist auch mit dieser Zeitangabe und dem Hinweis auf die staatliche Zughörigkeit zu Polen. Auf der Webseite hieß es: „Katowice ist eine Stadt, die infolge des gewaltigen industriellen Wachstums im . und . Jahrhundert entstand. Als sie im Jahr an Polen angeschlossen wurde, erhielt sie den Hauptstadtstatus für die neue schlesische Woiwodschaft […].“ Die Stadtgründung im . Jahrhundert wird zwar in einem Satz angesprochen, jedoch nicht weiter ausgeführt. Vgl. das Informationsmaterial „Modernizm w Katowicach. Szlak Moderny“ [Moderne in Katowice. Die Route der Moderne] sowie die Webseite der Route der Moderne, URL http://www.mo derna.katowice.eu/ (Zugriff . . ).
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Oberschlesier, die nicht länger in Deutschland leben wollten und die Chance zur Umsiedlung nutzten. Gänzlich unerwähnt blieb auch die gegenläufige Wanderungsbewegung der deutschen Optanten. Diese wollten sich meist mit der neuen Staatszugehörigkeit der Stadt zu Polen nicht abfinden und verließen Katowice in Richtung der noch deutschen oberschlesischen Territorien. Das Berühren dieser Aspekte hätte ein Aufgreifen der komplexen internationalen Gemengelage in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg impliziert und die Frage danach aufgeworfen, unter welchen Umständen Katowice an Polen angegliedert worden war. Diese vielschichtigen Zusammenhänge passten nicht zur Intention des Textes. Verweise auf das internationale Ringen um eine Lösung der bürgerkriegsartigen Zustände in der Region im Anschluss an die offizielle Beendigung des Ersten Weltkrieges oder die Entscheidung des Völkerbundes, Katowice trotz eines Votums von 85 % der Bevölkerung für einen Verbleib bei Deutschland dennoch Polen zuzuschlagen, eigneten sich nicht als Grundlage für das Erzählen der hier intendierten polnischen Erfolgsgeschichte. Die Analyse der narrativen Triftigkeit legte eine weitere Erzählstrategie frei. Diese basierte darauf, die Verbindung zwischen dem aufgewerteten Status von Katowice als Woiwodschaftshauptstadt und dem Auftreten moderner Architektur in der Stadt hervorzuheben. Es wurde argumentiert, dass die moderne Architektur infolge der wirtschaftlichen Entwicklung, des Prestigezuwachses und der steigenden Bevölkerungszahl in der Stadt entstand. Diese Argumentation wurde erneut durch einen sehr engen Fokus auf einen bestimmten Teilbereich der Vergangenheit untermauert, während andere Aspekte unerwähnt blieben. Ein vollständiges Bild der Entstehungsbedingungen der Architekturmoderne in Katowice ergibt sich aber erst mit einem Rekurs auf die benachbarten Städte Gleiwitz, Beuthen und Hindenburg, die nach 1922 jenseits der neu gezogenen deutschpolnischen Grenze lagen und nun in einem Konkurrenzverhältnis zu Katowice standen. Der deutsch-polnische Streit um die rechtmäßige staatliche Zugehörigkeit Oberschlesiens wurde mit der Teilung der Region und der neuen Grenzziehung nicht beigelegt, vielmehr verlagerte er sich in den symbolischen Raum. Sowohl auf der deutschen als auch der polnischen Seite der Grenze wurde die moderne Architektur als adäquates Mittel betrachtet, Legitimitätsansprüchen auf das Gebiet Ausdruck zu verleihen. Gleichzeitig entspann sich ein Konkurrenzkampf, ein symbolisches Wettrüsten mit architektonischen Mitteln.Während etwa in Beuthen, Gleiwitz und Hindenburg darüber nachgedacht wurde, die drei Städte in einer großflächigen administrativen und städtebaulichen Einheit zusammenzuführen¹⁶⁵, wurden alle administrativen und repräsentativen Aufgaben in Kato-
Die neue Grenzsituation stellte die für Gleiwitz, Hindenburg und Beuthen verantwortlichen
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wice gebündelt und führten dort zu einer entsprechenden Dichte an Neubauten. Es entstanden jedoch viele Parallelen: Im deutschen Hindenburg etwa sollte im Rahmen einer gänzlichen Neuplanung der Innenstadtbebauung im Stil der Architekturmoderne ähnlich wie in Katowice eine Hochhaus-Dominante (Wolkenkratzer) als zentrales Element einer modernen Großstadt entstehen.¹⁶⁶ Die Kunsthistorikerin Beate Störtkuhl fasst die Rivalität zwischen den deutschen und polnischen Städten in Oberschlesien zusammen: Vor allem […] in Oberschlesien wurde der Stil der internationalen Moderne im Wettbewerb zwischen beiden Nationen instrumentalisiert, um die jeweils eigenen kulturellen Errungenschaften hervorzuheben und so Fortschritt und wirtschaftliche Dynamik zu demonstrieren.¹⁶⁷
Die ausschließliche Konzentration auf Katowice, mithin das Ausblenden von ähnlichen Entwicklungen in der nächsten Umgebung der Stadt ließ auf eine diachrone Argumentationsstruktur schließen. Es ging um die Darstellung von Verläufen, nicht von Zuständen, was einer synchronen Betrachtungsweise entsprechen würde. Das Diachrone der Narration zeichnete sich schließlich auch
Stadtplaner vor ähnlich große Herausforderungen und schwierige Aufgaben wie ihre Kollegen in Katowice. Den drei Städten fehlte nach der Grenzziehung das Verwaltungszentrum der Region, das bis dahin Kattowitz gewesen war. Ferner befanden sich die drei Städte nunmehr in unmittelbarer Grenzlage, was einen starken Zuzug von Menschen aus den an Polen gefallenen Gebieten jenseits der neuen Grenze bedingte. Als Reaktion auf diese Situation wurde ein Projekt präsentiert, dass eine gänzliche Neuordnung der Region vorsah. Die Leitung übernahm Stadtbaurat Paul Wolf, und es wurde ein Plan für die zukünftige Entwicklung der drei Städte erarbeitet, die sich als Subzentren um ein neu entstehendes Verwaltungszentrum gruppieren sollten.Vgl. Paul Wolf: Das oberschlesische Dreistädtegebiet als städtebauliches Problem, in: C. Schabik/A. Stütz/M. Wolf: Dreistädteeinheit. Beuthen, Gleiwitz, Hindenburg. Berlin u. a. . Die Planungen der sog. Dreistädteeinheit betrafen vor allem Hindenburg, das erst im Jahr das Stadtrecht erhielt und im Vergleich zu Gleiwitz und Beuthen das größte städteplanerische Entwicklungspotenzial besaß. Hindenburg, das häufig als größtes Dorf Europas bezeichnet wurde, verfügte nicht über eine bebaute Innenstadt, sondern bestand aus einem Zusammenschluss von Siedlungen. Die Schaffung einer City, eines zentralen innerstädtischen Umfeldes, gehörte zu den zentralen Aufgaben. Im Jahr wurde ein Wettbewerb zur Bebauung der Innenstadt ausgeschrieben, an der sich aufgrund des prestigeträchtigen Charakters namenhafte Architekten beteiligten, etwa Max Berg, Paul Bonatz und Hans Poelzig. Diese grundlegenden Umgestaltungspläne der Hindenburger City wurden nicht umgesetzt. Es entstanden jedoch vielfältige Verwaltungsbauten und öffentliche Einrichtungen im Stil der Architekturmoderne, etwa das Polizeiamt, das Stadtbad oder die St. Josephkirche des bekannten Kölner Architekten Dominikus Böhm. Vgl. Szczypka-Gwiazda, Architektura i urbanistyka [Architektur und Stadtplanung] (), S. f.; Störtkuhl, Von „deutscher Bauart“ (), S. f. Ebd., S. .
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im Bestreben ab, der Architekturmoderne in Katowice den Status eines Alleinstellungsmerkmales zu verleihen. Vergleichsebenen zu ähnlichen Phänomenen wurden im Text nur eröffnet, um die polen- und europaweite Einzigartigkeit der Konstruktionen und des Ensembles in Katowice zu betonen. Doch gerade der Bezug zu den benachbarten oberschlesischen Städten, in denen die modernistischen architektonischen Umbauten oftmals weniger konsequent umgesetzt worden sind, hätte die Besonderheit von Katowice unterstreichen können. So hatten die eingangs erwähnten Umstände des Zustandekommens der Route der Moderne als Projekt der Stadtverwaltung von Katowice und nicht als woiwodschaftsweites Unternehmen deutlichen Einfluss auf die Perspektive und den Aufbau der Narration. Wäre die Route der Moderne als Projekt der Woiwodschaft umgesetzt worden, hätten die modernen Gebäude und urbanistischen Anlagen sowohl in Zabrze, Gleiwitz und Beuthen als auch in Katowice Erwähnung gefunden, was einen Vergleich der Anlagen in den einzelnen Städten zur Folge gehabt hätte. Dieser Vergleich wäre für Katowice aufgrund des Umfanges und der Qualität der Bauten positiv ausgefallen. Vergleichspunkte hätte es demnach in der nächsten, regionalen Umgebung ebenso wie auf nationaler Ebene gegeben,¹⁶⁸ diese blieben jedoch unbeachtet. Stattdessen suchte man den Vergleich im großen Maßstab: Das amerikanische Chicago war der Bezugspunkt mit dem sich Katowice messen wollte. Sowohl auf dem Flyer als auch der Webseite wurde Katowice als „polnische[s] Chicago“ bezeichnet. Die amerikanische Stadt Chicago gilt aus verschiedenen Gründen als Chiffre der Moderne schlechthin: Nach einem Großbrand im Jahr 1871 bis auf die Grundmauern niedergebrannt, musste sich Chicago im Anschluss neu erfinden. Im Rahmen des Wiederaufbaus entstanden bereits um das Jahr 1890 einige Bauten, die auf historische Bezüge verzichteten.¹⁶⁹ Der sofort begonnene Neuaufbau machte die Stadt schließlich zur jüngsten und modernsten der Neuen Welt. In dieser Zeit wurde der große Chicagomythos geboren: „wie der Phönix hatte sich die Stadt neu aus der Asche erhoben.“¹⁷⁰ Es folgte ein besonders rasanter Modernisierungsprozess, und Chicago wurde zum „Schauplatz der anbrechenden Auch grenzüberschreitend hätten Bezugspunkte herausgearbeitet werden können: Das unweit von Katowice in Tschechien gelegene Ostrava/Ostrau verfügt ebenfalls über ein Ensemble von Bauten der Architekturmoderne. Es hätte sogar weitreichende Ansätze zum Vergleich gegeben, denn Ostrava hat als Industriestadt eine ähnliche Vergangenheit wie Katowice. Diese grenzüberschreitenden Zusammenhänge zeigt etwa der Ausstellungskatalog von Tadeáš Goryczka/ Jaroslav Němec: Trojhlavý drag, trójgłowy smok, dreiköpfiger Drache. Ostrava . Vgl. Norbert Huse: Geschichte der Architektur im . Jahrhundert. München , S. . Vgl. Ralf Thies/Dietmar Jazbinsek: Embleme der Moderne. Discussion Paper FS-II – , Wissenschaftszentrum, Berlin, , URL http://bibliothek.wz-berlin.de/pdf//ii – .pdf (Zugriff . . ).
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Moderne, [stand] für ein Konzept der Moderne, in dem Amerika das Maß der Dinge war.“¹⁷¹ Bereits um 1900 galt Chicago als „Emblem der Moderne“.¹⁷² Neuartige Bauweisen kamen zum Einsatz, denn in der aufstrebenden Wirtschaftsmetropole war Baugrund ein kostbares Gut. Mauerwerkskonstruktionen gingen immer mit Höhenbegrenzungen einher, und die immer dickeren Wände vereinnahmten teuren Grund und Boden. Die Idee des Stahlskeletts versprach Abhilfe: Es war platzsparend, entzog keinen kostbaren Boden der wirtschaftlichen Nutzung, es ließ sich leicht errichten und aufstocken und ließ mehr Licht in die Gebäude als der Mauerbau.¹⁷³ Die ersten Wolkenkratzer mit Stahlskelettkonstruktion entstanden nach Entwürfen von William Le Baron Jenney¹⁷⁴, und Mies van der Rohe¹⁷⁵ wies nach 1945 von Chicago aus den Weg in die Nachkriegsmoderne. Auf allen diesen Bedeutungsebenen der „Chiffre der Moderne“ ließ sich die Zuschreibung „polnisches Chicago“ für Katowice zum Sprechen bringen: Der Neuanfang nach der Eingliederung in den polnischen Staat konnte als ähnliche tabula rasa verstanden werden, wie sie der Großbrand in Chicago war. Im anschließenden Aufstieg der Stadt zur prosperierenden Woiwodschaftskapitale klang die Chicagoer Entwicklung an, das zur Stadt der Metzger, des Stahles aber auch der Banken wurde. Ferner waren die Parallelen zwischen Chicago und Katowice als Städte, Ebd. Ebd. Vgl. Huse, Geschichte der Architektur (), S. f. William Le Baron Jenney ( – ) war amerikanischer Architekt und Ingenieur und gilt als Pionier der Wolkenkratzer. Er hat bereits Ende der er Jahre in Chicago Entwürfe für Hochhäuser in Stahlskelettbauweise gefertigt. Das von ihm projektierte Home Insurance Building in Chicago gilt als erster realisierter Bau eines Wolkenkratzers. Ausführlicher zu den Bauten Jenneys siehe etwa URL http://www.visual-arts-cork.com/architecture/william-le-baron-jenney. htm (Zugriff . . ). Ludwig Mies van der Rohe ( – ) war deutsch-amerikanischer Architekt und gilt als einer der bedeutendsten Architekten der modernen Architektur. Er war unter anderem Mitglied des Deutschen Werkbundes, als dessen Vizepräsident er an der Entstehung der Stuttgarter Weißenhofsiedlung beteiligt war. wurde er als Direktor ans Dessauer Bauhaus berufen, das jedoch bereits aus politischen Gründen geschlossen wurde. Mies van der Rohe versuchte, das Bauhaus als private Lehranstalt in Berlin weiterzuführen, gab jedoch aufgrund des politischen Drucks der nationalsozialistisch geprägten Reichsregierung auf. Die Nationalsozialisten lehnten das Bauhaus aufgrund der dort vertretenen Kulturauffassung, aber auch aufgrund seiner „bolschewistischen Orientierung“ ab. übersiedelte er in die Vereinigen Staaten, wurde er amerikanischer Staatsbürger. Am Armour Institute in Chicago nahm er seine Lehrtätigkeit wieder auf und gründete ein eigenes Architekturbüro. Eine konzise Übersicht über die Biografie und die wichtigsten Bauten Mies van der Rohes, etwa das Haus Tugendhat in Brünn oder den Barcelona Pavillon für die Weltausstellung in Barcelona, sind auf der Internetseite des Dessauer Bauhauses einsehbar. URL http://bauhaus-online.de/atlas/personen/ludwig-mies-vander-rohe (Zugriff . . ).
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deren Bedeutung auf dem Handel beruhte, eingängig. Dass hingegen die Dimensionen, die Größenverhältnisse und die regionale, nationale bzw. internationale Bedeutung von Chicago und Katowice unterschiedlich waren, blieb unerwähnt. Parallelen zwischen beiden Städte ergeben sich aus der Tatsache, dass sowohl in Chicago als auch in Katowice die Stahlskelettbauweise jeweils pionierhaft und erstmalig im Landesvergleich zum Einsatz kam. Dennoch blieb der Vergleich mit der amerikanischen Millionenmetropole bestenfalls eine exotische Anekdote, die Katowice in seiner Bedeutung aufwerten sollte. Da die Chiffre Chicago aber an keiner Stelle in den analysierten Texten erklärt wurde, kann der Vergleich seine Wirkung ebenso verfehlen, wenn der Rezipient die Bedeutung Chicagos nicht versteht. Unklar blieb in der Art der Darstellung ferner, auf welcher Zeitebene der Vergleich angesiedelt war: Sollte das gegenwärtige Katowice mit Chicago verglichen werden oder die Stadt in der Zwischenkriegszeit? Die Indizien sprechen dafür, dass es sich um eine bewusste Verwischung der Zeitebenen handelt. Es sollte eine Kontinuität in der Entwicklung der Stadt konstruieren werden, die von der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart reicht und die Brüche des Zweiten Weltkrieges oder des anschließenden kommunistischen Regimes bewusst ausspart. Narrationen wollen nicht nur durch ihre Bezüge auf vergangenes Geschehen und deren argumentative Zusammensetzung überzeugen, sie vermitteln darauf aufbauend auch Botschaften und Orientierungsangebote, die in der Gegenwart eine möglichst hohe Geltung besitzen sollen. Um normativ triftig zu sein, müssen die aus den Vergangenheitsbezügen abgeleiteten Botschaften eine möglichst große Deckung mit den Norm- und Wertvorstellungen der Rezipienten aufweisen. Die in den analysierten Texten formulierten Botschaften waren deutlich herauszulesen: Katowice sei dank der Gebäude der Architekturmoderne zu einer „architektonischen Perle“ geworden; die Bauten verliehen der Stadt ferner ihren „originellen Charakter“. Die damit verbundene „ungewöhnliche Atmosphäre“ in Katowice sei zu einer „beständigen Inspiration“ für Kunstschaffende aller Metiers geworden. Es wurde auf den positiv besetzten Begriff der „Perle“ abgehoben, der genuin für etwas Einzigartiges und Wertvolles steht. In Verbindung mit Architektur funktioniert das Bild gemeinhin als Chiffre für eine historisch gewachsene, traditionsreiche Bausubstanz aus vergangenen Epochen – etwas, mit dem Katowice aufgrund seiner kurzen Geschichte als Stadt bislang kaum aufwarten konnte. Mit der Wiederentdeckung der Architektur aus der Zwischenkriegszeit und ihrer Aufwertung schien nun für Katowice eine – ganz eigene – Möglichkeit gefunden, sich als „Perle der Architektur“ zu präsentieren und als architektonisch herausragender Ort touristisch anschlussfähig zu werden. Die Bezeichnung „architektonische Perle“ setzte sich erheblich von den bislang etablierten Bildern über
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Katowice als Arbeiter- und Industriestadt ab und schrieb sich in die Versuche einer Redefinierung des städtischen Images ein. Gleiches galt für den im Text angeführten „originellen Charakter“¹⁷⁶, den das architektonische Ensemble der Stadt verleihe. Wiederum wurde über den Bezug auf die moderne Architektur ein positiv konnotiertes Bild über die Stadt als „originell“ entworfen. Warum der Text die besondere Atmosphäre in Katowice insbesondere für Künstler als Inspirationsquelle darstellte, nicht aber für die Einwohner der Stadt selbst, und warum zur Illustration dieses Zusammenhanges ferner Künstler angeführt wurden, die mit Katowice bis auf das Drehen von Filmen keine Verbindung hatten, bleibt jedoch erklärungswürdig. Vermuten lässt sich aus den angeführten Beispielen, dass es nicht in erster Linie Ziel der Route der Moderne war, ein neues Identifikationsangebot für die Einwohner von Katowice selbst zu schaffen. Es sollte vielmehr ein touristisches Produkt entworfen werden, das einer breiten Zielgruppe die Besonderheiten der Architekturmoderne näher bringt. Neben den positiv besetzten Bildern der Perle und der Originalität sollte der Narration ferner mit dem Vergleich zwischen Katowice und Chicago eine hohe Überzeugungskraft verliehen werden. Dieser Bezug auf die nordamerikanische Metropole kann als normativ sehr triftig angesehen werden.Verbindungen zu und Bezüge auf Amerika haben in Polen eine überwiegend positive Konnotation.¹⁷⁷ Amerika wird mit wirtschaftlicher Stärke, Fortschrittsglauben und Geltung verbundenen, Zuschreibungen, die auch in der Gegenwart als Leitvorstellungen für den Transformationsprozess der Stadt gelten können. Zu Beginn der Analyse wurde darauf verwiesen, dass sich historische Narrationen nur an wenigen Stellen in den untersuchten Materialien ausmachen ließen. Dort, wo sich die Zeitebenen in der Darstellung verbanden, wurde ein traditionaler Sinnbildungsprozess deutlich. Die Art der Erzählung konstruierte ein Kontinuum zwischen der beschriebenen Vergangenheit und der Gegenwart, in der
Originell bedeutet vom Lateinischen kommend soviel wie ursprünglich. In den hier behandelten Texten wird originell jedoch nicht in dieser Verwendung gebraucht, es soll vielmehr neuartig, besonders und interessant bedeuten. Das positive Amerikabild lässt sich vor allem auf die geopolitische Lage Polens zurückführen. In der Mitte zwischen Deutschland und Russland gelegen, tendierte und tendiert etwa die polnische Außenpolitik häufig zu einer amerikafreundlichen Einstellung, da sowohl Russland als auch Deutschland die staatliche Souveränität Polens etwa im Zweiten Weltkrieg verletzt haben. Die USA standen in den schwierigen Momenten des . Jahrhunderts jedoch häufig an der Seite der Polen. Vgl. Stefan Bednarek/Michał Matlak: Mehr als eine platonische Liebe. Das polnische Amerikabild, in: Osteuropa (), S. – ; ferner dazu Adam Krzemiński: Amerika, in: Andreas Lawaty/Hubert Orłowski (Hg.): Deutsche und Polen. Geschichte, Kultur, Politik. München , S. – .
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die Verhältnisse der Vergangenheit scheinbar noch immer Gültigkeit besaßen. Als Ursprung dieser Entwicklung bestimmte die Narration den Anschluss der Stadt an den polnischen Staat im Jahr 1922. Die anschließend einsetzende Erfolgsgeschichte eines Bedeutungsgewinns und wirtschaftlicher Prosperität, deren Ausdruck die moderne Architektur war, entfaltete in der Logik traditionaler Sinnbildung auch in der Gegenwart Wirkung: Sie kreierte die gegenwärtige besondere bzw. „originelle“ Atmosphäre der Stadt. Dieses argumentative Vorgehen ließ keine Entwicklung zwischen der Zeitebene der Zwischenkriegszeit, auf der sie basierte, und der Gegenwart, für die sie gedacht war, erkennen. Das in der Vergangenheit Erreichte („Katowice wurde zu einem außergewöhnlichen funktionalen Wohnund Lebensraum umgestaltet“) sollte in gleicher Weise für die Gegenwart Gültigkeit besitzen. Wenn scheinbar „alles beim Alten“ bleibt, fehlt jedoch der Platz für reflektierende oder kritische Anmerkungen über Vergangenheit und Gegenwart. So wurde beispielsweise nicht darauf verwiesen, dass die Wiederentdeckung der Bedeutung der modernen Architektur in Katowice ein recht junges Phänomen ist und dieser Prozess erst vor wenigen Jahren einsetzte. Ein Hinweis auf die Entstehungsgeschichte der Route der Moderne hätte diesem Umstand Rechnung tragen können. Die Texte vermittelten hingegen den Eindruck, die Architekturmoderne habe stets zum Portfolio der städtischen Selbstbeschreibung gehört. Ferner ist auffällig, dass die Erzählweise keine Bezüge auf die Zukunft enthielt. Die Narration hatte zum Ziel, die besondere Atmosphäre der Zwischenkriegszeit für die Gegenwart anschlussfähig zu machen – und blieb auf diesem Niveau stehen. Eine weiterführende Vision für die zukünftige Entwicklung der Stadt vor dem Hintergrund der Besonderheiten der modernen Architektur wurde nicht entfaltet. Die Vergangenheit wurde in die Gegenwart hinein geholt und die Grenze zwischen diesen beiden Zeitebenen aufgehoben. Das Verwischen der Grenzen zwischen den Zeitebenen hatte zweierlei Auswirkungen: Es führte einerseits zu einem Dienstbarmachen der Vergangenheit für die Gegenwart, andererseits kann es als argumentative Technik angesehen werden, die Brüche in der Entwicklung der Stadt auszublenden. Der Schluss liegt daher nahe, dass mit der Entwicklung dieses touristischen Produktes zur Imagebildung beigetragen und die Fremdwahrnehmung der Stadt positiv verändert werden sollte. Der Überraschungseffekt über den bislang unentdeckten, dem prägenden Eindruck der Stadt so stark entgegenlaufenden Aspekt der Stadtgeschichte konnte für die Veränderung der Fremdwahrnehmung durchaus prägnant sein. Das Potenzial einer identitätsrelevanten Sinnbildung über den Bezug zur Zwischenkriegszeit und die moderne Architektur für die Einwohner von Katowice muss als wesentlich geringer eingeschätzt werden. Für eine Orientierungsleistung in der Gegenwart reicht die Beschreibung der Vergangenheit nicht aus, es hätten vielmehr Entwicklungslinien in die Zukunft auf-
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gezeigt werden müssen, auf deren Grundlage klare Orientierungsangebote und Botschaften formuliert werden. Um ein identitätsrelevantes Angebot zu schaffen, hätte sowohl eine Vision der Herkunft, der Entstehung – mithin die Projektion zurück – als auch in die Zukunft angelegt sein müssen.Vor allem die in die Zukunft gerichtete Vision fehlte, während die rückwärtsgerichtete nur schwach ausgeprägt war. Aus der Argumentationsstruktur der Materialien zur Route der Moderne ließ sich deutlich der Wunsch erkennen, ein neues Bild schaffen bzw. eine neue Wahrnehmung Katowices etablieren zu wollen. Dafür wurde die Vergangenheit als Bezugsebene und zentraler Ausgangspunkt in Form der modernen Gebäude dargestellt; Erklärungen, Kontextualisierungen oder Reflexionen, mithin eine Auseinandersetzung mit dieser Vergangenheit in der Gegenwart, erfolgte nur sehr eingeschränkt. Es wurde vielmehr versucht, die Spezifik der Architekturmoderne wiederzugeben, indem detailliert auf die Besonderheiten dieses Baustils verwiesen wurde, etwa den Wintergarten oder die Loggia. Funktionalität, Minimalismus und Licht – mit derartigen Schlagwörtern wurde versucht, die Spezifik der modernen Architektur unkompliziert auf den Punkt zu bringen, um ein Verständnis für die Besonderheiten dieses Architekturstils zu schaffen. Historische Einordnungen waren dafür eher Beiwerk. Einerseits ist dieses Vorgehen im Rahmen der Erstellung eines touristischen Produktes für das Stadtmarketing nicht ungewöhnlich. Die Produktion eines wirkungsvollen Bildes, das bei der potenziellen Zielgruppe Interesse für den Gegenstand weckt und positive Konnotationen hervorruft, hat deutliche Priorität vor einer kontextualisierenden und reflektierenden historischen Darstellung. Andererseits könnte argumentiert werden, dass die Route der Moderne als finanziell gut ausgestattetes Projekt der Stadtverwaltung die Möglichkeit geboten hätte, ein historisches Thema reflektiert in die öffentliche Diskussion und Wahrnehmung in Katowice einzubringen. Die Route hätte zum Anlass für eine öffentliche Debatte über den Stellenwert der Zwischenkriegszeit in der Stadtgeschichte werden können. Dafür wäre es notwendig gewesen komplexe Themen, wie etwa die Grenzsituation Katowices nach 1922 als „neue“ polnische Stadt an der deutsch-polnischen Grenze anzusprechen und deren schwierige Genese zu erklären. Die Narrateure hatten sich gegen die Thematisierung heikler Punkte der Stadtgeschichte entschieden und erzählten stattdessen eine ausschnitthafte, in nationalen Kategorien gefasste Geschichte über die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen. Sie wollten ein innovatives, anziehendes Bild der Stadt in der Gegenwart zeichnen und blieben dafür den vor allem national geprägten Erzählkonventionen über Katowice treu.
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Analyseebene II: Das Geschichtsbewusstsein der Narrateure Die Analyse des Geschichtsbewusstseins der Narrateure der Route der Moderne unterscheidet sich von der Analyse des im vorausgegangenen Kapitel untersuchten Gartenstadtmotivs. Einer der grundlegenden Unterschiede besteht darin, dass die Route als Auftragswerk entstand. Das Text- und Bildmaterial für Webseite, Infoboxen und Flyer wurde weder von den Mitarbeitern der koordinierenden Marketingabteilung der Stadtverwaltung noch von den ursprünglichen Ideengebern im Kulturerbezentrum erstellt. Es wurde nach einer öffentlichen Ausschreibung von einer Posener Firma entworfen.¹⁷⁸ So hatten die Initiatoren aus dem Kulturerbezentrum zwar die Auswahl der Gebäude für die Route vorgenommen, am Entstehungsprozess von Texten und Materialen waren sie jedoch nicht mehr beteiligt. Als wissenschaftliche Begleitung arbeitete Dr. Ryszard Nakonieczny, Architekturhistoriker von der Schlesischen Technischen Universität in Gleiwitz, mit.¹⁷⁹ In dieser Gemengelage, in der die Ideengeber des Projektes und die Verfasser der entstandenen Texte nicht identisch waren, konnte den Texten kein konkreter Autor zugeordnet werden. Die fertigen Materialen wurden abgenommen, für ihren Inhalt zeichnete der Leiter der Marketingabteilung in der Stadtverwaltung,Waldemar Bojarun, verantwortlich. Die Auswertung seines Interviews liefert einen vertieften Einblick in die Entstehung sowie die angedachte Wirkung der Route der Moderne. Es gibt ferner Auskunft über seine Intentionen und Motivationen bezüglich des Projektes sowie sein Verständnis von Geschichte und ihren Funktionen. Bojarun verfügte über eine sehr ausgeprägte Vorstellung über den Gang der Geschichte der Stadt, die er unaufgefordert zu Beginn des Gespräches in einer Art Monolog präsentierte.¹⁸⁰ Auffällig waren die vielen Parallelen zwischen seinen Ansichten zur Stadtgeschichte und den Ergebnissen der Triftigkeitsanalyse, etwa die Annahme, dass die Geschichte der Stadt als stetige Erfolgsgeschichte zu betrachten sei. Die Stadt verfüge zwar nur über eine relativ kurze Geschichte, gehöre aber heute, dank Kohle und Stahl, zu den größten Städten Polens. Zur Konkreti Diese Information war weder auf der Webseite der Route der Moderne noch auf sonstigen Materialien vermerkt. Sie stammt von Magdalena Płaza, Mitarbeiterin der Marketingabteilung der Stadtverwaltung, Mai . Ähnliche Aussagen über den Entstehungsprozess der Texte machte in einem Interview Zofia Oslislo. Vgl. Interview Oslislo, Katowice, . Die Mitarbeit bezog sich laut der Internetseite des Projektes vor allem auf die Beschreibung der Moderne als Architekturstil. Vgl. URL http://www.moderna.katowice.eu/content/modernizm (Zugriff . . ). Alle folgenden Aussagen beziehen sich auf ein Interview mit Waldemar Bojarun, Leiter der Marketingabteilung der Stadtverwaltung, Mai , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin.
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sierung seiner These einer „kurzen Geschichte“ setzte Bojarun in seiner Erzählung zeitliche Einschnitte: Am Anfang stand die Rückkehr der Stadt zu Polen in der Zwischenkriegszeit, aber auch „der letzte große Entwicklungsschub“ gegen Ende der 1970er Jahre schien ihm erwähnenswert. Als leichte Stagnation auf dem Weg eines stetigen Wachstums bezeichnete er das Ende der 1980er und den Beginn der 1990er Jahre; spätestens seit 1998 gehe es jedoch wieder bergauf. Die Konstruktion einer andauernden Kontinuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit, einer streng linear verlaufenden Entwicklungslinie, die sich auch durch kleinere Rückschläge in ihrer grundlegenden Geradlinigkeit nicht veränderte, lag dieser Vorstellung zu Grunde. Linear ist dieses Denken über die Vergangenheit nur insofern, als nur die in der Gegenwart als positiv eingestuften Entwicklungsschritte in einer Linie aufeinander folgend gedacht wurden. In dieser Sichtweise problematische Zeitabschnitte, etwa der Zweite Weltkrieg und seine Folgen, wurden aus der linearen Erzählung der Erfolgsgeschichte ausgeklammert. Identisch mit den Befunden der Triftigkeitsanalyse war ferner die Konstruktion eines Ursprunges der Erzählung, den Bojarun mit der „Rückkehr“ der Stadt zu Polen gleichsetzte. Was vor dieser „Rückkehr“ war und von wo die Stadt zurückgekehrt sei, blieb wie in den Texten so auch in Bojaruns Erzählung unerwähnt. Die Verwendung des Begriffes „Rückkehr“ kann jedoch als Signal gewertet werden, dass zu etwas Positivem zurückgekehrt wurde, zu einem ursprünglich guten Zustand. Der unbedingte Wille Bojaruns, die Geschichte seiner Stadt als Erfolgsgeschichte darzustellen, war bestimmend für seine Perspektive auf Vergangenheit und Gegenwart. Elemente der Vergangenheit, die sich nicht in dieses Muster einfügten oder ihm entgegenliefen, wurden ausgespart. Eine Begründung für diese verengende, unbedingt positive Sicht der Dinge könnte seine Position als Chef der Marketingabteilung sein, zu deren Kernaufgaben es zählte, die positiven Seiten der Stadt entsprechend in Szene zu setzen. Den gegenwärtigen Umgestaltungsprozess der Stadt charakterisierte Bojarun mit den beiden Schlagwörtern „Hightech und Kultur“. Die Stadt verwandele sich dank der gut geplanten Infrastrukturinvestitionen vom ehemaligen Kohlestandort zu einem Zentrum der Hightechbranche; gleichzeitig wurde mit dem neuen „Kulturviertel“ um das Schlesische Museum der Innenstadt ein neues, modernes Gesicht verliehen. Dabei bleibe aber die Geschichte keineswegs außen vor: So berichtete Bojarun von den Vorteilen des schlesischen Arbeitsmythos, der auf die Investoren der Hightechbranche eine große Anziehungskraft entfalte. „Die Menschen sind hier bereit, viel zu arbeiten, auch während der Nachtschichten. Das ist in der schlesischen, der städtischen Tradition so enthalten. Dass man auch nachts
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arbeitet, hängt mit den Bergwerken zusammen.“¹⁸¹ Für Bojarun versinnbildlichte der „oberschlesische Arbeitsmythos“ eine gelungene Symbiose von Vergangenheit und Gegenwart, denn die Geschichte hatte folglich einen konkreten Nutzen für die heutige Situation. Wie wichtig ihm die Verbindung zwischen Gestern und Heute war, machte er außerdem am Beispiel des neuen Sitzes des Radiosymphonieorchesters deutlich: Er lobte die „hochmoderne Innenausstattung mit toller Akustik. An der Fassade knüpft das Gebäude mit seinen roten Ziegeln an die lokale Tradition an, nämlich die Bauweise der Siedlung Nikiszowiec.“¹⁸² Fasst man Bojaruns Aussagen über die Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart zusammen, fällt vor allem sein Fokus auf Geschichte als etwas Nutzbringendes für das weitere Wachstum und die Entwicklung der Stadt in der Gegenwart auf. Es wäre übertrieben, hier von einer Instrumentalisierung von Geschichte zu sprechen; passender erscheint der Begriff einer starken Perspektivik, die von der Gegenwart aus die Punkte aus der Vergangenheit aufgreift, die in der gegenwärtigen Situation als anschlussfähig angesehen werden. Dass bei diesem Verfahren kein „vollwertiges“ Bild der Vergangenheit entstand, das neben den Erfolgsgeschichten auch Brüche und Reibungspunkte thematisieren würde, nahm Bojarun bewusst in Kauf: „Wir gehen in neuen Formen vorwärts, binden aber auch die Tradition ein. Und zwar in einer Weise, dass sie angenehm und nützlich ist.“¹⁸³ Geschichte musste in Bojaruns Augen demnach angenehm und konsumierbar sein, durfte möglichst wenig Reibungsflächen bieten, sie musste sich den gegenwärtigen Gegebenheiten anpassen und einen Nutzen bringen. Für den Chef der Marketingabteilung einer Stadt, die sich als neuer Technologiestandort etablieren wollte, war eine solche Einstellung zu Geschichte keine überraschender Befund. Schließlich waren bei der Entstehung der Narration keine Universitätshistoriker am Werke, sondern Marketingexperten, die es auf die öffentliche Wirksamkeit ihrer Geschichten abgesehen hatten und nicht auf historische Reflexion oder Tiefenschärfe. Blickt man über diese professionelle Haltung hinaus, ist dahinter der Wunsch nach einer „befriedeten“ Geschichte zu vermuten: einer Geschichte ohne Brüche und Antagonismen, die der Gegenwart ein stimmiges, „angepasstes“ Bild der Vergangenheit vermittelt und mithin zur Bestätigung der durch den Strukturwandel ins Wanken geratenen Selbstwahrnehmung und Selbstversicherung dient. Eine Anleitung zur kritischen Auseinandersetzung, sowohl mit der Gegenwart als auch der Vergangenheit, war in diesem Vorgehen nicht angelegt.
Ebd. Ebd. Ebd.
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Was Bojarun unter Nützlichkeit in Bezug auf Geschichte verstand, wurde aus den Schilderungen der Entstehungsgeschichte der Route der Moderne deutlich: „Die Stadt hatte festgestellt, dass ein touristisches Produkt in der Innenstadt fehlte. […] Die Route der Moderne sollte die fehlenden Innenstadtdenkmäler und Attraktionen in Katowice ersetzen – also etwas, das der durchschnittliche Tourist in zwei, drei Stunden besichtigen kann.“ Zwei Tendenzen werden anhand dieser Aussage sichtbar: Erstens verfügte die Innenstadt von Katowice in Bojaruns Perspektive bisher über keine touristisch wertvollen Angebote. Das bedeutet, dass das gesamte Bauensemble der Innenstadt aus dem 19. Jahrhundert, das das deutsche Katowice widerspiegelt, für ihn scheinbar weder historischen noch touristischen Wert besaß. Ferner machte er deutlich, dass es sich bei der Route der Moderne um ein touristisches Angebot handelte, das Katowice „im Vergleich mit den anderen schlesischen Städten“¹⁸⁴ etwas Unikates verleihe. Die moderne Architektur sollte zur touristischen Hauptattraktion der Innenstadt ausgebaut werden – in einer für Touristen gut zu bewältigenden Form. Auseinandersetzung oder kritische Reflexion passten nicht zu diesem funktionalen Verständnis von Geschichte.
Ebd.
8 Diskurse. Öffentliche historische Narrationen jenseits institutioneller Verankerungen Die Ausführungen zu den Imagebildungskampagnen im vorangegangenen Kapitel zeigen, dass die öffentlichen Geschichtsdarstellungen, die im städtischen Raum über einen längeren Zeitraum Wirkung entfalten konnten, in erster Linie von der Stadtverwaltung oder von ihr anhängigen Institutionen initiiert, mitgestaltet und geprägt wurden. So ging etwa der Redefinitionsprozess des städtischen Images auf Initiativen der Stadtverwaltung zurück, auch die dabei entstandenen historischen Narrationen wurden von den städtischen Verwaltungsstrukturen selbst initiiert oder zumindest verantwortet und finanziert. Die Stadtverwaltung als Akteur auf dem Feld öffentlicher Geschichte brachte nicht nur historische Sinnbildungen auf den Weg, sie förderte und finanzierte auch geschichtsbezogene Projekte und Initiativen von Einzelpersonen, etwa während des Bewerbungsverfahrens der Stadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas.¹ Zivilgesellschaftliche Vereinigungen, die sich eigenverantwortlich, aus eigener Motivation und politisch ungebunden mit der Geschichte der Stadt auseinandersetzen, haben sich trotz dieser in Katowice realisierten Projekte dennoch bislang kaum etabliert. Eine Vereinigung wie die Stiftung Borussia² in Olsztyn/Allenstein, die Anfang der 1990er Jahre gegründet wurde und sich dezidiert mit der vielschichtigen, multikulturellen Vergangenheit von Ermland und Masuren in grenzüberschreitenden, auch das Kaliningrader Gebiet mit einbeziehenden Projekten beschäftigt, konnte sich in Katowice bislang nicht etablieren. In der oberschlesischen Metropole stand und steht weniger Geschichte im Fokus der Arbeit von Nichtregierungsorganisationen. Als zentrale Themen zivilgesellschaftlicher Vereinigungen gelten vielmehr die Gestaltung des öffentlichen Raumes, Bildung in einem weit verstandenen Sinne sowie die Teilhabe an Entscheidungsprozessen in der Stadt. So hat sich einer der aktivsten Vereine in Katowice mit dem Namen Verbessere deine Stadt Ein Beispiel für die Förderung historischer Projekte während der Bewerbungsphase war das Projekt Städtische Raum-Narrationen (Miejskie Narracje Przestrzenne), das von der Abteilung des Polnischen Architektenverbandes SARP in Katowice durchgeführt wurde. Im Mittelpunkt des Projektes standen Stadtteile von Katowice, die als besonders vernachlässigt galten. Architekten und Soziologen entwarfen in stadtteilorientierter Arbeit Zukunftsszenarien für ihre Entwicklung. Die Vergangenheit der jeweiligen Stadtteile spielte für die Charakterisierung der gegenwärtigen Lage eine entscheidende Rolle und wurde demnach in das Projekt mit einbezogen. Das Pilotprojekt wurde im Stadtteil Szopenice realisiert, die Ergebnisse sind einsehbar unter URL http:// www.sarp.katowice.pl/miejskie_narracje_przestrzene_.html (Zugriff . . ). Zu den Aktivitäten und Zielen der Stiftung Borussia siehe URL http://www.borussia.pl/index. php?p=pg&id= (Zugriff . . ).
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(Napraw sobie miasto)³ zum Ziel gesetzt, eine Erhöhung der Lebensqualität durch einen besonderen Fokus auf die städtische Architektur, die Bildung der Einwohner sowie die Umgestaltung öffentlicher Räume zu erreichen. Auch die sehr aktive Abteilung der Vereinigung der polnischen Architekten (Stowarzyszenie Architektów Polskich, SARP) in Katowice, die sich für einen verantwortungsvollen Umgang mit der stadträumlichen Ordnung einsetzt, ist intensiv an Diskussionen über die zukünftige Ausgestaltung des stadträumlichen Erscheinungsbildes beteiligt.⁴ Die urbanistischen und architektonischen Herausforderungen des gegenwärtigen Stadtumbaus sowie das Einfordern von Beteiligungsmöglichkeiten an der Gestaltung des öffentlichen Raumes binden somit den Großteil der Energie derjenigen, die sich in der Stadt zivilgesellschaftlich engagieren. Auch wenn es keine zentrale Vereinigung derjenigen gibt, die sich für den Umgang mit Geschichte in der Stadt interessieren und somit eine gewichtige Stimme in der Auseinandersetzung um die Vergangenheit und deren Repräsentation im städtischen Raum bilden, bliebe eine Analyse öffentlicher Geschichte ohne die oben angesprochenen Einzelinitiativen und -projekte unvollständig. Denn die in den vorangegangenen Kapiteln vorgestellten und analysierten Narrationen zeigen nur einen bestimmten Teil der manifest gewordenen Auseinandersetzung mit Geschichte und Vergangenheit. Daneben existieren weitere Initiativen und Projekte, die ebenfalls Einfluss auf den Diskurs über Geschichte und Vergangenheit in der Stadt nehmen, sich jedoch im städtischen Raum bislang nicht verobjektiviert oder materialisiert haben und daher keine vergleichbare öffentliche Sichtbarkeit gewonnen haben. Aus dem Analyseraster der Arbeit würden diese Narrationen demnach streng genommen herausfallen. Für ein umfassendes Verständnis öffentlicher Geschichte in Katowice sind diese Diskurse jedoch unabdingbar, zeigen sie doch einen weiteren wichtigen Teil des Haushaltes an Geschichte, der in der Stadt diskutiert und verhandelt wird. Ferner beziehen sich die Aktivitäten dieser Personen und Initiativen auf die im Stadtraum sichtbar gewordenen Narrationen, verweisen auf inhärente Leerstellen, üben Kritik an ihnen, lösen Kontroversen aus und sind somit ein integraler Bestandteil öffentlicher Geschichte in Katowice. Daher bilden nicht „fertige“ Narrationen den Analysegegenstand dieses Kapitels, sondern Interviews, in denen die Gesprächspartner ihre Ansichten schildern, aber auch über Projekte und Pläne berichten.
Eine Übersicht über die Aktivitäten des Vereins Napraw sobie miasto ist zu finden unter URL http://naprawsobiemiasto.eu/ (Zugriff . . ). Eine Übersicht über die Aktivitäten des SARP Katowice ist zu finden unter URL http://www.sarp. katowice.pl/ (Zugriff . . ).
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Im Folgenden steht ein Kreis von Personen im Mittelpunkt, die sich in unterschiedlicher Weise und Absicht mit der Geschichte der Stadt beschäftigen.⁵ Dabei ist „Personenkreis“ nicht nur im übertragenen Sinne zu verstehen. Die meisten in diesem Feld Aktiven kennen sich untereinander, oft persönlich, arbeiten teilweise zusammen bzw. haben Kenntnis von den Aktivitäten der anderen. Deutlich wurde das nicht erst bei der inhaltlichen Auswertung der Interviews, sondern bereits während der Feldforschung, als sich aus den Verweisen der einzelnen Interviewten auf weitere Interviewpartner ein Bezugssystem zwischen den Akteuren ergab, dessen Radius letztlich sehr überschaubar blieb. Gemeinsam ist den Personen – so unterschiedlich ihre Tätigkeiten, Ansichten und Ziele auch sein mögen – eine kritische Haltung zu den Prozessen der Auseinandersetzung mit Vergangenheit in Katowice. Die Bezeichnung Diskurse für die ablaufenden Prozesse scheint aufgrund des gemeinsamen Bezugspunktes und der gegenseitigen Bezugnahme bzw. Kenntnis sinnvoll.⁶ Zwei Themenkomplexe waren in den Interviews bestimmend: die Frage danach, wie in Katowice mit Geschichte und Vergangenheit umgegangen wird sowie die Diskussion über eine oberschlesische Identität. In Bezug auf die Stadtgeschichte wurden hauptsächlich Aspekte eines städtischen genius loci, der Kontinuität und Diskontinuität sowie die Frage nach Traditionslinien in der städtischen Vergangenheit diskutiert. Die Frage einer oberschlesischen Identität hingegen wurde meist als übergeordneter Referenzrahmen für die in Katowice zu beobachtenden Phänomene der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit angeführt. Gleichwohl geht aus allen Interviews hervor, dass die Interviewten eine jeweils
Siehe zur Entstehung der Interviews mit diesen Personen Kapitel . Quellengrundlage. Die Diskurse, die in diesem Kapitel nachgezeichnet werden, stehen alle in Verbindung mit dem Zentralthema der Arbeit, dem Redefinitionsprozess des Selbstbildes von Katowice im Zeichen des Strukturwandels. Die Ideengeber der hier vorgestellten Initiativen und Projekte standen daher in einem mehr oder minder intensiven bzw. kritischen Verhältnis zu den Großprojekten der Stadtverwaltung. Auf die Interviewpartner wurde ich während der Untersuchung der Bewerbung zur Kulturhauptstadt und der Route der Moderne aufmerksam. Sie wurden in die Untersuchung mit aufgenommen, da auch sie an einer veränderten Sicht auf die Gegenwart und Vergangenheit der Stadt arbeiteten, wenngleich ihre Projekte weniger öffentliche Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit erfahren haben. Dieses Auswahlraster impliziert gleichwohl, dass andere Akteure, die sich auch mit der Geschichte oder Identität der Stadt beschäftigen, außen vor geblieben sind. Das betrifft etwa Zeitschriften wie das monatlich erscheinende soziokulturelle Magazin Śląsk (Schlesien). In diesem Magazin spielt die Geschichte Oberschlesiens und Katowices eine bedeutende Rolle. Hier werden jedoch weit weniger alternative oder neue Sichtweisen auf die Stadtgeschichte entworfen als dies bei den in diesem Kapitel vorgestellten Projekten und Initiativen der Fall war. In diesem Sinne wird nicht der vollständige Diskurs über Geschichte in der Stadt abgebildet, sondern Diskurse, die sich entlang eines gesellschaftlichen und ökonomischen Wandlungsprozesses entsponnen haben bzw. von ihm inspiriert wurden.
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eigene Sicht auf die Genese und die gegenwärtigen Ausprägungen beider Gesichtspunkte hatten. Die Gesprächspartner entwickelten während der Interviews sowohl zur Stadtgeschichte als auch zu Geschichte und Identität der Oberschlesier jeweils eigene historische Narrationen. Auch das Geschichtsbewusstsein der Akteure kommt in den Interviews zum Vorschein und wird im Folgenden mit dargestellt. Es wurde an der Art und Weise, wie sie über Vergangenes sprachen deutlich, aber auch daran, welche Argumentationen sie mit welchen Begriffen und Hypothesen in ihren Erzählungen aufbauten.⁷ Die Interviews konnten aufgrund der Themenvielfalt nicht standardisiert durchgeführt werden. Es handelte sich vielmehr um Gespräche im ethnologischen Sinne der Erschließung eines Feldes, die sich entsprechend stärker an Prozessen und der Frage nach dem Zustandekommen bestimmter Ansichten und Absichten orientierten und daher untereinander wenig Vergleichbarkeit aufweisen. In diesem Sinne ist dieses letzte Kapitel eine Navigationshilfe anhand der Sichtweisen verschiedener Personen durch einen bestimmten Teil des Vergangenheitsdiskurses der Stadt. Den Beginn des Kapitels bilden zwei Personen, die sich als Akteure im medialen Diskurs unter anderem mit der Geschichte ihrer Stadt und Region beschäftigten und die den öffentlichen Umgang mit dieser kritisch begleiteten: Der Journalist und Fernsehproduzent Michał Smolorz (1955 – 2013) sowie der Film-, Theaterregisseur und Senator der Republik Polen Kazimierz Kutz (*1929). Michał Smolorz schrieb neben seinen Tätigkeiten als TV-Produzent auch als Journalist für die beiden konkurrierenden Tageszeitungen Gazeta Wyborcza und Dziennik Zachodni sowie für die im gesamten Land erscheinende Wochenzeitschrift Polityka. Sowohl Smolorz als auch Kutz wurden im früheren Dorf Schoppinitz geboren, das heute ein Stadtteil von Katowice ist und dessen Dorfstruktur in hohem Maße von industriellen Verhüttungsanlagen und Schwerindustrie überformt wurde. Im Jahr 1949 ging Kutz zum Studium an die renommierte Filmhochschule nach Lodz und kommentierte das im Nachhinein wie folgt: „In mir wuchs der Widerwille gegenüber Oberschlesien. Die ersten Jahre nach dem Krieg, am Ende des Gymnasiums, habe ich es gehasst. Oberschlesien kam mir widerlich, so gebeugt vor […], es hat jede Beleidigung und Erniedrigung hingenommen.“⁸ In Lodz traf er auf die zukünftigen Koryphäen der sogenannten Polnischen Schule des Kinos, etwa den
Eine detaillierte Analyse des Geschichtsbewusstseins der Akteure, wie sie in den vorangegangenen Kapiteln, etwa bei den Akteuren der Bewerbung zur Kulturhauptstadt vorgenommen wurde, kann hier aufgrund der sehr differenten Entstehungssituationen der Interviews nicht geleistet werden. Die Interviews sind zwar anhand eines Leitfadens geführt worden, unterscheiden sich aber in Länge und Intensität voneinander. Zitat nach Aleksandra Klich: Bez mitów. Portrety ze Śląska [Ohne Mythen. Porträts aus Schlesien]. Racibórz , S. .
8.1 Auf der Suche nach der Identität des Ortes
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Regisseur Andrzej Wajda, dem Kutz bei seinen Filmen Die Generation (Pokolenie) und Der Kanal (Kanał) assistierte. Nach ersten eigenen Filmen und beruflichen Stationen in Warschau kehrte Kutz dennoch in den 1960er Jahren nach Katowice zurück, wo ihm seine oberschlesische Heimat zu einer wichtigen Inspirationsquelle seines Schaffens wurde. Es entstand die sogenannte oberschlesische Trilogie, in der Kutz mit den Filmen Das Salz der schwarzen Erde (Sól ziemi czarnej), Eine Perle in der Krone (Perła w koronie), Wie Perlen im Rosenkranz (Paciorki jednego różańca) eine künstlerische Mythologie der Region entwarf, mit der er zu einer kulturellen Aufwertung Oberschlesiens beitragen wollte. Sowohl Smolorz als auch Kutz galten und gelten als kritische Zeitgenossen,vor allem Kutz hat den Ruf eines unangepassten und widerborstigen Menschen, der in der Öffentlichkeit zuweilen auch provokativ und aggressiv agiert.⁹ Kollektive Denkschemata und nationale Mythen, in denen kein Platz für die Besonderheiten Oberschlesiens ist, lehnte insbesondere Kutz vehement ab.¹⁰ Smolorz beschrieb sich selbst aufgrund seiner Tätigkeit für die beiden konkurrierenden Tageszeitungen als Outsider, als kontroversen Menschen mit Meinungen, die zumeist abseits des Mainstreams lagen.¹¹
8.1 Auf der Suche nach der Identität des Ortes: Michał Smolorz und Kazimierz Kutz Als Journalisten, die vor allem für das Feuilleton arbeiteten, prägten die Ansichten von Michał Smolorz und Kazimierz Kutz den medialen Diskurs in und über Katowice entscheidend mit. In ihren wöchentlich erscheinenden Artikeln gaben und geben sie ihre Sicht auf politische und gesellschaftliche Entwicklungen in Stadt und Region, oft kritisch zugespitzt und pointiert, wieder. Um der politischen, bisweilen ins Polemische tendierenden Ebene ihre prominente Stellung zu nehmen, waren nicht ihre publizierten Pressetexte zu einzelnen tagesaktuellen Er-
„Mir gefällt die Aggressivität von Kutz überhaupt nicht. Er erträgt keinen, der eine andere Meinung hat als er.“ so der Soziologieprofessor Jacek Wódz. An anderer Stelle stellt er fest: „Schlesien schränkt Kutz ein. Als Künstler ist er wunderbar damit klargekommen, als Politiker funktioniert das überhaupt nicht.“ Zitate nach ebd., S. sowie S. . Eine treffende Beschreibung zu Kazimierz Kutz aus Anlass seines . Geburtstages hat Gerhard Gnauck verfasst: Schlesien glückauf! Kazimierz Kutz, der polnische Regisseur der schwarzen Erde, wird heute Jahre alt, Die Welt, . . , URL http://www.welt.de/welt_print/arti cle/Schlesien-glueckauf.html (Zugriff . . ). Diese Selbstbeschreibung gab Smolorz zu Beginn des mit ihm geführten Interviews im Januar in Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin.
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eignissen oder Entwicklungen Grundlage dieses Abschnittes, sondern Interviews, die im Jahr 2012 in Katowice mit beiden geführt wurden.¹² Beide präsentierten während der Interviews sehr ausgeprägte Vorstellungen über die Vergangenheit von Katowice sowie Oberschlesiens, die sie mit einer Bewertung des gegenwärtigen öffentlichen Umgangs mit Geschichte verbanden. Beide Interviewpartner entwickelten historische Narrationen, deuteten die Vergangenheit und leiteten Antworten auf Fragen der Gegenwart aus ihr ab. Diese werden im Folgenden dargestellt. Smolorz eröffnete das Interview mit der Aussage, dass über die Geschichte und Kultur Oberschlesiens viele Lügen im Umlauf seien, dass Ignoranz und Unwissen den Tenor der Debatte über Gegenwart und Vergangenheit der Region bestimmen würden. Den Kern der Falschaussagen bildete für ihn die Zuschreibung, Oberschlesien sei eine ausschließlich polnische Region. Zurückverfolgen lasse sich diese Auffassung oberschlesischer Geschichte, die mit einer politisch motivierten Amputation der nicht polnischen Teile der oberschlesischen Geschichte einher gehe, bis in die Zwischenkriegszeit. Zu dieser Zeit verfolgte die Zweite Polnische Republik in dem ihr zugeschlagenen Teil Oberschlesiens eine Politik der Polonisierung. In diesen Versuchen, Stadt und Region zu polonisieren, identifizierte Smolorz eine der Kontinuitätslinien der Geschichte der Stadt, die heute in seiner Wahrnehmung zu einem völlig verstellten, verzerrten und ideologisierten Geschichtsbild beitragen würden. Denn, so Smolorz weiter, die kommunistischen Machthaber knüpften nach 1945 an die Politik der Zwischenkriegszeit an und dehnten diese zusätzlich auf den westlichen Teil der Region aus, der infolge der Westverschiebung Polens nunmehr auch dazu gehörte. Infolgedessen sei ein falscher Wissenskanon über Katowice und Oberschlesien etabliert worden, dessen Quintessenz darin bestehe, dass es sich um urpolnische Gebiete handle. Diese über Jahrzehnte betriebene Politik bezeichnete Smolorz als „Gehirnwäsche“¹³, die es auch in der Gegenwart verhindere, dass ein vollständiges Bild der Geschichte der Stadt entworfen werden könne, das sich mit allen Aspekten ihrer Vergangenheit auseinandersetzt. Diejenigen, die entgegen der aktuellen politischen Trends versuchen würden, der Stadt die Gesamtheit ihrer Geschichte zurückzugeben, die ihre „wahre Geschichte“ erzählen wollten, würden im öffentlichen Diskurs als kontroverse Persönlichkeiten angesehen und margi-
Das Interview mit Kazimierz Kutz wurde im Mai in Katowice geführt. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Dieses und alle nachfolgenden Zitate entstammen dem Interview mit Michał Smolorz, Katowice, . Auf eine gesonderte Kennzeichnung der einzelnen Zitate durch Fußnoten wird daher verzichtet. Alle nachfolgenden Zitate in indirekter und direkter Rede beziehen sich auf dieses Interview.
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nalisiert. Smolorz machte während des Gespräches vor allem auf die heute im Stadtbild kaum noch präsente Geschichte der Stadtgründung durch deutsche Unternehmer aufmerksam, der Katowice seinen „Zivilisationssprung“ vom Dorf zur Stadt zu verdanken habe. Nach Franz von Winckler, der das Gut Kattowitz im Jahr 1838 kaufte und der die Verwaltung seiner Güter hier ansiedelte, sei im heutigen Katowice jedoch noch nicht einmal eine Straße benannt. Initiativen, die sich gegenwärtig für eine Repräsentation der deutschen Gründungsgeschichte der Stadt einsetzen würden, hätten es demnach in Katowice schwer. Das zeige die Initiative zur Errichtung eines Denkmals für einen der Gründungsväter, Richard Holtze, das von der Stadtverwaltung in seiner ursprünglichen Form verhindert worden sei.¹⁴ Der kontinuierlichen Beschneidung der Geschichte um komplexe Themen mit dem Ziel, eine rein polnische Geschichte zu erzählen, müsse eine neue „Suche nach der Wahrheit“ entgegengestellt werden, die allein von der nach 1989 geborenen, nicht von der mit „kommunistischer Gehirnwäsche“ infiltrierten Generation geleistet werden könne – so eines seiner Fazits. Kritisch stand Smolorz auch den Versuchen der Stadtverwaltung gegenüber, Katowice aufgrund des voranschreitenden Strukturwandels ein neues Image zu verleihen. Die Bestrebungen, Katowice im Rahmen der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas als „neue Gartenstadt“ zu etablieren, gingen seiner Meinung nach in eine völlig falsche Richtung. In ihnen sah er erneut eine Verletzung des genius loci der Stadt. Es handle sich bei diesen Bemühungen keineswegs um eine ernsthafte Suche nach identitätsrelevanten Bausteinen der Stadt, die in der Gegenwart anknüpfungsfähig wären. Vielmehr lasse sich im Prozess der Imagebildung erneut ein gänzlicher Bruch mit der Vergangenheit beobachten. Mit dem Motiv der „neuen Gartenstadt“ würden sowohl die Bezüge zur deutschen als auch zur polnisch-kommunistischen Vergangenheit der Region absichtlich verschüttet – an ihre Stelle sei nunmehr ein Kosmopolitismus gesetzt worden. Der Bezug auf bzw. die Einbindung von internationalen Größen wie Woody Allen oder David Lynch seien attraktiver für das Marketing der Stadt als die regionale Vergangenheit und die oberschlesische Kultur. Kosmopolitismus verstand Smolorz als Codewort, das in seinem Verständnis für eine krampfhafte Suche nach Neuem und Zukunftsweisendem stand, die lokalen Bezüge jedoch gering schätze oder gar missachte. Den Bezug auf die Vergangenheit der Siedlung Gieschewald als Gartenstadt identifizierte Smolorz als Alibi, als bloßes Schlagwort. Die Gartenstadt in Gieschewald fungiere als reine Ortsbezeichnung, deren Geschichte hingegen für die gegenwärtigen Kulturakteure irrelevant sei. Eine
Siehe dazu ausführlich das Kapitel . Erzählstränge im Stadtraum. Einführung in eine kurze Stadtgeschichte.
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ernsthafte Auseinandersetzung bzw. Aneignung der Geschichte der Siedlung Gieschewald war für Smolorz hier nicht erkennbar, vielmehr diene der Bezug auf die Gartenstadt Gieschewald als Blaupause, als Projektionsfläche, die von den Verantwortlichen der Bewerbung als Kulturhauptstadt mit eigenen Inhalten angefüllt worden sei. Insofern unterschieden sich nach Ansicht Smolorzs die heutigen „Kulturaktivisten“ nur unwesentlich von den Kommunisten, die sich auf ähnliche Weise von der Vergangenheit der Stadt distanzierten und ihr eine neue Identität verleihen wollten. Seine Hoffnungen für eine Wende im Umgang mit Vergangenheit und Geschichte der Stadt legte Smolorz in das wieder erstarkende Selbstbewusstsein derjenigen, die sich als Oberschlesier fühlen. Die zivilgesellschaftliche Selbstorganisation als „Errungenschaft der Demokratie“ sah er als Weg, diesem Prozess eine Form zu verleihen. Dabei setzte er nicht mehr auf den nach 1989 politisch sehr erfolgreichen, inzwischen jedoch marginalisierten Verbund der Oberschlesier (ZG), dessen Strategie zu sehr in der Vermittlung und dem Austarieren gegenläufiger Kräfte bzw. unterschiedlicher Strömungen des oberschlesischen Regionalbewusstseins bestanden habe. Während der Verbund der Oberschlesier inzwischen eine unbedeutende „Vereinigung älterer Herren“ sei, habe heute die Generation der 40-Jährigen die Deutungshoheit darüber, was das „Oberschlesiertum“ sei. Jerzy Gorzelik und die Bewegung für die Autonomie Schlesiens (RAŚ) seien frei von Komplexen in Bezug auf die Region und ihre Vergangenheit. Mit einer „Renaissance der oberschlesischen Identität“ verband Smolorz die Hoffnung auf eine neue Qualität der Auseinandersetzung mit den historischen Gegebenheiten von Stadt und Region. Dazu erläuterte er, dass der oberschlesischen Identität Zeit ihres Bestehens keine Selbstbeschreibung zugestanden worden sei. Zu kommunistischer Zeit sei die oberschlesische Identität auf das Niveau von Folklore herabgesetzt worden, indem sie allein über die Bezugsebenen der Arbeit im Bergwerk, von Trachten und volkstümlichen Tänzen definiert wurde. Eine intellektuelle Ausrichtung der Oberschlesier sei unterdrückt worden und existiere bis heute nicht: Uns hat man hier per Gehirnwäsche eingebläut, dass der Oberschlesier Bergmann ist, seine Frau in Trachten herumläuft und sie gemeinsam Trojak tanzen. Das ist Quatsch! Das ist Folklore, aber das ist die einzige Kategorie, in der man über Oberschlesien nachdenken darf. Ein intellektuelles Oberschlesien existiert nicht.
Wenn Smolorz über die Wiederentdeckung und Wiederaneignung der lokalen und regionalen Geschichte sprach, hatte er folglich nicht nur eine Anerkennung der deutschen Vergangenheit der Stadt im Sinne. Vor allem das spezifisch Oberschlesische müsse seiner Meinung nach bei den Versuchen einer neuen Positio-
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nierung von Katowice in den Mittelpunkt rücken: „Der genius loci ist das Attraktivste, was der Ort zu bieten hat.Wenn die Stadt einen Geist hat, kann man den nicht unter den Teppich kehren.“ Den Geist des Ortes könne auch nachempfinden, wer nicht durch Geburt oder Abstammung mit Stadt oder Region verbunden sei. Die oberschlesische Identität war für Smolorz deshalb auch keine essentialistische Kategorie. Es war vielmehr eine „Selbstbeschreibung, Selbstdefinition, die Übernahme eines bestimmten Paketes an Werten und historischen Wissens“. Gleichzeitig verband er es mit dem deutschen Wort „Heimat“, das er als besondere Bezugnahme zu dem Ort definierte, an dem man lebt, für den man sich verantwortlich fühlt. Während „Heimat“ in der polnischen Sprache keine semantische Entsprechung und Bedeutung habe, „haben die Oberschlesier noch eine Ahnung, was das bedeute“. Drei Hauptmotive des Gespräches mit Michał Smolorz lassen sich aus dem oben Dargestellten zusammenfassen. Einerseits entwarf Smolorz selbst eine Erzählung über die Vergangenheit der Stadt, die er als Geschichte einer kontinuierlichen Vereinnahmung seitens des polnischen Staates darstellte. Aus machtstrategischen Gründen wurde im Verlauf des 20. Jahrhunderts versucht, alle nichtpolnischen Teile der städtischen Vergangenheit zu eliminieren. In seiner Narration unterschied er nicht zwischen der Zweiten Polnischen Republik und der kommunistischen Ära, deren Machthaber seiner Ansicht nach in gleicher Intensität eine verkürzte und ideologisierte Auslegung der städtischen Vergangenheit zu etablieren versuchten. Eine Fortsetzung dieser Eliminierung nichtpolnischer Teile der städtischen Vergangenheit machte Smolorz auch in den gegenwärtigen Bestrebungen der Neuausrichtung des städtischen Images als „neue Gartenstadt“ aus. Auch dabei handle es sich um den Versuch einer ansatzlosen Neuerfindung der Stadt, die dem genius loci keinen Respekt zolle. Als weiteres Motiv in Smolorzs Denken ließen sich die Vereinnahmungsversuche der Definitionsmacht darüber, was Stadt und Region ausmachen, durch Personen „von außen“, also Zugezogene und Nichtschlesier, bestimmen. An dieser Stelle korrelierte Smolorzs Sicht auf die Vergangenheit der Stadt mit seiner Zustandsbeschreibung der schlesischen Identität. Beides werde nicht durch eine regionale Elite bestimmt, sondern von Akteuren, die keine emotionale Verbindung dazu hätten. Zur Illustration bemühte Smolorz den Vergleich der Schlesier mit Ureinwohnern: In Katowice sind wir nicht in der Wüste, wo man etwas Neues bauen kann oder die Ureinwohner ins Reservat sperrt. […] Stellen Sie sich vor, sie hätten ein Haus, das ihren Eltern gehört hat, und plötzlich kommen Leute und weisen Sie an, sich in den Schuppen zurückzuziehen, und leben fortan in Ihrem Haus auf ihre eigene Weise.
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Die Distanzierung zwischen „den anderen“ und denen „von hier“, zwischen Gästen und Hausherren, ließ darauf schließen, dass es in Smolorzs Vorstellung eine oberschlesische Kultur sowie Menschen oberschlesischen Bewusstseins bzw. oberschlesischer Identität gab und gibt, deren Kultur und ethnisches Bewusstsein unterdrückt wurde. In der Gegenwart würden die Oberschlesier nunmehr nach Selbstbestimmung streben und sich aus der stetigen Unterdrückung zu lösen versuchen. In Smolorzs Darstellung verfügten Personen über die politische Macht sowie die Deutungshoheit über die Stadt, die nicht aus der Region stammten und daher deren Wert nicht zu schätzen wüssten. Die hier beheimateten Schlesier befänden sich jedoch gegenwärtig auf dem Weg der Befreiung aus dieser Unterdrückung und in einem Prozess der Selbstfindung. Unklar blieb in Smolorzs Ausführungen, wer die Oberschlesier genau seien. Für die Übernahme der oberschlesischen Identität reiche laut Smolorz die Überzeugung und der Wille, sich einer bestimmten Tradition mit bestimmten Werten anzuschließen. Im Unklaren ließ er hingegen, was diese „oberschlesische Tradition“ oder die oberschlesische Identität, abgesehen vom Attribut ihrer bislang stetigen Unterdrückung und Instrumentalisierung, ausmacht. Smolorz gab darauf keine eindeutige Antwort. Er wies stattdessen mehrfach darauf hin, dass der beschädigte Wissenskanon über die Region wieder vervollständigt und um die fehlenden Teile angereichert werden müsse. Dafür schilderte er unter anderem seine schwierigen Versuche, den auf Schloss Lubowitz in Oberschlesien geborenen romantischen Lyriker und Schriftsteller Joseph von Eichendorff nach 1989 als deutschen Dichter aus der Region zu rehabilitieren. Er verwies andererseits darauf, dass Katowice keine multikulturelle Stadt sei, sondern eine vielsprachige. Laut Smolorz gebe es in der Stadt nicht viele verschiedene Kulturen, die nebeneinander lebten.Vielmehr hätte sich eine regionale Kultur herausgebildet, die sich in verschiedenen Sprachen ausdrücke: Deutsch, Polnisch und eben Oberschlesisch. Als Anhaltspunkt für eine mögliche Deutung dessen, was die oberschlesische Identität ausmacht, führte Smolorz Kazimierz Kutz’ Filme der oberschlesischen Trilogie an. Kutz habe in den 1970er Jahren mit diesen Filmen einen medialen oberschlesischen Mythos geschaffen, der noch heute die Diskussionen über die oberschlesische Identität präge. Tatsächlich fand Kazimierz Kutz während des Gespräches mit ihm deutlichere Worte für das, was Smolorz eher vage als oberschlesische Identität beschrieben hatte. Kutz entwarf eine konzise Narration über die Vergangenheit und Gegenwart der Schlesier, die er mit politischen Forderungen für die Zukunft verband. Er charakterisierte die Oberschlesier als eigene ethnische Gruppe mit eigener Identität, die mit dem polnischen Staat in ihrer Geschichte über lange Zeit nicht verbunden war und in anderen staatlichen und kulturellen Zusammenhängen gelebt habe. Einen eigenen Staat hätten die Ober-
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schlesier jedoch nie gehabt. Neben der Prägung durch wechselnde staatliche Zugehörigkeiten führte Kutz weiter aus, dass die Schlesier über eine eigene Sprache verfügten. Er veranschaulichte das am Beispiel seiner beiden Großmütter: Meine Großmütter sprachen nur diese Sprache, weder Deutsch noch Polnisch. Sie brauchten das nicht auf ihrem Dorf, das war eine geschlossene Welt. Als die allgemeine Schulpflicht eingeführt wurde, lernten die Oberschlesier auch Deutsch und die deutsche Geschichte. Sie wurden zweisprachig, konnten sich frei in beiden Kulturen bewegen.¹⁵
Die Germanisierung Oberschlesiens, so Kutz weiter, hätte unter Bismarck mit der Einführung der deutschen Sprache als Verwaltungssprache begonnen. Trotz der erworbenen Mehrsprachigkeit hätten sich die Schlesier durch die Bismarcksche Germanisierungspolitik bedroht gefühlt, worin Kutz die Anfänge eines ethnischschlesischen Bewusstseins ausmachte. Bismarck, führte Kutz seine Sicht auf die Geschichte weiter aus, habe die Oberschlesier zu Proletariern gemacht, die die deutsche Wirtschaft zu dieser Zeit dringend brauchte: Die Oberschlesier haben ihre eigene Sprache gesprochen, bei Bedarf sprachen sie fließend Deutsch, und wurden in die Armee eingezogen. Oberschlesien war das zweitwichtigste Zentrum der deutschen Schwerindustrie, und natürlich wurden die Oberschlesier ausgenutzt, denn sie waren das Proletariat.
Oberschlesien sei zu dieser Zeit zu einer „Kolonie innerhalb Deutschlands“ geworden, was nicht ohne Folgen für die oberschlesische Kultur blieb. Diese sei von den Deutschen stets auf dem Niveau einer Volkskultur gehalten geworden, um eine Elitenbildung unter den Oberschlesiern zu unterdrücken. Im Gegensatz zu Smolorz benannte Kutz deutlicher, was die oberschlesische Identität geprägt habe, vor allem eine Andersartigkeit der Oberschlesier im Vergleich zu Polen und Deutschen. So würden Oberschlesier die Welt aus einer „Perspektive der Ausgenutzten“ sehen, die stets von außen beherrscht wurden. Das bereits bei Smolorz benannte Motiv der kontinuierlichen Unterdrückung, wiederholte sich in den Ausführungen von Kutz. So berichtete er darüber, dass die Schlesischen Aufstände entgegen des etablierten polnischen Narrativs nicht als patriotischer Akt gegenüber Polen gedeutet werden könnten. Die Motivation für die Aufstände sah Kutz vielmehr in dem Wunsch, die deutsche Germanisierungspolitik abzuschütteln und sich einem „besseren Staat anzuschließen“. Dass Dieses und alle nachfolgenden Zitate entstammen dem Interview mit Kazimierz Kutz, Katowice, . Auf eine gesonderte Kennzeichnung der einzelnen Zitate durch Fußnoten wird daher verzichtet. Alle nachfolgenden Zitate in indirekter und direkter Rede beziehen sich auf dieses Interview.
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die Zweite Polnische Republik mit der Spezifik dieser Region, die sich so stark vom Rest Polens unterschied, überfordert war, zeige der autonome Status, der der Woiwodschaft Schlesien in der Zwischenkriegszeit zugestanden worden war. Doch sei mit der neuen polnischen Staatsmacht die Unterdrückung der Schlesier nicht aufgehoben worden, sie habe sich lediglich in ihrer Form verändert. Anstelle der „Germanisierer“ seien nun die „Agenten der Polonisierung“ in Form von Lehrern und Verwaltungspersonal nach Oberschlesien gekommen. Dieses Prinzip sei auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgeführt worden: Nach dem Zweiten Weltkrieg, als Polen die Region als Geschenk erhalten hatte, haben sie einfach die Regeln von Bismarck übernommen, nur nicht germanisiert, sondern polonisiert. Für die Leute hier hat sich nichts geändert. Die Oberschlesier blieben in den Gruben, den zugezogenen Polen kam das hier vor wie ein Paradies, und sie haben die Posten in der Verwaltung etc. besetzt. Es wurde hier [in Katowice, JT] nicht mal eine Hochschule gegründet.
Oberschlesier, so Kutz weiter, seien aufgrund dieser historischen Entwicklung Existenzialisten geworden: „Den Staat sucht man sich aus, Oberschlesier ist man. Die Oberschlesier haben von einem besseren Staat geträumt, aber das hat nie geklappt. Das ist das Drama des modernen Oberschlesien.“ Dem Motiv der Oberschlesier als Unterdrückte, Germanisierte und später Polonisierte setzte Kutz einen Erzählstrang über die Oberschlesier als aufsteigende, aufblühende ethnische Gruppe entgegen. Nach dem Zusammenbruch des ökonomischen und gesellschaftlichen Systems 1989, bestand nach Kutz’ Ansicht erstmals die Chance, aus dem Kreislauf der Proletarisierung auszubrechen. Es habe aufgrund des Strukturwandels schlicht keine Arbeit in den angestammten Berufszweigen der Oberschlesier, in Bergwerken und Hütten, mehr gegeben. Die nachfolgende Generation der Oberschlesier hätte aufgrund des Wegfalls der traditionellen Beschäftigungsmöglichkeiten zwangsläufig beginnen müssen, andere Berufs- und Bildungswege einzuschlagen. Aus diesem Prozess sei eine Gruppe oberschlesischer Wissenschaftler, Intellektueller und Künstler hervorgegangen, die gegenwärtig zum ersten Mal eine geistige Elite der Oberschlesier formen würde. Dennoch sei das Problem der Fremdbestimmung noch immer virulent. Besonders am Beispiel von Katowice könne man gut nachvollziehen, dass nach wie vor Personen „von außen über uns bestimmen wollen“. In der Stadt ließen sich laut Kutz zwei Tendenzen ausmachen: Die Oberschlesier wollen, dass Oberschlesien Oberschlesien ist, als Teil Polens und Europas. Die Zugezogenen wollen Oberschlesien zu einem Teil Polens machen und das Schlesische dabei außen vor lassen. Und diese beiden Kräfte ringen miteinander. Momentan ist die polnische Kraft, die die Ämter und Verwaltungen führt, stärker. Lebendiger ist hingegen die oberschlesische, denn da wächst eine Generation von Dichtern, Wissenschaftler und Künstlern heran.
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Diese Entwicklungen wolle man aber in der Gegenwart nur widerwillig zur Kenntnis nehmen. Die Diskussion über Oberschlesien, da stimmten Kutz und Smolorz überein, sei von einem hohen Maß an Ignoranz geprägt, das unter anderem in dem sehr geringen Wissensstand über die Region begründet liege. So sei der polnische Staat etwa nicht bereit, die Oberschlesier als ethnische Minderheit anzuerkennen – und das, obwohl sie laut polnischem Gesetz alle notwendigen Kriterien dafür erfüllen würden. Den Grund dafür sah Kutz im mangelnden politischen Willen, der sich aus dem Wissen speisen würde, dass eine Anerkennung der Oberschlesier als ethnische Minderheit mit sehr großen finanziellen Belastungen für das polnische Staatsbudget einhergehen würde. In Folge einer Anerkennung müsse der Staat aus seinem Budget Geld für die Pflege der neu anerkannten Minderheitenkultur zur Verfügung stellen. Da die Oberschlesier aber eine vergleichsweise große Gruppe seien und ihre Anerkennung als ethnische Minderheit eine Sogwirkung auf diejenigen ausüben könnte, die sich bislang noch nicht als Oberschlesier bekannt haben, sei dieser Weg für den polnischen Staat mit zu vielen Risiken und Unwägbarkeiten verbunden. Kutz verwies auf die paradoxen Folgen der verweigerten Anerkennung als Minderheit: Die Oberschlesier kämpfen einfach um die Anerkennung ihres Andersseins. Und ich denke, dass das kommen wird, vielleicht sogar schneller als gedacht, wenn das Gesetz novelliert wird. Denn momentan wird ja die Germanisierung im eigenen Land propagiert: Ein Oberschlesier, der sich rechtlich außerhalb des Minderheitenschutzes befindet, muss sich einer deutsch-schlesischen Organisation anschließen, um als Minderheit anerkannt zu werden. Das ist doch komplett idiotisch!
Ähnlichkeiten zwischen den Ansichten von Smolorz und Kutz ergaben sich auch in der Beurteilung der gegenwärtigen Bemühungen der Stadtverwaltung, Katowice ein neues Image als Gartenstadt zu verleihen. Kutz sah in diesen Bemühungen eine „sinnlose Investition in Werbemaßnahmen“, die nicht zu einer nachhaltigen Verbesserung der wirtschaftlichen oder sozialen Situation von Katowice beitragen würden. Er plädierte dafür, sich auf das postindustrielle Erbe von Stadt und Region zu konzentrieren, es als Wert anzuerkennen, zu schützen und den Verfall dieser wertvollen Architektur zu stoppen, anstelle sich „etwas Neues“ auszudenken. In dem Interview mit Kazimierz Kutz ergab sich ein hauptsächlicher Punkt, um den seine Ausführungen kreisten. Er erzählte die Geschichte einer Wiederentdeckung und Emanzipation der bislang in der Vergangenheit stets unterdrückten Gruppe der Oberschlesier, die nach einer rechtlichen Anerkennung als ethnische Minderheit innerhalb des polnischen Staates strebe:
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Früher hat man Oberschlesien immer entweder durch das Prisma der Deutschen oder der Polen gesehen. Jetzt ist das anders. Heute schauen die Schlesier als Schlesier auf ihr Land. Das ist momentan alles noch in der Anfangsphase, wird aber in Zukunft die Antwort auf viele Fragen sein. Denn das kann erst anfangen, wenn der polnische Staat von seiner Bismarckschen Politik der sozialen Integration ablässt und die Oberschlesier vollständige Bürger werden, jetzt sind wir ohne Rechte. […] Dann endet in Oberschlesien der ideologische Terror.
Die Vorstellungen von Smolorz und Kutz über die Vergangenheit der Stadt sowie ihrer Einwohner, die sie als Oberschlesier charakterisieren, hat in dieser Form im öffentlichen Raum bislang keine Repräsentation gefunden. Zwar wurde und wird das Attribut oberschlesisch vielfach öffentlich verwendet, hat jedoch keine eigenständige Bedeutung sondern bleibt stets in den nationalpolnischen Kontext eingebettet. Smolorz und Kutz setzten sich dafür ein, dem Oberschlesischen zu einer eigenständigen Bedeutung zu verhelfen, die jenseits der nationalen Zuordnungen deutsch oder polnisch liegt und sich auf die Konstruktion einer Ethnie der Oberschlesier konzentriert. Ihre Aussagen beschrieben eine Suchbewegung, die um die Frage kreiste, was das spezifisch Oberschlesische nach Abzug der nationalen Zuschreibungen sein kann und soll. Ihre Kritik am Umgang mit Geschichte und Vergangenheit der Stadt bezog sich folglich überwiegend auf das Ausblenden der oberschlesischen Anteile ihrer Geschichte. Besonders deutlich wurde das am Beispiel der Bewerbung um den Titel als Kulturhauptstadt Europas, die sie als neuerlichen Beleg dafür anführten, dass die Vergangenheit der Stadt in der Gegenwart auf oberflächliche Weise mit international anschlussfähigen Etiketten versehen wird. Das spezifisch Oberschlesische des Ortes bleibe dabei außen vor.
8.2 Die nächste Generation: alternative Perspektiven auf die Vergangenheit eröffnen Sowohl in Smolorzs als auch in Kutz’ Darstellungen spielten zwei Aspekte im Zusammenhang eines veränderten Umganges mit Vergangenheit und Geschichte eine besondere Rolle: Ihre Hoffnungen richteten sich auf einen Generationswandel sowie eine zunehmende Zahl zivilgesellschaftlicher Initiativen, die den „wiedererwachten“ Oberschlesiern einen erweiterten Gestaltungsspielraum und Mitspracherechte ermöglichen würden. Ein Blick auf die Initiativen einzelner Personen und Gruppen, die sich abseits der Aktivitäten der Stadtverwaltung in öffentlicher Absicht mit der Geschichte von Katowice beschäftigten, verdeutlicht, dass die Wiederentdeckung oder Rehabilitierung der oberschlesischen Identität nur eines unter vielen Themen auf der Agenda dieser nächsten Generation war. Neben der Auseinandersetzung mit der schlesischen Identität ließen sich weitere
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Themen identifizieren, die Alternativen zum Umgang mit Vergangenheit und Geschichte der Stadt verdeutlichen sollen. Beispielhaft dafür kann Jadwiga Kocurs Film Der zweiköpfige Drache (Dwugłowy smok) aus dem Jahr 2006 stehen. Der zweiköpfige Drache beschreibt Oberschlesien in der Zwischenkriegszeit, nach der Teilung 1922 auf beiden Seiten der neuen deutsch-polnischen Grenze. Der Film konzentriert sich auf Projekte der Architekturmoderne sowohl in den Städten des deutschen Oberschlesiens wie Gleiwitz, Hindenburg und Beuthen als auch auf der polnischen Seite in Katowice. Kocurs Ausgangspunkt war es, die bislang offizielle Narration über Oberschlesien als polnische Region zu hinterfragen. Sie suchte einen kritischen Umgang mit dem, „was ihr in der Schule über ihre Region beigebracht worden sei“.¹⁶ Kocur wollte einen der schwierigsten und komplexesten Abschnitte der Geschichte von Stadt und Region, die Geschichte der Zwischenkriegszeit, entideologisiert, möglichst objektiv, anschaulich und nachvollziehbar anhand der architektonischen Entwicklungen darstellen. Ihr thematischer Zugriff konzentrierte sich auf das symbolische Wettrüsten im Städtebau und in der Architektur. Sie machte somit darauf aufmerksam, dass die Geschichte der Region aus einem einseitig polnischen Blickwinkel nur unzulänglich zu verstehen sei. Erst eine ergänzende deutsch-polnische Perspektive auf die Vergangenheit der Region werde ihr gerecht und gebe vollständigere Erklärungen für historische Phänomene. Kocur gehörte Mitte der 2000er Jahre zu einer der Ersten, die sich in öffentlicher Absicht und in kritischer Weise mit der Geschichte von Katowice und anderen oberschlesischen Städten auseinandersetzte. Die Nachwirkungen ihres Filmprojektes Der zweiköpfige Drache halten bis in die Gegenwart an, und Kocur berichtete, ihre Eltern hielten sie aufgrund ihrer kritischen Auseinandersetzung mit der Geschichte der Region „für germanisiert“, und es herrsche ein Verbot, zu Hause über diese Themen zu sprechen. Für ihre Eltern sei Oberschlesien immer polnisch gewesen und der Zugang ihrer Tochter zur Geschichte der Stadt daher unverständlich. Auch die Stadtverwaltung von Katowice habe ihr Filmprojekt nicht unterstützt, die Verantwortlichen hätten sich indifferent und unentschlossen gegenüber derartigen Initiativen zur öffentlichen Darstellung von Geschichte verhalten.¹⁷ Der Film musste letztlich aus privaten Mitteln produziert werden. Er
Vgl. Interview Jadwiga Kocur, Mai , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Alle nachfolgenden Zitate in indirekter und direkter Rede beziehen sich auf dieses Interview. Auf eine gesonderte Kennzeichnung der einzelnen Zitate durch Fußnoten wird daher verzichtet. Auf der Internetseite des Filmes werden als Partner die Präsidenten der Städte Gleiwitz, Beuthen, Zabrze und auch Katowice angegeben sowie ein Sponsor aus der Wirtschaft. Es bleibt unklar, ob diese Darstellung auf der Internetseite im Gegensatz zu den Aussagen des Interviews
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sei dennoch ein großer Erfolg gewesen, habe allerdings eher außerhalb der Region zu einem Einstellungswandel gegenüber der stereotypen Wahrnehmung Oberschlesiens als polnische postindustrielle Region geführt als vor Ort selbst. Erst die Bewerbung der Stadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas brachte, so Kocur, Bewegung in die Selbstwahrnehmung der Einwohner und hatte das Ende eines allgemeinen Stillstandes in der Beschäftigung mit der Vergangenheit, aber auch der Zukunft der Stadt, eingeläutet. Zwischen dem politischen und ökonomischen Umbruch der Jahre 1989/90 und den 2000er Jahren sei es schwierig gewesen, Geschichte überhaupt zu thematisieren, da eine mythologisierte Darstellung der polnischen Vergangenheit stets tonangebend gewesen sei. Die Bereitschaft, über Geschichte zu sprechen, sich mit ihr offen oder kritisch auseinanderzusetzen, schätzte Jadwiga Kocur für den Zeitraum nach 1989 als gering ein. Kocur zufolge hatten erst Initiativen von Einzelpersonen wie ihr Film wichtige Akteure und Geldgeber wie die Stadtverwaltung zu einer Auseinandersetzung mit Aspekten der Stadtgeschichte genötigt, die bis dahin nicht auf der Agenda gestanden hatten. Die Initiativen hätten ein Bewusstsein für den Wert der Architekturmoderne in Katowice geschaffen, die von der Stadtverwaltung später mit der Route der Moderne aufgegriffen wurde. Trotz dieser positiven Reaktion seitens der Stadtverwaltung war Kocur mit dem Ergebnis des angestoßenen Prozesses unzufrieden. Die Route der Moderne sei ursprünglich ein Projekt „von unten“ gewesen, dem seit der Übernahme der Projektleitung durch die Stadtverwaltung die Narration verloren gegangen sei. Das Potenzial, das eine Auseinandersetzung mit diesem Thema mit sich bringe, werde daher nicht genutzt. „Nur die Personen, die nichts mit der Stadtverwaltung zu tun haben, bringen historische Narrationen hervor. Es gibt nur einen kleinen Personenkreis in Katowice, der sich unabhängig von politischen Interessen für die Stadt, ihre Entwicklung und auch ihre Geschichte interessiert.“ Zu diesem Personenkreis zählte Jadwiga Kocur auch Dominik Tokarski, Besitzer der beliebten „KATO-Bar“ auf der wiederbelebten Marienstraße (ul. Mariacka) in der Innenstadt. Während Jadwiga Kocurs historisches Interesse der Zwischenkriegszeit galt, standen die Bemühungen Tokarskis ganz im Zeichen einer Auseinandersetzung mit der Nachkriegsgeschichte der Stadt. Dazu wählte er einen sehr spezifischen Zugang. Tokarski hatte eine Leidenschaft für Leuchtreklamen der 1960er und 1970er Jahre, die Katowice in dieser Zeit den Charakter
steht, dass die Stadtverwaltung das Filmprojekt nicht unterstützt hat. Denkbar ist auch, dass der große Erfolg des Filmes die Stadtverwaltung im Nachhinein dazu bewogen hat, Partner des Projektes zu werden. Vgl. URL http://www.dwuglowysmok.com/partnerzy.html (Zugriff . . ).
8.2 Die nächste Generation
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eines oberschlesischen Las Vegas verliehen.¹⁸ Leuchtreklamen wiesen damals nicht nur auf Produkte hin, es gab sie in ganz unterschiedlichen Formen: Als Schriftzüge etwa auf dem Bahnhof, auf Hotels aber auch als sozialistische Parolen wie „Oberschlesien baut die Hauptstadt auf“ (Śląsk odbudowuje stolicę), „Besucht den Zoo“ (Zwiedzajcie zoo) oder „Tag des Bergmannes“ (Dzień Górnika).¹⁹ Zentraler Bestandteil der Leuchtreklamen waren Leuchtstofflampen, die besonders hell strahlten. Neben der regulären Straßenbeleuchtung sorgte die Leuchtreklame nachts für Lichteffekte. Die Konnotation zu Las Vegas ergibt sich aufgrund der Vielzahl der Neonbeleuchtungen in Katowice, die in den 1960er und 1970er Jahren als prägendes Merkmal für die Stadt galten. Tokarski sammelte die bunt leuchtenden Inschriften und Motive und ließ sie mit dem Ziel restaurieren, eine Art Freilichtmuseum für Leuchtreklamen im innerstädtischen Bereich, entlang der Bahntrasse, in die Wege zu leiten. Katowice war nicht die einzige Stadt mit einer Initiative zur Rettung und Restaurierung von Lichtwerbung mit Leuchtstoffröhren. Vorbild und Inspiration für Tokarski war eine Warschauerin, die die dortige Leuchtreklame aus der Zeit der Volksrepublik in ähnlicher Weise sammelte und aufzubereiten versuchte. Tokarskis Motivation, eine veränderte Wahrnehmung der städtischen Geschichte nach 1945 anzuregen, speiste sich aus einer besonderen Perspektive auf diesen Abschnitt der Vergangenheit. Er charakterisierte die Zeit
Vgl. Interview Dominik Tokarski, Januar , Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Alle nachfolgenden Zitate in indirekter und direkter Rede beziehen sich auf dieses Interview. Auf eine gesonderte Kennzeichnung der einzelnen Zitate durch Fußnoten wird daher verzichtet. Die Freilichtgalerie für die restaurierte Leuchtreklame war für die Hintere Marienstraße (ul. Tylna Mariacka), eine Parallelstraße der Fußgängerzone der Marienstraße, geplant, die jedoch aufgrund ihres Verlaufes entlang der Bahntrasse wenig bewohnt ist. Die dort montierte Leuchtwerbung würde aufgrund ihrer Helligkeit keine Anwohner stören und könnte vor allem von den Reisenden aus dem Zug gesehen werden. Die restaurierte Leuchtreklame sollte durch Abbildungen der ursprünglichen Orte, an denen sie angebracht waren, sowie kurze Erklärungen kontextualisiert werden. Diese wären allerdings nur für Besucher, die sich direkt in die Hintere Marienstraße begeben, zu sehen. Das Vorhaben wurde als Teilprojekt der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas unterstützt. Zum Untersuchungszeitpunkt (Januar ) waren bereits erste Gespräche mit dem Stadtarchitekten über den Standort der Galerie geführt worden. Zusätzlich zur Freilichtgalerie sollte ein Buch entstehen, in dem auch die Neonbeleuchtungen abgebildet werden sollten, die nicht erhalten geblieben sind. Eine Bildgalerie der Leuchtwerbungen in Katowice aus dem Jahr findet sich hier: Justyna Przybytek: Andrzej Koniakowski wykonał tysiące zdjęć. Neony w Katowicach fotografował jednak raz, w r. [Andrzej Koniakowski hat Tausende Bilder gemacht. Die Leuchtreklame in Katowice hat er nur einmal im Jahr fotografiert], in: Dziennik Zachodni, Lokalausgabe Katowice vom . . , online unter URL http://katowice.naszemiasto.pl/artykul/andrzej-koniakowski-wy konal-tysiace-zdjec-neony-w,,artgal,t,id,tm.html (Zugriff . . ).
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der 1970er Jahre als spezifische und wichtige Entwicklungsetappe der Stadt, die er in erster Linie mit dem Begriff der Moderne konnotierte. Die Lichtwerbung sollte Ausdruck von Modernität und Zukunftszugewandtheit der Stadt sein; Katowice sei eine der Städte im damaligen Polen gewesen, wo Leuchtreklamen eine wichtige Rolle gespielt hätten. Die damit einhergehenden Modernisierungsprozesse sollten die besondere Verbundenheit der Warschauer Machthaber mit den in Katowice zahlreich vertretenen Arbeitern zeigen. Da besonders die oberschlesischen (Berg) Arbeiter eine wichtige ökonomische Stütze für die Volksrepublik Polen waren, wurden die Lichtwerbungen auf besonders professionelle Art entworfen, gestaltet und qualitativ hochwertig umgesetzt. Tokarskis Motivation zum Sammeln der Beleuchtungen ging jedoch über den Wunsch hinaus, diese in seinen Augen hochwertige Kunstform zu konservieren. In der Leuchtreklame widerspiegelte sich vielmehr ein Teil der Spezifik seiner Stadt: Die Stadt hier ist relativ jung. […] Die Leuchtreklame ist charakteristisch für die Stadt, sie könnte zum Salz in der Suppe werden. […] Wir sind anders als andere Städte, wir haben keinen Marktplatz und keine richtige Altstadt, also können wir uns als moderne Stadt zeigen, als Stadt, die anders ist.²⁰
Tokarski suchte einerseits nach einem aussagekräftigen Charakteristikum der Stadt, das als Deutungsangebot einen Beitrag für die Diskussion über das Selbstund Fremdbild von Katowice leisten könne, nachdem die Narration als Industriestandort obsolet geworden war. Er wollte sich mit seiner Initiative gleichzeitig einer (nicht nur) unter den Einwohnern von Katowice weit verbreiteten Einstellung entgegenstellen, die die Zeit der Volksrepublik pauschal als negativ bewerteten und davon ausgingen, dass auch die daraus hervorgegangene Architektur oder Kunst nicht schützenswert sei.²¹ In Tokarskis Suche nach dem genius loci von Katowice wiederholte sich das Motiv der Modernität der Stadt, von dem Michał Smolorz eingangs bereits kritisch berichtet hatte. Tokarskis Vorstellung von Katowice als einem Ort der Moderne stand deshalb im Gegensatz zur Suche und Wiederentdeckung von Traditionen, die die Stadt aufgrund ihrer kurzen Ge-
Das Interview wurde auf Deutsch geführt, da Tokarski einige Zeit in Berlin gelebt hat. Grammatikalische und Fehler im Ausdruck sind auf das Sprachniveau des Interviewten zurückzuführen, werden aber in Zitaten mit angeben. Tokarski verwies in diesem Zusammenhang auf eine Initiative des Kulturerbezentrums, das es sich zur Aufgabe gemacht hatten, Mosaiks aus den er und er Jahren in der gesamten Woiwodschaft Schlesien zu schützen. Im Gegensatz zur Idee einer Freilichtgalerie für Neonbeleuchtungen, sollten die Mosaiks an den Gebäuden erhalten, restauriert sowie fotografiert und katalogisiert werden.Vgl. URL http://www.scdk.pl/new/index.php?option=com_content&view=ar ticle&id=:akcja-mozaika&catid=:sztuka&Itemid= (Zugriff . . ).
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schichte in seiner Sicht gar nicht haben konnte. Tokarskis Ausgangspunkt für die Suche nach einem Charakteristikum der Stadt waren die 1960er und 1970er Jahre, die er als Zeit der Moderne beschrieb. In der geplanten Ausstellung der Lichtreklame aus dieser Zeit sah er folglich einerseits die Möglichkeit, auf eine der positivsten Entwicklungsetappen der Stadt zu verweisen und gleichzeitig einen Beitrag zu einer Reflexion über die kommunistische Zeit zu stimulieren. Darüber hinaus bezog er den Begriff der Moderne bzw. der Modernität nicht nur auf die 1960er und 1970er Jahre, sondern auch auf die Gegenwart. Modernität als roter Faden der Stadtgeschichte war für ihn der Schlüssel für ein neues, positiv konnotiertes Selbstbild der Stadt. Mit seinem Engagement für die Restaurierung und Ausstellung der Leuchtreklame wollte Tokarski nicht nur eine inhaltliche Debatte über die Selbstwahrnehmung der Stadt anregen, sondern auch ein Zeichen gegen Lethargie setzen: Wir sind hier in etwa wie Breslau im Jahr 1995. Wir haben verstanden, dass wir die Entwicklung der Stadt selbst in die Hand nehmen müssen, sonst ist sie kein guter Platz zum Leben. […] Nur Wenige haben gut über die Stadt gesprochen, als das Büro der Kulturhauptstadtsbewerbung angefangen hat zu arbeiten. Doch dann hat es Klick gemacht, und die Leute haben geglaubt, dass alles möglich ist, was sie erreichen möchten. Wir haben ein Selbstbewusstsein bekommen. Wenn wir uns bemühen, kann es gut werden und die Stadt kann zu einem bunten, interessanten und freundlichen Ort werden.
Das Projekt der Freiluftgalerie für Leuchtreklame befand sich zum Zeitpunkt der Untersuchung noch im Konzeptionsstadium. Das Sammeln und Restaurieren der beleuchteten Inschriften hatte begonnen, allein die Finanzierung und die Absprachen mit der Stadtverwaltung über die Nutzung der Hinteren Marienstraße sowie den Besitzern der dortigen Gebäude über das Anbringen der Leuchtreklame waren noch weitgehend im Unklaren. Absprachen mit dem Bewerbungsbüro waren getroffen, das eine finanzielle Unterstützung im Rahmen der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas zugesagt hatte. Zum Kreis der Personen, die laut Jadwiga Kocur historische Narrationen über die Stadt hervorbringen, gehörte auch die Designerin Zofia Oslislo. Mit ihrer an der Akademie der Schönen Künste in Katowice verteidigten Masterarbeit zur Moderne in Katowice zwischen 1927 und 1939 legte sie den Grundstein für ein Buchprojekt, das sie im Anschluss an ihre Verteidigung gemeinsam mit der Kunsthistorikerin Irma Kozina umgesetzt hat. Mit dem großformatigen Album Moderne in Katowice 1927 – 1939 ²² (Katowicka Moderna 1927 – 1939) wollte Oslislo den bis dahin weit-
Vgl. Oslislo, Katowicka Moderna – [Moderne in Katowice – ] ().
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gehend unter Kunsthistorikern geführten Diskurs über die Architekturmoderne in Katowice für eine breitere Öffentlichkeit zugänglich machen: „Weder Katowice noch Gdynia haben Bücher über ihre moderne Architektur. Und das sind beides Städte, die es verdient hätten.“²³ Das typografisch und illustratorisch höchst anspruchsvoll gestaltete, zweisprachige polnisch-englische Buch enthält neben Aufsätzen der Kunsthistorikerin Irma Kozina Nachdrucke zeitgenössischer Aufsätze der in Katowice tätigen Architekten Tadeusz Michejda und Witold Kłębkowski aus dem Jahr 1932. Im Anschluss an diesen textbasierten Einführungsteil werden die wichtigsten und eindrucksvollsten Beispiele der Wohn-, Verwaltungs- und Kirchenbauten aus der Zwischenkriegszeit detailliert und mit Abbildungen porträtiert. Ein Stadtplan ermöglicht das Auffinden der abgebildeten Gebäude in der Stadt. Ihr Buchprojekt hatte Oslislo zeitlich parallel zum Entstehen der Route der Moderne umgesetzt und sie berichtete über die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben hatten, dass die Projektumsetzung der Route an eine externe Posener Firma vergeben wurde: „Das waren keine leidenschaftlichen Leute aus der Region, die sich damit beschäftigen und das Thema erforschen. Das war einfach eine Firma, die einen Auftrag ausführt.“ Diejenigen, die sich in Katowice für die Wiederentdeckung und Wiederaneignung der Architekturmoderne eingesetzt hätten, seien aus dem Entstehungsprozess der Route der Moderne ausgeschlossen worden. Die leitende Firma habe sie zwar auf Anregung der Stadtverwaltung nominell zur Zusammenarbeit eingeladen, diese aber durch unterdurchschnittlich geringe Honorarvorschläge verhindert. Ihr Buch charakterisierte Oslislo als „private Initiative von unten, die mit den Bemühungen der Stadt nichts zu tun hatte“. Eine finanzielle Unterstützung erhielt Oslislo, ähnlich wie Jadwiga Kocur, seitens der Stadtverwaltung nicht, die das Buch als „zu teuer und zu extravagant“ ablehnte. Oslislo vermutete hinter der Ablehnung durch die Stadt jedoch nicht finanzielle Hindernisse, sondern vielmehr die Furcht vor einer tiefgreifenden, reflektierten Auseinandersetzung mit Geschichte: Als ich angefangen habe, mich damit [mit der Architekturmoderne, JT] zu beschäftigen, habe ich festgestellt, dass es gar nicht nur um die Architektur geht, sondern das da noch eine ganze nationale Narration, diese deutsch-polnische Rivalität dahinter steht. Die Architektur ist also zu einem ganz bestimmten Zweck entstanden, und man kann aus ihr so viel herauslesen und so viel über die Stadt, über Oberschlesien erzählen, vor allem darüber, wie kompliziert die Region ist.
Vgl. Interview Oslislo, Katowice, . Alle nachfolgenden Zitate in indirekter und direkter Rede beziehen sich auf dieses Interview. Auf eine gesonderte Kennzeichnung der einzelnen Zitate durch Fußnoten wird daher verzichtet.
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Die entstandene Route der Moderne verfolge jedoch keines dieser schwierigen Themen und sei nur als Alibi entstanden, damit sich die Stadt selbst für ihre Aktivitäten loben könne, während die regionalen Aktivisten in Sachen Moderne entweder gar nichts dazu sagten oder die Route kritisierten. Neben der Architekturmoderne war die oberschlesische Identität für Oslislo ein wichtiges Gesprächsthema. Eine generationelle Lücke zwischen ihrer Generation und der von Kazimierz Kutz präge die Diskussion über die Frage, was die oberschlesische Identität ausmache. Das von Kazimierz Kutz in seinen Filmen beschriebene Oberschlesien sei inzwischen eine untergegangene Welt, heute ginge es vielmehr darum, „eine neue Definition dessen zu erarbeiten, was Oberschlesien ist und sein soll“. Oslislos Ausführungen über die oberschlesische Identität unterschieden sich vor allem in einem Punkt von dem, was Smolorz und Kutz zur oberschlesischen Identität erklärten – sie waren weit weniger von der Vorstellung einer Unterdrückung der Oberschlesier bestimmt, die in der Gegenwart nach Selbstbestimmung und politischer Anerkennung strebten. Dennoch sprach auch Oslislo von einer Tendenz der Wiederentdeckung des Oberschlesischen, was sie zum Beispiel am veränderten Gebrauch des oberschlesischen Dialektes festmachte: „Als ich Kind war, habe ich mich geschämt, Dialekt zu sprechen. Heute wird der Dialekt geschätzt und als etwas Wertvolles empfunden, das ist ein großer Unterschied.“ Auch wenn das Motiv der unterdrückten oberschlesischen Ethnie bei Oslislo im Vergleich zu Smolorz und Kutz weniger stark ausgeprägt war, überschnitten sich die von ihr angesprochenen Aspekte teilweise mit den Aussagen von Smolorz und Kutz. So ging auch Oslislo davon aus, dass die oberschlesische Kultur in ihrer Vergangenheit stets auf dem Niveau einer Volkskultur geblieben sei und eine Elitenbildung unter den Oberschlesiern ausgeblieben war. Sie verwies jedoch darauf, dass sich eine solche Elite in der Gegenwart herausbilde. Diese nunmehr im Entstehen begriffene Elite nehme sich jedoch die Freiheit heraus, Oberschlesien für sich neu zu definieren und Abstand von dem Bild zu nehmen, das die vorhergehende Generation geprägt hatte. Anzeichen für einen Redefinitionsprozess der oberschlesischen Identität sah Oslislo in Phänomenen wie der Entstehung eines oberschlesischen Designs, einer oberschlesischen Küche, die traditionelle Gerichte mit modernen Einflüssen verbinde. Sie hob folglich weniger auf die Merkmale der Oberschlesier als ethnische Gruppe ab als auf Definitionsmöglichkeiten einer schlesischen Spezifik im Bereich der Kunst oder des Lebensstils. Elemente oberschlesischer Tradition suchte Oslislo als Designerin bewusst im Bereich der schlesischen Volkskultur, die sie in der Gegenwart künstlerisch bearbeiten, neu interpretieren und somit zu einem eigenständigen Design verarbeiten wollte. Aufgrund ihres Alters gehörte Zofia Oslislo (Jahrgang 1985) zu eben jener nächsten Generation, von der Kutz und Smolorz eingangs berichteten und mit der
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sie ihre Hoffnungen auf einen veränderten Umgang in Bezug auf die oberschlesische Identität sowie mit Vergangenheit und Geschichte der Stadt verbanden. Diese Hoffnung löste Oslislo, gemessen an ihren Projekten, insofern ein, als sie sich beiden Themen auf möglichst objektive bzw. innovative Art und Weise näherte und sie mit hohem künstlerischen Anspruch umsetzte. Die Erwartung der beiden älteren Gesprächspartner, dass diese nächste Generation auch die Ansichten zur Konstitution der oberschlesischen Identität übernehmen würde, erfüllte Oslislo hingegen nicht. Doch trafen die harschen Vorwürfe, die Smolorz und Kutz gegen diejenigen in Stellung brachten, die ihrer Meinung nach der Geschichte der Stadt Unrecht taten und sie ein weiteres Mal neu erfinden und mit eigenen Inhalten versehen wollten, auf Oslislos Umgang mit Geschichte nicht zu. Zwar hatte sie eigene, von Smolorz und Kutz abweichende Meinungen darüber, was die oberschlesische Identität konstituiere; mit ihrem Buch begab sie sich jedoch gezielt auf die Suche nach einem wichtigen Aspekt der städtischen Vergangenheit und verlieh diesem durch ihre gestalterisch anspruchsvolle und detailliert-objektive Darstellungsweise in der Gegenwart die Möglichkeit, zu einem identitätsrelevanten Bestandteil der städtischen Selbstbeschreibung zu werden. Dass diese im Entstehen begriffene, sich als oberschlesisch fühlende und der Region verbundene Elite sich nicht mehr an den Deutungsangeboten von Kutz und Smolorz orientieren will, mag von der älteren Generation als schwierig empfunden werden. Die jüngere Generation scheint sich dem Thema oberschlesische Identität aus einer stark gegenwartsbezogenen Perspektive zu nähern, die keine historische Großerzählung über die Genese und Entwicklung des „Oberschlesiertums“ bis zum Punkt der gegenwärtigen Wiederentdeckung braucht. Am Beispiel Oslislos wird deutlich, dass sie sich künstlerisch mit der oberschlesischen Tradition ihres Lebensumfeldes auseinandersetzt und diese in Aspekten aufgreift, um sie weiterzuentwickeln. Im Gegensatz zum Ansinnen von Kutz und Smolorz, die eine historische Kontinuität der oberschlesischen Identität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu konstruieren und proklamieren versuchten, nutzen Personen wie Zofia Oslislo die gegenwärtige Situation, um eigene, neue Definitionsangebote einer oberschlesischen Identität zur Diskussion zu stellen. Den Überblick zur diskursiven Gemengelage in der Stadt schließt eine Person ab, der in den vergangenen Jahren viel öffentliche und mediale Aufmerksamkeit zuteil wurde. Jerzy Gorzelik (* 1971) ist seit 2003 Vorsitzender der RAŚ, einer 1990 gegründeten, auch politisch aktiven Bürgerbewegung, die jedoch als Verein eingetragen ist.²⁴ Gorzelik gehört somit einer Organisation an, die Personen mit einem
Zum Zeitpunkt des Interviews war Gorzelik Abgeordneter der RAŚ im Schlesischen Landtag. Gorzelik ist darüber hinaus als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kunstgeschichte
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Interesse an Oberschlesien bzw. Personen, die sich als Oberschlesier fühlen, vereinigt. Fragen der Verfasstheit einer oberschlesische Identität bzw. oberschlesischen Tradition sind somit per definitionem zentraler Bestandteil dieser Organisation. Gorzelik wurde von Michał Smolorz als eine der Personen einer neuen Generation bezeichnet, die sich in der Gegenwart ohne ideologische Vereinnahmungen für die Belange der Region und der Oberschlesier einsetzen. Gorzeliks Ausführungen während des Interviews gründeten auf weitreichenden historischen Annahmen. Historische Argumente und Reflexionen führte er aber nie ohne einen konkreten Zusammenhang mit der Gegenwart aus, die er gern nach seinen Vorstellungen verändern würde. So erzählte auch Gorzelik die Geschichte einer unterdrückten oberschlesischen Identität, die sich nach der politischen Wende von 1989 neu formiere und deren Träger nun politische Rechte einfordere. RAŚ verstand Gorzelik als Vereinigung, die an die Autonomie der Woiwodschaft in der Zwischenkriegszeit von 1922 bis 1939 anknüpfen möchte. Nach Jahren der Unterdrückung während der Zeit der Volksrepublik sei ein Anknüpfen an den historischen Vorgänger der Autonomie der richtige Weg, die oberschlesische Identität wieder stärker zum Ausdruck zu bringen. Die Zwischenkriegszeit mit der Autonomiestellung für die schlesische Woiwodschaft erachtete Gorzelik nach 1989 als idealen Anknüpfungspunkt, denn viele betrachteten die Phase der Volksrepublik Polen als Unterbrechung in der historischen Entwicklung, als eine Art Pause. Nach dem Fall der Volksrepublik haben viele die Rückkehr zu einer Kontinuität erwartet, eine Rückkehr zu den Traditionen der polnischen Zwischenkriegszeit.
Autonomie setzte Gorzelik dabei keineswegs mit der Idee von Separatismus gleich. Autonomie bedeutete für ihn vielmehr die Dezentralisierung des polnischen Staates zugunsten einer Föderalisierung und somit eine Stärkung der Regionen. Zur Umsetzung könnten in den Regionen gesetzgebende Parlamente eingeführt werden, die über kulturelle Belange, Bildung oder regionale Infrastruktur entscheiden, während Bereiche wie die Außen- oder Verkehrspolitik bei der Regierung in Warschau verblieben. Gorzelik untermauerte seine Argumentation einer Dezentralisierung und Föderalisierung des polnischen Staates mit der historisch gewachsenen Spezifik der Region Oberschlesien, die in Form einer Autonomie am
der Schlesischen Universität in Katowice tätig und beschäftigt sich wissenschaftlich mit der Epoche des Barock in Oberschlesien. Das Interview entstand im Mai in Katowice. Das Interview befindet sich im Archiv der Autorin. Alle nachfolgenden Zitate in indirekter und direkter Rede beziehen sich auf dieses Interview. Auf eine gesonderte Kennzeichnung der einzelnen Zitate durch Fußnoten wird daher verzichtet.
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besten Berücksichtigung finden könne. Oberschlesien unterscheide sich vom Rest Polens nicht nur durch seine Tradition in Bezug auf Autonomie, sondern auch anhand des materiellen und immateriellen Kulturerbes. Vor allem die für Oberschlesien prägende Industriekultur sei ein Charakteristikum, das einen maßgeblichen Unterschied zum restlichen materiellen Kulturerbe Polens darstelle. Auch die Mehrsprachigkeit der Region sei im Rest des Landes eher untypisch und wirke daher bisweilen fremd. Die Pflege dieser regionalen Spezifika und des ausgesprochen differenzierten Kulturerbes könne innerhalb einer Autonomie wesentlich effizienter und erfolgreicher umgesetzt werden. Die Autonomievorstellungen Gorzeliks gründeten zwar auf der Annahme einer oberschlesischen Ethnie, er wies jedoch dezidiert darauf hin, dass er sich nicht für eine „Autonomie der Oberschlesier“ sondern für eine „territoriale Autonomie als Modell zur besseren Verwaltung der Region“ einsetze. Auch im Gespräch mit Jerzy Gorzelik zielte eine der entscheidenden Fragen auf die Definition einer oberschlesischen Identität bzw. darauf ab, wer Oberschlesier sei. Gorzelik vertrat eine konstruktivistische Position und argumentierte, dass es „keine oberschlesische Identität an sich [gibt], es gibt nur das, womit sich die Oberschlesier in einem bestimmten Moment identifizieren“. Die Oberschlesier seien demnach eine imaginierte Gemeinschaft, die so lange existiere, wie es Menschen gebe, die sich mit ihr identifizierten. Diese konstruktivistische Haltung setzte sich auch in Bezug auf die Charakteristika der oberschlesischen Identität fort: Natürlich statten wir das Oberschlesiertum mit bestimmten Attributen aus: Die Vielsprachigkeit, der Arbeitsethos, der von der Industrie her kommt. Für Deutsche klingt das wenig spektakulär, weil es dort das Wort Heimat gibt, in Polen ist das etwas absolut Besonderes. Diese starke Identifikation mit der Region in der man lebt, das gibt es sonst in Polen nicht. Die Polen sind nicht so stark in regionalen Gemeinschaften verwurzelt. Diese spezifische Verwurzelung in der Region ist auf jeden Fall eine oberschlesische Besonderheit. […] Viele Menschen, die keine schlesischen Wurzeln haben, fühlen sich als Oberschlesier und eben auch mit der Region verbunden.Vielleicht nicht in den nationalen Kategorien. Die Zahl derer, die sich in Umfragen als Oberschlesier ansehen, ist entschieden höher als die Zahl der ethnischen Oberschlesier.
Eine festgelegte, historisch begründete und verbürgte Definition dessen, was Oberschlesien und die Oberschlesier ausmacht, konnte Gorzelik während des Gespräches nicht anführen. In Gorzeliks Überzeugung existierte sowohl eine oberschlesische Ethnie als auch eine weitaus größere „imaginierte Gemeinschaft der Oberschlesier“. Dabei blieb die Charakterisierung der Merkmale, die sowohl die ethnischen, als auch die Oberschlesier aus Überzeugung kennzeichnet, eher vage. Vielmehr wies Gorzelik selbst darauf hin, dass die Attribute, die den Ober-
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schlesiern zugeschrieben werden, auf Konstruktionen beruhen und vor allem zur Abgrenzung gegenüber den restlichen Landesteilen dienen: Vielsprachigkeit, Arbeitsethos und eine spezielle Verbundenheit mit der Region, die dem deutschen Prinzip der Heimat entspreche. Dabei handele es sich jedoch um Zuschreibungen, um Attribute, die an die oberschlesische Identität heran getragen würden. Diese seien aufgrund ihres konstruktiven Charakters daher prinzipiell wandelbar und offen. Weniger konstruktivistisch präsentierte Gorzelik seine Vorstellungen zum Verlauf und zum gegenwärtigen Umgang mit der Stadtgeschichte von Katowice. Die historische Stadtentwicklung unterscheide sich maßgeblich von der Entwicklung in den umliegenden oberschlesischen Städten oder in der strukturell ähnlichen Region des Ruhrgebietes. Katowice sei eher „vergleichbar zu US-amerikanischen Städten. Die Stadt wurde von einer Generation der Unternehmer gegründet.“ Katowice sei weder als Weiterentwicklung mittelalterlicher Städte während der Industrialisierung entstanden, wie etwa Essen, noch aus einer Zusammenlegung von Siedlungen um eine Zeche herum – und somit aus städtebaulicher Sicht sehr chaotisch – wie etwa Königshütte oder Bochum. Gorzelik sah in Katowice eine „private Kreation Franz von Wincklers und seiner Nachfolger“. Diese „Kreation“ vereinige sowohl Elemente der Moderne als auch der Tradition und lebe von Beginn an in einer Spannung zwischen modern und traditionell: Einerseits entstand mit dem Schachbrett-Muster entlang einer West-Ost-Achse der ursprünglichen deutschen Stadtgründung eine moderne Stadtanlage. Gleichzeitig blieben Anklänge an die vormals dörfliche Siedlung, etwa in den nachempfundenen Verläufen ehemaliger Dorfstraßen wie der Młyńska-Straße (ul. Młyńska) im heutige Stadtzentrum erhalten. Gorzelik fasste das wie folgt zusammen: „Die Stadt hat also den „Instinkt der Moderne“. Aber auf der anderen Seite hat sie sich trotz ihrer dynamischen Entwicklung von Anfang an nicht von ihrer Tradition entfernt. Doch genau dieser Aspekt der Tradition fehlt dem modernen Katowice heute.“ Gorzelik machte zwischen den Polen „Industrie“ und „Intelligenz“ ein weiteres Spannungsverhältnis in der historischen Entwicklung der Stadt aus. So sei Katowice bei seiner Gründung nicht als Industriestandort konzipiert gewesen, vielmehr als Handels- und Verwaltungszentrum. Die Industrie, die ursprünglich an den Peripherien der Stadt lag, sei erst mit der schrittweisen Erweiterung der Stadtgrenzen zu einem elementaren Bestandteil des städtischen Raumes geworden. Gegenwärtig sei Katowice von beiden Tendenzen gleichsam geprägt: „Wir haben in der heutigen Struktur von Katowice den alten Teil der Stadt, der von Beginn an mit der Intelligenz und der Verwaltung verbunden war, und den anderen Teil der Arbeiter. Aus beiden Quellen sollte man schöpfen und beide Traditionen sollte man achten.“
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Seinen Ansichten zur Stadtgeschichte entsprechend, ging Gorzelik während des Gespräches scharf damit ins Gericht, wie die Stadtverwaltung mit Geschichte umgehe. Das Bestreben, sich vom Ballast der Industrie trennen zu wollen, konnte er nicht nachvollziehen: Man kann, wie die Stadt Katowice, so tun, als gäbe es dieses Kulturerbe nicht. Doch das ist hoffnungslos, denn Katowice wird mindestens noch 20 bis 30 Jahre mit der Großindustrie verbunden sein, bis sich da etwas ändert. Es ist also besser, sich mit seiner Tradition zu versöhnen und sich zu fragen,wie man ihr neue Werte verleihen kann, und nicht,wie man am besten vor ihr flüchtet.
Doch anstelle sich mit der industriellen Vergangenheit auf konstruktive Weise auseinanderzusetzen, strebe die Stadtverwaltung es an, „das Bild einer jungen, dynamischen Stadt zu entwickeln“. Dynamik und Energie hielt Gorzelik für durchaus wichtige und wünschenswerte Elemente eines städtischen Selbstverständnisses, doch schieße Katowice mit diesen Bestrebungen buchstäblich über das Ziel hinaus: Das, was die Stadtverwaltung vorschlägt, ist wie Plastik. Das könnte es auch in jeder anderen europäischen Stadt geben. Städte, die mit Jugend, Studenten, Popmusik werben, gibt es doch in Europa schon jede Menge. Hier fehlt der Bezug auf die lokale Spezifik und somit auch der Wiedererkennungswert. Katowice kann ohnehin nicht mit den großen europäischen Metropolen rivalisieren. Daher kann man sich auch auf die lokale Spezifik einlassen, die man hervorragend mit modernen Ideen verbinden könnte.
Die geschilderten Ansichten der Akteure, die sich in Katowice mit Vergangenheit und Geschichte der Stadt auseinandersetzen, verdeutlichen zwei sich überlappende Diskurse für den untersuchten Zeitraum. Zum einen fand eine Debatte über die angemessene Repräsentation der städtischen Vergangenheit statt, andererseits eine Diskussion über die Grundlagen und den Charakter der oberschlesischen Identität. Die Interviews zeigen, dass beide Diskussionsstränge auf vielfältige Weise miteinander verbunden waren. Die Überlagerung beider Diskurse trat beispielsweise bei der Kritik am Imagebildungsprozess als Gartenstadt und den dabei entstandenen historischen Narrationen deutlich hervor. So beklagten die Interviewten etwa das Fehlen jeglicher Bezüge auf die oberschlesische Identität der Stadt Katowice und ihrer Einwohner bei der Veränderung der städtischen Selbstdarstellung. Die oberschlesische Identität erachteten die Befragten überwiegend als regionale Besonderheit, die es in der Gegenwart in angemessener Weise zu berücksichtigen gelte. Dabei bildeten sich zwei unterschiedliche Standpunkte heraus: Ein Teil der Gesprächspartner ging davon aus, dass es die oberschlesische Identität „schon immer“ gegeben hat, sie jedoch in der Geschichte stets unterdrückt wurde und nun wiederentdeckt bzw. wieder angeeignet
8.3 Der Diskurs über die oberschlesische Identität
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und rechtlich anerkannt werden müsse. Ein anderer Teil war der Überzeugung, dass die oberschlesische Identität durch Projekte und Initiativen in der Gegenwart neu definiert werden müsse.
8.3 Der Diskurs über die oberschlesische Identität Der Diskurs über die oberschlesische Identität wurde in der Einleitung als einer der Faktoren eingeführt, die seit 1989 eine Transformation durchleben. Besondere Relevanz hat die Frage einer oberschlesischen Identität im letzten Kapitel erlangt, da sie von den Interviewpartnern auf vielfältige Weise angesprochen wurde. Mit einigen abschließenden Bemerkungen soll die in der Einleitung aufgegriffene Entwicklung des Diskurses weiter kontextualisiert werden, um zu einem vertieften Verständnis der Transformationsprozesse in Katowice zu gelangen. Dass zum Untersuchungszeitpunkt dieser Studie ein spezifisches Phänomen der Auseinandersetzung mit der oberschlesischen Identität zu beobachten war, bestätigte in einem Interview der in Katowice lehrende Soziologieprofessor Tomasz Nawrocki.²⁵ „Der Diskurs über die oberschlesische Identität ist zurückgekommen, er ist heute wieder ein wichtiger Punkt bei der Suche nach Antworten auf die Frage, wer wir sind.“ Für Nawrocki war dieses Phänomen jedoch kein Novum, er ging vielmehr von einer zweiten Welle der Konjunktur bzw. der Wiedergeburt eines regionalen Bewusstseins aus. Eine erste Phase definierte Nawrocki für die Zeit direkt im Anschluss an die politische Wende der Jahre 1989/90, als mit dem Verbund der Oberschlesier/Związek Górnośląski (ZG) und der RAŚ Organisationen für Menschen gegründet wurden, die sich als Oberschlesier fühlten. Vor allem der ZG habe in den 1990er Jahren, auch auf politischer Ebene, eine entscheidende Rolle in der Region gespielt. Mitglieder des Verbundes haben zahlreiche Ämter in den Woiwodschafts- und Stadtverwaltungen bekleidet, bis hin zum ersten schlesischen Woiwoden Wojciech Czech, der aus den Reihen des ZG stammte und das Ansehen des Verbundes deutlich erhöhte.²⁶ Die Auffassung des ZG von Oberschlesien und der oberschlesischen Identität hätte sich seit der Gründung des Verbundes zu Beginn der 1990er Jahre nicht wesentlich verändert. Sie seien damals bewusst sehr breit angelegt worden. Das sollte helfen, die Differenzen zwischen denjenigen zu überwinden, die sich neben ihrer Identifikation als
Das Interview mit Tomasz Nawrocki entstand im Mai in Katowice und befindet sich im Archiv der Autorin. Alle nachfolgenden Zitate in indirekter Rede beziehen sich auf dieses Interview. Vgl. Sekuła, Po co Ślązakom potrzebny jest naród? [Wozu brauchen die Schlesier eine Nation?] (), S. .
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Oberschlesier auch als Polen oder Deutsche fühlten, und denjenigen, die sich hauptsächlich als Oberschlesier sahen, ohne sich zusätzlich mit den nationalstaatlichen Optionen deutsch bzw. polnisch zu identifizieren. Zu den Grundüberzeugungen des ZG gehörte der Fokus auf die Pflege und Bewahrung der regionalen oberschlesischen Traditionen sowie die christliche Prägung der oberschlesischen Kultur, was von Nawrocki als Vision eines „kulturellen Oberschlesiertums“ beschrieben wurde. Neben den positiven Entwicklungen der Anfangsjahre verwies Nawrocki jedoch darauf, dass der ZG nachfolgend zum Opfer seines eigenen Erfolges geworden sei und sich nach den politischen Erfolgen, vor allem aber in Anbetracht der Konkurrenz anderer Organisationen wie RAŚ, sein Programm nicht weiter entwickeln konnte. Ähnliche Ansichten wie Professor Nawrocki vertritt auch Elżbieta Anna Sekuła, die eine der wenigen aktuellen Studien (2009) über die Frage oberschlesischer Selbstbeschreibungen verfasst hat: „Der ZG kann sich eindeutig nicht in den Realia zurechtfinden, die vor allem von der „modernisierten“ RAŚ diktiert werden.“²⁷ Nawrocki zufolge hat sich der ZG zu stark mit der oberschlesischen Tradition, verstanden als oberschlesische Folklore, beschäftigt, statt Antworten auf die Fragen einer zukünftigen Entwicklung der Region, etwa ihre Rolle innerhalb des polnischen Staates, zu formulieren. Der Verbund habe damit auch den Kontakt zur nachfolgenden Generation verloren, die sich gegenwärtig überdurchschnittlich für RAŚ interessiere und engagiere. Sowohl Nawrocki als auch Sekuła verwiesen darauf, dass RAŚ bei ihrer Gründung in den 1990er Jahren von ähnlichen Annahmen wie der ZG geprägt war. So wurde RAŚ ursprünglich von älteren Personen im Bewusstsein des „oberschlesischen Unrechtes“²⁸ gegründet, das der Region und den Oberschlesiern in der Vergangenheit zugefügt worden sei. Nawrocki bezeichnete die Anfangspos-
Ebd., S. . Die Formel des „oberschlesischen Unrechtes“ tritt als Selbstbeschreibung der Oberschlesier häufig auf und meint die Unterdrückung und Ausnutzung, die dieser Gruppe im Laufe ihrer Geschichte widerfahren ist. Jolanta Tambor führt in ihrer Studie zu Sprache und Identifikation in Oberschlesien drei Bereiche an, in denen sich die Oberschlesier ausgenutzt fühlten: „geistig (kulturelle Leere, kein Zugang zu höheren Positionen), ökonomisch (das in Schlesien erarbeitete Geld floss ab, Umweltzerstörung) und körperlich (Zwang zu körperlicher Schwerstarbeit, keine Erholungsmöglichkeiten).“ Vgl. Jolanta Tambor: Oberschlesien – Sprache und Identifikation. Hildesheim u. a. , S. f. Michał Smolorz schreibt zum Phänomen des oberschlesischen Unrechtes: „Das Phänomen des oberschlesischen Unrechtes beruht auf der subjektiven Überzeugung der oberschlesischen autochthonen Gemeinschaft über ihre spezifische Benachteiligung in historischen Prozessen, die auf diesem Gebiet über die Jahrhunderte stattgefunden hat.“ Vgl. Michał Smolorz: Śląsk wymyślony. Górnośląski regionalizm w mediach [Das erfundene Schlesien. Der oberschlesische Regionalismus in den Medien], Diss. Phil. Katowice , S. .
8.3 Der Diskurs über die oberschlesische Identität
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tulate der RAŚ als „Blut- und Bodennationalismus, die die Überzeugung beinhalteten, dass nur derjenige Oberschlesier sein kann, der seit einer gewissen Generationsfolge in der Region ansässig ist.“ In der Gegenwart, vor allem seitdem Jerzy Gorzelik den Vorsitz der RAŚ innehat, veränderte sich diese Überzeugung jedoch gänzlich. RAŚ definiere sich gegenwärtig nicht mehr über ethnische Kriterien sondern sei offen für alle, die den Gedanken der Autonomie Oberschlesiens unterstützen. Der ethnische Rahmen der oberschlesischen Identität als Basis habe an Geltung verloren und würde inzwischen sogar dezidiert von der Führung der RAŚ abgelehnt. Das bedeutete jedoch nicht, dass die Frage einer oberschlesischen Identität für RAŚ keine Rolle spielen würde. Es heißt vielmehr, dass diese nicht mehr in ethnischen oder kulturellen Grenzen verhandelt, sondern auf der Ebene politischer Konzepte wie Föderalismus und Autonomie definiert werde. Die Vorbilder dafür sehen die Akteure der RAŚ in der spanischen Region Katalonien, die eine weitreichende Autonomie genieße, oder dem Staatsgefüge Italiens, das seinen Regionen Autonomierechte einräume. Ziel dieser Vergleiche mit anderen europäischen Regionen sei es, der oberschlesischen Identität einen modernen, europäischen Anschein zu verleihen, sie aus den traditionellen kulturellen Konzepten zu lösen, anschluss- und zukunftsfähig zu machen. Die Verbindung zwischen Oberschlesien und anderen europäischen Regionen, die Definition der oberschlesischen Identität jenseits folkloristisch-traditioneller Kategorien spricht vor allem junge, gut ausgebildete Menschen an. Obwohl RAŚ mit der Oberschlesischen Jugend zusätzlich noch eine eigene, von RAŚ selbst als unpolitisch beschriebene Jugendorganisation besitzt, vereinigt die Organisation im Vergleich zum ZG auch in ihrer Stammorganisation vor allem junge Menschen. Elżbieta Anna Sekuła kommt in ihrer Analyse gar zu dem Schluss, dass es eine ganze „Generation RAŚ“ gäbe, die ihren Stolz darauf, Oberschlesier zu sein, offen zeigen, Verantwortung für ihre Region übernehmen und sich für ihre Entwicklung und Zukunft engagieren wollten.²⁹ Diese Generation, die Sekuła grundlegend von der Eltern- und Großelterngeneration unterscheidet, sei geprägt von Optimismus und der Zuversicht, dass die von ihnen definierten Ziele erreicht werden können. Freiheit im individuellen Sinne verstünden sie als Möglichkeit einer bewussten und freiwilligen Beschreibung der eigenen Identität; auf gesellschaftlicher Ebene
Vgl. Sekuła, Po co Ślązakom potrzebny jest naród? [Wozu brauchen die Schlesier eine Nation?] (), S. . Als Generation definiert Sekuła nach Maria Ossowska eine Gruppe von Personen, die gleiche Ansichten und eine Werthierarchie teilen, die auf gemeinsame, gleiche Erfahrungen zurückzuführen sind und eine besondere Prägung der Persönlichkeit nach sich ziehen. Für die Generation RAŚ sind diese bewusstseinsbildenden, gemeinsamen Ereignisse die Möglichkeit der freien Selbstbeschreibung der eigenen Identität nach sowie die Volkszählung des Jahres , als sich Personen einer oberschlesischen Nationalität zugehörig erklärten.
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solle diese Freiheit die Gestalt der Autonomie für die Region annehmen. Für eine Mitgliedschaft bei RAŚ sei nicht vordergründig die Identifikation mit einer oberschlesischen Identität ausschlaggebend, sondern universelle Werte, hier in erster Linie in Form des Regionalismus. Mit dieser Charakterisierung, so Sekuła, sei die „Generation RAŚ“ vollkommen in den Realia der späten Moderne angekommen: Das „Oberschlesiertum“ verstehen sie als subjektiven Faktor der eigenen Selbstbeschreibung sowie als integrierendes und identitätsstiftendes Element einer Gruppe. Zu dieser Charakterisierung gehörte auch, dass die Generation RAŚ den integrierenden Aspekt von Spaß und Events wertschätze und sich nicht vor Populärkultur scheue, diese aber gut durchdacht mit Elementen oberschlesischer Traditionen verbinde. RAŚ und ihre Anhänger hätten unter den Bedingungen der späten Moderne, in der „so viele Dinge aufgehört haben ,selbstverständlich und natürlich‘ zu sein mit der offenen Thematisierung von Fragen der Identifikation und der Formulierung einer Antwort auf die Frage ‚Wer bin ich?‘, den Geist der Zeit getroffen.“ Nachvollziehen lassen sich Sekułas Analyseergebnisse anhand der hier zugrundeliegenden Interviews mit potenziellen Vertretern der „Generation RAŚ“, wenngleich weder die Autonomie Oberschlesiens noch RAŚ als Bewegung im Mittelpunkt der gestellten Fragen bzw. der Antworten stand. Während sich die Vertreter der älteren Generation, ausgestattet mit weitreichenden historischen Argumenten und Narrationen auf die Vergangenheit der Oberschlesier beriefen, die in der Gegenwart mit Anerkennung und einem rechtlichen Status versehen werden müsse, argumentierten die jüngeren Gesprächspartner wesentlich freier und ungebundener von historischen Vorstellungen. Die oberschlesische Identität schien für sie zu einem wichtigen Bestandteil der eigenen Selbstbeschreibung geworden zu sein, der gleichzeitig aber weiterentwickelt, mit neuen Inhalten und Werten versehen werden kann. Im Zuge dieses neuerlichen Redefinitionsprozesses der oberschlesischen Identität schienen die vormals viel diskutierten Fragen, ob es ein oberschlesisches Ethnikum³⁰ gäbe oder ob der oberschlesische Dialekt als eigenständige Sprache³¹ anerkannt werden solle, allmählich in den Hintergrund zu treten. Das geschickte Agieren von Akteuren wie Jerzy Gorzelik von RAŚ ließ erkennen, dass der Begriff der oberschlesischen Identität zum Untersuchungs-
Vgl. beispielsweise den paradigmatischen Aufsatz von Simonides, Gibt es ein oberschlesisches Ethnikum? (). Auch zu dieser Frage gibt es eine Vielzahl von Publikationen, u. a. Tambor, Sprache und Identifikation (). Stellvertretend sei ferner verwiesen auf: Hentschel, Das Schlesische (). Hentschel argumentiert, dass das Oberschlesische weder eine das gesamte Gebiet Oberschlesiens umfassende implizite Gebrauchsnorm noch eine explizit kodifizierte Norm besitzt und daher als Dialekt- oder Mundartkontinuum verstanden werden muss.
8.3 Der Diskurs über die oberschlesische Identität
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zeitpunkt nicht mehr nach den objektiven Kriterien zur Beschreibung einer ethnischen Gruppe suchte, sondern situativ definiert wurde und sich zu einer Überzeugung hin öffnete, die jeder vertreten konnte, der die Entwicklung der Region positiv beeinflussen wollte. Die häufig angesprochene Besonderheit und Andersartigkeit Oberschlesiens im Vergleich zum Rest Polens wurde damit bewusst aufgegriffen und kanalisiert, indem mehr Selbstbestimmungsrechte und eine kulturelle Autonomie für die Region eingefordert wurden. Auch Tomasz Nawrocki war überzeugt, dass der Begriff der oberschlesischen Identität zukünftig zunehmend von ethnischen Definitionen losgelöst betrachtet werden wird und sich „unter dem Dach des Oberschlesien-Begriffs Menschen verschiedener Herkunft“ treffen können.
9 Zusammenfassung: Geschichtskultur in Transformation? Katowice ist gegenwärtig eine Stadt im Aufbruch, so die Grundannahme dieser Untersuchung. Nachdem die Schwierigkeiten des Transformationsprozesses die oberschlesische Metropole in den 1990er Jahren kurzzeitig „hinter einer grauen Wand aus Ruß, Kohlestaub und menschlichem Leid“¹ verschwinden ließen, entwickelt sich Katowice gegenwärtig wieder zu einem wirtschaftlichen Zentrum. Neben der Wirtschaft will die Stadt den kulturellen Bereich als zentrales Standbein ihrer zukünftigen Entwicklung etablieren. Diese vielfältigen Veränderungen erfassen neben der Wirtschafts- und Sozialstruktur der Stadt auch den Bereich der Selbst- und Fremdwahrnehmung der Einwohner und des Images, das sich Katowice zu geben bemüht. Zwar ist dieser Transformationsprozess von einer Industrie- zu einer postindustriellen Stadt genuin auf die Zukunft ausgerichtet, er hat jedoch auch entscheidenden Einfluss auf die Wahrnehmung und den Umgang mit Vergangenheit und Geschichte. Vor allem die außeruniversitäre, öffentliche Beschäftigung mit Geschichte hat seit der Entscheidung der Stadtverwaltung, Katowice als Kulturstadt aus der Transformationsphase heraus in die Zukunft zu führen, bemerkenswerte Wendungen genommen. Die wichtigsten Beispiele der öffentlichen Darstellung von Geschichte in Katowice hat diese Studie zusammengetragen und analysiert. Katowice ist ein besonders interessantes Beispiel für eine Untersuchung öffentlicher Geschichtsdarstellungen, da hier im Vergleich zu anderen polnischen Großstädten eine reflektierte Auseinandersetzung mit der multinationalen Vergangenheit erst relativ spät einsetzte. Gerade in Bezug auf die benachbarte niederschlesische Hauptstadt Breslau, die nach dem politischen Umbruch von 1989/ 90 schnell zu neuem Selbstbewusstsein fand und seither einen unprätentiösen, integrativen Umgang vor allem mit dem deutschen Teil der Stadtgeschichte anstrebt, wurde in den öffentlichen Geschichtsdarstellungen in Katowice lange Zeit an der polnischen Meistererzählung über die Stadt festgehalten. Einen unverkrampften Umgang gab es in Katowice bislang weder mit der deutschen, noch mit der lokalen oberschlesischen Vergangenheit. Die Feststellung des Historikers Jörg Hackmann, dass das „deutlich gewachsene Interesse an multiethnischer Geschichte […] im östlichen Mitteleuropa vielfach in heute monoethnischen Städten
Vgl. Marta Kijowska: Preissegen über Schlesien. Literatur und Film in der polnischen Problemregion, Neue Zürcher Zeitung vom . . , URL http://www.nzz.ch/aktuell/startseite/ articleXYK-. (Zugriff . . ).
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auf[tritt]“², verdeutlicht das Beispiel Katowice in besonderer Weise. Während sich Breslau, das heute in der überwiegenden Mehrheit von ethnischen Polen bewohnt wird, in relativer Offenheit mit seiner Vergangenheit beschäftigt, ist dieser Prozess in Katowice mit größeren Schwierigkeiten verbunden. Im Gegensatz zum niederschlesischen Breslau ringen in Oberschlesien gegenwärtig verschiedene Akteure um die (historische) Deutungshoheit über die Region.Verwiesen sei etwa auf die steigende Popularität der Bewegung für die Autonomie Schlesiens (RAŚ), die für eine kulturelle Autonomie Oberschlesiens innerhalb des polnischen Staates eintritt und die kulturelle Besonderheit der Oberschlesier im Vergleich zur polnischen Mehrheitsbevölkerung hervorhebt. Wenngleich sich RAŚ als einer der wichtigsten Akteure auf dem Feld der oberschlesischen Minderheit nicht (mehr) auf ethnische Differenzen zwischen Polen und Oberschlesiern beruft, ist das gegenwärtige Katowice dennoch keine monoethnische Stadt. Folgt man der Argumentation Jörg Hackmanns, liegt einer der Gründe für die Schwierigkeiten im Umgang mit der multiethnischen bzw. multinationalen Vergangenheit in Katowice gerade in ihrem auch gegenwärtig multiethnischen Charakter. Dabei scheint nicht der Umgang mit der deutschen Vergangenheit das eigentlich Problematische zu sein; vielmehr stellt besonders die sich politisch und kulturell immer stärker ausdifferenzierende oberschlesische Minderheit eine Herausforderung für das Geschichtsdenken in und über die Stadt dar. Der etablierten polnischen Nationalgeschichte, die Katowice schlichtweg integrierte, stellen unter anderem die Akteure von RAŚ eine lokale oberschlesische Interpretation der Vergangenheit entgegen, die das nationale Deutungsmuster nur an wenigen Stellen teilt. Die in der Studie vorgestellten Beispiele öffentlicher Geschichtsdarstellungen zeigen, wie das bislang dominante polnisch-nationale Narrativ über die Stadt, das seit 1922 bzw. 1945 fest im städtischen Raum verankert wurde, nach 1989 Veränderungen, Erweiterungen und Umdeutungen erfahren hat. Der Wandlungsprozess der nationalen Perspektive auf die Stadtgeschichte weist anhand der einzelnen Fallbeispiele unterschiedliche Intensität auf. Als Ausgangspunkt für die Untersuchung wurde das architektonische Ensemble der Stadt gewählt. In der Architektur und der urbanen Anlage von Katowice sind die historischen Entwicklungslinien sowohl der deutschen als auch der polnischen Anteile der städtischen Vergangenheit noch in der Gegenwart deutlich sichtbar. Sie haben sich aufgrund des ausgeprägten räumlichen Nebeneinanders der zeitlich aufeinander folgenden Bauabschnitte und des Ausbleibens von Überbauungen bzw. von großflächigen Vgl. Jörg Hackmann: Rezension zu: Czaplicka, John J./Ruble, Blair, A./Crabtree, Lauren (Hg.): Composing Urban History and the Constitution of Civic Identities,Washington, , in: H-Soz-uKult, . . , URL http://www.hsozkult.de/hfn/publicationreview/id/rezbuecher- (Zugriff . . ).
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Zerstörungen in einer spezifischen Art konserviert. Während die deutsche Stadtgeschichte anhand der Architektur der Stadt nachvollziehbar ist, weist bereits die Ebene der symbolischen Repräsentationen im städtischen Raum einen eindeutigen Fokus auf die polnische Geschichte der Stadt auf. Die Denkmäler und Erinnerungstafeln in Katowice vermitteln die Geschichte einer polnischen Stadt und heben vor allem auf den deutsch-polnischen Antagonismus ab. Im Gegensatz zu den symbolischen Formen, die häufig mit Text versehen sind und somit konkrete Inhalte transportieren, vermittelt das architektonische Ensemble jedoch ohne kontextualisierende Erklärungen keine eindeutig zu entschlüsselnde Aussage. Es erschließt sich in der Regel nur Wissenden und Kennern. Der amerikanische Historiker John Czaplicka bemerkt dazu: „Cultivation of the physical heritage of a city is at once a cultivation of its local history.“³ Das architektonische Erbe aus der Zeit der deutschen Stadtgründung dominiert die Innenstadt von Katowice, da es fast vollständig erhalten geblieben ist. Die deutsche Stadtgeschichte zieht sich somit als „Erzählstrang“ durch das gesamte Stadtzentrum und ragt aus der Vergangenheit in die Gegenwart hinein. „Kultiviert“ im Sinne einer Kennzeichnung oder Erklärung ist es jedoch nicht. Einen Anstoß zu historischer Sinnbildung liefert es demnach nur denjenigen, die es als solches erkennen können oder wollen. In dieser Untersuchung bildete der städtische Raum nicht nur im übertragenen Sinne den physischen Rahmen, in dem sich die Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichte in Katowice abspielt. Nach der einführenden Betrachtung dieses Rahmens standen mit den Museen der Stadt Institutionen im Mittelpunkt, die durch ihre Sammlungs- und Ausstellungstätigkeit maßgeblich zur Auseinandersetzung mit Geschichte anregen bzw. zur Etablierung eines Geschichtsbildes über die Stadt beitragen. Die Dauerausstellungen im Stadtgeschichtlichen Museum können, trotz der geringen Besucherzahl, als zentraler Ort gelten, an dem die Vergangenheit der Stadt zur Anschauung gebracht wird. Das Stadtgeschichtliche Museum ist nicht die einzige historisch ausgerichtete museale Institution in Katowice, auch das Schlesische Museum hat eine historische Abteilung. In deren Fokus steht jedoch nicht die Stadtgeschichte, sondern die Geschichte der gesamten Region Oberschlesien, die die Geschichte der Stadt nur an ausgewählten Stellen einbezieht. Ferner befand sich das Schlesische Museum zum Untersuchungszeitpunkt in einem grundlegenden Umstrukturierungsprozess, der auch mit dem Wechsel an einen neuen Standort einherging. Nicht die Ausstellungen des Schlesischen Museums standen daher im Fokus der Untersu-
Vgl. John J. Czaplicka/Blair, A. Ruble/Lauren Crabtree (Hg.): Composing Urban History and the Constitution of Civic Identities. Washington , S. .
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chung, sondern die Debatte um die inhaltliche Ausrichtung der neu geplanten historischen Dauerausstellung zur Geschichte Oberschlesiens. Einer tiefgreifenden Analyse konnte hingegen die historische Dauerausstellung des Stadtgeschichtlichen Museums Aus der Geschichte von Katowice unterzogen werden, die seit Mitte der 1980er Jahre bestand. Zwar sind die Ausstellungsinhalte nach 1989 von ihrer ideologisch-kommunistischen Einbettung befreit und Erweiterungen der ausgestellten Zeitspanne bis zum Jahr 1990 vorgenommen worden. Die Deutung der Vergangenheit als maßgeblich polnisch hat diese Überarbeitung jedoch überdauert. Trotz dieser Fokussierung auf ein polnisches Narrativ über Katowice wurde die deutsche Stadtgeschichte aus der musealen Präsentation nicht ausgespart.Wichtige Personen wie Franz von Winckler oder Richard Holtze, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich zur Entwicklung der Stadt beigetragen haben, wurden in der Ausstellung thematisiert. Dieser Teil der Stadtgeschichte wurde jedoch aufwändig von einem polnischen Narrativ eingerahmt: Die Ausstellung begann mit den schlesischen Piastenherrschern des Mittelalters und ordnete die Stadtgeschichte mit dieser Setzung von Beginn an in einen polnisch-nationalen Erzählrahmen ein. Dieser setzte sich in der Frühen Neuzeit etwa anhand des Poems Officina Ferraria des Humanisten, Bergarbeiters und auf Polnisch schreibenden Poeten Walenty Roździeński fort. Roździeński wurde in der Ausstellung dazu genutzt, eine polnische Bergbautradition in Oberschlesien zu illustrieren, offensichtlich als gegenläufige Erzählung zu dem Narrativ, die Deutschen hätten Industrie und Bergbau in Oberschlesien etabliert und der Region somit zu ihrer Blüte verholfen. Interessant war in diesem Zusammenhang ferner die im Ausstellungskatalog zu lesende Absicht der Ausstellungsmacher, eine „objektive“ Sicht auf die Geschichte von Katowice zu zeigen. Diese Zielsetzung hatte vor allem Einfluss auf die Art und Weise, wie die Ausstellungsinhalte präsentiert wurden. Die Analyse der Ausstellung hat gezeigt, dass in der Schau mit einer starken Trennung der Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gearbeitet wurde. Das Gezeigte verblieb fast ausschließlich auf der Vergangenheitsebene. Bezüge zur Gegenwart waren nur an sehr wenigen Stellen angelegt, auch Fragen, die die zukünftige Entwicklung der Stadt mit eingeschlossen hätten, gab es nicht. Der Schluss liegt nahe, dass nicht der gegenwärtige Diskurs über die Vergangenheit, nicht die Reflexion, was die Stadt in der Vergangenheit prägte und was davon bis in die Gegenwart reicht, das Ziel der Ausstellungsmacher war. Mit der „objektiven Darstellung“ meinten die Kuratoren vielmehr eine von der Gegenwart abgekoppelte Betrachtungsweise der Vergangenheit, die eine Distanz zwischen Gegenwart und Vergangenheit schafft. Es sollte ein bestimmtes Vergangenheitsbild festgeschrieben und mit musealen Mitteln an die Besucher weitergegeben werden.
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Dieses Bild wurde nicht als Sinnangebot zur Deutung der Vergangenheit zur Diskussion gestellt, sondern in einem Top-down-Prozess vermittelt. Dieser Vermittlungsansatz musealer Inhalte steht in einem interessanten Spannungsverhältnis zur Entwicklung des Stadtgeschichtlichen Museums als Institution. Vor allem der 2013 neu eingestellte Museumsdirektor sieht seine Institution als dynamische Einrichtung und verfolgt ambitionierte Zukunftspläne. Die Präsentation der Ausstellung Aus der Geschichte von Katowice soll zukünftig grundlegend umgestaltet werden. Das Interessante an diesem Vorgang ist, dass die Umgestaltung der Präsentationsform eindeutige Priorität vor einer Neuausrichtung der ausgestellten Inhalte genießt. Zukünftig soll die Schau durch animierte Elemente und eine durchkomponierte Szenografie ein lebendiges und anschauliches Geschichtserlebnis schaffen.⁴ Bei der Inszenierung werden gänzlich neue Wege beschritten, die narrative Grundkonstellation und der Inhalt der Ausstellung verändern sich hingegen nicht. Zu einer Veränderung der Inhalte bestehe nach Aussage des Direktors auch kein Anlass. Schließlich würden neue Fakten über die Geschichte nur noch höchst selten zutage gefördert und man beriefe sich auf das, was da sei.⁵ Während die ersten beiden Beispiele öffentlicher Geschichtsdarstellungen überwiegend an etablierten historischen Erzählmustern festhielten, betreffen die eingangs angesprochenen bemerkenswerten Wendungen in der Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Geschichte vor allem die Imagebildungskampagnen in der Stadt. Mit dem Slogan Katowice – Gartenstadt als Leitmotiv für die Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas lancierten die Verantwortlichen eine Perspektive auf die Vergangenheit der Stadt, die in einem deutlichen Kontrast zu den bislang dominierenden Sichtweisen stand. Das Konzept, Katowice als Gartenstadt zu denken, beinhaltete vor allem einen Zukunftsentwurf, der sich jedoch auf eine veränderte Betrachtung der städtischen Vergangenheit stützte und seine argumentative Grundlage aus dieser neuen Sicht auf die Vergangenheit ableitete. So wurde vom Motiv des Gartens aus doppelt konstruiert: Es entstand sowohl ein positiver Zukunftsentwurf als auch eine veränderte Sicht auf die Geschichte der Stadt. In Anlehnung an den biblischen Garten Eden wurde kulturgeschichtlich ein Bild des Gartens als Ort der Zuflucht, der Harmonie, der Reinheit und des Ursprunges konstruiert. Die Konstruktion einer Gartenstadt wurde damit an die Vorstellung einer zweifachen Heilung geknüpft – eine Heilung sowohl der postindustriellen Gegenwart als auch der Vergangenheit. Für die Gegenwart war das Anliegen zentral, den Transformationsprozess von einer Industriestadt zu
Der erste Teil der überarbeiteten Dauerausstellung wurde im September eröffnet. Vgl. Interview Siebel, Katowice, .
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neuen Formen der Stadtentwicklung zu gestalten. Das Gartenmotiv lieferte die notwendigen Ansatzpunkte dafür, den Strukturwandel mit einer positiven Zukunftserwartung zu verbinden. In den etablierten Vergangenheitsdeutungen über Katowice als Industriestandort, als einer von nationalen Antagonismen und Brüchen geprägten Stadt, fanden die Narrateure jedoch keinen Ansatzpunkt, um ihre positive Zukunftsvision auch historisch zu verankern und ihr somit die notwendige Legitimität zu verleihen. Die Narrateure sahen offenbar keine Ansatzpunkte und schufen sich ihren historischen Referenzpunkt selbst: Der heutige Stadtteil von Katowice, die Siedlung Gieschewald, wurde zum Nukleus der Gartenstadtnarration. Ihr wurden von den Narrateuren die Attribute einer Gartenstadt nach Ebenezer Howards Vorstellungen eingeschrieben. Als Patronatssiedlung des Gieschekonzerns zu Beginn des 20. Jahrhunderts gegründet, verfügte Gieschewald jedoch nur in seiner äußerlichen Gestalt über die Merkmale einer Gartenstadt. Howards sozialreformerisches Programm war darin ursprünglich nicht angelegt. Es handelt sich demnach bei der Bezeichnung Gieschewalds als Gartenstadt um eine von den gegenwärtigen Zuständen in Katowice inspirierte Zuschreibung, die empirisch nicht triftig ist. Die Konstruktion eines historischen Bezugspunktes für das Gartenstadtmotiv war den Narrateuren dennoch wichtig. In den geführten Interviews wurde dies etwa anhand ihres ausgeprägten Geschichtsinteresses deutlich. Die Interviews zeigten aber auch, dass die Narrateure gar nicht die Absicht hatten, eine historisch tragfähige und an wissenschaftlich-methodischen Vorgaben orientierte Vergangenheitsdeutung zu erschaffen. Ihr Ziel war die Etablierung eines in der Öffentlichkeit wirkmächtigen Bildes, das sich in der hohen narrativen und normativen Triftigkeit des von ihnen konstruierten Vergangenheitsbezuges ausdrückt. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass das neu geschaffene Katowicer Gartenstadtmotiv in sich widersprüchliche Tendenzen aufgenommen hat. Auffällig war einerseits, dass die Narrateure in einer sehr offensiven und offensichtlichen Art und Weise mit den etablierten Erzähltraditionen über Katowice brachen, da sie nach einer alternativen Vergangenheitsdeutung als Grundlage für ihre ambitionierten Zukunftspläne suchten. Den nationalen Erzählrahmen konnten sie dennoch nicht gänzlich verlassen, was sich am Deutungsmuster einer „polnischen Gartenstadt“ erkennen lässt. Ein identitätsrelevantes Bild auf Grundlage eines Bezuges zum deutschen Teil der Stadtgeschichte zu entwerfen, schien selbst den so aufgeschlossenen und weltläufigen Verantwortlichen im Bewerbungsbüro der Stadt wenig erfolgversprechend. Die zweite in der Studie analysierte Imagekampagne verlief zeitlich etwa parallel zur Bewerbung der Stadt um den Titel Kulturhauptstadt Europas und wurde ebenfalls von der Stadtverwaltung initiiert und finanziert. Ende Oktober 2011 wurde die Route der Moderne eingeweiht, die als touristisches Angebot die
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Bauten der Architekturmoderne für Interessierte erschließen soll. Mit der Route der Moderne verband die Stadtverwaltung die Intention, ein Bild von Katowice als Stadt der Moderne zu etablieren. Die Grundlage dafür bildete ein Ensemble von Gebäuden, das im Stil moderner Architektur Ende der 1920er und zu Beginn der 1930er Jahre errichtet wurde. Auch die zweite Imagekampagne in Katowice wies somit deutliche Bezüge zur Vergangenheit der Stadt auf. Im Gegensatz zum Gartenstadtmotiv bezog sich die Narration über Katowice als Stadt der Moderne jedoch auf ein bauliches Ensemble, das im heutigen Stadtzentrum von Katowice liegt, während Gieschewald sich am Stadtrand befindet. Ferner sind die Bauten der Architekturmoderne im Gegensatz zur Siedlung Gieschewald fast vollständig erhalten geblieben. Entsprechend der Intention der Stadtverwaltung, ein touristisches Produkt zu erstellen, blieb die Narration der Stadt der Moderne sehr nahe an ihrem Gegenstand. Die untersuchten Begleitmaterialien beschrieben die Gebäude in ihren architektonischen Besonderheiten, schilderten bauliche Details und erläuterten die Entstehung des jeweiligen Baus. Die Texte und Bilder der Begleitmaterialien bezogen sich weitgehend auf die Ebene der Vergangenheit und nahmen wenig Bezug auf die Gegenwart. Historische Narrationen, die alle drei Zeitebenen überspannen, ließen sich nur an wenigen Stellen ausmachen. Wenn historische Narrationen geschaffen wurden, beinhalteten sie einen Fokus auf den Entstehungszeitraum der Architekturmoderne in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Es wurde eine Erfolgsgeschichte über Katowice erzählt, die in der Zwischenkriegszeit beginnt und sich bis in die Gegenwart hinein fortsetzt. Das gezeichnete Bild der Zwischenkriegszeit blieb ausgesprochen fragmentiert. Es konstruierte zudem einen Ursprungsmythos, der die Stadtgeschichte im Jahr 1922 beginnen ließ, als sie an den polnischen Staat angegliedert wurde. Alles, was vor der zeitlichen Grenze des Jahres 1922 liegt, wurde in den Materialien nicht angesprochen. Das Erzählen einer Erfolgsgeschichte von Katowice in der Zwischenkriegszeit sollte als historisches Vorbild etabliert werden, das auch die heutige Wahrnehmung der Stadt positiv beeinflusst. Die Analyse der Erzählstrategie hat gezeigt, dass dafür gezielt mit einer Verwischung der Zeitebenen Vergangenheit und Gegenwart gearbeitet wurde. Die Errungenschaften der Vergangenheit sollten in der Gegenwart anschlussfähig gemacht werden. Erkennen lassen sich in diesem Vorgehen Ansätze einer traditionalen Sinnbildung, die ein Kontinuum zwischen der beschriebenen Vergangenheit und der Gegenwart konstruiert, in der die Verhältnisse der Vergangenheit (scheinbar) noch immer Gültigkeit besitzen. Die Erfolgsgeschichte, der Bedeutungszuwachs von Katowice und die wirtschaftliche Prosperität, deren Ausdruck die moderne Architektur war, entfaltet in der Logik traditionaler Sinnbildung auch in der Gegenwart Wirkung. Eine Entwicklung zwischen der Zeitebene der Zwischenkriegszeit, auf der dieses Vorgehen argumentativ aufbaut,
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und der Gegenwart, für die es gedacht war, lässt sich nicht erkennen. Die Behauptung, dass scheinbar „alles beim Alten“ bleibt, ließ für die Narrateure jedoch keinen Platz für reflektierende oder kritische Anmerkungen über Vergangenheit und Gegenwart. Für den Umgang mit Geschichte und Vergangenheit bedeutet das, dass die Narration der Stadt der Moderne alle Entwicklungen und Brüche, die mit dem Zweiten Weltkrieg oder der kommunistischen Nachkriegszeit verbunden waren, ausblendete. Ausschließlicher Bezugspunkt war der Verweis der „Rückkehr“ Katowices zu Polen im Jahr 1922, der zum Ausgangspunkt für das Erzählen einer Geschichte über die Stadt wurde. Ähnlichkeiten zwischen dem Narrativ der Gartenstadt und der Stadt der Moderne ergeben sich bei der Betrachtung der Zielsetzung beider Imagebildungsversuche. Bei beiden Vorhaben stand die Absicht im Vordergrund, einen eindeutigen Gegenpol zu den Bildern von Katowice als Industrie- und Kohlestadt zu etablieren. Beide Imagebildungsprojekte griffen nicht das industrielle Erbe der Region auf, sondern setzten bewusste Kontrastpunkte dazu, die thematisch möglichst weit entfernt von den Themen Industrie und Bergbau angesiedelt waren. Obwohl beide Projekte sehr stark auf die Veränderung des Bildes von Katowice in der Gegenwart bzw. Zukunft ausgerichtet waren, entschieden sich die Verantwortlichen für historisch angelegte Argumentationsmuster. Sie setzten demnach nicht auf das Modell eines kompletten Neuanfangs, einer tabula rasa, das gar nicht erst versucht, Veränderungen historisch begründbar zu machen. Vielmehr machen die Beispiele deutlich, dass eine veränderte Perspektive auf Gegenwart und Zukunft der Stadt für die Imagemaker auch eine veränderte Betrachtung der städtischen Vergangenheit erforderte. Die Imagemaker wollten historische Argumente und Bezüge bewusst nutzen, um ihr Bild für die Gegenwart mit einer möglichst großen Wirkung auszustatten. Die historischen Grundlagen von Katowice als Gartenstadt oder Stadt der Moderne mussten jedoch erst geschaffen werden. Die Vergangenheit der Stadt war in dieser Perspektive nicht mehr eine deutsch-polnische oder die eines industriellen Zentrums, sondern die der „ersten polnischen Gartenstadt“ oder einer wirtschaftlich erfolgreichen, „modernen“ Großstadt. Während das Gartenstadtmotiv nur über geringfügige Anknüpfungspunkte in Gegenwart und Vergangenheit der Stadt verfügte, eignete sich das Erbe der Architekturmoderne in besonderer Weise als Grundlage für einen Imagebildungsversuch. Die Architekturmoderne hat hohe Präsenz im städtischen Raum erlangt und gehört seit ihrer „Wiederentdeckung“ zu den wenigen unumstrittenen Aspekten der Stadtgeschichte. Die Analyse der Narration hat gezeigt, dass das aus der Zwischenkriegszeit hergeleitete Verständnis von Katowice als moderner Großstadt ein Identifikationsangebot schaffen sollte, das in der unruhigen Zeit strukturellen Wandels eine Selbstbeschreibung der Stadt mit hohem Identifika-
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tionspotenzial entwerfen sollte. Auch das Gartenstadtmotiv zielte auf die Veränderung der Wahrnehmung von Katowice ab. Die während der Bewerbung zur Kulturhauptstadt entworfenen historischen Narrationen verfügten jedoch über vergleichsweise wenig identitätsrelevantes Potenzial. Zwar war das Bild der Gartenstadt aufgrund der vielen europäischen Bezugspunkte zu anderen Gartenstädten für potenzielle Besucher anschlussfähig und verständlich. Die postindustrielle Lebensrealität der meisten Einwohner von Katowice dürfte die Gartenmetaphorik jedoch deutlich verfehlt haben. Übereinstimmungen zwischen beiden Kampagnen ergeben sich auch bei der Frage nach der Wirksamkeit des Bildes in der Gegenwart. In beiden Fällen stand nicht ein reflektierender Umgang mit der Vergangenheit im Vordergrund, der als Grundlage für das zu kommunizierende Bild in der Gegenwart herangezogen wurde. Am Beispiel der Route der Moderne wird das anhand einer fehlenden historischen Einordnung des maßgeblichen Zeitabschnittes, auf den sich die Narration bezog, besonders augenscheinlich. Zurückführen lässt sich dieser Umstand unter anderem darauf, dass es sich bei der Route der Moderne um ein Auftragswerk handelte. Die Kampagne Katowice-Gartenstadt war im weitesten Sinne zwar auch ein Auftragswerk, das im Rahmen der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas erarbeitet wurde. Sowohl die Idee als auch die Umsetzung gingen jedoch auf Personen zurück, die langjährige und intensive Verbindungen mit Katowice hatten. Die Narrateure hatten ihre Einstellung zu Geschichte und Vergangenheit in hohem Maße reflektiert, das machten die Interviews deutlich. Das von ihnen erstellte „Produkt“, die Narration der Gartenstadt, lässt hingegen einen reflektierten Umgang mit Geschichte vermissen. Vielmehr ist eine Dienstbarmachung von Vergangenheitsbezügen zu konstatieren, die den Zukunftsentwürfen eine historische Dimension verleihen soll. Es handelt sich nicht um einen Zugang zu Geschichte und Vergangenheit, der durch Offenheit oder multiperspektivische Elemente geprägt ist und somit zur (Selbst)Reflexion der Rezipienten beitragen kann. Das letzte Kapitel der Untersuchung ändert die Perspektive auf den Untersuchungsgegenstand öffentlicher Geschichte. Nicht mehr die im Stadtraum verankerten und wahrnehmbaren Manifestationen historischen Wissens standen im Mittelpunkt, sondern historische Projekte und Initiativen einzelner Personen und Gruppen. Katowice verfügt über eine vergleichsweise kleine Szene zivilgesellschaftlicher Akteure im historischen Bereich. Die vorgestellten Beispiele verdeutlichen, dass es sich zumeist um Initiativen von Einzelpersonen handelte, die für ihre Projekte sowohl inhaltlich als auch finanziell verantwortlich waren. Sie können insofern als Beispiele eines öffentlichen Umganges mit Geschichte und Vergangenheit gelten, der von politischen Vorgaben und öffentlichen Finanzierungsstrategien weniger beeinflußt wurde. Eine Veränderung der Perspektive
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bedeutet das insofern, als diese Narrationen mit geringeren finanziellen und personellen Ressourcen erstellt wurden als die öffentlich finanzierte und politisch gewollte Geschichte. Das letzte Kapitel veranschaulicht somit jenen Haushalt an Geschichte, der zum Untersuchungszeitpunkt in Katowice jenseits der großen, von der städtischen Verwaltung vorgegebenen Linien verhandelt wurde. Zentral für den Gesamtzusammenhang der Studie war die Untersuchung dieser Diskurse in zweierlei Hinsicht. Erst durch ihre Einbindung lässt sich von einer Untersuchung öffentlicher Geschichte sprechen. Denn die vorgestellten nichtstaatlichen Narrationen nahmen fast immer Bezug auf die von der Stadtverwaltung initiierten Projekte, kritisierten diese und waren daher eine wichtige ergänzende Sicht. Die Beispiele haben auch gezeigt, dass sich die zivilgesellschaftlichen Akteure überwiegend mit sozialen oder städtebaulichen Aspekten auseinandersetzten. Historische Themen waren auf dieser Agenda eher marginal. Eine Ausnahme bildeten Organisationen, die sich mit der Spezifik der oberschlesischen Identität auseinandersetzten, wie die Bewegung für die Autonomie Schlesiens (RAŚ). Diese Organisation, die inzwischen auch als politische Partei agiert, entwirft ein ganz spezifisches Bild der Geschichte Oberschlesiens und der Stadt Katowice, das den als politisches Ziel proklamierten Autonomiestatus der Region untermauern soll. Die thematischen Achsen der vorgestellten Initiativen und Projekte bewegten sich um die Frage eines städtischen genius loci, den die Akteure jeweils für sich zu definieren versuchten. Die Palette der Vorschläge reichte von einer Konzentration auf Katowice als oberschlesische Stadt bis hin zu Katowice als moderne Stadt. Die Definition von „Moderne“ wurzelte bei einigen Akteuren in der Auseinandersetzung mit der Architekturmoderne, bei anderen in den städtebaulichen Veränderungen der 1970er Jahre. Zu Beginn der Untersuchung wurde die Frage aufgeworfen, wie Geschichte als historische Narration in einem außeruniversitären Kontext gegenwärtig in Katowice entsteht und welche Funktionen sie vor dem Hintergrund eines beschleunigten wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Wandlungsprozesses hat. Die Frage der Entstehung historischer Narrationen außerhalb des universitären Diskurses konnte anhand des gewählten theoretisch-methodischen Zugriffes sowie des Analyseinstrumentariums für die ausgewählten Beispiele jeweils herausgearbeitet werden. Für die einzelnen analysierten Narrationen konnten sowohl äußere Bedingungsfaktoren wie der Entstehungszusammenhang, aber auch die „inneren“, im Geschichtsbewusstsein der Akteure angelegten Kategorien, erkannt und beschrieben werden. Schwieriger gestaltet sich eine abschließende Bewertung der Funktionen von Geschichte in Zeiten strukturellen Wandels. Die Analyse hat verdeutlicht, dass öffentliche historische Narrationen nicht in erster Linie am Kriterium der empirischen Triftigkeit ausgerichtet wurden. Nicht die „historische Wahrheit“, bzw. das in historischen Quellen verbürgte Geschehen wurde als
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Grundlage einer zu erzählenden Geschichte herangezogen, sondern die Funktionen, der Orientierungsgehalt, den eine Geschichte in der Gegenwart zu generieren in der Lage ist, stand an vorderster Stelle. Auch wenn die empirische Triftigkeit nicht als leitendes Kriterium für die Entstehung öffentlicher historischer Narrationen angesehen werden kann, sollte sie dennoch Bestandteil einer Analyse öffentlicher Geschichte sein. Dabei sollte eine geschichtskulturelle Untersuchung über das Konstatieren von Defiziten im Bereich der empirischen Triftigkeit hinausgehen, um dem spezifischen Charakter öffentlicher Geschichte gerecht zu werden. Das Konstatieren des Defizitären sollte Fragen nach den Zielen, mit denen eine Geschichte erzählt wird, weichen. Die in der Studie vorgestellten Fälle unterschieden sich aufgrund ihrer Zielvorgaben und institutionellen Verankerungen deutlich. Das Beispiel des Stadtgeschichtlichen Museums zeigt etwa den Versuch, eine Geschichte „von oben“ zu erzählen und festzuschreiben. Offenheit, Transparenz oder Prozessorientierung als Elemente eines kritischen und demokratischen Umganges mit Vergangenheit und Geschichte waren nicht Bestandteil der Ausstellungsplanung und -umsetzung. Dementsprechend wurden die Besucher nicht als Bürger und Beteiligte eines Diskurses wahrgenommen, sondern als Zielpublikum, dem bestimmte Inhalte zu vermitteln sind. Dabei sollten gerade museale Ausstellungen anhand ihres inhaltlichen Konzeptes und ihrer szenografischen Umsetzung Kritik ermöglichen und mit interpretatorischen Offenlassungen arbeiten, um nicht in den Verdacht zu geraten, eine Geschichte im Dienste bestimmter (politischer) Interessen oder Institution zu erzählen. Eine Auffassung von Geschichte als kommunikativer und intellektueller Verständigungsprozess darüber, was Menschen über die Vergangenheit denken wollen, war in der musealen Praxis des Museums nicht ersichtlich. Ziel der musealen Arbeit schien es nicht zu sein, demokratische Mechanismen für den Umgang mit Vergangenheit als Teil eines öffentlichen Diskurses zu etablieren, sondern vielmehr die Vermittlung eines festgelegten Bildes zu forcieren. Inwiefern sich das Stadtgeschichtliche Museum als Ort einer öffentlichen Debatte begreift, das die Besucher zu einer mündigen Auseinandersetzung mit Geschichte anregt, bleibt fraglich. Die Analyse legt nahe, dass die Vergangenheitsdeutung im Museum als politisch-administrative Aufgabe mit einer vorgegebenen Zielsetzung verstanden wurde. Bei den Imagebildungskampagnen lagen die Dinge in Bezug auf die Funktionen von Geschichte anders. Beide Kampagnen waren, wenn auch in unterschiedlicher Intensität, von der Spannung getragen, sich von bisher bestehenden (Vergangenheits)bildern und -wahrnehmungen deutlich absetzen zu müssen. Ihre Zielsetzung bestand darin, aus der Dynamik des Transformationsprozesses heraus etwas Neues hervorzubringen. Gleichzeitig wurde das Handeln der meisten Akteure in diesem Bereich von der Einsicht getragen, dass ohne historische Bezüge
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die eingeforderten identitätsrelevanten Zukunftsentwürfe wenig erfolgversprechend sein würden. Infolge dieser Konstellation entstanden historische Narrationen, deren Hauptziel in der Konstruktion von Kontinuitätslinien aus der Vergangenheit in die Gegenwart und Zukunft bestand, die sich jedoch maßgeblich von den bisher etablierten Wahrnehmungen über die Vergangenheit unterschieden. Diese Strategie im Umgang mit Vergangenheit kann als bewusst angewandtes Ausblendungsmuster bezeichnet werden. Das Ausblendungsmuster trat bei den beiden untersuchten Imagebildungsprojekten in unterschiedlicher Intensität auf. So wurde etwa bei der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas die Problemgeschichte der Region als national umstrittenes Gebiet, als Arbeiter- und Industriestandort bewußt außen vor gelassen, um an ihre Stelle eine neu geschaffene, pluralistische, partizipative und ökologische Vision zu setzen. Diese oberste Maßgabe eines positiven Neuerfindens der Stadt hatte zur Folge, dass Geschichte als relativ beliebiges,vor allem aber funktionales Konstrukt angesehen wurde. Die Analyse hat gezeigt, wie sich die Antragsteller gezielt auf die Suche gemacht haben, um innerhalb der Stadtgeschichte Vergangenheitspartikel ausfindig zu machen, die ihnen für die Untermauerung ihres Zukunftsentwurfes passend erschienen. Dieses Vorgehen schien den Verantwortlichen durchaus opportun und legitim, da sich ihnen die Vergangenheit der Stadt offenbar derart fragmentiert darstellte, dass in ihrer Wahrnehmung aus diesen Bruchstücken ohnehin keine zusammenhängende, für die Gegenwart sinnvolle und aussagekräftige Erzählung transportiert werden und folglich auch kein erkennbarer Orientierungsgewinn entstehen konnte. Die Funktion von Geschichte bestand im Fall der Bewerbung als Kulturhauptstadt darin, der zukünftigen ökologisch-demokratischen Neuausrichtung Katowices als Gartenstadt durch eine Verlängerung dieser Perspektive in die Vergangenheit ein höheres Maß an Überzeugungskraft und Legitimität zu verleihen. Dieses funktionale Verständnis von Geschichte hatte starken Einfluss auf das Grundmuster historischen Erzählens, das in erster Linie durch Engführungen, Ausblendungen und einseitiges Betrachten bestimmter, aus der Gegenwart heraus als notwendig erachteter Aspekte der historischen Entwicklung geprägt war. Diese eng gesetzte Erzählperspektive bedingte zwangsläufig Ausblendungen anderer Themen und Zeiten. Sie muss folglich als Gegensatz zu einer multiperspektivischen, die Vergangenheit aus mehreren Blickwinkeln fassenden Betrachtung und mithin als einseitig und zweckgebunden angesehen werden. Die Funktion von Geschichte bezog sich auf die Legitimation bestimmter (geplanter) Zustände, die Richtigkeit historischer Rückbezüge trat dabei in den Hintergrund. Diese wurden vielmehr zweckentsprechend zugerich-
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tet.⁶ Dieser Umstand ist keine Seltenheit bei öffentlichen Geschichtsdarstellungen. Häufig geht es bei öffentlicher Geschichte darum, mit einer bestimmten Darstellung der Vergangenheit etwa Touristen anzuziehen, eine Stadt oder eine Region „interessant“ oder „erkennbar“ werden zu lassen, indem der ihr eigene Charakter auf besondere Weise unterstrichen wird. Geschichte scheint in diesem marketingstrategischen Zusammenhang ein besonderes Gewicht zu besitzen, wenn sie auf Traditionen verweist, eine lange Dauer suggeriert und somit Herkunft und Beständigkeit vermitteln kann. Setzt man die Zweckdienlichkeit als oberste Priorität öffentlicher Geschichtsdarstellungen voraus, erscheint auch der Umstand, dass die empirische Triftigkeit eher im Hintergrund steht, nachvollziehbarer. Schließlich ist diese das Hauptkriterium wissenschaftlicher Beschäftigung mit Vergangenheit, während bei der öffentlichen Auseinandersetzung mit Geschichte häufig die Überzeugungskraft des Bildes im Vordergrund steht, das vermittelt werden soll. Während eine wissenschaftliche Beschäftigung mit der Vergangenheit zwangsläufig an Quellen als Medium der Information über die Vergangenheit gebunden ist und wissenschaftliche historische Narrationen somit über eine hohe empirische Triftigkeit verfügen, überwiegt bei außeruniversitären historischen Narrationen meist die normative Bindung an die Gegenwart, in der sie entstehen. Öffentliche Geschichtsdarstellungen wurzeln demnach weit weniger in der Vergangenheit, sie werden überwiegend von der Gegenwart, häufig auch von der Zukunft aus gedacht, wie der Fall des Gartenstadtmotivs in Katowice verdeutlicht. Es entstehen Geschichten, deren oberste Absicht meist nicht in Aufklärung und Reflexion besteht, sondern in der Beeinflussung des öffentlichen Raumes und Diskurses. Prinzipiell gilt für öffentliche historische Narrationen, dass ihre häufig nicht den wissenschaftlichen Standards entsprechende empirische Triftigkeit nicht zwangsläufig negative Auswirkungen auf ihre Wirkmächtigkeit und Überzeugungskraft haben muss. Im Gegenteil: Akribisch recherchierte, kleinteilige und in hohem Maße empirisch triftige historische Ausstellungen in einem Museum können ihre Wirkung gänzlich verfehlen, wenn ihnen die narrative oder normative Komponente fehlt und nicht ersichtlich ist, warum die gezeigten Objekte und Texte in der Gegenwart anschauens- oder lesenswert sind. Historische Narrationen in öffentlicher Absicht sind aufgrund ihrer Rezipientenorientierung jedoch meist narrativ in hohem Maße triftig – sie wollen schließlich überzeugen. Für die untersuchten Beispiele in Katowice stellte sich diese Gemengelage etwas anders dar,
Joachim Kuropka: Geschichtskultur – die bunte Welt des Historischen, in: ders. (Hg.): Regionale Geschichtskultur. Phänomene – Projekte – Probleme aus Niedersachsen, Westfalen, Tschechien, Lettland, Ungarn, Rumänien und Polen. Berlin , S. – , hier S. .
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was sich nochmals am Beispiel der Gartenstadt am deutlichsten zeigt. Gerade für das so utopisch erscheinende und weit in die Zukunft reichende Bild von Katowice als Gartenstadt hätte es einer fundierteren historischen Einordnung bedurft, um Wirksamkeit entfalten zu können. Narrativ und normativ konnte die Narration der Gartenstadt in der nach Veränderung strebenden postindustriellen Stadt möglicherweise für die „kulturelle“ und „kreative Elite“, die die Narration verantwortet hat, triftig sein. An der Lebenswelt eines Großteils der Bürger von Katowice, die erst langsam von den Wandlungsprozessen des Strukturwandels und des Stadtumbaus zu profitieren beginnen, ging das Deutungsangebot ihrer Stadt als „Gartenstadt“ aber wahrscheinlich deutlich vorbei. Zwei Schlüsse lassen sich daraus ziehen: Die Verantwortlichen hatten eine überzeugende Idee, die jedoch nicht zu dem Ort passte, für den sie ein tragfähiges Zukunftskonzept entwerfen sollten. Ein ernsthafter, nach Erkenntnis suchender Blick auf die Vergangenheit der Stadt hätte gezeigt, dass sich die Gartenstadt inmitten der sich verändernden industriellen Stadtlandschaft von Katowice historisch nicht herleiten lässt. Die Utopie als solche zu benennen, sich zu einer creatio ex nihilo zu bekennen und diese nicht mit einer behaupteten Vergangenheitserzählung belegen zu wollen, wäre ein möglicher Weg gewesen.
Anhang Quellenverzeichnis a) Interviews in Form von Audiodateien im Archiv der Autorin (geordnet nach Entstehungsdatum) Interview mit Anna Syska, Architektin, Mitarbeiterin des Schlesischen Kulturerbezentrums, Januar 2012, Katowice. Interview mit Michał Smolorz, Journalist, Januar 2012, Katowice. Interview mit Dominik Tokarski, Kulturschaffender und Besitzer der KATObar, Januar 2012, Katowice. Interview mit Jadwiga Lipońska-Sajdak, Direktorin des Stadtgeschichtlichen Museums (1981 bis 2013), Mai 2012, Katowice. Interview mit Zofia Oslislo, Autorin des Buches „Katowicka Moderna 1927 – 1939“ [Moderne in Katowice 1927 – 1939] und Mitarbeiterin des Bewerbungsbüros während der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas, Mai 2012, Katowice. Interview mit Waldemar Bojarun, Leiter der Marketingabteilung der Stadtverwaltung, Mai 2012, Katowice. Interview mit Kazimierz Kutz, Regisseur und Senator der Republik Polen, Mai 2012, Katowice. Interview mit Jadwiga Kocur, Regisseurin, Mai 2012, Katowice. Interview mit Jerzy Gorzelik, Kunsthistoriker an der Schlesischen Universität und Vorsitzender der RAŚ, Mai 2012, Katowice. Interview mit Tomasz Nawrocki, Soziologieprofessor an der Schlesischen Universität in Katowice, Mai 2012, Katowice. Interview mit Jacek Siebel, Direktor des Stadtgeschichtlichen Museums (seit 2013), März 2014, Katowice. Interview mit Jarosław Racięcki, seit 1985 Mitarbeiter des Schlesischen Museums, gegenwärtig Leiter der Historischen Abteilung des Museums, März 2014, Katowice. Interview mit Krystyna Siejna, stellvertretende Stadtpräsidentin, März 2014, Katowice.
b) Interviews als Transkripte im Archiv der Autorin (geordnet nach Entstehungsdatum) Piotr Zaczkowski, geschäftsführender Direktor des Bewerbungsbüros während der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai 2011. Elżbieta Owczarek, Mitarbeiterin der Programmabteilung des Bewerbungsbüros während der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai 2011. Karol Piekarski, Mitarbeiter der Programmabteilung des Bewerbungsbüros während der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai 2011. Marek Zieliński, künstlerischer Leiter des Bewerbungsbüros während der Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas, Katowice, Mai 2012.
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Anhang
c) Gedruckte Quellen Monografien und Quellen in Buchform Hoffmann, Georg: Geschichte der Stadt Kattowitz. Kattowitz 1895. Holtze, Richard: Die Stadt Kattowitz. Eine kulturhistorische Studie. Als Festgabe zur Eröffnung des Gymnasiums. Kattowitz 1871. Instytucja kultury Katowice 2016 Biuro ESK (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury 2016 [Katowice – Gartenstadt. Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas 2016] Aplikacja w konkursie o tytuł Europejskiej Stolicy Kultury 2016 – selekcja końcowa [Bewerbung im Wettbewerb um den Titel Kulturhauptstadt Europas 2016 – Endauswahl], Antragsformular in Buchform gedruckt, ohne Seitenzahlen, ohne Jahres- und Ortsangabe. Miasto Katowice (Hg.): Katowice – Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury 2016 [Katowice – Gartenstadt. Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas 2016]. Antragsformular in Buchform gedruckt, Katowice 2010. Muzeum Historii Katowic (Hg.): Z dziejów Katowic. Przewodnik po wystawie [Aus der Geschichte von Katowice. Führer durch die Ausstellung]. Katowice 2005. Reuffurth, Bernhard: Gieschewald, ein neues oberschlesisches Bergarbeiterdorf der Bergwerksgesellschaft Georg von Giesche’s Erben. Charlottenburg-Kattowitz 1910.
Informationsmaterialien Biuro ESK (Hg.): Stadtplan Katowice Miasto Ogrodów [Katowice Gartenstadt]. Katowice 2011. „Modernizm w Katowicach. Szlak Moderny“ [Moderne in Katowice. Die Route der Moderne], Informationsmaterial zur Route der Moderne, ohne Autor, ohne Jahres- und Ortsangabe, erhalten im Mai 2012 in der Tourismusinformation Katowice.
Dokumente Decyzja w sprawie wpisania objektu do rejestru zabytków „a“ [Entscheidung in der Angelegenheit der Aufnahme des Objektes in das Denkmalregister „a“], Śląski Wojewódzki Konserwator Zabytków [Denkmalkonservator der Woiwodschaft Schlesien], 23. März 2012, Nr. K–RD–KL/4160/10787/102/10, Registernummer A/370/12, einsehbar im Büro des Denkmalkonservators der Woiwodschaft Schlesien, Kopie im Archiv der Autorin. Konkurs na scenariusz wystawy stałej historii Górnego Śląska w nowej siedzibie Muzeum Śląskiego w Katowicach; Załącznik B.2 do Regulaminu Konkursu – Opis do diagramu [Ausschreibung für das Ausstellungsdrehbuch zur Dauerausstellung über die Geschichte Oberschlesiens im neuen Sitz des Schlesischen Museums in Katowice; Anhang B.2. zur Ausschreibungsordnung – Beschreibung des Diagramms], ohne Datum, ohne Ort, einsehbar im Schlesischen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin.
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Ohne Autor: Historia logo ESK [Geschichte des Logos der Kulturhauptstadt Europas], internes, einseitiges Dokument des ESK-Büros, Katowice, 2011, einsehbar in der Instytucja kultury Katowice, vormals Biuro ESK, Kopie im Archiv der Autorin. Ohne Autor: Prezentacja Katowice Miasto Ogrodów. Kandydat na Europejską Stolicę Kultury 2016 [Präsentation Katowice Gartenstadt, Kandidat für die Kulturhauptstadt Europas 2016] Powerpoint-Präsentation, Katowice 2012, einsehbar in der Instytucja kultury Katowice, vormals Biuro ESK, Kopie im Archiv der Autorin. Ohne Autor: Übersicht über die nach 1989 umbenannten Straßen in Katowice. Erstellt in der Stadtverwaltung Katowice, Version vom Mai 2012, Kopie im Archiv der Autorin. Statut Muzeum Historii Katowic w Katowicach [Statut des Stadtgeschichtlichen Museums in Katowice], Załącznik do Uchwały Nr XXXV/792/13 Rady Miasta Katowic z dnia 27 marca 2013 [Anlage zum Beschluss Nr XXXV/792/13 des Stadtrates Katowice vom 27. März 2013], einsehbar im Stadtgeschichtlichen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin. Statut Muzeum Śląskiego w Katowicach [Statut des Schlesischen Museums in Katowice], Fassung vom 16. Januar 2006, einsehbar im Schlesischen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin. Uwagi dot. przygotowań do wystawy Historii Górnego Śląska po odbytym konkursie na szenariusz tejże wystawy w dniach 1 – 2 paźdernika 2012 [Bemerkungen zur Vorbereitung der Ausstellung Geschichte Oberschlesiens am 1.–2. Oktober 2012 im Anschluss an die Ausschreibung der gleichen Ausstellungen], Dokument in Briefform von Ewa Chojecka, einsehbar im Schlesischen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin. Założenia ogólne do wystawy stałej Historii Górnego Śląska (wyciąg z Regulaminu Konkursu) [Allgemeine Angaben zur Dauerausstellung über die Geschichte Oberschlesiens (Auszug aus der Ausschreibungsordnung)], ohne Datum, ohne Ort, einsehbar im Stadtgeschichtlichen Museum Katowice, Kopie im Archiv der Autorin.
d) Online verfügbare Quellen: „KATOWICE 2020“ Strategia rozwoju miasta, Załącznik do uchwały nr LII/1068/05 Rady Miasta Katowice z dnia 19 grudnia 2005r [„KATOWICE 2020“ Strategie zur Stadtentwicklung. Anhang zum Beschluss Nr. LII/1068/05 des Stadtrates Katowice vom 19. 12. 2005], URL http://bip.um.katowice.pl/dokumenty/2005/12/19/4 – 52 – 1068 – 05z.pdf (Zugriff 23. 05. 2014). Angaben zum Projekt Route der Moderne: Projektbeschreibung und -ziele sowie Bilder der Gebäude auf der Homepage des Projektes: URL http://www.moderna.katowice.eu/ (Zugriff 06. 12. 2013). Angaben zum Stadtgeschichtlichen Museum Katowice auf der Homepage der Einrichtung: URL http://www.mhk.katowice.pl (Zugriff 29. 07. 2014). Angaben zur Bewerbung um den Titel Kulturhauptstadt Europas auf der Homepage der Kulturinstitution – Katowice Gartenstadt: URL http://www.2016katowice.eu/ (Zugriff 02. 08. 2013). Beschluss 1622/2006/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, in: Amtsblatt der Europäischen Union, 24. 10. 2006, URL http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ. do?uri=OJ:L:2006:304:0001:0006:DE:PDF
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e) Ausstellungen als Quellen „Z dziejów Katowic“ [Aus der Geschichte von Katowice], Dauerausstellung im Stadtgeschichtlichen Museum Katowice, Kuratoren: Dr. Jacek Siebel, Dr. Halina Gerlich (ethnografischer Saal). „Wnętrza mieszczańskie“ [Bürgerliche Interieurs], Kuratorin: Maria Krysiak, bestehend aus zwei Teilen: 1. „W kamienicy mieszczańskiej. Codzienność i odświętność“ [Im Bürgerhaus. Alltag und Feiertag], 2. „U sąsiadów, na pokojach i w kuchni“ [Bei den Nachbarn, in den Zimmern und der Küche].
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Sachregister Angewandte Geschichte 3, 12, 61 f., 64 f. Dekonstruktion 10, 12 f., 17, 49, 51 f., 54, 97, 99 – 105, 112 – 115, 276, 297 Erinnerungskultur 11 f., 53, 61, 65, 76 – 79, 84 – 89 Geschichtsbewusstsein 11 f., 51, 53 f., 57, 59, 61, 64, 66, 67, 70 – 74, 76, 86 – 89, 91 f., 97, 102 f., 111, 276, 318, 323, 326, 330, 360, 368, 406 Geschichtskultur 11 – 13, 49, 51, 53, 61, 65 – 72, 74 – 76, 86 – 91, 94, 97, 103, 327, 397 Historisches Denken 72, 322 f. Image 4, 39, 41, 53, 273 – 276, 280 f., 286 f., 320, 357, 365, 371, 373, 377, 397 – Imagebildung 4, 115, 273 – 276, 283, 340 f., 358, 371 – Imagebildungskampagne 53, 55 f., 273, 275 f., 314, 335, 365, 401, 407 Kulturhauptstadt Europas 43, 52 – 54, 57 f., 277 – 283, 311, 317 f., 365, 371, 378, 380, 383, 401 f., 405, 408 Öffentliche Geschichte 52 – 54, 61, 64, 90, 97, 101, 117, 189
Public History 12, 61 – 65, 90 f. Rekonstruktion 9, 34, 36, 49, 71, 81, 99, 190, 291 Schlesisches Museum 52, 55, 149, 153 f., 169, 192, 256 f., 259, 261 – 263, 361, 399 Sinnbildung 4, 46 – 48, 68 f., 73, 94, 100, 112 f., 250 f., 253, 314 – 316, 333, 358, 365, 399, 403 – Sinnbildungsmuster 46 – 48, 95, 102, 315, 317 f. Stadtgeschichtliches Museum 52, 55, 192 – 194, 198 f., 208, 217, 249, 253, 256, 258 f., 262, 399 – 401, 407 Strukturwandel 19, 28 f., 31 f., 39, 42 f., 51, 58, 91, 115, 267, 275, 284, 315 f., 328, 331, 335, 345, 362, 371, 376, 402, 410 Triftigkeit 97 – 103, 112 f., 248 – 251, 253, 291, 297, 300, 308, 310, 313, 317 f., 323, 327 f., 346, 349 f., 352, 360 f., 402, 406 f., 409 Triftigkeitsprüfung 97, 99, 103, 248, 291, 328, 346