Literarische Deutschlandreisen nach 1989 9783110346954, 9783110307580

Travelogues and travel novels about Germany were published in large numbers after 1989. This volume contains essays on a

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German Pages 268 Year 2014

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung der Herausgeber. Literarische Deutschlandreisen nach 1989
Stereotyp ‚deutsch‘
Heimat. Zur Darstellung eines Sehnsuchtsorts
Geschichte erzählen. Erinnerungsdiskurse und Vergangenheitsrekonstruktionen in Ralph Giordanos und Wolfgang Büschers Deutschlandreisen
„Ein Fremder im eigenen Land?“ Fremderfahrungen in Deutschlandreiseberichten der Gegenwart
Neue Länder braucht der Mann. Nationale Identität und Geschlecht in deutschsprachigen Reiseberichten nach 1989
Fußwanderungen durch Deutschland. Die Wiederentdeckung einer Reiseform um die Jahrtausendwende
Reisen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Von der DDR-Reportage zum Wandergenussbericht
Grenzgänge. Martin Sonneborns Heimatkunde
Ankunft im vereinten Land? Identitätssuche und Auseinandersetzung mit Vergangenheit in Reisetexten ostdeutscher Autoren nach 1990
Die Posttouristen reisen weiter. Christian Krachts Faserland, Thomas Klupps Paradiso und Wolfgang Herrndorfs Tschick als literarische Deutschlandreisen im globalen Reisezeitalter
Benjamin von Stuckrad-Barres Reisebilder
Apokalypse in Schwarz-Rot-Gold. Der Untergang des Heimatlandes in Feridun Zaimoglus Roman German Amok (2002)
Eine literarische „Gastarbeit“: Andrzej Stasiuk auf Lesereise durch Dojczland
Bibliographie
Autorinnen und Autoren
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Literarische Deutschlandreisen nach 1989
 9783110346954, 9783110307580

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Leslie Brückner, Christopher Meid und Christine Rühling (Hrsg.) Literarische Deutschlandreisen nach 1989

linguae & litterae

Publications of the School of Language & Literature Freiburg Institute for Advanced Studies Edited by Peter Auer, Gesa von Essen, Werner Frick Editorial Board Michel Espagne (Paris), Marino Freschi (Rom), Ekkehard König (Berlin), Michael Lackner (Erlangen-Nürnberg), Per Linell (Linköping), Angelika Linke (Zürich), Christine Maillard (Strasbourg), Lorenza Mondada (Basel), Pieter Muysken (Nijmegen), Wolfgang Raible (Freiburg), Monika Schmitz-Emans (Bochum) Editorial Assistant Frauke Janzen

Volume 30

Literarische Deutschlandreisen nach 1989 Herausgegeben von Leslie Brückner, Christopher Meid und Christine Rühling

ISBN 978-3-11-030758-0 e-ISBN 978-3-11-034695-4 ISSN 1869-7054 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com

Vorwort Der vorliegende Band vereint die Ergebnisse der Nachwuchstagung Selbstbespiegelungen. Repräsentationen Deutschlands in der deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1989, die vom 3. bis 5. November 2011 am Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) stattfand. Wir danken dem FRIAS sehr herzlich für die finanzielle Unterstützung der Tagung, die im Rahmen der Ausschreibungen für Nachwuchskonferenzen der School of Language and Literature realisiert wurde, und für die Publikation des Tagungsbandes. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern verdanken wir anregende Diskussionen und einen lebhaften Gedankenaustausch. Die Konferenz wurde über die wissenschaftlichen Debatten hinaus durch eine Lesung von Wolfgang Büscher aus seinen Reisebüchern Deutschland, eine Reise und Hartland. Zu Fuß durch Amerika bereichert. Für die gelungene Lesung und seine Bereitschaft, an unserer Tagung teilzunehmen, möchten wir uns daher bei Herrn Büscher bedanken. Schließlich gilt unser Dank Frauke Janzen, die diesen Band umsichtig und gründlich lektoriert hat.

Inhaltsverzeichnis Vorwort

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Einleitung der Herausgeber Literarische Deutschlandreisen nach 1989 Ruth Florack Stereotyp ‚deutsch‘

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Christopher Meid Heimat. Zur Darstellung eines Sehnsuchtsorts

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Christine Rühling Geschichte erzählen. Erinnerungsdiskurse und Vergangenheitsrekonstruktionen in Ralph Giordanos und Wolfgang Büschers Deutschlandreisen 45 Leslie Brückner „Ein Fremder im eigenen Land?“ Fremderfahrungen in Deutschlandreiseberichten der Gegenwart

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Aniela Knoblich Neue Länder braucht der Mann. Nationale Identität und Geschlecht in deutschsprachigen Reiseberichten nach 1989 85 Peter J. Brenner Fußwanderungen durch Deutschland. Die Wiederentdeckung einer Reiseform um die Jahrtausendwende Franz Fromholzer Reisen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Von der DDR-Reportage zum Wandergenussbericht 132 Jan Gerstner Grenzgänge. Martin Sonneborns Heimatkunde

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VIII

Inhaltsverzeichnis

Monika Hohbein-Deegen Ankunft im vereinten Land? Identitätssuche und Auseinandersetzung mit Vergangenheit in Reisetexten ostdeutscher Autoren nach 1990 185 Stephanie Schaefers Die Posttouristen reisen weiter. Christian Krachts Faserland, Thomas Klupps Paradiso und Wolfgang Herrndorfs Tschick als literarische Deutschlandreisen im globalen Reisezeitalter 202 Bernd Maubach Benjamin von Stuckrad-Barres Reisebilder

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Stefan Hermes Apokalypse in Schwarz-Rot-Gold. Der Untergang des Heimatlandes in Feridun Zaimoglus Roman German Amok (2002) 226 Magdalena Skalska Eine literarische „Gastarbeit“: Andrzej Stasiuk auf Lesereise durch Dojczland 242 Bibliographie

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Autorinnen und Autoren

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Einleitung der Herausgeber

Literarische Deutschlandreisen nach 1989 I. In den Jahren seit der Wiedervereinigung erleben Reiseberichte über Deutschland eine Hochkonjunktur: In dieser Zeit sind mehr als 30 Texte erschienen, die Deutschlandreisen beschreiben.1 Nicht wenige dieser Reiseberichte erreichen eine hohe Auflagenzahl und sind im medialen Diskurs präsent. Zahlreiche Texte tragen das durchaus verkaufsfördernde Label ‚deutsch‘ bzw. ‚Deutschland‘ explizit im Titel. Auch in der fiktionalen Literatur sind Reisen durch Deutschland ein Thema.2 Im Genre der Reiseliteratur wird also die Frage verhandelt, was unter der Kategorie ‚deutsch‘ eigentlich zu verstehen sei. Die einschlägigen Texte sind Teil einer übergreifenden Debatte um deutsche Identität, die seit der epochalen Zäsur der Wiedervereinigung kaum abgeflaut ist. Ihre Folgen lassen sich zunächst als politische und ökonomische Herausforderungen fassen, die strukturelle und gesellschaftliche Veränderungen mit sich bringen. Darüber hinaus haben sich die Ereignisse von 1989/90 auch in Bezug auf die kulturellen Diskurse, die deutsche Selbstwahrnehmung und Erinnerungskultur als Einschnitt erwiesen. Der Umgang mit der unmittelbaren Vergangenheit und den gesellschaftlichen Realitäten des wiedervereinigten Landes hat dazu geführt, dass die Debatte um Deutschland als Nation wieder ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Die in jüngster Zeit in verschiedenen Medien stattfindende Diskussion, was Deutschland als Nation ausmache, zeigt an, dass die Frage nach nationaler Identität Konjunktur hat: Zahlreiche Publikationen fragen, was „[t]ypisch deutsch“ sei,3 und formulieren – zum Teil mit deutlich kulturkonservativer Agenda – das explizite Ziel, eine positiv besetzte deutsche Identität zu konstruieren. So lässt sich der jüngst erschienene Band von Thea Dorn und Richard Wagner einordnen, die nach der „[d]eutsche[n]

1 Vgl. die Bibliographie im Anhang. 2 Vgl. Christian Kracht, Faserland, Köln 1995, Irina Liebmann, Letzten Sommer in Deutschland: eine romantische Reise, Köln 1997, Thomas Klupp, Paradiso, Berlin 2009, Wolfgang Herrndorf, Tschick, Berlin 2010. 3 So der sprechende Titel von Hermann Bausinger, Typisch deutsch. Wie deutsch sind die Deutschen?, München 2000.

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Einleitung der Herausgeber

Seele“ fragen.4 Ein Blick auf die medialen Inszenierungen deutscher Identitätssuche macht deutlich, dass der neue Nationaldiskurs mittlerweile ein Teil der Populärkultur ist, der sich weniger durch sein Reflexionsniveau als vielmehr durch plakative Vereinfachungen auszeichnet. Die Kategorie Nation und das Label ‚deutsch‘ werden gebraucht, um Fernsehsendungen und Filmproduktionen zu kategorisieren und zu vermarkten: Sönke Wortmann etwa verkaufte im Zuge des auflebenden Jubelpatriotismus bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 Deutschland als „Sommermärchen“,5 zahlreiche Fernsehformate besuchen Deutschland ‚vor Ort‘: Als Beispiel sind etwa die naivaffirmativen Reisen des ZDF-Mittagsmagazins an verschiedene Orte innerhalb des Landes zu nennen, die unter dem reißerischen Titel Deutschland ist Spitze! ausgestrahlt werden.6 In historischer Perspektive nimmt die ZDF-Dokumentationsreihe Die Deutschen (2008 und 2010) deutsche Vergangenheit in den Blick, indem sie in episodisch zugespitzter Form Geschichte erzählt.7 In der Literatur nach 1989 hat die Wiedervereinigung zu weitreichenden Veränderung in der Wahrnehmung und Deutung nicht nur der deutschen Gegenwart, sondern auch der Vergangenheit geführt. Treffend wurde in der Forschung dabei von einer „Wende des Erinnerns“ gesprochen, um den veränderten Blick auf die jüngste deutsche Geschichte zu beschreiben.8 Dabei wird die DDR-Vergangenheit interpretiert und zugleich die Zeit des Nationalsozialismus umgedeutet: „Neue Aspekte wie Flucht und Vertreibung, Luftkrieg und Zerstörung – bis dahin eher tabuisiert – geraten durch die Literatur in die öffentliche Diskussion.“9 Nicht zuletzt das Erzählen von DDR-Geschichte im Genre des Familienromans hat sich als sehr erfolgreich erwiesen: Uwe Tellkamp erhielt

4 Thea Dorn/Richard Wagner, Die deutsche Seele, München 2011. Vgl. auch aus humoristischer Perspektive: Susanne Frank/Timothy Sonderhüsken (Hrsg.), Draußen nur Kännchen. Was wir immer schon über Deutschland sagen wollten, München 2003. 5 So der Untertitel des Dokumentarfilms von Sönke Wortmann, Deutschland. Ein Sommermärchen, 2006. 6 http://mittagsmagazin.zdf.de/ (Stand: 05.07.2012); Deutschland wird mittlerweile aus allen Richtungen erkundet, ein Dokumentarfilm von Petra Höfer und Freddie Röckenhaus zeigt Deutschland von oben (http://www.deutschland-von-oben.com/ [Stand: 09.07.2012]). 7 Vgl. http://www.zdf.de/ZDF/zdfportal/web/ZDF.de/Die-Deutschen/22587150/22587148/aa89 ab/Die-Deutschen.html (Stand: 04.04.2012). 8 Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand (Hrsg.), Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen 198). 9 Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand, „Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989“, in: Dies. (Hrsg.), Wende des Erinnerns?, S. 7–17, hier S. 7.

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2008 für Der Turm und Eugen Ruge 2011 für In Zeiten des abnehmenden Lichts den Deutschen Buchpreis.10 In Bezug auf die Reiseliteratur ist festzustellen, dass sich die in verschiedenen Lebensbereichen zu beobachtende Tendenz der Globalisierung auch auf diese Gattung auswirkt.11 Dennoch scheint es, als seien gerade die Texte, die Reisen in die vermeintlich vertraute Sphäre thematisieren, im Aufwind: Dies hat sicherlich mit den Folgen der deutschen Wiedervereinigung zu tun, kann aber auch als Gegenströmungen zur Globalisierung interpretiert werden. Die Kategorie der ‚Nation‘, die in einer breiten Öffentlichkeit präsent ist, scheint für die seit 1989 erschienen Publikationen an Bedeutung zu gewinnen.12 In den Reisetexten der Nachwendezeit ist Deutschland den Autorinnen und Autoren dabei als Problem aufgegeben. Die Reisen finden im Modus der Suche, der Frage nach Kultur und Identität statt. Auf ganz unterschiedliche Weise begegnen die Reisenden dabei der Herausforderung, das eigene Land und die eigene Kultur zu erforschen: Wolfgang Büscher etwa kartographiert das wiedervereinigte Land, indem er es entlang seiner Außengrenze umrundet,13 Landolf Scherzer, Dieter Kreuzkamp und Fred Sellin folgen der innerdeutschen Grenze.14 Westdeutsche Autoren wie Ralph Giordano oder Roger Willemsen beschreiben ausgiebig die neuen Bundesländer, um die weißen Flecken auf ihrer mentalen Landkarte, den ihnen fremden Osten zu entdecken.15 Eine Vielzahl von Texten ist durch den Kontrast von Stadt

10 Uwe Tellkamp, Der Turm, Frankfurt am Main 2008, Eugen Ruge, In Zeiten des abnehmenden Lichts, Reinbek bei Hamburg 2011. Die Verfilmung von Tellkamps Roman wurde bezeichnenderweise zum Tag der Deutschen Einheit 2012 ausgestrahlt (http://www.daserste.de/unterhaltung/ film/filme-im-ersten/sendung/2012/der-turm-teil-1-100.html [Stand: 04.10.2012]). Vgl. zu dieser Tendenz in der Literatur Simone Costagli (Hrsg.), Deutsche Familienromane: literarische Genealogien und internationaler Kontext, München 2010. 11 Vgl. dazu Ernst-Ulrich Pinkert (Hrsg.), Die Globalisierung im Spiegel der Reiseliteratur, München 2000 (Text & Kritik. Sonderreihe 42). 12 Die Reisetexte tragen zu einem Nationendiskurs bei, der gerade im Falle Deutschlands höchst problematische Ausformungen erlebte. Vgl. einführend zu den Kontexten Otto Dann, Nation und Nationalismus in Deutschland 1770–1990, München 1993. 13 Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2008. 14 Landolf Scherzer, Der Grenz-Gänger, Berlin 2007; Dieter Kreutzkamp, Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis nach Bayern. Unter Mitarbeit von Rupert Heigl, 2. Aufl., München 2009; Fred Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte, 2. Aufl., München 2010. 15 Ralph Giordano, Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat, 2. Aufl., München 2001, Roger Willemsen, Deutschlandreise, Berlin u.a. 2002. In der bundesrepublikanischen Vergangenheit gibt es für die Entdeckungsreise in das „ferne[] Land“ im Osten durchaus Vorbilder. 1964 reisten die Zeit-Redakteure Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt und Theo Sommer in die DDR und veröffentlichten ihre Berichte über diese Reise zunächst als

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Einleitung der Herausgeber

und Land geprägt: In Berlin lebende Autoren wie Moritz von Uslar und Wladimir Kaminer erkunden die Provinz bzw. beschreiben den für Deutschland charakteristischen Regionalismus, um zu erfahren, was jenseits der Hauptstadt geschieht. Nicht zuletzt stellt die persönliche Biographie der Autoren eine zentrale Motivation zum Aufbruch dar: Claudia Rusch etwa bereist die ehemaligen DDR-Bezirke, um auf ihre Kindheit im sozialistischen Staat zurückzublicken und die Folgen der Wende auch für die eigene Selbstwahrnehmung zu reflektieren.16 Vielfach werden auch Adoleszenzgeschichten mit der Reiseerzählung enggeführt: Prominentestes Beispiel ist sicherlich Wolfgang Herrndorfs Roman Tschick (2010). Bei aller Diversität in Bezug auf die Motivation der Autoren und die Durchführung im Einzelnen ist allen Reisen ins eigene Land jedoch gemein – und dies gilt besonders für die als faktual markierten Texte –, dass der Aufenthalt ‚vor Ort‘ eine besonders authentische Form der Annäherung an den Gegenstand zu versprechen scheint.

II. Die Reise ist seit jeher ein Grundmotiv literarischer Texte. Über die damit verbundenen inhaltlichen Aspekte hinaus ist sie zugleich oftmals strukturierendes Prinzip: Der Verlauf der Erzählung folgt Reiserouten oder ist von Oppositionen abhängig, die durch die inhaltliche Kategorie der Reise erst etabliert werden. Zugleich ist das Reisemotiv traditionell mit dem der Identitätsstiftung und -konstruktion verbunden: Sei es, dass äußerliche Stationen der Reise die soziale Verortung des Reisenden sinnfällig machen, sei es, dass die Reiseerfahrungen im Sinne einer Entwicklungsgeschichte den Reisenden prägen. Die Beiträge dieses Bandes behandeln zumeist Reiseberichte, die reklamieren, eine authentische Reise durch oder in Deutschland zu beschreiben, aber ebenso Romane, in denen dem Motiv der Deutschlandreise eine wesentliche

Artikelserie in der Zeit und später in Buchform (Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leonhardt, Theo Sommer, Reise in ein fernes Land. Bericht über Kultur, Wirtschaft und Politik in der DDR, Hamburg 1964). 1986 erschien in der gleichen Wochenzeitung eine – allerdings von anderen Autoren verfasste – Artikelreihe, die an die oben genannte anschloss und ebenfalls „ins andere Deutschland“ führte (siehe dazu den summierenden Artikel [o.V.], Reise ins andere Deutschland. Eine Zeit-Serie über die DDR, in: http://www.zeit.de/1986/25/reise-ins-andere-deutschland [Stand: 03.06.2013]). 16 Claudia Rusch, Aufbau Ost: unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau, Frankfurt am Main 2009.

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Bedeutung zukommt. Nicht zuletzt diese Reiseberichte widerlegen eindrucksvoll die These vom allmählichen Verschwinden dieser Gattung.17 Gerade der Reisebericht stellt den Wissenschaftler vor nicht unerhebliche Probleme, ist diese Gattung doch nur schwer zu bestimmen. Zudem hat sich die germanistische Literaturwissenschaft erst vergleichsweise spät mit diesen lange Zeit als unliterarisch verschrienen Texten beschäftigt.18 Als Arbeitsdefinition bietet sich an: „Sie [die Reiseberichte] schildern eine Reise in ihrem Verlauf und stellen somit Erzähltexte dar.“19 Dabei ist nicht allein das Thema der Reise von Bedeutung,20 sondern ebenso, dass der Rezipient diese geschilderte Reise als faktual versteht: Beim Reisebericht wird (anders als beim Reiseroman) angenommen, der Erzähler habe tatsächlich die Reise unternommen. Erzähler und Autor sind also deckungsgleich: die Erzählerfigur ist ein alter ego des Autors. Die Trennlinie zu Textsorten wie Reiseerzählung oder Abenteuerroman lässt sich oftmals allein mithilfe von para- und extratextuellen Faktoren ziehen. Der Reisebericht verwendet als narrativer Text die gleichen Strategien wie fiktionale Literatur, ja grundlegendes Kennzeichen der Texte ist die Fiktionalisierung des Reiseerlebnisses auch in scheinbar anspruchslosen Texten.21 Diese literarische Dimension wurde in der Forschung lange vernachlässigt.22 So fruchtbar kulturse-

17 Vgl. Herbert Jost, „Selbst-Verwirklichungen und Seelensuche. Zur Bedeutung des Reiseberichts im Zeitalter des Massentourismus“, in: Peter J. Brenner (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989 (suhrkamp taschenbuch materialien), S. 490–507. In den letzten Jahren lässt sich ein wiederauflebendes Interesse an Reiseberichten beobachten; bezeichnenderweise liegen die beschriebenen Ziele vor allem in der vermeintlich bekannten Heimat. Vgl. Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010 (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster; Reihe XII, 2); vgl. auch den Überblick von Gerhard Sauder, „Formen gegenwärtiger Reiseliteratur“, in: Anne Fuchs/Theo Harden (Hrsg.), Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne, Heidelberg 1995, S. 552–573 (Neue Bremer Beiträge; 8). 18 Es ist das Verdienst von Peter J. Brenner, den deutschsprachigen Reisebericht als Forschungsgegenstand ersten Ranges etabliert zu haben. 19 Barbara Korte, Der englische Reisebericht. Von der Pilgerfahrt bis zur Postmoderne, Darmstadt 1996, S. 1. 20 Vgl. ebd., S. 12. 21 Vgl. ebd., S. 16: „Eine authentische Reiseerfahrung wird beim Reise-Schreiben also rekonstruiert und dadurch fiktionalisiert, auch dort, wo Reiseberichte in Form von Tagebüchern oder Briefen verfaßt sind, die eine geringere Distanz zwischen Erleben und Erzählen suggerieren als der rückschauende Bericht, der eine Reise nicht in ‚Tagesetappen‘, sondern als Ganzes verarbeitet.“ 22 Vgl. Manfred Link, Der Reisebericht als literarische Kunstform von Goethe bis Heine, Diss. Köln 1963, S. 11: Der Autor versteht „unter Reisebericht eine Darbietungsform, die in objektiv-nüchter-

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Einleitung der Herausgeber

miotische oder imagologische Herangehensweisen auch sein mögen, so bleiben diese Ansätze doch notwendigerweise defizitär, wenn sie poetologische Aspekte nur wenig berücksichtigen.23 Bei Reiseberichten (auch bei den scheinbar minderwertigen) handelt es sich „nicht nur [um] kulturgeschichtliche Zeugnisse, sondern [um] Texte, die mit bestimmten, nicht zuletzt künstlerischen, Strategien verfaßt werden“.24 Wenn Stephanie Schaefers Reisen als literarisches Verfahren auffasst,25 so kann dies durchaus einen Ausgangspunkt für die weitere Beschäftigung mit Reiseliteratur jenseits von Gattungsnormen sein: Die reiseliterarische Problematik von Fiktivität und Faktizität – das heißt die Frage nach dem Authentizitätsgrad einer Reise –, die wesentlich zur Unbestimmtheit der Gattungsbeschreibung beigetragen hat, wird obsolet, da jede Reise durch ihre literarische Reproduktion oder Imagination ästhetisch wirksam ist.26

Authentizität ist also keine messbare Größe, die literaturwissenschaftlich zu quantifizieren wäre. Vielmehr gilt es, die Strategien zu analysieren, die Texte anwenden, um den Eindruck einer Nähe zu den Dingen zu evozieren. In diesem

ner Redeweise den Reiseverlauf weitgehend unreflektiert und unredigiert wiedergibt und auf Fiktionalisierung und epische Integration weitgehend verzichtet“. 23 Vgl. Korte, Der englische Reisebericht, S. 3. 24 Ebd. – Vgl. Joseph Strelka, „Der literarische Reisebericht“, in: Klaus Weissenberger (Hrsg.), Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattungen der nicht-fiktionalen Kunstprosa, Tübingen 1985, S. 169–184. Strelka wendet sich entschieden dagegen, nichtliterarische Reiseberichte aus literaturwissenschaftlicher Perspektive zu behandeln (vgl. ebd., S. 176). Er hält die Abgrenzungskriterien für offensichtlich, ohne sie allerdings befriedigend darlegen zu können. Vgl. ebd., S. 170: „Umgekehrt wird auch der vom rein Stofflichen her interessanteste nichtfiktionale Reisebericht trotz wissenschaftlichen Interesses oder trotz höchster Ansprüche im Hinblick auf Information nicht einer Gattung des literarischen Reiseberichts zuzuzählen sein, wenn ihm die verschiedenen Elemente sprachkünstlerischer Durchformung von den Qualitäten des literarischen Essays bis zur fiktionalen (oder auch nichtfiktionalen) Erzählkunst mangeln.“ Vgl. die Kritik von Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990, S. 23 f.: „Mit solchen Bestimmungen wird theoretisch kaum etwas gewonnen. Es ist unmittelbar einsichtig, daß in der Reiseliteratur – wie in jeder anderen literarischen Gattung – Unterschiede in der ‚Sprachkraft‘ und in der literarischen Gestaltungsfähigkeit der Autoren festzustellen sein werden. Sie können aber eher intuitiv konstatiert als wissenschaftlich begründet werden und vermögen allenfalls Qualitäts-, nicht aber Gattungsunterschiede zu fixieren.“ Vgl. auch Korte, Der englische Reisebericht, S. 21: „Für Einblicke in die Entwicklung des Genres ist es gerade aufschlußreich, die ästhetisch anspruchsvollen Reiseberichte im Kontext weniger befriedigender Texte zu betrachten, mit denen sie schließlich grundlegende Strukturmerkmale teilen.“ 25 Vgl. Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 32. 26 Ebd., S. 33.  

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Kontext ist aber immer relevant, ob der Text reklamiert, die beschriebene Reise habe tatsächlich stattgefunden. Im Zusammenhang der oben angerissenen Debatte um deutsche Identitätsfindung stellt sich zwangsläufig die Frage, ob bzw. in welchem Maße das Authentizitätsparadigma auch die Autorität des Reisenden stützt: Es scheint, als könne der erfahrene Reisende begründete Positionen beziehen, die auf Anschauung und Erfahrung beruhen. Zugleich führt dieses Postulat nicht selten zum gegenteiligen Effekt, sind doch diese vermeintlich objektivierbaren Befunde vielfach höchst subjektiv. Im Fall der literarischen Deutschlandreisen, die im Fokus dieses Bandes stehen, müssen also zwei Aspekte beachtet werden: Zunächst gilt das Interesse einem kulturellen Feld, das nicht nur im Medium der Literatur seinen Ausdruck gefunden hat. Die grundlegende Frage nach den historischen Prozessen des 20. Jahrhunderts, die möglicherweise so etwas wie eine eigene Identität hervorgebracht haben, macht deutlich, dass die hier analysierten Texte auch als mentalitätsgeschichtliche Zeugnisse von Bedeutung sind, aber ebenso als literarische Texte. Es liegt ein reichhaltiges Korpus vor, das Texte verschiedener Erzählformen und unterschiedlicher Stillagen umfasst. Auch bei den weniger avancierten Produkten handelt es sich um Texte, die literarischen Traditionen folgen und die mithilfe literaturwissenschaftlicher Methoden zu analysieren sind. Somit macht es wenig Sinn, nach ästhetischen Kriterien einen Kanon zu etablieren und bereits zu Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung einen Teil der behandelten Texte radikal auszusondern. Vielmehr möchte dieser Band das reichhaltige Korpus erfassen und vielstimmig diskutieren. Wenn ein Phänomen in seiner Breite behandelt wird, so schließt dies eben auch ästhetisch oder ideologisch zweifelhafte Hervorbringungen mit ein. Eine Kanonisierung ist weder gewünscht noch angestrebt, wohl aber der vorurteilsfreie Überblick über einen kulturellen Komplex von beachtlicher Reichweite.

III. Das Ziel der Konferenz, das Textkorpus der Deutschlandreiseberichte deutscher Autorinnen und Autoren nach 1989 für die germanistische Forschung zu erschließen, wurde von den Teilnehmenden auf unterschiedliche Weise angegangen. Eine erste Gruppe von Beiträgen nimmt die literarischen Deutschlandreisen nach 1989 unter verschiedenen systematischen Aspekten in den Blick. Den Anfang macht Ruth Florack mit einem geschichtlichen Längsschnitt der Stereotype über Deutschland und die Deutschen von Tacitus bis zur Reiseliteratur der Gegenwart. Dabei wird deutlich, wie nationale Stereotype innerhalb der europäischen Litera-

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Einleitung der Herausgeber

turen als Auto- wie als Heterostereotyp weitergegeben wurden und wie diese noch in der Gegenwartsliteratur nachwirken. Christopher Meid beleuchtet in seinem Beitrag den speziell in Deutschland problematischen Begriff der ‚Heimat‘. In den Deutschlandreiseberichten der Gegenwart zeigt er dabei ein Spektrum auf, das von der naiv-kindlichen Sehnsucht nach Geborgenheit eines Tobias Zick über Roger Willemsens skeptische Problematisierung der – stets nur in der Erinnerung bestehenden – Utopie eines Heimatortes bis zur unheimlichen Heimat bei Wolfgang Büscher reicht. Christine Rühling geht einem weiteren Aspekt der „schwierige[n] Heimat“ Deutschland (Giordano) nach, nämlich dem Umgang mit der deutschen Geschichte in den Reiseberichten der Gegenwart. Anhand zweier Texte, die den Zweiten Weltkrieg als bedeutende Zäsur der deutschen Geschichte thematisieren, vergleicht sie die narrative Einbindung der Erinnerungsdiskurse in den Deutschlandreisen. Bei Ralph Giordano stehen dabei die Erinnerungsorte der Verbrechen des Nationalsozialismus und die kritische Betrachtung der aktuellen kollektiven Erinnerungskultur in Deutschland im Zentrum, Wolfgang Büschers Reisebericht fügt sich dagegen in die aktuellen Erinnerungsdebatten über die Folgen des Bombenkrieges für Deutschland ein. Als Ergänzung dieser Darstellungen des Eigenen geht Leslie Brückner in ihrem Beitrag der „Fremdheit im eigenen Land“ nach und untersucht die Funktion von Fremdheitserfahrungen in den Texten von Wolfgang Büscher, Claudia Rusch und Moritz von Uslar. Während die Reisenden Uslar und Büscher sich selbst als Fremde, als beobachtende Außenstehende darstellten, verknüpfe Rusch mit dem Fremdheitsdiskurs die Reflexion über ihre eigene nationale Identität. Schließlich werden intrakulturelle Fremdheitserfahrungen in den Reiseberichten über das eigene Land in ähnlicher Weise beschrieben wie in Reiseberichten über ‚fremde‘ Länder. Aniela Knoblich schließlich analysiert literarische Deutschlandreisen in Bezug auf die Genderdebatte. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Deutschlandreiseberichte seit 1990 fast ausschließlich von männlichen westdeutschen Autoren verfasst wurden, geht sie den Konstruktionen der Geschlechterbilder – von Willemsens Darstellungen frustrierter Ehefrauen bis Moritz von Uslars Männlichkeitskult – nach und untersucht die Verbindungen zwischen Genderrollen und Konstruktionen des Deutschen. Eine zweite Gruppe von Beiträgen lenkt den Blick auf die unterschiedlichen Formen des Reisens in den Deutschlandreiseberichten der Gegenwart. Peter J. Brenner

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widmet sich der Renaissance von Fußreisen seit dem Jahr 2000, die er im Kontext der deutschen literarischen Tradition von Seume bis Fontane genauer betrachtet. Obgleich sich in den Texten nur wenige explizite Traditionsbezüge finden, stelle die Reaktualisierung des Gehens als Reiseform, die als Gegenbewegung zum organisierten Massentourismus ein authentischeres Erleben verspricht, einen substantiellen Beitrag zum Fortbestehen und Wandel der Gattung des Reiseberichts in der Gegenwart dar. Besonders Wolfgang Büschers Reisebücher erschlössen dabei eine neue Form der Reiseprosa. Daran anschließend stellt Franz Fromholzer vier literarische Texte über Wanderungen an der ehemaligen innerdeutschen Grenze in den Mittelpunkt seiner Analyse. Dabei fallen unterschiedliche Herangehensweisen der Autoren auf: Der ehemalige DDR-Reporter und Grenz-Gänger Landolf Scherzer interviewt Arbeiterinnen und Arbeiter zu ihren Lebensumständen zwanzig Jahre nach dem Mauerfall, der Biologe Andreas Kieling entdeckt das ‚Grüne Band‘ als Biotop, Dieter Kreutzkamp widmet sich dem modernen Erlebnistourismus und Fred Sellin stellt die Vater-Sohn-Beziehung ins Zentrum seines Textes. Während die Erfahrung des Wanderns als Modus der individuellen Selbsterfahrung in den Deutschlandreiseberichten zentral sei, konstatiert Fromholzer bei den Reisenden entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze einen auffälligen Mangel an Geschichtsbewusstsein: Bezüge zu den problematischen Aspekten der DDR-Geschichte fehlten zumeist. Im Gegensatz dazu befasst sich Monika Hohbein-Deegen mit literarischen Darstellungen der Identitätssuche ostdeutscher Autorinnen und Autoren nach 1990. Anhand zweier zentraler Texte, Thomas Rosenlöchers Reisebericht Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise von 1991 und Irina Liebmanns Reiseroman Letzten Sommer in Deutschland. Eine romantische Reise aus dem Jahr 1997, zeigt sie auf, wie die Auseinandersetzung mit dem biographischen Bruch, den die Wende für die ostdeutschen Autorinnen und Autoren bedeutete, anhand des Reisemotivs thematisiert wird. Als Pendant zu den literarischen Texten erschließt Jan Gerstner in seinem Beitrag eine Deutschlandreise im Medium des Films. In seiner Analyse des satirischen Dokumentarfilms Heimatkunde (2008) des ehemaligen Titanic-Chefredakteurs Martin Sonneborn macht er deutlich, wie Sonneborns Parodie einer ethnologischen Forschungsreise ihre Komik aus einer satirischen Aufnahme eines Fremdheitsdiskurses zwischen Ost- und Westdeutschland sowie der Spannung zwischen Hauptstadt und Provinz schöpft. Er untersucht Sonneborns ironisches Spiel mit der deutschen literarischen Tradition des Wanderns sowie die Mechanismen der satirischen Darstellung von Wirklichkeit.

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Einleitung der Herausgeber

Der dritte Abschnitt des Bandes kontextualisiert und diskutiert die literarischen Formen der Deutschlandreiseberichte innerhalb der deutschen Gegenwartsliteratur. Zunächst geht Stephanie Schaefers der Frage nach, welche Stellung das Reisen und die Reiseliteratur unter den Bedingungen der globalisierten und medial vernetzen Welt (noch) einnehmen. Sie stellt dar, warum in der generation global überhaupt noch Reiseberichte entstehen und welchen Tranformationen die Gattung dabei ausgesetzt ist. Anhand dreier zeitgenössischer Romane, in denen das Reisemotiv strukturbildend ist, arbeitet sie die Aktualität der Reiseliteratur in der Epoche des ‚Posttourismus‘ heraus. Die Texte thematisieren die Frage, wie eine authentische Reiseerfahrung in der posttouristischen Epoche noch möglich sein kann, auf unterschiedliche Weise. Auffällig sei dabei eine Tendenz zur Verlangsamung der Reisegeschwindigkeit durch „nichttouristische“ Reiseformen und Verkehrsmittel, die Umwege verlangen, wie etwa das Trampen. Es seien Reisen, die kein Ziel erreichten, sondern im Stil des literarischen road movie den Weg als Ziel beschrieben. Die Fragmentarisierung und individuelle (adoleszente) Identitätssuche erschienen dabei als zentrale Themen, die anhand des Reisemotivs literarisiert würden. Bernd Maubach betrachtet die Texte des Popliteraten und Journalisten Benjamin von Stuckrad-Barre über Deutschland und stellt dessen innovative und multimediale Form des Reisejournalismus in die Tradition der politischen Reisebilder Heinrich Heines. Dabei zeigen sich die engen Bezüge zwischen Popliteratur, Journalismus und dem Reisebericht der Gegenwart. Der Reisejournalismus fungiere als Bestandsaufnahme der Gegenwart, der die Fragmentarität der postmodernen Wirklichkeit abbilde. Eine andere Form des Schreibens über Deutschland in der Gegenwartliteratur untersucht Stefan Hermes, der die narrative Gestaltung der Polemik gegen Deutschland in Feridun Zaimoglus Roman German Amok (2002) betrachtet. Zaimoglus Lust an der literarischen Polemik, die über die Figur eines unzuverlässigen Erzählers transportiert werde, situiert Hermes dabei im Kontext der Tradition des Kulturpessimismus und der literarischen Untergangsszenarien in der deutschen Literatur von Spengler bis Sarrazin. Zaimoglu greife – so Hermes – zudem jenen ost-west-deutschen Fremdheitsdiskurs und die Spannung zwischen der Großstadt Berlin und der Provinz Brandenburg polemisch auf, die auch bei Uslar und Sonneborn eine zentrale Rolle spielen. Mit Magdalena Skalskas Analyse zu dem Reisebericht Dojczland des polnischen Autors Andrzej Stasiuk wird der Tagungsband um die Perspektive eines Reisenden aus dem Nachbarland erweitert. Der Autor identifiziert sich in seinem Text,

Literarische Deutschlandreisen nach 1989

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der auf einer Lesereise durch Deutschland entstand, mit den polnischen Gastarbeitern in Deutschland. Dabei wird seine ambivalente Haltung zu Deutschland deutlich: Die Reise nach Deutschland erscheint als „Psychoanalyse“, die nur mithilfe von Alkohol zu überstehen sei. Skalska arbeitet die Formen der Selbstironie und des Humors bei Stasiuk heraus, die seinen Text als Parodie auf Reiseberichte und auf die polnische Erinnerungspolitik über Deutschland erscheinen lassen. Die einzelnen Beiträge, die verschiedene Aspekte und Texte in den Mittelpunkt stellen, bieten somit eine Vielfalt mehrheitlich germanistischer Perspektiven auf das Textkorpus der deutschsprachigen Deutschlandreisen nach 1989. So lassen sich verschiedene Formen der Selbstbespiegelung – der nationalen und kulturellen Identitäten in Deutschland ebenso wie der personalen Identitäten und Selbstinszenierungen der Reisenden – herausarbeiten und aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchten.

Ruth Florack, Göttingen

Stereotyp ‚deutsch‘ In Umberto Ecos neuem Roman Der Friedhof in Prag wird gleich zu Beginn nicht nur gegen die Juden, sondern auch gegen die Deutschen vom Leder gezogen: Sie seien bierselig-versoffen und gefräßig, abstoßend grob, ja beinahe tierisch in ihrer Körperlichkeit, zu schwerfällig und beschränkt für Geistiges, für Kunst und Kultur.1 So zumindest sieht sie der Protagonist des Romans, Simone Simonini, eine durch und durch unsympathische Figur. Die Charakteristik der Deutschen ist also an seine Perspektive gebunden, offenbart dem Leser seine niedrigen Ressentiments. Das ist ihre Funktion im Text. Doch die Zuschreibungen sind keine Erfindung Umberto Ecos, sondern entsprechen durchaus dem traditionellen Stereotypenrepertoire ‚des‘ Deutschen. Allerdings sollten sie nicht vorschnell als Fremdzuschreibungen verstanden werden. Vielmehr lehrt der Blick in die Geschichte, dass es seit Humanismus und Renaissance in Europa grenzüberschreitend recht stabile Sets von positiven und negativen Merkmalen gibt, mit denen – zunächst in lateinischer Sprache – die Angehörigen unterschiedlicher Herrschaftsräume bzw. Staaten und Sprachen voneinander unterschieden werden. Diese Zuschreibungen sind kondensiertes Wissen über die auffälligen Unterschiede zwischen den Völkern, ein Wissen, das sich in der Frühen Neuzeit auf mündliche und schriftliche Überlieferung und empirische Beobachtung stützen kann und mit dem Buchdruck verbreitet wird. Heutzutage bezeichnet man solche festen Zuschreibungen, mit denen Völker oder Ethnien in toto charakterisiert werden, als nationale oder ethnische Stereotype. Das Konzept ‚Stereotyp‘, das ursprünglich aus der Druckersprache kommt, hat in den unterschiedlichen Disziplinen (etwa in Sozialpsychologie und Linguistik, in Politik- und Medien-, Geschichts- und Sozialwissenschaft) im Wesentlichen die semantischen Merkmale der schemen- oder schablonenhaften Vereinfachung, der Generalisierung oder Karikierung, der weitgehenden Erfahrungsunabhängigkeit, Vorgefaßtheit bzw. Voreingenommenheit, der starken Verfestigung und (Erfahrungs-)Resistenz bzw. Unveränderlichkeit, der häufigen Wiederholung, Habitualität respektive Usualität im Ge-

1 Siehe Umberto Eco, Der Friedhof in Prag. Deutsch von Burkhart Kroeber, München 2011, S. 12 u. S. 14 f.  

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brauch und der emotional gefärbten – zumeist negativen, zum Teil aber auch positiven – Wertung […].2

Im Fall der Deutschen, denen durch die Jahrhunderte hindurch gemeinhin körperliche Stärke, Mut, Tapferkeit, handwerkliches Geschick, Geduld, Fleiß, Treue und Ehrlichkeit, aber auch Schwerfälligkeit im Denken und Handeln, grobes Benehmen und ein Hang zu Völlerei und exzessivem Trunk nachgesagt werden,3 ist die Germania des Tacitus die ausschlaggebende Quelle für ein zu Stereotypen geronnenes Wissen4 – obwohl Tacitus nie in Germanien gewesen ist und sein Germanen-Bild als kritisches Korrektiv zu römischen Verhältnissen entworfen hat und obwohl die Germanen der Antike selbstverständlich nicht mit den Deutschen der Frühen Neuzeit gleichgesetzt werden können. Doch Tacitus’ Germania gilt seit ihrer Wiederentdeckung Mitte des 15. Jahrhunderts als die Autorität schlechthin, wenn es um die vermeintliche Natur der Deutschen geht. So berufen sich beispielsweise niederländische Atlanten des 17. Jahrhunderts in ihren Erläuterungen zu den Deutschen ebenso auf ihn wie Zedlers Universal-Lexikon aus der Zeit der Aufklärung. Dort steht über die Deutschen zu lesen: Man kan nicht sagen, daß sie von Natur die besten, hurtigsten und scharffsinnigsten Köpfe hätten, wenn man ihnen aber auch allzu langsame, einfältige und dumme Ingenia beylegen wolte, so würde man auch wider die Wahrheit reden. Doch was ihnen von Natur abgehet, ersetzen sie durch ihren unermüdeten Fleiß […]. Sie sind sehr gedultig […]. […] und daß es an Leuten nicht fehlet, welche scharffsinnig sind und nachdencken können, bezeugen die Exempel grosser Philosophen und Mathematick verständiger. Auf Seiten des Willens sind sie weder im höchsten Grad hochmüthig, noch Geldgeitzig, noch wohllüstig; doch haben sie von allen dreyen eine ziemliche Dosin, und halten sonderlich viel auf Essen und Trincken, daß, wenn sich ein Deutscher ein Vergnügen machen will, so dencket er, es könnte ohnmöglich ohne Essen und Trincken geschehen. Tacitus […] hat schon zu seiner Zeit von denen Deutschen geschrieben: Diem noctemque continuare potando nulli probrum. Daher auch jener gar artig von ihnen sagte: „sie haben ein kurtzes Gedächtniß, und indem sie so bald vergessen, daß sie getruncken, so trincken sie so oft.“ Man will auch an ihnen die unmäßige

2 Martin Reisigl, „Stereotyp. Ein ambiges Konzept zwischen verfestigter Denkökonomie, sprachlichem Schematismus und gefährlicher Handlungsdetermination“ [I u. II], in: Archiv für Begriffsgeschichte, 50/2008, S. 231–253, hier S. 231; 51/2009, S. 105–125. 3 Zu Ausprägung und historischer Verwendung der Stereotype des Deutschen in der Literatur von der Frühen Neuzeit bis zum 19. Jahrhundert siehe grundsätzlich Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart/Weimar 2001. 4 Siehe besonders Tacitus, Germania 4 (kriegerisches Aussehen), 5 (unwirtliche Wälder und Sümpfe), 7 (Tapferkeit, Verehrung der Frau), 14 (ständige Kriegsbereitschaft), 15 (Bequemlichkeit), 17 (einfache, grobe Kleidung), 18 (eheliche Treue), 21 (herzliche Gastfreundschaft), 22 (Trunksucht, Ehrlichkeit), 25 (Freiheit).

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Begierde, den Frantzosen nachzuahmen, als einen Fehler aussetzen […]. Sonsten aber sind die meisten Deutschen, in so fern sie nicht ihre Sitten in der Fremde verderben, ehrliche und Gerechtigkeit liebende Leute, die es selten anders meynen, als sie sagen.5

Bezeichnend an diesem Artikel sind die Berufung auf Tacitus als Autorität, die Ergänzungen aus der Empirie – seit der Alamode-Debatte des 17. Jahrhunderts ist die Nachahmung des Auslands, insbesondere Frankreichs, ein wichtiges Thema der Zeitkritik6 – und die Verbindung von positiven und negativen Zuschreibungen: Tugenden wie Ehrlichkeit und Lastern wie Trunksucht, die als allgemeines Wissen über die Deutschen akzeptiert, wenn auch in dem einen oder anderen Fall korrigiert werden. In Zedlers Artikel wird beispielsweise durchaus bestätigt, dass die Deutschen ‚von Natur aus‘ schwerfällig im Denken seien, doch wird dem entgegengehalten, dass sie dennoch ausgezeichnete Köpfe hervorgebracht hätten – nach dem Motto: Ausnahmen bestätigen die Regel. Eine solche Argumentation ist bezeichnend für den Umgang mit Stereotypen. Lässt sich diese Passage aus Zedlers Lexikon nun als ein ‚Selbst-Bild‘ der Deutschen im 18. Jahrhundert bezeichnen? Bei den imagologischen Begriffen ‚Selbst- und Fremd-Bild‘ ebenso wie bei ‚Auto- und Heterostereotyp‘7 ist meines Erachtens Vorsicht geboten: Zwar handelt es sich hier bei Zedler um Perzeptionsmuster, die auf das Eigene bezogen sind, insofern könnte man durchaus von ‚Auto-Stereotypen‘ sprechen, und sie stehen neben ausführlichen Charakterisierungen anderer europäischer Völker (Spanier, Engländer, Holländer, Franzosen, Italiener), was die Rede von ‚Heterostereotypen‘ nahelegt. Die Begriffe ‚Auto-‘ und ‚Heterostereotyp‘ sind also im vorliegenden Fall durchaus berechtigt, doch wohl nur, sofern sie sich auf das Objekt der Wahrnehmung beziehen, nicht aber, wenn es um das Subjekt dieser Wahrnehmung geht. Denn abgesehen davon, dass die Rede von ‚den‘ Deutschen, Spaniern, Holländern usw. als Kollektiv(en) eine zweifelhafte Homogenität einer Bevölkerung suggeriert, deren Grenzen bezeichnenderweise unscharf bleiben, ist es historisch gesehen keineswegs so,

5 Art. „Naturell der Völcker“, in: Johann Heinrich Zedler (Hrsg.), Grosses vollständiges UniversalLexikon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 23, Leipzig/Halle 1740, Sp. 1246–1251, hier Sp. 1247 f. 6 Siehe etwa Gonthier-Louis Fink, „Vom Alamodestreit zur Frühaufklärung. Das wechselseitige deutsch-französische Spiegelbild 1648–1750“, in: Recherches germaniques, 21/1991, S. 3–47. 7 Zur Imagologie siehe, als Summa gegenwärtiger Forschung, Manfred Beller/Joep Leerssen (Hrsg.), Imagology. The cultural construction and literary representation of national characters. A critical survey, Amsterdam/New York 2007; siehe ergänzend das Kapitel „Komparatistische Imagologie: Anspruch, Methode, Irrtümer“, in: Ruth Florack, Bekannte Fremde. Zu Herkunft und Funktion nationaler Stereotype in der Literatur, Tübingen 2007, S. 7–32.  

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dass ‚die‘ Deutschen selbst oder einer ihrer Nachbarn dieses Deutschen-Bild erfunden hätte. Vielmehr lässt sich nachweisen, dass das Wissen über die Stärken und Schwächen der Völker im Europa der Frühen Neuzeit grenzüberschreitend verbreitet ist: Man weiß eben, in Deutschland, Frankreich, Spanien oder Italien, was den Deutschen vom Franzosen, vom Spanier oder vom Italiener unterscheidet. Was nun in den gelehrten Schriften von Renaissance und Humanismus als natura populorum oder auch als populorum ingenia aufgefasst wird, erscheint bei Zedler als „Naturell der Völcker“ – unter diesem Eintrag ist das Zitat zu finden. Geläufiger ist übrigens bis ins 20. Jahrhundert der Begriff des ‚Nationalcharakters‘.8 Gemeint ist in jedem Fall ein Konzept zur Erfassung, Beschreibung und Erklärung kultureller Differenz, das Völker als Quasi-Personen mit positiven und negativen Eigenschaften (Tugenden und Lastern) auffasst, also als natürliche Gebilde konzipiert. Anders gesagt: Mit Hilfe des Konzepts vom Nationalcharakter und der mit diesem eng verknüpften nationalen oder ethnischen Stereotype (als ‚Charakter‘-Eigenschaften eines Volkes) wird Kultur als Natur aufgefasst und festgeschrieben. Dabei kann sich das essentialistische Konzept vom Nationalcharakter, das Völker als natürliche Entitäten mit einer Art Wesenskern aus Stärken und Schwächen auffasst, auf die Klimatheorie stützen, die seit der Antike ein enges Verhältnis zwischen Sonneneinstrahlung, Luft und Körperbeschaffenheit annimmt. Demzufolge könne die Sonne im kalten Norden die Luftfeuchtigkeit nicht ausreichend absorbieren, so dass sich die Feuchtigkeit im Körper ansammle, diesen reich an Blut und Kraft und also stark mache, gleichzeitig aber zu geistiger Schwerfälligkeit führe; im heißen Süden sei es genau umgekehrt, dort seien die Menschen körperlich schwächer, aber geistig viel agiler; nur in idealer Mittellage herrschten ausgewogene Verhältnisse – so erläutert schon Vitruv in seiner im ersten Jahrhundert vor Christus verfassten und ebenfalls im 15. Jahrhundert wiederentdeckten Schrift De architectura.9 Das frühneuzeitliche Konzept vom Nationalcharakter – wir verwenden heute eher den tendenziell offeneren, weniger deterministischen, doch oft ebenso essentialistisch gemeinten Begriff der ‚Mentalität‘ – hat sich durch die Jahrhunderte übrigens als ausgesprochen anschlussfähig erwiesen, was gewiss zu seinem Erfolg beigetragen hat: Wird es in der Frühen Neuzeit zunächst noch mit der

8 Siehe hierzu den grundlegenden Aufsatz von Michael Maurer, „‚Nationalcharakter‘ in der frühen Neuzeit. Ein mentalitätsgeschichtlicher Versuch“, in: Reinhard Blomert/Helmut Kuzmics/ Annette Treibel (Hrsg.), Transformationen des Wir-Gefühls. Studien zum nationalen Habitus, Frankfurt am Main 1993, S. 45–81. 9 Siehe Vitruv, De architectura libri decem, liber sextus, I 3 f. und I 9 f.  



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Temperamenten-Lehre verknüpft, wonach die Deutschen weitgehend als Choleriker gelten,10 lässt es sich später mit den neu gewonnenen Erkenntnissen über die Nervenbahnen verbinden. So erläutert Montesquieu in De l’Esprit des Lois, dass im kalten Norden die Nerven weniger empfindlich reagierten, daher seien dort Geschmack und Feinsinnigkeit weniger ausgeprägt und die Menschen von Natur aus schwerfällig.11 Sie bevorzugten starke Reize wie Jagd und Krieg; und die sprichwörtliche Neigung zum Trunk sei nicht nur verständlich, sondern sogar medizinisch sinnvoll.12 Nur selten kommen in der Literatur Kataloge aller Zuschreibungen vor, die einen Nationalcharakter ausmachen sollen – selbstverständlich im Universal-Lexikon, auch in Rhetorikbüchern und in Poetiken, die den Autoren als Orientierungshilfen bei der Rede über oder der literarischen Gestaltung von Figuren und Raum dienen sollen und deshalb zusammenstellen, was man gemeinhin darüber weiß.13 Denn das Mimesisgebot erfordert seit Aristoteles,14 dass an das angeschlos-

10 So schreibt Zedler über die Deutschen: „Von ihren Neigungen zu gedencken, so sind sie, da sie was Cholerisches haben, treu, redlich […], daher man auch ihren Muth und Tapfferkeit herzuleiten hat, massen selbige ein Kennzeichen der Cholericorum ist.“ (Art. „Teutschland“, in: Johann Heinrich Zedler [Hrsg.], Grosses vollständiges Universal-Lexikon Aller Wissenschafften und Künste […], Bd. 43, Leipzig/Halle 1745, Sp. 274–295, hier Sp. 292.) Siehe ergänzend Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. Dritter Versuch. Leipzig/Winterthur 1777, S. 288. 11 „Les nerfs, qui aboutissent de tous côtés au tissu de notre peau, font chacun un faisceau de nerfs. Ordinairement ce n’est pas tout le nerf qui est remué, c’en est une partie infiniment petite. Dans les pays chauds, où le tissu de la peau est relâché, les bouts des nerfs sont épanouis et exposés à la plus petite action des objets les plus foibles. Dans les pays froids, le tissu de la peau est resserré, et les mamelons comprimés; les petites houppes sont, en quelque façon, paralytiques; la sensation ne passe guère au cerveau que lorsqu’elle est extrêmement forte, et qu’elle est de tout le nerf ensemble. Mais c’est d’un nombre infini de petites sensations que dépendent l’imagination, le goût, la sensibilité, la vivacité.“ ([Charles-Louis Secondat de] Montesquieu, „De l’Esprit des Lois“, in: Ders., Œuvres Complètes, Bd. 2, Roger Caillois [Hrsg.], Paris 1951, S. 225–995, Zitat S. 475 f.) 12 „Dans les pays froids, la partie aqueuse du sang s’exhale peu par la transpiration; elle reste en grande abondance. On y peut donc user des liqueurs spiritueuses, sans que le sang se coagule. On y est plein d’humeurs; les liqueurs fortes, qui donnent du mouvement au sang, y peuvent être convenables.“ (Ebd., S. 482.) 13 Schon Horaz rät dem Dichter ausdrücklich, bei der Figurenzeichnung sorgfältig zu unterscheiden, ob Gott oder Held, Greis oder Jüngling, Herrin oder Kinderfrau, Handelsherr oder Bauer vorgestellt werden, und zu berücksichtigen, ob sie oder er aus Kolchis oder Assyrien komme, in Theben oder Argos aufgewachsen sei (siehe Horaz, De arte poetica 114–118); zur Zeit der Renaissance bietet Scaliger regelrechte Merkmalslisten für die Völker der Erde (siehe Julius Caesar Scaliger, Poetices libri septem. Faksimile-Neudruck der Ausgabe Lyon 1561, Stuttgart 1964, S. 102). 14 Siehe Aristoteles, Poetik 15.  

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sen wird, was dem Leser bekannt ist, weil es nur dann wahrscheinlich wirkt. In den meisten Fällen aber erscheinen die Nationalcharakteristika in Texten, abhängig von Gattungskonvention, Kontext und Wirkungsabsicht, in sehr unterschiedlichen Kombinationen und mit je verschiedenen Wertungen – Umberto Ecos eingangs erwähnter Roman präsentiert eben ausschließlich negative Zuschreibungen des Deutschen, um die Ressentiments der Hauptfigur zum Ausdruck zu bringen. Die Anzahl der Perzeptionsmuster, die es für ein Volk gibt, ist grundsätzlich begrenzt, wird aber im Laufe der Zeit in überschaubarem Maß durchaus erweitert, sofern sich semantische Anschlussmöglichkeiten bieten: ‚Gemütlichkeit‘ passt zu deutscher Einfalt und Treuherzigkeit; Pünktlichkeit und Disziplin lassen sich mit Fleiß und Gründlichkeit vermitteln. Dasselbe gilt für deutsche ‚Tiefe‘. Nach der Kant-Rezeption um 1800 verweist sie in und außerhalb Deutschlands auf den ‚metaphysischen‘ Deutschen, der, je nachdem, unterschiedlich bewertet wird. So erscheint in Madame de Staëls berühmtem Deutschland-Buch – das als Ursprung für das Diktum von den Deutschen als Volk der Dichter und Denker gilt, doch im Kern gegen den Imperialismus Napoleons und die materialistische Philosophie in Frankreich gerichtet ist, ohne die französische Kultur schlechthin in Frage zu stellen – der ‚tiefsinnige Deutsche‘, aller Bewunderung zum Trotz, auch als ein schwerfälliger und realitätsfremder Träumer.15 So wie in der Literatur eine Auswahl aus den – intertextuell und intermedial tradierten – Stereotypen dazu dient, über Alterität zu sprechen, indem auf Stereotype zurückgegriffen wird, die über andere Völker bekannt sind (Heterostereotype), kann der Rekurs auf Muster des Eigenen (Autostereotype) der IdentitätsKonstruktion dienen. Das kann, muss aber nicht, im Fall der Alteritäts-Setzung Abgrenzung oder Abwehr bedeuten und im Fall der Identitätskonstruktion auf Identifikation abzielen. Ob das so ist, lässt sich aber nicht pauschal sagen, sondern muss jeweils durch eine eingehende Analyse der Rhetorik des Textes geprüft werden. Die „Rhetorik der Nation“16 kann nämlich höchst unterschiedliche Funktionen erfüllen. So kann eine solche Rhetorik des ‚Eigenen‘, der ‚na15 Siehe hierzu Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen, S. 794–811, und Dies., Bekannte Fremde, S. 100–105. 16 So Birgit Neumann, Die Rhetorik der Nation in britischer Literatur und anderen Medien des 18. Jahrhunderts, Trier 2009. Methodisch stützt sich Neumann in ihrer Untersuchung der Konstruktion einer „nationalen Selbstdefinition“ (S. 7) auf Joep Leerssen, „The Rhetoric of National Character: A Programmatic Survey“, in: Poetics Today 21, 2/2000, S. 267–292; siehe explizit Neumann, Die Rhetorik der Nation, S. 41–45. Dabei erweitert sie Leerssens strukturalistisch orientierten Ansatz in doppelter Hinsicht: zum einen durch eine konsequente Intermedialität, zum anderen durch eine Dynamisierung des Nationalcharakterkonzepts in kulturgeschichtlicher Perspektive, siehe dazu besonders das Kapitel „Grundzüge einer kulturhistorischen Imagologie“ in: Neumann, Die Rhetorik der Nation, S. 46–76.

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tionalen Identität‘, der „selbstaffirmativen Distinktion[…]“ dienen17 – das ist beispielsweise gegeben, wenn sich die Dichter des Göttinger Hains auf ‚echte‘ deutsche Freundschaft, Treu und Redlichkeit gegen französische Oberflächlichkeit berufen, um sich im literarischen Feld zu behaupten.18 Und sie kann selbstverständlich auf „patriotische Mobilisierung“ zielen,19 die Lyrik der Befreiungskriege ist ein einschlägiges Beispiel hierfür. So wird beispielsweise das Stereotyp ‚deutsche Ehrlichkeit‘ in Ernst Moritz Arndts Gedicht Deutscher Trost von 1813 agitatorisch umgemünzt, wenn es heißt: Deutsches Herz, verzage nicht, Thu, was dein Gewissen spricht, Dieser Stral des Himmelslichts, Thue recht, und fürchte nichts. Baue nicht auf bunten Schein, Lug und Trug ist dir zu fein, Schlecht geräth dir List und Kunst, Feinheit wird dir eitel Dunst. Doch die Treue ehrenfest Und die Liebe, die nicht läßt, Einfalt Demuth Redlichkeit Steh’n dir wohl, o Sohn vom Teut. Wohl steht dir das grade Wort, Wohl der Speer, der grade bohrt, Wohl das Schwerdt, das offen ficht Und von vorn die Brust durchsticht.20

In Literatur und Ikonographie ist es zudem nicht selten, dass eine feste Kombination von Nationalstereotypen in einer Figur personifiziert wird. Für die Deutschen ist das der deutsche Michel: gemütlich, bieder, redlich, zugleich einfältig, tölpelhaft und träge.21 Der deutsche Michel ist ein anschauliches Beispiel für die Konstruktion einer kollektiven Identität auf der Basis von Nationalstereotypen – eine

17 So, immer mit Blick auf das Korpus der englischsprachigen Literatur und Druckgraphik des 18. Jahrhunderts, Neumann, Die Rhetorik der Nation, S. 378. 18 Siehe hierzu Florack, Bekannte Fremde, S. 198–203. 19 Neumann, Die Rhetorik der Nation, S. 375. 20 Ernst Moritz Arndt, „Deutscher Trost (1813)“, in: Ders., Gedichte. Vollständige Sammlung, Berlin 1860, S. 247 f., hier S. 247. 21 Zu Konstanz und Variation des deutschen Michel vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts siehe Tomasz Szarota, Der deutsche Michel. Die Geschichte eines nationalen  

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Konstruktion, die identifikatorisch verwendet werden kann oder, wie etwa bei Heinrich Heine, als Gegenstand und Mittel der Satire fungiert. Und sie lässt sich auch noch in den Deutschland-Büchern der Gegenwart ausmachen: Die Polemik gegen die ‚sedierte‘ Fernsehnation in Roger Willemsens Deutschlandreise22 etwa schreibt die Satire auf den deutschen Michel fort. Andererseits präsentiert Stuckrad-Barre in seinem Buch Deutsches Theater ein Porträt von Manfred Krug, das den Fernsehstar als einen liebenswerten deutschen Michel zeichnet, um im Kontrast das Eigenwillige und Besondere der Person herauszustellen.23 Komplementär zum deutschen Michel hat zur Zeit des Nationalismus im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch eine andere Kunstfigur Konjunktur: Germania, deren Körperhaltung und Attribute – ebenso wie die von Hermann, dem Cherusker – Stärke, Wehrhaftigkeit, Tapferkeit und Freiheitsliebe veranschaulichen, also die traditionell kämpferischen Tugenden im deutschen Nationalcharakter, die sich auf Tacitus zurückführen lassen. So das propagierte Autostereotyp. Als Heterostereotyp gehört das Attribut des kriegerischen Deutschen in eindeutig negativer Wertung, kombiniert mit Grobheit, zum Feindbild vom Deutschen als ‚Barbaren‘ – ein Bild, das schon im 19. Jahrhundert24 und erst recht seit dem Nationalsozialismus zum festen Bestandteil antideutscher Propaganda geworden ist. Das enge Verhältnis von Nationalcharakter und Identitätskonstruktion in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert kann hier nicht ausgelotet werden. Es sei aber betont, dass geschichtlich gesehen in Deutschland der Bezug auf den Nationalcharakter und damit auf die vermeintlich kollektiven Charaktereigenschaften des Deutschen (Autostereotype) eine maßgebliche Rolle gespielt hat für die Konstruktion einer nationalen Identität – anders als etwa in Frankreich, wo zentrale politische Faktoren, wie der Hof von Versailles, die Französische Revolu-

Symbols und Autostereotyps. Aus dem Polnischen von Kordula Zentgraf-Zubrzycka, Osnabrück 1998. 22 Siehe Roger Willemsen, Deutschlandreise, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2008, S. 83 f. 23 Benjamin v. Stuckrad-Barre, Deutsches Theater, Köln 2008, S. 77–79 („Ruhestand“), hier besonders S. 79: „Das deutsche Spießertum verkörpert Krug […] mit solcher Konsequenz, dass es ihm rein gar nichts anhaben kann: Unterm Korbstuhl steht ein kleiner Gartenzwerg, Besuch wird im Unterhemd empfangen, und doch bezweifelt man keine Sekunde, gerade einem der angenehmsten, elegantesten und klügsten Bundesbürger gegenüberzusitzen. Es ist nur so: Die Welt, sie kann Manfred Krug mal […]. Mitmachen war ihm nie geheuer, er ist aus der DDR ‚abgehauen‘, ist aber auch dem Westen dann nicht auf den Leim gegangen.“ 24 Siehe hierzu etwa Michael Jeismann, Das Vaterland der Feinde. Studien zum nationalen Feindbegriff und Selbstverständnis in Deutschland und Frankreich 1792–1918, Stuttgart 1992, S. 207–234 u. S. 339–373.  

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tion oder Napoleon der Identitätsstiftung gedient haben.25 Seit Jahn wird mit der Rede vom ‚deutschen Volkstum‘ eine kollektive Identität behauptet, die in der Rede von ‚deutschem Wesen‘, ‚deutschem Geist‘, gar ‚deutscher Seele‘ fortlebt.26 Und Zuschreibungen aus dem tradierten Repertoire von Stereotypen des Deutschen, wie Tiefe, Gemüt oder Innerlichkeit, dienen bereits um 1900 dazu, in der Polemik gegen die angeblich seelenlose, modernistisch-westliche ‚Zivilisation‘ ‚Kultur‘ als Kampfbegriff inhaltlich zu profilieren; Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen gehören in dieses Umfeld.27 Freilich sind mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs die ‚heldischen‘ deutschen Tugenden Tapferkeit, Mut und Disziplin diskreditiert, und selbst Zuschreibungen wie Fleiß, Gründlichkeit und Treue sind infolge der ideologischen Vereinnahmung durch die Nationalsozialisten ins Zwielicht geraten, so dass das Nationalcharakterkonzept und Autostereotype in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts kaum mehr zur Identitätsstiftung taugen. Dies gilt erst recht seit der konstruktivistischen Erkenntnis der Geschichtswissenschaft, dass Nationen, mit Benedict Anderson zu sprechen, imagined communities sind; ein Konstrukt hat keinen Charakter.28 Mit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung gibt es inzwischen zudem ein zentrales Ereignis, das in der Tat für alle Deutschen – richtiger: für alle in Deutschland Lebenden – gleichermaßen relevant ist und sich für eine „Rhetorik der Nation“ anbietet – eben dies ist der Kontext, in den sich die Deutschland-Reisebücher der Gegenwart einschreiben. Es bleibt im Einzelfall zu prüfen, inwiefern diese unter Rückgriff auf tradierte Stereotype, auf das Konzept vom Nationalcharakter oder auf prägnante geschichtliche Ereignisse eine nationale Identität thematisieren, beschwören oder dekonstruieren. Da Stereotype nicht nur allgemein bekannt sind, sondern auch wahrnehmungsresistent, weder verifizierbar noch falsifizierbar, außerdem unmittelbar evident und anschaulich, sind sie geeignet, einen Text an das Alltagswissen seiner Leser anzuschließen. In dem Bestseller Die deutsche Seele etwa bilden die überkommenen Stereotype des Deutschen das Gerüst für ein Potpourri subjekti-

25 Siehe Ruth Florack, „Nationenstereotype und die Konstruktion nationaler Identität: Deutschland und Frankreich im historischen Vergleich“, in: Frankreich-Jahrbuch 2000, S. 93–106. 26 Siehe hierzu auch Christian Jansen, „‚Deutsches Wesen‘, ‚deutsche Seele‘, ‚deutscher Geist‘. Der Volkscharakter als nationales Identifikationsmuster im Gelehrtenmilieu“, in: Blomert/Kuzmics/Treibel (Hrsg.), Transformationen des Wir-Gefühls, S. 199–278. 27 Siehe Georg Bollenbeck, „Warum der Begriff ‚Kultur‘ um 1900 reformulierungsbedürftig wird“, in: Christoph König/Eberhard Lämmert (Hrsg.), Konkurrenten in der Fakultät. Kultur, Wissen und Universität um 1900, Frankfurt am Main 1999, S. 17–27, sowie Ders., Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt am Main 1996, S. 225–288. 28 Siehe Benedict Anderson, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, London 1983.

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ver Einzelbetrachtungen der Autoren Thea Dorn und Richard Wagner – unter anderem zu „Abgrund“ und „Arbeitswut“, zu „Gemütlichkeit“, „Ordnungsliebe“, „Sehnsucht“ und „Spießbürger“, zu „Das Unheimliche“, „Waldeinsamkeit“, „Wanderlust“, „Wurst“ und „Zerrissenheit“.29 Die recht beliebige Auswahl aus unterschiedlichsten – irgendwo in Deutschland oder auch andernorts vorkommenden – kulturellen Phänomenen wird verklammert durch die Metapher „Die deutsche Seele“, die für das ‚Wesen‘ einer Kultur (im Singular) stehen soll, deren Homogenität eben durch die verbindende Zuschreibung ‚typisch deutsch‘ behauptet wird. Durch eine Fülle von Versatzstücken aus Bildungsgut stilisieren sich die Verfasser zu wissenden Sehern; ihr Gestus hat unverkennbar romantische Züge: „Sehnsucht“ ist das Schlüsselwort ihrer Adresse an die Leser, die sie zur „Wanderschaft“ einladen – und damit zur Abkehr von den unsensiblen Zeitgenossen, von der nüchternen Kälte der Geschichtsversessenen und von der primitiven Dumpfheit der Geschichtsvergessenen: Wir machen uns keine Sorgen, dass Deutschland sich abschafft. Wir sehen nur, dass es sich herunterwirtschaftet. Sein Gedächtnis verliert. Die einen haben die deutsche Scham, die keiner ablegen kann, der diesem Land entstammt, zum Schuldpanzer verhärtet, hinter dem sie sich verschanzen. Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind ihnen weniger Schmach und Schmerz als der Beweis, dass alles Deutsche mit der Wurzel ausgerissen gehört. Die anderen tummeln sich in dem Kahlschlag, den die wohlmeinenden Nashörner angerichtet haben. Ihnen fehlt nichts, solange der Fernseher läuft und im Kühlschrank genügend Bier steht. Und dennoch spüren wir ein wachsendes Deutschlandsehnen.30

Nicht nur auf der Makroebene der Textauswahl und -zusammenstellung, sondern auch auf der Mikroebene der einzelnen Artikel von Die deutsche Seele spielen Stereotype eine wesentliche Rolle: So steht beispielsweise der erste Artikel, „Abendbrot“, ganz unter dem Vorzeichen der bekannten ‚deutschen‘ Einfachheit bzw. Ungekünsteltheit und belebt mit seinem Lob des Butterbrots eine Dichotomie zwischen deutscher Vorliebe für „Schlichtes“ und französischer Dekadenz,31 die seit der deutschen Frühaufklärung geradezu topisch ist. Freilich ist Die deutsche Seele im eigentlichen Sinn kein Reisebuch, aber das Bilder- und Lesebuch stellt unverhüllt ein Verfahren aus, das sich, versteckter, auch in dem einen oder anderen Reisebericht findet: Eklektische Eindrücke eines wahrnehmenden Ichs werden mittels Stereotypen mit Bedeutung aufgeladen, indem sie auf Besonderheiten einer ganzen Kultur verweisen sollen. Der An-

29 Thea Dorn/Richard Wagner, Die deutsche Seele, 7. Aufl., München 2011, S. 5 („Inhalt“). 30 Ebd., S. 7 f. 31 Siehe ebd., S. 9–11, hier S. 11.  

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schluss an das, was jedermann weiß, scheint der Anekdote den Rang einer allgemeingültigen Aussage zu verleihen. So weist beispielsweise Roger Willemsen zu Beginn seiner Deutschlandreise Stereotype zwar ausdrücklich zurück zugunsten einer vermeintlich unvoreingenommenen Beobachtung: Vergessen seien die Vorstellungen und Einbildungen, vergessen die böse und spießige, die sentimentale und gründliche, die brütende und metaphysische Nation! Deutschland ist alles, was zwischen neun Landesgrenzen die Netzhaut belichtet. Wer braucht mehr?32

Und doch erhebt er nicht selten eine beliebige Einzelbeobachtung durch ein Stereotyp in den Rang des Repräsentativen. Beispielsweise wird das Muster vom autoritären Deutschen aufgerufen, wenn es heißt: Stundenlang am Zugfenster. Die Landschaft ist freundlich, von ihr gehen keine Appelle aus, keine Befehle. Kaum wendet man den Blick zurück ins Abteil, treffen die Imperative ein. Wird eigentlich in anderen Ländern auch so viel befohlen? Ich soll Drogen keine Macht einräumen, soll Aids keine Chance geben, mein Freund soll Ausländer sein oder ein Ausländer mein Freund […].33

Oder das Stereotyp vom träumerischen Deutschen wird beschworen, um, ohne jede Rücksicht auf die politischen Gegebenheiten, einen subjektiven Kommentar zur Verlagerung der Hauptstadt von Bonn nach Berlin als kompetente Diagnose einer kollektiven Mentalität auszugeben: Solches Sehnen, geboren in der Realität deutscher Großstädte, ist romantisch: Der Deutsche will sich wieder mal selbst loswerden und in Berlin sein besseres Alter Ego adoptieren. Zieh um, und du wirst mediterran, denkt er und hofft auf Erlösung.34

Aufschlussreich für die Analyse ist es, darauf zu achten, wie ein Text das beobachtende Ich als Autorität profiliert. In den beiden genannten Fällen, Die deutsche Seele und Deutschlandreise, gibt dieses Ich sich gebildet-kulturkritisch. Es ist gewiss lohnend, in solchen Deutschland-Büchern das Verhältnis zwischen der Ich-Konstitution und dem, was jeweils als ‚Deutschland‘ bezeichnet wird, genau zu untersuchen. Zum Thema „Literarische Deutschlandreisen nach 1989“ kann der Blick auf Stereotype des Deutschen insofern beitragen, als diese auf ganz unterschiedlichen Ebenen auch heute noch in Texten vorkommen, in denen es explizit um Deutschland und seine Bewohner geht. Man sollte sie also kennen. Als Kernele-

32 Willemsen, Deutschlandreise, S. 6. 33 Ebd., S. 18. 34 Ebd., S. 38.

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mente einer „Rhetorik der Nation“ haben sie, geschichtlich gesehen, zur Konstruktion einer deutschen Identität gedient. Das heißt aber nicht, dass ihr Vorkommen in Literatur automatisch auf diese Funktion schließen lässt. Vielmehr sind Stereotype grundsätzlich polyfunktional – nicht zuletzt dadurch sind sie nützlich, ja unvermeidlich: Für gewöhnlich werden Stereotype als sozialisatorisch erworbene und zumeist massenmedial verbreitete, gleichförmige, starre, reduktionistisch übergeneralisierende Schemata […] mit hohem Wiedererkennungswert aufgefaßt. Ihre Hauptfunktionen werden darin gesehen, daß sie Wahrnehmung vorprägen, Orientierung bieten, Komplexität ökonomisch verkürzen, soziale Identität und Kohäsion stiften bzw. Identifikation erheischen und ein bestimmtes Handeln bzw. Verhalten in sozialen Interaktionen (darunter auch soziale Diskriminierung) erleichtern und rechtfertigen.35

Ist das Stereotyp zugleich „kognitive Kategorie“ und „semiotische Realisierungsform“,36 so ist aus literaturwissenschaftlicher Sicht festzuhalten, dass sein bloßes Vorhandensein in einem Text noch keinen unmittelbaren Rückschluss auf Kognitionen oder Einstellungen, sei es des Autors, sei es einer Rezeptionsgemeinschaft, zulässt. In der Tat ist ‚Stereotypenbildung‘ […] ein Problem der Mentalitätsgeschichte, der Erkenntnistheorie und der Psychologie; ihre Erforschung ist kein genuines Problem der Literaturwissenschaft, das sie mit ihren traditionellen Mitteln der Textanalyse oder der literarhistorischen Reihenbildung lösen kann.37

Weil aber die Literatur – ebenso wie Presse und Film – ethnische und andere Stereotype fort- und festschreibt,38 ist es wichtig, ihre Tradition zu kennen und sie 35 Reisigl, „Stereotyp“ [I], S. 231. 36 Ebd., S. 231 f. 37 So, mit kritischem Blick auf komparatistische Imagologie und Interkulturelle Germanistik, Peter J. Brenner, „Die Lügen der Dichter und die Illusionen der Literaturwissenschaft. Probleme und Funktionen literaturwissenschaftlicher Stereotypenforschung“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 42,1/1995, S. 11–15, hier S. 13. 38 Zu Recht unterstreicht Daniel Fulda das „Potential“ des Begriffs ‚Stereotyp‘ für die literaturwissenschaftliche Arbeit: „Er fokussiert eine lebensweltliche Bindung, die literarischen Texten unbeschadet ihrer Fiktionalität und relativen Autonomie eignet, genauer: ihre Abhängigkeit von den Stereotypen ihrer Zeit, Kultur und Produzenten- oder Rezipientenschicht bzw. ihren Beitrag dazu. […] Derartig den sozialen Kontext in den Blick zu nehmen muss wiederum nicht heißen, das spezifisch Literarische aus den Augen zu verlieren. Denn auch Strukturen der Literatur können stereotyp, d.h. von Wiederholungen und Klischeehaftigkeit geprägt sein […]: in solchen Fällen stellt Stereotypie […] ein formrelevantes Konstituens literarischer Texte dar.“ (Daniel Fulda: „‚Wiedererkennen von Bekanntem‘. Literarische und soziale Stereotype in der frühneuzeitlichen Komödie“, in: Mirosława Czarnecka/Thomas Borgstedt/Tomasz Jabłecki [Hrsg.], Frühneuzeitliche Stereotype. Zur Produktivität und Restriktivität sozialer Vorstellungsmuster […], Bern u.a. 2010,  

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Ruth Florack

auf ihre jeweilige Funktion im Text zu befragen, vorausgesetzt, man begeht nicht die Fehler, Literatur auf Meinungsäußerung zu reduzieren, Textsorte und Gattungskonvention außer Acht zu lassen oder von den unterschiedlichen Ebenen, auf denen Stereotype in der Literatur erscheinen können – sei es bei der Figurenkonzeption, der Figurenrede, dem Erzählerkommentar, der Raumgestaltung usw. –, abzusehen. Wenn Literatur mittels Stereotypen auf das Land bzw. die Kultur verweist, die dem Leser als ‚Eigenes‘ vertraut ist, dient dies möglicherweise der „kulturellen Orientierungs- und Normalitätsbildung“,39 kann aber auch schlicht ein Mittel zur Unterhaltung sein. So zum Beispiel in Daniel Kehlmanns Roman Die Vermessung der Welt. Dort ist Alexander von Humboldt ein bis zur Humorlosigkeit ernster, arbeitswütiger und disziplinierter Wissenschaftler, ‚typisch‘ deutsch eben – zumindest in der Sicht seines französischen Begleiters, dessen Entdeckerfreude sich auch auf amouröse Abenteuer erstreckt, er ist nun einmal ein ‚echter‘ Franzose. Dass ironischerweise die Ausnahmepersönlichkeit Humboldt als ein typischer Deutscher erscheint, gehört zur Komik von Kehlmanns Text. Man wird bei der Analyse von Reiseberichten, die plakativ ‚deutsch‘ oder ‚Deutschland‘ im Titel führen, darauf achten, ob und welche Stereotype des Deutschen in welcher Kombination in ihnen vorkommen und welche Funktion ihnen zukommt. Dabei ist vor allem zu prüfen, inwieweit sie zur Konstruktion einer deutschen Identität oder mindestens zur Thematisierung einer deutschen Kultur (im Singular) dienen, sei es in positiver oder in negativer Wertung. Zudem ist nach der Verbindung von personenbezogenen Topoi, wie sie Stereotype vorstellen, mit solchen des Raumes und der Zeit zu fragen: Es gibt Orte in Deutschland, wie den Rhein oder den Harz, Berlin oder Dresden, die durch ihre Darstellung in Wort- und Bildmedien für den heutigen Rezipienten mit Konnotationen verknüpft sind, die ein Reisebericht aufrufen kann (oder auch nicht). Und zu solchen möglichen Verknüpfungen – rhetorisch gesehen handelt es sich um metonymische Beziehungen, etwa wenn von Dresden die Rede ist und die Bombardierung gemeint ist – gehören auf der Zeitebene Ereignisse, die für die zeitgenössischen Leser durch Geschichtsschreibung und/oder Medienberichterstattung mit einzelnen Orten verbunden sind.

S. 169–184, hier S. 171 f.) Mit dem Anspruch, zu untersuchen, „wie sich beides – intern-literarische und extern-soziale Stereotypie – aufeinander beziehen kann“ (S. 172), formuliert Fulda ein vielversprechendes Forschungsprogramm, das über die Untersuchung der frühneuzeitlichen Komödie deutlich hinausweist. 39 So die Bestimmung der „kognitiven Funktionen der Rhetorik der Nation“ bei Neumann, Die Rhetorik der Nation, S. 366.  

Stereotyp ‚deutsch‘

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Es gilt also, das Netz der Topoi aus Nationalstereotypen des Deutschen sowie Orten, die durch Geschichte, Mythos oder Literatur mit Bedeutung aufgeladen sind, zu erkennen, das einen Text strukturiert. Dass sie vorkommen, verrät noch nichts über die Qualität oder Bedeutung eines Textes, entscheidend ist vielmehr, wie und zu welchem Zweck sie eingesetzt sind. Wer die Deutschland-Reiseliteratur der letzten Jahre auf die Aspekte ‚Eigenwahrnehmung‘ und ‚(nationale) Identitätssuche‘ hin analysiert, wird vielleicht feststellen, dass die bekannten Autostereotype manchmal so inszeniert werden, dass es weniger um die Konstruktion als vielmehr um eine De-Konstruktion nationaler Identität geht. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die Reisebücher mit Hilfe dieser Topoi möglicherweise eine ganz andere Art von Identität modellieren: Das ‚Selbst‘, das sich in den Texten ‚spiegelt‘, ist immer ein Ich, nie ein Land oder eine Kultur – obwohl die Stereotype, mit denen es hantiert, eben dies suggerieren mögen.

Christopher Meid, Oxford

Heimat. Zur Darstellung eines Sehnsuchtsorts I. Renaissance der Heimat In seinem Erinnerungsbuch Ortgespräch (2006) hebt der 1971 geborene Autor Florian Illies hervor, dass der emotionale, affektive Bezug zur Heimat in Deutschland mittlerweile wieder salonfähig geworden sei: „Heimatgefühl war lange verboten, höchstens das Grundgesetz durfte man lieben, sein Auto oder seine Frau.“1 Illies’ Polemik, die ebenso offen lässt, weshalb der Heimatbegriff lange problematisch war, wie sie verschweigt, wer denn überhaupt das Heimatgefühl verboten habe, ist in erster Linie als Symptom von Interesse: Tatsächlich ist für eine ganze Reihe von Autoren der Gegenwart ebenso wie für Illies die Heimat ein Gegenstand ungebrochener Zuneigung, ein unhinterfragter Bezugspunkt. Der Klappentext bringt die Essenz von Illies’ Kleinstadtgeschichten auf den Punkt. Es handele sich dabei um „[e]ine Reise in die Heimat, von der wir nicht aufhören können zu träumen.“ Wie selbstverständlich wird hier erklärt, Heimat sei zwangsläufig der Sehnsuchtsort schlechthin. Ein Blick auf andere Ausformungen des zeitgenössischen Heimatdiskurses scheint dieser simplen, an dieser Stelle nicht problematisierten Setzung Recht zu geben: „Heimat ist en vogue.“2 In der Populärkultur der Bundesrepublik war Heimat stets präsent. Tatsächlich ist der Weg von den Bildwelten der Heimatfilme Der Förster vom Silberwald, Schwarzwaldmädel oder Die Fischerin vom Bodensee, von der gemachten Volkstümlichkeit eines Florian Silbereisen zu der Apotheose einer heilen Heimat bei Florian Illies nicht so weit, wie er zunächst scheinen mag. Die gegenwärtigen literarischen Auseinandersetzungen mit Heimat sind vielfach von nostalgischen und idyllisierenden Tendenzen geprägt. Ähnliches gilt auch für neuere philosophische Aneignungen, die den Begriff emphatisch aufladen.3 Ein Blick auf einschlägige Veröffentlichungen der letzten 20 Jahre bringt eine erstaunliche Zahl von Texten ans Licht, die den bezeichnenden Titel oder Unter-

1 Florian Illies, Ortsgespräch [2006], München 2008, S. 25. 2 Hans-Michael Körner, „Heimat – Klischee, Mythos, Provokation“, in: Katharina Weigand (Hrsg.), Heimat. Konstanten und Wandel im 19./20. Jahrhundert, München 1997 (Alpines Museum des Deutschen Alpenvereins – Schriftenreihe; 2), S. 17–30, Zitat S. 17. – Vgl. auch Dirk Kubjuweit, ‚Mein Herz hüpft‘, in: Der Spiegel 15/2012, S. 60–69. 3 Vgl. etwa Christoph Türcke, Heimat. Eine Rehabilitierung, Springe 2006.

Heimat. Zur Darstellung eines Sehnsuchtsorts

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titel „Heimatkunde“ tragen – einen aus den Sozialwissenschaften entlehnten Begriff, der dort aber mittlerweile durchaus kritisch gesehen wird.4 Darüber hinaus drängen sich Assoziationen zu dem gleichnamigen Schulfach auf.5 Zumeist handelt es sich bei diesen Texten um stark autobiographisch gefärbte Erinnerungsbücher, die einen nostalgischen Blick auf eine vermeintlich heile, in jedem Fall aber überschaubare Gegenwelt richten.6 Andreas Maier, der profilierteste dieser Autoren, problematisiert den Heimatbezug, der sein literarisches Werk prägt: „Neulich fragte mich jemand, ob ich ein Heimatdichter sei. Es war in Karlsruhe bei einer Lesung.“7 Bezeichnenderweise bejaht er diese Frage. Die Etikettierung als Heimatdichter löst wahre Glücksgefühle aus: „In Karlsruhe sagte ich auf die Frage, ob ich Heimatdichter sei, ja. Und war für einen Moment plötzlich sehr glücklich.“8 Das Glück besteht darin, dass die vermeintlich abwertende Zuschreibung nun angenommen, akzeptiert werden kann, zwar ironisch, aber dennoch zufrieden. Diese Existenzform ist positiv besetzt; alles andere als ein gelassenes Bekenntnis zu einer neuen Art von Heimatliteratur wäre für Maier befremdlich.9 Unabhängig von dem dargestellten Reiseziel stellt gerade die Reiseliteratur seit jeher die Frage nach dem Wesen und der Bedeutung von Heimat. Kaum ein Text über fremde Länder bezieht sich nicht zumindest implizit auf die Heimat des Reisenden, die von externen Standpunkten aus in einem anderen Licht erscheint. Bei Texten über das eigene Land verstärkt sich diese Tendenz zwangsläufig. Vermeintlich fehlt die Distanz; folglich lassen sich vielfach Versuche der Verfremdung feststellen, ohne die Heimat kaum beschreibbar wäre. Heimat ist in diesem Zusammenhang nicht zwangsläufig mit Deutschland gleichzusetzen. Die Reise in und durch Deutschland bringt gerade (inszenierte) Fremdheitserfahrungen mit sich, die oftmals umso stärker ausfallen, weil sie unerwartet erfolgen.10

4 Vgl. Margarete Götz (Hrsg.), Zwischen Sachbildung und Gesinnungsbildung. Historische Studien zum heimatkundlichen Unterricht, Bad Heilbrunn 2003. 5 Vgl. den Beitrag von Jan Gerstner in diesem Band. 6 Hans-Ulrich Treichel, Heimatkunde oder Alles ist heiter und edel. Besichtigungen, Frankfurt am Main 1996; Andreas Maier, Onkel J. Heimatkunde, Berlin 2010; Tobias Zick, Heimatkunde. Zu Fuß und allein durch die Provinz, Freiburg i.Br. 2005; Peter Richter, Blühende Landschaften. Eine Heimatkunde [2004], München 2005. 7 Maier, Onkel J., S. 75. 8 Ebd., S. 78. 9 Eine Aufwertung des Heimatbegriffs lässt sich bereits seit den 1970er Jahren beobachten. Vgl. Jürgen Bolten, „Heimat im Aufwind. Anmerkungen zur Sozialgeschichte eines Bedeutungswandels“, in: Hans-Georg Pott (Hrsg.), Literatur und Provinz. Das Konzept ‚Heimat‘ in der neueren Literatur, Paderborn 1986, S. 23–38, bes. S. 31 f. 10 Vgl. den Beitrag von Leslie Brückner in diesem Band.  

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Zugleich artikulieren die Reisetexte oftmals das (teilweise forcierte) Bedürfnis, sich der Heimat zu vergewissern. Heimat ist das Ziel einer Suche, dient zugleich als Gegenstand affektiver Bewertung und Kategorie distanzierter Reflexion. Die Reise wird vielfach zum Versuch, in die verlorene Heimat zurückzukehren.11 Autoren wie Tobias Zick, Roger Willemsen und Wolfgang Büscher thematisieren dieses Verhältnis zwischen Heimat und Reise auf denkbar unterschiedliche Weise. Während der Journalist Tobias Zick in seinem Reisebericht Heimatkunde (2002) seine Fußwanderung in den Ort seiner Kindheit als Wallfahrt zu einer kaum problematisierten Heimat darstellt, reflektiert Roger Willemsen in seiner Deutschlandreise (2002) den vieldeutigen Begriff und diskutiert unterschiedliche Heimatkonzepte. Beide Autoren werden von der Frage umgetrieben, wie sie Heimat erfahren können; ihre Reiseberichte erzählen von dieser teilweise geradezu metaphysisch aufgeladenen Suche, die in Affirmation auf der einen und ironischer Distanzierung auf der anderen Seite gipfelt. Wolfgang Büscher hingegen begreift in Deutschland, eine Reise (2005) Heimat als anthropologische notwendige Konstante, als Raum der Geborgenheit und Abgrenzung gegenüber (rational kaum fasslichen) Bedrohungen. Ausgehend von dieser deutlich erkennbaren Vielfalt ist danach zu fragen, welche Modelle der Heimatsuche und Heimaterfahrung die Texte entfalten. In welchen Kontexten bewegen sich die Autoren? Wie verhält sich die Kategorie der Heimat zu der der Nation? Liegt in der Heimatseligkeit ein Gegenbild zu nationalistischen Meistererzählungen oder stellt das Beharren auf provinziellen Mikrokosmoi nicht gerade eine Flucht vor den komplexen Herausforderungen einer alles andere als harmonischen Gegenwart dar?

II. Begriffliche Vorüberlegungen Spricht man über Heimat, ist eine grundsätzliche Schwierigkeit nicht zu leugnen: Die einschlägige Forschungsliteratur aller Disziplinen betont, der Begriff Heimat sei wie kaum ein anderer „von Unschärfe oder Mehrdeutigkeit ge-

11 Vgl. Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010 (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe XII, Bd. 2), S. 19: „Das Eigene und im traditionelleren Sinne die Vorstellung von Heimat ist dementsprechend das, wohin das Subjekt zurückkehrt. Vorausgesetzt, dass es etwas gibt, zu dem zurückgekehrt werden kann, bedeutet Heimat die Zuversicht und Möglichkeit des Rückgriffs auf nicht-beliebige, vertraute Strukturen.“

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prägt“.12 Die Linguistin Andrea Bastian listet in ihrer Dissertation eine Vielzahl von Begriffsverwendungen auf, die historisch oder kontextuell geprägt sind: Die Bandbreite reicht vom „Heimat-Begriff im Alltagsbereich“ bis zum „Heimat-Begriff im funktional-zweckhaften Bereich der Naturwissenschaft“; Heideggers Begriffsverwendung findet ebenso Beachtung wie die des Alten Testaments.13 Angesichts dieses definitorischen Überangebots ist es schon allein aus heuristischen Gründen notwendig, die zentralen Aspekte des vielschichtigen Begriffs zu diskutieren. Einige Punkte sind essentiell für das Verständnis: Heimat besitzt einerseits eine klar umrissene geographische, andererseits eine emotionale Bedeutung. Diese wiederum setzt zwar einen tatsächlich vorhandenen Ort als Bezugspunkt voraus, der aber primär in der Erinnerung existieren kann, zum Topos im rhetorischen Sinn wird. Die Parameter von Raum, Zeit und Identität bieten sich als Deutungskategorien an, um dem Phänomen beizukommen:14 Wesentlich ist die Beziehung eines Ortes zu einem Individuum oder einer Gruppe von Individuen. Diese Begrenzung bringt mit sich, dass Heimat zugleich als eine Kategorie der Abgrenzung gebraucht wird. An diese Gedankenfigur schließen die meisten literarischen Verarbeitungen an, die Heimat als ein zentrales Gegenbild zu der Erfahrung einer als bedrohlich wahrgenommenen Moderne gestalten – man denke nur an die Heimatkunstbewegung der Jahrhundertwende,15 aber auch an die unzähligen Heftromane, die ein harmonisierendes Bild von ländlichen Idyllen entwerfen. Diese werden offensichtlich auch von denjenigen als Heimat rezipiert, die nicht aus Tirol, dem Allgäu oder den Alpen stammen. Trotz dieses Identifikationsangebots ist Heimat ein Begriff der Abgrenzung, eben weil er in der Regel den Fremden von dieser Erfahrung ausschließt, wenn sie die mediale Inszenierung übersteigt. Diese Beobachtung kann erklären, weshalb Heimatvorstellungen neuen Auftrieb erleben: Sie lassen sich als offensichtliche Gegenbewegung zu Industrialisierung und Globalisierung verstehen und werden

12 Gunther Gebhard/Oliver Geisler/Steffen Schröter, „Heimatdenken. Konjunkturen und Konturen. Statt einer Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Heimat. Konturen und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007, S. 9–56, hier S. 9. 13 Vgl. Andrea Bastian, Der Heimat-Begriff in den Funktionsbereichen der deutschen Sprache. Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte, Tübingen 1995 (Reihe Germanistische Linguistik; 159). – Vgl. auch Peter Blickle, Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland, Rochester 2002 (Studies in German Literature, Linguistics, and Culture). 14 Vgl. Gebhard/Geisler/Schröter, „Heimatdenken“, S. 10: „Raum, Zeit und Identität drängen sich angesichts der Deutungsgeschichte von Heimat als Vokabeln auf, die Dimensionen angeben, welche sich durch die verschiedensten Heimatkonzeptionen durchziehen und an die sich verschiedene Bestimmungen anlagern.“ 15 Vgl. Karlheinz Rossbacher, Heimatkunstbewegung und Heimatroman. Zu einer Literatursoziologie der Jahrhundertwende, Stuttgart 1975 (Literaturwissenschaft – Gesellschaftswissenschaft; 13).

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entsprechend instrumentalisiert. So beklagt Juli Zeh in direktem (aber nicht markierten) Anschluss an Georg Lukács, der Mensch sehne sich „nach einem Asyl für seine transzendentale Obdachlosigkeit, nach einem Hauptwohnsitz für die Seele“.16 Dies sei für die kompensatorische Gegenbewegung ursächlich. Zehs impliziter Bezug auf Lukács belegt, dass die Diskussionen um Heimat und Heimatlosigkeit, um das, was Heimat sei und leisten könne, literarischen und kulturellen Mustern folgen und vielfach einen konventionalisierten Diskurs fortschreiben. Die Reiseberichte der Gegenwartsliteratur knüpfen an tradierte antimoderne Reflexe an: Nach wie vor gilt die Reise bzw. die Literarisierung individueller Reiseerfahrungen als Möglichkeit, Gegenbilder zu einer verstörenden Welterfahrung zu entwerfen. Auch die Reise selbst folgt bestimmten kulturell formierten Leitvorstellungen und Diskursen, die reisend und schreibend nachvollzogen werden.17 Im Fall Deutschlands erleben diese literarischen Gestaltungen von Heimatsuche nach der Wiedervereinigung einen neuen Auftrieb. Es scheint, als habe die Wende dieses Bedürfnis zusätzlich stimuliert, ja überhaupt erst akzeptabel gemacht. Vor diesem Hintergrund erstaunt es zunächst, dass der Heimatbegriff so gut wie nie national konnotiert erscheint. Dies ist umso bemerkenswerter, da es sich bei Heimat um einen kontaminierten Begriff handelt. Erinnert sei hier nur an die ideologische Vereinnahmung in der nationalsozialistischen Ideologie und an die Verbindung völkischer Diskurse mit dem Heimatbegriff. Auch in der Debattenkultur der jungen Bundesrepublik ist von einem hohen Ideologisierungsgrad auszugehen: Der Heimatverlust ist eine wesentliche deutsche Opfergeschichte, die die öffentliche Wahrnehmung prägte. Zugleich gewann Heimat dadurch den Beigeschmack des Anrüchigen, Ewiggestrigen und letztlich Revanchistischen.18 16 Juli Zeh, „Wohnsitz für die Seele“, in: StadtAnsichten. Das Magazin der Autostadt 14/2005, S. 52–54, hier S. 53. – Das Zitat im Zusammenhang: „Der Mensch will mehr als einen Geburtsort mit einer Postanschrift. Er sehnt sich nach einem Asyl für seine transzendentale Obdachlosigkeit, nach einem Hauptwohnsitz für die Seele, also nach jenem komplizierten Geflecht, das den inneren Menschen mit seiner äußeren Existenz verbindet.“ – Vgl. Georg Lukács, Die Theorie des Romans, Darmstadt/Neuwied 1965, S. 59. 17 Vgl. Manfred Pfister, „Intertextuelles Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext“, in: Herbert Foltinek u.a. (Hrsg.), Tales and „their telling difference“. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel, Heidelberg 1993, S. 109–132; Ders., „Autopsie und intertextuelle Spurensuche. Der Reisebericht und seine Vor-Schriften“, in: Gisela Ecker/ Susanne Röhl (Hrsg.), In Spuren Reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur, Berlin 2006 (Reiseliteratur und Kulturanthropologie; 6), S. 11–30. 18 Vgl. zu diesen nach wie vor anzutreffenden Tendenzen Anna Duus/Bernhard Dörries, Zerstörte Heimat – das Egerland heute… Eine Dokumentation in Wort und Bild. Was sie aus unserer Heimat gemacht haben, Heimatkreis Mies-Pilsen e.V., Dinkelsbühl (Hrsg.), Dinkelsbühl 2000, etwa S. 36: „Das ehemals wunderschöne Schloss zu Mariafels (Slavice) ist inzwischen fest in der Hand der Zigeuner, die nach allen Kräften versuchen, daraus in Bälde eine Ruine zu machen.“

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Für die Autoren der jüngeren Generation sind diese Debatten offensichtlich historisch geworden, auch wenn das Bewusstsein dieser Problematik nach wie vor vorhanden ist, wie Florian Illies’ oben zitierte Sentenz nahelegt. Illies’ Wendung ist von dem (abgeschwächten) Gestus eines bewussten Tabubruchs geprägt. Dies deutet an, dass es sich bei dem geradezu ubiquitär anzutreffenden Heimatbewusstsein noch immer um einen prekären Sachverhalt handelt. Der Kontrast zu Ralf Giordano, der Deutschland dezidiert als „schwierige Heimat“19 fasst, ist nicht zu übersehen. Man kann dies als wohltuendes Signal der Entspannung begreifen,20 darf allerdings nicht die latent verharmlosenden Tendenzen der neuen Heimatseligkeit übersehen. Giordano unterscheidet sich von den vielleicht allzu harmonisierenden Entwürfen der jüngeren Generation, deren Rückzug auf individuelle Vergangenheiten auch als Flucht gelesen werden kann – als Flucht vor der bedrohlichen deutschen Geschichte, aber auch als Flucht aus der modernen Großstadt in eine Welt voll Geborgenheit und Wärme.21

III. „Ich gehe zurück nach Hause.“ Heimat als verlorener Ort kindlicher Geborgenheit Eine der möglichen konsensfähigen Definitionen fasst Heimat als Herkunftsort, als „die Region der eigenen Kindheit.“22 Diesen Raum kann man als geographischen Punkt auf der Landkarte bestimmen und auch abschreiten. Der Ort ist aber noch nicht Heimat. Zu ihr gehört notwendig die Imagination. Die räumliche und zeitliche Bestimmung des Wortes Heimat überschreitet das Faktische. Es zeichnet sich geradezu dadurch aus, dass es das Faktische als solches nicht akzeptiert und das Bestimmte stets in Unbestimmtes der Vorstellungen übersetzt.23

Vgl. ebd., S. 51: „Die jetzigen Umwohner laden im Kirchenraum ihren Unrat ab. Es sind kulturund respektlose Menschen, denen jeglicher Aufbauwille fehlt.“ Selbstverständlich steht dieses extreme Beispiel einer NS-affinen Hetze nicht für die Gesamtheit der Vertriebenenverbände. 19 Ralph Giordano, Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat, Köln 1998. – Vgl. den Beitrag von Christine Rühling in diesem Band. 20 Vgl. den Beitrag von Peter J. Brenner in diesem Band. 21 Vgl. auch Jean Améry, „Wieviel Heimat braucht der Mensch?“, in: Ders., Jenseits von Schuld und Sühne, Gerhard Scheit (Hrsg.), Stuttgart 2002 (Werke, hrsg. von Irene Heidelberger-Leonard, Bd. 2), S. 86–117. Für den verfolgten und exilierten deutsch-jüdischen Autor hat der Begriff eine besondere Bedeutung, ist er doch zwangsläufig mit dem Land der Täter verbunden. 22 Bernd Hüppauf, „Heimat – Die Wiederkehr eines verpönten Wortes. Ein Populärmythos im Zeitalter der Globalisierung“, in: Gebhard u.a. (Hrsg.), Heimat, S. 109–140, hier S. 112. 23 Ebd.

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Sowohl Tobias Zick als auch Roger Willemsen verstehen Heimat zumindest teilweise in diesem Sinn. Während Willemsen die Möglichkeit von Heimat auf einer vergleichsweise abstrakten Ebene diskutiert, schildert der 1977 geborene Tobias Zick in seinem Reisebericht Heimatkunde. Zu Fuß und allein durch die Provinz (2005) seine Fußwanderung, die ihn von Hamburg ins hessische Eschborn führt. Dieser Ort seiner geradezu mythisch überhöhten Kindheit konstituiert für ihn Heimat par excellence. Die bewusst beschwerliche Reise dient offensichtlich dazu, die Verlusterfahrungen zu kompensieren, die der Umzug der Eltern nach Hamburg ausgelöst hat. Dieser Umzug erscheint im Nachhinein als einschneidendes Ereignis, das die heile Kindheit des Erzählers spürbar beschädigt hat, da er nicht nur den Verlust des besten Freundes bedeutete, sondern rückblickend als erster Schritt zu der etliche Jahrzehnte später vollzogenen Scheidung der Eltern erscheint. Dieser Sehnsuchtsort bestimmt das Denken des Erzählers. Dabei wird bereits zu Beginn des Textes deutlich, dass im Hintergrund der stereotype Gegensatz zwischen entfremdetem Leben in der Großstadt und ländlicher Heimatidylle steht: Man muss sich ja ständig rechtfertigen, dachte ich, wenn man für den Ort, wo man zum ersten Mal ohne Stützräder Fahrrad gefahren ist und wo man seiner Mutter an der Kindergartentür jedes Mal eine große Szene bereitet hat, wenn man für diesen Ort mehr wohliges Bauchkribbeln hegt als für die Stadt, in der es Arbeit und Milchkaffee gibt und Clubs, über die in Zeitschriften berichtet wird. Solche Diskussionen bringen einen immer wieder in Erklärungsnot, weil dieses diffuse Bauchkribbeln sich jedes Mal im letzten Moment davonschleicht, wenn man gerade kurz davor steht, es erklären zu können. Heimat. Ich hatte es deshalb für eine gute Idee gehalten, mich der Sache zu Fuß zu nähern.24

Zick kontrastiert die Großstadt, die von „Arbeit und Milchkaffee“ geprägt sei, mit dem Ort der Kindheit, mit dem sich vor allem die Erfahrung mütterlicher Geborgenheit verbindet. Dabei stellt er heraus, dass sich dieses emphatische Heimatgefühl letztlich jeder Beschreibung entziehe. Möglicherweise lässt sich diese Aussage als Eingeständnis literarischen Scheiterns lesen. Jedenfalls durchzieht die Unfähigkeit zur genauen Benennung der Reflexionsgegenstände Zicks Text. Aus der Schwierigkeit, sein Heimatgefühl in Worte zu fassen, leitet Zick in einem kaum nachvollziehbaren Argumentationsschritt die Art seiner Reise ab: Die Fußreise erscheint in seiner Individuallogik als Möglichkeit, das flüchtige Heimatgefühl zu konservieren.25

24 Zick, Heimatkunde, S. 6. 25 Vgl. zur Renaissance der Fußreise den Beitrag von Peter J. Brenner in diesem Band.

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Heimat existiert für Zick primär in der Erinnerung. Der Ort der ersten glücklichen Kindheitsjahre ist für Zick vor allem affektiv besetzt: Er steht für familiäre Geborgenheit, für Liebe und Freundschaft. Diese emotionalen Reaktionen müssen denjenigen fremd erscheinen, die dieses Heimatgefühl nicht teilen können. Zugleich entzieht es sich rationalen Erklärungsversuchen, so dass die Reise zu einem Versuch wird, diese Heimaterfahrung durch langsame Annäherung an den Sehnsuchtsort einerseits besser verstehen, andererseits besser vermitteln zu können. Bei seiner Wanderung durch Deutschland widmet der Autor seine ganze Aufmerksamkeit vor allem Generationsgenossen, die von ähnlichen Problemen umgetrieben werden wie der Erzähler: Wie lässt sich angesichts zunehmender Bindungslosigkeit, beruflicher Unsicherheit und Schnelllebigkeit eine dauerhafte Verwurzelung in der Heimat finden? Zick stellt schlaglichtartig verschiedene Lebensentwürfe und Biographien heraus: Von Volker, der in Berlin gelebt hat und nun sein Glück im heimatlichen Butzbach gefunden hat,26 über Stefan, den marketingbewussten Biobauern,27 bis hin zu Christian, der in Gießen eine international ausgerichtete Skateboardfirma betreibt.28 Diese regional verwurzelten und global vernetzten Existenzen stehen für einen möglichen Ausgleich und demonstrieren, dass das Bedürfnis nach Heimat moderne Existenzformen nicht ausschließt. Zick stilisiert sich zum Repräsentanten einer ganzen Generation, wandert gleichsam als Stellvertreter der entwurzelten Dreißigjährigen. Zicks Wanderung nach Eschborn trägt Züge einer Wallfahrt. Je näher das Ziel rückt, umso deutlicher werden die positiven Vorzeichen. Der Reisende begegnet nur noch freundlichen und offenherzigen Menschen, die Landschaft erscheint vertrauter. Besondere Bedeutung besitzt ein Traum des Erzählers, der sich als prophetisch erweisen wird: Ich hatte von Ralph und seinen Eltern geträumt, es war ein schneller, bunter Traum, ich hatte sie in ihrer Wohnung in Eschborn gesehen, mit dem dunkelgrünen Teppichboden im Wohnzimmer, auf dem wir als Jungs in Strumpfhosen herumgerutscht waren – in Strumpfhosen! – und mit der Playmobil-Ritterburg gespielt hatten, um die ich Ralph immer beneidet hatte.29

Zufälligerweise wird eben jener Ralph später erklären, auch er habe von dem abwesenden Freund geträumt – eine symbolische Beglaubigung des Freundschaftsbunds, der wesentlich mit der gemeinsamen Heimat zusammenhängt.30

26 27 28 29 30

Vgl. Zick, Heimatkunde, S. 172–174. Ebd., S. 132–137. Vgl. ebd., S. 166–169. Ebd., S. 155. Vgl. ebd., S. 187.

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Zwar artikuliert der Erzähler einige Zweifel, ob sein idealisiertes Bild der Heimat der Realität standhalten könne,31 doch die Erfahrungen, die er schildert, übertreffen das Ideal bei weitem. So schildert der Erzähler, wie er die Nachmieterin seiner Eltern besucht, die ihn selbstverständlich mit der Bemerkung einlädt, er sei ja hier zu Hause.32 Für die Spätaussiedler aus Polen ist Eschborn mittlerweile ebenfalls zur Heimat geworden. Dies liegt in besonderem Maße an den Eigenschaften von Eschborn und seinen Bewohnern: „Eschborn hat uns von Anfang an gut gefallen“, sagte sie, „die Lage ist wunderschön, zwischen Frankfurt und Taunus, und ich brauche nur in die Unterortstraße zu gehen, da finde ich noch einen Bauern. Das Entscheidende aber ist, wie herzlich wir hier aufgenommen wurden.“ […] „Ich habe manchmal gedacht“, sagte ich, „ich rede mir das alles schön, diese Erinnerungen.“ „Nein“, sagte sie, „da verklärst du nichts, es ist wirklich schön hier, und die Leute sind wahnsinnig nett.“33

Die Adjektive „schön“ und „nett“ signalisieren die sprachliche Armut: Zicks Utopie besteht gerade in dieser Apotheose bundesrepublikanischen Mittelmaßes. Dies wird auch an der Beschreibung des Sehnsuchtsortes deutlich, der gerade durch seine absolute Mittelmäßigkeit besticht. In Eschborn lebt die Bundesrepublik der 1980er Jahre fort. Paradigmatisch ist die Wohnung von Ralphs Familie, in der sich kaum etwas verändert hat: Der grüne Teppich, er war noch immer da, und die Schwarzweißfotos an den Wänden, von Ralph und seiner Schwester, mit Zahnlücken, nur in der Ecke, wo wir mit der Playmobilritterburg gespielt hatten, stand ein Wäschekorb. Ich setzte mich auf die Couch; auch der Geruch war noch da, jede Wohnung hat ihren eigenen Geruch, und das hier war der Geruch von Playmobilspielen und Spaghettiessen und Rausgehenunddreiradfahren und Diekleineschwesterpiesacken. Sie brachte mit ein Glas Wasser.34

31 Vgl. ebd., S. 176 f.: „So kurz vor dem Ziel, das Prasseln des Regens auf der Kapuze in den Ohren, kam in mir plötzlich die Angst vor der Sinnlosigkeit meines Tuns hoch: die Angst, dass nach den fünfeinhalb Wochen, die ich gegangen war, und nach den vielen Jahren, in denen ich mich bestenfalls noch auf Kurzbesuchen hatte blicken lassen, nichts Besonderes sein würde; dass mich die Heimat, das verschüttete Zuhause, das ich dort wähnte, nicht mit offenen Armen empfangen würde, dass das Leben einfach seinen Gang gehen und mich als Zuschauer stehen lassen würde.“ 32 Vgl. ebd., S. 185. 33 Ebd., S. 186. 34 Ebd., S. 187.  

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Am Schauplatz ausgelassener Kinderspiele wird der Erzähler selbst wieder zum Kind. Diese Regression wird auch in der Sprache deutlich: Die Komposita rufen eine verlorene Welt wieder auf, die in der Erinnerung unmittelbar zugänglich ist. Das „noch immer“ signalisiert eine Kontinuität, der gegenüber die Veränderungen marginal erscheinen. Wie kaum anders zu erwarten, ist das Verhältnis zu Ralph ungebrochen. Er ist es, der dem Erzähler die Gelassenheit vermitteln kann, die dieser so dringend nötig hat: „Und eines Abends dann“, fuhr er fort, „als ich wieder hier saß, da fiel es mir auf einmal ganz leicht, mich fürs Weggehen zu entscheiden. In dem Moment war mir klar geworden: Die Brücken hierher wirst du nie abbrechen; egal wohin du gehst und wie lang du bleibst – du wirst immer wieder zurückkommen.“35

Der Text formuliert hier eine denkbar triviale Lebensweisheit, die symptomatisch für die intellektuellen Defizite des Reiseberichts steht. Zicks Selbstfindungsdokument ist gerade in seiner gedanklichen und begrifflichen Dürftigkeit Ausdruck eines Krisenbewusstseins, das in der Logik des Textes nicht nur den Erzähler betrifft, sondern typisch für eine ganze Generation ist. Die regressiven Züge des Reiseberichts sind unübersehbar; an keiner Stelle hinterfragt Zick die Idealisierung von Kindheit und Vergangenheit. Das Provokationspotential des Textes liegt darin, dass er erklärt, der Weg zurück sei ohne weiteres möglich. Heimat erscheint als Therapeutikum für eine weinerliche Generation junger Kreativer, die ihre Wurzellosigkeit beklagen – zugleich ist für Tobias Zick selbstverständlich klar, was denn genau Heimat sei. Es geht nicht nur um die Internalisierung von Heimat, sondern tatsächlich um die regelmäßige Rückkehr an einen geographischen Ort. Er negiert die Distanz zwischen dem mentalen und dem geographischen Konzept von Heimat, macht aber nicht deutlich, welcher Stellenwert seiner glücklichen Rückkehr im Kontext seiner Generationendiagnose zukommt. Auch für Roger Willemsen ist Heimat zunächst der Ort der Herkunft. In seiner überaus erfolgreichen Deutschlandreise (2002) problematisiert er aber darüber hinaus unterschiedliche Heimatkonzepte.36 Anders als bei Tobias Zick ist seine Sicht von Skepsis, ja einem gewissen Fatalismus geprägt. Er entwirft das Beispiel eines Heimkehrers, dessen Ziel dem Fortschritt zum Opfer gefallen ist: Und was macht jemand, der in seine Heimat zurückkehrt und ein Autobahnkreuz findet, wo sein Elternhaus war? Steht er da und sagt: meine Kreuzung, meine Heimat? Sucht er sich ein Surrogat, eine zweite Heimat? Steht er mit Tränen in den Augen da? Den Wald dort, dann

35 Ebd., S. 189. 36 Roger Willemsen, Deutschlandreise [2002], 9. Aufl., Frankfurt am Main 2008.

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den Acker, den Schwung der Hügellinie, die einsame Bahnstrecke: Wie viel kann man ihm wegnehmen, und er nennt es immer noch „meine Heimat“?37

Willemsen stellt Fragen nach dem Umgang mit prägenden Verlusterfahrungen, die nur derjenige in aller Schärfe erlebt, der abwesend war, der heimkehren möchte und keine Heimat mehr vorfindet. Das „Elternhaus“ wird zum Symbol für Heimat. Seine Zerstörung wäre der schlimmstmögliche Fall für den heimkehrwilligen Reisenden, der sich kaum „eine zweite Heimat“ suchen wird. Von diesem hypothetischen Beispiel ausgehend, setzt der Erzähler erneut an. Nun befragt sich der Reisende selbst, wie er auf Signale von Modernisierung und technischem Fortschritt reagiert, die für andere Menschen den Verlust ihrer Heimat bedeuten: Oder anders: Sehe ich mir ein Autobahnkreuz an und sage, dies war mal die Heimat von jemandem, werde sentimental, sehe die rasante Verkehrsführung mit umwölkten Augen? Eine ungefährdete Heimat müsste jenseits der Zivilisation liegen, als ferner, der Zeit entzogener Winkel. Also ist sie immer fiktiv, und fatal wird es nur, wo man aus dem Sentimentalen etwas Politisches macht. Immerhin gibt es keinen Rechtsextremismus ohne „Heimat“ und keine Fundamentalisten unter den Nomaden. Dann sollen wir also alle wandern, wandern …38

Heimat gehört zwangsläufig der Vergangenheit an, da sie immer im Gegensatz zur Zivilisation steht. Entscheidend ist somit die zeitliche Perspektive: Heimat ist laut Willemsen etwas unwiederbringlich Verlorenes und kann lediglich in der Fiktion realisiert werden, ohne dass diese Fiktion ideologisch missbraucht werden sollte. Anders als Zick problematisiert Willemsen zumindest ansatzweise die ideologisierte Geschichte des Begriffs, ohne dass seine rudimentären Reflexionen weiter ausgeführt würden. Willemsens Befund berührt sich in etlichen Punkten mit der Diagnose, die Bernhard Schlink in dem Vortrag Heimat als Utopie (2000) stellt: Für ihn ist Heimat immer Utopie. Auch wenn man dieser radikalen und teilweise beliebigen Setzung nicht zustimmt, so lenkt sie doch den Blick darauf, dass Heimat (vor allem in der Literatur!) als Wunschbild dargestellt wird, als Ergebnis einer Projektionsleistung, die primär kompensatorischen Charakter besitzt.39

37 Ebd., S. 85 f. 38 Ebd., S. 86. 39 Vgl. Bernhard Schlink, Heimat als Utopie, Frankfurt am Main 2000, S. 32: „So sehr Heimat auf Orte bezogen ist, Geburts- und Kindheitsorte, Orte des Glücks, Orte, an denen man lebt, wohnt, arbeitet, Familie und Freunde hat – letztlich hat sie weder einen Ort noch ist sie einer.“  

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Für Willemsens Erzähler ist es nicht möglich, sich dieser Utopie hinzugeben, eben weil das Höchstmaß an Reflexion einer identifikatorischen Erfahrung letztlich entgegensteht. Dies wird an der Beschreibung eines Besuchs im Heimatdorf des Autors deutlich, die auf die oben zitierten allgemeinen Reflexionen folgt. Auch wenn kein Autobahnkreuz den Reisenden erwartet, sind zahlreiche subtile Anzeichen eines tief greifenden Wandels sichtbar: Wo ehemals Unterholz war, haben heute die Zahnärzte ihre Pferdekoppeln. „Erst kommt der Mensch, dann der Waldlehrpfad“, sagt der Bauer, dem diese ganze Unterwerfung des Forstes auch missfällt. Jetzt gibt es schon einen lokalen „Künstler“, der seine Werke im Blumengeschäft als „limitierte Edition“ ausstellt. Die Mädchen gehen bauchfrei zwischen den Exponaten und den Yuccapalmen auf und ab, und auch wenn sie Schnupfen haben, stecken sie die verrotzten Taschentücher in den Hosenbund, wo sie auf der Haut feuchte Spuren hinterlassen.40

Der Erzähler wertet im Anschluss an trivialisierte Topoi der Kulturkritik die dürftige Gegenwart im Vergleich mit einer idealisierten Vergangenheit ab. Verlust von Authentizität und Zersiedelung sind Kennzeichen eines letztlich verderblichen Wandels. Als Kronzeuge dient der Bauer, der als Inkarnation von Tradition, Weisheit und Naturverbundenheit auftritt. Willemsens Entwurf ist nicht frei von stereotypen Heimatklischees. Die ideale Heimat wäre ein vormodernes Residuum, das von den Segnungen der Moderne ebenso verschont bliebe wie von landliebenden Städtern, denen der mit der Scholle verwachsene Bauernstand ratlos bis feindselig entgegentreten muss. Auch wird nicht klar, ob der Verlust der Geborgenheitserfahrung mit diesen zersetzenden Veränderungen zusammenhängt oder vielmehr mit der Zeit, die der Erzähler abwesend war. Die lange Abwesenheit führt zu einer Entfremdung von dem einstmals vertrauten Ort, der nun nur noch wegen seiner Vergangenheit von Bedeutung ist. Tiefes Heimatgefühl stellt sich dann ein, als der Landarzt – neben dem Bauern eine weitere patriarchalische Identifikationsfigur des Erzählers – „zeitlose Geschichten“41 erzählt, die das Immergleiche des dörflichen bäuerlichen Lebens zum Ausdruck bringen: Meine Heimat ist in diesen Sätzen, der Ahnung von solchen Lebensläufen und der Spur, die sie in der Landschaft der Kindheit hinterlassen haben. Es sind die Dinge, die man fühlen kann. Man kehrt heim und fühlt sich gleich einsamer. Weil sie nicht ist. Weil sie, je näher man ihr kommt, immer fremder zurückblickt. Alle haben die Heimat mitgenommen, die einen ins Grab, die anderen in die Ferne, die dritten ins Vergessen, die vierten in den Stumpfsinn. Heimat ist die Landschaft, in der man nicht verschwinden würde. Sonst ist alle

40 Willemsen, Deutschlandreise, S. 87. 41 Ebd.

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Landschaft darauf angelegt, uns zu verschlucken. Doch ist Heimat noch Heimat ohne Eltern, ohne Lehrer, ohne Mädchen, ohne Kaufmannsladen?42

Heimat wird erst im Erzählen manifest, einem Erzählen, das eine Vergangenheit heraufbeschwört. Nicht der soziale Wandel ist also entscheidend, sondern der Verlust persönlicher Bindungen: Anders als bei Tobias Zick, der eine Heimkehr zu alten Freunden beschreibt, sind im Falle Willemsens keine emotionalen sozialen Kontakte mehr vorhanden. Kann, ja sollte man sich also seine Heimat aussuchen? Auch diese Frage stellt Willemsen, ohne darauf eine Antwort geben zu können: Sollte man sich also immer neue Heimaten aussuchen? Den Hindukusch? Polynesien? Ulan Bator? Soll man den Ort nennen, dessen Ruin, dessen Machenschaften, dessen Bitterkeit und Korruption man persönlich kennt? Und wenn ein Karpfen im Waschbecken aufwächst, nennt er es später „Heimat“?43

Willemsen stellt heraus, dass letztlich jede Art von Heimatbezug willkürlich bleiben muss. Zugleich unterstreicht er, dass genaue Kenntnis nicht unbedingt Heimatgefühle stimulieren muss, im Gegenteil: Die Heimat, die man sich nicht aussuchen kann, wird oft als Hölle erfahren, als Ort von Gewalt und Verlogenheit.

IV. „Einsam in der Hölle“. Die unheimliche Heimat Willemsens Erzähler gelingt es also gerade nicht, eine identifikatorische Erfahrung zu machen. Er schwankt zwischen dem Bedürfnis nach Beheimatung und dem Bewusstsein um die Fragwürdigkeit jeglichen Heimatdenkens. Seine Heimat konkretisiert sich in Reminiszenzen, kann wehmütig erinnert, aber nicht erfahren werden. Neben dieser höchst subjektiven Aneignung wird der Heimatbegriff in Willemsens Text in anderer, objektivierter Bedeutung verwendet: Heimat ist die doppelbödige Idylle, hinter deren Schönheit düstere Geheimnisse lauern. Dafür steht Bayern: „Nur die Bayern verstehen ihre Heimat als etwas Objektives und Überpersönliches.“44 Gerade deshalb sind sie Mängelwesen. Die bayerische Lebensform ist geprägt vom „enge[n] Horizont“45 der Einheimischen.

42 43 44 45

Ebd., S. 88. Ebd. Ebd., S. 155. Ebd.

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Der weite Horizont dagegen ist in jeder Hinsicht suspekt. Wer ein Bayer ist, bewahrt seine Verbindung zum Kreatürlichen: Er schnupft und kaut, er säuft und kotzt, er spuckt und furzt, und vegetarisch ist er gar nicht denkbar. Das Verhältnis des Bayern zum Fleisch umfasst alles, was Fleisch ist, vom Geschlachteten bis zum Dekolleté.46

In seiner Karikatur des Bayerntums folgt der Erzähler sämtlichen bajuwarischen Stereotypen. Das Wesen des Bayern ist für Willemsen geprägt von dumpfem Katholizismus und glühender Heimatliebe. Er bedarf der Abgrenzung von allem Fremden, um seine Identität scharf profilieren zu können.47 Bei dieser vermeintlich urtümlichen bayerischen Identität handelt es sich aber laut Willemsen um das Produkt einer kollektiven Autosuggestion, die politisches Handeln ebenso betrifft wie Landschaftsgestaltung und Brauchtumspflege. Diese kollektive Maskerade, die Inszenierung einer Landschaft als Heimat, „ein Bayern, das nach dem Muster von Bayern erhalten bleibt“,48 bedeutet das künstliche Arrangement von Heimatklischees, mithin das, was Hermann Bausinger als „Heimat von der Stange“ bezeichnet hat:49 „Es ist diese Landschaft, die tut, als sei sie alt und ursprünglich und für die Idylle konzipiert.“50 Bei der Beschreibung seiner Zugfahrt durch Bayern vollzieht der Erzähler Wahrnehmungsmuster nach, die eine deutliche Affinität zu den Bilderwelten bundesrepublikanischer Heimatfilme aufweisen – überhaupt generiert diese für Willemsens Reisebericht symptomatische Art der Fortbewegung eine Art von filmischem Blick. Auffällig sind die demonstrativen Versuche, die Veränderungen zu kaschieren. Heimat wird so zur Maskerade. Bayern, ein einziges großes Freilichtmuseum, entpuppt sich als verlogener Versuch, etwas Überlebtes in verharmlosender Form zu konservieren. Doch auch dieser forcierte Folklorismus stößt an seine Grenzen:51 „Ja, jetzt müssen sich die Bayern entscheiden: Wollen sie eine Heimat haben oder einen Standort?“52 Dass diese vermeintliche Heimatidylle keineswegs harmlos ist, wird mehrfach deutlich. Vom Zug aus betrachtet der distanzierte Reisende die Umgebung: „Idyllisch, beschaulich mit dem Kreuz im Giebel, so, als wäre es die Aufgabe 46 Ebd., S. 155 f. 47 Vgl. ebd. 48 Ebd., S. 158. 49 Hermann Bausinger, „Auf dem Weg zu einem neuen, aktiven Heimatverständnis. Begriffsgeschichte als Problemgeschichte“, in: Hans-Georg Wehling (Hrsg.), Heimat heute, Stuttgart 1984, S. 11–27, Zitat S. 19. 50 Willemsen, Deutschlandreise, S. 158. 51 Vgl. einführend zum Phänomen des Folklorismus Wolfgang Lipp, „Heimat in der Moderne. Quelle, Kampfplatz und Bühne von Identität“, in: Weigand (Hrsg.), Heimat, S. 51–72, besonders S. 62. 52 Willemsen, Deutschlandreise, S. 161.  

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jedes Hofes, jedes Baumes, jedes Ackers und jeder Wolke, das Wort ‚Heimat‘ zu buchstabieren.“53 Doch hat dieser Anblick die gegenteilige Wirkung, löst literarische Assoziationen aus, die gerade das Abgründige, die dunklen Aspekte des den Augen entzogenen Privatlebens thematisieren. Der Erzähler zitiert aus Arthur Conan Doyles Erzählung Das Haus bei den Blutbuchen,54 in der Sherlock Holmes seine Sicht auf vermeintliche ländliche Idyllen ausführt: „Sie sehen diese verstreuten Häuser“, sagt er [Sherlock Holmes], „und sind von ihrer Schönheit beeindruckt. Ich schaue sie mir an, und das Einzige, das mich beherrscht, ist die Empfindung ihrer Abgeschiedenheit und der Gedanke an die Ungestraftheit, mit der hier ein Verbrechen begangen werden kann. (…) Denken Sie an all die Taten höllischer Grausamkeit, an all die verborgene Schlechtigkeit, die dort jahrein, jahraus stattfinden kann, ohne dass jemand darum weiß.“55

Eben weil sie abgeschieden leben, können die Bewohner dieser Provinz ungehindert ihre barbarischen Triebe ausleben. Dieser Befund wird an den Bewohnern der bayerischen Idylle sinnfällig: „‚Das Rotwild steht in den Bergen‘, erklärt der Bauer vom Einzelhof. In der Seitentasche seiner Lodenjacke steckt der ‚Bastei‘Western von G. F. Unger mit dem Titel: ‚Einsam in der Hölle‘.“56 Das Ironiesignal ist nicht zu überhören: Über den Groschenhefttitel evoziert der Erzähler eine gewalttätige Welt, eine Hölle, die unversehens mit der bäuerlichen Existenz enggeführt wird. Hinter der Fassade einer heilen Welt tun sich Abgründe auf – zumindest in der Wahrnehmung des Reisenden, der derartige skurrile Momente zusammenträgt. Dabei handelt es sich um forcierte, manchmal selbstzweckhafte Setzungen des Erzählers, der oberflächliche Momentaufnahmen aneinanderreiht, um vermeintlich vorhandene Tiefenschichten aufzudecken und erzählerisch zu gestalten. Diese epigonale Auflistung ist deutlich an Mustern der Klassischen Moderne geschult. Insbesondere Sigmund Freuds einflussreicher Aufsatz Das Unheimliche steht hier im Hintergrund, der das enge Wechselverhältnis zwischen dem Vertrauten und dem Unheimlichen betont. Freud unterstreicht im Anschluss an eine Beispielreihe aus einem Wörterbuch,

53 Ebd., S. 165. 54 Vgl. Arthur Conan Doyle, „The Adventure of the Copper Beeches“, in: Ders., The Adventures of Sherlock Holmes, The Complete Works 17, Newcastle upon Tyne 2008, S. 217–238, hier S. 225 f. 55 Willemsen, Deutschlandreise, S. 165. Auslassung im Original. Vgl. ebd., S. 167 (Passau!). 56 Ebd., S. 163.  

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daß das Wörtchen heimlich unter den mehrfachen Nuancen seiner Bedeutung auch eine zeigt, in der es mit seinem Gegensatz unheimlich zusammenfällt. Das heimliche wird dann zum Unheimlichen.57

Damit fällt die klare Unterscheidung zwischen dem Grauenerregenden und dem Vertrauten weg: „Unheimlich ist irgendwie eine Art von heimlich.“58 Für Roger Willemsen ist also Heimat, wie er sie in Bayern erfährt, etwas Konstruiertes, bestenfalls eine künstliche Idylle. Diese ist selbst in ihrer Künstlichkeit noch gefährdet, weil sie der Moderne nicht standzuhalten vermag, mithin ein fehlgeschlagenes eskapistisches Experiment. Damit erscheint sie doppelbödig, alles andere als Vertrauen erweckend und letztlich unheimlich. Zugleich entwirft Willemsen die durchaus utopische Vorstellung einer Heimat in der Erzählung, die jedoch mit einer erfahrbaren Gegenwart nur wenig zu tun hat. Seine Abrechnung mit der falschen Idylle Bayern weist stereotype Züge auf und kann ihre Klischeesättigung nicht leugnen, wie überhaupt die Vorstellung einer unheimlichen Heimat auf lange Traditionen zurückgreifen kann: Gerade die Provinzliteratur stellt derartige Konstellationen heraus – Willemsen aktualisiert diese Beschreibungsmuster, ohne ihnen etwas Neues abzugewinnen. Seine forcierte Distanzierung mündet nicht selten in phrasengesättigte bildungsbürgerliche Posenrhetorik, die Klischees der Kulturkritik beliebig aneinanderreiht.

V. „Heimat ist Gegenzauber“. Gewalt und Geborgenheit Auch Wolfgang Büscher setzt sich mit dem Phänomen Heimat auseinander. Im Kontext seiner Deutschlandumrundung betont er insbesondere die regionalen Unterschiede, die das Wesen des Landes prägten. Dabei unterstreicht er, wie der Begriff als Kategorie der Abgrenzung gebraucht wird, der erst angesichts sprachlich und kulturell fremder Nachbarn seine ganze Bedeutung gewinnt. Im Erzgebirge ist der Gegensatz zwischen der böhmischen und tschechischen Seite in der auffällig häufigen Verwendung des Begriffs zu spüren: Nirgendwo auf dieser Reise bin ich dem Wort „Heimat“ häufiger begegnet als im sächsischen Erzgebirge. Mir scheint, ich habe die Heimat überhaupt nur hier angetroffen, in ihrer erzgebirgischen Intonation: „Haamit“.59

57 Sigmund Freud, „Das Unheimliche (1919)“, in: Ders., Studienausgabe. Bd. IV: Psychologische Schriften, Frankfurt am Main 1970, S. 241–274, hier S. 248. 58 Ebd., S. 250. 59 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 106.

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Dieses Beharren auf der eigenen Tradition in Abgrenzung von den tschechischen Nachbarn weist durchaus chauvinistische Züge auf. Es verbindet sich mit den eigentümlichen erzgebirgischen Weihnachtsprodukten, die Büscher als Ausdruck eines „Lichtkult[s]“ auffasst, der gegen „den dunklen Widersacher, den Berg“, gerichtet sei.60 Heimat ist in Büschers Text primär Synonym eines tiefen Bedürfnisses, eine Art Abwehrzauber gegen unbekannte Bereiche. Aber warum der Heimatkult? Vielleicht, weil auch die Heimat einen dunklen Widersacher hatte. Jenseits der Grenze lag die lichtabgewandte Seite des Lebens. All die Dinge, die nicht Teil des Krippenspiels sind, hausten und lauerten dort. Dubí und zappzerapp. Vielleicht ist Heimat nur ein anderes Wort für Licht.61

Büscher stellt die sonderbaren und potentiell chauvinistischen Aspekte dieser Heimatseligkeit heraus, ohne sie zu denunzieren. Unbehagen verursacht hingegen der Heimatkitsch, der auch die vermeintlich urtümlichen und abgeschiedenen Orte des Erzgebirges erreicht hat und mit seinen Auswirkungen den gegenteiligen Effekt erreicht, eben alles andere als Behagen evoziert: Hätte in der Gaststube an der Grenze jemand Zither gespielt, ich hätte es gut sein lassen. Ich wäre still dagesessen, hätte meine dampfend heiße Holundersuppe gelöffelt und wäre in Frieden gegangen. Aber niemand spielte Zither. Stattdessen lief Heimatmusik, die keine war, und das war eine Umdrehung zu viel. Als Heimatlieder verkleidete Schlager dröhnten aus den Lautsprechern, und der deutsche Schlager von heute, das muss gesagt sein, denn ich habe ihn über Monate erlitten vom Frühstück bis zum Abendbrot, ist grauenhaft. Heimat, das hast du nicht verdient. Hastig die Suppe gegessen, den Gaumen verbrannt, Geld hingeworfen, die nassen Sachen von der Heizung gerissen, wieder übergezerrt und raus, raus in die erlösende Kälte.62

Der forcierte Folklorismus vertreibt den Wanderer, eben weil er eine Heimat aus zweiter Hand bedeutet, eine Fälschung, der mittlerweile nicht mehr zu entkommen ist. In Büschers pathetischer Apostrophe der Heimat artikuliert sich zugleich eine Verlusterfahrung: Der Autor führt vor, wie die fälschende Reproduktion von Heimatklischees letztlich zum Verschwinden des Ursprünglichen beiträgt. Auch für Büscher besitzt Heimat eine unheimliche Konnotation, allerdings auf andere Weise als für Roger Willemsen: Sie ist gerade der Gegenpol des Unheimlichen, eine Strategie, bedrohliche Welterfahrungen zu domestizieren. Für ihn ist Heimat – unabhängig von konkreten Orten – vor allem als anthropologische Notwendigkeit denkbar.

60 Ebd., S. 107. 61 Ebd. 62 Ebd.

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Dies wird auch an der Beschreibung der „Nacht der Masken“, eines urtümlichen Allgäuer Brauchs, besonders deutlich.63 Die so genannten „Klausen“ prügeln einmal im Jahr in Oberstdorf auf die Bevölkerung ein. Bereits die Schilderung des abendlichen Ortes vermittelt eine Atmosphäre der Bedrohung: Es war dunkel, als ich ankam, und der Ort war merkwürdig menschenleer. Alle Wirtshäuser hatten geschlossen, bis auf eines, auf dem Markt stand Polizei in Kampfmontur, ein paar aufgeregte Schulmädchen drückten sich in die Türnischen. Die Kirche lag so düster da, als ob sie sagen wollte, mit dem, was nun geschieht, habe sie nicht das Geringste zu tun.64

Bald schon erscheinen die Maskenträger. Ihr Auftreten wird als Einbruch atavistischer Gewalt und Grausamkeit dargestellt: „Ich sah Masken, bedrohliche alte Masken, und die sie trugen, waren nicht nur völlig unkenntlich darin, sie waren in diese Masken verwandelt.“65 Der Reisende wird in das Geschehen hereingezogen; er ist zutiefst von diesem unheimlichen Ritual affiziert. Diese Verwandlung erinnert an Jagdbräuche von Naturvölkern. Die Individuen verkleiden sich nicht nur, sie werden durch das Wechseln der gewohnten Kleidung zu fremden Wesen, die ihrer Umgebung gewalttätig, ja grausam gegenübertreten: Fremd und unheimlich war, was da auf sie losging. Kein Schaf auf zwei Beinen. Nichts Vertrautes. Kein Witz. Die Masken hatten so wenig Ähnlichkeit mit bekannten Tieren wie die Tiergeister der steinzeitlichen Höhlenmaler.66

Dieses eruptive Erscheinen des Unheimlichen bewirkt, dass das Vertraute fremd und bedrohlich wird. Für den Reisenden stellt sich das Ereignis noch wesentlich bedrohlicher dar. Er wird zum Zeugen einer „heidnische[n] Jagd“, die Maskenträger gebärden sich „aufgebracht und kampfeshungrig“.67 Gegen jede Verniedlichung und Idyllisierung ist zumindest bei dieser Gelegenheit Oberstdorf ein Ort eruptiver, wahlloser Gewalt. Diese archetypischen unheimlichen Erfahrungen sind befremdend im wahrsten Sinne des Wortes – gerade für den ortsfremden Reisenden, der das tatsächliche Gefährdungspotential nicht einschätzen kann. Anders als bei Roger Willemsen, der mit literarischen Anspielungen kokettiert und letztlich stereotype Ansichten über die abgründige Heimatidylle verbreitet, wird in Büschers Text deutlich, dass während des Volksbrauchs – dessen Ursprung im Übrigen nicht erläutert wird – etwas Irrationales freigesetzt wird, das sich einfachen Festlegungen und Erklärungen entzieht. Dieses Fremde, Bedrohli-

63 64 65 66 67

Vgl. ebd., S. 185–190. Ebd., S. 185. Ebd. Ebd. Ebd., S. 186.

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che kommt aus den vertrauten Menschen selbst, ist anthropologisch verankert. Büscher erzählt, wie Heimatgefühl entsteht. Es ist für ihn notwendig, um das Unheimliche zu bannen, das immer latent vorhanden ist und auszubrechen droht. „Heimat ist Gegenzauber.“68 Die Entlastungsfunktion von Heimat ist ebenso anthropologisch konstant wie die kathartische Erfahrung, die dem Heimatgefühl vorausgeht.

VI. Heimatsuche in der Erzählung Heimat ist wesentliches Thema in der Reiseliteratur über Deutschland. Dieser knappe Durchgang durch etliche heimatselige Produkte zeitgenössischer Reiseliteratur erhebt nicht den Anspruch, den Komplex Heimat und Literatur erschöpfend behandeln zu können: Die Reihe von Beispielen ließe sich problemlos erweitern. An der Bedeutung des Themas besteht kein Zweifel. Dabei fällt auf, wie polyvalent der problematische Begriff gebraucht wird. Die Kluft zwischen Tobias Zicks naiv-regressiver Kindheitsidylle und Roger Willemsens Beharren auf der Doppelbödigkeit von Heimat lässt sich nicht harmonisierend überspielen. Das Potential der Reiseliteratur liegt ja gerade darin begründet, dass sie unabhängig von normativen Festlegungen einen problematischen Begriff umkreisen, variieren und fortschreiben kann. Die unterschiedlichen Konzeptionen von Heimat zielen allesamt auf denkbar unterschiedliche Facetten eines Sehnsuchtsortes. Dabei reichen die Erfahrungen von tiefer Geborgenheit bis hin zu nicht zu überwindender Fremdheit. So gestalten die Texte vor allem eine Suchbewegung: Die Erfüllung der Sehnsucht ist selten (oder, wie im Fall Tobias Zicks, banal), sie gelingt, wenn überhaupt, im Akt des Erzählens selbst.

68 Ebd., S. 190.

Christine Rühling, Oldenburg

Geschichte erzählen. Erinnerungsdiskurse und Vergangenheitsrekonstruktionen in Ralph Giordanos und Wolfgang Büschers Deutschlandreisen Die Rekonstruktion der deutschen Vergangenheit stellt in den Reiseberichten über Deutschland, die nach der Wiedervereinigung des Landes erschienen sind,1 ein wichtiges Mittel dar, um die (kulturelle) Identität der Deutschen und ihre Mentalität näher zu bestimmen. Die zahlreichen Reisebeschreibungen, die nach 1989 veröffentlicht wurden, zeugen davon, dass ein grundsätzliches Bedürfnis besteht, das wiedervereinigte Land zu erkunden. Die Gattung Reisebericht scheint dabei eine besonders authentische Form der Annäherung zu versprechen: Die Autoren bereisen das Land, treffen auf seine Bewohner und nehmen konkrete Orte in den Blick. Dabei erwecken sie den Eindruck, das Erlebte aus erster Hand wiederzugeben.2 Diese Realitätsbezüge stützen sie durch zahlreiche Textstrategien, die den Reiseberichten einen objektiven Anstrich verleihen, etwa durch den Abdruck von Dialogen oder die Nennung von Aufnahmegeräten und Notizblöcken, die zur Aufzeichnung des Erlebten dienen. So entsteht der Eindruck des Empirisch-Dokumentarischen, der den jeweiligen Darstellungen Autorität verleiht. Allen Authentizitätsversprechen zum Trotz berichten die Reisenden jedoch offenkundig nicht allein von der Realität, die sie vorfinden: Betrachtet man das Korpus der nach 1989 publizierten Texte, ist auffällig, dass die Blicke der Autoren auf das bereiste Land jeweils von verschiedenen Interessen und Vorannahmen bestimmt werden, die häufig in engem Zusammenhang mit der Biographie der Reisenden stehen und die die Auswahl der besuchten Orte, die Art der Wahrnehmung und Beschreibung sowie den Sprechgestus der Erzähl-

1 Den ersten grundlegenden Beitrag zu Deutschlandreisen der Nachwendezeit hat Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010 (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe XII, Bd. 2), vorgelegt. Speziell zu Reisen ostdeutscher Autoren in der Nachwendezeit siehe Monika HohbeinDeegen, Reise zum Ich. Ostdeutsche Identitätssuche in Texten der neunziger Jahre, Bern 2010 (DDR Studien/East German Studies 17). 2 Zum Verhältnis von Authentizität und Fiktionalität im Reisebericht vgl. Peter J. Brenner, „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, München 1989 (suhrkamp taschenbuch 2097), S. 7–13, hier S. 9.

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instanz prägen.3 Der westdeutsche Publizist Roger Willemsen, der seit 1991 auch als Fernsehmoderator von Kultursendungen tätig ist, inszeniert sich beispielsweise als reisender Intellektueller, der – besonders im ehemals sozialistischen Osten – einen kritischen Blick auf die Konsumkultur der Gegenwart wirft, der in Moskau geborene Autor Wladimir Kaminer nimmt auf seiner Lesereise die Perspektive des Fremden ein, der Fragen nach deutschen Eigenarten und der Zugehörigkeit fremder Traditionen zur deutschen Kultur stellt, und die in der DDR aufgewachsene Autorin Claudia Rusch rekonstruiert an verschiedenen Orten die eigene Biographie und ihre Kindheit im sozialistischen Staat. Dabei nehmen sie die besuchten Schauplätze zum Anlass, um über ihre deutsche Identität zu reflektieren.4 Auch die Deutschlandreisen von Ralph Giordano und Wolfgang Büscher werden von Prämissen bestimmt, die ihre Beschreibungen des Landes prägen: Das Interesse an deutscher Geschichte leitet ihre Wahrnehmung, es scheint gar, als sei die Frage nach deutscher Identität und Kultur für sie nur zu beantworten, wenn das Vergangene ins Bewusstsein gerufen wird. Giordano und Büscher begeben sich bei ihren Reisen auf die Suche nach Spuren deutscher Geschichte und fragen somit – um die Formulierung einer ARD-Geschichtsdokumentation zu borgen – „wie wir wurden, was wir sind“.5 In beiden Reiseberichten stellt der Zweite Weltkrieg dabei die entscheidende Zäsur dar, die – so die Grundthese der Autoren – die deutsche Identität und Selbstwahrnehmung bis heute formt. Dabei könnte die Deutung des geschichtlichen Ereignisses nicht unterschiedlicher sein: Ralph Giordano, der als Jugend-

3 In diesem Aufsatz werden die Begriffe Autor und Erzähler synonym gebraucht. Dies geschieht im Bewusstsein, dass es sich bei den vorliegenden Reiseberichten um eine literarische Form handelt, in der die Sprechinstanz im hohen Maße stilisiert und konstruiert wird. Dennoch erlauben die paratextuellen Markierungen der Texte als nicht-fiktionale und die expliziten biographischen Bezugnahmen innerhalb der Texte, die Ich-Form des Sprechers auf den Autor zu beziehen. In diesem Sinne hat die Forschung besonders Wolfgang Büschers Reisetexte dem Bereich autobiographischen Schreibens zugeordnet, vgl. Inez Müller, „Reiseprosa zwischen erlebter und erfundener Erfahrung von Büscher, Kerkeling und den Damms“, in: Michael Grote/ Beatrice Sandberg (Hrsg.), Autobiographisches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Bd. 3: „Entwicklungen, Kontexte, Grenzgänge“, München 2009, S. 208–223, bes. S. 209, und Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 162. 4 Roger Willemsen, Deutschlandreise, 9. Aufl., Frankfurt am Main 2008, Wladimir Kaminer, Mein deutsches Dschungelbuch, München 2005, Claudia Rusch, Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau, Frankfurt am Main 2009. 5 Michael Wulfes, Unsere 60er Jahre. Wie wir wurden, was wir sind, 2007, http://www.daserste. de/60erjahre/ (Stand: 13.06.2012). In dieser Phrase klingt die Frage „Wie sind wir so geworden, wie wir heute sind?“ aus Christa Wolfs Roman Kindheitsmuster an, die als Leitthema ihres Textes gelten kann (Christa Wolf, Kindheitsmuster. Roman, Darmstadt/Neuwied 1979 [Sammlung Luchterhand 277], S. 196).

Geschichte erzählen

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licher die Verfolgung der Nationalsozialisten überlebt und den Umgang der Deutschen mit der eigenen Vergangenheit seither stets kritisch begleitet hat, macht sich auf den Weg, um die Deutschen zu beobachten, wie sie sich heute an Vergangenes erinnern und wie sie ihre Identität nach der Wiedervereinigung bestimmen. Dabei behält er seine skeptische Haltung gegenüber jeder Form von neu aufkeimendem Nationalbewusstsein bei und mahnt eindringlich und mit der Autorität des Holocaust-Überlebenden vor einer Verdrängung der autoritären deutschen Vergangenheit. Der eine Generation jüngere, 1951 geborene Journalist Wolfgang Büscher hingegen, dessen Vater aus dem zerstörten Breslau geflohen war und der in der Nähe des zerbombten Kassel geboren wurde, entdeckt auf seiner Deutschlandreise besonders die Nachwirkungen des Bombenkrieges.6 Er konzentriert sich auf das Schicksal der deutschen Opfer und beschreibt die Ereignisse vor 1945 als Trauma, das die deutsche Mentalität bis heute beeinflusse. Büschers nicht unproblematische Deutung der deutschen (Nach-)Kriegsgeschichte steht dabei symptomatisch für einen Blickwechsel auf die deutsche Vergangenheit, der besonders Mitte der 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre vollzogen wurde und der eine öffentliche Kontroverse über den Umgang mit den deutschen Opfern des Zweiten Weltkriegs ausgelöst hat. Hinsichtlich der Haltungen zum Krieg und seinen Folgen lassen sich die Perspektiven Büschers und Giordanos als entgegengesetzte Positionen innerhalb dieser Auseinandersetzung beschreiben. Um ihrer Deutung der Vergangenheit Gewicht zu verleihen, berufen sich beide Autoren auf den Authentizitätsgestus, der dem Reisebericht eigen ist: Am Schauplatz des Geschehens, am bedeutungsträchtigen Ort finden sie – so suggerieren die Texte – Erinnerungsspuren, die ihr jeweiliges Geschichtsbild stützen. Somit ist zu fragen, auf welche Weise deutsche Geschichte in den Reiseberichten dargestellt wird und wie die Ereignisse der deutschen Vergangenheit den Blick auf das unmittelbar Wahrgenommene leiten. An welchen Orten findet die Erinnerung an Vergangenes statt? Mit welchen Darstellungsmitteln und (narrativen) Textverfahren evozieren die Autoren historisches Geschehen? Und wie bestimmt das historische Bewusstsein die Perspektive auf die Gegenwart?

I. Ralph Giordano auf den Spuren deutscher Kultur und Schreckensherrschaft Ralph Giordano beginnt 1996 in mehreren kürzeren Fahrten, das Land zu durchqueren, und besucht verschiedene Orte und Landstriche, ohne dass er dabei einer

6 Zu diesen Zusammenhängen vgl. auch den Beitrag von Peter J. Brenner in diesem Band.

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vorab festgelegten Route folgt. Im Vorwort seines Reiseberichts Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat (1998) begründet er ausführlich, warum er Deutschland bereist, und legt die persönliche, biographisch fundierte Motivation seiner Reise offen: Das Reisebuch handele von „Deutschen und Deutschem“, die Durchquerung des Landes „von Ost nach West, von Süd nach Nord“ sei „als eine Art Klärung und Bilanz gedacht, ob denn die frühere Entscheidung – zu bleiben, trotz allem, was vor und nach 1945 hier geschehen ist – die richtige war.“7 Der Blick des durch die Nationalsozialisten verfolgten Autors auf das wiedervereinigte Deutschland wird also zentral durch die Ereignisse zwischen 1933 und 1945 geprägt. Die Leitfrage, die das Buch durchzieht – „‚Was denken die Deutschen heute?‘“8 –, macht deutlich, dass Giordanos Bestandsaufnahme der Gegenwart durch die Erinnerung an die Vergangenheit, die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts perspektiviert wird: Fast jede Begegnung des Autors mit Menschen auf seiner Reise und jeder Besuch eines Ortes rufen Erinnerungen an Vergangenes hervor. Grundsätzlich bleibt Giordanos Verhältnis zur „schwierigen Heimat“ – so schon der Untertitel des Buches – ambivalent. Einerseits steht er dem wiedervereinigten Land und einem vermeintlich neu erwachten Nationalbewusstsein sowie einer aus seiner Sicht veränderten Wahrnehmung deutscher Geschichte äußerst skeptisch gegenüber, andererseits revidiert er im Verlauf der Reise sein vorab gefälltes Urteil über die Fähigkeit der Deutschen, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen. Er entdeckt – wenn auch vorsichtig – die eigene Teilhabe an der deutschen Kultur und seine „Neugierde auf die deutsche Geschichte“: Ich habe das Empfinden, daß, neben all den mentalen Zerstörungen, ihren Folgen und dem Zorn auf ihre Urheber, in mir nun doch allmählich so etwas aufgeflackert ist wie ein verschämter Stolz auf die Zugehörigkeit zu einer Kulturgeschichte von imponierender Tiefe.9

Dieser schon zu Beginn offengelegte Topos, der die deutsche Kulturgeschichte der deutschen Schreckensherrschaft im 20. Jahrhundert gegenüberstellt, strukturiert weite Teile von Girodanos Deutschlandbuch. Dies lässt sich etwa im Kapitel über Brandenburg zeigen, in dem sich der Autor explizit in die genannte kulturelle Überlieferung und die Tradition der Reiseliteratur über Deutschland einschreibt:10 Er folgt den Spuren von Fontanes Wanderungen durch die Mark Bran-

7 Ralph Giordano, Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat, 2. Aufl., München 2001, S. 7. 8 Ebd., S. 32. 9 Ebd., S. 70. 10 Intertextuelle Bezüge sind laut Manfred Pfister für die Gattung Reiseliteratur konstitutiv, vgl. Manfred Pfister, „Intertextuelle Reisen, oder: Der Reisebericht als Intertext“, in: Herbert Foltinek

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denburg,11 indem er Orte aufsucht, die auch Fontane beschreibt, und knüpft intertextuell an den Vorläufer an, wenn er am See Stechlin – nach jahrelanger Fontane-Lektüre „Synonym einer Sehnsucht“12 – aus dem gleichnamigen Roman oder an anderer Stelle aus den Wanderungen zitiert.13 Zum einen imitiert er einen zentralen Aspekt der Reise Fontanes, nämlich dessen (kultur-)historisches Interesse an den Orten, die er besucht,14 zum anderen verweist er mit dem Titel „Brandenburger Elegien“ auf den Gedichtzyklus Buckower Elegien,15 den Bertolt Brecht 1953 als Reaktion auf die Demonstrationen und Proteste in der DDR am 17. Juni des gleichen Jahres in der Märkischen Schweiz verfasste. Giordano knüpft somit an eine Tradition historisch-politischen Schreibens an, die mit dem Landstrich assoziiert wird, und entwickelt anhand der brandenburgischen Topographie ein Panorama deutscher Geschichte des 20. Jahrhunderts.16 Neben Fontane und Brecht stellt der Romantiker Achim von Arnim, dessen Gut der Autor besucht, einen weiteren Bezugspunkt der deutschen Kultur dar.17 Im Kontrast dazu steht die Thematisierung deutscher Unkultur: Der Besuch des Konzentrationslagers Ravensbrück und die Auseinandersetzung mit der deutschen Erinnerungskultur beherrschen den weiteren Verlauf des Kapitels. Giordano besucht häufig Orte, die Schauplatz historischer Ereignisse gewesen sind und die als „Erinnerungsorte“ – zum Teil auch institutionell – Teil am deutschen Erinnerungsdiskurs haben.18 Dabei stellt er die Erinnerungsleistung der Deut-

u.a. (Hrsg.), Tales and „their telling difference“. Zur Theorie und Geschichte der Narrativik. Festschrift zum 70. Geburtstag von Franz K. Stanzel, Heidelberg 1993 (Anglistische Forschung 221), S. 109–132, und Ders., „Autopsie und intertextuelle Spurensuche. Der Reisebericht und seine VorSchriften“, in: Gisela Ecker/Susanne Röhl (Hrsg.), In Spuren Reisen. Vor-Bilder und Vor-Schriften in der Reiseliteratur, Berlin 2006 (Reiseliteratur und Kulturanthropologie 6), S. 11–30. 11 Theodor Fontane, „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, in: Ders.: Sämtliche Werke, Abt. II, Bd. 1–3, Walter Keitel (Hrsg.), München 1966–1968. 12 Giordano, Deutschlandreise, S. 115. 13 Vgl. ebd., S. 121, S. 127 und S. 171. 14 Mit Pfister, „Intertextuelles Reisen“, S. 120, lässt sich hier von „[h]uldigende[r] Intertextualität“ sprechen. 15 Bertolt Brecht, „Buckower Elegien“, in: Ders.: Werke. Große kommentierte Frankfurter und Berliner Ausgabe, Bd. 12, Werner Hecht u.a. (Hrsg.), Berlin u.a. 1988, S. 305–315. 16 Die Bedeutung des Raumes als kultureller Größe ist seit der raumkritischen Wende in den Kulturwissenschaften unabweisbar. Siehe dazu exemplarisch Doris Bachmann-Medick, „Spatial turn“, in: Dies., Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek bei Hamburg 2006, S. 284–328. 17 Vgl. Giordano, Deutschlandreise, S. 116 f. 18 Der Begriff ‚Ort‘ wird in kulturwissenschaftlichen Debatten – in Anknüpfung an Pierre Norra (Hrsg.), Les lieux de mémoire, 7 Bde., Paris 1984–1992 – häufig metaphorisch verwendet, vgl. exemplarisch Etienne François/Hagen Schulze, „Einleitung“, in: Dies. (Hrsg.), Deutsche Erinne 

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schen auf den Prüfstand: In Ravensbrück drückt er zunächst ein grundsätzliches Unbehagen an Formen der Erinnerung aus, durch die die Zeit des Nationalsozialismus vergegenwärtigt werden sollen: Im Lauf meines Lebens bin ich immer empfindlicher geworden gegenüber Gestaltungen von Gedenkstätten und möchte, daß des Unsagbaren nur dort gedacht wird, wo es stattgefunden hat. Und auch da äußerste Schlichtheit und Zurückhaltung, weil das Grauen des Ortes für sich spricht.19

Da für Giordano gerade die Präsenz am Ort des Geschehens dafür einsteht, dass adäquat erinnert wird, stellen die Reise an den jeweiligen Erinnerungsort und das Schreiben darüber für ihn eine besonders geeignete Formen dar, die mit dem Raum assoziierten Ereignisse aufzurufen. Der Erzähler betont diesen Vorgang, wenn er seine Reflexionen über die damaligen Ereignisse und ihre Folgen mit Formeln wie „Ich stehe davor und denke“20 einleitet. Giordano beschreibt in seiner Deutschlandreise wiederholt Formen des Gedenkens und reflektiert die Erinnerungskultur in Deutschland kritisch. Indem er auf diese Weise seine Thesen zur Haltung, die die Deutschen zu ihrer Vergangenheit einnehmen, durch die Begegnungen mit Menschen ‚vor Ort‘ überprüft, erhalten seine Reflexionen einen Realitätsgehalt, den der Autor nutzt, um die Glaubwürdigkeit seiner Aussagen zu stützen. Am Obersalzberg etwa nimmt er die Rolle eines Beobachters zweiter Ordnung ein, der die Reaktion der anderen Besucher in den Blick nimmt. Giordano besuchte den Berg kurz nach Abzug der amerikanischen Streitkräfte im Juni 1996, zu einem Zeitpunkt also, als die Einrichtung der Gedenkstätte Dokumentation Obersalzberg 1999 und somit die Institutionalisierung des Erinnerns noch bevor stand. Zunächst begründet er seine Reise damit, dass er sich mit seiner eigenen Vergangenheit konfrontieren wolle: Es sei sein Ziel, „mit [s]einer Biographie verbundene Horrorplätze aufzusuchen, um der äußeren

rungsorte, 3. Bde., München 2001, Bd. 1, S. 9–24, hier S. 17: „Da das Wort ‚Erinnerungsort‘ zu Mißverständnissen führen kann, sei hier nur daran erinnert, daß es sich nicht um einen Begriff im philosophisch-analytischen Sinne handelt, sondern um eine Metapher. […] Dergleichen Erinnerungsorte können ebenso materieller wie immaterieller Natur sein […].“ Die Autoren der Deutschlandreisen suchen konkrete ‚Orte‘ auf, die Schauplatz historischen Geschehens gewesen sind, ihnen kommt dabei im gleichen Sinne „symbolische[] Funktion“ als „Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität“ (ebd., S. 18) zu wie anderen Topoi auch. – Den differierenden Gebrauch des Begriffs ‚Erinnerungsorte‘ in verschiedenen Ansätzen hat Tilmann Robbe, Historische Forschung und Geschichtsvermittlung. Erinnerungsorte in der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, Göttingen 2009, detailliert herausgearbeitet. 19 Giordano, Deutschlandreise, S. 119. 20 Ebd., S. 120.

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Befreiung die innere folgen zu lassen.“21 Bewusst setzt er seinen Besuch am Obersalzberg mit anderen Orten gleich – der Wolfsschanze, dem Führerbunker, den Konzentrationslagern Buchenwald, Dachau, Neuengamme, SachsenhausenOranienburg und Auschwitz –, die man mit Aleida Assmann als „[t]raumatische Orte“ bezeichnen kann.22 Darunter fasst Assmann einerseits die Konzentrationslager, zum anderen Orte, die sie als „Gedächtnisorte wider Willen“23 bezeichnet und zu denen sie „traumatische[…] Ort[e] im Land der Täter“24 zählt. Auch Giordano greift den Begriff des Traumas auf: Die „Traumatisierte[n]“ stünden vor dem Problem, wie ihnen „die innere Befreiung“ gelingen könne. Die eigene Strategie beschreibt er wie folgt: „Deshalb hat es für mich nur einen, von Anfang an bis heute durchgehaltenen Weg gegeben: mir selbst zu helfen dadurch, daß ich berühre, daß ich anfasse, andenke, was mir seinerzeit Abscheu, Todesangst, Grauen eingeflößt hat – daß ich mich ihm stelle.“25 Die Handlungen „anfasse[n]“ und „andenke[n]“ beschreiben hier die Funktion des Ortes: Die memoria am authentischen Schauplatz soll dazu beitragen, das traumatische Ereignis zu bewältigen. Giordano beschreibt dieses Geschehen als „Heilungsprozess[…]“.26 Während die Erinnerung des traumatisierten Autors hier zunächst noch als sehr persönliche Erfahrung beschrieben wird, weitet Giordano darüber hinaus den Blick, indem er die historischen Ereignisse rekonstruiert und die kollektive Erinnerung der Deutschen in seine Darstellung mit einbezieht. Zunächst skizziert er die Geschichte des Ortes seit dem ersten Besuch Hitlers im Jahr 1923: den Kauf und Ausbau des Geländes, die Vertreibung der Anwohner, die entstandenen Gebäudekomplexe, dann die Zerstörung durch die Alliierten und die Nutzung durch die Amerikaner bis hin zur Furcht der bayrischen Landesregierung, nach deren Abzug könnte der Obersalzberg „zu einem Schauplatz rechtsradikaler Umtriebe“ werden.27 Nachdem er die historischen Fakten mitgeteilt hat, nimmt er die Bedeutung des Ortes in den Blick und fragt gezielt danach, was die 300 000 Touristen, die den Obersalzberg im Jahr besuchen, antreibt: „Alles braune Brüder und Schwestern? Wohl kaum, wenn ich mich so umsehe und die Menschen in  

21 Ebd., S. 48. 22 Aleida Assmann, Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses, München 1999, S. 328. 23 Ebd., S. 334. 24 Ebd., S. 336. 25 Giordano, Deutschlandreise, S. 49. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 45.

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Augenschein nehme. Trotzdem würde ich gerne wissen, was sie hier heraufgeführt hat und mit welchen Erwartungen.“28 Um diese Frage nach der Haltung der Deutschen beantworten zu können, greift Giordano auf ein Verfahren zurück, dass er neben dem Dialog mit anderen Personen wiederholt einsetzt, um Einstellungen zu überprüfen: Er beschreibt Broschüren und Schriften, die er vor Ort vorfindet. Bei der Ankunft am Obersalzberg fällt seine Bilanz zunächst nüchtern aus: Gleich am Busstand finden sich „grelle Titel“ mit einem „gefühlvolle[n] Text“ zum Tierfreund Adolf Hitler, der lautet: „‚Die Mentalität des deutschen Schäferhundes vereinbart sich sehr gut mit Hitlers Einstellung zum Deutschtum. Durch Kraft, Stärke, Kampfmut und Treue gelangte der deutsche Schäferhund noch zu mehr Ruhm und Ansehen.‘“29 Nur unter „heftige [m] Brechreiz[]“ sei er in der Lage gewesen, seine Lektüre fortzusetzen, um dann zu schließen: „Wer also auf dem Obersalzberg naiverweise nach dem Täter Deutschland fahnden würde, der könnte sich gleich auf den Weg zurück machen.“30 Somit sieht Giordano seine Befürchtung, hier werde NS-Verherrlichung betrieben, zunächst bestätigt. Entsprechend beklemmend, „extrem schwer“, erscheint ihm die Busfahrt zum Kehlsteinhaus, da er befürchtet, „oben möglicherweise zum Zeugen mehr oder weniger verborgener Hakenkreuznostalgien zu werden.“31 Ganz anders als erwartet verhalten sich jedoch die mitreisenden Touristen: Im Bus dann um mich herum viele Ausländer, fremde Sprachen, laute Stimmen, am lautesten Italienerinnen und Italiener. Sie lachen, scherzen und verbinden mit dieser Fahrt offensichtlich ganz andere Empfindungen als ich. Aber statt darüber befremdet oder empört zu sein, spüre ich eher Erleichterung.32

Die Frage, wie man sich an einem Ort, der im Erinnerungsdiskurs eine besondere Rolle spielt, zu verhalten habe, bestimmt den weiteren Verlauf des ObersalzbergKapitels. Doch erscheint der Autor in der Folge bei weitem nicht so gelassen, wie sein Urteil über die im Bus mitfahrenden Reisenden nahelegt.33 Der Aufstieg zum Kehlsteinhaus, dessen letzte Meter Giordano zu Fuß zurücklegt, geht mit einer Erwartungshaltung auf Seiten des Sprechers einher: „Was mag mich da oben erwarten? Oder sehe ich überall Gespenster?“34 Die bekannten Bilder und Film-

28 Ebd., S. 48. 29 Ebd., S. 46. 30 Ebd., S. 47. 31 Ebd., S. 52. 32 Ebd. 33 Ähnlich harsch erscheint die Reaktion auf Passanten, die in Dresden den Ort des Gedenkens an die ehemalige Synagoge übersehen. Vgl. ebd., S. 233. 34 Ebd., S. 54.

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aufnahmen vom Obersalzberg – Eva Braun mit Hitler und Hund vor der Alpenkulisse – werden mit dem gegenwärtig Wahrgenommenen überblendet: Vor meinem inneren Auge passieren hier auf der Terrasse des Teehauses noch einmal besagte Fotos und Filmaufnahmen Revue – Hitler als Zivilist unter seinen Nächsten (soweit das außer dem Schäferhund überhaupt auf ihn zutreffen konnte), der Führer im Anzug, eine Verkleidung die mich seit eh und je in ihrer betrügerischen Verharmlosung entsetzt hat – und die einstige Bühne für all das da unmittelbar vor mir. […] Das Kehlsteinhaus dagegen ist mir […] angesichts dieses Hausherrn zu täuschend, zu verharmlosend – und gerade deshalb noch unheimlicher.35

Vor dem Hintergrund der Bedeutung des Ortes und der eigenen Erfahrungen erscheint ihm die nun beobachtete Ausflugsidylle entsetzlich. Das Verhalten der Besucher wird mit der Gefühlslage des Sprechers kontrastiert, wodurch nahegelegt wird, dass die Fähigkeit und der Wille der Besucher, am Ort der Täter an die Verbrechen des Nationalsozialismus zu erinnern, in Frage gestellt wird: Irritierend erscheint ein Radfahrer, der mit dem Ausruf „‚24 Gänge hat das Velo, 24!‘“ gen Gipfel fährt.36 An den Verkaufsständen lassen sich Postkarten erwerben, die die Aufschrift tragen: „‚An diesem schönen Platz hab’ ich an Dich gedacht, und Dir zur Freude dieses Bildchen mitgebracht!‘“ Alles sei geprägt von „Fernrohr, Panoramablick“.37 Im Ausflugslokal herrsche gute Laune, „ohne daß auch nur ein Funken Andacht zu verspüren wäre.“38 Durch den Kontrast zwischen der subjektiven Wahrnehmung, den erinnerten historischen Ereignissen und dem Verhalten der Touristen stellt Giordano in Frage, ob es möglich ist, bei der touristischen Erschließung die Pietät zu bewahren. So sehr der Autor bemüht ist, Verständnis für das Verhalten der Nachgeborenen aufzubringen, so scheitert der Versuch spätestens in Hinblick auf seine eigene Generation, die er „meine Problemgeneration“39 nennt. Zwei Männer und eine Frau seines Alters, die sich neben ihm auf einer Bank niederlassen, lösen Fluchtreflexe aus: Deshalb will ich weg, will ich aufstehen und lieber nicht zuhören, was sie sprechen, möglicherweise gerade hier, gerade an dieser Stelle. Alle drei hatten sich vor meinem inneren Auge sofort in ihr damaliges Bild verwandelt, die Frau jung und in BDM-Tracht, die

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Ebd., S. 55 f. Ebd., S. 54. Ebd., S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 57.  

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beiden Männer in Hitlerjugend- und Wehrmachtsuniform. Und nun fürchte ich, alsbald zum Zeugen gewisser Bekenntnisse zu werden […].40

Die Befürchtung erweist sich in der Folge jedoch als unbegründet, denn das Gesprächsthema hat nichts mit der Vergangenheit zu tun. Giordano erfassen angesichts der eigenen „Pauschalisierungen und Unterstellungen“ Scham und ein „schlechtes Gewissen“.41 Indem er wiederholt seine eigene Erwartungshaltung durch Gespräche und Begegnungen überprüft und revidiert,42 erhalten seine Darstellungen eine selbstreflexive Ebene, die seinen Bewertungen Glaubwürdigkeit verleiht. Während Wolfgang Büscher, der den Obersalzberg gut zehn Jahre nach Giordano besucht, keine Kontextualisierung des Schauplatzes vornimmt und sich darauf verlässt, dass der Leser die Umstände kennt und die Bedeutung des Ortes einordnen kann,43 erzählt Giordano die historische Entwicklung am Obersalzberg ausführlich. Indem er die frühere Funktion der einzelnen Bauwerke benennt und die eigenen Erinnerungen und Empfindungen mit seinen Beobachtungen verknüpft, erscheint sein Obersalzberg-Kapitel als Dokument eines Zeugen, der die Bedeutung des Ortes beschreibt, aktualisiert und bewahrt. Der Autor nimmt eine Deutung und Bewertung der Vergangenheit und Gegenwart vor, die ihre Autorität aus seiner Biographie als Holocaust-Überlebender schöpfen. Giordanos Kapitel über Dresden erscheint in Bezug auf die Frage, wie sich die Deutschen an die Vergangenheit erinnern, besonders brisant, da der Autor in die Stadt an der Elbe fährt, um seine Beziehung zu den im Zweiten Weltkrieg durch Luftangriffe der Alliierten getöteten Deutschen zu reflektieren. Damit leistet er einen Beitrag zur Bombenkriegsdebatte, die ab Mitte der 1990er und zu Beginn der 2000er Jahre in der deutschen Öffentlichkeit geführt wurde. Dies geschah unter anderem als Reaktion auf die Veröffentlichung von W.G. Sebalds 1997 gehaltenen und 1999 unter dem Titel Luftkrieg und Literatur veröffentlichen

40 Ebd. Eine analoge Überblendungstechnik findet sich auch im Kapitel zu Bad Wörishofen: „Ich brauche nur auf einen inneren Auslöser zu drücken, und schon sehe ich sie alle vor mir in ihrem Habitus von damals: den Jägerhut als Standortkommandant der Wehrmacht im besetzten Frankreich, die Schachspieler als uniformierte Fanfarenbläser der Hitlerjugend, den Krachledernen als Landser auf Rußlands sommergedörrten oder wintervereisten Fluren und die Silberhaarigen unter den Blumenhütchen jugendfrisch in Reih und Glied des Bund Deutscher Mädel (BDM).“ (ebd., S. 30). 41 Ebd., S. 58. 42 Vgl. etwa ebd., S. 35, und S. 106–108. 43 Vgl. Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2008, S. 164–166.

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Züricher Vorlesungen. Sebald konstatierte, die deutsche Literatur habe sich mit den Luftangriffen und deren Folgen nicht auseinandergesetzt, und sah einen bis heute „perfekt funktionierenden Mechanismus der Verdrängung“ wirksam.44 Den Höhepunkt der Debatte stellte wohl die Auseinandersetzung mit Jörg Friedrichs Buch Der Brand (2002) dar,45 eine Publikation, an der von verschiedener Seite Kritik geübt wurde: Hans-Ulrich Wehler etwa warf Friedrich eine zu emotionalisierende Darstellungsform, eine fehlende Kontextualisierung und sprachliche Gleichsetzung des Bombenkriegs mit dem Schrecken des Holocaust vor.46 Auch Giordano nahm im Januar 2003 in der Jüdischen Allgemeinen Stellung zu Friedrichs Thesen.47 Seine Auseinandersetzung mit dem eigenen Verhältnis zu den deutschen Luftkriegstoten und dem Umgang der Deutschen mit diesem Thema fand jedoch schon früher statt, wie die Beschreibung seiner Reise nach Dresden 1997 in Deutschlandreise verdeutlicht: Ich bin nach Dresden gekommen, um mein eigenes Verhältnis zu den Luftkriegstoten zu klären. Da klaffte allzu lange ein Loch, das geschlossen, ein Vakuum, das gefüllt werden muß – ich habe diesen Toten gegenüber nicht das gleiche Gefühl der Trauer und des Schmerzes wie gegenüber jenen, die im KZ, in den Vernichtungslagern, im Kampf gegen Hitlerdeutschland umgekommen sind.48

Giordano, der die Verfolgung durch die Nationalsozialisten in einem Versteck in Hamburg überlebte, hatte die Bombardierung der Hansestadt selbst miterlebt und die „angloamerikanische Bomberbesatzungen“ als „Befreier[]“ und „Bundesgenossen“ gegen Hitlerdeutschland begrüßt.49 Dass er diesem an sich selbst beobachteten „Emotionsdefizit“50 gegenüber den deutschen Opfern nicht in Hamburg, sondern in Dresden nachgeht, begründet er wie folgt: Die Dresdener Bombennacht sei „aus diesem Massenschicksal weit herausgehoben im öffentlichen Bewußtsein. Kein Ereignis des Bombenkriegs hat sich darin so tief eingegraben

44 Winfried Georg Sebald, Luftkrieg und Literatur. Mit einem Essay zu Alfred Andersch, München/ Wien 1999, S. 20. 45 Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, München 2002. 46 Vgl. etwa Hans-Ulrich Wehler, „Der Weltuntergang kann schlimmer nicht sein“, in: Süddeutsche Zeitung vom 14.12.2002, wieder abgedruckt unter dem Titel „Wer Wind sät, wird Sturm ernten“, in: Lothar Kettenacker (Hrsg.), Ein Volk von Opfern? Die neue Debatte um den Bombenkrieg 1940–45, Berlin 2003, S. 140–144. 47 Ralph Giordano, „Ein Volk von Opfern?“, in: Jüdische Allgemeine vom 15.01.2003, wieder abgedruckt in: Kettenacker, Ein Volk von Opfern?, S. 166–168. 48 Giordano, Deutschlandreise, S. 226. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 228.

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wie die Februarnacht von Dresden.“51 Die Stadt stellt nicht nur bei Giordano den zentralen Ort dar, auf den sich die kollektive Erinnerung an die Luftkriegstoten bezieht. Darüber hinaus scheint sie sich als Schauplatz zu eignen, um die DDRVergangenheit und die Ereignisse nach 1989 zu erzählen. Die zahlreichen Darstellungen Dresdens in der Gegenwartsliteratur zeugen davon, etwa Rosenlöchers Dresdner Tagebuch, Kempowskis Der rote Hahn, Grünbeins Porzellan oder die von Renatus Deckert herausgegebene Lyrik-Anthologie Die wüste Stadt sowie Marcel Beyers Roman Kaltenburg und Uwe Tellkamps Der Turm.52 Um zu beobachten, welche Haltung die Deutschen gegenüber den Opfern des Luftkriegs einnehmen, fährt Giordano am 13. und 14. Februar 1997, am Tag des 52-jährigen Gedenkens der Bombennacht nach Dresden. In seiner Beschreibung der Stadt überlagern sich dabei verschiedene Erinnerungsschichten: die biographische Erinnerung an die Bombardierung Hamburgs, die Vergegenwärtigung der Dresdener Geschichte anhand verschiedener Gebäude, das Andenken an das Niederbrennen der Dresdener Synagoge und die Judenverfolgung, die Rekonstruktion der Bombennacht im Februar 1945 und schließlich die rückblickende Bewertung verschiedener Gedenktage in der Stadt. Bei seiner Annäherung an Dresden greift Giordano auf eine Grundtechnik seines Erzählens zurück, wenn er – wie schon im Fall des Obersalzbergs – zunächst die historischen Ereignisse durch die genaue Wiedergabe von Datum, Uhrzeit, Zahl der Flieger und Bomben, Schätzungen der Zahl der Bombenopfer53 sowie die Abwägung, inwieweit die Bombardierung Dresdens militärisch sinnvoll gewesen sei, eingehend rekonstruiert.54 Giordano schreitet die Stadt ab, bis die „Topographie des alten Dresden“ für ihn „Konturen“ bekommt.55 Zuerst besucht er den Platz, an dem die Synagoge in Dresden stand, und den jüdischen Friedhof: Es scheint, als müsse er sich die Verbrechen der Deutschen nach 1933 ins Gedächtnis rufen, bevor er sich den

51 Ebd., S. 225 f. So überrascht es nicht, dass die Aktion ‚Donnerschlag‘ den ersten zentralen Bezugspunkt in Olaf B. Raders Artikel zu Dresden als ‚Erinnerungsort‘ darstellt, vgl. Olav B. Rader, „Dresden“, in: Etienne/Schulze, Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 3, S. 451–470. 52 Thomas Rosenlöcher, Die verkauften Pflastersteine. Dresdener Tagebuch, Frankfurt am Main 1990, Walter Kempowski, Der rote Hahn. Dresden im Februar 1945, München 2001, Durs Grünbein, Porzellan. Poem vom Untergang meiner Stadt, Frankfurt am Main 2005, Renatus Deckert (Hrsg.), Die wüste Stadt. Sieben Dichter über Dresden, Frankfurt am Main 2005, Marcel Beyer, Kaltenburg, Frankfurt am Main 2008, Uwe Tellkamp, Der Turm, Frankfurt am Main 2008. Zur Darstellung Dresdens in der Gegenwartsliteratur siehe Gesa von Essen, „‚Wozu klagen, Spätgeborner?‘ Die Zerstörung Dresdens in der deutschen Literatur nach 1989“, in: Thomas Klinkert/Günter Oesterle (Hrsg.), Katastrophe und Gedächtnis, Berlin/Boston 2013 (linguae & litterae 25), S. 403–446. 53 Vgl. bes. Giordano, Deutschlandreise, S. 225. 54 Vgl. ebd., S. 238 f. 55 Ebd., S. 230.  



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Luftkriegstoten zuwenden kann.56 Bei der Betrachtung der Dresdener Altstadt wird er dann von seinen Emotionen übermannt: Dahinter lag dicht bewohnt die Altstadt. Von hier oben aus gesehen, muß sie in jener Nacht vom 13. und 14. Februar wie eine Riesenfackel gelodert haben. Der Himmel hat aufgeklart, es weht leicht, für die Jahreszeit ist es zu warm. Und plötzlich, bei diesem Anblick, diesen Assoziationen, kommt eine ungeheure Wut in mir hoch.57

Giordanos Wut gilt hier jedoch nicht den Getöteten oder der Zerstörung der Stadt, sondern der „Instrumentalisierung der Tragödie“.58 Deutlich wird, dass er im Dresden-Kapitel gegen eine bestimmte Bewertung deutscher Vergangenheit anschreibt: „Die Vorgeschichte wird grundsätzlich ausgeblendet, der historische Kontext vermieden, all seine Kausalitäten gekappt und – heftige Trauer für die Toten bekundet.“59 Ein ‚neuer‘ deutscher Opferdiskurs sei nicht gerechtfertigt, dafür fehle der deutschen Gesellschaft, die nach dem Krieg die Ereignisse des Nationalsozialismus verdrängt habe, die „moralische[…] Glaubwürdigkeit“.60 Als positives Gegenbeispiel für eine angemessen Form der Erinnerung führt er die Gedenkkundgebung in Dresden vom Februar 1995 und die Rede des damaligen Bundespräsidenten Roman Herzog an. Das Grundmotto der Veranstaltung sei der Satz des Dresdener Oberbürgermeisters Hermann Wagner gewesen: „‚Die Brandfackel ist von uns ausgegangen und war auf uns zurückgefallen.‘“61 Erinnerung an deutsche Opfer kann laut Giordano nur dann angemessen sein, wenn man die Ursachen der Bombardierung durch die Alliierten nicht ausblendet. Eine Positionierung bleibt für den Autor schwierig, denn: „Mein Leben ist an diese Opfer [des Nationalsozialismus; C.R.] gebunden, alle erkämpften und erlittenen Kriterien erwuchsen aus dieser Bindung; sie ist mein Leitfaden, mein Kompaß.“62 Von diesem „Kompaß“ wird auch Giordanos Darstellung und Bewertung der DDR und der Ereignisse von 1989/90 geprägt. Der Autor parallelisiert wiederholt die DDR- und NS-Zeit und fragt grundsätzlich nach dem Verhalten von Menschen in autoritären Systemen. So diskutiert er beispielsweise das Verhältnis von Befehl und Gehorsam anhand der Begegnung mit einem Leipziger Taxifahrer, der früher bei der Volkspolizei gewesen ist und der die Frage, ob er auf Demonstranten geschossen hätte, positiv beantwortet: „‚Einen Befehl zu verweigern, dazu waren

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Vgl. ebd., S. 232 f. Ebd., S. 235. Ebd., S. 236. Ebd. Ebd., S. 240. Ebd., S. 241. Ebd., S. 246.  

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wir nicht erzogen worden, das war undenkbar.‘“63 Giordano liest diese Haltung als „Prolongierung, […] Aktualisierung einer deutschen Negativtradition“64 und bewertet die Verhältnisse während der DDR-Zeit vor dem Hintergrund des Nationalsozialismus. Die demokratische Staatsform stellt für ihn die einzige Garantie dafür dar, dass sich die Schrecken der NS-Herrschaft und das Unrecht durch die DDR-Diktatur nicht wiederholen. Die eingangs gestellte Frage, ob es richtig gewesen sei zu bleiben, beantwortet er sich zumindest teilweise dadurch, dass Westdeutschland in der Nachkriegszeit und die neuen Bundesländer nach der Wende erfolgreich in ein demokratisches System überführt worden seien: „Solange Demokratie in Deutschland herrscht, gebe ich meinem mir von den Nazis injizierten Fluchtinstinkt nicht nach.“65 Giordanos Deutschlandreise kann – gerade vor dem Hintergrund der im Text dargestellten Vergangenheitsrekonstruktionen und Erinnerungsdiskurse – vor allem als Plädoyer für die Demokratie gelesen werden. Es bleibt festzustellen, dass Giordano an Orten kollektiver Erinnerung deutsche Geschichte rekonstruiert und vor dem Hintergrund der eigenen Biographie kritisch bewertet. Mit seinem Reisebericht schreibt er sich dabei in eine kulturelle Tradition ein, für die er wiederholt seine Bewunderung ausdrückt, ohne sie jedoch romantisch zu verklären. Indem er als Zeitzeuge an die Verbrechen des Nationalsozialismus erinnert und die Haltung der Deutschen zur eigenen Geschichte auf seiner Reise überprüft, schreibt er gegen einen Geschichtsrevisionismus an, der die Bedeutung des Holocaust relativiert. Nur vor dem Hintergrund der Erinnerung an den Schrecken des 20. Jahrhunderts erscheint Giordano die Frage nach deutscher (kultureller) Identität zulässig.

II. Wolfgang Büscher erzählt deutsche Nachkriegsgeschichten Wolfgang Büscher reiste 2004 in großen Teilen zu Fuß durch Deutschland und umrundete das Land ausgehend vom Rhein im Uhrzeigersinn.66 Während er in seinem zuvor erschienen Bericht Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß (2003) die Motivation seiner Reise biographisch begründet67 und an anderer Stelle über

63 Ebd., S. 97. 64 Ebd., S. 98. 65 Ebd., S. 37. 66 So rekonstruiert Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 144 und S. 153, den Zeitpunkt der Reise. 67 Auf seiner Wanderung nach Moskau begleitet Büscher die Erinnerung an seinen an der Ostfront gefallenen Großvater als ein biographisch motivierter Anlass der Reise. Vgl. Wolfgang Büscher, Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß, 7. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2008, S. 18.

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externe Faktoren Auskunft gibt, die ihn dazu gebracht hatten, diese Strecke zu wählen,68 fehlen in Deutschland, eine Reise (2005) explizite Angaben, die die Gründe für die Wahl der Route oder den Zeitpunkt der Reise erläutern. Büscher stellt seinem Deutschlandbuch jedoch ein eröffnendes Kapitel voran, das er als Ouvertüre gestaltet und das Ziel und Inhalt des Textes nennt. In dieser Einleitung erzählt Büscher, wie er von Westen her den Rhein durchschwimmt.69 Dabei ruft er durch das Thema und die Art der Beschreibung Assoziationen zu bekannten Rheindarstellungen des 19. Jahrhunderts, der Romantik und Wagner auf und signalisiert nicht zuletzt durch die Tatsache, dass er hier der „Germania“70 entgegen schwimmt, dass in diesem Text die Frage nach der deutschen Identität verhandelt wird. Diesem Thema nähert sich Büscher vor allen Dingen dadurch an, dass er deutsche Vergangenheit rekonstruiert und nach den Konsequenzen historischer Erfahrung für die Gegenwart fragt. Der Zweite Weltkrieg stellt dabei das zentrale Ereignis dar, das Büschers Schreiben bestimmt.71 Schon in seinem 1998 veröffentlichten Buch Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer lässt sich beobachten, dass der Autor das 20. Jahrhundert durch Einschnitte gliedert: In den drei ersten Kapiteln beschreibt er den Sommer 1945, den Herbst 1968 und den 10. November 1989 als Brüche, die – so legt der Titel nahe – den Neubeginn, den 68 Büscher rekonstruiert in einem Interview, dass die Idee zu dieser Reise in einem Gespräch mit seinem Verleger Alexander Fest entstanden sei, bei dem man überlegt habe, „was man so machen könnte“ (Matthias Prangel/Wolfgang Büscher, „Gespräch mit Wolfgang Büscher“, in: Deutsche Bücher 36/2006, 1, S. 5–17, hier S. 7). 69 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 9–11. 70 Ebd., S. 11. Dabei handelt es zunächst um die „Oelwerke Germania“, doch Büscher verzichtet in der Folge auf den Zusatz und spricht nur noch von der „Germania“, was nahelegt, dass nun das Land gemeint ist. 71 So schon Horst Köhler in seiner Rede zur Verleihung des Ludwig-Börne-Preises zu Büschers Schreiben: „Und doch erscheint es mir und vielleicht auch anderen Lesern so, dass hier ein verborgener Plan, ein roter Faden zu finden sei. In alle seine Geschichten wirken immer wieder der Krieg und seine Spuren und Folgen hinein. Die ‚Stunde Null‘, jener seltsame Ausdruck für das Kriegsende und den Neuanfang 1945, ist der Ausgangspunkt für das Schreiben und die Erkundungen Wolfgang Büschers.“ (Horst Köhler, „Im Gehen wird das Nachdenken genauer. Drei Reiseberichte, drei Annäherungen an Deutschland: Laudatio auf Wolfgang Büscher, den diesjährigen Träger des Ludwig-Börne-Preises“, in: Die Zeit, 28.06.2006, http://www.zeit.de/2006/27/Rede-Brne-Preis [Stand: 19.06.2012]). Diese Aussage kann als Allgemeingut der Buch-Besprechungen gelten, siehe exemplarisch Gustav Seibt, „Zu Fuß durch Deutschland. Wolfgang Büscher notiert Alltagsgeschichten entlang der Grenze“, in: Deutschland Radio Kultur, 28.09.2005, http://www. dradio.de/dkultur/sendungen/kritik/423182/ (Stand: 19.06.2012), und Nils Minkmar, „Apokalypse in Pforzheim. Auch das ist ein langer Lauf zu sich selbst: Wolfgang Büschers Protokoll seiner Deutschlandreise“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2005, http://www.faz.net/aktuell/ feuilleton/buecher/rezensionen/sachbuch/apokalypse-in-pforzheim-1283066.html (Stand: 19.06. 2012).

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Anfang einer neuen Zeit markieren.72 Jedoch ist Walter Klier zuzustimmen, dass Büscher die Ereignisse 1968 und 1989 – die Studentenbewegung und die Wende – eher als „Spätfolgen des Jahres ’45“ versteht.73 Gleiches gilt für Deutschland, eine Reise: Die Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg erscheint unzugänglich, da 1945 „alles auf null gestellt“ worden sei.74 Der Krieg stellt für Büscher den entscheidenden Bruch mit der Vergangenheit dar, der alle weiteren historischen Entwicklungen und die deutsche Mentalität bestimme. Die Zeit von 1945 bis heute erzählt er als Nachkriegsgeschichte. In seinem Kapitel über Helgoland beschreibt Büscher den Zeitenbruch des Zweiten Weltkriegs, indem er die Möglichkeit einer adäquaten Annäherung an die Jahre vor 1945 in Frage stellt. Um Vergangenheit dennoch zu vergegenwärtigen, greift er auf ein für seine Darstellung typisches Verfahren zurück: Indem er Quellenmaterial mit einbezieht, erscheint es möglich, längst verstorbene Zeitzeugen zu Wort kommen zu lassen. Zitate aus Tagebüchern und Berichten ersetzen bei der Wiedergabe vergangener Ereignisse das Gespräch mit Menschen, denen der Autor sonst auf seiner Reise begegnet. Schriftliche Zeugnisse treten an die Stelle der mündlichen Berichte von Zeugen, ein Prozess, wie Jan Assmann ihn für den Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis beschrieben hat.75 Sein Kapitel über Helgoland beginnt Büscher zunächst mit der Beschreibung der Umgebung und lenkt den Blick auf die „Krater“, die Bombentrichter, die auf der Insel zahlreich zu finden sind. Die Sinneswahrnehmungen dienen hier allein als Anlass, die Geschichte Helgolands zu erzählen und historische Fakten wiederzugeben.76 Exkursartig berichtet Büscher von der Evakuierung der Insel nach dem Krieg, dem Versuch der Briten, Helgoland am 18. April 1947 zu sprengen, um die Bunkeranlagen zu zerstören, der anschließenden Nutzung der Insel als Bombenabwurfplatz, ihrer Besetzung und schließlich ihrer Rückgabe an Deutschland 1952. Ergänzt wird diese historische Zusammenfassung durch die Lektüre des Kriegstagebuches des Arztes Walter Kropatschek.77 Bevor Büscher sich jedoch mit den Aufzeichnungen des Arztes auseinandersetzt, reflektiert er

72 Wolfgang Büscher, Drei Stunden Null. Deutsche Abenteuer, 2. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2003, S. 7–42. 73 Walter Klier, „Um Deutschland. Die Reisen des Wolfgang Büscher“, in: Merkur 60/2006, 682, S. 159–163, hier S. 161. 74 Prangel/Büscher, „Gespräch mit Wolfgang Büscher“, S. 14. 75 Zur Unterscheidung von ‚kulturellem‘ und ‚kommunikativem Gedächtnis‘ vgl. Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1992, S. 48–66. 76 Vgl. Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 33. 77 Walter Kropatschek, Nächte und Tage auf Helgoland: Aufzeichnung des Inselarztes Walter Kropatschek, 3. Aufl., München 1989.

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explizit die Schwierigkeit, sich die Vergangenheit zu vergegenwärtigen, die er selbst nicht erlebt hat: Ich las nicht gleich. Am Bild auf dem Umschlag blieb ich hängen, seinem Foto im Halbprofil. Und wieder dachte ich, dass es ausgestorbene Gesichter gibt, dass Zeiten ihre Gesichter haben.78

Die Betrachtung des abgebildeten Gesichts führt einerseits zur Frage nach der Person des Abgebildeten: „Waren Sie ein schöner Mann, Herr Doktor? Waren Sie glücklich?“79 Andererseits versucht der Erzähler, sich die Lebensumstände des Arztes vor dem Krieg zu vergegenwärtigen, indem er sich ihn in verschiedener Kleidung vorstellt. Die Möglichkeiten, die verschiedenen Lebensbereiche des Arztes zu erfassen, sind jedoch beschränkt: Hier war Schluss mit dem Kostümfest in der Dachkammer. Weiter kam ich nicht mit ihm. Gerade so bis an meine Schulzeit kam ich heran, bis an die Ränder des guten Lebens – da hörte es auf, die Kostüme ab jetzt saßen ihm nicht. Er war einer von jenseits der Zeitmauer, die das letzte Jahrhundert teilt, genau in der Mitte. Keiner von uns Diesseitigen. Einer von drüben. Einer, wie ich ihn gern kennen lernen würde. Das wäre kaum möglich. Solche wie Sie, Herr Doktor, gibt es nicht mehr.80

Die „Zeitmauer“ des Zweiten Weltkriegs kann mit Hilfe der Imagination nicht ohne Weiteres überwunden werden. Indem Büscher im Kapitel über Helgoland das Tagebuch des Arztes paraphrasiert und daraus zitiert, suggeriert er jedoch – auch durch die Offenlegung seiner Quelle – eine historisch adäquate Annäherung an die Ereignisse während des Krieges. In seiner Deutschlandreise steuert Büscher durch die Auswahl der dargestellten Orte entscheidend, welche Aspekte der Vergangenheit vergegenwärtigt werden. In Bezug auf den Zweiten Weltkrieg dominiert die Darstellung der Deutschen als Opfer des Krieges und seiner Folgen. Die Erinnerungen an die Schrecken des Nationalsozialismus und der Juden als Opfer des Holocaust erfahren in Büschers Text erstaunlich wenig Beachtung. Zwar gelingt es ihm in seinem Kapitel über das Konzentrationslager Flossenbürg, eine eindringliche Sprache für die Taten des „Henker[s] von Flossenbürg“,81 des KZ-Aufsehers Karl Weihe, zu finden. Dabei stellt die Konfrontation des Aufsehers mit Cissy, der zur Zeit der erzählten Ereignisse dreijährigen Tochter des ehemaligen österreichischen Kanzlers Kurt von Schuschnigg, ein geschicktes erzähltechnisches Verfahren dar, um den Schre78 79 80 81

Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 35. Ebd. Ebd., S. 35 f. Ebd., S. 123.  

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cken im Lager zu verdeutlichen.82 Zugleich erzählt Büscher aber eine pathetische Heldengeschichte, in deren Zentrum deutsche Kriegsteilnehmer stehen, indem er die Ablösung der SS-Truppen durch die Wehrmacht und die Rettung der Lagerinsassen beim Rückzug nach Tirol darstellt.83 Auch die zu Beginn des Flossenbürg-Kapitels vorgenommene Ortsbeschreibung weist auf einen problematischen Aspekt in Büschers Darstellung hin, der sich aus seiner Betonung der Zäsuren ergibt, die das 20. Jahrhundert laut Büscher gliedern. Die Beschreibung der Architektur der Lagergebäude sowie die Beobachtung der in der Verwaltung vorherrschenden Bürokultur dienen dazu, die Differenz zwischen der NS-Zeit und der Gegenwart zu markieren: In diesem Gebäude waren nun die Büros der Gedenkstätte untergebracht. War der Nazistil ein Bruch mit dem älteren Deutschland, der Riss zwischen der deutschen Gegenwart und aller Zeit davor war nicht weniger groß. Dabei war es gar nichts Besonderes. Es war nur so, dass in den Kopfbau des Konzentrationslagers Flossenbürg der legere, zum Du und zum Freizeithemd tendierende neue deutsche Stil eingezogen war.84

Die Beschreibungen des „Nazistil[s]“ als „Bruch“ mit Vergangenem und des „Riss[es]“, der die Gegenwartskultur von der Vergangenheit trennt, dienen zwar zunächst auch dazu, die besondere Grausamkeit der im Anschluss wiedergegebenen Geschehnisse im Lager zu betonen. Zugleich hat die Wahrnehmung der Zeit des Nationalsozialismus als Ausnahmezustand jedoch zur Folge, dass Büscher die Ursachen und Konsequenzen sowie Kontinuitäten innerhalb historischer Prozesse nicht reflektiert. Dass der Autor sich dafür entscheidet, das Schicksal der Deutschen als Kriegsopfer ausführlich zu erzählen, begründet er im Text nicht. Büscher beschreibt in Deutschland, eine Reise vor allen Dingen Orte, an denen er auf Spuren der Zerstörung, des Wiederaufbaus und auf Zeitzeugen des Krieges auf deutschem Territorium trifft. Durch diese Auswahl suggeriert er, dass der Verlust der Ostgebiete oder der Bombenkrieg die entscheidenden Erfahrungen

82 Vgl. bes. ebd., S. 133 f. 83 Vgl. bes. die Wertung ebd., S. 133, die zwar den Zeitpunkt der Befreiung beklagt, die aber gerade angesichts des – auch im Text signalisierten – Wissens um die Rolle der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg bedenklich erscheint: „Die Wehrmacht, die Hitler und Himmler so lange folgte, Militärs wie General Thomas, die Hitlers Krieg organisiert und geführt hatten – sie schlagen den schwarzen Garden das Heft aus der Hand, mit Hilfe von Männern, deren Liebe zu ihrem Land größer ist als die Furcht, als Verräter zu gelten und zu sterben. Es war ein unendlich großer, trauriger Moment. Wie um den Gehenkten zuzurufen: Es geht doch, es geht! Wie um zu höhnen: zu spät, zu spät.“ 84 Ebd., S. 122.  

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seien, die die deutsche Gegenwart bis heute prägten. So thematisiert er, wenn er sich in Pommern durch die persönliche Erinnerung an ein altes Sammelalbum den Osten vergegenwärtigt, den Verlust der ehemals deutschen Gebiete. Dabei geht er assoziativ vor und reiht stereotype Vorstellungen dieses Landstrichs und seiner Geschichte aneinander.85 An anderer Stelle beschreibt er anhand des Einzelschicksals der Waldarbeiterin Rosa die Vertreibung der Deutschen 1945/ 46 aus Tschechien.86 Im Zentrum des Buches steht jedoch eindeutig die Zerstörung der deutschen Städte durch den Luftkrieg. Dieses Thema nimmt bei der Rekonstruktion des Vergangenen den größten Raum ein, wird wiederholt aufgegriffen und auf verschiedene Weise erzählt. Das Bombardement der Städte stellt – so die Leitthese Büschers – ein tiefgreifendes Trauma dar. Schon im ersten, an den Prolog anschließenden Kapitel „Eine Stadt in meinem Alter“ wird explizit ein Erinnerungsakt als Modell vorgeführt, der thematisch eine ganze Reihe von Vergangenheitsrekonstruktionen im Text vorwegnimmt. Beim Streifzug durch die Kleinstadt Emmerich am Rhein fallen Büscher Ungereimtheiten auf. Die auf den ersten Blick alt erscheinenden Häuser im Stil „der niederrheinischen Spätrenaissance war[en] so alt wie meine westdeutsche Schultüte.“87 Die Frage nach der Geschichte der Stadt führt den Autor ins Stadtmuseum, in dem am sechzigsten Jahrestag der Zerstörung Emmerichs im Zweiten Weltkrieg eine Filmdokumentation gezeigt wird. Mag der Museumsbesuch zunächst nahelegen, dass nun Daten und Fakten folgen, sieht man sich getäuscht: Büscher beschreibt äußerst knapp die vorgeführten „grobkörnige[n] Bilder, aufgenommen aus der Sicht der Bombenschächte oder im Schlamm dort unten.“88 Die bekannten Bilder der zerstörten deutschen Städte nach 1945, die auch im Museum medial vermittelt werden, bedürfen keiner weiteren Erläuterung. Er beschränkt sich hier auf die Beschreibung der Atmosphäre, die beim Betrachten der Aufnahmen vorherrscht: [A]lles saß still da, wer keinen Platz gefunden hatte, stand. Andächtig blickten die Leute auf das Flackern an der Wand, ab und zu einen Namen mitmurmelnd, hinterhermurmelnd wie eine Gebetsformel, ein Amen. Den Namen eines Generals, einer Straße, eines Flugzeugtyps, einer Stadt – den niederrheinischen Rosenkranz.89

Indem Büscher hier den Filmabend durch die Verwendung religiösen Vokabulars zur „Messe“ stilisiert, hebt er hervor, für wie entscheidend er gerade die noch 85 86 87 88 89

Vgl. ebd., S. 65–67. Vgl. ebd., S. 144–150. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Ebd.

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andauernde Auseinandersetzung der Deutschen mit dem Luftkrieg und seinen Opfern hält: „Die Stadt beging ihren höchsten, schwärzesten Feiertag mit einer Messe in Schwarz-weiß.“90 Charakteristisch für Büschers Erzählweise ist, dass er am Ende des Emmerich-Kapitels die Bedeutung des Bombenkriegs und seine nachhaltige Wirkung auf die Deutschen in ein metaphorisches Bild fast: Aber die Stille blieb. Sie war in den Dingen, in den Gassen, im Land – echolos, traumlos. Es war eine Stille wie nach dem Einschlag eines ungeheuren Meteoriten. Taube Glieder, taube Bewegungen, immer noch. Noch immer setzt sich der Staub, langsam, langsam, der Staub braucht hundert Jahre und hundert Messen und hundert Schlager. Er braucht zweihundert Jahre, allein der Staub weiß, was er braucht. Der Einschlag ist immer noch in der Luft. Er löscht alles, was vorher war. Er dringt durch alles, durch die Haut, die Gedanken, durch das ganze verlorene Land, durch dich und mich.91

Es wird deutlich, dass der in Emmerich vorgeführte Erinnerungsakt als exemplarisches Beispiel für die langanhaltende Betroffenheit der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und das Trauma des Bombenkriegs eingeführt wird. Die Metapher des „ungeheuren Meteoriten“, die hier den Bruch mit der Vergangenheit markiert, und das Bild des sich langsam setzenden Staubs erlauben, Vergangenheitsbewältigung als langwierigen Prozess zu beschreiben. Indem Büscher das Land, die Erzählerposition und den angesprochenen Leser („durch das ganze verlorene Land, durch dich und mich“) mit in das Bild hineinnimmt, werden sie Teil des Erinnerungsaktes. Die Metapher des Staubes nimmt er später im Kapitel über Pforzheim wieder auf und stellt so einen Bezug zu dem zu Beginn eingeführten Erinnerungsdiskurs her.92 Auf diese Weise verbindet er Kapitel, die thematisch Verwandtes beschreiben. In Bezug auf die Technik des Erzählens erscheint Büschers Kapitel über Swinemünde besonders auffällig. Hier besucht er eine Zeitzeugin, die am 12. März 1945 als zehnjähriges Mädchen den „Untergang“93 der Stadt miterlebt hatte. Ihren Bericht gibt Büscher in erlebter Rede wieder. Dadurch werden die geschilderten Ereignisse an dieser Stelle aus der Perspektive eines Opfers erzählt.94 Durch Einschübe in direkter Rede wird der Eindruck der Authentizität zusätzlich ver-

90 Ebd. 91 Ebd., S. 15. 92 Vgl. ebd., S. 227. 93 Ebd., S. 61. 94 In Bezug auf die Befragung von Zeitzeugen zieht Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 148, zu Recht Parallelen zur ‚oral history‘. Müller, „Reiseprosa zwischen erlebter und erfundener Erfahrung…“, S. 209, spricht in Bezug auf den Status der Rede der Interviewten von „autobiographische[m] Erzählen aus […] zweiter Hand“.

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stärkt. Die Erinnerung der Frau, deren Namen Büscher nicht nennt, steht exemplarisch für die Erlebnisse der Deutschen, die den Bombenkrieg erfahren haben. Aus diesem Grund nimmt es nicht wunder, dass ihr direkt zitierter Abschiedssatz „‚Nie wieder Krieg‘“95 den Anlass gibt, das Bild des „Meteoriteneinschlag[s]“ aufzugreifen und in einem Erzählerkommentar Reflexionen über die Mentalität der Deutschen vorzunehmen: Ich dachte, sie haben es warm auf ihre alten Tage – plötzlich schoss mir dieser sentimentale Satz durch den Kopf. Ich sah die Deckchen auf Tisch und Schrank, die niedlichen Bilder, süßer Junge schenkt süßem Mädchen eine Blume, die tickende Stille der Wohnstube, den tiefen Wunsch nach Frieden, und mir schien, dass ich in diesem Moment die neue deutsche Seele verstand. Die danach. Nach dem Meteoriteneinschlag. Das eherne Idyll der Wohnzimmer und Vorgärten, die Rehe und Zwerge und tränenden Clowns der einen. Und die Peace-Runen und Erich-Fromm-Schmöker und die Poster mit den auslaufenden Dalí-Uhren der anderen. Denn die Unterschiede zwischen beiden waren gering. Alle meinten dasselbe. Alles, alles, nur kein Krieg. […] Alles dachte, alles empfand von der meteorischen Zeitenwende her.96

Die Einstellung der Deutschen wird hier mit dem anachronistischen Begriff der „deutschen Seele“ gefasst,97 die hier jedoch als „neu“ gekennzeichnet wird, da sich die Haltung der Deutschen durch die Erfahrung im Krieg geändert habe. Büschers These, dass die deutsche Mentalität der Gegenwart zentral vom Zweiten Weltkrieg bestimmt werde, führt dazu, dass er die Opfergeschichte der Deutschen positiv umdeutet, wenn er der Gesellschaft einen deutlichen Hang zum Pazifismus nachsagt. Zugleich versucht er, das Spießertum, das „eherne Idyll“ seiner Elterngeneration, gegen das sich die Nachkriegskinder als 1968er aufgelehnt hatten, zu verstehen. Dies scheint ihm nun vor dem Hintergrund der Vergangenheitsrekonstruktion zu gelingen. Die Wiedervereinigung hingegen, die noch in Drei Stunden Null einen deutlichen Bruch markierte, rückt in Deutschland, eine Reise in den Hintergrund und wird der Bedeutung, die Büscher den Nachwirkungen des Zweiten Weltkriegs zuschreibt, untergeordnet.98 Büschers Perspektive auf den Krieg, die Konzentrati-

95 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 62. 96 Ebd., S. 63. 97 Der Begriff muss auch in der neueren Zeit dafür einstehen, deutsche Befindlichkeiten zu beschreiben. Vgl. Thea Dorn/Richard Wagner, Die deutsche Seele, München 2011. 98 Zu nennen wären hier allein das Kapitel über Dresden, das anhand der Beschreibung der Frauenkirche die Erzählung des Bombenkriegs mit den Wende-Ereignissen verknüpft, oder die Geschichte deutscher Flüchtlinge, die noch 1989 die DDR über Ungarn verließen (Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 98–101, S. 95–98).

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on auf deutsche Opfergeschichte, steht exemplarisch für Positionen der 1990er und 2000er Jahre, die die deutsche Vergangenheit interpretieren und eine „Wende des Erinnerns“ vorantreiben, indem sie die Geschichte des 20. Jahrhunderts neu bewerten.99 Die zum Teil eindringliche Darstellung des Schicksals deutscher Kriegsopfer in Büschers Text erscheint auf einen ersten Blick nicht unzulässig, doch bleibt fraglich, inwieweit ein Reisebericht über Deutschland, der die Geschichte des 20. Jahrhunderts als zentrales Thema behandelt, auf die Perspektive der Opfer des Holocaust verzichten kann. Gerade vor dem Hintergrund der Eröffnung des Textes, in der Büscher das Thema Deutschland als Nation mit einer Anspielung auf die Rhein-Romantik einführt, die im 19. Jahrhundert mit einem aggressiven Nationalbewusstsein verknüpft war, wäre eine ausgewogene Darstellung der deutschen Vergangenheit wünschenswert gewesen.

III. Fazit Ralph Giordano und Wolfgang Büscher nehmen in ihren Reiseberichten entgegengesetzte Perspektiven auf den Zweiten Weltkrieg und die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts ein: Giordano rekonstruiert an Orten kollektiver Erinnerung Vergangenheit und ordnet diese in einen übergeordneten Zusammenhang ein. Indem er die Haltung der Deutschen zu ihrer Geschichte kritisch in den Blick nimmt und explizit vorführt, wie adäquat erinnert werden soll, entwirft er ein normatives Geschichtsbild, das Vorbildcharakter hat. Für Giordano steht fest, dass die Frage nach kultureller Identität in einem wiedervereinigten Deutschland nur gestellt werden kann, wenn die Verbrechen der Deutschen zur Zeit des Nationalsozialismus nicht verdrängt werden. Dabei beziehen seine Reflexionen ihre Autorität aus der Biographie des Autors, der selbst ein Opfer des Nationalsozialismus gewesen ist. Büscher hingegen nimmt mit seiner Erzählung von den deutschen Opfern einen Blickwechsel auf die Vergangenheit vor, mit dem er nach

99 In Bezug auf Literatur nach 1989 hat man diese „Wende des Erinnerns“ treffend beschrieben: „Die deutsche Wiedervereinigung hat eine Wende des Erinnerns eingeleitet: Die Perspektiven auf die jüngste deutsche Vergangenheit ändern sich, gerade auch in der Literatur. Nicht nur die DDRGeschichte wird im Spannungsfeld von Kritik und Verklärung bilanziert, auch der Nationalsozialismus und die bundesdeutsche Vergangenheit werden neu interpretiert. Ein anderer Blick auf Täter und Opfer bestimmt die literarische Themenbildung. Neue Aspekte wie Flucht und Vertreibung, Luftkrieg und Zerstörung – bis dahin eher tabuisiert – geraten durch die Literatur in die öffentliche Diskussion.“ (Barbara Beßlich/Katharina Grätz/Olaf Hildebrand, „Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989“ in: Dies. [Hrsg.], Wende des Erinnerns? Geschichtskonstruktionen in der deutschen Literatur nach 1989, Berlin 2006 [Philologische Studien und Quellen 198], S. 7–17, hier S. 7).

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1989 nicht allein steht und der eine „Wende des Erinnerns“ anzeigt. Er deutet besonders den Bombenkrieg als traumatische Erfahrung, die nicht verarbeitet worden sei und die die Mentalität der Deutschen bis heute präge. Wie in der öffentlichen Diskussion liegen nach der Wiedervereinigung also auch in der Reiseliteratur konkurrierende Deutungen deutscher Vergangenheit und ihrer Bedeutung für die Gegenwart vor. In Bezug auf die Darstellung von Geschichte im Medium Reisebericht bleibt festzuhalten, dass beide Autoren das Authentizitätsversprechen, das der Gattung eigen ist, einsetzen, um ihrer Bewertung des Vergangenen Autorität zu verleihen. Giordano überprüft seine Frage nach der Haltung der Deutschen ‚vor Ort‘, wodurch seine Reflexionen einen Realitätsgehalt gewinnen, der zu ihrer Glaubwürdigkeit beiträgt. Büscher hingegen suggeriert durch die Auswahl der dargestellten Orte und sein Erzählen aus der Perspektive der deutschen Opfer, dass ihm auf seiner Deutschlandreise überall Spuren der Zerstörung und Zeugen des Krieges begegnet seien. Auf diese Weise ist er bestrebt, seine These zu stützen, das Trauma des Luftkrieges sei bis heute nicht bewältigt. Der Blick beider Autoren auf das Deutschland der Nachwendezeit bleibt somit, wenn auch in unterschiedlicher Weise, von der Vergangenheit bestimmt.

Leslie Brückner, Metz

„Ein Fremder im eigenen Land?“ Fremderfahrungen in Deutschlandreiseberichten der Gegenwart Als der Dresdener Schriftsteller Thomas Rosenlöcher im Juli 1990 eine Wanderung durch den Harz unternahm, bezeichnete er sich als „[e]in Fremder im eigenen Land, das [ihm] freilich auch nie gehörte“.1 Ein halbes Jahr nach dem Mauerfall, den er als unmittelbaren biographischen Bruch erlebte, stellte er die Fremdheit zwischen den beiden noch nicht wiedervereinigten deutschen Staaten als eine historische Realität dar.2 Im Blick auf die zahlreichen Deutschlandreiseberichte deutscher Autorinnen und Autoren, die seitdem erschienen sind,3 stellt sich die Frage nach Fremderfahrungen in einem neuen Kontext. Werden in den Deutschlandreiseberichten der Gegenwart überhaupt Fremderfahrungen dargestellt?4 Welche Fremdheitsdiskurse sind dort in den 2000er Jahren (noch) virulent? Welche Funktion kommt Fremderfahrungen generell in Reiseberichten über das eigene Land zu? Diese Fragen sollen anhand dreier Reiseberichte neueren Datums exemplarisch beleuchtet werden: Wolfgang Büschers Deutschland, eine Reise (2005), Claudia Ruschs Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau (2009) und Moritz von Uslars Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung (2010).

1 Thomas Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, Frankfurt am Main 1991, S. 10. 2 Zur Identitätssuche in Reisetexten ostdeutscher Autoren nach 1990 vgl. den Beitrag von Monika Hohbein-Deegen in diesem Band. 3 Zum Textkorpus hat Stephanie Schaefers in ihrer Dissertation Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010, wichtige Thesen vorgelegt. Allen Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Freiburger Tagung danke ich herzlich für die Anregungen in der Diskussion. 4 Einen Versuch der Systematisierung verschiedener Formen des Fremderlebens bietet Ortfried Schäffter: „Modi des Fremderlebens“, in: Ders: Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, S. 11–42. Zur philosophischen Kategorie des Fremden vgl. Bernhard Waldenfels, Topographie des Fremden. Studien zur Phänomenologie des Fremden, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997. In kritischer Auseinandersetzung mit Kristeva arbeitet er die Problematik der Fremdheit innerhalb des Eigenen heraus, vgl. ebd, S. 18–27, und Ders.: Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden, Frankfurt am Main 2006. Den soziologischen Begriff der Fremdheit als Abgrenzung von fremder und eigener Gruppe, der für diese Textanalyse verwendet wird, beschreibt u.a. Waldenfels, Grundmotive, S. 114 f.

„Ein Fremder im eigenen Land?“

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I. Die „anderen Deutschen“: Innerdeutsche Fremdheitsdiskurse bei Claudia Rusch Im Zentrum von Claudia Ruschs 2009 erschienenem Buch Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau steht programmatisch die ehemalige DDR. Die Topographie der historischen DDR-Regierungsbezirke strukturiert den Reisebericht, was durch die Kapitelüberschriften und eine historische Karte markiert wird. Rusch grenzt die ehemalige DDR dabei als kulturelle Einheit von Westdeutschland ab: Die Reisende bezeichnet sich selbst als ehemalige „DDR-Bürgerin“ und „Ossi“,5 die Westdeutschen hingegen als die „anderen Deutschen“.6 Ihre Fahrten durch die neuen Bundesländer stellt sie dezidiert als Reise ins eigene Land dar, indem sie die Geschichte der DDR eng auf die eigene Familiengeschichte bezieht. So wird im ersten Kapitel „Bezirk Rostock: Kreise schließen sich“ die Geschichte des Großvaters der Autorin, eines DDR-Dissidenten, erzählt, im zweiten Kapitel „Bezirk Neubrandenburg: auf dem deutsch-polnischen Freundschaftsweg“ steht die Lebensgeschichte ihrer Großmutter im Mittelpunkt.7 Das Bemühen um die Definition des Eigenen, wie etwa die Frage, was typisch ostdeutsches Essen oder „echte Ostwörter“ seien, durchzieht das Buch.8 Ein Ziel des Textes besteht somit offensichtlich in der Darstellung der Geschichte der DDR und der Wiedervereinigung aus ostdeutscher Sicht und deren Verankerung im kollektiven Gedächtnis der (west-)deutschen Leserschaft. Reisen zu unbekannten Orten sind eher die Ausnahme: Nur ein Familienausflug nach Halle-Neustadt wird als Tourismus in unbekannte Gebiete des eigenen Landes dargestellt.9 Die „kulturelle[n] Unterschiede“ zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen, die durch die unterschiedliche Sozialisation in zwei Staaten entstanden seien, kommentiert Rusch so: Natürlich sind Ossis anders als Wessis – wir sind schließlich in verschiedenen Ländern aufgewachsen und entsprechend unterschiedlich sozialisiert. Aber das sind kulturelle Unterschiede, keine Qualitätsmerkmale. Einem Ausländer gestünde man das sofort zu, weil wir

5 Claudia Rusch, Aufbau Ost: unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau, Frankfurt am Main 2009, „DDR-Bürgerin“, S. 30, „Ossi“, S. 28 und S. 29. 6 Ebd., S. 187. 7 Bezüge zu Claudia Ruschs autobiographisch geprägtem Erstling Meine freie deutsche Jugend stehen ebenfalls am Anfang, vgl. ebd., S. 9 und S. 16. Später wird die Geschichte der DDR und des wirtschaftlichen Umbruchs, den die Wende für ihre Bürger bedeutete, anhand weiterer Zeitzeugen thematisiert, vgl. ebd., S. 114–120 und S. 148–156. 8 Vgl. zum Thema Essen die Kapitel „Bezirk Frankfurt (Oder): Teewurststulle in Mocca Fix“, ebd., S. 63–72, zu „echte Ostwörter“, ebd., S. 107–109. 9 Vgl. Kap. „Bezirk Halle: Rückbau Ost“, ebd., S. 95–106.

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aber ethnologisch gesehen derselben Nation angehören, wird gleich ein Prinzip daraus gemacht. Niemand erwartet, dass ein Wiener genauso tickt wie ein Wiesbadener – aber Leipziger und Lübecker müssen gleich funktionieren damit der Vereinigungsprozess als erfolgreich gelten darf. Das ist absurd.10

Einerseits wird hier ein vergleichsweise naiver Umgang mit dem vermeintlich „ethnologisch“ bestimmbaren Konzept der Nation deutlich.11 Andererseits setzt sich Rusch, gerade indem sie ihre persönliche Verarbeitung des deutschen Vereinigungsprozesses differenziert darstellt, für die Überwindung der innerdeutschen Fremdheit ein und fordert nachdrücklich den Abbau von Ost-WestKlischees, vor allem in den Medien.12 Der selbstironische Umgang mit dem Fremdheitsdiskurs zwischen Ost- und Westdeutschland ist eine zentrale Quelle der Komik in ihrem Buch. So schreibt Rusch beispielsweise im Kapitel über Erfurt: Man muss es einmal offen aussprechen: Es war nicht alles grau im Osten! Das Ampelmännchen zum Beispiel war grün. Oder rot. […] Seine Geschichte könnte man grob so skizzieren: Ein ganzes Land wird demontiert, Identitäten werden auf den Kopf und wieder auf die Füße gestellt, alles neu gemacht, und dann erhebt sich ein Volk und will sein eigenes Ampelmännchen.13

Durch die Verbindung von hoher Politik und banaler Ostalgie wird Ironie und Komik erzeugt, die den Leser auf unterhaltsame Weise zum Nachdenken über vernachlässigte Themen der Wiedervereinigung – hier die verpasste Chance einer Neukonstituierung eines gemeinsamen Staates statt des „Anschluss[es]“14 Ostdeutschlands – anregen soll. Rusch stellt ihre persönliche Suche nach einer (gesamt)deutschen Identität in der Zeit nach der Wiedervereinigung dar und thematisiert dabei die zentrale Funktion von Fremderfahrungen für die kulturelle und personale Identitätssuche. Gerade ein Studienaufenthalt in Italien wirkt als „Initialzündung“15 für die Revision der eigenen Vorurteile gegenüber dem „reaktionären Westen“.16 Zuerst lösen

10 Ebd., S. 186. 11 Zur Nation als politisches Konstrukt vgl. Stuart Hall, „Die Frage der kulturellen Identität“, in: Ders., Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften 2, Ulrich Mehlen u.a. (Hrsg.), Hamburg 1994, S. 180–222, und Benedict Anderson, Imagined Communities: reflections on the spread of nationalism, London 1983. 12 Zur Auseinandersetzug mit Medienklischees vgl. u.a. Rusch, Aufbau Ost, S. 185–187. 13 Ebd., S. 122 f. 14 Ebd., S. 124 f. 15 Ebd., S. 187. 16 Ebd., S. 33. Zur Darstellung der Auseinandersetzung der Reisenden mit den eigenen Vorurteilen vgl. v.a. die Kapitel „Bezirk Neubrandenburg. Auf dem deutsch-polnischen Freundschaftsweg“, ebd., S. 27–36 und „Berlin. Eine Zusammenfassung“, ebd., S. 181–191.  



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die Zuschreibungen, die von italienischen Gesprächspartnern über Deutschland gemacht werden, einen Reflexionsprozess bei der Autorin aus und führen zu einer verstärkten Identifikation mit (Gesamt)Deutschland.17 Die Begegnung mit einer westdeutschen Studentin ermöglicht dann eine deutsch-deutsche Annäherung: Beim Studium in Bologna lernte ich eine gleichaltrige Westdeutsche kennen. […] Auf den ersten Blick waren Charlotte und ich denkbar verschieden: […] Sie kam aus einem behüteten Heidelberger Elternhaus – ich war nach einer Kindheit zwischen Scheidung und Staatssicherheit dem Realsozialismus gerade glücklich entronnen. […] Grund genug eigentlich, sich fremd zu sein. Aber wir waren uns nicht fremd. Denn soviel uns trennte, soviel verband uns auch.18

Überrascht stellt die Erzählerin fest, dass die erwartete Fremderfahrung ausbleibt. In Italien, im ‚Dritten Raum‘ des Auslands, stehen die Gemeinsamkeiten der beiden deutschen Studentinnen im Vordergrund, die Opposition zwischen Ostund Westdeutschland tritt dahinter zurück. Durch den räumlichen Abstand von der deutschen Politik und Geschichte wird zudem eine kritische Auseinandersetzung mit den eigenen Vorurteilen möglich.19 Rusch beschreibt die Auseinandersetzung zwischen Ost- und Westdeutschen als interkulturelle Verstehenssituation und zeigt, wie die Konfrontation mit der Fremdheit zwischen den beiden ehemaligen deutschen Staaten zu einem kritischen Bewusstsein und zur Korrektur des eigenen Standpunkts führt. Ihre Darstellung innerdeutscher Verständigung weist enge Parallelen zu Alois Wierlachers Konzept der Interkulturalität als „kooperative[r] Selbstaufklärung“ auf.20 Am Ende dieses Prozesses kann sich die Erzählerin mit dem wiedervereinigten Deutschland identifizieren: Das Bekenntnis „[I]ch bin Teil meiner Nation“ beschließt das Kapitel.21

17 Vgl. ebd., S. 35: „Mit jeder Woche, die ich in der Emilia-Romagna verbrachte, wurde mir bewusster, wie stark ich in Deutschland verwurzelt war.“ sowie „Sehnsucht nach Deutschland“ und „Sehnsucht nach meinem Land. Nach meiner Kultur“. 18 Ebd., S. 187 f. 19 Vgl. ebd., S. 29, und S. 187: „Weit weg von Deutschland zu sein hat mein Umdenken nicht beeinflusst, aber sicherlich beschleunigt.“ 20 Vgl. Alois Wierlacher, „Interkulturalität. Zur Konzeptualisierung eines Leitbegriffs interkultureller Literaturwissenschaft“, in: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hrsg.), Interpretation 2000. Positionen und Kontroversen, Heidelberg 1999, S. 155–181, hier S. 163–166. 21 Rusch, Aufbau Ost, S. 36. Die Demokratie stellt Rusch dabei als gemeinsame Bezugsgröße in den Mittelpunkt.

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II. Wer hat Angst vor dem Ostproll? Konstruktion und Aneigung des Fremden bei Moritz von Uslar In Moritz von Uslars Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung aus dem Jahr 2010 spielt, ähnlich wie bei Rusch, der Fremdheitsdiskurs zwischen Ost- und Westdeutschland eine wichtige Rolle. Uslars Reiseprojekt basiert auf der Konstruktion von Fremdheit im eigenen Land. Der Text beginnt mit einer Darstellung des Eigenen: Die „Berliner Runde“, so der Titel des ersten Kapitels, bezeichnet die soziale Schicht der wohlhabenden Großstädter, der sich der Reisende zugehörig fühlt. Uslar betont seine Vertrautheit mit diesem Milieu und fügt wie beiläufig eine Geste der sozialen Distinktion ein, indem er beschreibt, dass „Steaks und Champagner“ konsumiert werden.22 Berlin wird im Verlauf des Textes mehrfach als heimatlicher Bezugspunkt erwähnt und Deutschboden endet schließlich mit der Rückkehr des Reisenden in den vertrauten Raum des Berliner Lokals.23 Als Gegenbild zu diesem Bereich des Eigenen inszeniert Uslar die Kleinstadt in Brandenburg als das Andere, das Fremde.24 Die Kleinstadt Zehdenick, die er im Text „Oberhavel“ nennt und damit zur fiktionalen, prototypischen Ost-Kleinstadt stilisiert, zeichnet sich gerade durch ihre Andersartigkeit in Bezug auf ihre westdeutschen Pendants aus: Insgesamt, so mein Eindruck, war es eine Kleinstadt wie im Westen, bloß ganz anders – grauer, brauner, fieser, härter, geduckter, hinterrückser, zwielichtiger, gemeiner. Ich fand’s gleich so geil hier – komisch, ganz entscheidend geiler als die etwa zwanzig anderen Kleinstädte, die ich in den letzten vier Wochen im Osten besichtigt hatte.25

Die Fremdheit entsteht dabei sowohl durch die Opposition zwischen Ost- und Westdeutschland, die Uslar demonstrativ hervorhebt,26 als auch durch die Opposition zwischen Hauptstadt und Provinz. Uslar stellt den Konstruktionsprozess, durch den das Fremde im Eigenen erst ‚erschaffen‘ wird, selbstironisch zur Schau. Die Reisebewegung aus Suchen und 22 Vgl. Moritz von Uslar, Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung, Köln 2010, S. 13. Zur Betonungen der Vertrautheit vgl. ebd.: „Mein bester Kumpel“, „die Kellner, die wir mit Vornamen kannten“. 23 Zu Berlin als Heimat vgl. ebd., S. 89, S. 116 und S. 247, sowie die Rückkehr auf der letzte Seite des Textes ebd., S. 379: „Zurück in großer Runde: mein Lokal in Berlin“. 24 Zur Fremdheit als „Gegenbild“ zum Eigenen vgl. Schäffter, „Modi des Fremderlebens“, S. 22. 25 Ebd., S. 45. 26 Westdeutschland bezieht sich dabei auf die westdeutsche Herkunft des Reisenden. Uslar thematisiert programmatisch gleich zu Beginn den Begriff „DDR“, vgl. Uslar, Deutschboden, S. 16, sowie Erinnerungen an seine ersten Reisen durch die ehemalige DDR kurz nach dem Mauerfall, ebd., S. 20.

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Wegfahren, Recherchieren und Wiederkommen wird zu Beginn des Textes aufwändig inszeniert.27 Dabei setzt sich Uslar kritisch mit dem stereotypen Mediendiskurs über Ostdeutschland auseinander: Vor allem von den Klischees „Nazis“ und „Plattenbau“ will er sich distanzieren.28 Seine Suche nach der prototypischen Ost-Kleinstadt scheitert zunächst daran, dass auch die scheinbar authentische Erfahrung bereits medial vorgeformt ist: So liegt etwa zu der Kleinstadt Schwedt bereits eine Lifestyle-Zeitschrift vor.29 Die Internetrecherchen bestätigen ebenfalls alle Klischees und sogar die Einwohner vor Ort wollen mit dem Fremden zuerst über die „klassischen Ost-Themen“ Nazis und Arbeitslosigkeit sprechen.30 So problematisiert Uslar selbst den Authentizitätsanspruch von Reiseliteratur und zeigt seinen hohen Reflektionsgrad.31 Durch seine Selbstinszenierung als „der Reporter“, die im Text vielfach als soziale Rolle markiert wird32, stellt er sich gleichzeitig selbst in die Tradition des Journalismus und erhebt das möglichst vorurteilsfreie „Aufzeichnen der Gegenwart“ zu seinem Ziel.33 Auch die eigene Abenteuerlust wird plakativ überzeichnet: So kündigt der Reisende vollmundig an: „Ich sagte: ‚Ich haue ab von hier, dorthin, wo kaum ein Mensch je vor uns war‘“.34 Ironisch wird das Programm formuliert, die Reise solle „weit weg“ führen, „wirklich rauskommen“ aus Berlin sei das Ziel.35 So wird

27 Vgl. ebd. Kap. 2 und 3, u.a. die Autofahrt mit der Karte „Deutschland Osten“ (ebd., S. 24–26). 28 Vgl. u.a. ebd., S. 22: „Mein Proll, erklärte ich, dürfte ultrawiderlich und überhaupt alles Böse sein, aber bitte kein Nazi, denn Nazis – es täte mir leid –, die fände ich vor allem wahnsinnig langweilig.“ 29 Ebd., S. 33. 30 Vgl. ebd., S. 48 und S. 51. 31 Zum Bezug auf andere Deutschlandreiseberichte vgl. Uslars huldigenden Verweis auf Wolfgang Büscher ebd., S. 27, und die Erwähnung Christian Krachts als Reisegefährten seiner ersten DDR-Reise, vgl. ebd., S. 20. 32 Vgl. Selbstbezeichnungen als „der Reporter“ ebd., S. 47, 63, 165, 244–246, 268, 291, 308–310, 329, 359, etc. Die Rollendistanz markiert Uslar auch durch die Selbstbezeichnung als „Reporterdarsteller“, ebd., S. 16, zu einem expliziten Bezug auf seine eigene journalistische Ausbildung vgl. ebd., S. 222–225. Ein ironischer Gruß an die deutschen Medien am Ende des Buches vgl. ebd., S. 372: „Jetzt sollten die anderen Reporter, die von Zeit, Spiegel und Süddeutsche und die vom ZDF, übernehmen“. 33 Vgl. ebd., S. 16 f., und S. 19: „Ich war ja nicht so ein professionell neugieriger und gewiefter Nachrichten-Magazin-Journalist, der da seine Recherche machte oder was […] das sollten die anderen, die Magazin-Journalisten, tun“. 34 Ebd., S. 14. Zur Hybris als Teil von Uslars Konzept vgl. auch die Rezension von Wiebke Prombka, „Nachrichten aus dem wilden Osten“ im Feuilleton der F.A.Z. vom 02.10.2010. 35 Vgl. ebd., S. 35, ähnlich auch S. 63: „Aber ich, der Reporter, hatte mich sehr darauf gefreut, in der ostdeutschen Kleinstadt einmal, wenigstens für ein paar Wochen lang, ohne diese Dinge zu sein.“  

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Brandenburg als unbekanntes, unerforschtes Land dargestellt. Die ostdeutsche Provinz stilisiert Uslar unter anderem durch Anspielungen auf Westernfilme zum „Wilde[n] Osten“.36 Mit dem Untertitel Eine teilnehmende Beobachtung erhebt er eine Art Ethnologie des Eigenen zu seinem Programm. Die Darstellung der ostdeutschen Kleinstadt-Jugendlichen als unbekannte Ethnie impliziert dabei einen Gegensatz von „Zivilisation“ und „Kultur“ auf der Seite des Reisenden und seiner Berliner Runde versus Kulturlosigkeit auf der Seite der Kleinstadtbewohner, der durchaus problematisch erscheint.37 Die Angstlust an der Fremderfahrung im eigenen Land ist eine wichtige Motivation für Uslars Reiseprojekt.38 Mehrfach betont er seine Angst vor der Begegnung mit dem Fremden: Ich hatte vor allem wahnsinnige Angst. Normal. Ich hatte Angst vor den andauernden Blicke-Kämpfen, zu denen man als Fremder, Zugereister, Eindringling, Fremdling, Reporter etwa neuntausend Mal pro Tag, Tag für Tag aufs Neue, aufgefordert war.39

In der Kleinstadt macht der Reisende zuerst die Fremderfahrung, dass er von den Einwohnern als Gruppenfremder wahrgenommen wird.40 Er ist dort auf zweifache Weise ein Außenstehender: als „Großstadtmensch“ und als „West-Reporter“.41 Die Auseinandersetzung mit dem „Blick der Einheimischen“ beschreibt Uslar metaphorisch als Boxkampf, bei dem die Blicke als Schläge in die „ungedeckten Seiten“ gehen können: Es war ein Talent, ein Wesenszug der Bevölkerung in der Kleinstadt, dass sie mich, den Reporter, auf den ersten Blick als West-Menschen, Eindringling, potenziellen Störenfried, identifizierte. Bloß erwischen ließ sich die Bürgersteig-Bevölkerung bei ihren Blicken nie.

36 Ebd., S. 15, und S. 34: Kapitelüberschrift „Western“, S. 37: „Westernfilm“. 37 Den Begriff „Zivilisation“ verwendet Uslar u.a. im Porträt seines Berliner Freundes vgl. ebd., S. 22. Er ist überrascht und regelrecht enttäuscht, als er in der Kleinstadt auf ein Kulturcafé stößt, das ebenso in Berlin stehen könnte, vgl. ebd., S. 63. 38 Zum tiefenpsychologischen Begriff „Angstlust“ vgl. Michael Balint, Angstlust und Regression, Stuttgart 1960. 39 Uslar, Deutschboden, S. 18. Weitere Selbstdarstellungen als Fremder vgl. ebd., S. 89, S. 97 und S. 93. 40 Waldenfels weist auf die beiden Perspektiven des Fremdwerdens hin: „Fremdwerden kann darin bestehen, daß ich, getragen durch eine Wir-Gruppe, die Anderen als Fremde erfahre, oder darin, daß ich mich selbst Anderen gegenüber als Fremder fühle […]“, Waldenfels, Topographie, S. 38, vgl. auch Ders., Grundmotive, S. 124. 41 „Großstadtmensch“, Uslar, Deutschboden, S. 62, „Stadtmensch“, ebd., S. 327, „Westmensch“, ebd., S. 59, „West-Reporter“, ebd., S. 332.

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[…] Dem Eindringling schaute der Kleinstädter in den Rücken und in die ungedeckten Seiten, nur selten ins Gesicht.42

Die Doppelstruktur aus Angst und Faszination wird besonders deutlich, als Uslar seine Begegnung mit einigen Männern vor einem Boxclub in Schwedt kommentiert: „Ich war begeistert. Ich hatte gleich eine derart geile Angst.“43 Durch diese Betonung von Fremdheit und Gefahr kann sich der Reisende im eigenen Land, durchaus auch selbstironisch, als Abenteurer darstellen. Mit der Typenfigur des ‚Ostprolls‘ konstruiert Uslar auch selbst ein stereotypes Fremdbild. Der „Proll“ erscheint dabei als Gegenbild zur eigenen sozialen Gruppe und zur personalen Identität des Reisenden, wobei auch der GenderAspekt eine wichtige Rolle spielt.44 Der „Proll“ löst beim Reisenden Angst und Faszination zugleich aus: „Ich freute mich auf den Proll. Der Proll, erklärte ich der Runde, könnte gar nicht böse, widerlich, asozial, beinhart und abstoßend genug sein. Behauptete ich.“45 In der Kleinstadt versucht Uslar dann gezielt, die „ProllFighter“46 zu beobachten und zu typisieren. Durch seine Vorannahme wird die Wahrnehmungsperspektive geprägt: „Ich sah ihn nun fast überall, den Superproll des Ostens.“47 Während der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremden zu Beginn des Textes stark betont wird, schildert Uslar im Verlauf von Deutschboden einen Prozess der Aneignung des Fremden. Dabei markiert sein erster Besuch in der Gaststätte Schröder, dem er zwei Kapitel widmet, einen Wendepunkt. Zuerst nimmt der Reisende im eigenen Land als „Reporter“ die Rolle des professionell Außenstehenden ein. Seine Beobachterrolle stellt Uslar als imaginäres Zwiegespräch mit einem europäischen Touristen dar: Diesen Heiko Schröder bei der Arbeit erlebend, dachte ich: Sieh an, Deutschland ist nicht böse, Deutschland ist ein feiner Kerl. Diesen Satz dachte ich wirklich. Dann stellte ich mir vor, wie man, einen Franzosen oder Engländer neben sich, auf Heiko Schröder am Zapfhahn zeigen und erklären würde: ‚Here. Look. Great German beer brewing tradition.‘48

42 Ebd., S. 60. Das Boxen im örtlichen Boxclub ist ein Teil von Uslars Reiseprojekt, vgl. ebd. S. 11, S. 26–27, S. 30–31. Zur Niederlage beim Boxen als Scheitern dieser Idee, vgl. ebd., S. 224 und S. 363–366. 43 Ebd., S. 30. 44 Vgl. den Beitrag von Aniela Knoblich im vorliegenden Band. 45 Uslar, Deutschboden, S. 22. 46 Ebd., S. 57. 47 Ebd., S. 59. 48 Ebd., S. 82.

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Sein Blickwinkel verändert sich jedoch, als er mit zwei selbsternannten „Ureinwohner[n]“ der Kleinstadt ins Gespräch kommt.49 Mit seinen neuen Bekannten findet Uslar eine gemeinsame Ebene, unter anderem weil er sie aufgrund seiner eingangs beschriebenen Neigungen als Kneipenphilosophen und Redner würdigen kann.50 Durch das gemeinsame Biertrinken werden die Unterschiede zwischen Ost und West, Stadt und Land eingeebnet: Die Betrunkenheit schafft die Grundlage für ein gleichberechtigtes Gespräch. Der Erzähler geht nun von der Beobachterperspektive zum gemeinschaftlichen „Wir“ über. Wir waren in der Zeit jenseits aller greifbaren Uhrzeit angekommen. […] Wir standen Schulter an Schulter, den Tresen in Griffnähe, das große Gelbe mit dem kleinen Weißen in den Händen. Die Themen konnten gar nicht zu besoffen, also groß und bedeutend genug sein. Dabei rissen wir eine Menge an und schlitterten über die Dinge hinweg, anstatt, wie es sich bei Gesprächen gehörte, die Dinge mit Hand und Fuß und von einem Anfang bis zu Ende zu besprechen: ideal.51

Ein Versuch, die professionelle Distanz als „Reporter“ zu wahren, scheitert nun.52 So wird aus dem „Reporter“ und selbsternannten Ethnologen des Eigenen mehr und mehr ein Mitglied der von ihm beobachteten Gruppe.53 Die anfangs klischeehaft typisierten ‚Ostprolls‘ erhalten nun Namen und individuelle Geschichten. Durch popkulturelle Anspielungen und witzige Dialoge gestaltet Uslar seine neuen Bekannten als sympathische literarische Figuren. Am Ende des Textes kommentiert er den Annäherungsprozess, in dem sich die Fremderfahrung auflöst:

49 Vgl. ebd., S. 93: „Mich kennen alle hier, ich bin hier Ureinwohner“, sagt einer der Kneipenbesucher. 50 Vgl. ebd. S. 14–22: Die Angeberei der beiden Oberhaveler bildet eine Parallele zur Angeberei des Reisenden in seiner Stammkneipe in Berlin, die im ersten Kapitel beschrieben wurde. Vgl. zu Blocky: „Ein Unterhalter. Ein Allseitsbeliebter. Ein Kneipenprofi.“ (ebd., S. 95) Zu Raoul: „[S]chon wieder einer, der etwas vom Quatschen, vom Leute-Ansprechen und Steile-Meinungen-Vertreten verstand.“ (ebd., S. 98) 51 Ebd., S. 106. Vgl. ebd., S. 106–110: Themen wie Arbeitslosigkeit oder der Mythos vom ‚Jammer-Ossi‘ können nun jenseits der Klischees besprochen werden. 52 Vgl. ebd., S. 110: „Ich versuchte, nur eine Minute lang – weil ich es irgendwann einmal so gelernt hatte und weil es ja durchaus interessant sein könnte –, die professionelle Distanz zu den beiden Oberhavelern einzunehmen, die sich für einen Reporter gehörte.“ Zum wiederholten Scheitern der Reporterrolle vgl. ebd., S. 329 und S. 372 die misslungenen Interviews. 53 Zum Wendepunkt und Ende der Beobachterperspektive vgl. auch die Rezension von Jörg Plath, „Unter Männern“, im Deutschlandradio vom 18.11.2010 (http://www.dradio.de/dkultur/ sendungen/kritik/1321335, [Stand: 24.07.2012]).

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Zu den Jungs – zu Raoul, Eric, Rampa, Crooner, zu Blocky, aber auch zu einigen der Tankstellen-Jungs, besonders zu Hundertzehn-Prozent – hatte ich Freundschaftsgefühle. Damit war die Zeit abgelaufen, in der ich die Jungs beobachten und beschreiben konnte.54

Die Beobachterposition ist verloren gegangen, aus dem Fremden ist Vertrautes geworden. In diesem Sinne schreibt Uslar auch im Vorwort „Zum Geleit“: „Ich bin als Fremder gekommen und als Einheimischer gegangen. Die Zeit in der Kleinstadt war eine der besten Zeiten meines Lebens.“55

III. Altötting liegt in Indien – Fremderfahrung und Exotisierung bei Wolfgang Büscher Ein anderer Umgang mit Fremdheitsdiskursen findet sich in Wolfgang Büschers Reisebericht Deutschland, eine Reise (2005). Büschers Reise rund um die deutsche Außengrenze ist zunächst ein Versuch, das eigene Land, das Deutschland der Gegenwart, zu erfassen und zu beschreiben. Der Reisende stellt sich selbst als Teil der deutschen Nachkriegsgeneration dar und thematisiert den Zweiten Weltkrieg als die entscheidende historische Zäsur, der er an verschiedenen Orten nachspürt.56 Gelegentlich bezeichnet Büscher die Deutschen dabei mit einem identifikatorischen „Wir“ als die eigene Gruppe: Ein feiner Regen fiel, als ich nach Görlitz kam. Und wie mir Guben gezeigt hatte, was die Phrase heißt: ‚finis Gemaniae‘, so zeigte mir Görlitz die Schönheit, und es war wie ein Schlag auf die Augen. Wie schön das Land gewesen sein muss. Was wir verloren haben.57

Das Verhältnis des Reisenden zum vermeintlich Eigenen ist jedoch zwiespältig. Die deutsche Provinz erscheint ihm einerseits vertraut, andererseits als Schreckbild einer geistigen Enge, die Fluchtreflexe auslöst.58 So beschreibt Büscher unter

54 Uslar, Deutschboden, S. 374. 55 Ebd., S. 9. Dieser Paratext, der mit „Der Autor“ unterzeichnet ist, verweist noch einmal auf den engen Bezug zwischen der Erzählerfigur des Reisenden und dem Autor Uslar. 56 Zu Büschers Auseinandersetzung mit der deutschen Nachkriegsgeschichte und Bezügen zu seiner eigenen Biographie vgl. ebd., S. 13–15, und den Beitrag von Christine Rühling im vorliegenden Band. 57 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 85. Zur Abhängigkeit des kollektiven „Wir“, gerade auch in interkulturellen Situationen, von der Sprecherposition des „Ich“, das dieses äußert, vgl. Waldenfels, Grundmotive, S. 122 f. 58 Vgl. u.a. Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 24: „Diese Stille [der deutschen Provinz] hatte ich einmal gekannt“, und S. 81: „Es war immer noch so auf dem Dorf wie zu meiner Kindheit“. Zur Flucht vor Heimatkult bei Büscher vgl. den Beitrag von Christopher Meid im vorliegenden Band.  

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anderem eine unheimliche Begegnung mit den „vertrauten Gespenstern [s]einer Jugend“ und dem eigenen Spiegelbild in einem Hotelzimmer, das im Stil der 1960er Jahre eingerichtet ist.59 Auch auf der kollektiven Ebene stellt Büscher Momente der Entfremdung vom vermeintlich Eigenen fest. So stellt er am Beispiel einer deutschen Touristengruppe in Wismar die Entfremdung der Deutschen von ihrer Kulturgeschichte dar: In St. Nicolai hörte ich dem jungen Mann zu, der einer Besuchergruppe die Bedeutung der vielen Heiligenfiguren auf dem Flügelaltar erklärte. Hätte er über aztekische Dämonen und Tiersymbole gesprochen, es hätte auf die Leute auch nicht seltsamer gewirkt. Alles war ihnen fremd. […] Manchmal kamen mir die Deutschen vor wie aus der Zeit gefallen und vorsichtig wieder hineingeführt. Ein Treck aus dem Nichts, etwas verwildert vor diesen etwas verwilderten Zeugnissen stehend: Das alles sollen einmal wir gewesen sein?60

Durch die Metaphern des „Treck[s] aus dem Nichts“ führt Büscher die historische Entfremdung auf die Zäsur des Zweiten Weltkriegs zurück. Der exotisierende Vergleich der katholischen Heiligenfiguren mit aztekischen Dämonen betont diese Fremdheit zusätzlich. Die Begriffe „Fremder“ und „fremd“ erscheinen in Deutschland, eine Reise mehrfach als Synonym für Ortsfremder oder Tourist.61 Büscher stellt sich selbst als Figur des Fremden dar: Er ist „der ewige einzige Gast“ oder „irgend so ein dekadenter Tourist“.62 Durch seine Reisebewegung wird er ein Außenstehender im eigenen Land, ein Beobachter, der einen „fremden Blick“ auf die Menschen richtet:63 Andere zu belauschen war eine Unart geworden – eine, für die ich mich schämte, wenn plötzlich jemand bemerkte, dass sein Gespräch einen Zeugen hatte, und ein empörter, wehrloser Blick mich traf. Ich war genau so wehrlos; es war, als schreckte ich aus einem Traum auf. Aber schon bald lauschte ich weiter. Ein Unrechtsbewusstsein befiel mich nicht. Ich war doch nur ein wandernder Geist, der in fremde Stuben und Seelen schaut.64

Durch die literarische Selbststilisierung als wandernder Geist evoziert Büscher eine unheimliche Figur des Fremden, die an die literarische Tradition des wan-

59 Ebd., S. 20 f. 60 Ebd., S. 49. 61 Vgl. u.a. ebd., S. 55 und S. 30. 62 Ebd., S. 91 und S. 100. Zur Beobachterperspektive des Reisenden bei Büscher und Willemsen vgl. auch Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 149 f. 63 „Der Mann spürte den fremden Blick.“, Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 106, vgl. auch ebd., S. 31. 64 Ebd., S. 110.  



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dernden Juden erinnert.65 Das Reisen, das ihm eine Beobachterrolle ermöglicht, erhebt er zugleich zur Überlebenstaktik im Umgang mit Deutschland und der deutschen Geschichte: „Meine Methode war, weiterzugehen“.66 Die veränderte Perspektive des Reisenden im In- oder Ausland stellt er bei seinem Grenzübergang nach Holland metaphorisch dar: Als ich Holland betrat, fiel mir auf, dass ein Grenzübertritt zugleich ein Lichtwechsel sein kann. Ein paar hundert Meter nur, und plötzlich steht in ganz und gar holländischem Licht, was eben noch in einem deutschen Licht stand. Sah ich in Gronau Asiaten, sah ich Fremde. Sah ich welche in Enschede, kamen mir Wörter wie „Java“ und „Batavia“ in den Sinn, eine ganze ostindische Kompanie von Aromen. Bidis, Poffertjes, Marihuana.67

Gerade an den Figuren der außereuropäischen „Fremde[n]“ wird dem Reisenden deutlich, dass er im Nachbarland einen veränderten Blickwinkel hat. Während er Asiaten im eigenen Land als Nichtzugehörige betrachtet, verklärt er die koloniale Vergangenheit der Niederlande zu einem eklektizistischen Exotismus. Aber auch für die Beschreibungen deutscher Orte bedient sich Büscher mehrfach sprachlicher Klischees des Exotischen.68 So scheinen etwa die Alpengipfel in der „Farbe des Sandsteins der Paläste von Rajastan“69 zu leuchten, die Dresdner Frauenkirche hat „Taj-Mahal-hafte Züge“.70An einigen Stellen entsteht dadurch auch Komik, etwa wenn der Reisende das T-Shirt einer bayerischen Hüttenwirtin irrtümlich verwechselt: „[D]ie bunte Figur auf ihrem himmelblauen T-Shirt, die ich von Weitem für eine tanzende Hindu-Gottheit gehalten hatte, war König Ludwig, der theatralische Sohn des guten Königs Max.“71 Die exotische Überblendung führt zu einer verfremdeten Beschreibung des eigenen Landes. Sie schafft Distanz, ermöglicht aber auch eine reichere Beschreibungssprache. Im Gegensatz zu Ruschs und Uslars Deutschlandreisen spielt eine mögliche Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschland bei Büscher keine Rolle. Dieser

65 Waldenfels verweist in diesem Zusammenhang u.a. auf Georg Simmels „Exkurs über den Fremden“, in dem diese Figur des „Gruppenfremden“ und des „potentiell Wandernden“ beschrieben wird, vgl. Waldenfels, Topographie, S. 39 f. 66 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 85. 67 Ebd., S. 21. 68 Vgl. z.B. ebd., S. 140: die spielerische Exotisierung des Ortsnamens der bayerischen Kleinstadt Lam: „Auf dem verschneiten Marktplatz überlegte ich, ob der Name noch schöner klänge mit einem arabischen Al oder einem spanischen Doppel-L oder einem katholischen Sankt davor. Al-Lam. LLam. St. Lam.“ 69 Ebd., S. 181, wieder aufgenommen auf S. 182. 70 Ebd., S. 99. Zum Exotismus des Reisejournalisten Büscher vgl. auch Schaefers, Unterwegs in die eigene Fremde, S. 153. 71 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 177.  

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Diskurs wird möglicherweise sogar bewusst ausgespart.72 Stattdessen lässt sich in Deutschland, eine Reise ein regionaler Fremdheitsdiskurs zwischen Nord- und Süddeutschland beobachten. Während der Reisende an der Ostseeküste einige ihm bekannte Orte besucht, entdeckt er in Bayern vermehrt Neuland.73 So bemerkt er etwa im bayerischen Altötting: „Noch ein Ort, den ich zum ersten Mal sah. Die Häufigkeit, mit der ich mir das in diesen Wochen sagte, bewies, wie schlecht ich mein Land gekannt hatte.“74 Der bayerische Dialekt erscheint als zusätzliches Moment der Fremdheit.75 Büscher verweist auch auf die historischen Regionalismen innerhalb Deutschlands, indem er einen preußischen Reisenden des 19. Jahrhunderts zitiert, der die Bayern noch als fremde Ethnie beschreibt.76 Im katholischen Wallfahrtsort Altötting erlebt der Reisende schließlich eine Fremderfahrung im eigenen Land. In der Stiftskirche beobachtet er eine betende Katholikin: Ich trat ein, und was ich im Kreuzgang sah, verschlug mir den Atem. Eine Frau sprach mit der Jungfrau Maria. Nicht wie man Leute still beten sieht in der Kirche. Sie sprach wirklich mit ihr. Sie schluchzte, weinte, fasste Maria bei den verschränkten Armen, beschwor sie zu helfen, umschlang sie und redete sie an wie einen Menschen aus Fleisch und Blut. Wie ein Kind, das sich an die Mutter klammert und klagt und bittet und Hilfe und Trost von ihr will, jetzt gleich.77

Die unmittelbare Frömmigkeit der Betenden schockiert und befremdet den Reisenden.78 Der Schock, der ihm „den Atem verschlägt“, erinnert dabei an Waldenfels’ Definition der Fremderfahrung als Ereignis, das dem Einzelnen ungewollt 72 Die Geschichte der DDR wird als Teil der deutschen Geschichte beschrieben, vgl. ebd., S. 48 und S. 79–81. Nur an einer Stelle thematisiert er anhand der Stereotypenfigur des „Pommer[s]“ die innerdeutsche Entfremdung von den ehemaligen Ostgebieten in der Nachkriegszeit sowie die Funktion der DDR als „Schuldruine“ der BRD, vgl., ebd., S. 65–68. 73 Vgl. u.a. ebd., S. 60: „Ich kannte ein Dorf in Pommern, im äußersten Osten der Insel Usedom, ein Fischerdorf am Stettiner Haff, […] und ich wollte es wiedersehen, schon des Namens wegen.“ 74 Ebd., S. 166. 75 Vgl. ebd., S. 166. Dialekte werden in Büschers Deutschlandreise mehrfach thematisiert vgl. u.a. ebd., S. 120 (Fränkisch), S. 90 und 94 (Zittauer „R“), S. 55 (Plattdeutsch). 76 Vgl. ebd., S. 176: „Wie Bodenstedt die Oberbayern beschrieb, so beschrieben hundert Jahre nach ihm andere die Provenzalen, die Inselgriechen, die Nicaraguaner, die Thai.“ Der bayerische König Max, den Bodenstedt 1858 begleitet hatte, erscheint als Vorgänger der Reise im eigenen Land. Vgl. ebd., S. 172: „Er wollte sein Land sehen.“ 77 Ebd., S. 166. 78 Sein Befremden wird auch im Verhalten des „erwachsenen Sohn[s]“ der betenden Frau gespiegelt, der dem Geschehen „vollkommen ratlos, ungelenk und steif“ zusieht und möglicherweise eine Identifikationsfigur für den Reisenden darstellt, vgl. ebd., S. 166 f.  

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zustößt und seine Reaktion einfordert.79 Büscher kann seine Beobachtung nicht ohne Weiteres in den eigenen Verstehenshorizont einordnen. Ein erster Erklärungsversuch schlägt fehl und wird lediglich im Konjunktiv benannt: „Hätte ich eine solche Szene in Berlin gesehen, ich wäre sicher gewesen, eine Verrückte vor mir zu haben, eine stadtbekannte vermutlich, die mit dem Marientick.“80 Dagegen hebt er ausdrücklich die geistige Gesundheit und die Normalität der bayerischen Landfrau hervor.81 Da die Berliner Kategorien offensichtlich nicht passen, stellt er einen exotischen Vergleich an: Ein so hemmungslos gläubiges, direktes Angehen Gottes, ein solches Drama zwischen Gott und Mensch hatte ich bisher nur in fernen Ländern erlebt. Irgendwo auf dem Weg von Gujarat nach Bombay hatte unter einem uralten Bayanbaum, in dessen Luftwurzeln Affen schaukelten, eine strahlende, stolze Gestalt gestanden. Eine sehnige alte Frau, leicht auf ihre langstielige Sichel gestützt. […] Sie erwartete, bald einzugehen in Gottes Haus. Über ihn sprach sie wie ein Mädchen über die erste und einzige Liebe. Aber hier? Hier war doch Deutschland, hier jubelte nichts. Nun ja, hier war Altötting.82

Auch die Votivtafeln in der Wallfahrtskirche, Elemente der Volksfrömmigkeit, und die Marienstatue erscheinen dem Reisenden „fremd“ und erinnern ihn an indische Tempel: Ich konnte mir nicht helfen, ich fühlte mich schon wieder an Indien erinnert. Die starken, simplen, bunten Bilder. Das überbordende Silber der Kapelle. Deren grottenhafte Dunkelheit. Die Schwärze der Gottesmutter, die sie so fremd machte und den Gang zu ihr so überaus ernst und ehrfurchtgebietend.83

Den Vergleich zwischen bayerisch-katholischer und indischer Religiosität führt er schließlich noch genauer aus: Das Dreckige, Körperliche, ja Blutige der Glaubenspraxis war es, was mich an Indien erinnerte, die in Silber geschreinten Fürstenherzen, das Hantieren im Tempel, die aufgehäuften kultischen Gaben, das Geschiebe der Pilger, die alte Frau, die langsam, Schritt für Schritt, ein großes Holzkreuz um die Kapelle schleppte. Es roch nach Weihrauch und Schweiß.84

79 Vgl. Waldenfels, Topographie, S. 51, und Ders., Grundmotive, S. 131. 80 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 167. 81 Vgl. ebd., S. 167: „Eine normale, verständige, aber eben tiefgläubige, resolute Frau vom Land.“ Die Normalität drückt sich auch in ihrer Kleidung aus. 82 Ebd., S. 167. Die Begegnung mit der alten Inderin erwähnt Büscher auch im Indien-Kapitel seines Asien-Reisebuchs, vgl. Wolfgang Büscher, Asiatische Absencen, Berlin 2008, S. 11 f. 83 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 168. 84 Ebd., S. 169.  

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Grundlegend für Büschers Fremderfahrung in Altötting ist zum einen der regionale Gegensatz zwischen norddeutschem Protestantismus und süddeutschem Katholizismus. Bereits im Passau-Kapitel hatte er die „Protestanten meiner Heimat“85 als die eigene Gruppe dargestellt und den bayerischen Katholizismus als das Andere, Fremde davon abgegrenzt.86 Diese Opposition wird im Altötting-Kapitel wieder aufgenommen.87 Zum anderen ist es die tiefe religiöse Erfahrung selbst, die dem Reisenden als fremd erscheint und ihn zu einer Auseinandersetzung herausfordert.88 Die Fremderfahrung basiert somit auf der Ordnungsstruktur der Religion.89 Der Fremdheitsdiskurs wird zudem von einer Genderdifferenz begleitet: Gerade die weibliche Frömmigkeit beeindruckt den Reisenden besonders.90 Erst durch die Erinnerung an eine indische Heilige wird die katholische Marienverehrung in Altötting erklärbar und beschreibbar. Die exotische Szene, die Büscher an dieser Stelle ausgestaltet, erscheint dabei paradoxerweise als Aneignung des Fremden. Für den Erzähler ist die indische Szene ein Teil des eigenen Erfahrungshorizonts – die Opposition zwischen Deutschland als vertrautem Raum und Indien als fremdem Raum trifft für den weltgewandten Reisejournalisten nicht zu. Er ist lediglich überrascht, eine solche Fremdheitserfahrung, die er „bisher nur in fernen Ländern erlebt“ hatte, nun auch in Deutschland zu machen. Gleichzeitig stellt sich Büscher damit als kosmopolitischer Reisender in einer globalisierten Welt dar.91 Für die Leser ist die indische Szene innerhalb von Deutschland, eine Reise gleichzeitig ein exotisches Element, die lapidare Gegen-

85 Ebd., S. 160. Im Passau-Kapitel verwendet Büscher das identifikatorische „wir“ für diese Gruppe der norddeutschen Protestanten. Vgl. ebd., S. 160: „Ja, wir haben die Backsteingotik und unseren Bach und das Wort. […] Wort und Choral, darin sind wir groß.“ 86 Vgl. ebd., S. 157–163. Weitere Thematisierungen d. Katholizismus vgl. ebd., S. 23 und S. 24 sowie S. 89 f. 87 Vgl. ebd., S. 168 f.: „Religion, das war hier nichts Sachliches wie bei den Protestanten […]“. 88 In ähnlicher Weise löst die spirituelle, irrationale Komponente des Fastnachtrituals in Oberstdorf, das dem Reisenden als „fremd“ und „unheimlich“ erscheint, Angst und Faszination aus. Vgl. ebd., S. 185–190 sowie die Darstellung von Christopher Meid in diesem Band. Eine weitere emotionale Grenzerfahrung beschreibt Büscher bei einem Stanzelsänger in einem bayerischen Wirtshaus, vgl. Kap. „In den Girgl fährt der holde Wahn“, ebd., S. 140–144. 89 Gerade im Bereich der Religion zeigt laut Waldenfels das Fremde seine Nichtassimilierbarkeit besonders eindringlich, vgl. Waldenfels, Topographie, S. 51. Zum grundlegenden Zusammenhang zwischen Fremderfahrungen und Ordnungsstrukturen vgl. ebd., S. 20, und Schäffter, „Modi des Fremderlebens“, S. 14–16. 90 Neben der bayerischen Katholikin und der Inderin erscheinen zwei weitere Figuren weiblicher Frömmigkeit: Eine amerikanische Missionarin, die dem Reisenden im Zug die Gretchenfrage stellt, vgl. Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 16–19, und S. 24: eine „bäuerliche Magdalena“ vor einem Kruzifix. 91 Vgl. dazu Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde, S. 153–155.  



„Ein Fremder im eigenen Land?“

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überstellung Altöttings mit Indien erzeugt Distanz und auch Komik. Ironisch wird der Wallfahrtsort aus Deutschland herausgehoben: Er erscheint als exterritorial, als Ausnahmeort, den man nur mit den Kategorien der indischen Religionen erfassen kann. Die Auseinandersetzung mit der katholischen Religion wird durch den Indien-Vergleich zudem ins Universelle verlagert: Das religiöse Geschehen, das der Reisende hier wie dort beobachtete, scheint eine allgemein menschliche Erfahrung zu sein.

IV. Fremde im eigenen Land Anhand der drei Deutschlandreiseberichte von Claudia Rusch, Moritz von Uslar und Wolfgang Büscher lässt sich aufzeigen, dass Fremdheitsdiskurse und Fremderfahrungen auch in Reiseberichten über das eigene Land thematisiert werden und verschiedene Funktionen erfüllen. Es wird ein Spektrum verschiedener Formen der Fremdheitsdarstellung deutlich. Eine wichtige Parallele zwischen Uslar und Büscher besteht in der Beobachterperspektive der Erzählerfiguren. Während Rusch durch die engen Bezüge zur eigenen Familiengeschichte dezidiert eine Reise ins Eigene beschreibt, sind die Reisenden bei Büscher und Uslar Außenstehende. Sie werden von den Einheimischen als „Fremde“ oder „Eindringlinge“ erkannt und erleben sich selbst als „Gruppenfremde“. In diesem Sinne beschreibt Uslar seine Angstlust am Boxkampf der Blicke auf den Straßen der Kleinstadt. Büscher stellt sich selbst sogar als unheimliche Figur des Fremden, als „wandernde[r] Geist“ dar, der einen „fremden Blick“ auf die Menschen richtet. Die Reisebewegung ermöglicht den beiden Schriftstellern im eigenen Land somit eine spezielle Beobachterperspektive, aus der heraus sie das Leben anderer Menschen beschreiben können. Uslars Reisebericht Deutschboden endet genau an dem Punkt, an dem diese Distanz nicht mehr gegeben ist, weil er selbst zum „Einheimischen“ geworden ist. Die Beobachterrolle, die in der Gattung der Reiseliteratur angelegt ist, wird somit für die Beschreibung des eigenen Landes fruchtbar gemacht. In Uslars und Ruschs Deutschlandreiseberichten aus den Jahren 2005 und 2010 bildet der Fremdheitsdiskurs zwischen Ost- und Westdeutschland ein zentrales Strukturmoment. Rusch grenzt die ehemalige DDR als eigene Nation von Westdeutschland ab und betont die kulturellen Unterschiede zwischen den beiden ehemaligen deutschen Staaten. Sie stellt die Begegnung zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen als interkulturelle Verstehenssituation dar, die gerade im ‚dritten Raum‘ Italiens zur Auseinandersetzung und zum Abbau gegenseitiger Vorurteile führt. Uslar betont für sein Reiseprojekt explizit die Dichotomien Ost/ West und Hauptstadt/Provinz. Die Bewohner der ostdeutschen Kleinstadt stellt er

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ironisch als ‚fremde Ethnie‘ innerhalb des eigenen Landes dar, die er als „Reporter“ oder Ethnologe beschreiben will. Die Fremdheit zwischen Ost und West dient Uslar zur ironischen popliterarischen Selbststilisierung als ‚Abenteurer‘ und ‚Ethnologe des Eigenen‘, bei Rusch hat sie eine wichtige Funktion für die Erzeugung von Komik. Wolfgang Büscher verfremdet das eigene Land wiederholt durch exotische Vergleiche, um eine metaphernreiche Beschreibungssprache zu erhalten und Distanz zum Beobachteten herzustellen. Seine Vergleiche mit Indien kann man zugleich als Folge der Globalisierung betrachten: Die ehemals fremden oder fernen Länder gehören nun zum eigenen Erfahrungsschatz, mit dem sich der Reisejournalist Phänomene innerhalb der eigenen Landesgrenzen, wie die Frömmigkeit im katholischen Wallfahrtsort Altötting, erklären kann. Der Schock der Fremderfahrung erscheint dabei ganz im Sinne von Waldenfels als Ereignis, das dem Reisenden auch im eigenen Land unvorbereitet zustößt und seine Reaktion einfordert. Sowohl Uslar als auch Rusch beschreiben Fremdheitserfahrungen, die innerhalb eines Landes durch die Sozialisation in unterschiedlichen sozialen Milieus entstehen. Während Rusch in der Begegnung mit einer Westdeutschen über das Ausbleiben einer innerdeutschen Fremderfahrung geradezu erstaunt ist, wird bei Uslar die Doppelstruktur aus Faszination und Angst als Reaktion auf das Fremde beschrieben. Auch bei Büscher wird schließlich die Standortgebundenheit von Fremderfahrungen deutlich: Sie wird auch hier von den eigenen Ordnungsstrukturen und Zugehörigkeiten zu soziologischen Gruppen bestimmt. Die Fremderfahrungen innerhalb des eigenen Kulturraums werden in den drei Deutschlandreiseberichten in ganz ähnlicher Weise beschrieben wie interkulturelle Fremderfahrungen in Reiseberichten über das Ausland. Offensichtlich eignet sich gerade die Form des Reiseberichts zur Beobachtung und literarischen Darstellung von Fremdheitsdiskursen und kulturellen Binnendifferenzierungen innerhalb eines Landes. Auch das eigene Land gehört dem Einzelnen nie ganz – so sind auch die Deutschlandreisenden der 2000er Jahren „Fremde[] im eigenen Land“ im Sinne Rosenlöchers.

Aniela Knoblich, Freiburg i.Br.

Neue Länder braucht der Mann. Nationale Identität und Geschlecht in deutschsprachigen Reiseberichten nach 1989* I. Ein (trivialer?) Befund – und was damit anzufangen ist Es scheint auf der Hand zu liegen, dass die zahlreichen Berichte über Deutschlandreisen der unterschiedlichsten Art – einmal um das Land herum, an der innerdeutschen Grenze entlang oder quer durchs Land; zu Fuß oder mit verschiedenen Verkehrsmitteln –, die seit den 1990er Jahren erschienen sind, Ausdruck einer Orientierungs- und Identitätssuche seien. Die in politischer und geographischer Hinsicht veränderte Form dessen, was ‚Deutschland‘ genannt wird, veranlasst die Reisenden, nach spezifisch Deutschem, nach Gemeinsamkeiten und Trennendem zwischen Ost und West und nach der eigenen Position innerhalb des neu entstandenen Gefüges zu fragen. Insofern sind diese Reiseberichte aufschlussreiche Dokumente einer neuen deutschen Befindlichkeit, die die Reisenden teils vorfinden, teils selbst propagieren. Bevor man aber aus dem – wenn auch äußerst umfangreichen – Korpus von deutschsprachigen Reiseberichten über Deutschland Schlüsse zieht, die die literarische und erst recht die politische Landschaft betreffen, lohnt sich ein Blick auf die Identität und die damit verbundene Perspektive ihrer Verfasser. Die bei weitem überwiegende Mehrheit der Autoren ist männlich und westdeutscher Herkunft. Während es hinsichtlich des Alters keinerlei Einschränkung, ja noch nicht einmal eine besonders stark vertretene Altersgruppe zu geben scheint – das Spektrum reicht vom 75-jährigen Ralph Giordano1 bis zum 28-jäh-

* Eine englische Fassung dieses Beitrags ist soeben erschienen: Aniela Knoblich, „‚Irgendwo stehen geblieben zwischen Mann und Frau‘: Gendered National Identities in Contemporary German Travel Writing“, in: Julian Preece (Hrsg.), Re-forming the Nation in Literature and Film: The Patriotic Idea in Contemporary German-Language Culture. Entwürfe zur Nation in Literatur und Film: Die patriotische Idee in der deutschsprachigen Kultur der Gegenwart, Oxford 2014, S. 39–54. 1 Ralph Giordano, Deutschlandreise. Aufzeichnungen aus einer schwierigen Heimat, Köln 1998. Giordano wurde 1923 geboren.

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rigen Tobias Zick2 –, stellen Geschlecht und Herkunft offenbar hoch wirksame Ausschlusskriterien für diese Gattung dar. Eine solche Behauptung provoziert natürlich dazu, Gegenbeispiele zu nennen: Der Dresdner Landolf Scherzer hat seine Wanderung entlang der innerdeutschen Grenze unter dem Titel Der GrenzGänger3 dokumentiert, der Brandenburger Christoph Dieckmann gibt seinem Buch Mich wundert, daß ich fröhlich bin den Untertitel Eine Deutschlandreise,4 und sogar eine ostdeutsche Frau ist mit einem einschlägigen Titel vertreten: Claudia Rusch mit Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau.5 Bei näherem Hinsehen zeigt sich aber, dass weder Dieckmann noch Rusch tatsächlich kohärente Reisebeschreibungen bieten, sondern in ihren jeweiligen Büchern essayistische Texte versammeln, die sie anlässlich verschiedener Reisen zu einzelnen Orten verfasst haben – erst die Anordnung dieser Texte zwischen zwei Buchdeckeln konstituiert in diesen Fällen also die Deutschlandreise. Passendere Gegenbeispiele sind neben Scherzers Grenz-Gänger die schon 1991 erschienene poetische Beschreibung einer Harzreise des Dresdners Thomas Rosenlöcher,6 die der Reisende zum Anlass nimmt, über die Situation Ostdeutschlands unmittelbar nach der Währungsunion zu räsonieren, sowie das zehn Jahre jüngere Buch des Rostockers Peter Wawerzinek über eine Ostseereise.7 Gegenüber der beeindruckenden Fülle von Texten westdeutscher Autoren – außer den bereits genannten lassen sich noch Andreas Altmann, Axel Braig, Wolfgang Büscher, Burkhard Müller, Michael Rutschky, Moritz von Uslar, Roger Willemsen und viele andere anführen8 – fallen diese wenigen ostdeutschen Beispiele jedoch kaum ins Gewicht, und Texte von Frauen fehlen nahezu gänzlich. Wenn ich nichts Wesentliches übersehen habe, gibt es keinen einzigen von einer westdeutschen Frau verfassten Titel, der dem hier untersuchten Korpus zuzurechnen wäre. Dieser Befund wirft eine Reihe von Fragen auf: Warum reisen so viele westdeutsche Männer, so wenige Ostdeutsche und vor allem so wenige Frauen durch das Nachwende-Deutschland? Unternehmen diese unterrepräsentierten Personengruppen keine solchen Reisen, oder schreiben sie bloß nicht darüber?

2 Tobias Zick, Heimatkunde. Zu Fuß und allein durch die Provinz, Freiburg i.Br. 2005. Zick wurde 1977 geboren. 3 Landolf Scherzer, Der Grenz-Gänger, Berlin 2005. 4 Christoph Dieckmann, Mich wundert, daß ich fröhlich bin. Eine Deutschlandreise, Berlin 2009. 5 Claudia Rusch, Aufbau Ost. Unterwegs zwischen Zinnowitz und Zwickau, Frankfurt am Main 2009. 6 Thomas Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, Frankfurt am Main 1991. 7 Peter Wawerzinek, Sperrzone reines Deutschland. Szenen einer Sommerreise, Berlin 2001. 8 Vgl. Bibliographie der Primärliteratur im Anhang.

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Haben die Reisen enthusiastischer Ostdeutscher in den Westen sich nicht literarisch niedergeschlagen? Antworten auf diese Fragen können nur spekulativ ausfallen – etwa dergestalt, dass Frauen eben weniger mobil seien als Männer, dass außerdem eine solche Reise (in der Regel allein, zu Fuß, womöglich ohne Geld) für Frauen zu gefährlich und dass ohnehin das Bedürfnis, neues Territorium zu erkunden, ein eher männliches sei. Oder haben vielleicht doch auch westdeutsche Frauen oder ostdeutsche Frauen und Männer Deutschlandreisen unternommen und beschrieben, nur sind ihre Beschreibungen nicht auf dem Buchmarkt angekommen? All diese Hypothesen sind kaum überprüfbar und zum Teil klischeehaft; sie sind allerdings auch nicht leichthin von der Hand zu weisen. Dass Reiseliteratur ein zutiefst männliches Genre ist, zeigt sich nicht nur in literarischen Reiseberichten selbst, sondern auch in der Reiseliteratur-Forschung: Untersuchungen zu Reiseautorinnen tragen im Titel stets einen Hinweis auf das Geschlecht der Reisenden, das in diesem Zusammenhang als von der Normalität abweichend angesehen wird – dagegen hält keine mit ausschließlich männlichen Reiseautoren befasste wissenschaftliche Arbeit die Geschlechtszugehörigkeit der behandelten Autoren für erwähnenswert.9 Die reisende Frau ist etwas Besonderes und muss ihren Platz nicht nur auf der Straße oder dem Wanderweg, sondern auch in der Reiseliteratur immer wieder neu erobern. Die Anglistin Jessica Enevold hat Reiseerzählungen mit weiblichen Protagonistinnen untersucht und spricht von einem „Regendering“ einer durch und durch männlichen Gattung, das sich in bestimmten Texten und Filmen ereigne.10 Auch Stefanie Ohnesorgs Studie zu reisenden Frauen vom Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert versteht sich als Beitrag zur „(Rück-) Einbindung der Frau in die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur“. Während sowohl Enevold als auch Ohnesorg sich Texten widmen, in denen Frauen als Protagonistinnen auftreten, und Reiseberichte bzw. -erzählungen mit ausschließlich männlichen Figuren dezidiert ausklammern, betrachte ich im Folgenden einige von Männern verfasste Berichte über Deutschlandreisen im Hinblick auf die darin enthaltenen Geschlechterbilder und deren

9 Dies gilt freilich bei weitem nicht nur für Reiseliteratur, leider auch nicht nur für Literatur im Allgemeinen. Vgl. das Kapitel „Das alte Dilemma: Die ‚Leerstelle Frau‘ in der ‚männlichen‘ Wissenschaft“ bei Stefanie Ohnesorg, Mit Kompaß, Kutsche und Kamel. (Rück-) Einbindung der Frau in die Geschichte des Reisens und der Reiseliteratur, St. Ingbert 1996 (Saarländische Schriftenreihe zur Frauenforschung, Bd. 2), S. 26–37. 10 Jessica Enevold, Women on the Road. Regendering Narratives of Mobility, Göteborg 2003. Enevold deutet u.a. den Film Thelma & Louise (USA 1991, Regie: Ridley Scott) als eine bahnbrechende Erzählung über reisende Frauen, durch die die exklusive Maskulinität der Gattung road trip in Frage gestellt wurde – allerdings nicht so nachhaltig, dass es nicht immer wieder neuer ‚regendering turns‘ bedurft hätte.

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Zusammenhang mit dem seit 1989 virulenten Diskurs um eine oder mehrere neue deutsche Nationalidentitäten. Mein Interesse gilt den Fragen, wie in diesen zugleich ‚männlichen‘ und ‚westdeutschen‘ Texten, die sich sowohl als Gattung wie auch im jeweiligen Einzelfall großer Beliebtheit erfreuen, deutsche, ostdeutsche oder westdeutsche Identität mit Geschlecht in Verbindung gebracht wird und welche textuellen Ergebnisse die intersektionale Verschränkung von Herkunft und Geschlecht zeitigt. Außer der Darstellung von Frauen und Männern als vergeschlechtlichte Wesen – in den allermeisten Fällen spielt auf der Textoberfläche die Geschlechtszugehörigkeit bei weiblichen Figuren eine sehr große, gar entscheidende Rolle, bei männlichen Figuren dagegen so gut wie keine – interessieren mich die in den Texten geäußerten Überlegungen zu Geschlechterverhältnissen und Sexualität sowie die Verwendung von Geschlechtsmetaphorik. Diese Untersuchungsschwerpunkte erlauben es mir, innerhalb der einer Literaturwissenschaftlerin gesetzten Grenzen zu verbleiben – Bleibe im Lande und nähre dich redlich! Die nicht weniger reizvollen Fragen, ob es reisende und schreibende Frauen und Ostdeutsche gebe und, wenn nicht, warum nicht, müssen anderen Disziplinen überlassen bleiben. Ich konzentriere mich auf Roger Willemsens Deutschlandreise, Wolfgang Büschers Deutschland, eine Reise und Moritz von Uslars Deutschboden. Obwohl diese Texte sich hinsichtlich ihrer Erzählhaltung teils stark voneinander unterscheiden, finden sich sowohl inhaltlich als auch erzählstrategisch eine ganze Reihe von Parallelen, die sich nicht allein mit dem gemeinsamen Thema einer Reise um oder durch Deutschland erklären lassen.

II. Männer Die exklusiv westdeutsch-männliche Perspektive, aus der die Autoren schreiben, wird innerhalb der Texte in unterschiedlichem Grad reflektiert. Der Moritz genannte Erzähler von Deutschboden erhofft sich von seinem Aufenthalt in der brandenburgischen Kleinstadt explizit auch eine Wiederentdeckung seiner durch das Großstadtleben in Frage gestellten Männlichkeit: Ich war auch deshalb in die Kleinstadt gekommen, […] um Männer protzen zu hören. […] Volle Gläser. Rote Ohren. Dicke Bäuche. Harte Schwänze. Trübe Augen. […] Ich wollte Männer volle Pulle – aufs Fetteste, Fröhlichste und aller Unkomischste – nach vorne gehen und angeben hören.11

11 Uslar, Deutschboden, S. 203.

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Dieses Bestreben dominiert seinen Text in einer Unverhohlenheit, über deren Ironieanteil die Leserin schwer urteilen kann: Der ‚teilnehmende Beobachter‘, wie er sich selbst nennt, fühlt sich bei seiner Ankunft in der ostdeutschen Kleinstadt wie ein Westernheld,12 glaubt also, unter Verkehrung des amerikanischen Paradigmas vom östlichen Kulturbringer gegenüber den unzivilisierten Ureinwohnern des Westens, einem stereotypen Männlichkeitsideal zu entsprechen. Zu seinem Kleinstadtaufenthalt gehört auch, als Teil eines Programms zur Wiederentdeckung der Männlichkeit, Boxunterricht, von dem der Erzähler sagt: Die ganzen Männlichkeitsposen, die lächerlichen und besonders lächerlichen – das betont langsame Schnürsenkel-Zubinden, das Räuspern, die Dehn- und Lockerungsübungen, das Zurschaustellen der körperlichen Probleme und Wehwehchen in der Gesichtsmimik –, keine Ahnung warum, aber ich liebte das alles so.13

In der Beschreibung solchen Verhaltens als ‚Posen‘ und als ‚lächerlich‘ zeigt sich freilich eine ironische Distanz, die aber von der folgenden Reflexion ihrerseits in Frage gestellt wird: Der Boxsport war ja gerade deshalb so toll, weil in seiner demonstrativen Männlichkeit so viele klassisch weibliche Attribute, Zartheit, Verletzlichkeit, Wehleidigkeit lagen, also eher die Unmöglichkeit von Männlichkeit als die Behauptung derselben.14

Einerseits ist es gerade die Ironiefreiheit, die der Erzähler in der ostdeutschen Provinz zu finden hofft, andererseits ironisiert er seine eigene Rolle immer wieder. Als postmoderner, von Metrosexualität geprägter ‚neuer Mann‘ kommt er aus dieser ‚Ironiefalle‘ offenbar nicht heraus. Er ist irritiert, ja, er zeigt sogar einen Anflug von Hass, als er in der brandenburgischen Provinz ein „von zwei Herren“ geführtes Lokal namens „Vinothek und Kräuterei“15 entdeckt, das seiner Vorstellung von ursprünglicher, emphatisch heterosexueller, noch nicht großstädtisch-krisenhafter Männlichkeit zuwiderläuft – hier wird eine homophobe Tendenz deutlich. Dagegen betont er mehrmals, wie sehr es ihn beruhige, in der örtlichen Kneipe nur „Männerrücken, Männerhälse, Männerbäuche“16 zu sehen: Es war Liebe auf den ersten Blick gewesen, als ich an diesem Freitag im Mai gegen halb acht abends die Tür der Gaststätte Schröder aufgeschwenkt hatte und durch den Windfang in den Gastraum eingetreten war.

12 13 14 15 16

Ebd., S. 37: „Ich kam mir vor wie in einem gottverdammten Westernfilm.“ Ebd., S. 363. Ebd., S. 364. Ebd., S. 62 und S. 231. Ebd., S. 43.

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Ein bumsvolles Lokal. So etwas hatte ich selten, ganz gleich ob Großstadt, Kleinstadt, mittelgroße Stadt, gesehen. Es waren ausschließlich Männer in dem Gastraum, was einen als Stimmung, Temperatur, als Abmachung über die hier zu verbringende Zeit schon im Türrahmen angenehm anfasste und gleich merkwürdig beruhigte.17

Die Verwendung des unpersönlichen Pronomens „einen“ signalisiert, dass der Sprecher an dieser Stelle seine individuelle Wahrnehmung der Situation auf eine Allgemeinheit überträgt, die selbstverständlich als exklusiv männlich konzipiert wird. Dringen Frauen in die als sicher wahrgenommene männliche Sphäre ein, erlebt der Erzähler dies als ‚schockierend‘: „Zwischen den Jungs sah ich Raoul und Eric sitzen und – schockierender Anblick – auch drei junge Frauen.“18 Gelegentlich nimmt die Männlichkeitsemphase auch homoerotische Züge an; die Formulierung „Ich musste mir eingestehen“ lässt offen, worüber der Erzähler sich hier wundert – darüber, dass ein Ostdeutscher, oder darüber, dass ein Mann solche Sympathie bei ihm erweckt: Heiko begrüßte mich, obwohl es gerade das zweite Mal war, dass ich sein Lokal betrat, wie einen alten Freund: ‚Moritz … schöne Molle?‘ […] Heiko: Mann mit den Balu-der-Bär-Augen. Ich musste mir eingestehen, dass diese routinierte Heiko-Herzlichkeit bei mir sehr gut ankam: eben wie eine Kumpel-Umarmung.19

‚Moritz‘ zeigt also in seinem Bemühen um echte, ursprüngliche Männlichkeit zugleich homophobe und homoerotische Züge. Während bei Uslar die Vergewisserung über die eigene Maskulinität als wesentliches Movens seiner Kleinstadterkundung dargestellt wird, thematisieren Büscher und Willemsen die eigene geschlechtliche Identität kaum; noch weniger problematisieren sie sie. Bei beiden gibt es Kneipenszenen, die ebenso von Männern dominiert sind wie diejenigen in Deutschboden, ohne dass sie mit der Uslar’schen Emphase beschrieben würden. Büscher beispielsweise schildert eine Entgrenzungssituation, die sich in einem oberpfälzischen Gasthof ereignet, als ein Gast zur Gitarre erst obszöne und später Liebeslieder singt:

17 Ebd., S. 79. 18 Ebd., S. 292. 19 Ebd., S. 143. In seiner kritischen Besprechung des Buches zitiert Kolja Reichert eine Aussage Raouls, der als Bewohner der fiktiven Kleinstadt Oberhavel (tatsächlich hat von Uslar Zehdenick im Landkreis Oberhavel besucht) in Deutschboden auftritt und sich nach Erscheinen des Buches Reichert gegenüber geäußert hat: „Von Uslar rufe ihn oft an, erzählt Raoul, sie treffen sich manchmal in Berlin. ‚Der hat sich voll in uns verliebt, der zieht bald her.‘“ Kolja Reichert, „Moritz von Uslar – wo die wilden Kerle wohnen“, in: Die Welt, 05.10.2010, http://www.welt.de/kultur/ article10085340/Moritz-von-Uslar-wo-die-wilden-Kerle-wohnen.html# (Stand: 01.11.2011).

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[…] die schweren, verschwitzten Männer brüllten nicht mehr, sie ächzten und schluchzten und jubelten wie in der Hochzeitsnacht, und auch aus meiner Kehle hörte ich hohe Töne steigen, er sang, und ich tanzte und heulte dazu.20

Die Ekstase kommt hier durch das Zusammenwirken der Darbietungskunst mit dem Inhalt der vorgetragenen Lieder und einem männlichen Gemeinschaftsgefühl zustande – es entsteht eine Atmosphäre, der sich auch der Reisende nicht mehr entziehen kann und die ihn, wie die Formulierung zeigt, selbst überrascht. Nach dem Erlebnis wirft er sich vor dem Lokal in den Schnee, um sich abzukühlen und wieder zu sich zu kommen.21 Die einzige anwesende Frau ist von dieser Männergeselligkeit ausgeschlossen: „Nur die Wirtin saß abseits. Sie hatte ihr Strickzeug geholt und schaute dem Treiben zu wie eine Mutter, die dem wilden Spiel der Buben halb amüsiert, halb kopfschüttelnd folgt.“22 Lediglich in einer Jugenderinnerung, ausgelöst durch den Aufenthalt in der Universitätsstadt Freiburg, führt Büscher sein Engagement für die Studentenrevolution auf deren identitätsaffirmierendes Potential zurück – das Bedürfnis, sich der eigenen Männlichkeit zu versichern, liegt für ihn, anders als für Uslar, in der Vergangenheit: […] manchmal versuchte ich, die Revolution heimlich schöner zu machen, indem ich darauf achtete, nur schöne Studentinnen zum Flugblattstreuen einzuteilen. Aber die Revolution bedeutete mir, ich solle das lassen. Es waren männliche Reize, die sie zu bieten hatte. She makes you feel like a man.23

Vermutlich ist der Grund für die unterschiedliche Gewichtung der ‚Männlichkeitsproblematik‘ in der Generationenzugehörigkeit der Autoren zu suchen: Der 1951 geborene Büscher ist zum Zeitpunkt der Publikation seines Deutschland-Reiseberichts 54 Jahre alt, Willemsen, geboren 1955, ist 47 Jahre alt, der 1970 geborene Uslar publiziert sein Buch dagegen im Alter von 40 Jahren. Im Wendejahr 1989 ist Büscher 38, Willemsen 34, Uslar erst 19 Jahre alt – die Wende fällt also für ihn in eine biographisch sehr viel krisenanfälligere Zeit als für die beiden anderen Autoren. Sein ostentatives Ringen (oder besser: Boxen) um männliche Identität in West- oder Ostdeutschland dürfte wesentlich diesem biographischen Umstand geschuldet sein.

20 21 22 23

Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 143. Ebd., S. 144. Ebd., S. 142. Ebd., S. 219.

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III. Frauen Die Beschreibung von Frauen nimmt bei allen drei Autoren breiten Raum ein, und sie unterscheidet sich in den allermeisten Fällen kategorial von der Beschreibung männlicher Figuren. Keine der hier untersuchten Reisebeschreibungen genügt den drei Kriterien des so genannten Bechdel-Tests: Weder bei Büscher noch bei Uslar noch bei Willemsen kommen 1. mehr als zwei Frauen vor, die sich 2. miteinander unterhalten, und zwar 3. über etwas anderes als einen Mann.24 Willemsens Reisebuch beginnt und endet mit Deutschlandbildern, in denen Frauen bestimmte Rollen zukommen. Gleich auf der ersten Seite heißt es: Deutschland ist irgendwo oder nirgendwo oder überall: […] dieselben Garagen und vor den Garagen dieselben Ehefrauen, die ratlos in der Einfahrt stehen und zusehen, wie ihr Mann nach Hause kommt, und nebenan kommt der Nachbar in sein Haus, und die Frauen stehen und fragen sich: Warum kommt dieser in mein Haus zu mir und jener in ihr Haus zu ihr?25

Die Frustration der deutschen Ehefrau durchzieht Willemsens Buch bis zum Schluss; immer wieder beschreibt er deren triste Lebenswirklichkeit, hinter der der Abgrund lauere. Der Autor konstruiert zunächst eine offensichtlich vom westdeutschen Werbefernsehen beeinflusste heile Welt: [E]in Weiler unter der Hügellinie, drei rote Dächer und eine Birke, ein Windstoß in den Sträuchern und eine Frau, die zum Wäscheaufhängen unter die Bäume tritt. Gute Menschen, die Milch aus zottigen Viechern melken und vor dem Essen beten […].26

Diese Idylle entlarvt er allmählich als unglaubwürdig und brüchig, denn „Wo es das gibt, müssen noch Männer leben, die viel durchgemacht haben, und Hausfrauen, die nackt dem Postboten öffnen“.27 Das auf diese Weise evozierte Deutschlandbild scheint in die 1950er und 1960er Jahre der Bundesrepublik zu gehören; es bildet Willemsens Ausgangspunkt für eine Erkundung Deutschlands im beginnenden 21. Jahrhundert.

24 Der Bechdel-Test geht auf die US-amerikanische Zeichnerin und Autorin Alison Bechdel zurück und ist ursprünglich auf Filme bezogen: Bechdel lässt eine ihrer Figuren Filme nach den genannten drei Kriterien beurteilen. 25 Willemsen, Deutschlandreise, S. 5. 26 Ebd. 27 Ebd., S. 206.

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Willemsens Erzähler beobachtet die ihm begegnenden Frauen sehr genau und schreibt ihnen Lebensgeschichten und Eigenschaften zu. So schließt er aus dem Verhalten einer Touristin auf Sylt, dass sie eine „Eheprostituierte[]“28 sei, die von ihrem reichen Ehemann inzwischen vernachlässigt werde und gekonnt mit anderen Männern flirte. Er erkennt an den „Augen einer Ehefrau“, dass sie „hart und enttäuscht zu träumen begonnen hat“29 und „galoppieren, kühn sein, ihre weißen Zähne zeigen“30 will. Treten ältere Frauen auf, bezeichnet der Erzähler sie fast immer als Witwen. Willemsens Erzählweise ist von einem starken Bedürfnis nach Einfühlung geprägt; er gibt sich, mit einem Wort, als ‚Frauenversteher‘, ohne dass seine aus Blicken, Reden und Kleidung abgelesenen Interpretationen jedoch im Gespräch mit den jeweiligen Frauen überprüft würden. Ganz anders Uslar, bei dem Frauen als bedrohliche Fremdkörper in der erhofften Männerwelt wahrgenommen werden. Die erste Frau, der er begegnet, ist Maria, die Angestellte der Pension, in der er Quartier nimmt: Hinter dem Tresen stand eine Frau, die ich sofort scharf fand und von der ich auf Anhieb sicher sagen konnte, dass sie mich während meiner Wochen in der Kleinstadt beschäftigen würde. Sie hatte einen enorm großen Busen […].31

Bei jedem neuerlichen Zusammentreffen mit ihr wird ausführlich ihr Aussehen beschrieben, und der Erzähler wird bis zum Schluss nicht müde zu betonen, wie sehr ihm daran gelegen ist, sie „aufzureißen“.32 In einem Moment der inszenierten Selbsterkenntnis führt er sein diesbezügliches Scheitern darauf zurück, dass es zwischen uns, zwischen Reporter und der Bedienungsfrau, das älteste und gewöhnlichste Problem gegeben hatte, das es zwischen Frau und Mann geben konnte, und es war natürlich alles meine Schuld: Ich hatte sie auf ihr sogenanntes Äußeres reduziert.33

Der ‚Reporter‘ begegnet freilich allen Frauen so, auf die er trifft: „Hinter der Kasse stand eine ganz süß aussehende Maus“,34 eine als „Braut“ titulierte Frau hat „einen steilen Busen“,35 die größtenteils namenlosen Frauen sehen entweder gut oder „anders gut“ aus oder sind „sehr ansehnlich[]“.36 Im Gespräch mit ‚den

28 29 30 31 32 33 34 35 36

Ebd., S. 12. Ebd., S. 13. Ebd., S. 14. Uslar, Deutschboden, S. 70 f. Ebd., S. 288. Ebd., S. 335. Ebd., S. 304. Ebd., S. 306 f. Ebd., S. 317 f.  





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Jungs‘, an die der Reporter sich hält, stellt er die nicht ohne weiteres verständliche Frage, „[o]b es hier Frauen gebe“37 – Hintergrund ist seine Vermutung, dass „[d]ie Frau, die nicht voll blöd sei und etwas auf sich halte“,38 in den Westen abgewandert sei. Dieses geschlechtsbezogene Vorurteil über Ostdeutschland wird von den Befragten sofort entkräftet – wahrscheinlich nicht zuletzt deswegen, weil sie andernfalls ihre eigene Männlichkeit in Frage stellen müssten. Außer den Frauen, die als Sexualpartnerinnen in Frage kommen, gibt es bei Uslar noch einen anderen Typus, nämlich „Hausfrauen“ mit „[e]isenharte[n] Gesichter[n]“ bzw. Mütter mit durch harte Arbeit entstandenen „Männergesichter[n]“,39 denen der Erzähler – darin nicht allzu weit von Willemsen entfernt – eine Mischung aus Bewunderung und Mitleid entgegenbringt. Dass der Reporter ‚Frauen‘ aber doch als eine homogene, per Geschlecht hinreichend definierte Gruppe versteht, zeigt sich schließlich, als er nach diversen Interviews mit männlichen Kleinstadtbewohnern unterschiedlichen Alters und sozialen Status auf den Gedanken verfällt, ihm fehle nun noch ein „Interview mit einer Frau über den Alltag der Frauen in Oberhavel“.40 Weiblichkeit fungiert bei Uslar als Differenzkategorie par excellence; sein Erzähler vollzieht gleichzeitig mit der Affirmation der eigenen Identität ein beständiges Othering im Sinne Gayatri Chakravorty Spivaks, das in Bezug auf Frauen bis zum Schluss unhinterfragt bleibt, in Bezug auf Ostdeutsche (Männer) jedoch an einigen Stellen ins Wanken gerät. Die Frau, die er für sein Interview auswählt, ist dann ausgerechnet Janine, „die in der Gang der Aral-Jungs als gleichberechtigt, quasi als Mann akzeptiert wurde“41 – ob sie damit überhaupt geeignet ist, „den Alltag der Frauen in Oberhavel“ zu repräsentieren, wird nicht erwogen. Auch Büscher betont häufig die Attraktivität der Frauen, die ihm begegnen, etwa einer Passagierin auf einem Schiff42 oder einer Gastwirtstochter.43 Allerdings sind seine Zuschreibungen, bedingt durch seine Erzählhaltung, stärker als subjektive Wahrnehmungen markiert; sie kommen weniger essentialistisch daher. Der Anblick der als schön empfundenen Frau auf dem Schiff führt zu Überlegungen darüber, was sie in den Augen des Betrachters schön macht, und die Beobachtung einer offenbar glücklichen Familie aus Eltern, Sohn und dessen „schöne[r] Verlobte[r]“ im Restaurant lässt den Erzähler auf sein Dessert verzichten:

37 38 39 40 41 42 43

Ebd., S. 206. Ebd., S. 207. Ebd., S. 56. Ebd., S. 340. Ebd., S. 368. Vgl. Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 54. Vgl. ebd., S. 96.

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„[I]ch brauchte jetzt nichts Süßes mehr“.44 Büscher trifft auf sehr unterschiedliche Frauen: Außer schönen jungen Frauen gibt es bei ihm auch Frauen mittleren Alters, die in Cafés ihre Beziehungsgeschichten besprechen,45 eine Waldarbeiterin als einzige Frau unter Männern46 und eine Gruppe von weiblichen sacred dancers, denen der hungrige Reisende heimlich Essen stiehlt.47 Seine Darstellung ist in dieser Hinsicht wesentlich weniger schematisch als die Uslars und auch Willemsens; die weiblichen Figuren werden nicht als Typen, sondern als Individuen gezeichnet. Sowohl Büscher als auch Willemsen schildern mehrfach Begegnungen mit Prostituierten – im Bordell oder auf der Straße. Diese Beschreibungen sind bei beiden von einer Art ethnologischer Neugier, Mitleid und Distanzierung geprägt: Sie lassen sich bis zu einem gewissen Grad auf die Offerten der Prostituierten ein, um sich dann zurückzuziehen, ohne die angebotene Dienstleistung in Anspruch genommen zu haben.48 An einigen Stellen lässt sich bei der Darstellung von Frauen eine geschlechtsspezifisch verzerrte Wahrnehmung bzw. Schreibweise der Reisenden erkennen. Als statt des erwarteten Mannes eine Frau als Gastwirtin erscheint, schreibt Büscher: „Der Hüttenwirt kam und war eine Hüttenwirtin. Eine Schönheit.“49 Bei dieser Art von Selbstkorrektur handelt es sich um das in Geschlechterfragen stets vorhandene Problem der Prototypensemantik – ein Hüttenwirt wird, solange keine anderen Informationen vorliegen, zunächst einmal als männlich imaginiert. An bestimmten Formulierungen wird die männliche Perspektive der Autoren auch dann kenntlich, wenn sie, wie Willemsen, um geschlechtergerechte Darstellung bemüht sind. So beschreibt Büscher etwa Frauen, die ihm nicht gefallen, dann doch so, als sei sein Urteil objektiv: „Zu junge Mütter, zu rosa angezogen, zu dick, zu durchbohrt“,50 und Willemsen nennt erwachsene Frauen gelegentlich „Mädchen“.51 Die Sicht des westdeutschen Mannes auf (Ost-)Deutschland unterliegt aber nicht nur einem gender bias, sondern – sit venia verbo – auch einem Länder-bias. 44 Ebd., S. 163. 45 Vgl. ebd., S. 86 und S. 192. 46 Vgl. ebd., S. 148 f. 47 Vgl. ebd., S. 211–213. 48 Vgl. Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 101–106, und Willemsen, Deutschlandreise, S. 7. 49 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 177. Ähnliches unterläuft Landolf Scherzer, der in einem parkenden PKW „ein Schild mit dem Vornamen des Fahrers“ sieht: „Der Fahrer heißt M AMA . […] Die M AMA sieht wirklich wie eine Mama aus, eine prächtige, kräftige, füllige Mama“ (Scherzer, Der Grenz-Gänger, S. 18 f.). 50 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 223. 51 Willemsen, Deutschlandreise, S. 118.  



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Indem Willemsen schreibt: „Wenn man sich im Hinterland der alten DDR bewegt, wird alles fremder“,52 unterstellt er eine Objektivität des subjektiv, aus einer spezifischen Perspektive Erlebten. Noch drastischer artikuliert sich dieses herkunftsspezifische Vorurteil bei Uslar, dessen Erzähler im Kreis seiner Freunde verkündet: „Ich haue ab von hier […], dort hin, wo kaum ein Mensch je vor uns war – nach Hardrockhausen, Osten …“53 Die Exotisierung Ostdeutschlands und seiner Bewohner_innen geht hier so weit, dass Letztere gar nicht als Menschen angesehen werden.

IV. Sexualität, Geschlechterverhältnisse und Geschlechtermetaphorik Gelegentlich enthalten die Reisebeschreibungen Reflexionen über Sexualität und Geschlechterverhältnisse, die über die bloße Darstellung von Männer- oder Frauenfiguren hinausgehen. Die meisten Textstellen dieser Art finden sich bei Willemsen. Mit ihm, aber auch mit Uslar reden mehrere Personen bereitwillig über Sexualität. Meist sind es Männer, die von ihren sexuellen Erfahrungen mit Frauen, darunter auch Prostituierte, sprechen. ,Moritz‘ zeigt sich beeindruckt von der Art, wie einer seiner neuen Bekannten mit ihm über Sex und Pornographie spricht, als wäre es ein Thema, über das der Mensch seit jeher ohne Scham und sonst irgendwelche Probleme hätte reden können […] Und auf eine gut machbare, weil offene, ungestresste, komischerweise nicht eklige und unaufdringliche Art fuhr Raoul fort, die Praxis seiner Sexualität aufzuerzählen.54

Willemsen dagegen wundert sich gar nicht erst über die ihm entgegengebrachte Offenheit – nicht, als er im Zug einen Pornodarsteller trifft, der ihm von seiner Arbeit berichtet,55 und auch nicht, als eine Lehrerin ihm erzählt, dass eine Schülerin auf die Frage nach ihrem Hobby „Selbstbefriedigung“ geantwortet habe.56 Der Erzähler seiner Deutschlandreise ist abgeklärt und durch nichts aus der Ruhe zu bringen; nie verlässt er seinen außerhalb des Geschehens liegenden Standpunkt.

52 53 54 55 56

Ebd., S. 51. Uslar, Deutschboden, S. 14. Ebd., S. 281 f. Willemsen, Deutschlandreise, S. 182 f. Ebd., S. 196.  



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Bei Uslar kommt immer dann Irritation auf, wenn das Vorgefundene nicht seinen Vorstellungen von Geschlechterrollen entspricht. Angesichts der lackierten Fingernägel eines Mannes sinniert er ausführlich: Ein echter Knaller in Erics Erscheinung waren seine mit schwarzem Nagellack lackierten Fingernägel. Es waren männliche, nicht besonders gepflegte Nägel, und der Lack blätterte von ihnen herunter, wodurch die Sache noch einmal einen anderen Schwung bekam. Nur wegen dieser Nägel stand gleich eine wahrlich dramatische Menge von Fragezeichen im Raum. Da dieser Mann ziemlich offensichtlich nicht schwul war, sendete das abgeblätterte Schwarz gleich eine Vielzahl von Referenzen aus, die sich mit dem Klischee einer Kleinstadtexistenz schwer vertrugen, in etwa: Punkrock, Hardrock, Metrosexualität, Oper, Kino, Glamour, Exzess, Absturz […].57

Von einem Typus des ostdeutschen Kleinstadtmannes, den der Erzähler bislang nicht kannte und den er „Proll-Fighter“ nennt, glaubt er, dieser sei insofern eine neuartige, eine zeitgemäße und moderne Erscheinung, als er die traditionellen Geschlechterrollen, die noch von irgendwann, vielleicht noch aus den Fünfzigerjahren stammten, längst überwunden hatte. Für einen echten Mann, wie man ihn früher (in Filmen) gekannt hatte, war er, Proll der Gegenwart, viel zu sehr mit dem Lack seines Äußeren beschäftigt.58

An dieser Stelle sorgt der eingeklammerte Zusatz „(in Filmen)“ für eine Relativierung und Ironisierung des Gesagten, denn wenn der von ‚Moritz‘ fortwährend beschworene „echte[] Mann“ nur als Filmfigur existiert, ist er eine – überdies aus der Mode geratene – Fiktion und kann zu keiner Zeit von jemandem tatsächlich „gekannt“ worden sein. Besonders interessant für die Gender-Vorstellungen der Reisenden sind Metaphern, in denen das bereiste Land mit bestimmten als geschlechtsspezifisch konzipierten Eigenschaften versehen wird oder in denen Sexualität und nationale Identität zusammengedacht werden. Willemsen folgert zu Beginn seiner Reise ironisch, als ein Mann im Zug eine Zeitschrift mit „11 brandneue[n] OrgasmusIdeen“ studiert: „Deutschland kann kommen.“59 Man mag diese programmatische Äußerung als Kalauer abtun, doch die Sexualität deutscher Frauen und Männer ist, wie sich im Verlauf des Buches zeigt, ein durchgängiges, zum Teil fast zwanghaft herbeizitiert wirkendes Thema seiner Deutschlandreise. Dass Sexualität nicht nur die Identität einzelner Menschen, sondern auch die eines Landes

57 Uslar, Deutschboden, S. 174 f. 58 Ebd., S. 57 f. 59 Willemsen, Deutschlandreise, S. 6.  



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oder Weltteils bestimmen kann, legt eine Passage nahe, in der es um von der Werbung präsentierte Schönheitsideale geht: [D]ie […] luziden Frauenkörper der Parfümreklamen sättigen die Auslagen, die Körper aufgefaßt als ein Zusammenklang vollkommener Beinabschnitte, beflaumter Parzellen, aufgeworfener Riesenmünder, von Lip-Gloss feucht. […] In so viel Schönheit schläft der Amok, das Land ist randvoll mit solcher Schönheit […] Die Bedeutung all dieser Bequemlichkeit auf diesem Fleck der Erde ist Sex, Sex mit der Luft, mit dem Sessel, Augenweide und Ohrenschmaus, alles soll Körper haben und Aura und eine Erscheinung sein und Begierde auslösen.60

Obwohl sich diese Passage in Willemsens Deutschlandreise findet, hat sie mit spezifisch deutscher Identität offensichtlich nichts zu tun; eher geht es um Phänomene der westlichen Welt insgesamt, die als problematisch empfunden und in einem Zusammenhang mit dem ‚neuen Deutschland‘ gesehen werden. Auf andere Weise wird Deutschland bei Büscher sexualisiert. Er identifiziert den Typus des historisch interessierten deutschen Mannes mittleren Alters und bezeichnet ihn als Liebhaber des Landes: […] der deutsche historische Amateur, seinen Gegenstand liebend, ja ganz in ihn versunken. Und Liebhaber waren sie wirklich. Sie hatten keine Theorie, was die erste Bedingung der Liebe ist. Aber die Haut des geliebten Landes kannten sie genau, jede Narbe, jeden Brandfleck.61

Als Reisender und Kenner Deutschlands ist auch Büscher selbst diesem Typus nicht unähnlich, und in der Tat erlebt auch er das Land als eine Geliebte: Ich kam nach Lindau am Bodensee, und alles war wieder da, alles noch an seinem Ort. Westdeutschland war noch da. Kein Wunder, es war nie fort gewesen. Ich war fort gewesen, und nun lief ich durch dieses Lindau und stand vor lauter Dingen, deren schieres Nochdasein mich rührte wie die unverdiente Treue einer vergessenen Geliebten.62

Dem Land wird hier ein Körper zugeschrieben, mit dem man sich beschäftigen und den man sich aneignen könne. Das Bild wird fortgeführt, indem der Reisende in einem Lindauer Lokal tatsächlich eine frühere Geliebte zu erkennen meint. Dadurch, dass diese sich als eine Fremde erweist und der Reisende ernüchtert zurückbleibt, werden die zugrunde liegenden uralten Rollenvorstellungen – selbstlos wartende Frau auf der einen, nach Gutdünken fernbleibender Mann auf der anderen Seite – mit selbstironischem Gestus relativiert.63 Am Ende seiner 60 61 62 63

Ebd., S. 178 f. Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 93. Ebd., S. 191. Ebd., S. 192–194.  

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Reise meint Büscher sogar, Deutschland spreche zu ihm – und es ist natürlich eine Frau: Die Wirtin schenkte nach. Ihr Wein war gut. Und es war, als ob das Land nachschenkte, um das ich jetzt beinahe herum war, als ob es bei mir säße und mich festhielte und noch aufbleiben wollte, als ob es Dinge gäbe, die unbedingt noch gesagt werden mussten.64

Moritz von Uslar dagegen, der sich vor dem ihm unbekannten Teil Deutschlands, also dem Osten, fürchtet, wird angesichts des Wirtes Heiko eines Besseren belehrt und fürchtet sich nicht mehr, sobald er in Heiko Deutschland – und nicht nur Ostdeutschland – erkennt: „Diesen Heiko Schröder bei der Arbeit erlebend, dachte ich: Sieh an, Deutschland ist nicht böse, Deutschland ist ein feiner Kerl. Diesen Satz dachte ich wirklich.“65 Während er mit Deutschland dank seiner Beobachtung der ostdeutschen Kleinstadt eine Art Männerfreundschaft schließt, entwickelt er zum deutschen Nationalgetränk, dem Bier, gewissermaßen eine heterosexuelle Beziehung – und auch das wird erst durch die im Berliner Umland übliche Bezeichnung für das Bier möglich: Und saufend dachte ich über das Bier, die Molle, nach: Der einzige Fehler am Bier war all die Jahrhunderte lang gewesen, dass es ein Neutrum war. Das Bier. Das hatten sie – hier in Oberhavel, hier in der Gaststätte Schröder – geändert: die Molle. Meine Molle. Schöne Molle. Du liebe Frau.66

V. Deutschland zwischen Mann und Frau Wenn, wie bisher gezeigt wurde, der Kategorie Geschlecht bei den Überlegungen der reisenden Autoren zur Befindlichkeit Deutschlands eine wesentliche Bedeutung zukommt und die Verknüpfung von Nation und Geschlecht so weit reicht, dass auch dem Land selbst ein Geschlecht zugesprochen wird, dann erscheint die Idee, die Situation eines Landes im Umbruch durch eine unklare Geschlechtszugehörigkeit zu symbolisieren, als ebenso konsequent wie metaphorisch reizvoll. Willemsen bindet die sexuelle Identität eines Menschen, von dem ihm erzählt wird, metaphorisch an den Prozess der Vereinigung von Ost- und Westdeutschland:

64 Ebd., S. 247. 65 Uslar, Deutschboden, S. 82. 66 Ebd., S. 89.

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Aus Gotha […] stammt das wandelnde Symbol für den unabgeschlossenen Prozess des Zusammenwachsens: Ein junger Mann lebte da, der sich zu DDR-Zeiten nicht vor allem die Demokratie gewünscht hatte, sondern Frau zu werden. Als die Mauer fiel, steckte er sein Begrüßungsgeld und alle verfügbaren Kredite in eine Geschlechtsumwandlung. Nach der dritten Operation und der Einnahme von Hormonen verweiblichte er sichtbar. Dann war alles Kapital verbraucht, jeder Kredit erschöpft, und jetzt rennt das arme Mensch durch die Welt, irgendwo stehen geblieben zwischen Mann und Frau, der einsame Repräsentant eines Halb-Geschlechts, der unvollendeten deutschen Vereinigung, und fürchtet sich vor dem Mob, den Schlägern im Sinne des gesunden Volksempfindens.67

Die unvollendete Geschlechtsangleichung wird hier zum Sinnbild einer auf halbem Wege stehen gebliebenen deutschen Vereinigung, die als normativ verstandene Binarität der Geschlechter wird mit derjenigen von Ost und West verglichen. Denkt man das Bild weiter, dann entspräche also die Verwestlichung Ostdeutschlands dem Prozess der Verweiblichung; Ostdeutschland wäre männlich, Westdeutschland weiblich. Der Vergleich gelangt hier offensichtlich an seine Grenzen, denn selbstverständlich lassen sich Ost- und Westdeutschland nicht jeweils einem Geschlecht zuordnen – dass Büschers weibliche Deutschlandverkörperung in Westdeutschland, Uslars männliche dagegen in Ostdeutschland angesiedelt ist, lässt sich für eine vergeschlechtlichte Darstellung Ost- und Westdeutschlands nicht in Anschlag bringen, ist aber auch nicht reiner Zufall: Für Uslar dient ja der ursprünglich-unverdorbene Osten als Projektionsraum von Männlichkeitsphantasien. Bekanntlich ist die Vorstellung, einer Nation ein Geschlecht, genauer gesagt: als geschlechtsspezifisch konzipierte Merkmale und Eigenschaften, zuzuschreiben, keineswegs eine Erfindung des 21. Jahrhunderts. In traditionellen Nationalallegorien werden Nationen häufig von weiblichen Figuren verkörpert: Deutschland durch die Germania, Frankreich durch die Marianne, Großbritannien durch die Britannia, die USA bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch die Columbia und heute durch die Freiheitsstatue. Allerdings gibt es neben der Germania auch noch den deutschen Michel, neben der Britannia auch John Bull und außer der Freiheitsstatue auch Uncle Sam.68 Die mit diesen Allegorien verbundenen Zuschreibungen von Eigenschaften lassen sich nicht ohne weiteres auf ein anderes Geschlecht übertragen: Als Michaela mit Schlafmütze ist der Michel kaum denkbar, eine männliche Freiheitsstatue hätte eine ganz andere Wirkung, und wie sollte man sich eine Joan Bull vorstellen? Wie in den traditionellen Nationalallegorien artikuliert sich auch bei Büscher, Uslar und Willemsen

67 Willemsen, Deutschlandreise, S. 66. 68 Vgl. zu Nationalallegorien und Nationalstereotypen den Beitrag von Ruth Florack in diesem Band.

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das Bedürfnis, ‚das Land‘ und ‚die Nation‘, um die es ihnen geht, zu anthropomorphisieren – und dazu gehört zwingend die Zuweisung eines Geschlechts. Insofern hat Willemsens Idee, dass es sich beim gegenwärtigen Deutschland um eine Nation handelt, die die eigentlich exklusiven oder als exklusiv gedachten Distinktionsmerkmale zweier Seiten in sich trägt, einiges für sich. Damit stellt sich nur noch die Frage, ob Deutschland transsexuell, also auf dem Weg vom einen zum anderen Paradigma, oder intersexuell ist, also eine simultane Verkörperung des eigentlich Getrennten.

Peter J. Brenner, München

Fußwanderungen durch Deutschland. Die Wiederentdeckung einer Reiseform um die Jahrtausendwende I. Anti-Touristen und Wohlstandsverweigerer Man geht wieder zu Fuß in der deutschen Reisekultur. In den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatten die Fußwanderungen etwas an Bedeutung verloren, um die Jahrtausendwende aber lässt sich ein leichter Aufschwung beobachten. Einen spektakulären Höhepunkt erfuhr das Ansehen der Fußreise mit dem Bestsellererfolg von Hape Kerkelings Bericht über seine Jakobsweg-Pilgerfahrt. Das Buch wurde 2006 publiziert und erschien bis 2008 in der 70. Auflage der gebundenen Ausgabe und 2009 in der 19. Taschenbuchauflage. Bereits im Jahr nach dem Erscheinen sollen 3 Millionen Exemplare verkauft worden sein. Dies sei der größte Erfolg, so vermeldet der Buchmarkt, eines deutschen „Sachbuches“ seit den fünfziger Jahren.1 Der Bestsellererfolg dieses Buches ist nur der unvermutete Gipfelpunkt einer Entwicklung, die sich schon länger abzeichnete. Auf den ersten Blick ist das erstaunlich, denn die Fortbewegung zu Fuß scheint aus einer Zeit herauszufallen, in der das Reisen mit den modernsten Verkehrsmitteln zu jedem beliebigen Zeitpunkt an jeden beliebigen Ort für große Teile der Bevölkerung möglich, wenn nicht selbstverständlich geworden ist. Aber das hängt wohl zusammen. Denn für den Kulturhistoriker ist es keine Überraschung, wenn sich eine Gegenbewegung zum Massentourismus mit seiner Tendenz zur Beschleunigung, Vertechnisierung und Universalisierung des Reisens entwickelt. Und so wird man die kleineren Fußreisen in Deutschland, die sich um die Jahrtausendwende häufen, wohl in erster Linie deuten müssen – als Gegenentwurf zu einem Massentourismus in einer Wohlstandsgesellschaft, für die das Reisen alltäglich geworden ist. Schon vor einem halben Jahrhundert hat Hans-Magnus Enzensberger in seiner Theorie des Tourismus nicht nur den Tourismus, sondern auch dessen Kritiker kritisiert. Die Grundlinien seiner Argumentation bedürfen der Ergänzung; 1 Vgl. Heide Hollmer, „Hape Kerkeling: Ich bin dann mal weg: Meine Reise auf dem Jakobsweg“, in: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbands 2010, 2: Beststeller des 21. Jahrhunderts, S. 162–173; Peter J. Brenner, „Der Pilgertourist. Hape Kerkelings postmoderne Wanderschaft“, in: Universitas 65/2010, S. 491–500.

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aber sie haben im Kern weiter Gültigkeit. Enzensbergers Kritik verfolgt ein doppeltes Ziel. Sie zeigt, dass der Tourist sich bei seiner Flucht aus der Zivilisation genau der Mittel bedient, die eben diese Zivilisation hervorgebracht hat.2 Sie zeigt weiterhin, dass die Touristen in ihren Erwartungen betrogen werden, weil sie an ihrem touristischen Reiseziel lediglich das wieder bekommen, was sie in ihrer Heimat hinter sich zu lassen geglaubt hatten; und sie zeigt schließlich, dass das wiederum das ist, was die Touristen wirklich wollen: „Der Tourismus ist seither das Spiegelbild der Gesellschaft, von der er sich abstößt.“3 Das entfesselte touristische Reisen der Wohlstandsgesellschaft hält für den Touristen mehr Enttäuschungen als Erfüllungen bereit, da die Wirklichkeit den überspannten Erwartungen kaum einmal gerecht werden kann. Hierauf hat die Gesellschaft mit einer „Verrechtlichung des Reisens“ reagiert, mit der sich entgangene Urlaubsfreuden juristisch kompensieren lassen;4 und die Reiseveranstalter wie die Touristen selbst haben Mechanismen der Umdeutung entwickelt, durch die selbst Enttäuschungen in erfolgreiche Urlaubsreisen uminterpretiert werden können.5 In diesem Zusammenhang sind die Reisen und die Texte der Fußwanderer um die Jahrtausendwende zu verstehen. Es sind überwiegend Texte von Intellektuellen, die ein Studium hinter sich haben, als Journalisten arbeiten und sicher genau wissen, was sie tun, wenn sie eine Fußreise unternehmen. Das passt ins Bild der Tourismusforschung, die festgestellt hat, dass die Sehnsucht nach dem Abenteuer auf ungebahnten Wegen sich besonders bei Kopfarbeitern findet, die in der Großstadtgesellschaft verwurzelt sind.6 Sie suchen nicht nur die Abkehr von der Normalität des Alltags, sondern ebenso die Abkehr von der Standardisierung eines touristischen Reisens, dessen wesentliche Merkmale „Normung, Montage und Serienfertigung“ sind.7 Die Kernaussage ihrer Texte wird nicht ausgesprochen, aber sie springt dem Leser aus jeder Zeile entgegen: Die Fußgänger verstehen sich als Anti-Touristen; sie beziehen ihre Identität als Reisende zum guten Teil aus ihrer Abgrenzung vom

2 Hans Magnus Enzensberger, „Eine Theorie des Tourismus“, in: Ders., Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie, Frankfurt am Main 1964, S. 179–205, hier S. 191. 3 Ebd., S. 199. 4 Vgl. Thomas Wittich, Reisegefahren und Urlaubsängste. Die touristische Erfahrung von Bedrohung und Unsicherheit als Gegenstand narrativer Darstellungen, Münster u.a. 2004 (Internationale Hochschulschriften 427), S. 113–116. 5 Ebd., S. 118 f. 6 Christoph Köck, Sehnsucht Abenteuer. Auf den Spuren der Erlebnisgesellschaft, Berlin 1990, S. 88. 7 Enzensberger, „Eine Theorie des Tourismus“, S. 196.  

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Programm des modernen Tourismus. Hierin wird man den ersten kleinsten gemeinsamen Nenner dieser Reiseberichte sehen dürfen. Der antitouristischen Grundeinstellung und den Denkformen wie Legitimationsmustern der Tourismusverweigerung korrespondiert bei den Fußwanderern eine – in der Regel nur temporäre – Wohlstandsverweigerung. Denn so wie der moderne Tourismus als eine Begleiterscheinung des zunehmenden Wohlstandes in den modernen westlichen Gesellschaften gesehen werden darf, so kann die bewusste Wahl der Fußreise als ein künstlicher Wohlstandsverzicht verstanden werden. Bei den unmittelbaren Vorläufern der Jahrtausendwende-Wanderer kann dieser Verzicht extreme Formen annehmen. Der Trendsetter dieser kleinen Wanderbewegung ist Michael Holzach. Sein Wanderbericht Deutschland umsonst von 1980 gibt das Muster vor, auf das auch die Späteren sich öfter ausdrücklich beziehen. Holzachs Wohlstandsverzicht ist radikal und damit existenziell: So unbelastet wie nur möglich wollte ich sein, ohne Uhr und somit ohne Zeit, ohne Karte und Kompaß und damit ohne Orientierung, ohne Bücher, und damit ohne Leben aus anderer Hand. Das Wichtigste aber, was ich zu Hause ließ, war das, was man gemeinhin zum Leben braucht: das liebe Geld, ohne das bisher nichts ging.8

Es ist die Wahl einer Lebensform auf der Straße, die die Option einer beliebigen Rückkehr in die Normalität des bürgerlichen Lebens wenn nicht ganz ausschließt, so doch zumindest drastisch erschwert – bis hin zur tragischen Pointe, dass der Autor beim Versuch, seinen Hund zu retten, selbst ums Leben kommt. 20 Jahre später nimmt Tobias Zick – nicht ohne offensichtliche Irritation – direkt Bezug darauf. Im Gespräch mit einem Passanten wird er an seinen Vorläufer erinnert: „Nicht wie ein Penner habe Holzach gewirkt, verwildert zwar und oft ausgehungert, aber immer mit guten Manieren. So beschrieben ihn die Leute, denen er begegnet war.“9 Holzach sucht die Lebensweise auf der Straße, ohne Kompromisse. In seinem Bericht wird ein erstes, altes Muster aufgegriffen und weitergeführt, das dann bei anderen Autoren wiederkehrt. Es ist das Muster der Sozialreportage, das in neuerer Zeit gerne die Gestalt des Sozialkitsches annimmt. Das Modell stammt von Egon Erwin Kisch, der seine berühmte Sammlung von 1926, Der rasende Reporter, mit einer Reportage über die Obdachlosen von Whitechapel eröffnet. Der Reporter nimmt selbst die Gestalt des Obdachlosen an, über den er dann später 8 Michael Holzach, Deutschland umsonst. Zu Fuß und ohne Geld durch ein Wohlstandsland, 2. Aufl., Hamburg 1982, S. 11. 9 Tobias Zick, Heimatkunde. Zu Fuß und allein durch die Provinz, Freiburg i.Br. u.a. 2005, S. 171 f. – Zu Tobias Zick vgl. auch den Beitrag von Christopher Meid im vorliegenden Band.  

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als Journalist berichtet – eine journalistische Form, die bekanntlich ein halbes Jahrhundert später von Günther Wallraff zur Extremform des Enthüllungsjournalismus weiterentwickelt wurde. Kisch weiß, dass er hier nur Zaungast ist. Er trägt das „Kostüm“ der Obdachlosen, und nach einer Nacht ist alles vorbei: „Endlich, denke ich und atme der Luft entgegen. Die anderen aber ducken sich vor dem ersten Hieb der Kälte.“10 In dieser Tradition sieht sich wohl der eine oder andere der aktuellen deutschen Fußwanderer. Bei Holzach scheint die Faszination der Armut authentisch zu sein. Bei manchen seiner Fußgänger-Nachfolger hingegen ist es unübersehbar, dass sie auf einer Zeitgeistwelle mitschwimmen, die ein gutbürgerliches Fundament hat. Am stärksten ausgeprägt ist das bei Andreas Altmann, der, wie der Untertitel seines Reiseberichts versichert, Von Paris nach Berlin zu Fuß und ohne Geld gewandert ist. Er sucht die Nähe zu den Obdachlosen, und wie diese erbettelt er sich seinen Lebensunterhalt11 – und dreht dann für Arte einen Film über Die Kunst des Bettelns, wie der Klappentext mitteilt. Wie Egon Erwin Kisch sich das „Kostüm“ der Obdachlosen anlegt, so ist sich Altmann der Künstlichkeit seiner Situation als Obdachloser bewusst: Das Betteln betreibt er, wie er im Nachwort erläutert, aus „Freude am Spiel“.12 Die Armut wird in solchen Beschreibungen, ganz anders als Kisch es noch wollte, entskandalisiert. Altmann ist nicht mehr als ein Tourist, denn längst sind die Ghettos und Armutsviertel vor der Wahrnehmung als touristische Attraktion nicht sicher. Seit den Besichtigungstouren des 19. Jahrhunderts zu den „five points“, den sozialen Brennpunkten,13 wie man es heute nennen würde, in New York, ist das Elend grundsätzlich tourismusfähig und wird auch heute noch als „negative sightseeing“ praktiziert.14 Es ist also kein Alleinstellungsmerkmal der Fußreisenden gegenüber den Salontouristen, wenn sie sich ungefragt zu den Obdachlosen gesellen – auch das hat sich der Tourismus längst einverleibt. Diese Reisenden suchen die „Konfrontation mit dem Fremden“, die sie „als Bereicherung und Gewinn“ verbuchen; ob das aber umgekehrt genau so ist, darf fraglich erscheinen – immerhin nehmen sie diesen Fremden

10 Egon Erwin Kisch, „Unter den Obdachlosen von Whitechapel“, in: Ders., Der rasende Reporter – Hetzjagd durch die Zeit – Wagnisse in aller Welt – Kriminalistisches Reisebuch, 2. Aufl., Berlin/Weimar 1974, S. 7–12, hier S. 7 und S. 12. 11 Andreas Altmann, 34 Tage – 33 Nächte. Von Paris nach Berlin zu Fuß und ohne Geld, München 2006, S. 14. 12 Ebd., S. 249. 13 Vgl. Peter J. Brenner, Reisen in die Neue Welt. Die Erfahrung Nordamerikas in deutschen Reiseund Auswandererberichten des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1991 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 35), S. 393. 14 Wittich, Reisegefahren und Urlaubsängste, S. 124.

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ihre „Verfügungsgewalt über ein Stück ‚eigenen Raum‘, der nicht fraglos und jederzeit von anderen okkupiert werden kann.“15

II. Warum? Dass man in einer Zeit, in der jeder beliebige Punkt der Welt – und auch in Deutschland – mit technischen Verkehrsmitteln leicht erreichbar ist, zu Fuß geht, ist einerseits zwar höchst ungewöhnlich, erscheint andererseits bemerkenswerterweise aber kaum erklärungsbedürftig. Am Ende bleibt die Feststellung unkommentiert stehen, die Thomas Rosenlöcher stellvertretend für manchen Leser trifft: „Überhaupt hatte es etwas Seltsames, wenn ein erwachsener Mensch plötzlich in den Wald wollte.“16 Die Frage, warum man so etwas Seltsames tut, wird von den Wanderern nur beiläufig gestreift, und wenn sie sie sich ernsthaft stellen, bleibt sie unbeantwortet. Man hätte die Antwort übrigens bei Thoreau finden können: „Auf meinen Wanderungen möchte ich gern zu meinen Sinnen zurückkehren. Was habe ich im Wald verloren, wenn ich an etwas außerhalb des Waldes denke?“17 Genau das aber möchten die modernen Fußwanderer kaum einmal – zu den Sinnen zurückkehren. Selbstverständlich gibt es auch dieses Motiv vereinzelt; so bei Axel Braig: „Dann gehe ich los, und habe den ganzen Tag Gelegenheit, die Welt und mich selbst mit offenen Sinnen wahrzunehmen.“18 Aber diese konventionelle, postromantische Reisemotivation bleibt eher Programm, als dass sie im Text wirklich eingelöst würde; und sie bleibt eine Ausnahme. Die Fußwanderer beschäftigen sich, und das gilt gerade für Rosenlöcher im besonderen Maße, fast ausschließlich mit Dingen „außerhalb des Waldes“. Ein anderes Fußreise-Motiv ist näher liegend, weil moderner; genauer: postmoderner. Bei den Fußgängern kann man eine moderate Form jenes neuen Körperkults wiederfinden, welchen die Wohlstandsgesellschaft hervorgebracht hat. Das gehört zu den Antrieben Altmanns, der erklärt, dass er mit seiner Fußreise sich gegen die „Komfortsucht“ wendet und dass es ihm darum gehe, den „Leib herauszufordern, ihn [zu] plagen und [zu] piesacken“.19

15 Markus Schroer, Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt am Main 2006, S. 248. 16 Thomas Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, Frankfurt am Main 1991, S. 9. 17 Henry David Thoreau, „Vom Gehen“, in: Ders., Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat. Und andere Essays, Frankfurt am Main 2001, S. 89–129, hier S. 95. 18 Axel Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland, Frankfurt am Main 2006, S. 28. 19 Altmann, 34 Tage – 33 Nächte, S. 11.

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Der Überdruss an der Wohlstandsgesellschaft, der sich hinter diesen Fußwanderungen verbirgt, hat seine Kehrseite im Körperkult, den diese Wohlstandsgesellschaft in neuerer Zeit hervorgebracht hat. Der neue Körperkult der postmodernen Gesellschaft entlastet die Fußwanderer von einigem Legitimationsdruck, da er einen selbstverständlichen sozialen Akzeptanzraum bereitstellt, in dem die Fußwanderer sich bewegen können. Hier ging es in der Tat darum, die „Abenteuer des Körpers“ auszukosten und die körperliche Leistungsfähigkeit bis an seine extremen Grenzen und darüber hinaus zu strapazieren: „Bewusst entfliehen sie zivilisatorischem Komfort, den Schutzräumen gewohnter Routinen und wohlfahrtsstaatlicher Sicherheiten, um sich der übermächtigen, unberechenbaren Natur auszuliefern“.20 Das war ein Zeitgeistphänomen, das in der öffentlichen Wahrnehmung große Resonanz gefunden hat und eine Nachahmerwelle auslöste. In den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts hat es einmal einen Trend zum Extremtourismus gegeben, der sich um die Leitfiguren Reinhold Messner und Arved Fuchs konzentrierte. Auch Rüdiger Nehbergs Wanderung im Jahre 1981 vom Norden zum Süden Deutschlands, von Hamburg nach Oberstdorf, unter selbst konstruierten extremen Bedingungen, wird man noch in diese Kategorie rechnen können: „Fast 1000 Kilometer ohne Nahrung, ohne Ausrüstung.“21 Über diese Reise allerdings gibt es – im Gegensatz zu den extremen, kaum überbietbaren späteren Reisen Rüdiger Nehbergs – keinen Bericht, sondern nur eine filmische Dokumentation und Darstellungen in anderen Büchern Nehbergs. Unter den Fußwanderern der Jahrtausendwende kommt Wolfgang Büscher diesen Phänomenen am nächsten, ohne wirklich dazuzugehören. Büscher ist ein bemerkenswerter Sonderfall. Seine drei großen Reiseberichte Berlin – Moskau von 2003, Deutschland, eine Reise, 2005 erschienen, und schließlich Hartland. Zu Fuß durch Amerika von 2011 erschließen der jüngeren deutschen Reiseliteratur eine neue Dimension. Büscher ist in jeder Hinsicht ein undogmatischer Reisender. Seine Texte finden einen eigenen Stil, sie finden zum guten Teil ihre eigenen, noch unverbrauchten Themen, und sie finden, was vielleicht das Entscheidende ist, neue Reiserouten. Was ihn antreibt, lässt sich aus den Texten schwer erschließen. Sie verzichten weitgehend und offensichtlich bewusst auf jede Form der Selbstreflexion oder gar Legitimation, obwohl kein Zweifel daran bestehen kann, dass ihr Autor dazu in der Lage wäre.

20 Franz Josef Wetz, „Abenteuer des Körpers“, in: Ders. u.a. (Hrsg.): Kolleg Praktische Philosophie, Bd. 3: Zeitdiagnose, Stuttgart 2008, S. 167–205, hier S. 180. 21 Rüdiger Nehberg, Die Autobiographie, München 2007, S. 116.

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Als studierter Politologe und erfahrener Journalist weiß Büscher aber, dass er sich der Frage nach den Gründen für seine extremen Wanderungen stellen muss, und er gibt die einzig denkbare Antwort darauf – keine: Manchmal war ich unterwegs gefragt worden, warum ich das tat, was ich tat. Und die Frage richtete sich nicht nur an mich, sie lag in der Luft, sie lag auf der Straße, sie war einfach da. […] Was ich tat, passte nicht hierher, ich spürte es. Es gab Abende, an denen die Absurdität meines Tuns mir so zusetzte, dass ich nahe daran war, zum Bahnhof zu gehen und mir eine Fahrkarte nach Berlin zu kaufen.22

Es gibt aber auch einfachere Erklärungen; so wie die von Andreas Altmann, der einen Auftrag von seinem Verleger erhalten hat. Insgesamt bleibt das Thema aber marginal – Fußreisen bedürfen keiner besonderen Legitimation mehr. Sie fügen sich organisch ein in eine gesellschaftliche Konstellation, in der das Gesundheitsund Körperbewusstsein zu den herrschenden Diskursen gehört. Die Fußreisenden der Jahrtausendwende nehmen die Fußreise ideologisch wie praktisch recht entspannt. Sie alle sind sich dessen bewusst – und hierin ähneln sie den Touristen –, dass sie Aussteiger auf Zeit sind, die zu jedem beliebigen Zeitpunkt wieder in die Wonnen der Gemütlichkeit zurückkehren können. Die körperlichen Beschwerden, die auch eine solche Fußreise diesseits der Extreme ganz sicher mit sich bringt, werden nur ausnahmsweise thematisiert: „Am Morgen erstach ich die zweite Blase der Reise und klebte ein Pflaster darüber; sie war kleiner als die erste und dehnte sich unter der Hornhaut am großen Zeh aus.“23 Möglicherweise gibt es eine Leserschaft, die das wirklich wissen will, weil ihr der eigene Körper genauso fremd geworden ist wie diesem Fußwanderer. Andererseits hat diese Rückwendung zur Alltäglichkeit des eigenen Körpers auch diesseits der Extrembelastungen eine eigne kulturelle Plausibilität. Offensichtlich besteht ein Zusammenhang zwischen dem erneuerten Bedürfnis nach Raumerfahrung und Körpererfahrung;24 ein doppeltes Bedürfnis, das sich in der Fußwanderung doppelt befriedigen lässt. Besonders amüsant ist in diesem Zusammenhang die zum Topos gewordene Abwehr der Verführung: Fast alle Fußwanderer berichten von den Versuchungen, welche freundliche Autofahrer oder Bushaltestellen ausüben, und nicht alle halten der Versuchung stand. Die Überlegung, dass eine Fußreise eine Fußreise sein müsse und nichts anderes, findet sich am ausgeprägtesten bei Thomas

22 Wolfgang Büscher, Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß, 7. Aufl., Hamburg 2003, S. 30 f. – Zu Wolfgang Büscher vgl. auch die Beiträge von Leslie Brückner, Christine Rühling und Aniela Knoblich im vorliegenden Band. 23 Zick, Heimatkunde, S. 79. 24 Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 286.  

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Rosenlöcher, der an einer Stelle mit sich ringt, ob er nicht doch lieber den Bus nehmen solle und sich am Ende – aus reisepuristischen Gründen – für das Weitergehen entscheidet.25 Andere sehen das gelassener. Tobias Zick gesteht ein, zweimal von einem Auto mitgenommen worden zu sein, versäumt aber nicht den Hinweis darauf, dass er solche Angebote ausgeschlagen habe.26 Wolfgang Büscher schließlich, der in dieser Gruppe von Reisenden um die Jahrtausendwende einerseits sicher die extremste Form des Fußwanderns praktiziert hat, sieht dieses Thema andererseits am pragmatischsten: Seine Reise um Deutschland herum legt er zum guten Teil mit öffentlichen Verkehrsmitteln – vom Zug bis zum Flugzeug – zurück, aus denen er immer dann aussteigt und zu Fuß weitergeht, wenn es wirklich anstrengend und damit anregend zu werden verspricht. Dass übrigens auch Johann Gottfried Seume in dieser Hinsicht nicht ohne jede Sünde war, hat Jörg Drews gezeigt. Eine genaue Lektüre von Seumes Spaziergang nach Syrakus und der begleitenden Dokumente macht deutlich, dass es mit dem „Spaziergang“ nicht ganz so weit her war, wie Seume glauben machen wollte und wie die Rezeptionsgeschichte es geglaubt hat. Die „Selbstinszenierung Seumes als des unermüdlichen Fußwanderers“27 wird nicht nur durch eine Auflistung der nicht ganz unerheblichen Kutschenstrecken relativiert, die Seume selbst benennt, sondern eine genaue Berechnung ergibt eben auch, dass einiger Anlass zum „Mißtrauen“ besteht gegenüber den „Leistungsangaben Seumes“.28 Die eigentliche Antriebskraft für die Fußreisenden stellt der Leistungskult wohl ohnehin nicht dar. Die neuen Fußreisenden wissen, dass sie in einer längeren Tradition stehen, durch die die Fußreise per se einen besonderen ideologischen Rang erhält. Der Urvater und Schutzheilige aller deutschen Fußgänger ist Johann Gottfried Seume. Kaum jemand der neueren Wanderer versäumt den Hinweis darauf, dass er auf Seumes Spuren wandele. Das ist ein charakteristisches Muster in der Reiseliteratur der Gegenwart – die Reisenden teilen gerne die Überzeugung, dass sich ihre Reisen in den „Spuren von Vorgängern“ zu vollziehen habe. Die „Spur“ wird damit zum Konkurrenten des Reiseführers.29

25 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern, S. 56. 26 Zick, Heimatkunde, S. 154. 27 Jörg Drews, „Ein Mann verwirklicht seine ‚Lieblingsträumerey‘. Beobachtungen zu Details von Seumes ‚Spaziergang nach Syrakus‘“, in: Wolfgang Albrecht/Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, Tübingen 1999 (Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 11), S. 200–214, hier S. 212. 28 Ebd., S. 203. 29 Gisela Ecker, „‚Fremdes Wasser‘. Reisesteuerungen in Prosatexten der Gegenwartsliteratur“, in: Anja K. Maier/Burkhardt Wolf (Hrsg.), Wege des Kybernetes. Schreibpraktiken und Steuerungs-

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Eberhard Rosenke reizt dieses Motiv der Traditionsbindung am stärksten aus. Nicht nur passiert er auf seiner Wanderung von München nach Berlin das SeumeHaus in Poserna und paraphrasiert dessen Inschrift, „daß alles besser werden würde, wenn man mehr ginge“.30 Er ist sich vielfach der historischen Dimensionen seiner Fortbewegungsart bewusst: So weiß er, dass in Schnepfenthal eine philanthropische Schule gestanden hat, auf deren Programm Weltentdeckung durch Wandern gestanden hatte, und an anderer Stelle bezieht er sich auf Fontanes Wanderungen.31 Rosenkes bemerkenswerte Neigung zur historischen Selbstvergewisserung mag ihren Grund haben im schriftstellerischen Dilettanten- oder Autodidaktenstatus des Autors. Aber auch die anderen verweisen gerne pflichtschuldig auf den großen Vorgänger Seume, aber mehr als der Hinweis, dass der eben gerne zu Fuß gegangen sei und dass das irgendwie mit seinem Status als „Querdenker“ zusammenhinge,32 fällt dabei nicht ab.33 Dass aber dennoch die Berufung auf Seume zu den Topoi der Fußwanderer-Literatur gehören muss, liegt auf der Hand. Denn Seume hat ein anschlussfähiges Muster und eine Ideologie des Fußwanderns geliefert, während andere, historisch näher liegende Vorläufer in der aktuellen Literatur als Referenzen überhaupt keine Rolle spielen. Die Jugendbewegung und der „Wandervogel“ sind in der Erinnerung der modernen Fußwanderer nicht präsent. Sie haben in der Tat ein anrüchiges Erbe hinterlassen, mit dem die modernen Wanderer nichts verbindet. Seume hingegen machte aus dem Wandern eine aufklärerische Ideologie. Für ihn war die Fußwanderung allerdings mehr als nur eine Erholung vom Wohlstandskomfort, der dem verarmten Korrektor des Göschen-Verlags ohnehin fremd war. Nicht fremd war ihm aber ein Erkenntnis- und Emanzipationspathos, das er mit seiner Reiseform des Fußwanderns verband. Geadelt wurde diese Überlegung durch Kants berühmte Formulierung in seinem klassischen Aufsatz Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?, in der er die Metapher von den „Fußschellen einer immerwährenden Unmündigkeit“ verwendet, die es abzuwerfen gelte, um „einen sicheren Gang zu tun.“34 Dem Sog dieser Metaphorik haben sich die aufkläreri-

modelle von Politik, Reise, Migration, Münster 2004 (Reiseliteratur und Kulturanthropologie 4), S. 218–234, hier S. 220. 30 Eberhard Rosenke, Ein Rucksackdeutscher tippelt von München nach Berlin, im Selbstverlag (2. Aufl. der im Günter-Posch-Verlag erschienenen Erstauflage) 2002, S. 145. 31 Vgl. ebd., S. 207. 32 Vgl. Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland, S. 146. 33 Altmann, 34 Tage – 33 Nächte, S. 224. 34 Immanuel Kant, „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?“, in: Ders., Werke, Bd. 9, Wilhelm Weischedel (Hrsg.), 3. Aufl., Darmstadt 1970, S. 53–61, hier S. 54.

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schen Reisenden gerne hingegeben.35 Seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert ist dies das eigentliche Versprechen der Fußreise: Erfahrungs-, wenn nicht Erkenntnisgewinn und Emanzipation. Hier hat Seume das entscheidende Stichwort gegeben: Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. […] Ich halte den Gang für das Ehrenvollste und Selbständigste in dem Manne und bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge.36

Seume und etliche seiner spätaufklärerischen Schriftstellerkollegen haben das Legitimationsmuster bereitgestellt, das die Folgezeit – und auch die zuständige germanistische Wissenschaft – allzu bereitwillig übernommen hat. Gehen heißt bürgerliche Emanzipation: „Fahren zeigt Ohnmacht, Gehen Kraft“, heißt es in der programmatischen Vorrede zu seinem Reisebericht Mein Sommer.37 Das Wandern erscheint als die bürgerlich-demokratische Form des Reisens, die zudem andere Sichtweisen und Einsichten vermittelt als das Reisen in der Kutsche. Seume fasste mit diesen Erklärungen eine ideologiegeschichtliche Entwicklung pointiert zusammen. Der „Spaziergang“ oder das „Wandern“ als Ausdruck einer bürgerlichen Emanzipationsbewegung findet sich bereits in Rousseaus Emile38 – das war nicht anders zu erwarten –; und ganz ähnliche Formulierungen wie Seume verwendet Johann Kaspar Riesbeck bereits lange zuvor in seinen Briefen eines reisenden Franzosen über Deutschland von 1784.39 In diesen aufklärerischen Kontexten wird das Gehen emanzipatorisch geadelt, die späten Nachgeher wie etwa Rosenlöcher schlagen ihr Kapital daraus: „Im Namen der Menschheit ging ich, die Humanität Schritt für Schritt zu befördern, womöglich zum letzten Mal. Ja, meine Hosen waren gerichtet gegen die Armada der Pneus.“40 Auch die Überlegenheit des Fußgängers gegenüber dem Kutschenfahrer kehrt bei Rosenlöcher in einer modernisierten Variante wieder:

35 Bernd Jürgen Warneken, „Bürgerliche Gehkultur in der Epoche der Französischen Revolution“, in: Zeitschrift für Volkskunde 85/1989, S. 177–187, hier S. 177. 36 Johann Gottfried Seume, Mein Sommer, in: Ders., Prosaschriften. Mit einer Einleitung von Werner Kraft, Darmstadt 1974, S. 635–858, hier S. 638. 37 Ebd. 38 Heinrich Bosse, „Zur Sozialgeschichte des Wanderliedes“, in: Wolfgang Albrecht/Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Wanderzwang – Wanderlust, S. 135–156, hier S. 139. 39 Uwe Hentschel, „Zur politisch aufklärerischen und gegenaufklärerischen Wanderliteratur“, in: Wolfgang Albrecht/Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Wanderzwang – Wanderlust, S. 122–134, hier S. 125. 40 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern, S. 57.

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„Beständig umherzufahren war ihre Art zu erfahren“ – mokiert er sich über den Besitzer eines „Chromschiffes“, der seine neue Freiheit genießt.41 Die Fußwanderer des 18. Jahrhunderts eignen sich den Raum auf ihre Weise an und laden ihn im Akt des Gehens symbolisch auf – eben als emanzipatorisches Versprechen. In späterer Zeit, während der Industrialisierung des 19. Jahrhunderts, setzt sich diese Linie fort. Aus der Herrschafts- wird eine Zivilisations- und Technikkritik.42 Diese Tradition schwingt mit bei den modernen Wanderern, aus ihr beziehen sie ihre teils unausgesprochene, teils ausgesprochene Legitimation; und auf sie gründet sich die – großenteils sicher berechtigte – Hoffnung, dass die modernen Leser diese Legitimationslinie wieder erkennen und anerkennen. Nüchterner historischer Betrachtung allerdings erscheinen die Möglichkeiten des Fußwanderns begrenzter, als es die programmatischen Äußerungen einiger radikaler Wanderer in Geschichte und Gegenwart nahe legen. Heinrich Bosse hat der „Emanzipationsthese“ die „Akademikerthese“ gegenüber gestellt: Das Wandern ist schon im 19. Jahrhundert Ausdruck einer Ferien- und Urlaubskultur; als solche freilich kam sie sozialgeschichtlich praktisch ausschließlich den Studenten zugute. Wandern ist eine neue Form, Ferien zu machen; sie „besteht darin, im Unterwegssein das Andere des Alltags zu feiern und dabei sich selber näher zu kommen.“43 Das aber ist eine spätere Entwicklung, die sehr schnell hat vergessen lassen, dass die Fußreisen eigentlich über Jahrhunderte hinweg ein sehr viel trivialeres Motiv hatten: Armut nämlich. Die „Reise zu Fuß, das Wandern“ war „bis weit ins 19. Jahrhundert hinein noch etwas ganz selbstverständliches, eine schlichte ökonomische Notwendigkeit“.44 Die modernen Fußwanderer rechnen offensichtlich noch mit den ideologischen Aufladungen, die dieser Reiseform im 18. Jahrhundert zuteil geworden sind; sie beziehen sich aber allenfalls nur beiläufig darauf. Am stärksten philosophisch stilisiert wird das Wandern bei Rosenke, der darin eine „metaphysische Dimension“ findet – das Wandern setze „Weltvertrauen voraus“.45 Rosenke reichert das aus der Aufklärung ererbte Emanzipationspotential des Wanders mit romantischen Impulsen an. Er unternimmt seine Wanderung durch West- und Ostdeutschland, nachdem er aus seinem Beruf als gelernter Programmierer ent-

41 Ebd., S. 24. 42 Wolfgang Wehap, Gehkultur. Mobilität und Fortschritt seit der Industrialisierung aus fußläufiger Sicht, Frankfurt am Main u.a. 1997 (Grazer Beiträge zur europäischen Ethnologie 7), S. 286. 43 Bosse, „Zur Sozialgeschichte des Wanderliedes“, S. 141. 44 Wolfgang Kaschuba, „Die Fußreise. Von der Arbeitswanderung zur Bürgerlichen Bildungsbewegung“, in: Hermann Bausinger (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 165–173, hier S. 165. 45 Rosenke, Ein Rucksackdeutscher tippelt von München nach Berlin, S. 102.

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lassen wurde und sich als einen „Freigelassenen der Industriegesellschaft“ betrachtet.46 Bei ihm tritt die Taugenichts-Haltung aus Eichendorffs Novelle in ihr Recht: „Allerdings schätze ich das Wandern gerade insoweit, als es eine weltunbrauchbare Bärenhäuterei ist“, vermerkt er.47 Ideologisch verschlankt zu einer „simplify-your-life“-Haltung findet sich diese Taugenichts-Attitüde in dem Reisebericht von Axel Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland: „Mein Wanderleben ist dagegen ganz einfach. Morgens packe ich meinen Rucksack und ziehe meine Wanderschuhe an.“48 Braig hatte zuvor schon ein „Buch der Tugendlosigkeit“ mit dem programmatischen Titel Warum es sich lohnt, faul, unpünktlich und unordentlich zu sein publiziert. Auch als wandernder Aussteiger-Arzt sucht Braig in der Fußwanderung eine Panazee gegen Zivilisationsdefizite. Es liegt nahe, im Fußwandern ein Mittel zu Entschleunigung und damit eine Gegenbewegung zur zunehmenden Turbulenz der modernen Gesellschaft zu sehen. Eine ambivalente Stellung im Spektrum dieser Reiseszenarien nimmt Wolfgang Büscher ein. Er wählt extreme Reiserouten und bevorzugt unfreundliche Klima- und Witterungsverhältnisse. Der Fußgänger Büscher scheut sich auch nicht, ein Tabu zu durchbrechen, das alle Fußreisenden von Seume bis in die Gegenwart begleitet hat: das Tabu der künstlichen oder, im 18. Jahrhundert, wirklichen Armut. Büscher trägt Geld mit sich, und er berichtet ganz unbefangen darüber, wie er es für Essen, Übernachtungen oder Transportmittel verwendet. Denn auch hier ist er nicht dogmatisch: Wenn die Fußreise langweilig wird und durch uninteressante Gegenden führt, dann nimmt er den Bus oder den Zug: „Ungeduld drängte mich nordwärts. Ich wollte mich an die Grenzen halten, aber ich wollte auch vorankommen, und so nahm ich den Zug.“49 Berühmt wurden seine Wanderschuhe, die er mit hohen Reflexions-, aber ohne Kostenaufwand – sie wurden ihm mäzenatisch als Maßanfertigung geschenkt – bei einem Münchner Schuster hat anfertigen lassen, der sie, nachdem sie die Wanderung nach Moskau überstanden hatten, als Kultobjekte in seinem Schaufenster ausstellte. Büschers Wanderungen sind zweifellos riskant, selbst dann, wenn sie nur um Deutschland herum führen. Denn Büscher sucht die Extreme. Diese Extreme sind unspektakulär, aber nicht ohne deutliche Risiken, die vom Land, dem Klima, den Bodenverhältnissen, aber kaum einmal von den Leuten ausgehen. Büscher tritt nicht mit dem Gestus des Abenteurers auf. Seine

46 47 48 49

Ebd., S. 6. Ebd., S. 10. Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland, S. 28. Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise, 3. Aufl., Berlin 2011, S. 16.

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Reisen sind geplant, er entzieht sich nicht systematisch den Errungenschaften der Zivilisation, sondern greift gerne darauf zurück, wenn sich das gerade anbietet. Aber das Gehen geht nicht von selbst. Man muss es können, und darüber berichten ebenfalls einige der Reisenden. Der Landvermesser, Philosoph und Eremit Henry David Thoreau hat in der Mitte des 19. Jahrhunderts eine Philosophie des Gehens – nicht des Wanderns – formuliert. In seinem Plädoyer für „die Kunst, Spaziergänge zu machen“, formuliert er einen strengen Maßstab: Wenn du bereit bist, Vater und Mutter und Bruder und Schwester und Frau und Kind und Freunde zu verlassen und sie nie mehr wiederzusehen, wenn du deine Schulden bezahlt und dein Testament gemacht und alle deine Angelegenheiten geregelt hast und ein freier Mann bist, dann bist du bereit zu einem Gang.50

Diese geradezu biblische Unbedingtheit ist den neueren Reisenden fremd. Die Extremtouristen kennen sie nicht, weil sie nur an der physischen Dimension des Reisens interessiert sind, und bei den neuen Fußwanderern ist erst recht nichts davon übrig geblieben.

III. Reiserouten „Wohin gehe ich?“51 Das ist in der Tat eine nicht unwichtige Frage. Den Fußwanderern sind die Reisewege und Reiseziele nicht so beliebig geworden wie dem modernen Touristen, denn sie müssen sich jeden Meter ihres Wegs mühsam erarbeiten. Die Fußreisenden gehen ihre eigenen Wege, die nicht die des Touristen sind. Das gilt insbesondere für Wolfgang Büscher. Er geht nicht dort, wo andere schon gegangen sind und worüber sie schon berichtet haben. Henry Thoreau hat in seiner „Philosophie des Gehens“ intuitiv den zentralen Gedanken vorgestellt, dass Kulturen bestimmte Raum- und Richtungspräferenzen entwickeln.52 Für den Amerikaner Thoreau lag das unmittelbar vor Augen. Der Weg von Osten nach Westen war für die Zeitgenossen als konstituierendes, nicht nur praktisches, sondern ideologisches Merkmal der Staats- und Gesellschaftsentwicklung unmittelbar einsichtig. Solche Raumpräferenzen haben ihre Traditionen. Wenn die deutsche Kultur einen Drang nach Osten gezeigt hat, die französische und die spanische einen deutlichen Hang zur Zentralisierung erkennen lassen, dann sind das Ergebnisse komplexer und differenzierter, aber in

50 Thoreau, „Vom Gehen“, S. 90. 51 Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland, S. 17. 52 Thoreau, „Vom Gehen“, S. 102–110.

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langen Wellen doch nachvollziehbarer politischer, kultureller, ideologischer und nicht zuletzt ökonomischer Entwicklungen. Das gilt gleichermaßen für die Wanderer der Moderne und die Spaziergänger der Postmoderne mit ihren unklaren Zielen – geradezu exemplarisch inszeniert wird das von einem der erfolgreichsten ältesten Wanderpfade der europäischen Geschichte, dem jetzt touristisch neu belebten und aufpolierten „Jakobsweg“. Solchen kulturellen Mechanismen kann man sich offensichtlich schwer entziehen. Mit programmatischer Konsequenz stellt sich Wolfgang Büscher, der auch in dieser Beziehung einen Sonderfall unter den Reisenden darstellt, quer zu diesen Routinen. Die Routenwahl in seinen drei großen Reisebüchern zeugt von bewusster Verweigerung der Routenroutinen. Seine Wanderung durch Amerika führt nicht von Ost nach West, wie bei seinen vielen, auch deutschen, Vorgängern, zu denen Balduin Möllhausen, Prinz Maximilian zu Wied und Friedrich Gerstäcker gehörten. Sein Weg führt ihn von Nord nach Süd, und wie schwer es verkehrstechnisch ist, die amerikanische Ost-West-Routine zu durchbrechen, zeigt jedes Kapitel seines Buches. Seine Wanderung von Berlin nach Moskau lässt in anderer Weise die Konventionen des touristischen Reisens hinter sich. Hier folgt er bewusst einem altem Muster, das aber wahrlich keines des Tourismus ist – es wurde geprägt von Napoleons gescheitertem Russlandfeldzug, und es wurde wiederholt von Hitlers „Heeresgruppe Mitte“. Auf beide Muster verweist Büscher ausdrücklich: [M]ein Weg war der Weg Napoleons und der Heeresgruppe Mitte, und der letzte wiederum war seiner gewesen. Ich ging nach Moskau, und der Landser ging mit, um mir ein wenig auf die Nerven zu fallen mit seinen Einflüsterungen von Granattrichtern und Gehenkten.53

Die Wahl der Reiseroute und die Art der Durchführung dieser Reise von Berlin nach Moskau erinnert schließlich an einen der Gründungsmythen der Bundesrepublik. Josef Martin Bauers Roman So weit die Füße tragen, 1955 erschienen und 1959 als Fernsehfilm gesendet, war einer der größten Bestsellererfolge dieser frühen Jahre und als Fernsehfilm einer der ersten „Straßenfeger“. In seinem Roman beschreibt er die Flucht eines deutschen Kriegsgefangenen aus einem sibirischen Gefangenenlager und die Fußwege durch die endlosen Weiten Russlands. Davon ist Büschers Beschreibung manchmal nicht weit entfernt. Und schließlich dürfte Wolfgang Büscher der Erste gewesen sein, der auf den Gedanken kam, Deutschland nicht zu durchqueren – von Flensburg nach Oberstdorf etwa –, sondern es zu umrunden. Die Reise um Deutschland herum macht die Peripherie zum Zentrum und vermittelt Eindrücke und Einsichten, wie sie

53 Büscher, Berlin – Moskau, S. 17.

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etliche Jahrhunderte deutscher Reisekulturgeschichte noch nicht hervorgebracht haben. Büschers Wanderungen sind Extreme, die eine Regel außer Kraft setzen, die doch im Normalfall des Fußwanderers Gültigkeit behält: Wer zu Fuß geht, kommt nicht weit – jedenfalls nicht im Vergleich zum Auto- oder gar Flugzeugreisenden. Zur europäischen Reiseliteratur gehört der Drang in die Ferne. Aber spätestens seit dem 18. Jahrhundert spielt auch die Nähe eine wesentliche Rolle. Die Reisenden des ausgehenden 18. Jahrhunderts zog es nicht nur in exotische Welten; sie bemächtigen sich ihrer lokalen und regionalen Umgebung durch Reisen. Im Deutschland dieser Zeit ist ein dichtes Geflecht von kleinteiligen Reisebewegungen entstanden, in denen aufklärerische wie gegenaufklärerische Reisende sich und ihre Leser mit Informationen über den Nahraum versorgten.54 Emotional aufgeladen und gelegentlich in anspruchsvollere literarische Formen gegossen wurden diese Naherkundungen dann wenig später, in der Romantik, und wiederbelebt werden sie von den deutschen Fußreisenden der Jahrtausendwende. Im Zeitalter des Massentourismus besinnen sie sich offensichtlich wieder stärker darauf, das Nahe nahe zu bringen. Der Gegensatz ist vielleicht gar nicht so groß, wie er erscheinen mag. Denn den beiden Extremen „Ferne“ und „Nähe“ im Reisebericht liegen die gleichen Impulse zugrunde: [D]er aufgeklärte Mensch der BRD suchte besessen und verbissen Fluchtwege aus Deutschland: sei es in der Identifikation mit der engeren Heimat, mit der Region, sei es in einem Europa der Ferienländer, sei es in der Vergewisserung anderer, mit der brutalen deutschen Vergangenheit nicht identifizierter Traditionen wie der Arbeiter- und Frauenbewegung.55

Dieser Befund lässt sich gut an den Fußwanderern der Jahrtausendwende ablesen. Den Heimatkundler Tobias Zick zieht es nicht in die Ferne, sondern nach Hause. Er lädt seine 450km-Wanderung von Hamburg nach Eschborn mit einiger Sentimentalität auf: „Heimat“ – mit diesem Wort begründet der Reisende seinen Entschluss zum Aufbruch zu seinem Geburtsort Eschborn; und diese „Heimat“ wird definiert als der Ort, „wo man zum ersten Mal ohne Stützräder Fahrrad gefahren ist.“56 Es mutet etwas seltsam an, wenn sich ein 28-jähriger in dieser Weise als Entwurzelter der Postmoderne stilisiert und in einer „lost generation“Attitüde Alltagserfahrungen der postmodernen Wohlstandsgeneration anbietet,

54 Françoise Knopper, „Öffentlichkeit und Meinungsfreiheit. Repliken und Gegenschriften zu Reisebeschreibungen am Ausgang des 18. Jahrhunderts“, in: Arnd Bauerkämper/Hans Erich Bödeker/Bernhard Struck (Hrsg.), Die Welt erfahren. Reisen als kulturelle Begegnung von 1780 bis heute, Frankfurt am Main/New York 2004, S. 219–238, hier S. 220 f. 55 Cora Stephan, Der Betroffenheitskult, Eine politische Sittengeschichte, Berlin 1993, S. 124. 56 Zick, Heimatkunde, S. 6.  

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die dann im Klappentext auch noch als „unverzichtbare Heimatkunde“ angepriesen wird. Diese Wiedergewinnung der Heimat Eschborn enträt nicht einer leichten, und offensichtlich ungewollten, Komik. Tobias Zick folgt aber auf andere Weise einer Mode, die sich in der deutschen Romanliteratur der „Berliner Republik“ breit gemacht hat. Es ist die Vergegenwärtigung der eigenen Familie, gegebenenfalls erweitert über die vorhergehenden Generationen bis ins „Dritte Reich“ hinein. Tanja Dückers, Julia Franck und andere, noch jüngere, haben mit diesem Erzählmodell ihre Erfolge gehabt. Was einen nicht einmal Dreißigjährigen dazu treiben mag, sich in dieser Weise in die eigene Biographie zu versenken, ist schwer zu ergründen. Es ist wohl das Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Selbstvergewisserung, das im Umkehrschluss auf ein Gefühl der Entwurzelung verweisen mag. Im gattungs- und mentalitätsgeschichtlichen Kontext hat diese Attitüde allerdings durchaus ihre Funktion und vielleicht sogar ihren Wert. Denn dieser Umgang mit dem politisch und ideologisch hoch aufgeladenen „Heimat“-Begriff verleiht ihm eine Leichtigkeit zurück, die ihm nur gut tun kann. Denn speziell im Deutschland der Nachkriegszeit hat „Heimat“ eine andere Konnotation als „Eschborn“.

IV. Wanderungen in die Vergangenheit Die Reisen der Fußwanderer sind immer Reisen in die Geschichte. Damit folgen sie eher dem Vorbild des 19. als dem des aufgeklärten 18. Jahrhunderts, in dem das Interesse an der eigenen Geschichte wenig ausgeprägt war. Das Jahrhundert des Historismus hingegen hat die eigene Vergangenheit in den Landschaften und Dörfern gesucht. Das Vorbild wurde von Theodor Fontane ausgearbeitet. Fontanes Wanderungen durch die Mark Brandenburg, in fünf Bänden erschienen zwischen 1862 und 1889, haben die Technik vorgeführt, vom Sichtbaren auf das Unsichtbare, die Vergangenheit zu schließen. Die rückblickende Bemerkung im Vorwort des letzten Bandes formuliert es: Fontane beteuert, er sei wirklich gewandert, und wie häufig ich das Ränzel abtun und den Wanderstab aus der Hand legen mag, um die Geschichte von Ort und Person erst zu hören und dann weiterzuerzählen, immer bin ich unterwegs, immer in Bewegung und am liebsten ohne vorgeschriebene Marschroute, ganz nach Lust und Laune.57

57 Theodor Fontane, „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“, in: Ders.: Werke, Schriften und Briefe, Abteilung II, Bd. 3, Walter Keitel/Helmuth Nürnberger (Hrsg.), 3., rev. Aufl., München/Wien 1987, S. 9.

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Die Wanderungen durch die nähere Region, die historischen Rückblicke, die sich daraus ergeben, haben für Fontane eine klar bestimmbare Funktion: Sie sind „ein Glück, ein Trost und die Quelle echtester Freuden“, weil sie nämlich aus der „Liebe und Anhänglichkeit an die Heimat geboren wurden“.58 Fontane hatte übrigens noch einen anderen Rat an die Nachgeborenen, dem die meisten Wanderer in der Gegenwart gefolgt sind: „[F]üll deinen Beutel mit Geld.“59 Die Wanderungen wurden ein Erfolg beim zeitgenössischen Publikum und bei den nachahmenden Reisenden der folgenden Generationen. Aber sie stehen unter einem anderen Vorzeichen als die historischen Reminiszenzen der neueren Wanderer. Der historische Horizont der jüngeren Reisenden ist oft deutlich beengter. Tobias Zick verweist auf den Dreißigjährigen Krieg und auf Lessings 275. Geburtstag;60 aber das Interesse daran beschränkt sich auf die Wahrnehmung entsprechender Inschriften und Plakate. Wirklich interessiert ist er allenfalls an einer Juso-Veranstaltung des Jahres 2003, über die er mit einem Einheimischen eine Unterhaltung führt – dass der dabei erwähnte Christian Wulff einmal auf eigene Weise eine historische Figur der Bundesrepublik werden würde, war damals noch nicht abzusehen.61 Vereinzelt finden sich flüchtige Erinnerungen an das „Dritte Reich“, vermittelt durch zufällige Gesprächspartner,62 aber ein vertieftes und ernsthaftes historisches Interesse an der durchwanderten Region zeigt sich in diesen Beiläufigkeiten nicht. Das sieht anders aus bei Wolfgang Büscher. Manchmal kommt Büscher dem Fontane-Vorbild ziemlich nahe. Wenn er in einem Kapitel seines Berlin-MoskauBuchs über die „Liebe einer polnischen Gräfin“ berichtet, dann klingt das zunächst einmal wie eine Fontane-Geschichte, die allerdings unter den Bedingungen des besetzten Polen im „Dritten Reich“ ihre Fontane-Gemütlichkeit verliert.63 Denn Fontane erinnert sich gerne. Er benutzt seine historischen Rückblicke, um Glanz und Gloria der preußischen Geschichte in ihren alltäglichen, weniger ihren spektakulär-historischen und meist kriegerischen, Erscheinungen zu vergegenwärtigen. Das ist bei Büscher anders. Wo er breitere Reflexionen über die deutsche Geschichte einfließen lässt, handelt es sich, es kann nicht anders sein, um Geschichten von Krieg und Zerstörung, Konzentrationslagern und Massenmorden. Wenn man die Zeilen zählen würde, könnte man – zumindest in Büschers

58 59 60 61 62 63

Ebd., S. 11. Ebd., S. 13. Zick, Heimatkunde, S. 76. Ebd., S. 79. Ebd., S. 122. Büscher, Berlin – Moskau, S. 40–51.

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Berlin-Moskau-Buch – zu dem Ergebnis kommen, dass mehr Erzählraum der Vergangenheit als der Gegenwart gewidmet ist. Büscher entfernt sich dann weit von dem, was eine Fußwanderung sichtbar machen kann. Er fügt in seine Texte historisches Wissen ein, das sich aber doch vom jeweiligen genius loci inspirieren lässt und insoweit nicht aus dem Studium von Geschichtsbüchern zu beziehen ist. Seine Beschreibung der Zerstörung Pforzheims im Bombenkrieg erinnert an die Schilderungen Alexander Kluges über die Zerstörung Halberstadts und Jörg Friedrich Darstellung des Bombenkriegs;64 und sie fasst am Ende das Unsagbare in absoluter Lakonie: „Verglüht. Staub.“65 Einen Höhepunkt schließlich erreicht diese Form der Geschichtsvergegenwärtigung beim Besuch des Konzentrationslagers Flossenbürg. Es gehört einiger Mut dazu, die Beschreibung des KZ mit der Bemerkung zu beginnen: „Es ist ein Ort der Freiheit“66 – der Freiheit selbstverständlich nicht für die Häftlinge, sondern der obszönen Freiheit der Lageraufseher und ihres Kommandanten, dessen sexuellsadistische Perversionen ausführlich beschrieben werden, womit den tradierten KZ-Beschreibungen noch einmal eine neue Facette hinzugefügt wird. Auch andere Reisende greifen natürlich auf Erinnerungen an die deutsche Geschichte, gemeint ist fast immer die Geschichte des „Dritten Reiches“, zurück. Das wird offensichtlich von einem Reisenden durch Deutschland erwartet, und diese Erwartung wird pünktlich erfüllt, aber nie erreicht die Erfüllung diese Intensität, die sie bei Büscher findet. Während historische Vergegenwärtigungen bei Fontane, in den Jahrzehnten vor und nach der Reichsgründung, der Selbstvergewisserung nationaler Identität dienten, artikulieren sie bei den modernen Reisenden den Selbstzweifel am Sinn solcher nationaler Identität. Ein derartiges Verfahren ist in der modernen Gegenwartsliteratur grundsätzlich risikolos; die Erinnerung an die Gräuel des „Dritten Reiches“ ist eine Chance, immer recht zu behalten, indem man an Deutschlands dunkle Jahre erinnert. Gegen diese Erinnerungsroutinen setzt Büscher einen deutlichen Kontrapunkt. Das kann extreme Formen annehmen, politisch problematisch erscheinen und dann doch wieder zum Erkenntnisgewinn führen, wenn eben Büscher über Flossenbürg berichtet, mit dem Blick auf die Zerstörung Pforzheims die Perspektive der Opfer in den deutschen Städten einnimmt oder die V 2-Raketen in der Gedenkstätte in Peenemünde nicht in erster Linie als Vernichtungswaffen wahrnimmt,

64 Jörg Friedrich, Der Brand. Deutschland im Bombenkrieg 1940–1945, 10. Aufl., München 2002; Friedrichs Darstellung der Zerstörung Pforzheims (S. 110–113) hat Büscher aber offensichtlich nicht als direkte Datenquelle gedient. 65 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 227. 66 Ebd., S. 122.

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sondern als technische Leistungen.67 Hier bewegt sich Büscher in Grenzgebiete der Erinnerungskultur. Politisch korrekt ist das nicht. Die politisch, moralisch und literarisch nicht unriskante Perspektive der „Deutschen als Opfer“ hat in den Jahren um die Jahrtausendwende sowohl in den Medien wie auch in der Geschichtswissenschaft zu kontroversen Diskussionen geführt. Mit seiner Erzählung Im Krebsgang von 2002 erinnerte Günter Grass an den Untergang des Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff am Ende des Zweiten Weltkrieges. Kraft seiner moralischen und politischen Autorität – die dann bald darauf durch seine freiwillige Enthüllung seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS in Frage gestellt wurde – war Grass, nach einem gescheiterten Versuch Martin Walsers vier Jahre zuvor, der erste, der dies tun konnte, ohne sich dem Revisionismusverdacht auszusetzen.68 An diese Linie knüpft Büscher unauffällig an. Er weiß von der Allgegenwart des „Dritten Reiches“ in der deutschen Gegenwartswirklichkeit, die es allenthalben selbst in den harmlosesten Erscheinungen des Alltagslebens mit bloßem Auge zu sehen gibt: So frei, so locker wollten sie sein, ein Team, so unspießig und undeutsch wie nur möglich. Und es kostete solche Mühe. Egal. Irgendetwas zwang sie dazu. Wahrscheinlich war es wieder Adolf Hitler.69

Büscher jedoch entzieht sich der Pflicht, sich schuldig zu fühlen und sich damit ein gutes Gewissen zu verschaffen. Er nimmt die Vergangenheit, die nicht vergehen will, ernster. Dies berührt sich mit Hannah Ahrendts Diktum: Sich schuldig zu fühlen, wenn man absolut nichts getan hat, und es in die Welt zu proklamieren, ist weiter kein Kunststück, erzeugt allenthalben ‚erhebende Gefühle‘ und wird gern gesehen. […] wenn diese Jugend von Zeit zu Zeit […] in eine Hysterie von Schuldgefühlen ausbricht, so nicht, weil sie unter der Last der Vergangenheit, der Schuld der Väter, zusammenbricht, sondern weil sie sich dem Druck sehr gegenwärtiger und wirklicher Probleme durch Flucht in Gefühle, also durch Sentimentalität entzieht.70

Vor diesem Hintergrund hatte vielleicht der polnische Wahlkämpfer doch recht, der Wolfgang Büschers Reisemotive zu ergründen suchte: „‚Sie haben was gut-

67 Ebd., S. 57 f. 68 Hans-Joachim Noack, „Die Deutschen als Opfer“, in: Stefan Aust/Stephan Burgdorff (Hrsg.), Die Flucht. Über die Vertreibung der Deutschen aus dem Osten, Stuttgart/München 2003, S. 15–20, hier S. 16 f. 69 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 47. 70 Hannah Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen. Mit einem Essay von Hans Mommsen, 8. Aufl., München/Zürich 1992, S. 298 f.  





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zumachen, wie?‘ Er hielt es für einen Bußgang, er war Katholik.“71 Büscher unterzieht sich in seinen Texten der mühsamen Arbeit, die unsichtbare Zeit der Vergangenheit im Raum der Gegenwart sichtbar zu machen – die Zeit im Raum zu lesen. Das „Sehen“, längst als wissenschaftsferne Freizeitbeschäftigung marginalisiert, gewinnt in diesem Verfahren wieder erkenntniserzeugende Qualitäten. Einfach ist es nicht: „Man sieht nur, wenn man stehenbleibt, wo alles sich nach vorn bewegt; man sieht nur, wenn man weiter ist oder schon außerhalb steht.“72

V. Wanderungen in der Gegenwart: DDR Ein besonderes Interesse der modernen Fußreisenden richtet sich auf die Gebiete der ehemaligen DDR.73 Wie einst der Berliner Friedrich Nicolai misstrauisch in den katholischen Süden des deutschen Reiches reiste, so stellen sich jetzt die westlichen Spaziergänger die Frage nach den Eigenheiten der ehemaligen DDRBevölkerung, die durch Beitritt ein Teil der Bundesrepublik Deutschland geworden ist. Deren Besonderheiten sind zum Teil mit Händen zu greifen. Die aufgehobene Grenze zwischen den beiden Staaten ist politisch verschwunden, aber sie ist nicht nur „in den Köpfen“, wie man so sagt, weiterhin vorhanden, sondern wer sie sucht, findet sie auch noch in physischer Erscheinung. Fremd kann immer alles werden, selbst das Nächste und Vertrauteste. Das ist nur eine Frage des Blicks und der Einstellung. Methodisch sinnvoll ist es, zwischen kulturell-symbolischen Fremdheitssignalen einerseits und naturhaft-körperlichen andererseits zu unterscheiden.74 Beide Formen finden die Wanderer bei ihrem Übergang von der alten Bundesrepublik in das neue Beitrittsgebiet – auch noch eineinhalb Jahrzehnte nach dem Beitritt. Die Grenzsignale sind eindeutig. Sie sind sichtbar in der Armut der Bevölkerung, die wiederum ablesbar ist am Zustand der Häuser und Straßen; die Kleidung, die Verhaltensweisen und nicht zuletzt die Sprache markieren den Eintritt in ein fremdes Land. Diese kulturellen Fremdheitssignale, über die die aus dem Westen kommenden Reisenden bei ihren

71 Büscher, Berlin – Moskau, S. 30 f. 72 Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik, Frankfurt am Main 2006, S. 273. 73 Vgl. zu den Wanderungen an der innerdeutschen Grenze den Beitrag von Franz Fromholzer im vorliegenden Band, u.a. über Fred Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte (2009), Dieter Kreutzkamp, Mitten durch Deutschland (2010); Andreas Kieling, Ein deutscher Wandersommer (2011). 74 Vgl. Harald Weinrich, „Fremdsprachen als fremde Sprachen“, in: Dietrich Krusche/Alois Wierlacher (Hrsg.), Hermeneutik der Fremde, München 1990, S. 24–47, hier S. 27.  

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Wanderungen durch die DDR berichten, erfüllen eine doppelte Funktion im Prozess der Identitätsbildung. Sie wirken gleichermaßen distinktiv wie integrativ und realisieren damit ein bekanntes Muster: „Kultur wirkt aber keineswegs immer ausschließlich integrierend und unifizierend. Sie kann mindestens im gleichen Maße stratifizierend und trennend wirken.“75 Nicht immer allerdings sind die Grenzsignale zwischen „Westen“ und „Osten“ so eindeutig wie bei Büschers Übetritt aus der polnischen EU-Zone in den wirklichen „Osten“: „Natürlich, die russische Spurweite. In den ostpolnischen Wäldern endeten Europas filigrane Gleise, und eine breitere Spur begann, die Symbolik war deutlich genug.“76 Diese Grenze zwischen Mitteleuropa und Russland gibt es schon seit Jahrzehnten – eigentlich seit Jahrhunderten –, und ihre physischen Signale sind unübersehbar. Für die Deutschland-Wanderer ist die ehemalige innerdeutsche Grenze indes von größerem Interesse. Von ihr geht ein großer Reiz aus, obwohl sie verschwunden und physisch eigentlich nicht mehr sichtbar ist. Aber sie kann erahnt werden: „Ich ahne, dass ich ab heute etwas Neues über diesen fremden Erdteil“ – namens Ostdeutschland – „erfahren werde, etwas Widersprüchliches, etwas Ergänzendes“, so Altmann.77 Grenzübertritte über die ehemalige Demarkationslinie werden von den Wanderern gewissenhaft notiert. Ebenso vermerken die Autoren Unterschiede in der Landschaft, in der Stadtarchitektur und im Wohlstand; schließlich konstatieren sie die Klagen der Bewohner in abgelegenen Städten und Dörfern der ehemaligen DDR darüber, dass sie von der Entwicklung des Wohlstands abgehängt seien. Das ist nicht viel und bleibt oft oberflächlich, aber es ist markant: Die Grenze ist noch vorhanden und keineswegs nur in den Köpfen der Reisenden. Die Grenzsignale bleiben vielmehr eindeutig, kaum anders als im 18. Jahrhundert die Grenzen innerhalb Deutschlands von den Reisenden wahrgenommen und vermerkt wurden. Der Eindruck bleibt ambivalent. Im Urteil über die Bewohner wie über die Landschaft drückt sich das aus. Durch die Bewohner gehe ein „Riss“; sie seien teils zukunftszugewandt, teils rückwärtsgewandt, schreibt Altmann,78 und ähnlich verhalte es sich mit der Landschaft: Dem Wanderer erscheint sie gleichermaßen als „wunderschön“ wie auch als Illusion, weil die „Schandtaten“ des Regimes in ihr nicht sichtbar werden.79

75 Jan Assmann, Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999, S. 148. 76 Büscher, Berlin – Moskau, S. 61. 77 Altmann, 34 Tage – 33 Nächte, S. 177. 78 Ebd., S. 199. 79 Ebd., S. 212.

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Von besonderem Interesse ist es, die Mentalität dieser Bevölkerung zu begreifen, die nicht ohne weiteres an Äußerlichkeiten ablesbar ist. Thomas Rosenlöcher macht hier den weitest reichenden Versuch. Er betrachtet das Land – sein Land – aus der doppelten Perspektive dessen, der in der untergegangenen DDR zu den Dissidenten-Schriftstellern gehört hatte und der sich jetzt eher dem Westen als dem Osten zugehörig betrachtet und aus dieser doppelt gebrochenen Perspektive seine ehemaligen Landsleute interpretiert. Rosenlöcher hat seine – kurze – Wanderung am Tag der Währungsunion unternommen, also ein Jahr nach der Grenzöffnung. Was er mit Missvergnügen sieht und beschreibt, ist die weiter bestehende Untertanen-Mentalität seiner ehemaligen DDR-Mitbürger. Sie zeichnen sich aus durch die Unterwürfigkeit gegenüber Autoritäten, den scheuen Blick gegenüber Behörden und, das vor allem, die Unfähigkeit, die neue Freiheit zu würdigen und angemessen zu genießen: „die Freiheit ist euch noch fremd“, bescheinigt er seinen ehemaligen Staatsgenossen.80 Er selbst allerdings, das weiß er, muss sich ebenfalls noch daran gewöhnen. Er vermerkt sein „Schuldgefühl“, als die Zimmerwirtin seinen Ausweis verlangte, und verspürt das Bedürfnis „Ach, einmal Scheißstaat rufen“, dem er eigentlich in der neuen Bundesrepublik ungestraft nachgeben könnte.81 Rosenlöcher selbst sieht sich, das gibt jeder seiner einschlägigen Kommentare zu verstehen, dieser Haltung überlegen. Obwohl er sein ganzes, zum damaligen Zeitpunkt knapp 40jähriges, Leben in der DDR verbracht hatte, sieht er seine ehemaligen Landsleute aus der Perspektive des Westlers. Aber auch den Westlern, die er auf dem HarzBrocken beobachten kann, weiß er sich überlegen. Denn ihnen wiederum fehlt die Erfahrung eines Lebens in der Zwangsherrschaft. Diese Attitüde doppelter Überlegenheit mag in charakterlicher und politischer Hinsicht fragwürdig wirken. Eine plausible Legitimation aber bezieht sie aus der literarischen Form, die Rosenlöcher seinem Text gegeben hat. Nicht von ungefähr muss ausgerechnet der Harz das Reiseziel dieser etwas kurz geratenen Fußreise sein. Denn der Harz war schon zweimal in der deutschen Literaturgeschichte das Objekt prominenter Fußwanderreisebeschreibungen. Goethes Harzreise im Winter von 1777 hat das Muster gegeben, und Heine hat 50 Jahre später den Antitypus dazu formuliert. Für Goethe muss diese Reise, die er literarisch kaum verarbeitet hat,82 von existenzieller Bedeutung gewesen sein. Die im Winter gefährliche Besteigung des Brocken führte ihn zu einer sozialen Grenzerfahrung: „Da war ich vierzehn Tage allein, daß kein Mensch wußte, wo ich 80 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern, S. 31. 81 Ebd., S. 28. 82 Vgl. Peter J. Brenner, „Von der Bewegung zur Beharrung. Goethes Reisen in Deutschland, Frankreich und der Schweiz“, in: Goethe-Jahrbuch 120/2003, S. 167–181, hier S. 168–170.

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war“,83 schreibt er am 5. August 1778 an Johann Heinrich Merck.84 Das ist bei Rosenlöcher anders. Er setzt einen ironischen Kontrapunkt gegen die BrockenEinsamkeit des späten 18. Jahrhunderts, die dann ja künstlich vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Ende der DDR verlängert worden war. Nach der Wende sieht es anders aus: „Scharenweise grölten sie aufwärts, und ihre Vergnügungshütchen verhöhnten die Kuppen der Berge.“85 Heine hat ein halbes Jahrhundert später das Gegenprogramm zu Goethes Vorlage geliefert und damit das erste Muster für seine dann gattungsprägend wirksamen „Reisebilder“ geschaffen. Rosenlöcher wiederum spielt mit beiden Vorlagen: „Im Gehen zu denken, Goethe zu sein, brachte mich leidlich voran.“86 Er ironisiert das Bedeutungsschwangere bei Goethe mit gelegentlichen direkten Erwähnungen,87 ebenso wie er den ironischen Gestus Heines nachahmt – die bierernsten Bildungsreminiszenzen Braigs an Heine bilden einen stilistischen Kontrapunkt dazu88 – und gelegentlich auf Wilhelm Müllers Winterreise und natürlich auf Seume hinweist.89 Das Erkennen dieser Anspielungen überlässt er aber der Kennerschaft seiner Leser, wobei er bei dem ehemaligen DDR-Lesepublikum wahrscheinlich eher auf Erfolg hoffen darf als bei den BRD-Lesern. Dieses Spiel mit großer literarischer Tradition und kaum überbietbaren Vorläufern und Gewährsmännern gibt Rosenlöcher die Legitimation, sich seinen MitTouristen überlegen zu fühlen. Wie sie ist er unter dem Joch der Diktatur aufgewachsen, aber anders als sie hat er sich durch die Lektüre der großen literarischen Tradition mit dem Geist der Freiheit vollsaugen können. Hier also lässt sich jene „Hinwendung zu den medialen Regulierungen des Schreibens über Reisen“ beobachten, jene Ironisierung und Durchbrechung von Gattungsregeln, die sich als Kritik an der „gelenkten Wahrnehmung“ verstehen lässt und die sich unter den besseren Exemplaren der neueren deutschen Reiseliteratur gelegentlich findet.90 Die halb direkte, halb verschleierte Bezugnahme auf die beiden großen

83 Johann Wolfgang von Goethe, Goethes Briefe in den Jahren 1768 bis 1832. Ein Supplementband zu des Dichters sämmtlichen Werken, Heinrich Döring (Hrsg.), Leipzig 1837, S. 8. 84 Vgl. Hans Blumenberg, Der Prozess der theoretischen Neugierde. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimität der Neuzeit“, dritter Teil, Frankfurt am Main 1973, S. 144. 85 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern, S. 76. 86 Ebd., S. 45. 87 Ebd., S. 50, S. 61 f., S. 67 f. 88 Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland, S. 53–56. 89 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern, S. 55, S. 60. Vgl. auch Frank Thomas Grub, „Wende“ und „Einheit“ im Spiegel der deutschsprachigen Literatur. Ein Handbuch, Bd. 1, Berlin 2003, S. 641. 90 Gisela Ecker, „‚Fremdes Wasser‘. Reisesteuerungen in Prosatexten der Gegenwartsliteratur“, S. 221.  



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Vorläufertexte bei Rosenlöcher bleibt jedoch eine Ausnahme. Die meisten anderen Texte verzichten weitgehend auf literarische Anspielungen, und man darf bezweifeln, ob sie ihnen überhaupt geläufig sind. Ein Kuriosum außerhalb der Gattung des Reiseberichts ist der bekannte und thematisch einschlägige Text von F.C. Delius: Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus, der erstmals 1995 erschien. Delius erzählt die fiktive Geschichte des DDR-Kellners Paul Gompitz, der, angeregt durch die Seume-Lektüre, einmal im Leben die DDR verlassen und eine Reise nach Italien machen will. Sieben Jahre lang bereitet er seinen Grenzübertritt vor, der ihm dann ziemlich problemlos gelingt. Auf den ersten Blick liegt dem Text eine kritische Attitüde zugrunde, die sich aus dem Pathos der „Reisefreiheit“ speist: Ja, alles kannst du aushalten, die leeren Geschäfte, die kaputten Dächer, die dreckigen Bahnen, den Gestank des Sozialismus, aber was du nicht aushalten kannst, daß sie dich einsperren für immer, daß du nie was sehen wirst von der Welt, unter dieser Last kannst du nicht leben, ja, und deshalb wird dich heute keiner mehr aufhalten, keiner!91

Am Ende scheint es aber, als sei Delius von allen kritischen Geistern verlassen, die ihn einst, als Kritiker der Siemens-Welt, berühmt gemacht hatten. Das nächtliche Segeln über die schwer bewachte Ostsee-Grenze, die anschließende Beschreibung der Bundesrepublik als ein Jammertal der Arbeitslosigkeit und besonders die ziemlich problemlose Rückkehr in die DDR, die ihn nach ein paar Stasi-Verhören wieder in Gnaden aufnimmt, verleihen dem Text märchenhafte Züge.

VI. Land und Leute Wer in die Ferne reist, möchte, so will es die Tradition, fremde Länder erfahren; wer in der Nähe bleibt und zu Fuß geht, möchte „Land und Leute“ kennenlernen. Diese Formel hat ihre Wurzel in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Sie wurde geprägt vom Begründer der deutschen Volkskunde, Wilhelm Heinrich Riehl. Riehl unternimmt Fußreisen durch deutsche Regionen, um „Land und Leute“ kennenzulernen – und zwar nicht aus persönlicher Neugierde, sondern aus wissenschaftlichem Interesse, das dann seinen Ausdruck findet in der Publikation des voluminösen Werkes über die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Socialpolitik, erschienen 1851–1869, dessen erster Band eben diesen Titel trägt: „Land und Leute“. Mit

91 Friedrich Christian Delius, Der Spaziergang von Rostock nach Syrakus. Erzählung, Reinbek 1995, S. 79.

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dem Titel seines Buches prägt er eine berühmte Formel, die im deutschen Sprachhaushalt über eineinhalb Jahrhunderte Bestand haben wird. „Land und Leute“ lernt man kennen, indem man sich ihnen zu Fuß nähert – der vierte und letzte Band von Riehls Naturgeschichte heißt Wanderbuch –, aufmerksam ihr Tun und Lassen wahrnimmt, und nicht zuletzt: mit ihnen redet. Riehl hat mit dieser Praxis sicher wesentlich zur Domestizierung der Fußreise beigetragen, wie sie dann später bei Fontane in seinen Wanderungen in extenso weitergeführt wird. Damit wird das emanzipatorische Potential dieser Reiseform, das sich die Aufklärung – zur Recht oder nicht – von ihr erhofft hatte, stillgestellt.92 Dieser Tradition folgen die Fußwanderer der Gegenwart. Zweifellos neigen sie zur Harmlosigkeit in der Riehl-Fontane-Tradition. Emanzipatorisches Potential, das über den gerade wandernden Autor selbst und seine individuelle Befindlichkeit hinausreicht, findet sich kaum einmal. Zick, Rosenke, Braig haben die Neigung, über Belanglosigkeiten zu berichten; über Anekdotisches, beiläufige Begegnungen und Beobachtungen, Alltägliches. Selbst Andreas Altmann, Jahrgang 1949, der 2011 mit seinem autobiographischem Bericht Das Scheißleben meines Vaters, das Scheißleben meiner Mutter und meine eigene Scheißjugend Furore machte, schreibt über seine Fußreise von Paris nach Berlin einen Reisebericht von biederer Belanglosigkeit. Sein Text hat ebenso wie der Zicks den Charakter einer Reportage, wie man sie aus der Tagespresse kennt. Aber Reportagen, die für den ephemeren journalistischen Tagesverbrauch geschrieben wurden, gewinnen eine andere Dignität – und müssen sich anderen sachlichen wie stilistischen Ansprüchen stellen –, wenn sie zwischen zwei Buchdeckeln auf Dauer gestellt werden. Diesen Ansprüchen werden Zicks und Alts Reiseberichte mit ihrer Neigung zur Belanglosigkeit der Mitteilungen, zur stilistischen Indolenz und zur Beschreibungsimpotenz sicher nicht gerecht. Dennoch birgt die Reiseform „Fußwanderung“ ein Potential, das die Nähe fremd machen kann. In einzelnen Passagen der Fußreiseberichte blitzt das auf. Der „Rucksackdeutsche“ Eberhard Rosenke verläuft sich; die Wirklichkeit nimmt dabei chaotische Züge an, ohne wirklich bedrohlich zu werden – verirren kann man sich auch in Deutschland.93 Selbst der erfahrene Extremfußgänger Wolfgang Büscher wird mit diesem Erlebnis konfrontiert. Was dem Wanderer in Russland nicht passiert ist, geschieht ihm im Bayerischen Wald: „Ich war im Kreis gegangen. Eine leichte Panik meldete sich.“94 Axel Braig fürchtet sich sogar vor den

92 Brenner, Reisen in die „Neue Welt“, S. 146–150. 93 Rosenke, Ein Rucksackdeutscher tippelt von München nach Berlin, S. 107. 94 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 154

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neuen Bundesländern: „Mehrfach hatte man mich in letzter Zeit davor gewarnt, dass es gefährlich sei, im Osten allein herumzuwandern.“95 In solchen Situationen wird das Vertraute von selbst fremd, ohne dass es besonderer Anstrengungen der Berichterstatter bedarf. Aber in der Regel muss die vertraute Nähe künstlich, oder mit künstlerischen Mitten, fremd gemacht werden, um wieder interessant zu werden. Wirklich ausgereizt wird diese Technik von Wolfgang Büscher, der ganz und gar darauf verzichtet, sich das Gesehene und Erfahrene vertraut zu machen. Für seinen Blick gibt es andere Grenzen als jene, die durch die ehemalige Demarkationslinie zur DDR immer noch sichtbar geblieben sind. Sie werden von Büscher scharf vermerkt. In Neustadt an der Waldnaab betritt er ein Wirtshaus und lauscht einem Stammtischgespräch: „Worüber sie redeten in ihrem fränkischen Dialekt“ – es wird sich wohl eher um den Oberpfälzer Dialekt gehandelt haben – „und worüber sie lachten, davon verstand ich kein Wort.“96 In der Oberpfalz stößt der Wanderer, der für seine frühere Russlandreise eigens Russisch gelernt hatte und damit ganz gut zurechtkam, an unbekannte Grenzen. Nicht von ungefähr heißt eins der folgenden Kapitel „BayerischSibirien“. Die unerfreuliche Gegend wird von Menschen bevölkert, die noch unerfreulicher sind und einfache Auskünfte nach dem Weg verweigern,97 und andererseits gibt es Tage, „da begegnete ich keinem Menschen.“98 Wolfgang Büscher hat einen eigenen Sprachstil entwickelt, um diese Erfahrungen der Fremdheit in der Nähe weniger auszudrücken als zu inszenieren. Diese Stilwahl war – wie offensichtlich alles, was Büscher unternimmt – hochreflektiert: Er hat, wie er berichtet,99 gezielt ein sprachliches Vorbild gesucht, um das ausdrücken zu können, was er ausdrücken wollte. Dieses Vorbild hat er an abgelegener Stelle gefunden, ziemlich entfernt von den Traditionen des Reiseberichtes als literarischer Gattung: in Werner Herzogs Bericht Vom Gehen im Eis aus dem Jahre 1978.100 Mit diesem Stil findet Wolfgang Büscher einen eigenen Zugang zu den von ihm bereisten Regionen, und er findet einen eigenen Ton zu ihrer Beschreibung. Freundlich ist sein Blick auf die Umgebung, die Landschaft und die Leute, kaum einmal. Büscher lenkt den Blick des Lesers immer wieder auf die trüben Seiten seiner Umgebung, und so verbreiten seine Reiseberichte in erster Linie Tristesse.

95 Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland, S. 84 96 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 120. 97 Ebd., S. 137 98 Ebd., S. 144. 99 Mündliche Mitteilung bei der FRIAS-Tagung in Freiburg i.Br. am 05.11.2011. 100 Werner Herzog, Vom Gehen im Eis: München – Paris; 23.11. bis 14.12.1974, München/Wien 1978.

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Es ist weniger der Blick des rasenden Reporters Kisch, der sich für soziale Verhältnisse und die Personen, in deren Lebensformen sie sich ausdrücken, interessierte. Büschers Blick haftet gerne am äußerlichen Detail, am Abfall, an Müllhalden, an Hinterhöfen oder an der Kleidung und an Verhaltensformen, Gesten und Bewegungen, in denen sich Verfall kundtut: Bei Coschen entdeckte ich ein verfallendes Gehöft am anderen Ufer. Das Dach des Haupthauses war bemoost, der Dachfirst des Stalles ein verformtes Rückgrat. Das kleine Backhaus stand grau und schief, die Schornsteine waren kariös, aus der Scheune waren Steine gefallen oder herausgebrochen. Regengrau von siebzig, achtzig Wintern hing ihr Tor in den Angeln. Hundegebell.101

In der Darstellung topografischer Trostlosigkeit erreicht Büscher ohne weiteres die Qualität von Hofmannsthals Reitergeschichte. Büschers Wahrnehmungs‑ und Beschreibungsduktus entzieht sich jeder touristischen Verwertbarkeit – kein Reiseveranstalter kann je auf den Gedanken kommen, Büschers Touren in sein Programm aufzunehmen.

VII. Noch einmal: Der Fußgänger als Anti-Tourist Jede Form von Mobilität ist „ein soziales Phänomen: Wir reisen, um anderen mitzuteilen, wer wir sind oder wer wir gerne sein würden.“102 Das gilt auch für die Fußreisenden, erst recht, wenn sie über ihre Reisen berichten. Vor dem Hintergrund des Massentourismus wird verständlich, was sie in letzter Instanz antreibt: Selbst in ihrer trivialsten Form ist die Fußreise eine Abweichung vom Erlebnisund Reisemodell des Tourismus. Sie wird abermals, wie schon im 18. Jahrhundert, aber unter anderen kulturellen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, zu einem „Kontrastprogramm“,103 das sich absetzt von sozialen Konventionen nicht nur des Reisens, sondern auch des Lebens. Das touristische Reisen war einmal eines der vielen Instrumente zur Markierung der „feinen Unterschiede“, mit denen sich die wohlhabend gewordene Schicht der Bourgeois sozial abgrenzte. Es gehörte zu den Praktiken, mit denen

101 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 82. 102 Jens Badura/Cédric Duchêne-Lacroix/Felix Heidenreich, „Einleitung: Praxen der Unrast. Von der Reiselust zur modernen Mobilität“, in: Dies. (Hrsg.), Praxen der Unrast. Von der Reiselust zur modernen Mobilität, Berlin 2011, S. 7–11, hier S. 8. 103 Eckhart Frahm, Kulturgeschichte der Fußreise (Rundfunkmanuskript; Erstsendung Hessischer Rundfunk 15.08.1982).

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eine „Distanz zur Notwendigkeit“104 signalisiert werden konnte. Diese Kraft zur sozialen Distinktion hat der Tourismus längst verloren, seitdem er zu einem allgegenwärtigen und leicht erschwinglichen Massenphänomen geworden ist. Das, was den Reiz des Reisens einmal ausmachte, die Erfahrung der Welt und das Erlebnis der Natur, hat der Tourismus okkupiert und unwiderruflich ungeformt. Die Touristen suchen nicht die Erfahrung der Fremde; sie suchen ein Erlebnis, das ihnen ohne eigene Anstrengung zur Verfügung gestellt wird. Die Wirklichkeit muss den Ansprüchen des Reisenden entsprechen, nicht umgekehrt; gemessen wird sie schließlich an der Erlebnisqualität, die sie dem Reisenden bietet. Genau dieses Bedürfnis bedient der moderne Tourismus in erster Linie.105 Touristische Räume werden beliebig konstruiert, um sie marktfähig zu machen. Sie erhalten eine Bedeutung, die sie von Haus aus nicht haben; und damit entlasten sie den Reisenden von der Aufgabe, diese Bedeutung zu finden oder sie der bereisten Umgebung in einer konstruktiven Anstrengung zuzuschreiben.106 Das „Erlebnis“ ist so zur Domäne des Touristen geworden, und damit steht es dem Fußwanderer nicht mehr zur Verfügung. Deshalb berichten die Fußreisenden so erstaunlich wenig über persönliche Erlebnisse und Reiseeindrücke. Die meisten Autoren haben eine Ahnung davon, dass Erlebnisse nicht mehr das sind, was die Leser hören wollen. Besonders subjektive Gemütsregungen angesichts von Naturerfahrungen sind bei den Fußwanderern bemerkenswert selten, und wo sie sich finden, bleiben sie blass und konventionell: „Dafür genieße ich umso mehr die Natur. So intensiv wie nie zuvor erlebe ich die herbe Schönheit der Alb mit ihrer heideähnlichen Landschaft.“107 Dieser Floskel in Braigs Reisebericht, in der gedämpfter Gefühlsüberschwang und Beschreibungsimpotenz eine harmonische Verbindung eingehen, steht in Büschers Anfangssatz seines Deutschlandreiseberichts eine Naturbeschreibung in klirrender Kälte und kalkulierter emotionaler Distanz entgegen: Man sagt, über dem Niederrhein liege ein mystisches Licht. So ein Dunst, zart bläulich, und der Nebel leuchte von innen her, sogar an einem Herbsttag wie diesem, aus dem der Himmel alle Farben sog, als seien sie Gift.108

104 Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, 4. Aufl., Frankfurt am Main 1991, S. 100. 105 Köck, Sehnsucht Abenteuer, S. 77. 106 Karlheinz Wöhler, Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen, Wiesbaden 2011, S. 56. 107 Braig, Allein und zu Fuß durch Deutschland, S. 187. 108 Büscher, Deutschland, eine Reise, S. 9.

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Das frei verfügbare „Erlebnis“ ist die eine Domäne des Tourismus; die andere ist die Überwindung des Raums durch Beschleunigung der Zeit. Die Qualität des touristischen Reisens lässt sich auf die Formel „Tempo und Erlebnisdichte“ bringen.109 In der modernen Gesellschaft kommt der Raum nur noch als zu „überwindende Größe“ vor; der „Raum erscheint als Widersacher der Zeit, die für Entwicklung und Fortschritt steht“.110 Im Tourismus wird diese Überwindung allumfassend und für jeden zugänglich: „Touristen haben keine Raumbindung und fühlen sich daher frei“.111 Die Fußgänger dagegen haben ein besonderes Verhältnis zur Zeit und zum Raum. Sie sind an den Raum gebunden, den sie mühsam und langsam durchqueren müssen; damit werden sie zu Protagonisten der Entschleunigung und entwerfen ein Gegenprogramm zu den Fluchtlinien der modernen Gesellschaft. Während die Medialisierung und Globalisierung der Wirklichkeit einerseits vermeintlich „raum- und körperlos funktionierende weltweite Austauschprozesse“ entfesselt, demonstrieren die Fußgänger ostentativ, dass die Menschen am Ende doch „an Raum und Körper gebunden“ gebunden bleiben.112 Die Fußwanderungen sind eine neue, vielleicht die letzte Bastion, mit der die soziale Praxis des „Reisens“ noch einmal ihre sozial distinguierende Kraft behauptet. Das Fußwandern ist eine Möglichkeit, Körper, Raum und Zeit neu zu erfahren und im Idealfall auch neu zu definieren. Die Fußreisenden tragen nicht mehr die große Erzählung der Aufklärung von Emanzipation und Erkenntnis vor, aber auch nicht die touristische Erzählung vom allgegenwärtigen Erlebnis in beliebig bereisbaren Räumen. Die Erzählung der Fußgänger ist die Erzählung der Abweichung von der sozialen Norm des Tourismus. Sie ist eine letzte Abwehrbewegung nicht nur gegen den Tourismus, sondern auch gegen das, wofür dieser steht. Denn der Tourismus ist längst mehr als eine Reiseform. Er ist eine Lebensform; er ist zu einem Habitus geworden, der sich auch ohne Reise realisieren kann. Touristische Verhaltensweisen bleiben nicht mehr auf die Fremde beschränkt; sie lassen sich auch im Alltag kultivieren, in den zusehends stärker „Muster und Rituale touristischer Wahrnehmung“ und touristischen Verhaltens eindringen.113 Tourismus ist überall.

109 Wittich, Reisegefahren und Urlaubsängste, S. 119 110 Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 276. 111 Wöhler, Touristifizierung von Räumen, S. 61. 112 Schroer, Räume, Orte, Grenzen, S. 296. 113 Klara Löffler, „Wie das Reisen im Alltag kultiviert wird. Beobachtungen zu einer Form zeitgenössischer Schaulust“, in: Christoph Köck (Hrsg.), Reisebilder, Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung, Münster/München u.a. 2001 (Münchner Beiträge zur Volkskunde 29), S. 229–239, hier S. 230.

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Das, was der Tourismus einst versprochen hatte und nicht halten konnte, wird von der sozialen Praxis der Fußwanderer eingelöst, die das Privileg der „täglichen Verschwendung von Mühe, Zeit und Arbeit“ für sich zurückgewinnen.114 Wie lange das vorhält, wird sich zeigen. Denn der Vorsprung, den sich die Fußgänger vor den Touristen erwandert haben, ist knapp, und er ist gefährdet; der Tourismus hat inzwischen auch „Entschleunigungsangebote“ in sein Repertoire aufgenommen.115 Irgendwann, das ist absehbar, werden sich auch die Fußwanderer dem Diktat des Tourismus unterworfen haben. Dann bleibt der Reisekultur, wenn sie sich traditionsgemäß weiter als Gegenprogramm zu herrschenden sozialen Normen definieren will, nur noch das letzte aller Privilegien in einer mobilitätsfixierten Wohlstandsgesellschaft: das „Privileg der Sesshaftigkeit“116 – das Recht, zu Hause bleiben zu dürfen.

114 Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 102. 115 Karlheinz Geißler, „Enthetzt Euch!“, in: Universitas 67/2012, S. 4–29, hier S. 12 f. 116 Badura/Duchêne-Lacroix/Heidenreich, „Einleitung: Praxen der Unrast. Von der Reiselust zur modernen Mobilität“, S. 8.  

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Reisen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Von der DDR-Reportage zum Wandergenussbericht I. Grenzenlosigkeitserfahrungen an der ehemaligen Grenze? Wandern entlang des Kolonnenwegs „Es ist schwer, für diese bunte Welt des modernen Tourismus einen Generalnenner zu finden. Vielleicht ist ihre Signatur die Grenzenlosigkeit.“1 Hermann Bausinger hat mit dieser Diagnose einen zentralen Aspekt der Länder, Kulturen und Gesellschaftsschichten übergreifenden Organisationsformen des zeitgenössischen Reisens hervorgehoben: die Negierung räumlicher und sozialer Grenzen im Massentourismus. Die touristische Erschließung immer neuer, reizvoller Naturund Erholungsräume stellt zweifellos auch in Deutschland einen gewichtigen Wirtschaftsfaktor dar. Gerade im Bereich des ehemaligen innerdeutschen Grenzgebiets, der global als eine „universale Befreiungs- und Unterdrückungsmetapher“2 wahrgenommenen Mauer, zeichnet sich in den letzten Jahren eine touristische Neukartographierung ab, die das frühere tödliche Sperrgebiet unter dem sprechenden Namen „Grünes Band“ als faszinierenden, Biotop-reichen Landschaftsraum entdeckt.3 „Die zum Verschwinden gebrachte Grenze lässt somit auch auf Desinteresse an der Vergangenheit, Ignoranz und Verdrängung schließen.“4 Der propagierte Wandertourismus entlang des „Grünen Bandes“ lief in den Jahren 2009 und 2011 mit einer Vielzahl an Veröffentlichungen zur deutschdeutschen Geschichte parallel. In diesen Jahren wurde öffentlich des Mauerbaus

1 Hermann Bausinger, „Grenzenlos… Ein Blick auf den modernen Tourismus“, in: Ders./Klaus Beyrer/Gottfried Korff (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1991, S. 343–353, hier S. 344. 2 Marion Detjen, „Die Mauer als politische Metapher“, in: Klaus-Dietmar Henke (Hrsg.), Die Mauer. Errichtung, Überwindung, Erinnerung, München 2011, S. 426–439, hier S. 427. 3 Vgl. die inzwischen in sieben Bänden vorliegende, von Cornelius Reiner und dem BUND herausgegebene Reihe Vom Todesstreifen zur Lebenslinie, Niederaula 2009–2012¸ die vor allem auf Wandertourismus zielt. 4 Maren Ullrich, Geteilte Ansichten. Erinnerungslandschaft deutsch-deutsche Grenze, Berlin 2006, S. 33.

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im August 1961 und des Falls der Mauer im Herbst 1989 gedacht. Die historischen Daten gaben den Verlagen Anlass, mit mehreren Reiseberichten entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze aufzuwarten. Es sind Reisen, die vom ehemaligen tschechoslowakisch-deutsch-deutschen Dreiländereck bei Hof über Thüringen, die Rhön und das Eichsfeld, durch den Harz, der Elbe entlang an die Ostsee führen. Eine vielfältige Naturlandschaft eröffnet sich dem Reisenden, zugleich bietet die Tour auf dem von der DDR angelegten Kolonnenweg Einblicke in unterschiedliche regionale Kulturen und Befindlichkeiten. Anhand von vier Reiseberichten soll exemplarisch versucht werden, diese neuen Sichtweisen auf das ehemalige Grenzgebiet und die damit verbundene Geschichte zu untersuchen. Fast ausschließlich durchwandern alle Reiseberichtautoren das Gebiet, sie bewegen sich damit – von einer kulturwissenschaftlichen Perspektive auf die Wanderliteratur aus betrachtet – im Spannungsfeld von Lust- und Studienwanderung, von antimoderner Protestbewegung und kommerzialisiertem Wandertourismus.5 Zu den unverzichtbaren Topoi von Fußreisen zählt die Qualität einer „besonderen sozialen Begegnungsfähigkeit des Wanderers“6, wodurch die Gesprächsaufzeichnungen mit den (fremden) Einheimischen in den Reiseberichten eine hervorgehobene Bedeutung erhalten. Der Wanderer als idyllisches Gegenbild zum modernen Stadtmenschen und die mit diesem Topos verbundene „Wiedergewinnung einer verlorengegangenen gesellschaftlichen Kohärenz“7 verdienen etwa zwanzig Jahre nach der Wiedervereinigung – an der Nahtstelle eines unmittelbaren deutschdeutschen Zusammenwachsens – in erster Linie Aufmerksamkeit. Die Grenzenlosigkeitserfahrung der Reisenden kollidiert mit der nach der Wende häufig konstatierten Leit- oder Superdifferenz zwischen Ost und West.8 Nicht zuletzt soll also gefragt werden, inwiefern die ehemalige Grenze noch als kulturelle oder gar nationale Scheidelinie wahrgenommen wird. Reiseberichte von Wanderungen entlang der ehemaligen Grenze stellen folglich auch Medien des kollektiven Gedächtnisses dar. Im Anschluss an Assmann formulieren Lüdeker und Orth:

5 Vgl. Wolfgang Albrecht, „Kultur und Physiologie des Wanderns. Einleitende Vorüberlegungen eines Germanisten zur interdisziplinären Erforschung der deutschsprachigen Wanderliteratur“, in: Ders./Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, Tübingen 1999, S. 1–11, hier S. 8. 6 Ingrid Kuczynski, „Die Lust am Wandern – ein Hintergehen der bürgerlichen Moderne“, in: Ders./Hans-Joachim Kertscher (Hrsg.), Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, Tübingen 1999, S. 44–60, hier S. 51. 7 Ebd. 8 Vgl. Peter Fuchs, Westöstlicher Divan. Zweischneidige Beobachtungen, Frankfurt am Main 1995, S. 12.

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Das bedeutet, diese Narrationen bilden Erinnerungen ab und kommunizieren sie, als solche finden sie im kommunikativen Gedächtnis der gesamtdeutschen Nation statt. Gleichzeitig bewahren und institutionalisieren sie Erinnerungen, die von nachfolgenden Generationen aktualisiert werden können, dadurch sind sie Teil des kulturellen Gedächtnisses.9

Im Folgenden werden innerhalb solcher Konstituierungsprozesse von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis vier Werke analysiert, die zwischen Bildungsreisebericht und empfindsamer Reise, zwischen politisch engagierter Literatur und touristischer Werbung changieren. Auf den ersten Blick liegt es nahe, am häufig diagnostizierten Funktionsverlust der Reiseliteratur angesichts des Variationsreichtums in den deutsch-deutschen Gedenkjahren zu zweifeln.10

II. Die ‚unbekannte‘ Mitte. Touristische Neuentdeckungen und aktualisierte DDR-Erinnerungen im Reisebericht 1. Werbesprache für blühende Landschaften: Dieter Kreutzkamps Mitten durch Deutschland Wie in Franz Schuberts Volkslied besungen, steht in Bad-Sooden-Allendorf neben einer Linde der ‚Brunnen vor dem Tore‘. Im Hintergrund erhebt sich der 395 Meter hohe Lindenberg. Es heißt, der Dichter jener Zeilen, ein Wilhelm Müller, habe sich zu Beginn des 19. Jahrhunderts auf einer Reise von Dessau nach Worms hier ein Päuschen gegönnt. Und während die Knechte die Postkutschenpferde tränkten, flossen Müller jene Worte aus der Feder, die später, verbunden mit Schuberts Melodie, in keinem Gesangsvereins-Liederbuch fehlen durften.11

An deutsche Postkutschen- und Volksliedromantik anknüpfend, eröffnet Dieter Kreutzkamp so ein Kapitel in seinem 2009 erschienenen Buch Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis nach Bayern: Volkslied, Naturidylle, Dichtergenie und zu guter Letzt der Gesangsverein, Bad-Soo-

9 Gerhard Jens Lüdeker/Dominik Orth, „Zwischen Archiv, Erinnerung und Identitätsstiftung – Zum Begriff und zur Bedeutung von Nach-Wende-Narrationen“, in: Dies. (Hrsg.), Nach-WendeNarrationen. Das wiedervereinigte Deutschland im Spiegel von Literatur und Film, Göttingen 2010, S. 7–17, hier S. 11. 10 Vgl. hierzu Gerhard Sauder, „Formen gegenwärtiger Reiseliteratur“, in: Anne Fuchs/Theo Harden (Hrsg.), Reisen im Diskurs. Modelle der literarischen Fremderfahrung von den Pilgerberichten bis zur Postmoderne, Heidelberg 1995, S. 552–573, hier S. 552. 11 Dieter Kreutzkamp, Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis nach Bayern. Unter Mitarbeit von Rupert Heigl, 2. Aufl., München 2009, S. 276.

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den-Allendorf hat all dies zu bieten. Blickt man jedoch auf die Kapitelüberschrift des Reiseberichts und die damit verbundene Lese-Erwartung, so öffnet sich der erzählerische Kontext der zitierten Passage: „Wo Stasi-Schlapphüte in die Röhre guckten. Am Brunnen vor dem Tore. ‚Kundschafter des Friedens‘ im Zickzackkurs. Deutschlands Nabel liegt im Moor“12. Die Überschrift „Wo Stasi-Schlapphüte in die Röhre guckten“ stellt auf bewusst ironische Weise eine Agenten-Schleuserröhre in den Mittelpunkt des Kapitels. Schlapphüte wecken Assoziationen an geheimnisvolle und doch biedere Tarnungsbekleidung, die aber vielleicht auch vom Männergesangsverein getragen werden könnte. Zugleich signalisiert „schlapp“, dass es mit dem Können der Stasi ja letztlich doch nicht so weit her gewesen sei. Die Röhre selbst wird in ein allseits bekanntes Sprichwort integriert;13 damit markiert der Sprecher sofort seinen überlegenen Standort („asymmetrisierende Kommunikation“14): Kein bedrohlicher Ort erwartet den Leser, sondern eine heitere Vergegenwärtigung eines zusammengebrochenen Systems. Die folgenden Untertitel geben erst gar nicht vor, die Disparatheit der Eindrücke in Bad Sooden-Allendorf zusammenfügen zu wollen. „Am Brunnen vor dem Tore“ bringt Wilhelm Müllers Gedicht als vermeintlich urdeutsch-romantische Gemütsstimmung von Naturidyll, Geselligkeit im gemeinsamen Gesang, Heimat und Heimatverlust in Erinnerung. Markiert von Anführungszeichen folgt DDR-Sprache, die Spione als „Kundschafter des Friedens“ bezeichnete. Der Zickzackkurs stellt dagegen die Verlässlichkeit der genannten Person bzw. wohl der gesamten DDR-Friedenspolitik infrage. Ein drastischer Untertitel schließt den Reigen: „Deutschlands Nabel liegt im Moor“ – die Geburtsschnur des bereisten, physisch greifbaren Landes liegt laut Kreutzkamp fern der Zivilisation, in unzugänglichen, wenn nicht gar gefährlichen Feuchtgebieten. Der Lebensraum der germanischen Vorfahren, die undurchdringlichen Wälder Mitteleuropas, erscheint vor dem inneren Auge der Leser. Tatsächlich bietet das folgende Kapitel nach der Beschreibung der angeblich von Wilhelm Müller besungenen Bad Soodener Linde einen Besuch im „Grenzmuseum Schifflersgrund“ mit Exkursion zu einer Agentenschleuse, gefolgt von einer geographischen Vermessung der Mitte Deutschlands, die unweit von Bad Sooden in Niederdorla liegt. Das Kapitel endet mit einem Ausflug zum „Frau-Holle-Teich“, der sich an der Ostflanke des höchsten

12 Ebd. 13 Wobei entgegen dem Sprichwort und im Sinne einer nachträglichen historischen Wahrheit die Stasi zum Verlierer erklärt wird. Das Sprichwort stammt hingegen vielleicht „aus der Jägersprache, wo ‚Röhre‘ den Bau (des Dachses) bezeichnet. In die Röhre kann der Hund hineinsehen, aber nicht hineinkriechen.“ (Art. ‚Röhre: in die Röhre gucken‘, in: Duden. Redewendungen. Wörterbuch der deutschen Idiomatik. 2., neu bearbeitete und aktualisierte Aufl., Mannheim u.a. 2002, S. 622) 14 Fuchs, Westöstlicher Divan, S. 99.

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Berges in Hessen, dem Hohen Meißner befindet. Über die dort errichtete Frau Holle-Statue weiß uns der Reisende zu berichten: „[…] wegen ihrer ausgeprägten Rundungen rief sie sogar die Frauenbeauftragte des Landkreises auf den Plan. Märchenhaft ist es hier auf jeden Fall.“15 So werden die Berichte von Grenzmuseum und tödlichen Mauerzwischenfällen gerahmt von Schubertlied und Grimms Kinder- und Hausmärchen. Zweierlei sollte hier deutlich geworden sein: Kreutzkamps Reise versteht sich zum einen nicht nur geographisch als eine Reise „Mitten durch Deutschland“, sein Bericht arbeitet geradezu plakativ mit Versatzstücken deutscher Kultur und Geschichte, die unmittelbar an stark emotional besetzte Begriffe wie Heimat, Kindheit und Gemeinschaft anknüpfen. Mit Certeau kann auf die in den historischen Raum ‚eingefalteten‘ Geschichten verwiesen werden: „Places are fragmentary and inward-turning histories […] accumulated times that can be unfolded but, like stories, are held in reserve.“16 Allerdings vermittelt Kreutzkamp die historische Erinnerung an die Mauer und den sogenannten Todesstreifen häufig in ironisch-gebrochener Weise – ein alles andere als selbstverständliches Verfahren. Die Erinnerung an die Teilung wird eingebunden in ein übergeordnetes Verständnis deutscher Kultur, die das Trennende der unterschiedlichen Biographien verdeckt. Den Abschluss des Kapitels, das vor allem von Grenzvorfällen, der Erschießung des DDR-Flüchtlings Heinz-Josef Große und von Stasi-Operationen handelt, im „Märchenhaft[en]“ zu finden, unterstreicht die grundlegendere Reiseerfahrung, die von Naturerlebnissen und Kindheitslektüren geprägt ist. Sie wird hier zusätzlich noch um erotische Männerphantasien bereichert. Semantisch lädt der Berichterstatter das ehemalige Grenzgebiet damit (wieder) bewusst als ‚urdeutsches‘ Lieder- und Märchenland auf. Kreutzkamp verzichtet auf eine Verbindung der unterschiedlichen Themenbereiche, die markanten Punkte zwischen den Untertiteln verdeutlichen dies. Zum anderen: Der Gebrauch von Redewendung, DDR-Sprache, Personifikation, intertextuellem Lied-Verweis und Film-Reminiszenz in den Überschriften zu einem Reiseberichtkapitel macht deutlich, dass Kreutzkamp vor allem mit Mitteln des Sprachspiels arbeitet, das bereits Kreutzer wie folgt definierte: Spiele mit dem gesamten überkommenen Sprachmaterial, die sich den normativen Idealen inhaltlicher Eindeutigkeit und formaler Fixiertheit durch Mehrdeutigkeit und Abwandlung entziehen, vornehmlich um komische und suggestive Wirkungen zu erzeugen.17

15 Kreutzkamp, Mitten durch Deutschland, S. 284. 16 Michel de Certeau, „Spatial Practices“, in: Ders., The Practice of Everyday Life, translated by Steven Rendall, Berkeley 1984, S. 91–130, hier S. 108. 17 Eberhard Kreutzer, Sprache und Spiel im „Ulysses“ von James Joyce, Bonn 1969 (Studien zur Englischen Literatur 2), S. 6.

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Aus dem sprachspielerischen Umgang mit deutscher Geschichte und Kultur lässt sich auch der komische Grundton erklären, mit dem Kreutzkamp hier das historische Mauergeschehen unterlegt. In ihrem Arbeitsbuch zur Werbesprache hat Nina Janich derartige sprachliche Kontext- und Referenzspiele hinsichtlich ihrer emotionalen und kognitiven Wirkung untersucht. Die starke emotionale Aktivierung des Lesers, die durch Kindermärchen, Volkslied, Stasi-Drohkulisse und unverhüllte Körperlichkeit bei Kreutzkamp erreicht werden soll, besitzt nach Janich folgende persuasiven Funktionen: „Aufmerksamkeitssteuerung, Förderung der Erinnerung, Aktivierung und Steuerung der Vorstellungskraft sowie Ablenkung und Verschleierung des Werbecharakters.“18 Kreutzkamps Reisebericht vermischt durch suggestive, mehrdeutige Sprachspiele touristische Werbung für die ehemalige Grenzregion mit einer Trivialisierung der Wiedervereinigungsprozesse, die nicht davor zurückschreckt, komplexe Vorgänge auf leichtfertige Pointen zu reduzieren. Der hier als einziger genuin ‚westdeutsche‘ Autor vorgestellte Dieter Kreutzkamp reiste nicht nur zu Fuß, sondern auch mit Mountainbike und VW. Die konkrete Reiseroute lässt sich für den Leser jedoch nicht rekonstruieren. Dies mag nicht zuletzt auch an der langen Vorgeschichte des Buches liegen. 1983 wanderte der Co-Autor Rupert Heigl als Student auf der Westseite die Grenze von Hof bis an die Ostsee entlang. Einen pessimistisch gehaltenen Fotodokumentarband dieser Wanderung, der überwiegend in Schwarz-Weiß gehalten und auf die Abbildung der tödlichen Grenzbefestigungen beschränkt ist, legte Heigl erst 2009 vor.19 Bereits 1996 erschien jedoch von Heigl und Kreutzkamp, einem Fernsehfilm folgend, der im nüchternen Logbuch-Stil verfasste Reisebericht Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis zum Böhmerwald, der in sachlicher Sprache den Kolonnenweg als Mountainbike-Wanderweg empfiehlt, aber auch vor den negativen Entwicklungen der Wiedervereinigung die Augen nicht verschließt: Hotel Stasi liest man heute auf dem halbfertigen Rohbau, und ein längerer Aufenthalt auf dem großen, asphaltierten Platz ist auch nicht zu empfehlen. Denn dort stapeln sich die Autoleichen, und zwielichtige Händler tätigen hier ebensolche Geschäfte.20

Dies kann gegenüber dem Kreutzkamp’schen Werk von 2009 – das vor allem auf Erlebnistourismus abzielt – nicht verwundern: Gab Kreutzkamp doch seinen 18 Nina Janich, Werbesprache. Ein Arbeitsbuch, 5. erweiterte Aufl., Tübingen 2010, S. 212. 19 Rupert Heigl, Der Eiserne Vorhang. Eine Reise entlang der Zonengrenze/The Iron Curtain. A journey to the end of the western world, Fulda 2009. 20 Dieter Kreutzkamp/Rupert Heigl, Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis zum Böhmerwald, 2., überarbeitete und aktualisierte Aufl., München 1999, S. 135.

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ersten Reisebericht in der von ihm gestalteten Reihe Straßen in die Einsamkeit heraus, die etwa auch einen Band über die angeblich vom Tourismuskommerz verschonten Gegenden Norwegens enthält. In den einführenden Bemerkungen zum Erstling wird der Grenzweg als „einsamste Straße Deutschlands“21 empfohlen und damit der Ruhe suchende Reisende angesprochen. So spiegelt die erneute Reise und der neu bearbeitete, journalistisch wesentlich aufwändiger gestaltete Reisebericht von 2009 vor allem einen Wandel im Tourismusverhalten wider und dokumentiert weniger den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Wandel der ehemaligen Grenzregionen. Gerade die eingangs hervorgehobenen, markanten Sprachgestaltungsmittel, die im Reisebericht der 1990er Jahre noch gänzlich fehlen, belegen dies. Gegenüber den noch folgenden Autoren fällt der stark westdeutsch geprägte Blick des Autors auf, der die DDR-Kultur fast ausschließlich museal in Form ausgestellter historischer Gegenstände präsentiert. DDR-Gegenstände werden dabei einerseits ironisch bewertet – Trabbis sind „knuffig“ und „kleine Stinker“22. Die DDR-Sprache selbst wird andererseits als zynisch vorgestellt: Man spürte im offiziellen Miteinander, in welch unterschiedliche Richtungen man dachte, auch sprachlich. Kühe zum Beispiel waren im Slang der Ost-Grenzer „RVGs“. Wir versuchen erfolglos, die Abkürzung zu entschlüsseln. „Eine ‚RVG‘ war eine ‚Raufutter verzehrende Großvieheinheit‘! Und unser schöner Weihnachtsengel wurde dort zur ‚Jahresendfigur mit Flügeln‘.23

So zitiert Kreutzkamp kommentarlos einen BGS-Polizisten. Die in der Linguistik als radikaler Bruch im Sprachgebrauch, als „Sprachrevolte“,24 nachgezeichneten Veränderungen in Vokabular und Kommunikationsformen der neuen Bundesländer verbleiben bei Kreutzkamp innerhalb einer westdeutschen Perspektive im Kontext des Anekdotenhaften, Skurrilen, unfreiwillig Komischen. Die Wendung ins Witzige kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass im deutschen Wiedervereinigungsprozess hier Sprache unbewusst als Ordnungsmacht vorgeführt wird.25 Ein heiterer Grundton prägt den Rückblick auf die deutsche Teilung. Der

21 Ebd., S. 10. 22 Kreutzkamp, Mitten durch Deutschland, S. 29. 23 Ebd., S. 37. 24 Peter von Polenz, „Die Sprachrevolte in der DDR im Herbst 1989. Ein Forschungsbericht nach drei Jahren vereinter germanistischer Linguistik“, in: Zeitschrift für germanistische Linguistik 2/ 1993, S. 127–149. 25 Für Migranten (und gleiches gilt aus dieser westdeutschen Perspektive für Deutsche mit DDRBiographie) hat Federmair konstatiert: „Für Zuwanderer […] ist die Konfrontation mit der Sprachpolizei, der ‚Ordnungsmacht Sprache‘, eine wesentliche Erfahrung, die sie manchmal ihren

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vielfach bis in die Gegenwart anhaltende Sprachwandel im vereinigten Deutschland wird nicht reflektiert. Dies entspricht den Beobachtungen des Linguisten Gerhard Müller, der konstatiert: „Der deutsch-deutsche Wortschatz ist also weiterhin in Bewegung, und die Last dieser Art des Sprachwandels liegt auf den Ostdeutschen.“26

2. Selbstbewusste Dokumentationsliteratur in der Tradition der DDR-Reportage: Landolf Scherzers Der Grenz-Gänger 2005 erschien im Aufbau Verlag Landolf Scherzers Der Grenz-Gänger. Scherzer wanderte 15 Jahre nach dem Fall der Mauer entlang der Ländergrenzen von Bayern, Hessen und Thüringen; der 400 Seiten starke Reisebericht umfasst also nur das südliche Drittel der früheren innerdeutschen Grenze. Scherzer, 1951 in Dresden geboren, hat Journalistik in Leipzig studiert, wurde wegen kritischer Reportagen jedoch exmatrikuliert und arbeitete in der DDR dann als Zeitungsredakteur in Suhl. Bekannt wurde Scherzer durch seine Langzeitreportage Der Erste, bei der er den 1. Sekretär einer SED-Kreisleitung vier Wochen lang begleitete und die in der Endzeit der DDR eine Auflage von über 100 000 Stück erlebte.27 Scherzers Reisebericht kann primär nicht als Wanderung in die Fremde untersucht werden, der Suhler Journalist porträtiert vielmehr eine Gegend und ihre Bewohner, die ihm seit Jahrzehnten eng vertraut sind und die er – die ehemalige innerdeutsche Grenze nördlich nicht weiterverfolgend – auch nicht verlässt. Bereits 1971 hatte er als sein erstes Buch ein Porträt jener Gegend, Südthüringer Panorama,28 vorgelegt, das ganz idealistisch die DDR-Aufbauarbeit dokumentieren will und die Arbeit des Schriftstellers als Teil dieses Aufbauwerks versteht. Dies zeigen Schilderungen an, die sowohl den sozialen Wandel und allgemeinen Wohlstand belegen sollen – „Die Gewehrmacher von 1969 sitzen nämlich nicht mehr rußverschmiert in Lederschürzen bei dünnem Bier und gesalzenen Kartoffeln. Sie gehen im guten Anzug zu gespicktem Hirschrücken, Schlemmerschnitte und Zigeunertoast.“29 – als auch das neue, materialistische Menschen 

Erfahrungen mit der Fremdenpolizei an die Seite stellen.“ (Leopold Federmair, „Sprachspiel und Interkulturalität“, in: Weimarer Beiträge 53/2007, 3, S. 412–426, hier S. 414) 26 Gerhard Müller, „Der ‚Besserwessi‘ und die ‚innere Mauer‘. Anmerkungen zum Sprachgebrauch im vereinigten Deutschland“, in: Muttersprache 2/1994, S. 118–136, hier S. 130. 27 Landolf Scherzer, Der Erste. Eine Reportage aus der DDR, Rudolstadt 1988/Köln 1989. 28 Landolf Scherzer, Südthüringer Panorama. Merk-Würdiges zwischen Rennsteig und Rhön, Rudolstadt 1971. 29 Ebd., S. 43.

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bild ausformulieren, wenn von „Menschenmachern“30 oder „Menschenaugenmachern“31 die Rede ist. Die Beherrschbarkeit der Materie, sei es bei Holzfällern – „Die fünf Männer schneiden mit der schwedischen Säge wie mit einem Kuchenmesser.“32 – oder Industriearbeiterinnen – „Sie erklärt mir, wie lebendig der Stahl ist, wie wandelbar seine Kristalle sind.“33 –, wird in immer neuen Variationen euphorisch in poetische Sprache übersetzt. Scherzers Südthüringer Panorama ist folglich auch als Dokument zu lesen, wie unter der Bedingung von Zensur ein strafversetzter, staatskritischer Autor um seine Rolle im scheinbar alles umfassenden ‚Aufbau‘-Prozess des SED-Staates ringt.34 Das vermeintlich rückständige Wandergebiet um Rennsteig und Rhön, die „autonome Gebirgsrepublik“,35 wird als Raum eines erwachten sozialistischen, progressiven Bewusstseins neu kartographiert. Der Autor spart dabei die ideologisch scharfe Ost-WestKontrastierung nicht aus.36 Unterbleiben müssen dagegen nähere Grenzerkundungen, die in der DDR streng verboten waren.37 Erst vor diesem Hintergrund kann Scherzers Reisebericht Der Grenz-Gänger verstanden werden, der mit dem Zusammenbruch der DDR die Verlusterfahrung eines sozialistischen Selbstbewusstseins transparent werden lässt und zugleich die Legitimität des Stolzes auf das in der DDR Erreichte betont. Mit anderen Worten: Scherzer hat aufgrund seiner journalistischen Biographie jene Sprachrevolte zu bewältigen, die Kreutzkamp immer wieder lediglich ironisch zitiert.

30 Ebd., S. 55. 31 Ebd., S. 124. 32 Ebd., S. 10. 33 Ebd., S. 180. 34 „So sollte Reiseliteratur in der DDR den ‚sozialistischen Patriotismus‘ und den ‚Internationalismus‘ […] fördern und durch Aufdecken von Gemeinsamkeiten der sozialistischen Bruderländer zur sozialistischen ökonomischen Integration beitragen.“ (Sauder, „Formen gegenwärtiger Reiseliteratur“, S. 564) 35 So Scherzer ironisch über seine Zwangsversetzung nach Suhl. „Wirklichkeit beschreiben – Ein Gespräch mit Landolf Scherzer von Kai Agthe“, in: Das Blättchen. Zweiwochenschrift für Politik, Kunst und Wissenschaft Nr. 9, 2. Mai 2011 (http://das-blaettchen.de/2011/04/wirklichkeit-be schreiben-ein-gespraech-mit-landolf-scherzer-4582.html [Stand: 17.05.2012]). 36 Am Ende der Reise kehrt der Wanderer von den „jungfräulichen weißen wiesen“ an seinen Schreibtisch zurück und berichtet von den Meldungen des Tages: „los angeles. der stabschef des usa-heeres, general westmoreland, hat sich strikt für den verbleib der amerikanischen truppen eingesetzt. dresden. wie auf einer pressekonferenz der interflug mitgeteilt wurde, kann 1970 der direktflugverkehr dresden-moskau aufgenommen werden. die flugzeit beträgt drei stunden. neuhaus. die jugendlichen des röhrenwerkes ‚anna seghers‘ sparten durch gute arbeit im letzten monat 80000 mark materialkosten ein […].“ (Scherzer, Südthüringer Panorama, S. 185) 37 „In der DDR war es der Zivilbevölkerung streng verboten, die Grenze aus der Nähe zu betrachten oder gar zu fotografieren.“ (Ullrich, Geteilte Ansichten, S. 25)

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In seinem Reisebericht lässt Scherzer den Gesprächen mit den Bewohnern des früheren Grenzgebiets breiten Raum, widmet vor allem sozialkritischen Beobachtungen sein Augenmerk, führt sogar an Schulen Umfragen mittels vorbereiteter Fragebögen durch, die im Buch ausgewertet werden. Der für dokumentarische Literatur charakteristische Anspruch von Wissenschaftlichkeit scheint auf.38 Unverkennbar ist eine enge Anlehnung an den sozialistischen Reportagestil, der in der DDR der 60er und 70er Jahre in der journalistischen Erziehung forciert wurde. Das emotional bewegende Arrangement von Fakten und eine politische Erziehung des Lesers kennzeichnen den Reisebericht. Der Name und häufig sogar die Anschrift der von Scherzer Interviewten werden den Lesern bekannt gemacht.39 Meist sind es die Biographien älterer Menschen, denen sein Interesse gilt. Als Beispiel sei hier Ingrid Meikath aus Föritz genannt: Ingrid Meikath ist jetzt fünfundfünfzig. Sie hat Werkzeugmacher mit Abitur in Sonneberg gelernt und an der Ingenieurschule in Schmalkalden studiert. Nach einer Restauratorenausbildung hat sie in der VVB Spielwaren in Sonneberg gearbeitet. Von 1986 bis 1989 war sie Redakteurin der Betriebszeitung ‚Sonni-Expreß‘. Danach betrieb sie eine eigene Restauratorenwerkstatt und war schließlich freie Raumgestalterin bei einer westdeutschen Möbelfirma. Seit der Jahrtausendwende war sie dann ohne Job. „Mit einundfünfzig kriegst du als Frau in diesem Land keine Stelle mehr. Aber ich konnte nicht untätig sein. Und als ein Freund mir sagte, daß er seine Gedichte nur veröffentlichen kann, wenn er einem Verlag dafür 12 000 DM hinblättert, dachte ich: Diese Abzockerschweine! Ich gründete einen Verlag, und er konnte seine Gedichte, ohne dafür bezahlen zu müssen, herausbringen. Den Verlagsnamen hatte ich zuerst: AMICUS – das Buch als dein Freund.“40  

Scherzer informiert zuerst über die Biographie der Interviewten, dann setzt die Aussage Meikaths ein – in dem Moment, in dem ihre Arbeitslosigkeit thematisiert wird. Scherzer versucht durchaus im Sinne sozialistischer Literatur, keine individuellen Schicksale zu beschreiben, es handelt sich um Typisierungen.

38 Vgl. Hans Joachim Schröder, „Interviewliteratur zum Leben in der DDR. Das narrative Interview als biographisch-soziales Zeugnis zwischen Wissenschaft und Literatur“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 20/1995, 1, S. 67–115, hier S. 76–78. 39 Dies ganz im Sinne der Glaubwürdigkeit des Berichteten: „Die Notwendigkeit, mit ‚Straße und Hausnummer‘ zu arbeiten, den Ort des Geschehens und die Namen der Beteiligten zu nennen, zwang zur faktengebundenen Genauigkeit auch im Detail, weil mindestens die an dem Schauplatz Tätigen beim Wiederlesen der Reportage die Unstimmigkeiten bemerken mußten.“ (Manfred Jäger, „Die Gegenwartsreportage in der DDR als literarisch-publizistische Gebrauchsform“, in: Raoul Hübner/Erhard Schütz [Hrsg.], Literatur als Praxis? Aktualität und Tradition operativen Schreibens, Opladen 1976, S. 96–122, hier S. 110) 40 Landolf Scherzer, Der Grenzgänger, 3. Aufl., Berlin 2010, S. 92.

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Arbeitslosigkeit, Frauen als Verlierer der Wende41 und Perspektivlosigkeit älterer Menschen im ehemaligen Grenzgebiet lassen sich als durchgängige Schemata der vorgestellten Biographien ausmachen. Die Schilderung derartiger Lebensbrüche nach der Wende im Stil des DDR-Journalismus stößt in der Rezeption von Der Grenz-Gänger auch auf heftige Ablehnung.42 Dennoch vermittelt das narrative Interview einen plastischen Eindruck des individuellen Schicksals, so dass Annett Gröschner über Scherzers Wanderbericht davon sprechen kann, „dass man in den stärksten Momenten meint, bei den Leuten mit am Küchentisch zu sitzen“.43 In der Kultursoziologie hat das narrative Interview gerade im Hinblick auf den Umbruch in Ostdeutschland an Bedeutung gewonnen: Mit dem narrativen Interview und besonders mit dem in ihm zutage tretenden Masterplan verfügt der Forscher über ein Instrumentarium, das ihn in die Lage versetzt, Problematisierungen in der Definition der Situation und bei der Wahl von Handlungsalternativen nachzuzeichnen. Darüber hinaus ist es vermittels narrativer Interviews möglich zu untersuchen, wie die Subjekte soziale Transformationen erlebten und wie sie diese bewerten.44

Der von soziologischer Sicht aus als ‚Masterplan‘ qualifizierte Prozess der Bewältigung des biographischen Bruchs nach dem Ende der DDR scheint bei Scherzers Ost-Interviewpartner immer wieder auf: „Ich ahnte, was kommen wird, und dachte: Als Dipl.-Ing. und Dr. hast du, wenn du dich rechtzeitig bewirbst, eine Chance. Der Personalchef von Siemens, ein gewisser Herr Morgenroth, sagte damals: ‚Wir nehmen Sie, Herr Dr. Swieczkowski, aber vorerst nur als Arbeiter.‘ Da schleppte ich fleißig die Kisten zur Qualitätskontrolle, und keiner von den fünfzehn Kollegen sagte: ‚Guten Morgen, Herr Doktor.‘“ Wenig später wurde er Gruppenleiter und danach Angestellter. „Seitdem hätten die Kollegen zu mir als ihrem ostdeutschen Chef am liebsten fünfmal am Tag ‚Guten Morgen, Herr Dr. Sienczkowski‘ gesagt.“ Die Geschäftsleitung war zufrieden mit dem neuen Gruppenleiter.45

41 Interviewsammlungen zum Leben von Frauen stellten in der DDR-Literatur herausragende Beispiele zur Dokumentation weiblichen Selbstverständnisses und biographischer Erfahrungen dar. Erinnert sei nur an Sarah Kirschs Die Pantherfrau. Fünf unfrisierte Erzählungen aus dem Kassettenrecorder von 1973 und Maxie Wanders ‚Klassiker‘ Guten Morgen, du Schöne aus dem Jahr 1977. 42 Vgl. Matthias Biskupek, „Grenzgänger im Visier. Pressekrieg um Landolf Scherzer. Ein Lehrstück in fünf Bataillen“, in: Palmbaum 14/2006, 2, S. 184–189. 43 Annett Gröschner, „‚Irgendwann war alles beschrieben‘. Ost-Reporter. Porträt einer (langsam) aussterbenden Spezies“, in: Non-Fiktion. Arsenal der anderen Gattungen 4/2009, 1, S. 23–41, hier S. 31. 44 Eveline Luutz, „Das narrative Interview und seine Potenzen“, in: Kultursoziologie 1/1992, 2, S. 34–37, hier S. 36. 45 Scherzer, Der Grenz-Gänger, S. 179 f.  

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Hatte sich nach der Wende „die eigene Verunsicherung ins Zentrum der Wahrnehmung“46 geschoben, so wird über den Prozess des Erzählens eine unvermeidliche Bewertung der eigenen Biographie vorgenommen, die Kontinuitäten jenseits des gesellschaftlichen und politischen Umbruchs konstruiert. Dies geschieht im narrativen Interview weitgehend zwanglos: Bei der Erhebung narrativer Interviews geht es dem Interviewer darum sein Gegenüber allmählich zu einem möglichst freien, offenen, spontanen Sprechen zu bewegen, das Interview also in eine Situation zu überführen, die einem zwanglosen Gespräch weitgehend und im Idealfall gleicht.47

Scherzer gerät jedoch buchstäblich an die Grenzen seiner Interviewmethode, wenn er im ‚Westen‘ Gespräche dokumentiert. Einerseits liegen westdeutschen Biographien in der Regel nicht die dramatischen Umbrüche zugrunde, die das Ende der DDR mit sich brachte. Andererseits scheinen Scherzers Interview-Methoden auf den gesellschaftlichen Rahmen des Sozialismus abgestimmt: Einige meiner Gesprächspartner auf den Grenz-Gängen wurden nach der Veröffentlichung ihrer Meinung zu allbekannten Tatsachen von ihren staatlichen oder privaten Arbeitgebern Strafen angedroht bzw. sie haben Abmahnungen erhalten. Das ist meine Schuld, denn ich habe mir immer noch nicht meine DDR-Interviewmethode abgewöhnt. […] Heute könnte ich sie nach Schröder oder Althaus fragen, und jeder würde, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, sehr ausführlich seine Meinung sagen und hinzufügen: „Das können Sie ruhig aufschreiben und meinen Namen auch.“ Ich aber frage statt dessen wie früher immer noch nach ihrer Arbeit in Betrieben und staatlichen Einrichtungen und sollte endlich begreifen, daß sie darüber heute besser nicht sprechen sollten. Denn so frei sind wir nun doch nicht in diesem Land.48

Scherzer kennzeichnet die (subjektiven) Äußerungen der Interviewten als „Meinung zu allbekannten Tatsachen“, also zu wirtschaftlichen und sozialen Missständen im ehemaligen Grenzgebiet, und betont damit einen wichtigen Anspruch seines Reiseberichts als Dokumentationsliteratur, nämlich „Ersatzöffentlichkeit“49 zu schaffen.

46 Matthias Uecker, „Zwei Ansichten? Ost- und Westdeutsche Reportagen zur ‚Wende‘ 1989/90“, in: Clare Flanagan/Stuart Taberner (Hrsg.), 1949/1989. Cultural Perspectives on Division and Unity in East and West, Amsterdam/Atlanta 2000, S. 177–197, hier S. 192. 47 Hans Joachim Schröder, Interviewliteratur zum Leben in der DDR. Zur literarischen, biographischen und sozialgeschichtlichen Bedeutung einer dokumentarischen Gattung, Tübingen 2001, S. 28. 48 Scherzer, Der Grenz-Gänger, S. 265 f. 49 Kerstin E. Reimann, Schreiben nach der Wende – Wende im Schreiben? Literarische Reflexionen nach 1989/90, Würzburg 2008, S. 102.  

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Natürlich „gibt es viele Gründe für die Notwendigkeit, Interviewtexte allgemein mit einer gewissen grundsätzlichen Skepsis zu betrachten […]“50 – das Misstrauen gegenüber dem auch bei Scherzer zweifellos anzutreffenden, (nicht nur) DDR-charakteristischen „Parteilichkeitsprinzip, demzufolge die agitative Intention häufig eine Manipulation oder Selektion der Wirklichkeit zur Folge hatte“51, wird durch stereotype Charakterisierungen der Interviewten gerechtfertigt, die an Diskriminierung grenzen können. Über einen katholischen Priester etwa bekundet Scherzer: „Und lacht wie ein Pole, wenn er auf dem Pferdemarkt ein gutes Geschäft gemacht hat.“52 Derartige Fremd-Zuschreibungen basieren auf einem positiven DDR-Bild, in dem die Einwohner sozialistisch zu Ehrlichkeit und Tüchtigkeit erzogen wurden. In den ausgewählten Interviewpassagen – von 800 Befragten wurden lediglich etwa 100 Personen im Reisebericht dokumentiert53 – scheint dieses positive Bild der Vergangenheit häufig durch, wohingegen die Omnipräsenz der Stasi und ihrer ausgefeilten Überwachungstechnik auffallend wenig erwähnt wird: Lachend erzählt er mir das interessanteste Erlebnis aus den wenigen Wochen, die er hier ist. „Ich bin von einem Ostdeutschen, stellen Sie sich das vor, von einem Ostdeutschen, übers Ohr gehauen worden! Und da habe ich begriffen, die haben’s endlich auch gerafft. Die Einheit ist vollendet.“54

Auch für Scherzer vermittelt das ehemalige Grenzgebiet letztendlich einen sehr widersprüchlichen Charakter. Auch er versucht dies, wie Kreutzkamp, durch umfangreiche Kapiteltitel zu unterstreichen, die jedoch auf Sprachspiele verzichten. Als Beispiel sei hier genannt: Von einem Eishäuser Autolackierer, der seinen richtigen Vater nach über vierzig Jahren in Jugoslawien fand, einem DDR-Hanghuhn, das Siemens-Manager in der Slowakei wurde, und einer Rodacher Männerrunde in einem Kurstadt-Café.55

50 Schröder, „Interviewliteratur zum Leben in der DDR. Das narrative Interview als biographisch-soziales Zeugnis zwischen Wissenschaft und Literatur“, S. 86. 51 Mirko F. Schmidt, „Art. Reportage“, in: Michael Opitz/Michael Hofmann (Hrsg.), Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten, Stuttgart/Weimar 2009, S. 275 f, hier S. 275. 52 Scherzer, Der Grenz-Gänger, S. 373. 53 „Wirklichkeit beschreiben – Ein Gespräch mit Landolf Scherzer von Kai Agthe“. Andress führt zur DDR-Protokollliteratur aus: „Mit dem Anspruch auf Authentizität sind Protokolltexte zwar allgemein der Dokumentarliteratur zuzuordnen, erweitern sie jedoch, indem nicht Faktenmaterial im Vordergrund steht, sondern hauptsächlich aus dem subjektiven Blickwinkel eines Individuums erzählt wird.“ (Bernhard Andress, „‚das Gefühl, mitten in einem riesigen Ozean auf einem kleinen Schiff zu sein‘. Zur DDR-Protokolliteratur während und nach der Wende-Zeit“, in: Colloquia Germanica 27/1994, S. 49–62, hier S. 49) 54 Scherzer, Der Grenz-Gänger, S. 50. 55 Ebd., S. 175.

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Es fällt auf, dass Scherzer auch hier keine Orte, sondern die Biographien der Menschen in den Vordergrund rückt. Wo der Autor sich auf dem Kolonnenweg befindet – nämlich zwischen Hetschbach und Rodach –, rückt in den Hintergrund. Deutlich wird jedoch, dass das DDR-Hanghuhn personifiziert auftritt und der abfällige Assoziationen weckende Begriff (man denke an die Pointen-sichernde Erwähnung von DDR-Sprache bei Kreutzkamp) durch die Siemens-Managerkarriere eine selbstbewusste Aufwertung erfährt. Ferner nimmt Scherzer die Geschichtsläufe des Dritten Reichs mit auf und fügt seinem gesellschaftskritischen Bericht eine historische Tiefendimension hinzu.

3. Reiseziel Sohn – Fred Sellins sentimentalischer Reisebericht Wenn der Vater mit dem Sohn Fred Sellins Buch Wenn der Vater mit dem Sohn. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte erschien 2009 als Reisebericht einer Vater-SohnUnternehmung entlang des früheren Grenzgebiets, das im Titel nur vage als „unbekannte Mitte“ erwähnt wird. Wie an dem nicht ungeschickt gemachten

Abb. 1: Buchcover. Copyright Piper Verlag GmbH, München.

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Buchcover zu erkennen, wird die ehemalige deutsch-deutsche Grenze auch als Grenze zwischen Vater und Sohn inszeniert. Spricht der Untertitel von einem „wir“ – „unsere Wanderung“ –, so signalisiert der Vater als alleiniger Autor, die dokumentarische ‚Lufthoheit‘ über die Reise zu besitzen. Auf dem Titelbild findet sich der Sohn in der ehemaligen DDR angesiedelt, während der Vater den potentiellen Leser entschlossen aus dem Westen anblickt. Die uniforme Wanderausrüstung von Vater und Sohn auf dem Cover, vor allem das blaue Hemd, kann beim anvisierten Leserkreis ostalgische Erinnerungen an die FDJ-Zeit wecken. Mit Claudia Ruschs Meine freie deutsche Jugend56 und Daniel Wiechmanns Immer bereit! Von einem Jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen57 von 2003 und 2004 wurden bereits erfolgreiche DDR-Erinnerungsbücher vorgelegt. Erwartungsgemäß stellt Sellin den Lesern Erinnerungen an die Pionierzeit in Form des Vater-SohnGesprächs auch im positiven Ton vor, das blaue FDJ-Hemd wird als Pioniertraum geschildert.58 Die Pionierzeit bleibt im Gegensatz zu zahlreichen DDR-kritischen Passagen („So sah es in der DDR aus – hellgrau, mittelgrau, dunkelgrau.“59) von ideologischer Distanznahme ausgespart. Die uniforme Bekleidung auf dem Titelbild lässt die 1400 Kilometer-Wanderung also auch als nostalgische Anknüpfung an den idealistischen Pionier- und FDJ-Geist lesbar werden. Der Titel des Buchs dagegen verweist auf den populären, westdeutschen Heinz-Rühmann-Film Wenn der Vater mit dem Sohne von 1955, in dem Ziehvater Teddy Lemke sich dagegen wehrt, den wie einen Sohn geliebten Ulli mit der Mutter nach Amerika gehen zu lassen. In Sellins Reisebericht steht titelgebend die Reiseerfahrung – auch in die DDR-Vergangenheit – in Konkurrenz zur Thematik der Vater-Sohn-Beziehung. Mit 56 Claudia Rusch, Meine freie deutsche Jugend, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2005. 57 Daniel Wiechmann, Immer bereit! Von einem Jungen Pionier, der auszog, das Glück zu suchen, München 2004. 58 „Ich versuche es, für Robin anschaulich zu machen, er soll mich verstehen. Ich erzähle, dass ich es in der Schule zum Beispiel nicht schlimm fand, Pionier zu werden. Die Pionierorganisation war in der DDR eine große Sache, fast jeder Schüler machte da mit. Gleich in der ersten Klasse wurde ich, wie alle meine Mitschüler auch, Jungpionier und bekam einen Ausweis, in dem mein Passbild klebte. Darunter musste ich unterschreiben, wie ein Erwachsener. Mit der Unterschrift versprach ich, ein guter Jungpionier zu sein und nach den Geboten zu handeln. Zehn Gebote gab es, wie in der Bibel. Jungpioniere sollten die Deutsche Demokratische Republik, ihre Eltern und den Frieden lieben, Freundschaft mit den Kindern der Sowjetunion und allen Ländern halten, fleißig, ordentlich und diszipliniert lernen, alle arbeitenden Menschen achten, gute Freunde sein und einander helfen, gern singen, tanzen und spielen, Sport treiben, den Körper sauber und gesund halten […]. Die älteren Schüler waren in der FDJ, der Jugendorganisation, trugen blaue Hemden, ohne Halstuch, und ich wollte auch gern älter sein.“ (Fred Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn. Unsere Wanderung durch Deutschlands unbekannte Mitte, 2. Aufl., München 2010, S. 72) 59 Ebd., S. 57.

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dem Ende der Wanderung werden sich Fred und Robin Sellin trennen. Der Sohn zieht aus der väterlichen Wohnung aus, beginnt sein Studium in Amerika. Die Grenze, die hier abgewandert werden soll, ist vor allem eine biographische, das Ende der engen Vater-Sohn-Beziehung. Zugleich wandern beide zurück in ihre gemeinsame Vergangenheit. Das Inhaltsverzeichnis belegt in großer Nüchternheit die gut sechswöchige Reise allein durch Tagesdatum und Zielort der Wanderung, so dass geradezu der Eindruck von Dokumentarliteratur erweckt werden soll – und damit zugleich auch auf „ein verringertes Maß an ästhetischem Gehalt“60 des Reiseberichts verwiesen wird. Die Authentizität des aufgeführten Wanderprogramms – teilweise bis zu 40 Kilometer Tagesleistung mit Laptop und Büchern im Rucksack des als ungeübt dargestellten Duos – darf hingegen bezweifelt werden. Im Gegensatz zu Kreutzkamp vermittelt Sellin nicht den Eindruck faszinierender Landschaften im ehemaligen Grenzgebiet. Narrative Strategien, die Begegnungen mit Einheimischen zu Gesprächen mit skurrilen Hinterwäldlern auszugestalten, entbehren nicht der Fragwürdigkeit, münden des Öfteren in fast zynischer Komik. Letztendlich legen sie damit auch von der sprachlichen – zumindest journalistischen – Unfähigkeit des Reiseberichterstatters Zeugnis ab: Kaum haben wir das Grundstück betreten, schiebt sich eine hagere Gestalt aus dem Haus. Misstrauische, böse Blicke. Der Mann, der wahrscheinlich älter aussieht, als er ist, hat eine von diesen seltsam gemusterten weiten Baumwollhosen mit Gummizug an, die man auch an Bodybuildern sieht. Sein Gesicht ist von Falten zerfurcht. Er trägt eine Brille mit starken Gläsern. Seine Vorderzähne sind braun, zwei fehlen. „Leben Sie hier?“, frage ich. „Wonach sieht es denn aus?“, erwidert er. „Ist bestimmt einsam.“ „Mmmh.“ „Wird der Hof noch bewirtschaftet?“ „Ja.“ „Und wie war das früher hier, als die Grenze noch stand?“ „Wie soll’s gewesen sein? Auch nicht viel anders.“ Der Kerl ist spröde wie ein verwitterter Sandstein.61

Der unvermittelte Gesprächsbeginn ohne konventionellem Gruß oder freundlicher Vorstellung der Wanderer, der dem Betreten des fremden Grundstücks folgt, wirkt umso unverständlicher, da der Gesprächspartner bedrohlich durch HexenStereotype (hagere Gestalt, böser Blick, fehlende Vorderzähne) und ‚Prekariats‘Stereotype (Bodybuilder-Aggression, frühzeitiger körperlicher Verfall, Spracharmut) beschrieben wird. Ob es sich bei den Unterstellungen Sellins nicht seiner-

60 Schröder, Interviewliteratur zum Leben in der DDR, S. 16. 61 Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn, S. 137.

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seits um böswillige Projektionen handelt, kann nicht überprüft werden. Das „Problem der Klassifikation, der ‚Übersetzung‘ und der Aufzeichnung“62 von Fremdheitserfahrungen auf Reisen wird hier überdeutlich. In städtischen Randgebieten Einwohner mit geringem Einkommen auf derart unvermittelte Weise nach ihren Lebensbedingungen zu fragen, erschiene den meisten Reisenden absurd und irrational; Sellins journalistisches Vorgehen erhält jedoch im Kontext eines Reiseberichts den Charakter einer inszenierten Begegnung mit dem Fremden – unter dem Vorzeichen der Ungleichzeitigkeit von rückständiger agrarischer Bevölkerung und global vernetzter, dynamischer Bildungs(ober)schicht. Die zweifellos beabsichtige „Darstellung sozio-kultureller Andersartigkeit“63 greift auf die Dichotomisierung von Eigenem und Fremdem zurück, um sich über die Rückständigkeit der vorgefundenen Region der eigenen Fortschrittlichkeit zu versichern: Solche Rudimente und Rückständigkeiten können ein Fremdheitspotential auch innerhalb einer Region, einer Gesellschaft und einer Kultur konstituieren. Das Fremde wird hier durch temporale Diskrepanzen markiert, die aber spatial manifest werden.64

Die an Voyeurismus grenzende Begegnung mit dem zurückgezogen lebenden Kleinbauern unterscheidet sich gegenüber einer Begegnung mit städtischen ‚Unterschichten‘ folglich allein dadurch, dass es dem Kleinbauern nicht gelungen ist, sich von seinen traditionellen Lebensgewohnheiten zu lösen. Brach der Reiseberichterstatter in den Westen auf und sein Sohn reist – dem Beispiel des Vaters folgend – weiter in Richtung Amerika, so kann an der ehemaligen Mauer die regionale Welt einer von der Globalisierung scheinbar vergessenen Bevölkerung bestaunt werden. Dem Vitalismus der Wanderer steht das totengleiche Leben der Einwohner antagonistisch gegenüber: „Vor uns die Schlucht grau schimmernder Häuser. Sie sehen aus wie Grabsteine, die zu groß geraten sind.“65 Der Eroberer-Gestus, den Sellin schon beim oben zitierten Betreten des BauernGrundstücks an den Tag legte, drängt sich zusehends in den Vordergrund: „Das Erobern ist wichtig geworden, wichtiger als das Kennenlernen. Wir lassen Orte

62 Andreas Hartmann, „Reisen und Aufschreiben“, in: Hermann Bausinger u.a. (Hrsg.), Reisekultur. Von der Pilgerfahrt zum modernen Tourismus, München 1999, S. 152–159, hier S. 159. 63 Michael Harbsmeier, „Reisebeschreibungen als mentalitätsgeschichtliche Quellen: Überlegungen zu einer historisch-anthropologischen Untersuchung frühneuzeitlicher deutscher Reisebeschreibungen“, in: Antoni Mączak/Hans Jürgen Teuteberg (Hrsg.), Reiseberichte als Quellen europäischer Kulturgeschichte. Aufgaben und Möglichkeiten der historischen Reiseforschung, Wolfenbüttel 1981, S. 1–31, hier S. 15. 64 Peter J. Brenner, „Die Erfahrung der Fremde. Zur Entwicklung einer Wahrnehmungsform in der Geschichte des Reiseberichts“, in: Ders. (Hrsg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur, Frankfurt am Main 1989, S. 14–49, hier S. 26. 65 Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn, S. 50.

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aus und Menschen unangesprochen.“66 Die dichotomische Denkweise einer Fremdsetzung der vorgefundenen regionalen Kultur mündet als „ein europäischer Idealtypus“67 in der aus kulturwissenschaftlicher Sicht schockierend naiven Bejahung eines Herrschaftsgebarens im Vertrauen auf die eigene Kraft. Die Konquistadoren-Identität, die sich für das vermeintlich Fremde nicht mehr interessiert, weil es – unter Umständen – zu sehr die eigene Identität der Vergangenheit betrifft („Wir lebten wie unter einer großen Glocke.“68), inszeniert Sellin bis ins Detail, wenn etwa aus nicht ersichtlichen Gründen ein verfallenes Schulhaus ‚eingenommen‘ wird: Um auf das Grundstück zu gelangen, müssen wir drei Betonstufen hinauf. Zum Glück sind wir gewarnt. Direkt dahinter klafft ein Loch in der Erde, tief genug, sich das Genick zu brechen. Wir klettern über eine Baumwurzel, dann über alte Holzbalken und Bretter, mit Sand und Pflastersteinen gefüllte Plastikeimer, Holzsteigen, Kochtöpfe und allerlei Bauschutt. Irgendwie schaffen wir es über dieses Schlachtfeld.69

Die lustvolle Schilderung der vermeintlich abenteuerlichen Begehung der Schulruine, die an Kinderspiele erinnert, mag symptomatisch für die Erzählhaltung Sellins stehen, der die eigene biographische DDR-Vergangenheit und ihre ruinöse Hinterlassenschaft überwunden, ja als Fremdes abgespalten hat. Die Reiselandschaft kann folglich in der Haltung des geschichtlichen Siegers inspiziert und in Beschlag genommen werden. In der Bild-Zeitung durfte Sellin sein Buch verkaufsträchtig unter der Artikelüberschrift „Reiseziel Sohn“70 selbst vorstellen und dabei darauf hinweisen, dass die ehemalige innerdeutsche Grenze bei der Reise nicht die Bedeutung besaß, die das wieder zu animierende Vater-Sohn-Gespräch einnahm. Die Wanderung erscheint rückblickend als geglückt: „Wir sprachen jetzt auch viel mehr miteinander.“71 Unter den Formen gegenwärtiger Reiseliteratur, die Gerhard Sauder differenziert, wäre Sellins Werk zu den „empfindsamen Reisen, die nur noch den Empfindungsanlaß“72 registrieren, zu zählen. Folgender Ausschnitt aus dem Vater-Sohn-Gespräch soll dies verdeutlichen:

66 Ebd., S. 254. 67 Doris Bachmann-Medick, „1 + 1 = 3? Interkulturelle Beziehungen als ‚dritter Raum‘“, in: Weimarer Beiträge 45/1999, 4, S. 518–531, hier S. 519. 68 Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn, S. 73. 69 Ebd., S. 158 f. 70 Bild vom 28.03.2009 (http://www.bild.de/reise/bams/vater/fred-sellin-und-sein-sohn-robineine-wanderung-brachte-sie-zusammen-7801354.bild.html [Stand: 18.05.2012]). 71 Ebd. 72 Gerhard Sauder, „Formen gegenwärtiger Reiseliteratur“, S. 552.  

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„Alle Texte habe ich vergessen. Nur einen nicht…“ „Sing mal!“ „Sehr witzig!“ Ich spreche den Text wie ein Gedicht: „Du stehst vor mir und siehst mich fragend an und hoffst, dass ich vielleicht was ändern kann. Glaub mir, mein Kind, es tut mir ganz bestimmt wie dir so weh. Ein andrer hat nun meinen Platz und wartet, dass ich geh. Sollst von mir alles ganz genau erfahren, sollst wissen, dass wir lange glücklich waren. Vor deinem Bett haben wir uns oft die Zukunft vorgestellt und bauten in Gedanken aus, was uns daran noch fehlt … und so weiter.“ „Scheidung?“ „Mmmh. Das Lied hat der Sänger damals für seine Tochter geschrieben.“ Robin scheint zu grübeln, sagt aber nichts.73

Der ausführlich zitierte Liedtext – es handelt sich um das Lied für Anja der DDRRockband Puhdys – verweigert sich natürlich einer romantischen Wanderliedtradition. Es ist Vergegenwärtigung der gescheiterten Ehe und der verdrängten DDRKultur zugleich. Der Verweis auf das Puhdys-Lied stilisiert die Scheidung auch zum Teil einer dezidiert ostdeutschen Biographie. „Die DDR ist das, wovon Mutti und Vati immer erzählen – dies ist ein Satz für den gesamtdeutschen Nachwuchs“74, fordert Holger Helbig, wovon die zitierte Passage charakteristischerweise nur unterschwellig – durch Anonymisierung des Lieds – Auskunft geben will. Vorgestellt wird einerseits – ohne individuelle Züge – eine Ost-West übergreifende private Erfahrung, das Zitat ruft andererseits jedoch beim ‚Ostleser‘ konkrete Erinnerungen an Musikkonsum in der DDR auf. Der Vater-Sohn-Dialog lässt im Übrigen in seiner parataktischen Konstruiertheit und dem Schwanken zwischen Spracharmut und Verstummen zahlreiche Parallelisierungen zum Dialog mit dem zurückgebliebenen Kleinbauern zu. Mit Peter J. Brenner kann davon gesprochen werden, dass Sellins Reise zu touristischen Erfahrungsberichten gehört, die durch Standardisierung der Wahrnehmung Wahrheiten ausspricht, die „keiner mehr hören will, weil sie jeder schon kennt“.75

4. Der Wessi als beherrschbare Leistungszucht: Andreas Kielings Ein deutscher Wandersommer 2009 wanderte der Tierfilmer Andreas Kieling für die Sender Arte und ZDF entlang der innerdeutschen Grenze. Unter dem Titel Andreas Kieling – Mitten im wilden Deutschland wurde im Oktober und November 2009, also genau zwanzig Jahre 73 Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn, S. 246. 74 Holger Helbig, „Weiterschreiben. Zum literarischen Nachleben der DDR“, in: Ders. (Hrsg.), Weiterschreiben. Zur DDR-Literatur nach dem Ende der DDR, Berlin 2007, S. 1–7, hier S. 6. 75 Brenner, „Die Erfahrung der Fremde“, S. 38.

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nach dem Mauerfall, der Fünfteiler von beiden Sendern ausgestrahlt. „20 Jahre nach dem Mauerfall ist es an der Zeit, eine neu erblühende Landschaft zu entdecken.“, so der Werbeslogan bei Arte.76 Zum Gedenkjahr des Mauerbaus 2011 legte Kieling zusammen mit der Co-Autorin Sabine Wünsch einen Reisebericht in Buchform vor, der sich fast ein halbes Jahr in der Spiegel-Bestsellerliste hielt und zwölf Auflagen in gebundener Form erlebte. Unter dem vielsagenden Titel Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat werden deutsche Kultur und wilde Heimat, Wandersommeridylle und die unmenschliche Anstrengung der großen Entfernung zusammengedacht. Von einer Anspielung auf die Mauer und die DDR-Grenze im Titel ist wiederum nicht die Rede. Das Umschlagbild zeigt den Tierfilmer in moderner Ausrüstung mit seiner Begleitung, der Hannoveranischen Schweißhündin Cleo. Die ehemalige innerdeutsche Grenze wird skizzenhaft als Wanderweg zwischen Kieling und Hund graphisch eingepasst, somit als Grenzbereich von Mensch und Natur neu gedacht. Der nachdenklich blickende Kieling ist mit beiden Beinen trittfest im Westen unterwegs, während der Schweißhund im Osten leichtfüßig vorwärts drängt.

Abb. 2: Buchcover. Copyright Piper Verlag GmbH, München.

76 http://www.arte.tv/de/2816758,CmC=2900940.html (Stand: 18.05.2012).

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Dies belegt auch folgende konzeptionelle Änderung gegenüber der TV-Ausstrahlung: Hatte die Fernsehsendung noch einen Bericht über das geteilte Berlin umfasst, so wurde für das Buch das städtische Umfeld gestrichen. Die Kapitel sind nach den großen Naturschutzgebieten eingeteilt, die der Reisende durchquert: „Vom Dreiländereck durch den Frankenwald“, „Durch den Thüringer Wald“, „Von der Rhön zum Eichsfeld“, „Vom Harz Richtung Elbe“ und schließlich „Von der Elbe an die Ostsee“. Unterbrochen werden die ausführlichen Naturbeschreibungen signifikanterweise aber von einem Exkurs zur Kindheit Kielings in der DDR und seiner Flucht in den Westen, die ihm als noch Minderjährigen allein über die tschechoslowakisch-österreichische Grenze gelang. In Interviews wirbt Kieling mit seinem biographischen Hintergrund – teilweise reißerisch („Mit Streckschuss im Rücken durch den Fluss“77) – für sein Wanderprojekt. Bezeichnend für Kieling ist auch, dass er den erinnerten DDR-Militarismus (vor allem seine Ausbildung in der Gesellschaft für Sport und Technik) für seinen Lebensweg als positiv bewertet. Der „Wandersommer“ wird im Kontext militärischer Ertüchtigung angesiedelt: „In allem steckt auch etwas Gutes. Der vormilitärische Drill an der Schule und in der GST hatte mir, abgesehen von bestimmten Fähigkeiten und Kenntnissen, Sicherheit gegeben, eine gewisse Souveränität.“78 Neben einzelnen Begegnungen und Gesprächen mit Bewohnern des früheren Grenzgebiets, deren einprägsame Namen den Unterkapiteln Titel verleihen („Karpfen-Klaus“79, die „schöne Försterin“80 und „Brocken-Benno“81), stehen kurze historische Exkurse, in denen die populärwissenschaftlich-didaktischen Absichten bei Kieling in den Vordergrund treten. Naturwissen und Naturschutzdenken soll den Lesern auf bekömmliche Weise vermittelt werden. Daneben sollen sie zur eigenen Tier- und Pflanzenbeobachtung angeleitet werden. Wie Sellin seinen Sohn zum wichtigen Dialog- und Reisepartner des Berichts aufbaut, so scheut Kieling nicht davor zurück, umfangreiche Passagen des Buches der Jagdhündin Cleo zu widmen, einem Schweißhund, was im früheren Grenzund Sperrgebiet auch makabre Assoziationen zu wecken vermag. Ein Teil des Bucherfolgs kann den Tiergeschichten um Cleo zugeschrieben werden, die als eingestreute Anekdoten durchaus der Kinder- und Jugendliteratur zuzuordnen

77 Focus, 30.10.2009 (http://www.focus.de/politik/deutschland/20-jahre-wende/tid-16024/ddrflucht-mit-steckschuss-im-ruecken-durch-den-fluss_aid_449447.html [Stand: 10.05.2012]). 78 Andreas Kieling mit Sabine Wünsch, Ein deutscher Wandersommer. 1400 Kilometer durch unsere wilde Heimat, München 2011, S. 65. 79 Ebd., S. 80. 80 Ebd., S. 94 81 Ebd., S. 227.

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sind.82 Cleo plündert etwa einen Pralinenladen und sorgt für Wirbel im Kuhstall, ausgerechnet in Mödlareuth, wo die Mauer mitten durch den Ort ging und das als „Little Berlin“ bekannt wurde: Cleo ist also bildhübsch. Jeder, der sie sieht, schmilzt dahin, und so hat sie uns auf der Wanderung Türen, Tore, Höfe und Herzen geöffnet. Einmal allerdings, in Mödlareuth, hat Cleo uns ein Tor verschlossen. Als wir dort ankamen, ging Cleo frei bei Fuß, und ich war mit Fotografieren beschäftigt, weil ich viel von dem Dorf gehört und darüber gelesen hatte, und es mich sehr interessierte. Urplötzlich zischte Cleo los, und da erst bemerkte ich die Katze.83

Die Kuhstall-Episode um Cleo nimmt mehr Platz ein als die Vorstellung der historischen Vergangenheit und die Reisebeschreibung der Gegenwart des Ortes, ohne dass der Reisebericht explizit einen kindlichen oder jugendlichen Leserkreis anstrebt. Der Hund fungiert dabei auch keineswegs als trivialer Gesprächspartner. So spricht der Reisende seine Hündin auch direkt an: „‚Cleo, wir brauchen kein Mallorca, kein Gran Canaria, kein Mittelmeer. Hier ist es schön. Mensch, Deutschland, was bist du wieder schön …‘, sagte ich ein ums andere Mal.“84 Der Ansprechpartner wechselt hier vom Hund zum Heimatland. Das ehemalige Grenzgebiet, das von mehr als einer Million Minen geräumt ist,85 erschließt Kieling kulinarisch, indem er aus genießerischer Warte deutsche Wälder mediterranem Ambiente vorzieht. Es wird nicht überraschen, wenn die herausragende Eigenschaft der Hündin Cleo ebenfalls ihre Schönheit ist: So „schön war sie – und ist es heute noch“86, konstatiert der Autor bei ihrem ersten Anblick. Problematischer sind hingegen die weiteren Eigenschaften des Hundes, die symptomatisch für die fragwürdigen Deutschland-Projektionen des Textes sind: Der Hannoversche Schweißhund, wie der Name schon sagt eine urdeutsche und außerdem eine der seltensten Hunderassen der Welt, wird eigentlich nur an Berufsjäger und Forstbeamte abgegeben, da er eine Leistungszucht ist und entsprechend gefordert werden muss. Die Rasse wird seit über 2000 (!) Jahren dazu gezüchtet, Fährten zu verfolgen und Tiere aufzuspüren. Früher wurde er auch bei der herrschaftlichen Jagd eingesetzt, heute ist seine Aufgabe in erster Linie, kranke, geschossene oder, was immer häufiger vorkommt, von

82 „Im 20. Jh. wurde die von moralisierenden Tendenzen freie Tiergeschichte zu einer der umfangreichsten Gattungen der Jugendliteratur. Sie bewahrt z.T. noch den Charakter einer vermenschlichenden Erzählung […], teilweise rückt sie auch im Gefolge ausländischer Vorbilder in die Nähe rein naturkundlicher Beobachtung […].“ (Elisabeth Frenzel, Art. „Jugendliteratur“, in: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte, 2. Aufl., Erster Bd.: A–K, Berlin 1958, S. 770–781, hier S. 776 f.) 83 Kieling mit Wünsch, Ein deutscher Wandersommer, S. 39. 84 Ebd., S. 263. 85 Vgl. Edgar Wolfrum, Die Mauer. Geschichte einer Teilung, München 2009, S. 156. 86 Kieling mit Wünsch, Ein deutscher Wandersommer, S. 35.  

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Autos angefahrene Tiere zu finden oder zu stellen, damit der Berufsjäger sie von ihrem Leiden erlösen kann. Der Hannoversche Schweißhund hat keine bessere Nase als beispielsweise der Schäferhund, aber von allen Hunderassen die größte Konzentrationsfähigkeit. Er kann eine Fährte sogar über mehrere Tage hinweg verfolgen. Ich bin manchmal erstaunt, was Cleo so alles an Gerüchen aus der Luft filtert.87

Die Eigenschaften des Hundes verweisen auf Eigenschaften, die auch in einer menschlichen Gesellschaft mit hohem Selektionsdruck erforderlich sind: Leistungsfähigkeit, Erkenntnis des Schwachen, Ausdauer. Die Anthropomorphismen der Hundebeschreibung veranschaulichen, dass Kieling den Hund anhand von Kriterien wählte, wie sie häufig erfolgsorientierten Westdeutschen im Gegensatz zu sozialistisch erzogenen Ostdeutschen zugeschrieben werden.88 Als ‚westliche‘ Leistungszucht ist die Hündin ihrem Herrn nicht nur zugewiesen, das Zusammenwachsen von Ost und West findet in der Einheit von Mensch und ‚urdeutschem‘ Tier eine biologische Grundierung. Zugleich schreiben sich Führer von Schweißhunden selbst eine elitäre Position innerhalb der Jagdgesellschaft zu.89 Die physische Leistungsfähigkeit des Tieres erfordert ein adäquates menschliches Gegenüber. An einer Stelle in seinem neuesten Werk vergleicht Kieling gar seine Männlichkeit mit der eines Gamsbocks und legt eine Psychologisierung des Mensch-Tier-Verhältnisses selbst noch deutlicher nahe.90 „Geschichten und Gedichte über Hunde verraten mindestens soviel über den Menschen wie über seinen vierfüßigen Begleiter“91, darauf gilt es aus literaturwissenschaftlicher Perspektive hinzuweisen. Bereits Eckhard Henscheid hatte 1997 provozierend zum Nachdenken über eine Gesellschaft angeregt, in der Tiere als willkommene Pro-

87 Ebd., S. 33. 88 Der FCI-Standard Nr. 213 (Fédération Cynologique Internationale) gibt den Charakter des Hannoverschen Schweißhundes dagegen wie folgt wieder: „Ruhige und sichere Wesensart, dabei empfindsam gegenüber seinem Führer und wählerisch – zurückhaltend gegenüber Fremden. Hohe Konzentrationsfähigkeit bei der jagdlichen Nachsuchenarbeit mit ausgeprägter Meutebeziehung zum führenden Jäger.“ (http://www.fci.be/uploaded_files/213d99_de.doc [Stand: 10.07.2012]) 89 Dies häufig historisch begründet: „Die Führer von Leithunden waren mit die wichtigsten Jäger bei Hofe. Von Ihnen und Ihrem Können bei der Führung der Leithunde hing maßgeblich der Jagderfolg ab.“ (http://www.verein-hirschmann.de/hannoverscher_schweisshund.html [Stand 10.07.2012]) 90 „Ist der fit, der Junge, dachte ich, ist ja unglaublich. Mir hinge nach einer solchen Aktion die Zunge bis zu den Knien, und der atmete nicht mal schwer! Da gehen einem als Mann seltsame Dinge durch den Kopf, mir zumindest.“ (Andreas Kieling mit Sabine Wünsch, Durchs wilde Deutschland. Von den Alpen bis zum Wattenmeer, München 2012, S. 15) 91 Dorothee Römhild, „[Rez.] Das Hunde-Buch. Geschichten und Gedichte“, in: Deutsche Bücher XXVII/1997, 3, S. 241–243, hier S. 242.

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jektionsfläche menschlicher Bedürfnisse dienen.92 Die Hündin stellt bei Kieling eine jahrhundertealte „urdeutsche“ Züchtung dar, in ihr werden Konzepte einer Essentialisierung von deutscher Kultur unbedenklich ausgesprochen, sie zeigt die zivilisatorische Bezwingung und Kultivierung der wilden Natur durch den (deutschen) Menschen an.

III. Das ehemalige Grenzgebiet als „dritter Raum“? Innerdeutsche Erfahrungen als interkulturelle Erfahrung Die vorgestellten Reiseberichte inszenieren das frühere Grenzgebiet im Rückgriff auf Dichotomisierungen – von West und Ost (Scherzers DDR-Biographien im narrativen Interview), der Ungleichzeitigkeit von „unbekannter Mitte“ und fortschreitender Zivilisation (Sellin), „wilder Heimat“ und modernem Wirtschaftsland (Kieling), geschichtsträchtiger Vergangenheit und touristisch attraktiver Gegenwart (Kreutzkamp). Es liegt hier nahe, Homi K. Bhabas interkulturelle Konzeption eines „Dritten Raumes“ für die Grenzregion rund zwanzig Jahre nach der Wende fruchtbar zu machen: „The non-synchronous temporality of global and national cultures opens up a cultural space – a third space – where the negotiation of incommensurable differences creates a tension peculiar to borderline existences.“93 Welche Spannungen rufen die unvereinbaren Differenzen in den beschriebenen Reiseberichten hervor und wie werden sie ausgehandelt? Scherzers Titel Der Grenz-Gänger bezeichnet nicht allein den Autor, der Grenzgänger wird als Typus vorgestellt: Ein an der Grenze zwischen Ost und West, Gegenwart und Vergangenheit lebender Grenzlandbewohner, der nicht selten aus beruflichen Gründen zwischen den Ost-West-Welten wechselt, pendelt, ausreißt und/oder zurückkehrt. Über die in seiner Biographie angelegten Differenzen zwischen sozialistischer Identität und kapitalistischem Gesellschaftssystem gibt Scherzer ein beredtes Beispiel: Erst als ich aus dem Wald herauskomme, öffnet sich unter mir der weite Blick in das Land. Henneberg. Hermannsfeld und leuchtend weiß mit rot gedecktem Dach das renovierte Jagdschloß Fasanerie. Mitten zwischen den Äckern und Wiesen steht auf dem Hügel ein Grenzbeobachtungsturm, der von einem großen Kreuz überragt wird. Auf dem Weg zum Hügel entdecke ich einen alten Granitgrenzstein mit der Aufschrift ‚DDR‘. Er ist zwar schon einen

92 Vgl. Sentimentale Tiergeschichten. Eine Anthologie, Eckhard Henscheid (Hrsg.), Stuttgart 1997. 93 Homi K. Bhaba, The Location of Culture, with a new preface by the author, London/New York 2004, S. 312.

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Viertelmeter tief ausgegraben, aber sosehr ich auch daran rüttele, er bewegt sich nicht. Neben ihm liegt – ich ertappe mich, daß ich allein in der Einsamkeit laut zu lachen beginne – ein abgebrochener Spaten.94

Scherzer skizziert seine Einsamkeit erzählerisch vor dem Hintergrund eines wiedererstarkten Feudalismus (das renovierte „Jagdschloß“) und der triumphierenden religiösen Heils- und Jenseitsversprechungen (das den Grenzbeobachtungsturm überragende Kreuz). Der lachende Autor in der ehemaligen Grenzlandschaft ertappt sich selbst bei der Freude über den DDR-Grenzstein, der nicht zum Verschwinden gebracht werden kann. Das Aushandeln der nicht negierbaren Differenzen betrachtet Scherzer als journalistische Aufgabe: „Aber indem wir über die Widersprüche reden zwischen Osten und Westen, vereinigen wir uns. Ohne aber darüber zu reden, glaube ich, bleibt es schwierig.“95 Bachmann-Medick deutet solche Erfahrungsprozesse wie folgt: Das Eigene und das Fremde werden nicht mehr länger als Entgegensetzung erlebt, sondern durch die Erfahrung mehrfacher kultureller Zugehörigkeiten und gebrochener Identitäten reichen Andersheit und Verfremdung unmittelbar in die Selbsterfahrung hinein […].96

Der 1964 in Wittenberg geborene Fred Sellin hat fast die Hälfte seines Lebens im vereinigten Deutschland verbracht. Sein lediglich privater Blick auf die ehemalige Grenze findet im Wiedervereinigungsglück des Reisebericht-Endes den sprechenden Ausdruck: Der letzte Wegweiser versteckt sich gut zwischen Gräsern und Büschen. Ein Felsstein: ‚Nie wieder geteilt.‘ Das Land ist gemeint, aber wir sind maßlos und beziehen es auch auf uns. Heute dürfen wir das mal. Gleich dahinter die Düne und ein schmaler Weg und weicher Sand. Das Wellenrauschen hören wir schon. Die letzten Schritte. So langsam wie noch nie. […] Zuerst landen die Rucksäcke im Sand. Einen Moment zögern wir. Dann umschlingen sich unsere Arme. Und ich denke: Kann man jemand intensiver spüren als sein eigenes Kind? ‚Danke!‘, flüstere ich Robin ins Ohr und halte ihn noch fester. Er soll nicht sehen, dass ich weine.97

Es wird deutlich, dass Sellin unverzagt die ehemalige Mauer zum Symbol jedweder zwischenmenschlichen Trennung, sei es Scheidung oder Beziehungsende,

94 Scherzer, Der Grenz-Gänger, S. 282. 95 Landolf Scherzer, Grenzgänger. Mitschrift eines Vortrags, gehalten am 26. Juni 2007 im Rathausfestsaal Erfurt, S. 3 (www2.uni-erfurt.de/soziales/docs/vortrag_scherzer.doc [Stand: 14.05. 2012]). 96 Bachmann-Medick, „1 + 1 = 3?“, S. 521. 97 Sellin, Wenn der Vater mit dem Sohn, S. 320.

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stilisiert. Damit unterzieht er die waffenstarrende Systemkonfrontation der Nachkriegszeit einer unbekümmerten Banalisierung. Der Konquistadoreninszenierung der Wanderschaft entspricht in vielerlei Hinsicht die Vereinnahmung des Sohnes, der im Reisebericht denn auch – wenig überraschend – zum Vater sagen darf: „Dort, wo du bist, ist mein Zuhause.“98 In diesen Vereinnahmungsstrategien wird kein dritter Raum erschlossen, vielmehr wird die Reise entlang der ehemaligen Mauer ganz bewusst zur Reise in eine Fremde, die Sellin bereits vor Antritt der Wanderung hinter sich gelassen hat. Die Konzeption eines Dritten Raumes als „eine spezifische Existenzform der Selbstverfremdung durch Migration“99 macht Sellins eigene deutsch-deutsche Identität als hybrid sichtbar. Jedoch lässt die vor Diffamierungen nicht zurückschreckende Schilderung der Grenzlandbewohner das Fortbestehen der Mauer, die eigene DDR-Vergangenheit als das nun in der konfrontierenden Selbsterfahrung abzulehnende Fremde auf Schritt und Tritt spürbar werden. Kreutzkamp hingegen macht in Mitten durch Deutschland eine neue positive Grenze ausfindig, die das Grüne Band als Naturreservat betrifft: Ein Biosphärenreservat hat das Ziel, einen Lebensraum zu bewahren, der als Modellregion repräsentativ und international von Bedeutung ist. „Die Beziehung des Menschen zur Natur war bisher in der Regel ein Kampf gegen deren Grenzen. Und seine ‚Siege‘, wenn er sich die Natur untertan machte, hätten ihn in eine existenzbedrohliche globale Krise geführt“, sagt Mönke. „Deshalb müssen wir unsere zukünftigen Bemühungen konsequent auf die Akzeptanz dieser Grenzen ausrichten.“ Der Biologe und Zoologe Rainer Mönke, der zehn Jahre lang für die DDR auf Forschungsschiffen über die Weltmeere fuhr und 18 Monate auf einer russischen Forschungsstation in der Antarktis arbeitete, war am Schalsee ein Mann der ersten Stunde.100

Subtil werden hier die Naturgrenze und DDR-Biographie zusammengeführt. Mönke, der von der DDR geprägte Wissenschaftler, ist auch nach der Wende ein Mann der ersten Stunde, wenn es darum geht, neue Grenzen festzulegen. Hatte Kreutzkamp schon zuvor von den Vorurteilen der Anlieger gesprochen – „Gestern machte sich hier die Stasi breit, heute sind’s die Grünen“101 –, hebt er hier nochmals die schwierige Umbruchphase im Grenzgebiet hervor, wenn Wahrnehmungen wiedergegeben werden, die von strukturellen Konstanten in der Ausübung von Herrschaft und Grenzfestlegungen ausgehen. Bemerkenswert ist dabei, dass Kreutzkamp seinem Reisebericht das Erlebnis des Mauerfalls voran-

98 Ebd., S. 88. 99 Bachmann-Medick, „1 + 1 = 3?“, S. 521. 100 Kreutzkamp, Mitten durch Deutschland, S. 57. 101 Ebd., S. 55.

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stellt: Er selbst befand sich im Herbst 1989 am Chimney Rock in Nebraska, im Südwesten der USA. Tief in den kargen Prärieboden vor mir eingegraben die Spuren Tausender von Ochsen gezogener Planwegen, die 140 Jahre zuvor hier auf dem Oregon Trail in das ‚verheißungsvolle Land‘ im Westen – nach Kalifornien und Oregon – gerollt waren. Fast alles, was die Pioniere besaßen, führten sie mit sich: ihre Familie und ihre Tiere.102

Die Parallelen der Losung „Go West“ zum Aufbruch der DDR-Bürger, die Verschiebung der amerikanischen Frontier als Modell für den Zusammenbruch der Mauer, überführen das Ende des kommunistischen Blocks in amerikanische Deutungshoheit. Nicht zufällig benutzt Kreutzkamp zu Beginn seiner Reise den Begriff amerikanischer Studenten, die vom Grenzgebiet nun als „heritage trail“103 sprechen – Kreutzkamp übersetzt „Weg auf den Spuren des historischen Erbes“,104 wohingegen 1999 die Übersetzung noch lautete: „Der Weg unseres historischen Erbes“.105 Damit unternimmt der Autor den Versuch, die Wiedervereinigung in globale Kontexte einzuordnen – nämlich in die historischen Prozesse einer Expansion ‚westlicher‘ Kultur; deutsche Kultur wird räumlich nicht mehr in Deutschland vorgefunden, sie ist Teil einer die Kontinente überspannenden Kommunikation und Mobilität. Zugleich aktualisiert Kreutzkamp hier unverhüllt und unkritisch die Kolonisierung indianischer Gebiete. Ist es angesichts solcher Analogien dann Zufall, dass im Reisebericht von 2009 die DDR in der Übersetzung nicht mehr als „unser“ historisches Erbe begriffen wird? Andreas Kieling kann hingegen keine fortbestehende Grenze zwischen den Menschen aus Ost und West erkennen: Und so wurde ich oft gefragt: „Haben Sie denn ein Zusammenwachsen erkennen können auf Ihrer Wanderung zwischen Ost und West?“ Eine Frage, die sich bis dahin kaum je gestellt hatte, denn im direkten Grenzgebiet war erstaunlicherweise nicht mal ein Auseinanderdriften erkennbar gewesen, und die meisten Menschen waren, wenn überhaupt verbittert, dann wegen der Jahre der Trennung, nicht wegen der Wiedervereinigung.106

Kielings harmonisierende Darstellung verweigert sich also nicht nur im Titel einer innerdeutschen Grenzerfahrung. Denn auch das Zusammenleben zwischen den geschilderten Menschen und den Tieren kann nur als einträchtig bezeichnet

102 Ebd., S. 11. 103 Ebd., S. 14. 104 Ebd. 105 Kreutzkamp/Heigl, Mitten durch Deutschland. Auf dem ehemaligen Grenzweg von der Ostsee bis zum Böhmerwald, S. 16. 106 Kieling mit Wünsch, Ein deutscher Wandersommer, S. 205 f.  

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werden. Die „Andersheit und Verfremdung des eigenen Selbst“,107 die Kieling zweifellos mit einem neuen Lebensbeginn in Westdeutschland nach der Flucht durchlebte, ist in diesem Buch, obgleich es eine Grenzwanderung beschreibt, nicht thematisiert. Wen mag es da zu überraschen, dass Kieling davon spricht, die Menschen hätten ihm „immer sehr ähnliche Geschichten“108 erzählt, die er nicht für nötig hält, genauer auszuführen. Die nach der Wende komplexen „Versuche, der Entwurzelung und schwierigen Wiederverwurzelung einen Sinn abzutrotzen“,109 übergeht der Autor geflissentlich, indem er sie als Wunschprojektion negiert. Dies geschieht ganz im Sinne Böhmes, der davon spricht, dass die „Veränderbarkeit von kulturellen Topographien […] mit Erfahrungen von Schmerz und Verwundungen ebenso verbunden [sei F.F.] wie mit Sehnsüchten und Wunschprojektionen.“110 Kann es verwundern, dass derartig pauschale Harmonisierungen verblassen, sobald Kieling sich zu weltanschaulichen Fragen äußert? Grit und Hans waren Menschen, zu denen ich sofort einen Draht hatte, eine Seelenverwandtschaft spürte. Je länger wir uns unterhielten, umso mehr Gemeinsamkeiten entdeckten wir: die Liebe zur Natur und zu den Tieren, der Wunsch nach Unabhängigkeit, das Bestreben, ein möglichst autarkes Leben zu führen. Dann entdeckte ich, der ich eine Schwäche für den Glauben der alten Germanen habe, hinter dem Haus auch noch eine große, aus Holz gehauene Odinsfigur mit einer Midgardschlange.111

Darf mit Recht bezweifelt werden, dass die Holzfiguren Odin mit einer Midgardschlange abbilden112 – und nicht in der Tradition der in Nordeuropa breit überlieferten Bilddenkmäler von Thors Kampf mit der Midgardschlange stehen –,113 so deutet Kielings hier gewählte Anspielung auf Odin und die Midgardschlange dennoch ein problematisches ab- und ausgrenzendes Weltverständnis an. Snorri Sturlusons Gylfaginning trägt zur Klärung der Kieling vor Augen schwebenden Episode bei:

107 Doris Bachmann-Medick, „Dritter Raum. Annäherungen an ein Medium kultureller Übersetzung und Kartierung“, in: Claudia Breger/Tobias Döring (Hrsg.), Figuren der/des Dritten. Erkundungen kultureller Zwischenräume, Amsterdam/Atlanta 1998, S. 19–36, hier S. 23. 108 Kieling mit Wünsch, Ein deutscher Wandersommer, S. 271. 109 Lüdeker/Orth, „Zwischen Archiv, Erinnerung und Identitätsstiftung“, S. 13. 110 Hartmut Böhme, „Einleitung“, in: Ders. (Hrsg.), Topographien der Literatur. Deutsche Literatur im transnationalen Kontext, Stuttgart/Weimar 2005, S. 597–602, hier S. 598 f. 111 Kieling mit Wünsch, Ein deutscher Wandersommer, S. 103. 112 Kieling scheint nicht zu wissen, dass es in der nordischen Mythologie nur die eine weltbegrenzende Midgardschlange gibt bzw. auch nur geben kann. 113 Wilhelm Heizmann, „Midgardschlange“, in: Ulrich Müller/Werner Wunderlich (Hrsg.), Dämonen Monster Fabelwesen, St. Gallen 1999, S. 413–438, insbes. S. 416–421.  

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[D]a warf er [Odin F.F.] die Schlange in die tiefe See, die um alle Länder herum liegt, und es wuchs die Schlange so sehr, daß sie mitten im Meer liegt um alle Länder herum und sich in den Schwanz beißt.114

Sicherlich wäre es überzogen, aufgrund der für Völker- und Rassensegregation (im Sinne germanischer Reinheit) bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als Grenzwesen instrumentalisierte Midgardschlange115 auch bei Kielings germanischen Sympathien zu vermuten. Doch scheinen dualistische Weltordnungen, wie die Kämpfe mit Chaoswesen in Untergangsmythen (Ragnarök), Kielings Glaubensüberzeugungen anzuziehen. Nicht zuletzt fungieren schließlich derartige Ungeheuer als welt- und ordnungsstabilisierend.116 Vorstellungen der germanischen Mythologie, in denen der von Menschen bewohnte Teil (Midgard) von einem „weltumschlingenden kosmischen Wesen“117 todbringend umgrenzt wird, lösen im bei der Grenzüberwindung angeschossenen Autor affirmative Reaktionen aus. Während einerseits historische und kulturelle Unterschiede marginalisiert erscheinen, blitzt verdeckt eine mythologische Überhöhung der Grenzdurchbrechung auf. Kieling treibt die bereits beim Schweißhund angeklungene Essentialisierung deutscher Kultur weiter, lädt die Natur am „Grünen Band“ mit germanischer Mythologie auf. Deutlich wird: Ein dritter Raum deutsch-deutscher Kultur bedarf bei Kieling keiner Aushandlung der Differenzen, denn die grundlegendere gemeinsame Natur- und Welterfahrung deutet auf längst überwunden geglaubte Dichotomien etwa gegenüber dem asiatischen oder dem MittelmeerRaum hin. Das harmonische Zusammenwachsen der beiden Teile Deutschlands wird bei Kieling möglicherweise durch das Zusammenwachsen von Herr und Hündin repräsentiert. Neben der Reise in die Jugend ist es für Kieling wichtig abschließend festzuhalten, dass „Cleo und ich in diesen Wochen zusammengewachsen sind“.118 In der Parallelisierung einer Aufbereitung der eigenen DDRVergangenheit mit dem Aufbau einer Beziehung zwischen Mensch und Hund zeigt sich letztendlich die erschreckende Trivialisierung eines deutsch-deutschen

114 Übersetzung und Zitat nach: Klaus von See u.a., Kommentar zu den Liedern der Edda. Bd. 2: Götterlieder, Heidelberg 1997, S. 325. 115 Vgl. hierzu K. Böldl, „Art. Miðgarðr und Útgarðr“, in: Reallexikon der Germanischen Altertumskunde. Bd. 20, Berlin/New York 2002, S. 10–12, hier S. 12. Snorri Sturluson, Gylfaginning. Texte, Übersetzung, Kommentar v. Gottfried Lorenz, Darmstadt 1984, S. 421. 116 Vgl. Yvonne S. Bonnetain, Der nordgermanische Gott Loki aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, Göppingen 2006, S. 205. 117 Rudolf Simek, „Art. Midgardschlange“, in: Lexikon der germanischen Mythologie, Stuttgart 1984, S. 265. 118 Kieling mit Wünsch, Ein deutscher Wandersommer, S. 301.

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Wiedervereinigungsprozesses. Die Banalität des Zusammenwachsens und Zusammenlebens triumphiert über die nach wie vor erfahrbaren Unterschiede. „Unsere Heimat zu Fuß zu erkunden, sie zu spüren, sich in ihr geborgen und wohlzufühlen ist ein unglaubliches Gefühl und ein großartiges Erlebnis“119, so Kieling abschließend. Hier wird noch einmal deutlich, welche hochproblematischen Folgerungen bei Kieling aus den „simplistic understandings of Heimat as a pre- or antimodern concept“120 gezogen werden können.

IV. Abschließende Bemerkungen Hermann Bausingers Diagnose der Grenzenlosigkeit modernen Reisens ist für die vorliegenden Untersuchungsergebnisse von schlagender Bedeutung. Die hier vorgestellten Reiseberichte überwiegend ostdeutscher Autoren können zunächst ganz in diesem Sinn als Erfahrungsbericht eines Grenzverlusts und der gewonnenen Freiheit gelesen werden. Das streng bewachte Grenzgebiet, in der DDR „offiziell unsichtbar“121, erschließen sich die Autoren als sinnliche Selbsterfahrung zu Fuß, dokumentieren als Reise in die eigene Vergangenheit zugleich ihre DDR-Erinnerungen, ohne gezwungenermaßen auf die spezifisch westdeutsche, bilderreiche Mauer-Erinnerungskultur zurückgreifen zu müssen. Zudem wird diese gewonnene Freiheit im Wandern nicht nur als lustvolle Tätigkeit erfahren, die Fußreisen von Scherzer, Sellin und Kieling sind per se Ausdrucksform einer biographischen Selbstbehauptung. Dies verheißt die Wandererfahrung in ihrem Versprechen, das durch Modernisierung und Zivilisation verlorene Terrain zurückzugewinnen und produktive Kräfte in der Transparenz primitiver, ursprünglicher Selbstbehauptung zu regenerieren, die in der normierten, arbeitsteiligen bürgerlichen Existenz notwendigerweise verkümmern.122

Die „Authentizitätsverpflichtung“123 des Reiseberichts wird gerade dann jedoch fragwürdig, wenn die Authentizitätserfahrung der Wanderung dem Verstehen historischer Kontexte in ihrer Komplexität vorgeordnet wird. Florian Kappeler und Christoph Schaub haben hinsichtlich der musealen und didaktischen Auf-

119 Ebd., S. 301. 120 Friederike Eigler, „Cricital Approaches to Heimat and the ‚Spatial Turn‘“, in: New German critique 39/2012, S. 27–48, hier S. 29. 121 Ullrich, Geteilte Ansichten, S. 23. 122 Kuczynski, „Die Lust am Wandern – ein Hintergehen der bürgerlichen Moderne“, S. 45. 123 Peter J. Brenner, Der Reisebericht in der deutschen Literatur. Ein Forschungsüberblick als Vorstudie zu einer Gattungsgeschichte, Tübingen 1990, S. 1.

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bereitung der DDR-Geschichte vor der suggestiven Wirkung ‚authentischer‘ Erfahrungen gewarnt, sie sogar in ein anti-aufklärerisches Licht gerückt: Es ist also nicht nur zu konstatieren, dass die Authentizitätspoetik eher geeignet ist, emotional intensive Effekte zu erzielen als historische Kontexte in ihrer Komplexität zu vermitteln und darum gerade als Geschichtspädagogik anti-aufklärerisch wirkt, weil sie […] keine Reflexionsräume für die historische Wissensbildung und Politisierung gerade jüngerer Generationen bereitstellt.124

Der vielfach zu konstatierende Wandel des ehemaligen Mauer-Sperrgebiets zum ökologisch und touristisch propagierten „Grünen Band“ (oder mit Kreutzkamp: zum „heritage trail“) ist in den Reiseberichten durch die häufig hervorgekehrte „neue Ahnungslosigkeit“125 im Geschichtsbewusstsein der Autoren geprägt. Der literarische Umgang mit den Verwerfungen der deutschen Geschichte würde eine Betonung der Brüche erfordern, die das physisch Sichtbare zunächst in den Hintergrund rückt: Die Verräumlichung der Geschichte durch ihre widersprüchliche Zusammenballung an ein und demselben Ort verlangt, sich von einem homogenen Ortsbegriff und von einer statischen Kartierung des physisch Sichtbaren zu verabschieden. Stattdessen sollen Brüche, Verwerfungen und Entwicklungsungleichheiten in den Vordergrund rücken […].126

Die kulinarische, auf Genuss zielende Befriedigung des Reizbedarfs im Sinne einer künstlich hergestellten Fremde127 wird teils schwelgerisch und gut konsumierbar, teils plakativ und polemisch dargeboten – etwa die „wilde Heimat“, die „unbekannte Mitte“, die romantischen Postkutschenwelten, das re-feudalisierte Grenzgebiet. Das Desiderat einer narrativen Rekonstruktion der Verfremdung des Eigenen – in der Folge der Transformationsprozesse nach der Wende – bleibt für den Reisebericht bestehen. Dass die Wiedervereinigung für viele Ostdeutsche kolonisierende Dimensionen angenommen hatte, konnte an der Reiseberichtperspektive vor allem Sellins, jedoch auch bei Kieling gezeigt werden. Peter Schneider sprach 1982 in seinem Roman Der Mauerspringer davon, die Mauer sei für die Westdeutschen zu einem Spiegel geworden, der ihnen täglich

124 Florian Kappeler/Christoph Schaub, „Mauer durchs Herz. Inszenierungen von Zeitzeug/ innen – Wissen in der Gedenkstätte Berlin Hohenschönhausen“, in: Inge Stephan/Alexandra Tacke (Hrsg.), NachBilder der Wende, Köln u.a. 2008, S. 319–329, hier S. 327. 125 Wolfrum, Die Mauer, S. 154. 126 Bachmann-Medick, „Dritter Raum“, S. 31. 127 „Das Fremde wird künstlich hergestellt, indem es aus einer einheitlich werdenden Welt willkürlich herausgehoben und singularisiert wird. Es befriedigt keinen Erkenntnis-, sondern nur noch einen Reizbedarf“ (Brenner, „Die Erfahrung der Fremde“, S. 39).

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sage, wer der Schönste im Lande sei.128 In diesem Sinn wird das Verschwinden der Grenze und ihre Verwandlung in ein ‚grünes Band‘ überwiegend von ostdeutschen Autoren dokumentiert, für die der früher unsichtbare Grenzwall biographisch eine bedeutsame Rolle spielte. Aus westdeutscher Sicht hingegen darf nicht nur von geringem Interesse gesprochen werden. Eine Trivialisierung des Konfliktpotentials im Kalten Krieg (im Sinne einer westlichen Überlegenheit) leistet einer leichtfertigen Umgestaltung der Grenzregion zum Erholungsgebiet für genussvolles Reisen Vorschub. Der Wandererfahrung dagegen scheint das Versprechen innezuwohnen, durch selbstbestimmte Durchquerung der früheren Todeszone sich auch der eigenen Identität und Vergangenheit versichern zu können. Dass es sich hierbei um eine trügerische Vorstellung handelt, die gerade die biographischen Brüche und Wunden gezielt ausspart, sollte hinlänglich deutlich geworden sein.

128 Vgl. Peter Schneider, Der Mauerspringer, Reinbek bei Hamburg 1982, S. 12.

Jan Gerstner, Bremen

Grenzgänge. Martin Sonneborns Heimatkunde „Üble Ossi-Hetze im Kino.“ Die Schlagzeile des Berliner Kuriers am 15. August 2008 ließ an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Zu einem Foto des ehemaligen Chefredakteurs der Satirezeitschrift Titanic, Martin Sonneborn, stand dort weiter: „Dieser komische Vogel verspottet Ostdeutsche als Deppen der Nation.“1 Die „[ü]ble Ossi-Hetze“ bestand in der Dokumentation einer vierwöchigen Fußreise Sonneborns um das Stadtgebiet Berlins herum, teilweise also entlang der ehemaligen Grenze zwischen BRD und DDR, begleitet durch das Regieteam SMAC, bestehend aus dem Kameramann Andreas Coerper und der Produzentin Susanne Müller. Wie viele andere itinerarische Texte oder Filme ist der dabei entstandene Film Heimatkunde weitgehend episodisch strukturiert; in erzähltechnischer Hinsicht dient die Wanderung so zunächst der losen Verknüpfung von Sonneborns Begegnungen mit den Bewohnerinnen und Bewohnern des ehemaligen Grenzgebiets. 2010 erschien der Reisebericht zusätzlich in Buchform, ebenfalls unter dem Titel Heimatkunde, diesmal verfasst von Sonneborn; von Coerper stammen lediglich die Fotografien zum Text. Trotz der beigegebenen Fotos fehlt dem Buch im Vergleich zum Film die dokumentarische Suggestivkraft, die nicht unwesentlich zum Reiz der Reisedarstellung beiträgt. Hinzu kommt, dass die medienbedingte Notwendigkeit längerer deskriptiver Passagen mehr Möglichkeiten zur Pointierung bietet. Viel prominenter – und teilweise aufdringlicher – sind dementsprechend die Kommentierungen der jeweiligen Situationen durch Sonneborn, so dass, wenn von „Ossi-Hetze“ gesprochen werden soll, der Berliner Kurier hier sicherlich noch leichter fündig geworden wäre. Auf Buch-Seiten erscheint so etwas freilich anders als „im Kino“. Auf eine deutlich größere Resonanz als die gedruckte „Expedition in die Zone“ (so der Untertitel des Buchs) stieß dann doch der Film. Im Folgenden ist mit Heimatkunde, sofern nicht anders vermerkt, der Film und nicht das Buch gemeint.

1 Berliner Kurier, 15.08.2008, S. 1; siehe auch die Presseschau unter: http://www.heimatkundeder-film.de/presse.html (Stand 08.03.2012).

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I. Satire In der übrigen Presse erfuhr Heimatkunde mehrheitlich eine durchaus andere Bewertung als beim Berliner Kurier. Von einem „Film voll stiller Komik“ war im Berliner Tagesspiegel die Rede,2 und die Süddeutsche Zeitung sprach von einem „stille[n] ironische[n] Filmchen“.3 Was den satirischen Gehalt von Heimatkunde angeht, ist ein Blick auf die medialen Kontexte des Films fruchtbar. Ein großer Teil der Polemik, wie sie dem Film insbesondere vom Berliner Kurier vorgeworfen wurde, ist erst Produkt der entsprechenden Empörung. Sie verdankt sich einer Erwartungshaltung, die besonders mit der öffentlichen Person Sonneborns verbunden ist und die dieser, teilweise in Reaktion darauf, bereitwillig bedient. Bekannt wurde Sonneborn zunächst durch seine Tätigkeit als Chefredakteur der Satirezeitschrift Titanic von 2000 bis 2005, während der es ihm unter anderem gelang, durch dilettantische Bestechungsfaxe an FIFA-Mitglieder die Entscheidung für Deutschland als Austragungsort der Fußballweltmeisterschaft der Herren 2006 ins Zwielicht zu rücken.4 Solche Eingriffe des Satirischen in die (mediale) Wirklichkeit sind typisch für Sonneborn und, seit seiner Zeit als Chefredakteur, auch für Teile der Titanic. Immer wieder finden sich dort Versuche, durch vorgebliche Telefoninterviews oder Informationsstände in Fußgängerzonen entlarvende Reaktionen bei der Bevölkerung zu provozieren. Eine weitere Steigerung erfuhren die Strategien der satirischen Intervention 2004 durch die Gründung der „PARTEI“, deren Vorsitzender Sonneborn bis heute ist.5 Das Akronym steht für die offenkundig unsinnige Zusammenstellung „Partei für Arbeit, Rechtsstaat, Tierschutz, Elitenförderung und basisdemokratische Initiative“, einer der wichtigsten Programmpunkte der Gruppierung ist allerdings der Wiederaufbau der Berliner Mauer bzw. die „endgültige Teilung Deutschlands“.6

2 Tagesspiegel, 14.8.2008, http://www.tagesspiegel.de/zeitung/neuer-deutscher-film/1299500. html (Stand 08.03.2012). 3 Ruth Schneeberger, „So was wie Krieg“, in: Süddeutsche Zeitung, 17.09.2008, http://www.sued deutsche.de/kultur/titanic-star-dreht-ddr-satire-so-was-wie-krieg-1.694620 (Stand 08.03.2012). 4 Vgl. „Wie Titanic einmal die Fußball-WM 2006 nach Deutschland holte. Protokoll einer erfolgreichen Bestechung“, in: Titanic, 21/2008, 8, S. 12–15. 5 Vgl. http://www.die-partei.de/koepfe/ (Stand 08.03.2012). 6 Vgl. den Satz Chlodwig Poths im Motto der Homepage (ebd.), der in Anspielung auf das Impressum der Bild-Zeitung seit 1990 auch dem Titanic-Impressum voransteht: „Die endgültige Teilung Deutschlands – das ist unser Auftrag.“

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Bestimmt man Satire als ein „über Mimesis hinausgehendes Übertreiben der kritisierten Zustände“,7 wobei die dabei geäußerten „Sätze und Texte als Sätze und Texte von ‚Verkehrtem‘, ‚Umgekehrtem‘, Negativem erscheinen bzw. gelesen werden können“ und das solchermaßen „Dargestellte gewissermaßen seine eigene Abschaffung evoziert“,8 so steht man im vorliegenden Fall vor Problemen. Übertreibung und Negation lassen sich zweifellos feststellen, doch ist die Frage, was hier einerseits übertrieben wird, was andererseits negiert wird und schließlich, von welcher Warte aus dies geschieht, durch die mehrfach gebrochene Ironie, wie sie gerade im Titanic-Umfeld üblich ist, nicht immer leicht zu beantworten. In seiner Dissertation zur sogenannten Neuen Frankfurter Schule, der Gründungsgeneration der Titanic, der unter anderem Robert Gernhardt, Friedrich Karl Waechter, Bernd Eilert und Chlodwig Poth zugerechnet werden, hat Klaus Cäsar Zehrer herausgearbeitet, wie sich deren Komik gerade in Abgrenzung von traditionellen Satire-Formen, die noch mit deutlich identifizierbarem moralischem Impetus auftraten, herausgebildet hat. Zehrers bisweilen allzu normativ auf seinen Gegenstand fixierte Ablehnung der Lehr- oder Moralsatire mag nachvollziehbar sein angesichts der identitätsversichernden Funktion, die eine von sicherem moralischem Standpunkt aus vollzogene Kritik mit satirischen Mitteln heute in den meisten Fällen noch hat. Gerade eine Komik der Entlarvung kann im Bezug zu ihrem Publikum nicht bloß intern normstabilisierend wirken, sondern bleibt in einer permissiven und pluralen Gesellschaft auch meist wirkungslos. Die „totale“ oder „postsatirische Komik“9 der Neuen Frankfurter Schule bzw. deren Form der „Nonsenssatire“,10 der Zehrers deutliche Sympathie gilt, droht ihrerseits jedoch, wie er einräumt, im reinen Automatismus der Überdrehung zu erstarren. Im Lauf der Jahre hat sich ein Publikumskonsens herausgebildet, der auch diese Form der Satire oder Komik zum identitätsstiftenden Moment einer „eingeschworenen Gemeinde“ werden lässt, „vom Rest der Welt nicht weiter zur Kenntnis genommen“.11 In neueren Titanic-Ausgaben äußert sich dies in einer bis ins Letzte gesteigerten Unverbindlichkeit des Komischen:

7 Sven Hanuschek, „Satire“, in: Dieter Lamping (Hrsg.), Handbuch der literarischen Gattungen, Stuttgart 2009, S. 652–661, hier S. 652. 8 Helmut Arntzen, „Satire“, in: Karlheinz Barck u.a. (Hrsg.), Ästhetische Grundbegriffe, Stuttgart, Weimar 2001, Bd. 5, S. 345–364, hier S. 347. 9 Klaus Cäsar Zehrer, Dialektik der Satire. Zur Komik von Robert Gernhardt und der Neuen Frankfurter Schule, Diss. Bremen 2001, S. 164, S. 154. 10 Ebd., S. 191. 11 Ebd., S. 268.

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Es gibt im gesamten Heft nicht einen Satz mehr, der nicht ein- oder mehrfach ironisch gebrochen ist und der als „Klartext“ oder auf moralsatirische Weise allen Ernstes einen Denkanstoß geben möchte. Mit bislang unbekannter Konsequenz wird Eigentlichkeit gemieden, jedes verhandelte Thema auf komische Distanz gehalten.12

Einen Ausweg aus diesen eingeschliffenen Formen der Komik sieht Zehrer in den erwähnten Telefon- und Straßenaktionen Sonneborns. Dort scheint die Satire dann weniger in der übertreibenden Darstellung durch den Satiriker zu liegen, sondern mehr noch in der Provokation entsprechender Reaktionen. Die satirespezifische Übertreibung und darin der Ironie verwandte Doppelbödigkeit der vermittelten Aussagen, die deren eigene Negation immer einschließt, ist so kontextuell zu leisten. Der Angriff auf gesamtdeutsche Identitätskonstruktionen wie in der „PARTEI“ parodiert in der Inszenierung als Partei so zwar durchaus auch die entsprechende Form politischer Organisation, doch liegt der Kern des Satirischen hier in der Konfrontation des geäußerten Programms mit der politischen und medialen Wirklichkeit des gegenwärtigen Deutschland. Durch gezielte Verstöße gegen den politischen common sense, gegen Tabus und Schicklichkeitsregeln – bereits die Gründung einer satirischen Partei ist ein solcher Verstoß – soll offensichtlich eben jener common sense erschüttert werden. Die eigene Position wird dabei in das ironische Spiel einer allumfassenden Satire einbegriffen. Freilich kann auch hier nicht ausgeschlossen werden, dass sich im Zugriff des Satirikers auf die soziale Realität und in der Teilnahme der Zuschauenden daran letztlich nur die souveräne Position derjenigen bestätigt, die es besser zu wissen meinen als diejenigen, die sich darüber empören. Das ironische Spiel mit der eigenen Position kann dies nicht immer abfedern. So nimmt das nationalkritische Programm nicht selten Formen an, die tatsächlich in erster Linie anti-ostdeutsch erscheinen. Im Hinblick auf das proklamierte Ziel einer Teilung oder Spaltung Deutschlands hat das provokante und manchmal diffamierende Spiel mit Klischees aber durchaus seinen publizistischen oder propagandistischen Sinn, denn hier werden Identitätskonstruktionen, die um der Einheit der imaginären Gemeinschaft ‚Deutschland‘ willen überwunden werden sollen, ausgestellt und herausgefordert. Die Satire wäre so als Darstellungsverfahren zugleich die Methode, das Programm einer Spaltung Deutschlands voranzutreiben. Es war also nicht überraschend, wenn eine Boulevard-Zeitung, die sich wie der Berliner Kurier vor allem an ein ostdeutsches Publikum richtet, Sonneborn

12 Ebd., S. 262.

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„Hetze“ unterstellt, und es war zugleich ganz in dessen Sinne. Indem die OssiIdentität in ihrer Verteidigung gegen den arroganten Wessi bestätigt und gestärkt wird, arbeitet der Berliner Kurier sozusagen am selben Projekt wie Sonneborn und spielt, ob er will oder nicht, dessen Spiel mit. Die mediale Rückkopplung ist bei ihm immer Teil des Satireprojekts und wird entsprechend herausgefordert. So war es auch im Fall der erwähnten FIFA-Bestechung geradezu ein Glücksfall, dass die Bild-Zeitung die Telefonnummer der Titanic-Redaktion bekannt gab, um Lesern die Möglichkeit zu geben, ihrer Empörung über die unpatriotischen Satiriker, die Deutschland in Verruf brachten, freien Lauf zu lassen. Das teilweise erschreckende Ergebnis wurde in der Titanic abgedruckt.13 In der offensiven Form, wie man es von der Titanic oder der „PARTEI“ her erwarten könnte, äußert sich die Satire in Heimatkunde nun freilich nicht, was auch daran liegen mag, dass nicht Sonneborn selbst Regie geführt hat. Das dokumentarische Format unterstützt natürlich den Versuch, die Wirklichkeit zu ihrer eigenen Satire werden zu lassen (wobei das Problem der Wirklichkeit im Dokumentarfilm hier zunächst ausgeklammert sei), doch zielt dies eher selten auf eine unmittelbare Pointierung ab. Die Vorführung der Begegnungen Sonneborns erschöpft sich meist darin, das Banal-Abseitige lakonisch zu zeigen, was sehr zum Reiz des Films beiträgt, und bezieht dabei den Wandernden selbst ins ironische Spiel mit ein. Neben dem Blick auf einige Verfahren der Satire in Heimatkunde ist nun herauszuarbeiten, wie diese Verfahren, jenseits der unmittelbar satirischen Intention, dazu beitragen, ein Bild der deutschen Wirklichkeit zu konstruieren, das den Film vor allem in seiner Form prägt.

II. Reisemuster Zu den Kontexten, die die satirische Wahrnehmung der dargestellten Wirklichkeit des Films lenken, zählt nicht nur dessen mediales Echo, sondern selbstverständlich ebenso der Rahmen der gefilmten Fußwanderung selbst. Das beginnt beim Titel Heimatkunde, der Konnotationen vom DDR-Schulfach14 bis zum aktuellen

13 Vgl. „‚Sie sind ein ganz großes Schwein, die TITANIC!‘ Bild-Leser telefonieren mit der Redaktion“, in: Titanic 21/2008, 8, S. 16–19. 14 Ich danke Aniela Knoblich für diesen Hinweis. Darauf, dass für Heimatkunde v.a. der DDRBezug bedeutsam ist (obgleich das Schulfach durchaus auch in Teilen der BRD so genannt wurde), deutet im Buch die Abbildung eines alten Fernsehprogramms mit dem Hinweis auf das Fach „Heimatkunde“ im Schulfernsehen (vgl. Sonneborn, Heimatkunde, S. 60) hin. Auch Sonneborns Behauptung in einem Interview, man habe den Titel des Films gewählt, „um auch große Teile der ostdeutschen Bevölkerung ins Kino zu locken – und sie dort zu demütigen“ (Der Tages-

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Buchmarkt eröffnet15 und dabei gleichzeitig eine Verbundenheit mit dem Eigenen zu implizieren scheint wie dessen Erschließung als ein bewusstes, nicht mehr rein intuitiv-naives Wissen. Der Untertitel „Feldforschungen im Grenzbereich“ deutet ebenso in letztere Richtung wie das Thema der Fußwanderung. Gleich zu Beginn des Films sehen wir Sonneborn, der, einen eher leichten Rucksack geschultert, durch Feld und Wiesen wandert, um sich schließlich am Ufer eines Gewässers auszuziehen, sein Gepäck wasserdicht zu verstauen und zu schwimmen. „Ich war wahrscheinlich der Erste, der versuchte, die Havel an der Glienicker Brücke in Richtung Osten zu durchqueren“, kommentiert eine OffStimme das Geschehen und weist auf die umgekehrte Fluchtbewegung der ehemaligen DDR-Bürger hin. „Ich war aber nicht auf der Flucht“, heißt es weiter, „Ich wollte wandern.“16 Die letzten Worte werden durch einen Schnitt hervorgehoben; von der Perspektive des Wanderers wechselt das Bild in den Blick von oben. Luftaufnahmen des Wanderers Sonneborn und andere, aus größerer Höhe, die das Land in der Totalen zeigen, tauchen im Film immer wieder auf. Im vorliegenden Fall sehen wir den Wanderer auf einer rissigen Betonstraße neben der Leitplanke. Sowohl die Betonung durch den Sprecher als auch der Schnitt heben die Tätigkeit des Wanderns als bedeutsam hervor und eröffnen damit einen Erwartungshorizont, gleichzeitig aber – zumindest, wenn man den Wanderer aus anderen Zusammenhängen kennt – auch die Erwartung seiner Brechung. Wandern erscheint zunächst als Bewegungsform, die eine direktere Begegnung mit Land und Leuten verspricht als Reisen mit konventionelleren und schnelleren Fortbewegungsmitteln.17 Für den Kontext von Heimatkunde dürfte darüber hinaus seine spezifisch deutsche Tradition eine Rolle spielen. Dabei ist es eher unerheblich, ob hier nun seit der Spätaufklärung gängige Muster einer Erschließung und Erfahrung des „deutschen Vaterlands“ als des geographisch Nahen in der Fußreise aufgerufen werden oder das populärere Schema der Naturerfahrung im Wandern der Romantiker.18 Weniger ein konkreter historischer

spiegel, 06.10.2008, http://www.tagesspiegel.de/kultur/kino/der-film-soll-das-land-wieder-spal ten/1340838.html [Stand 08.03.2012]), zielt offenbar auf eine Verbindung von Filmtitel und spezifischer DDR-Sozialisation ab. 15 Vgl. Tobias Zick, Heimatkunde. Zu Fuß und allein durch die Provinz, Freiburg i.Br. 2005, sowie den Beitrag von Christopher Meid in diesem Band. 16 SMAC, Heimatkunde, Deutschland 2008, 0:01:18–0:01:30 (Zitatnachweise zum Film künftig nach dem Schema h:mm:ss im Haupttext). 17 Vgl. zu diesem Motiv im vorliegenden Zusammenhang: Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010, S. 272; vgl. auch den Beitrag von Peter J. Brenner im vorliegenden Band. 18 Vgl. zum Hintergrund: Hans-Joachim Althaus, „Bürgerliche Wanderlust. Anmerkung zur Entstehung eines Kultur- und Bewegungsmusters“, in: Wolfgang Albrecht/Hans-Joachim Kertscher

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Hintergrund als das Nachleben des Komplexes „Romantik-Deutschland-Wandern“ als Stereotyp ist hier wichtig. So ist auf der Homepage des Films die Rede von „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ und im Buch findet sich ein Foto, das Sonneborn als „wandernde[n] Romantiker“ präsentiert, der auf einem „sowjetischen Tanklaster“ sitzend „den Blick auf das Nebelmeer eines untergegangenen Staates“ genießt.19 Der Synkretismus der Bezüge nimmt den Synkretismus nationaler Mythen auf, stellt sie jedoch in ihrer Beliebigkeit aus und parodiert ihre Wirkung in der Konfrontation mit der Tristesse postsozialistischer, meist industrieller Relikte. Caspar David Friedrichs Wanderer über dem Nebelmeer auf dem Tanklaster oder der Wanderer auf der Asphalt-Straße sind dabei zwar ironisch gebrochen, aber wie so oft bei ironischen Bezügen bleibt die Frage offen, inwieweit durch die Brechung hindurch ein Schema beibehalten wird, inwieweit hier also z.B. das Stereotyp der melancholischen Betrachtung von Ruinen, für die eben der „untergegangene Staat“ stünde, außer Funktion gesetzt wird oder nicht auf einer anderen Ebene in die Haltung des Films eingeht. Es ist eine offene Haltung zwischen Nähe und Distanz, die den Film auch auf der visuellen Ebene bestimmt. Während des Vorspanns wird durch den Schriftzug „Heimatkunde“ hindurch aus einer Luftaufnahme in die Niederung des Waldes gezoomt; mit einem Mal befindet sich die Kamera auf Augenhöhe mit dem Wanderer oder filmt sogar die gehenden Füße. Mit der Erwähnung des Wanderns durch den Sprecher verlassen wir wieder diese Perspektive zugunsten des Blicks von oben. Die Luftaufnahmen stellen gewissermaßen das Gegenstücks zur Wanderung dar: Während diese das Land im unmittelbaren Kontakt mit den Menschen und in der körperlichen Durchquerung nach und nach zu erschließen verspricht, präsentiert es der Blick von oben als Ganzes. Damit setzt er die im Wandern gesetzte Erfahrung aber auch auf Distanz. Das andere bestimmende Schema des Films ist vom prekären Verhältnis von Nähe und Distanz bereits von Haus aus, als methodischem Problem, geprägt. Wie der Bezug auf die „Feldforschung“ im Untertitel andeutet, präsentiert sich Heimatkunde auch als eine Art ethnologischer Dokumentarfilm. Die Stichwörter, mit denen diese Schicht des Films gleich zu Anfang eingeführt wird, stammen freilich eher noch aus vorfilmischer Ära, aus dem Umfeld der abenteuerlichen Forschungsreisen des 19. Jahrhunderts:

(Hrsg.), Wanderzwang – Wanderlust. Formen der Raum- und Sozialerfahrung zwischen Aufklärung und Frühindustrialisierung, Tübingen 1999, S. 25–43. 19 Martin Sonneborn mit Andreas Coerper, Heimatkunde. Eine Expedition durch die Zone, Berlin 2010, S. 100.

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Von Potsdam aus einmal um Berlin herum, 250 Kilometer, in vier Wochen. Soweit der Plan. Hier draußen, am Rande der Zivilisation, 40 Kilometer vom Berliner Zentrum entfernt, gab es noch jede Menge unerforschter weißer Flecken auf meiner Landkarte. […] Meine Expedition sollte eine unbeantwortete Frage klären: Hatte sich nach dem Fall der Mauer neues Leben im Berliner Grenzland entwickelt? Und wie sah es aus? (0:01:49–0:02:52)

Die Unangemessenheit dieses Vokabulars angesichts der Banalität des Berliner Umlands ist selbstverständlich ein probates Mittel zur Erzeugung von Komik. Schon die umständliche Durchquerung der Havel, mit der Glienicker Brücke in Sichtweite, schafft mit der Referenz an die gegenläufige und um einiges dramatischere Fluchtbewegung der DDR-Bürger eine komische Fallhöhe, die der übertrieben ausgestellte Versuch, dadurch symbolische Bedeutsamkeit zu schaffen, noch verstärkt. Parodistisch könnte der Film hier auch an Wolfgang Büschers Deutschland, eine Reise anknüpfen, wo mit dem Durchschwimmen des Rheins immerhin ein noch viel umständlicherer Reiseanfang gesetzt wird.20 Auch die Inszenierung des Wanderns als einer körperlichen Grenzerfahrung – zu Fuß entlang der früheren deutsch-deutschen Grenze, weit über hundert Kilometer und über mehrere Wochen – stellt sich in Sonneborns Fall als grandiose Hochstapelei heraus: Wenn er wirklich „250 Kilometer in vier Wochen“ zurücklegen wollte, käme er auf einen Durchschnitt von knapp neun Kilometern am Tag. Die umständliche Flussquerung, ähnlich wie die darauffolgende Darstellung von Panzersperren aus der Untersicht und einer halb zerstörten Brücke, die Sonneborn überqueren muss (vgl. 0:02:22), sind allerdings nicht bloße Anfangskalauer, sondern haben narrative Funktion. Wie in einem Musterbeispiel für Lotmans Raumsemantik stellt sich das Sujet, die ‚Forschungsreise‘ als Überschreitung einer räumlichen Grenze dar.21 Die Ironie freilich liegt darin, dass das Unüberwindliche dieser Grenze bzw. die Schwierigkeit ihrer Überwindung erst in den Umständen ihrer Überschreitung behauptet wird. Der Raum wird offen den narrativen Erfordernissen gemäß zugerichtet. Für die brüchige Expeditionsfiktion schaffen die Grenzmarkierungen mit dem behaupteten Aufbruch ins Unbekannte und Unwegsame erst den Rahmen und damit die Ausgangsbedingung für jede ethnologische Forschungsreise: die nun folgenden Begegnungen als Fremderfahrung, als interkulturelle Begegnung erleben und darstellen zu können. Unmittelbar nach der ganz wissenschaftlich gehaltenen Formulierung der Fragestellung durch den Sprecher, ob sich „neues Leben“ im Berliner Grenzland

20 Vgl. Wolfgang Büscher, Deutschland, eine Reise, Berlin 2005, S. 10 f. 21 Vgl. Juri K. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, übersetzt von Rolf-Dietrich Keil, München 1973, S. 338 f.  



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gebildet habe, wird dieses mit einem effektvollen Zoom präsentiert: Auf der alten Brücke, die der Reisende offenbar nur unter Gefahren überqueren kann, liegt ein nackter Mann beim Sonnenbad. Anders als den klassischen Entdeckungsreisenden begegnet unserem Forschungsreisenden jedoch kein Wilder, dessen Nacktheit Zeichen seiner radikalen Fremdheit wäre. Er weiß, was er vor sich hat: „Meine erste Begegnung mit einem echten Cabinet-Zigarettenraucher. Ich zögerte keine Sekunde, mein Leben dafür aufs Spiel zu setzen.“ (0:03:22) Die Bedeutung früherer DDR-Marken bei der Behauptung einer genuin ostdeutschen Identität ist so etwas wie ein Topos im Nach-Wende-Diskurs.22 Daher genügt hier die entsprechende Andeutung, um die Bürger der ehemaligen DDR als fremde und seltene Kultur darzustellen, die man nur noch unter Gefahren ‚in freier Wildbahn‘, wie sich in satirischer Erweiterung des ethnologischen Musters wohl sagen ließe, begegnen kann. Gleichzeitig wird im Rückgriff auf den Topos der Treue zu alten DDR-Marken – ähnliches gilt hinsichtlich der berühmt-berüchtigten Vorliebe von Ostdeutschen für Freikörperkultur – deutlich, wie sehr die Wahrnehmung des angeblich Fremden von vornherein von stereotypen Erwartungen geprägt ist. Bei interkulturellen Begegnungen ist dies nichts Neues. Sicherlich könnte die Inszenierung von Einwohnern der neuen Bundesländer mit den Schemata einer tendenziell kolonialistischen Ethnologie als mehr oder weniger rückständige „Ureinwohner“ (0:08:20) im Sinne diffamierender „OssiHetze“ verstanden werden. Ebenso deutet die Rede vom Berliner Umland als dem „Rande der Zivilisation“ auf einen recht arroganten Blick von der Metropole Berlin auf ihre Peripherie hin, was durch die wiederkehrende Einblendung des Berliner Fernsehturms, dessen Schatten den jeweiligen Standort jeder neuen Reisestation angibt (vgl. Abb. 1), unterstützt wird. Das Zentrum ist der Maßstab, von dem aus bestimmt wird, was ‚Provinz‘ ist. Doch wirkt die verfremdende Darstellung des Verhältnisses von Berlin und Brandenburg, des Wessis Sonneborn zu den Ossis, in beide Richtungen. Parodiert wird schließlich auch der Pioniergestus des ethnologischen Dokumentarfilms, wilde Gegenden erst für die Zuschauer zu erschließen. Für die Konstruktion des satirischen Dokumentarfilms erfüllt die ethnographische Fiktion darüber hinaus die Funktion, einen Blick von außen zu schaffen, der erst die Skurrilität und Fremdheit des eigentlich Bekannten und Banalen hervorbringt. Dies betrifft Westund Ostdeutsche gleichermaßen. Der aus Bayern eingewanderte Gärtner, der den Umgang mit seinen Bäumen und seinem Pitbull dem Kontakt mit Menschen vorzieht, erscheint in dem Rahmen gewiss nicht weniger seltsam als der Nackte

22 Vgl. Nina Tatter, Verortung durch Geschmack. Aspekte ostdeutscher Identitätskonstruktion, Bremen 2008 (KWD 21).

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Abb. 1: (0:59:52)

oder Sonneborn in seiner Rolle als „Heimatkundler“ selbst. Die „Expedition“ hat durchaus ihre selbstironische Ebene. Die Absurdität der eigenen Inszenierung wird im Film dementsprechend offengelegt: „Ich war nur dreißig Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Aber waren Christoph Kolumbus oder Reinhold Messner während ihrer Expeditionen mit dem Bus nachhause gefahren? Nein.“ (0:22:18). Der Atlantik oder der Himalaya sorgen im Vergleich mit der platten Provinz um Berlin sicher schon in räumlicher Hinsicht effektiver für eine komische Fallhöhe als die Berufung auf Alexander von Humboldt und Claude Lévi-Strauss, die sich an der entsprechenden Stelle im Buch Heimatkunde findet.23 Im Hinblick auf das gewählte Muster der Forschungsreise erscheinen diese Namen allerdings fast konsequenter. Zumindest bei letzterem ist mehr im Spiel als eine weitere Pointe komischen Größenwahns oder des impliziten Vergleichs von Brandenburg und südamerikanischem Dschungel, beginnen die Tristes Tropiques doch mit dem melancholischen Abge-

23 Vgl. Sonneborn, Heimatkunde, S. 75.

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sang auf das Reisen und die Möglichkeit tatsächlicher Fremderfahrung, da die ‚westliche Zivilisation‘ in ihrer globalen Ausbreitung sich letztlich alles gleich mache: „Was uns die Reisen in erster Linie zeigen, ist der Schmutz, mit dem wir das Antlitz der Menschheit besudelt haben.“24 Die Frage nach ‚archaischen‘ oder ‚ursprünglichen‘ Kulturen lässt sich bei Sonneborns Reiseweg nun nicht mehr stellen, doch auch ihm geht es nicht allein um die Frage nach dem „neuen Leben“ im ehemaligen Grenzgebiet, sondern auch um das Verschwundene, das dort einmal war. So klettert er durch die Ruinen der früheren DDR-Kultur, durch ehemalige Industrieanlagen und Stasi-Freizeitzentren, oder fragt Jugendliche, was das denn gewesen sei, die DDR (mit ernüchterndem Ergebnis). Gleich auf der zweiten Station seiner Reise macht Sonneborn sich im Neubaugebiet von Großbeeren auf die Suche nach den letzten verbliebenen Ostdeutschen zwischen all dem „neuen Leben“ der zugezogenen Westdeutschen. Erst am Ende der Episode, im alten Ortskern, wird er fündig. Er begegnet einem älteren Mann, der offenbar wenig Gefallen an der Neubausiedlung und ihren Bewohnern findet. Bevor es zu dieser Demonstration nicht-vollzogener Vereinigung in der Aufteilung eines Dorfs im Berliner Umland kommt, spricht Sonneborn bei der Besichtigung eines Musterhauses mit dem Vertreter der entsprechenden Baufirma. Die Einbettung des Gesprächs in Heimatkunde ist nicht nur ein gutes Beispiel für die Verfahren des satirischen Dokumentarfilms, sondern zeigt dabei auch eine Seite des ost-west-deutschen Kulturkontakts, die schwerlich als „Ossi-Hetze“ zu bezeichnen wäre: Sonneborn: Ähm, werden die Häuser mehr von Ostdeutschen oder mehr von Westdeutschen gekauft? Firmenvertreter: Also hier, in diesem Gebiet, das wir jetzt erschlossen haben und bebaut haben, sind’s, nun ja, 99 Prozent Westdeutsche. Sonneborn: Oh. Sprecher: Das waren ja blendende Aussichten: Siedler aus dem Westen fanden neuen Lebensraum und die ersehnte Freiheit – im Osten. Die Bauwirtschaft hatte ganze Arbeit geleistet. Sonnebron: Aber den Ort hier haben Sie schon ganz gut im Griff? Firmenvertreter: Ja, sind wir … auch nicht böse drum, und wir haben auch ’n bisschen was gezeigt, dass wir was können, dass wir was leisten können, und ich glaub, das kommt auch gut an. Sonneborn: Ja. Planen sie weitere Ortschaften … zu übernehmen, hier im Umland? Firmenvertreter: Wir expandieren, äh, wir sind grade dran, dass wir in Berlin, äh, was machen möchten [wird langsam ausgeblendet]

24 Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen, aus dem Französischen von Eva Moldenhauer, Frankfurt am Main 2008, S. 36.

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Sprecher: Es sah so aus, als wäre nun doch eine Utopie Wirklichkeit geworden, da, wo eine andere gescheitert war. (0:07:20–0:08:17)

Abb. 2: (0:08:16)

Während der letzten Worte ist die Neubausiedlung in einer langsamen Kamerafahrt aus der Luft zu sehen (Abb. 2). Diese Kamerafahrt wirkt nach dem vorhergehenden Gespräch und dessen Kommentierung aus dem Off, mit ihren deutlichen Kolonial- und NS-Bezügen, wie eine Vision der gelungenen Expansion: eine Welt, die ganz zur Neubausiedlung geworden ist. Das langsame Ausblenden der Stimme des Firmenvertreters über den Bildern seines Erfolgs verstärkt diesen Eindruck noch. Das Gelingen der westdeutschen Utopie erscheint als großer Verdrängungsprozess. Mit dem Bezug auf den Topos einer Kolonisierung der ehemaligen DDR durch die Bundesrepublik wird deutlich, dass die nation- und einheitskritische Stoßrichtung des Films nicht allein auf Kosten von Ostdeutschen geht. Die suggerierte Aussage der Szene ergibt sich dabei aus dem Zusammenspiel von Off-Kommentar, Kameraführung und Schnitt sowie natürlich den suggestiven Fragen Sonneborns. Im Wesentlichen besteht das Verfahren des satirischen Dokumentarfilms darin, Menschen in Situationen zu bringen, in denen sie die

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Bedeutung ihres Auftretens und ihrer Aussagen nicht mehr kontrollieren können, und dies durch Kommentare und die Behandlung des Materials dann übertreibend umzukodieren. Die Situation wird so teilweise erst nachträglich hergestellt. Für sich genommen, erschienen die Aussagen des Firmenvertreters, wahrscheinlich auch Sonneborns Fragen, kaum zynisch. Die Frage nach der Authentizität des Gezeigten verkompliziert sich durch diese Verfahren freilich, denn die Spannung zwischen der Faktizität des Materials und den fiktionalen Anteilen des Kontextes wird beständig aufrecht erhalten, auch wenn sich das Gewicht je nach Situation mehr auf die eine oder die andere Seite verlagern kann. Der freie Umgang mit dem Material muss nicht allein Personen und ihre Aussagen betreffen, auch Objekte können mit neuer Bedeutung aufgeladen werden. Im Gespräch mit dem Bewohner einer Wohnanlage im früheren Westen erfährt Sonneborn, dass nach der Wende der Zaun um die Siedlung erweitert und auf die Stelle der früheren Mauer gesetzt wurde, was begreiflicherweise für böses Blut auf Seiten der ostdeutschen Nachbarn sorgte. Unmittelbar darauf folgt eine Sequenz, in der die Kamera nur an Gartenzäunen in allen Formen und Größen entlangfährt (vgl. 0:59:05). Es handelt sich hier natürlich nicht mehr um den Zaun, von dem vorher die Rede war. Im Kontext erscheinen diese Zäune allerdings wie dessen Reproduktionen und darin wie Wiedergänger der ehemaligen Grenzanlagen. Im Zusammenhang des Films lassen sie sich außerdem metonymisch auf real existierende soziale Ab- und Ausgrenzungen beziehen, die über die berüchtigte Mauer in den Köpfen deutlich hinausgehen.

III. Grenzidentitäten Der letzte Zaun der Gartenzaun-Sequenz ist die Umzäunung eines Asylbewerberheims (vgl. Abb. 1). Hier trifft Sonneborn Herrn Abbas, einen staatenlosen Palästinenser, der ihm erzählt, dass er schon mehrmals um seine Abschiebung ersucht habe, die aber, mangels Staatsangehörigkeit, abgelehnt wurde. Wegen der in Deutschland für Asylbewerber geltenden Residenzpflicht kann er auch den engeren Verwaltungskreis nicht verlassen, so dass ein Aufenthalt im nahegelegenen Berlin ihm ebenfalls verwehrt ist. Angesichts der nicht mehr komischen Absurdität dieser Situation tritt das Satirische des Films in den Hintergrund. Für Heimatkunde insgesamt ist das Gespräch mit Herrn Abbas nicht nur deshalb von Belang, weil er der einzige ist, der überhaupt von „Heimat“ spricht, als der Ort, wohin er nicht einmal mehr abgeschoben werden kann. Die Situation des Flüchtlings, der innerhalb Deutschlands zwischen Grenzen leben muss, steht auch in einem eigenartigen Verhältnis zur Bewegung des Films entlang einer zwar nicht mehr existenten, aber doch nicht abwesenden Grenze.

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Die Spuren der ehemaligen Grenzlinie zwischen den beiden deutschen Staaten treten, wie in der Sequenz mit den Gartenzäunen, im Film verschoben wieder auf oder werden durch die ständige Beschäftigung mit der Differenz von Wessis und Ossis präsent gehalten, teilweise in den unpassendsten Situationen. Die „private Demarkationslinie“ eines Plattenbaubewohners kann so zwischen Flur und Hobbyzimmer verlaufen: Auf der einen Seite liegt noch der alte Fußbodenbelag aus der DDR, auf der anderen Seite Auslegeware aus dem Westen, beides von ähnlich schlechter Qualität. „Derselbe Scheiß wie im Osten früher“ (0:34:26) kommentiert Sonneborn die Situation, was umgehend bestätigt wird. Nur teurer sei das. Im Kontext des Films ist dies selbstverständlich mehr als eine Bemerkung zum Fußbodenbelag in verschiedenen Staaten. Das Verfahren, dem Gezeigten und Gesagten immer auch eine übertragene Bedeutung zu geben, betrifft den Begriff der Grenze allgemein. Nicht nur an dieser Stelle zeichnet sich dabei eine Relativierung der klaren Unterscheidung ab, auf die es dem Film mit der ständigen Frage nach Ost oder West doch eigentlich ankommen müsste. Der Untertitel „Feldforschungen im Grenzbereich“ deutet bereits darauf hin, dass von der Grenze hier nicht als einer klaren Demarkationslinie gesprochen werden sollte. Neben der alltagssprachlichen Konnotation des Abseitigen bis Pathologischen ließe dieser Grenzbereich sich auch metaphorisch auf das im Film erkundete kulturelle und soziale Feld beziehen, etwa im dem Sinne, in dem Homi K. Bhabha vom Zwischenraum oder Dritten Raum spricht.25 In Frage steht demnach weniger ein Raum im wörtlichen Sinn, sondern ein diskursiver Bereich, in dem Identitäten wie Ossi und Wessi, Deutsch und Fremd usw. ausgehandelt werden. Stellt dies die im Film ohnehin ironisierte Idee von „einem Volk“, wie sie die Wende- und Nachwende-Rhetorik beherrscht, in Frage, so relativiert sich zugleich der dagegen gesetzte und den Film an der Oberfläche beherrschende Gegensatz von Ost und West. Einer klaren Unterscheidung arbeitet dieses Verständnis eines Grenzraums, wie im Fall des Fußbodenbelags, selbst noch in der Bezeichnung von Demarkationslinien entgegen. Ebenso schließt es den Blick auf die in Deutschland lebenden Migranten ein, auf die aus China stammenden Restaurantbesitzer, die Sonneborn erklären, dass auch sie Deutsche sind (vgl. 1:26:05), ebenso wie auf Herrn Abbas, der den Zwischenraum der Grenzen ganz unmetaphorisch als lähmende Einschränkung erfahren muss.

25 Vgl. Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur, Tübingen 2000, S. 54–57; vgl. auch ebd., S. 6 f.; zu einem Versuch, Bhabhas Konzepte auf Deutschland und speziell die Situation nach der Wende zu übertragen vgl. auch Wolfgang Emmerich, „‚Dritte Räume‘ als Gegenstand der Deutschlandforschung“, in: DAAD Germanistentreffen. Deutschland – Großbritannien, Irland 30.9.– 3.10.2004, Bonn 2005, S. 63–82, v.a. S. 77–81.  

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Während das (zumindest administrativ) problematische und offene Verhältnis von Grenze und Identität im Fall des staatenlosen Flüchtlings eine alles andere als positive Erfahrung bedeutet, stellt die Figur des Wanderers in gewisser Weise deren spielerisch-unverbindliches Gegenstück dar. Bereits die Nennung Sonneborns als „Heimatkundler“ im Vorspann lässt im Grunde offen, ob es sich dabei um eine funktionale Bezeichnung handelt oder um die Zuordnung einer Rolle zu einem Schauspieler. Obgleich es pragmatische Gründe haben mag, erscheint vor diesem Hintergrund auch die Aufteilung des „Heimatkundlers“ in die Off-Stimme von Peter Bieringer, die in der ersten Person spricht, und Sonneborn, dessen gefilmte Erfahrungen von dieser Stimme erzählt werden, einigermaßen paradox. Wer hier eigentlich „ich“ sagt, lässt sich nicht ohne weiteres angeben. Abermals mit Bhabha ließe diese Spaltung sich wieder auf die pseudo-ethnologische Ebene des Films beziehen. Mit Bezug auf eine methodische Überlegung Lévi-Strauss’ weist er darauf hin, dass in der Ethnographie „das Subjekt sich beim Prozeß der Bestimmung seines Wissensgebiets in ein Objekt und ein Subjekt spalten muß“, da der „Beobachtete selbst Teil seiner Beobachtung ist.“ Bhabha überträgt dies auf das ja auch hier relevante Problem von Nationalität und kultureller Differenz: In der ethnographischen Perspektive kultureller Gleichzeitigkeit spaltet sich das nationale Subjekt auf und ermöglicht den Vertretern von marginalen Stimmen und Minoritätendiskurs nun eine theoretische Position und narrative Autorität.26

Bhabhas komplexe Argumentation vollständig dem Film Heimatkunde unterlegen zu wollen, wäre freilich schon im Blick auf diese Stelle problematisch. Denn so sehr der Film darauf aus zu sein scheint, das „nationale Subjekt“ aufzuspalten, geschieht dies, bei aller Aufmerksamkeit für marginale Stimmen wie diejenige des Asylbewerbers, doch aus einer selbst relativ sicheren Position heraus. Nicht zuletzt die Selbstironie, wie sie eben auch die Aufteilung des erzählenden und erlebenden Subjekts ermöglicht, hält das Wissen um den Inszenierungscharakter der „ethnographischen Perspektive“ ständig präsent. Das Offenlegen des Spiels sichert die souveräne Identität des Satirikers, der es sich leisten kann, die eigene Person in die Satire mit einzubeziehen, und stiftet als geteiltes Wissen dessen Gemeinschaft mit den Zuschauern gegenüber den ‚Forschungsobjekten‘. Fraglich bleibt allerdings der Status dieser Objekte und ihrer Erforschung. Gerade als sogenannte Realsatire hat Satire durchaus einen Erkenntnisanspruch, der mit dem parodierten ethnographischen Dokumentarfilm zwar nicht gleichzusetzen, ihm aber doch verwandt ist.

26 Ebd., S. 224.

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Geht es diesem dem eigenen Anspruch nach um eine authentische Repräsentation fremder oder auch eigener Kultur, so beruht das Erkenntnismoment der Satire auf deren Übertreibung. Dafür sorgt zwar der parodistisch-fiktionale Rahmen der Forschungsreise, doch hängt auch er wiederum vom dokumentarischen Anspruch ab. Das ambivalente Verhältnis der vorgeblichen Authentizität der gefilmten Situation – die als rein gespielte Szene so schließlich gar nicht funktionieren würde – zur Künstlichkeit der satirischen Einkleidung spiegelt die Inhaltsebene des Films in der Frage nach einer kulturellen Authentizität, wie sie im titelgebenden Begriff der Heimat in der ein oder anderen Weise impliziert ist.

IV. Übertragungen Auf ein gebrochenes Verhältnis zur Idee von Heimat als emotional besetztem Ort des Eigenen deutet der Titel des Films schon hin. Die „Kunde“ von der Heimat hat sich von dieser im distanziert-forschenden, zumal ironischen,27 Zugriff entfernt, und mit der Anspielung auf ihre Indienstnahme für staatliche Zwecke im Schulunterricht erscheint das Konzept ohnehin dubios genug. Im Film selbst ist, wie erwähnt, nur an einer Stelle von Heimat die Rede, als der Ort, der für den Asylbewerber unerreichbar ist. Nicht so weit davon entfernt ist in Heimatkunde bezeichnenderweise die Rede von der Utopie.28 Über die Neubausiedlung in Großbeeren hieß es, es sei vielleicht „eine Utopie Wirklichkeit geworden, da, wo eine andere gescheitert war“ (0:08:17), während die Siedlung aus der Luft zu sehen war (vgl. Abb. 2). Rein positiv besetzt ist das Utopische hier angesichts des vorhergehenden Gesprächs kaum. Von einer Utopie ist noch einmal beim Besuch der Plattenbauten von Marzahn die Rede. In ihrer Gleichförmigkeit sind diese auch in architektonischer Hinsicht das sozialistische Komplement der Häuser von Großbeeren. Beide Male wird im Film hervorgehoben, dass es sich hier um Variationen immer gleicher Modelle handelt.29 Die

27 Zum problematischen Verhältnis von Heimat und Ironie vgl. Peter Blickle, Heimat. A Critical Theory of the German Idea of Homeland, Rochester (NY) 2002, S. 42 f. 28 Vgl. zur Verbindung des Heimatbegriffs mit der Utopie als „Nicht-Ort“: Bernhard Schlink, Heimat als Utopie, Frankfurt a. M. 2000, v.a. S. 32–35; Schlinks Versuch, den Begriff der Heimat zu retten, gelingt freilich nur um den Preis, mit den problematischen Implikationen diesem auch seine spezifische Kontur zu nehmen (vgl. v.a. ebd., S. 36, S. 40). 29 Vgl. 0:06:37, 0:33:20, selbst wenn an den beiden Stellen auch die Unterschiede des Ost-Westbzw. des sozialistischen und kapitalistischen Wohnungsbaus betont werden, ist die Parallele in der Wiederholung und leichten Variation von vorliegenden Mustern deutlich genug.  

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„Utopie“ in Marzahn freilich ist den Modellen des Neubaugebiets ähnlicher als den aus der sozialistischen Utopie übrig gebliebenen Plattenbauten.

Abb. 3: (0:35:44)

Bei der Besichtigung einer der dortigen Wohnungen zeigt der Bewohner, Herr Köppchen, Sonneborn sein Hobbyzimmer, das zu zwei Dritteln von einer Modelleisenbahnlandschaft ausgefüllt ist. Die Bilder dieser künstlichen Landschaft nehmen den Blick aus dem Flugzeug auf das Neubaugebiet wieder auf (Abb. 3). Es ist ein Blick, der das Gesehene zwar vollständig erfasst, aber dabei von ihm getrennt bleiben muss. Auch die Modellhäuschen selbst ähneln eher dem Neubaugebiet als den Plattenbauten vor dem Fenster (wenngleich diese sich durch Bauverschönerungsmaßnahmen schon beinahe den Modellhäuschen anzunähern scheinen). Die Off-Stimme spricht zunächst umständlich von der Modellbahn als dem „Modell einer posthistorischen Gesellschaft auf Basis des öffentlichen Nahverkehrs“ (0:35:45); später, wenn die Eisenbahn in Betrieb genommen werden soll, heißt es: „Schließlich sollte niemand behaupten, Utopien würden immer an der

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Realität scheitern“ (0:37:05). Genau dies scheint aber zu passieren, wenn ein Defekt an der Anlage die Vorführung schließlich verhindert. Ähnlich wie bei der Neubausiedlung tritt hier die Utopie an die Stelle des untergegangenen Staats. Der Besitzer der Modellbahn, bis heute „kein Freund der Bundesrepublik“ (0:39:10), war schließlich Straßenbahnfahrer in der DDR und erlebte die Wende vor allem als Verkehrschaos, da ein Großteil seiner Kollegen nicht zum Dienst erschien. Ein solches Chaos sei auf seiner Modellbahn, wie er auf Sonneborns Nachfrage versichert, nicht möglich. Das Verhältnis der supplementären Modell-Utopie zur Realität thematisiert Sonneborn bereits vorher mit der Frage, warum es in der Landschaft der Modelleisenbahn keine Plattenbauten gebe. Herr Köppchen, dem offensichtlich schon die bloße Vorstellung von Hochhäusern auf einer Modelleisenbahn vollkommen fremd ist, hat dementsprechend Schwierigkeiten, auf die Frage eine Antwort zu finden: Herr Köppchen: […] das würde einfach, im Grunde genommen, dieses Ganze, dieses ganze äußere Bild, oder dieses Erscheinungsbild der Modelleisenbahn verschandeln. Wenn ich jetzt hier meinetwegen statt diesen einfachen Häusern dort jetzt ’n Elfgeschosser hinbauen würde … Sonneborn: … oder sowas wie da draußen … Herr Köppchen: … oder sowas wie da draußen steht, das würde überhaupt nicht auf diese ganze Anlage passen, denn irgendwo muss auch – spielt auch die Phantasie bei dieser ganzen Sache ’ne Rolle. (0:36:37–0:36:47)

Bei der Modelllandschaft handelt es sich um eine ideale, überschaubare Landschaft, die explizit die Bauweise draußen vor dem Balkon ausschließt und die nur im Modell existiert, als imaginärer, künstlicher Raum. In einem gewissen Sinn ist auch die Neubausiedlung etwas Künstliches, wo ein Musterhaus für alle anderen stehen und doch offenbar den Traum von einem eigenen Heim verkörpern kann. Der Blick der Kamera auf beide Landschaften unterstreicht die Parallele. „Heimat“ sind diese Utopien als etwas Fehlendes oder noch Ausstehendes, als Traum von „Freiheit“ oder der überschaubaren Ordnung des verschwundenen Staats; als „Eigenes“, das emotionale Zugehörigkeit verspricht, bleiben sie jedoch auf Prozesse der Imitation, Übertragung und stellvertretenden Ersetzung bezogen. In beiden Fällen tritt eine Wunschlandschaft an die Stelle einer früheren Utopie und ersetzt diese, indem sie ein vorhergehendes Modell imitiert. Auch Heimatkunde imitiert Modelle, sei es das der ethnologischen Forschungsreise, sei es das der Fußwanderung, die einen heimatlichen Raum erst erschließen soll. Aus der Spannung dieser beiden den Film strukturierenden Modelle zwischen Fremderfahrung und Erkundung des Eigenen gewinnt jener einige seiner Pointen.

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Wenn es zu einer Sequenz, die Sonneborn beim nächtlichen Wandern zeigt, heißt: „Ich ging immer weiter und weiter, so lange, bis ich vor Pekings berühmter Himmelspagode stand“ (0:48:06), steht zunächst die Diskrepanz der tatsächlichen Wanderung zur immensen Entfernung im Vordergrund. Diese findet ihre Auflösung schließlich beim Blick ins Innere der vermeintlichen Himmelspagode: Dort sitzen Menschen an Tischen und die Off-Stimme liest Auszüge aus der Speisekarte eines chinesischen Restaurants vor. „Ich konnte also nicht in Peking, sondern nur in Hohen-Neuendorf nördlich von Berlin sein“ (0:48:28). Komisch wirkt nicht nur die scheinbare Gleichwertigkeit von Peking und Hohen-Neuendorf, sondern auch die Selbstverständlichkeit, mit der hier Vorstellungen des Fremden und Eigenen ignoriert werden. Die Sehenswürdigkeit, für die die Gemeinde im Berliner Umland berühmt zu sein scheint,30 wiederholt ein Modell aus einem ganz anderen kulturellen Kontext. Das in Heimatkunde erschlossene Grenzgebiet von Berlin und Brandenburg, das selbst wiederum stellvertretend für den nicht allein räumlich zu verstehenden Grenzbereich zwischen zwei deutschen Gesellschaften steht, ist nicht nur im Fall der beiden komplementären „Utopien“ durch Übertragungsprozesse gekennzeichnet. Auf chinesische Modelle wird ein weiteres Mal Bezug genommen, wenn Sonneborn chinesische Touristen vor dem chinesischen Teehaus im Park von Schloss Sanssouci fragt, ob es sich bei diesem denn um eine gute Kopie handele. Selbstverständlich hat der Rokoko-Pavillon keinerlei Ähnlichkeit mit einem chinesischen Teehaus und die meisten Befragten können mit der Frage dementsprechend wenig anfangen oder verneinen sie. Formal funktioniert die interkulturelle Fehlübersetzung dieser „preußischen Raubkopie“ (1:28:49) ähnlich wie die parodistische Referenz des Films selbst auf existente Reisemodelle. Die Insistenz auf der Abweichung der Imitation vom Modell betrifft dabei auch das Programm der ironisch imitierten „Heimatkunde“. Diese hätte es im Grunde mit dem Typischen, dem authentisch einer Kultur Zugehörigen zu tun, nicht aber mit teilweise unzulänglichen und kulturell hybriden Nachahmungen. Die ohnehin schon als fremdes Land inszenierte ostdeutsche Provinz wird mit den Motiven aus dem ganz Fernen Osten ein weiteres Mal exotisiert, doch erfüllen die China-Bezüge im Film noch eine weitere Funktion. Die Rede von der „preußischen Raubkopie“ deutet in ihrer Umkehrung bereits auf gängige Assoziationen

30 In der Tat ist zumindest auf dem Banner der Homepage des Orts rechts die Himmelspagode zu sehen, vgl. http://www.hohen-neuendorf.de/index.php (Stand 07.03.2012); unter den auf der Seite angeführten Touristenattraktionen findet sie sich allerdings nicht. Dafür ist sie im Wikipedia-Artikel zum Ort unter den Sehenswürdigkeiten aufgeführt (vgl. http://de.wikipedia.org/wiki/ Hohen_Neuendorf#Kultur_und_Sehensw.C3.BCrdigkeiten [Stand 07.03.2012]), was freilich auf das Konto der Restaurantbesitzer gehen kann.

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zur Wirtschaftsmacht China hin. Bereits in der vorangehenden Szene, am Rand Potsdams, musste Sonneborn sich von aus China stammenden Einwanderern über die Probleme des deutschen Rentensystems und die ökonomische Stärke ihres Herkunftslands belehren lassen. Im Gespräch mit einem Chinesen, der Schloss Sanssouci besichtigt, fragt er schließlich: „Glauben Sie, dass die Chinesen uns eines Tages plattmachen, in Deutschland, in Europa?“ (1:31:00). Da der Befragte den Ausdruck „plattmachen“ nicht kennt, versucht ihm Sonneborn so zu helfen, dass ausreichend Platz für das Missverständnis bleibt, es ginge um eine „Plattform“ zur wirtschaftlichen Kooperation. Etwas zweifelhaft erscheint die Komik der Szene, wenn der chinesische Geschäftsmann aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse freimütig zu erzählen scheint, man beabsichtige Potsdam, die Region, die Landschaft und Kultur „plattzumachen“ und sehr erfreut ist, als Sonneborn ihm anbietet, dabei zu helfen. Der Film endet mit dem „ermutigenden“ Ausblick, dass die Chinesen also bereit seien, Deutschland „plattzumachen, und zwar Ost- und Westdeutschland“ (1:32:32), und mit der „Idee“, dann eine Kopie der chinesischen Mauer an der Stelle der Berliner Mauer zu bauen – „nur wegen der Touristen, natürlich“ (1:32:59). Dieser Schluss versucht noch einmal Eindeutigkeit zu schaffen und die Erwartungen eines Publikums, das Sonneborn aus den eingangs referierten Zusammenhängen kennt, zu erfüllen. Unabhängig von der die Vorgehensweisen des Films ohnehin verfehlenden Frage, ob hier tatsächlich eine Eindeutigkeit erreicht wird – weshalb eine Mauer, wenn beide Teile Deutschlands ohnehin „plattgemacht“ sind? –, ist das Ende mit den über das rein Satirische hinausgehenden Implikationen des Films zu vermitteln. Der strategische Einsatz von nationalen Identitätszuschreibungen im Spiel mit deutschen Ängsten vor der Wirtschaftsmacht China gehört zum satirisch-provokativen Grundverfahren des Films, wie auch die Aufteilung in Ossi und Wessi. Wie gezeigt, ist die Frage der kulturellen Identitäten in Heimatkunde durchaus komplexer und auch im Fall der Chinesen wird deutlich, dass hier auf vorliegende Bilder und Klischees zurückgegriffen wird. Auch bei der „Idee“, wieder eine Mauer zu bauen, handelt es sich ein weiteres Mal um die Übertragung und Imitation eines vorliegenden (fremdkulturellen) Modells auf einen ganz anderen Zusammenhang. In diesen Übertragungsprozessen tritt eine Ebene des Films zutage, die vielleicht mehr über die Frage nach einer auf Deutschland bezogenen „Heimatkunde“ aussagt, als es die polemisch-negative Bezugnahme im programmatischen Anspruch des Films erwarten ließe. So wie der Film sich an der Grenze zwischen Dokumentation und Satire bewegt, zwischen Vorstellungen von Authentizität und Künstlichkeit hinsichtlich der verwendeten Medien und Genres, so verdankt sich die „Heimat“, die er erkundet, der Imitation vorhergehender Modelle, ist mithin nichts „Authentisches“, das exklusive Zugehörigkeit rechtfertigen könnte.

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Auch hinsichtlich der Identität des wandernden Satirikers bewegt sich der Film freilich auf einer Grenze. Relativiert die konsequente Uneigentlichkeit der Ironie zwar auch die vordergründige Bezugnahme auf Konzepte kultureller Eigentlichkeit und deutet an, dass die Frage der nationalen oder kulturellen Identität so ernst nun nicht genommen werden muss, so bleibt dies alles doch angewiesen auf den souveränen Umgang Sonneborns mit der Ironie. Bei aller Selbstironie erlaubt die Inszenierung als Forschungsreisender doch auch einen Blick auf das Gezeigte, der – darin den Luftbild-Sequenzen des Films vergleichbar – es den Zuschauenden ermöglicht, sich aus den gezeigten Zusammenhängen auszunehmen. Eine Erschütterung des eigenen Selbstverständnisses durch die Satire ist hier nicht zu erwarten.

Monika Hohbein-Deegen, Oshkosh

Ankunft im vereinten Land? Identitätssuche und Auseinandersetzung mit Vergangenheit in Reisetexten ostdeutscher Autoren nach 1990 Literarische Reisetexte dienen in der ostdeutschen Literatur nach dem Mauerfall oftmals dazu, die Identitätssuche der ostdeutschen Protagonisten durch das Motiv des Reisens zu artikulieren.1 Reise als Ausdruck des Bedürfnisses, eine neue Umgebung zu entdecken, schließt die eigene Neubestimmung durch Positionierung in einer Fremdwelt ein. Somit bedeutet die Fremdbegegnung gleichzeitig eine Neubestimmung der eigenen Person, und damit der eigenen Identität. Angesichts der Tatsache, dass es gerade das Nicht-Reisen-Dürfen war, das zu den am stärksten empfundenen Einschränkungen der DDR-Bürger zählte, ist es nicht überraschend, dass gerade das Reisemotiv als Methode zur Neubestimmung der eigenen Identität in Texten ostdeutscher Autoren gewählt wurde. Mein Hauptinteresse bei der Untersuchung des Reisens in der Literatur bezieht sich auf die Frage der Darstellung des Fremden als Mittel zur Selbsterkenntnis. Reisen in der von mir betrachteten Literatur gestaltet sich als Katalysator, um eigene Identität zu konstituieren. Obwohl die Protagonisten in diesen Texten sich mit der Absicht, das Fremde zu erfahren, auf die Reise begeben, können sie dieses erlebte Fremde immer nur im Zusammenhang mit der Selbstbetrachtung der eigenen Person erfassen. Durch die Konfrontation mit dem Fremden gelangen sie ultimativ zu einer Auseinandersetzung mit sich selbst. Die Selbsterkenntnis am Ende der Reise ist in diesen Texten oftmals unabgeschlossen. Sie finden am Ende ihrer Reisen nur bedingt zum Ziel ihrer Suche. Wie die Untersuchung zeigt, kann diese Identitätssuche der ostdeutschen Protagonisten sich in den neunziger Jahren auch nur unvollendet gestalten, spiegelt diese Unvollständigkeit ja gerade das Prozesshafte des sich vereinigenden Deutschlands wider. Dementsprechend äußert sich Harald Pätzolt zur Bedeutsamkeit der Darstellung dieser Identitätssuche von Ostdeutschen: Retrospektive und Prospektive müßten […] die jeweiligen Gespräche zur Gegenwart, den Alltag der Menschen begleiten. Es ist […] ganz aussichtslos, ein Gespräch, welches nur das

1 Der folgende Beitrag ist in Teilen meiner Monographie Reisen zum Ich. Ostdeutsche Identitätssuche in Texten der neunziger Jahre, Bern 2010, entnommen.

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Gestern (die DDR) und das Heute (die BRD) kennt, zu führen. Aus den Reiseberichten vom Gestern ins Heute erfahren wir – Gereiste wie Daheimgebliebene – den Wandel ostdeutscher Identität.2

Gerade der Literatur dieser Übergangsphase kommt die Aufgabe zu, diese Identitätsreise zu veranschaulichen. Durch das Reisemotiv kann metaphorisch die Bewegung in den Köpfen gestaltet werden. Anhand zweier Autoren – Thomas Rosenlöcher und Irina Liebmann – und deren Reisetexten soll diese Identitätssuche näher beleuchtet werden. Zunächst fasse ich kurz zusammen, wie Thomas Rosenlöchers Text Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise (1991)3 Identitätssuche als Suche nach der lyrischen Sprache reflektiert. Rosenlöcher sieht sich selbst primär als Lyriker,4 der erst mit der Veröffentlichung eines Prosatextes, Die verkauften Pflastersteine. Dresdner Tagebuch,5 im Jahre 1990 in beiden Teilen Deutschlands bekannt wurde. Mit den Wendeereignissen in Ostdeutschland vollzog Rosenlöcher auch einen Gattungswechsel von der Lyrik zur Kurzprosa. Dieses Phänomen des Aufblühens von essayistischen, tagebuchartigen, protokollarischen und dokumentarischen Publikationen und Interviews in den frühen neunziger Jahren reflektiert durch die Verwendung der Genreform Kurzprosa den Versuch, den sich überstürzenden Ereignissen der Wendemonate literarisch Ausdruck zu verleihen. Gerade diese Sprachform, die durch ihre Knappheit, Offenheit und oftmals auch ästhetische Unvollendetheit geeignet scheint, die eigene Auseinandersetzung mit den weltverändernden Vorgängen in Ostdeutschland zu artikulieren, ermöglicht die literarische Verarbeitung der sich radikal verändernden Gesellschaft. Um Rosenlöchers persönliche Wendung von Lyrik zu Prosa in den Wendemonaten verstehen zu

2 Harald Pätzolt, „Junge Länder – junge Menschen? Ostdeutsche Identität im Wandel,“ in: Axel Knoblich/Antonio Peter/Erik Natter (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer gesamtdeutschen Identität, Köln 1993, S. 101–112, hier S. 112. 3 Thomas Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, Frankfurt am Main 1991. 4 Rosenlöcher bekennt in einer Poetik-Vorlesung an der Universität Halle im Wintersemester 2001/2002 auf eine Frage bezüglich Gedichte- und Prosaschreibens: „In meinem Kopf sind aber auch nur Gedichte, theoretisch. Über Prosa würde ich gar nicht theoretisieren, das ist merkwürdig. Daran sieht man schon, ich bin eigentlich von der Prägung her schon Lyriker.“ Zitiert nach einer Vorlesungsmitschrift in: http://www.erzwiss.unihalle.de/gliederung/grund/poetik/rosen loecher/lesungtr.htm (Stand: 2002). 5 Thomas Rosenlöcher, Die verkauften Pflastersteine. Dresdner Tagebuch, Frankfurt am Main 1990. Diese tagebuchartigen Aufzeichnungen über die Wendeereignisse vom 8. September 1989 bis zum 19. März 1990 – dem Tag der ersten freien Wahlen in der DDR – erschienen zuvor unter dem Titel „Herbsttage“ in der Dresdner Tageszeitung Die Union.

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können, müssen wir seinen Werdegang als Lyriker bis 1989 kurz beleuchten, denn in seinem Fall diente die lyrische Sprache und das Schreiben von Gedichten auch als Alternative zur offiziellen, parteiverordneten DDR-Ideologie- und Ökonomiesprache, die er ablehnte.6 Rosenlöcher wurde 1947 in Dresden als Sohn eines praktizierenden Christen geboren. Der Sohn widersetzte sich jedoch dem Vater, bekannte sich zum Sozialismus und wurde Atheist.7 Trotz seiner Absicht Germanistik zu studieren, erhielt er jedoch nur einen Studienplatz für Ökonomie/ Betriebswirtschaft an der Technischen Universität Dresden. Zu dieser Zeit begann er, Gedichte zu schreiben „als Reaktion auf jene tote Sprache, die ihm jeden Tag aufgezwungen wurde“.8 Noch während seines Ökonomiestudiums besuchte Rosenlöcher 1972 das Poeten-Seminar in Schwerin. Dort beeindruckte den jungen Dichter vor allem Jürgen Fuchs, der im Ton Rudi Dutschkes die Zustände in der DDR faschistoid nannte. Jürgen Fuchs, Kandidat der SED, war desillusioniert von seiner Armee-Zeit und reagierte auf den Parteiaustritt Reiner Kunzes von 1968 mit dem Versuch, die SED von innen zu verändern.9 Daraufhin stellte Rosenlöcher seinen Antrag auf Aufnahme in die SED und begründete diesen Schritt mit den Worten: „Ich war natürlich nicht so hochpolitisch wie Fuchs. Aber ich fand mich dieser kritischen Richtung zugehörig. Bei Fuchs habe ich gespürt, wie man kritisch sein kann. Das hat mich elektrisiert.“10 Im Jahre 1976 begann er sein Studium am Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher. Während dieser Zeit wurde Rosenlöcher vom Chef des Hauses Max Walter Schulz dazu gedrängt, eine Petition gegen die Solidarisierung vieler Autoren mit Wolf Biermann zu unterschreiben, was Rosenlöcher schließlich mit Verzögerung auch tat.11 Später kom-

6 Siehe: Jürgen Serke, Zu Hause im Exil. Dichter, die eigenmächtig blieben in der DDR, München 1998, S. 362. Darin spricht Serke über Rosenlöchers erste lyrischen Versuche als Ökonomiestudent an der Technischen Universität Dresden, die Rosenlöcher als eine Reaktion auf die eintönige, trockene Sprache des Studiums bezeichnet. Serke bietet eine Vielfalt von biographischen Fakten, die aus persönlichen Gesprächen mit dem Autor hervorgehen. Jedoch zitiert er Rosenlöcher oft nicht direkt, stattdessen in indirekter Rede, so dass man oft nicht genau nachvollziehen kann, ob das Gesagte Rosenlöchers oder Serkes Worte widerspiegelt. 7 Ebd., S. 355 und S. 360. 8 Ebd., S. 362. 9 Ebd., S. 363. 10 Ebd. 11 Serke schreibt: „Der Verrat Rosenlöchers an Biermann war ein Verrat an sich selbst. Und er sitzt so tief, daß er nicht nur in zwei seiner Bücher, sondern auch sonst immer wieder darauf zurückkommt: Rosenlöcher wollte sich vor einer Unterschrift drücken und wurde krank. Als er nach ein paar Wochen zurückkam, war die Aktion gegen Biermann erst recht in vollem Gange. Wieso er dem Professor Max Walter Schulz derart in den Rücken fiele, wurde er gefragt. Es gehe um den Sozialismus, reagierte er. Darum gehe es Schulz auch, war die Antwort: ‚Gerade wer Veränderungen will, muß unterschreiben‘“ (Ebd., S. 363).

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mentierte er: „Ein absoluter Tiefpunkt in meiner Biographie.“12 1976 wurde er in die Partei aufgenommen, doch elf Jahre später, 1987, fand er den Mut, aus der SED wieder auszutreten. Seit 1982, als sein erster Gedichtband Ich lag im Garten bei Kleinschachwitz erschien,13 ist Rosenlöcher freischaffender Autor. Im Jahre 1988 erschien sein zweiter Gedichtband Schneebier.14 Dann kam das Jahr 1989, und Rosenlöcher wechselte von der Lyrik zur Prosa.15 Der Anlass dazu kam von der Dresdner Zeitung Die Union, die ihm den Auftrag erteilte, die Wendeereignisse für die Leser zu dokumentieren. Wie bereits erwähnt, erweist sich nun die kurze Prosaform des Zeitungsartikels als geeignet, diese historische Epoche in Literaturform sprachlich emotional aufzuzeichnen. Was in diesen Zeitungsartikeln im Vordergrund steht, ist das subjektive Widerspiegeln der historischen Ereignisse von 1989/90. Bereits in den tagebuchartigen Aufzeichnungen der unmittelbaren Wendemonate reflektiert der Autor eine Identitätserschütterung und beginnende Selbstanalyse. Rosenlöcher artikuliert unter anderem die Unmöglichkeit, sich selbst weder in den Beschreibungen seiner ostdeutschen Landsleute noch in denen der Westdeutschen wiederzuerkennen.16 Er kommentiert die Maueröffnung in folgender Weise: „Die Grenzen sind offen! Liebes Tagebuch, mir fehlen die Worte. Mir fehlen wirklich die Worte.“17 Daraufhin bezeichnet er die DDR in einer Allegorie als ein Land, das vom Dornröschenschlaf

12 Zitiert ebd., S. 363. 13 Thomas Rosenlöcher, Ich lag im Garten bei Kleinschachwitz. Gedichte & zwei Notate, Halle/ Leipzig 1982. Jürgen Serke bemerkt zu diesem Gedichtband: „Allein schon die Tatsache, daß dieser Band die Zensur passiert hatte, grenzte an ein Wunder, weil es in dem Band geradezu von Fluchtgedichten wimmelte“ (Serke, Zu Hause im Exil, S. 365). 14 Thomas Rosenlöcher, Schneebier: Gedichte, Halle 1988. 15 Vgl. dazu Julia Kormann: „Bei dem vor 1989 in Westdeutschland weitgehend unbekannten Dichter Thomas Rosenlöcher ist der Genrewechsel von der Lyrik zur Prosa deutliches Signal für veränderte Produktionsbedingungen.“ (Julia Kormann, „Satire und Ironie in der Literatur nach 1989. Texte nach der Wende von Thomas Brussig, Thomas Rosenlöcher und Jens Sparschuh“, in: Volker Wehdeking [Hrsg.], Mentalitätswandel in der deutschen Literatur zur Einheit [1990–2000], Berlin 2000, S. 165 f.) 16 Vgl. dazu Julia Kormann: „In den Konfrontationen von Selbst- und Fremdbild Ost- und Westdeutscher kann sich das Tagebuch-Ich nicht wiederfinden – weder in den ‚hungrig dreinblickenden Menschen im Einheitsanorak‘, die ‚heuschreckenartig über dieses wohlgeordnete Land herfallen‘, noch in der ‚Sattheit‘, die ‚den anderen Deutschen‘ im Westen ‚auf die Stirn geschrieben steht‘ erkennt er sein Selbstbild wieder, das ihm auch hier seltsam abhanden scheint – der Zusammenhang zwischen einer verunsicherten Realitätswahrnehmung und einer Identitätserschütterung ist hier offensichtlich.“ (Julia Kormann, Literatur und Wende: Ostdeutsche Autorinnen und Autoren nach 1989, Wiesbaden 1999, S. 285). 17 Rosenlöcher, Die verkauften Pflastersteine, S. 45.  

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erwachte,18 um schlussfolgernd zu fragen: „Wie gehen die Märchen weiter? Ich fahre erst einmal in den Westen.“19 Dabei deutet der Autor auf das Problem der Sprachlosigkeit angesichts der fast schon unglaublichen Geschehnisse im November 1989 hin. Zwar versucht er, in seinem Tagebuch lyrische Passagen einzubauen, doch sind diese Erlebnisse zu unmittelbar, als dass sie durch Lyrik reflektiert werden könnten. Hinzu kommen Eindrücke des Verlustes hinsichtlich der sich auflösenden DDR, die gegen Ende des Tagebuches artikuliert werden.20 Dieser Verlust beinhaltet auch einen Sprachverlust, der mit einem Identitätsverlust einhergeht. Am Beginn von Rosenlöchers zweiter Prosaveröffentlichung aus dem Jahre 1991 Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise schreibt er daher: „Seit Wochen hatte ich davon gesprochen, einmal für ein paar Tage in den Harz wandern zu gehn, um wenigstens andeutungsweise wieder Gedichte schreiben zu können“.21 Tatsächlich gestaltet sich die Harzreise von Rosenlöchers Erzähler als eine Suche nach der eigenen Sprache als Dichter, doch auch nach der eigenen Identität als Ostdeutscher nach den Ereignissen von 1989/90. Wie sich Rosenlöcher in den siebziger Jahren in Ablehnung der toten Sprache seines Ökonomiestudiums der Lyrik als Ersatzsprache zuwandte, er damit also eine eigene Gegensprache als Lyriker und somit eine eigenständige Identität durch diese Lyrik zu schaffen versuchte, geschieht im Jahre 1989 eine auffällig ähnliche Neudefinition als Autor. In gewisser Weise passiert nun genau das Gegenteil. Sich der gesellschaftlichen Realität stärker als zuvor zuwendend, ausgelöst durch die Veränderungen im Land, verliert der Lyriker vorläufig seine lyrische Sprache und seine Identifikation als Lyriker und Oppositioneller gegenüber dem verhassten Regime. Stattdessen beginnt er, seine Zugehörigkeit zu einem Land zu entdecken, das sich bereits in Auflösung befindet. Seine Reflektionen müssen sich gezwungenermaßen auf die unmittelbaren aktuellen Geschehnisse beschränken, denn jegliche künstlerische lyrische Verarbeitung ist dem Dichter noch nicht möglich. Sein Selbst scheint in diesem Phänomen des gesellschaftlichen Wandels verlorenzuge-

18 Ebd.: „Nachdem Dornröschen wachgeküßt wurde, erwachten die Majestäten und der ganze Hofstaat und sahen einander mit großen Augen an. Und die Pferde im Hof standen auf und rüttelten sich; die Jagdhunde sprangen und wedelten, die Tauben auf dem Dache zogen das Köpfchen unterm Flügel hervor, sahen umher und flogen ins Feld und selbst die Fliegen an den Wänden wunderten sich, warum sie so lange geschlafen hatten.“ 19 Ebd., S. 49. 20 Vgl. dazu Kormann: „Es bleibt für den Tagebuchschreiber das Gefühl des Verlustes, von ‚verlorener Heimat‘ und Passivität. Während die historischen Zeitläufte [sic] eine gänzlich neue Richtung eingeschlagen haben, knüpft die letzte Eintragung des Tagebuches an Motive der ersten an; ‚Schritt für Schritt die Zeit verlangsamend‘, beginnt der Tagebuch-Erzähler wieder zu wandern.“ (Julia Kormann, Literatur und Wende, S. 291) 21 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, S. 9.

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hen. Er kann sich nur schwer positionieren, weder als Westdeutscher noch als Ostdeutscher. Er findet sich nicht nur als Dichter in einer Sprachkrise, sondern auch in einer persönlichen Identitätskrise wieder. Der Verlust der lyrischen Sprache ist eine Ausdrucksform dieser erlebten Identitätserschütterung. Die Harzreise selbst dauert drei Tage; sie beginnt am 1. Juli 1990, dem Tag der deutschen Währungsunion, und endet am 3. Juli 1990, dem Tag, an dem die westdeutsche Fußballnationalmannschaft Weltmeister wurde. Allein die Strukturierung der Erzählung durch diese beiden zeitlichen Ereignisse bekräftigt die Absicht des Autors, sich mit der Problematik der deutschen Nation auseinanderzusetzen. Die Einführung der westdeutschen Währung im Osten eröffnete den Bewohnern in der DDR nun auch die finanzielle Möglichkeit, als Konsumenten an den Angeboten des Westens teilzunehmen. Vor allem jedoch bedeutete die Einführung der D-Mark auch die Möglichkeit, in westliche Länder zu reisen. Allerdings führte die Umstellung auf die Westwährung auch dazu, dass jetzt die Bedingungen für eine Marktwirtschaft geschaffen wurden, der die Ostdeutschen teilweise noch nicht gewachsen waren. Rosenlöchers Ich-Erzähler, ohne Zweifel ein alter Ego des Autors22, wählt sich als Reiseziel bewusst den Harz, ein Mittelgebirge, das durch seine geographische Lage im früheren Grenzgebiet für die Wiederbegegnungen zwischen Ost- und Westdeutschen nach der Grenzöffnung von 1989 bedeutsam geworden war.23 „Natürlich mußte es der Harz sein, da Deutschland wieder eines werden sollte.“24 Der Autor folgt aber auch dem Beispiel anderer Dichter in der deutschen Geschichte, die den Harz als Ausgangspunkt von Wanderungen und Reflektionen über eigene und gesellschaftliche Belange benutzten. In seinem Text wird namentlich immer wieder Goethe genannt, jedoch lehnt sich der Autor inhaltlich und sprachlich in erster Linie an Heinrich Heine an.25 Rosenlöcher sieht in Heine

22 Rosenlöcher beschreibt den Ich-Erzähler immer wieder mit autobiographischen Details, angefangen mit der physischen Charakterisierung mit Vollbart, langen Haaren (vgl. Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, S. 14: „deutlich im Nacken wehenden Haar“) und Knulpnase sowie Nickelbrille (vgl. ebd., S. 90) bis hin zu Altersangaben, Referenzen zur sächsischen Heimat, dem Hinweis auf seine Frau und andere Fakten. 23 Vgl. dazu auch Hermann Bausinger: „Das Büchlein bewegt sich nicht nur topographisch zwischen Ost und West. Die Wende, der Übergang, das Zwischenland ist das Thema – Unsicherheit und das tastende Suchen nach einer neuen Selbstgewißheit bei den ehemaligen DDRBürgern, ein neues Spiel mit neu gemischten Karten zwischen Ost und West, oder richtiger wohl: zwischen West und Ost“ (Hermann Bausinger, „Zeitbilder. Schubert-Literaturpreis“, in: ndl 487/ 1993, S. 168–175, hier S. 170 f.). 24 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, S. 9. 25 Kormann weist darauf hin, dass auch der Bezug zu Heinrich von Kleists Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden von Wolfgang Ertl herausgearbeitet wurde. Vgl. Kormann, Literatur und Wende, S. 292 sowie Wolfgang Ertl, „‚Denn die Mühen der Ebene lagen hinter uns  

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eine Identifikationsfigur, die ihm eine satirisch-kritische Auseinandersetzung mit Deutschland im Jahre 1990 erlaubt. Ebenso sieht er sich angesichts der bevorstehenden Vereinigung des Landes wohl als Außenseiter, als einen Emigranten, der zwar, im Unterschied zu Heine, nie das Land verlassen musste, der sich jedoch trotzdem, selbst in der DDR, als Zurückgelassener, Oppositioneller, Unterschätzter empfand. Die bevorstehende Vereinigung gibt ihm jedoch nicht das Gefühl, nun kein Außenseiter mehr zu sein. Zwar sind die Grenzen offen, doch innerlich fühlt sich der Erzähler isolierter als zuvor, denn dieser gesellschaftliche Umbruch hat größere Auswirkungen auf seine Identität als die zuvor in der DDR empfundene innere Emigration. Obwohl Heine nicht ein einziges Mal im Text namentlich erwähnt wird, fügt Rosenlöcher wörtliche oder abgewandelte Heine-Zitate in seine Erzählung ein. Die Anlehnung an Heine geschieht daher neben der örtlichen Annäherung gerade durch die Verwendung eines satirischen Tones bei der Beschreibung von gesellschaftlichen Umständen, vor allem der Mitmenschen in Ost und West, wie aus Heines satirischem Versepos Deutschland. Ein Wintermärchen (1844) bekannt ist.26 Als Dichter durch die Wende in seinem lyrischen Vermögen gelähmt, folgt der Erzähler dem Vorbild anderer Dichter, um sich durch das Erlebnis der Harzreise neue Eindrücke, aber auch ein neues Selbstverständnis zu verschaffen. Er setzt sich, wie bereits angedeutet, nicht nur mit Heine auseinander, sondern auch mit Goethe, der mehrmals im Text erwähnt wird. Irene Schülert hat in ihrer Rezension für die tageszeitung diesen Bezug zu Heine und Goethe untersucht:

und vor uns die Mühen der Berge‘: Thomas Rosenlöchers diaristische Prosa zum Ende der DDR“, in: Elrud Ibsch, Ferdinand van Ingen (Hrsg.), Literatur und politische Aktualität, Amsterdam1993, S. 21–38. 26 Dieses Vers-Epos beruht auf Heines Reise nach Hamburg zu seinem Verleger Campe im Herbst 1843 nach fast dreizehnjähriger Abwesenheit aus Deutschland. Er kam am 30. Oktober in Hamburg an und reiste am 7. Dezember von Hamburg ab. Deutschland. Ein Wintermärchen vollendete er bereits zu Beginn des Jahres 1844, im Herbst 1844 wurde es bei Hoffmann & Campe als Teil der Neuen Gedichte und als Einzeldruck veröffentlicht. Vgl. auch Heines Vorwort zu Deutschland. Ein Wintermärchen vom 17. September 1844: „Das nachstehende Gedicht schrieb ich im diesjährigen Monat Januar zu Paris, und die freie Luft des Ortes wehete in manche Strophe weit schärfer hinein, als mir eigentlich lieb war. Ich unterließ nicht, schon gleich zu mildern und auszuscheiden, was mit dem deutschen Klima unverträglich schien. Nichtsdestoweniger, als ich das Manuskript im Monat März an meinen Verleger nach Hamburg schickte, wurden mir noch mannigfache Bedenklichkeiten in Erwägung gestellt. Ich mußte mich dem fatalen Geschäfte des Umarbeitens nochmals unterziehen, und da mag es wohl geschehen sein, daß die ernsten Töne mehr als nötig abgedämpft oder von den Schellen des Humors gar zu heiter überklingelt wurden“ (Heinrich Heine, Heinrich Heine’s Gesammelte Werke. Kritische Gesamtausgabe. Bd. 2, Gustav Karpeles [Hrsg.], Berlin 1893, S. 185).

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Wenn es im Inneren gärt, etwas zur Entscheidung drängt, wenn die erhoffte Inspiration am Schreibtisch ausbleibt, der große Wurf nicht gelingen will – treibt es deutsche Dichter und Denker nicht selten hinaus in die Berge und Wälder. Beliebtes Ziel: der Harz und der Wunsch, seinen höchsten Berg, den Brocken, zu erklimmen; als Metapher dafür, daß die gesteckten geistigen, beruflichen oder persönlichen Ambitionen ebenso hoch hinaus gelangen und einen Überblick über die eigenen Irrungen und Wirrungen ermöglichen mögen.27

Dazu gesellt sich in Rosenlöchers und im ostdeutschen Fall allgemein die Notwendigkeit der Rückschau. Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entwickelt sich zu einem entscheidenden Motiv in Rosenlöchers Erzählung. Die angedeutete Konfrontation mit dem Dichterfürsten Goethe und die wiederholte Identifikation mit Heine dienen dem Autor dabei als Referenzpunkte oder Anlässe, sich zu positionieren. Goethe, der in Rosenlöchers Beschreibung immer mehr dem westdeutschen Großkapitalisten gleicht, steht dem Kritiker, Satiriker und Außenseiter Heine, und in gewisser Weise Rosenlöcher selbst, gegenüber. Rosenlöchers Erzähler stellt sich in Anlehnung an Heine Goethe gegenüber. Diese Positionierung ermöglicht dem Autor ein Spiel mit Identitäten, sowohl mit seiner eigenen, aber auch zu anderen, nicht nur Dichterkollegen, sondern auch Zeitgenossen auf beiden Seiten der innerdeutschen Grenze. In Konfrontationen mit diesen Zeitgenossen erfolgt Rosenlöchers satirisch-ironische Auseinandersetzung mit der Gesellschaft im Jahre 1990. In Verbindung zu Heine, Goethe und anderen Dichtern sowie in den Rückblicken auf die eigenen Entscheidungen seiner Vergangenheit sowie im Spiel mit Identitäten versucht der Erzähler eine Selbstdefinition, eine Identitätsbestimmung. Nachdem der Erzähler zunächst ostdeutsche Harzstädte bewandert hat, findet er sich im siebzehnten und achtzehnten Kapitel nachts im Walde wieder, und dieses Erlebnis gestaltet sich im Text als Höhepunkt hinsichtlich der Auseinandersetzung des Protagonisten mit seiner Vergangenheit. Im Dunkel der Nacht, allein im Wald, die Natur so unmittelbar erlebend, dass es ihm nun unmöglich wird, „das Wort ‚Waldeinsamkeit‘ zu sagen“,28 glaubt der Erzähler ein „Untergangsticken“ zu vernehmen, welches ihn „vierzigjähriger Duldung anklagte“.29 Das Ticken seiner in Quedlinburg erworbenen Ruhla-Taschenuhr erinnert ihn an vierzig Jahre DDR-Staat.30 Vom Wegwerfen der Uhr erhofft er sich eine Erlösung

27 Irene Schülert, „Goethe, Heine und Rosenlöcher. Die Harzreise, durch die Mühen der Berge, beschrieben von Thomas Rosenlöcher“, in: die tageszeitung vom 25.07.1992, S. 16. 28 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, S. 66. 29 Ebd., S. 67. 30 Vgl. dazu auch Joachim Pfeiffer: „Die Taschenuhr wird zur Allegorie auf die in beiden Staaten problematische Zeiterfahrung: die stagnierende, monolithische Zeit im Osten und die hektische, sich überstürzende Zeit im Westen, die nicht mehr im Dienst von utopischen Veränderungen, nur

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vom anklagenden Schuldgeticke. Daraufhin plagt ihn ein Traum, in dem ihn die Gestalten seiner Harzwanderung zu seinem Verhalten in der DDR befragen. Diese Figuren machen ihn für sämtliche Missstände verantwortlich und hinterfragen seine Mitgliedschaft in der Partei. Vom Gewitter aus seinem Traum aufgeschreckt, empfindet der im strömenden Regen Ausharrende nun doch so etwas wie Erleichterung. Schließlich im Westen angekommen gesteht sich der Erzähler ein, diese noch als bedrohlich erfahrene neue Realität gewünscht zu haben, und dieses Eingeständnis ermöglicht es ihm nun, sich in gewisser Weise der veränderten Wirklichkeit um ihn herum anzupassen oder sich doch zumindestens mit dieser zu arrangieren. Ausgedrückt wird das im Kauf neuer Schuhe der teuren Westmarke „Mephisto“, die nun die ausgetretenen Ostschuhe ersetzen. Wilfrid Grauert interpretiert diesen Schuhwechsel folgendermaßen: Die erste Wanderung mit dem neuen West-Schuh wird gleichsam als Initiation in die neue, die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft gestaltet. […] Indem der Autor-Erzähler phantastisch-surreale Elemente einbezieht, wird der Eintritt in die neue gesellschaftliche Ordnung überhöht; sie wird aber auch ironisch perspektiviert als Parodie auf die Taufe Christi. Zu guter Letzt verweist der Markenname des Schuhs […] noch auf Goethes opus magnum und damit auf den Klassiker selbst, der ja in Rosenlöchers Prosatext als eine Kontrastfigur zum Autor-Erzähler fungiert.31

Diese äußerliche Veränderung des Protagonisten, der seine alten ausgetretenen Ostschuhe mit neuen Westschuhen ersetzt, der sich eingesteht, die erfahrenen Veränderungen schon immer gewollt zu haben, der aber trotz Westschuhen noch immer sein typisches „Denkungsgeschnauf“ bewahrt, geschieht symbolisch auf Seite 89. Obwohl sich nun die Gangart des Wanderers durch das westliche Produkt und im übertragenen Sinne durch die westliche Erfahrung verändert hat, vernimmt er noch immer sein „Denkungsgeschnauf“, was Ausdruck dafür ist, dass zwar eine Wandlung mit dem Reisenden vonstatten gegangen ist, dass damit seine alte Identität jedoch nicht einfach aufgehört hat zu existieren. Stattdessen symbolisiert das neue Gehen nun die Komplexität der Identitätskonstruktion der Erzählerfigur. Diese hat nicht nur ein neues Gehen entwickelt, sondern im Verlaufe dessen auch Komponenten der eigenen Vergangenheitsgeschichte „wieder-

noch von technischen Erneuerungen steht. Die Veränderungsbeschleunigung im Westen setzt auch das Neue dem schnellen Veralten aus.“ (Joachim Pfeiffer, „Utopie und Utopieverlust. Die Schriftsteller und das vereinigte Deutschland,“ http://home.ph-freiburg.de/pfeiffer/utopie.htm. [Stand 16.10.2012]) 31 Wilfried Grauert, „Harzreise im Sommer (mit Heine im Herzen) oder Auf der Suche nach einer neuen (Autor-)Identität“, in: Weimarer Beiträge 1/1994, S. 103–118, hier S. 107.

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entdeckt“. Rosenlöcher veranschaulicht diese Identitätsentdeckung durch das Motiv des Gehens und der Veränderung dieses Gehens. Wiederum symbolisch, auf Seite 90, steht dann das Ergebnis dieser Suche – das Gedicht des Erzählers Das Zitterbild. Am Ende der Reise angekommen, ist der Autor nun wieder in der Lage, Gedichte zu schreiben. Der Inhalt des Gedichtes spiegelt die Problematik des Individuums auf der Suche zu sich selbst wider. Wilfrid Grauert sieht im Gedicht das „Resümee der Identitätssuche“ als „endgültigen Verlust der alten Identität“.32 Das blasse Spiegelbild im Wasser beginnt die eigene Identität des Dichters andeutungsweise zu reflektieren. Dabei spielt die Erfahrung der Kindheit eine entscheidende Rolle. Die „eisige Kälte“, die dem lyrischen Ich „bis ins Hirn“ dringt,33 signalisiert sowohl Schock und Schmerz als auch ein Aufwachen, ein Zu-Sich-Selbst-Finden. Die ihn anschauenden bittenden Augen signalisieren die Einsicht des Erzählers, sich neu orientieren zu müssen. In diesem Sinne muss der Erzähler am Ende seiner Harzreise ein verändertes Selbst erkennen, das ein Resultat aus alter Identität und erlebter Neuerfahrung in der neuen Wirklichkeit darstellt. Durch das Gedicht am Ende des Textes hat der Erzähler neben der „Wiederentdeckung des Gehens“ auch seine dichterische Sprache wiedergefunden, die wiederum eine veränderte zu sein scheint. Ausgedrückt wird dies im Thema des Gedichtes, der Entdeckung der eigenen Person. Der Protagonist sieht sich weder als nur ostdeutsch noch als westdeutsch und hat definitive Schwierigkeiten mit dem Konzept gesamtdeutsch. Wie der Text zeigt, fühlt sich der Erzähler ständig hin- und hergerissen zwischen Euphorie und Ablehnung, Hoffnung und Skepsis, Ernsthaftigkeit und Verspottung der erlebten Reisebeobachtungen. Ganz in Heines Ton leidet der Dichter an Deutschland und liebt es doch aus vollem Herzen. Daher ist es ihm auch nur in Heines satirischer, ironischer und oftmals sogar melancholischer Art und Weise möglich, seine Gefühle gegenüber seinem neuen und alten Heimatland zu artikulieren. In der Erkenntnis seines neuen Selbst, das jedoch auch teilweise seine alte Identität beinhaltet, drückt der Dichter nun Zufriedenheit aus. Jedoch ist diese Neuerkenntnis noch sehr vage, was im Titel des Gedichtes, dem Zitterbild, ausgedrückt wird. Mit ihrem 1997 erschienenen Roman Letzten Sommer in Deutschland. Eine romantische Reise34 greift Irina Liebmann ebenfalls die Thematik der Identitätsfindung im vereinten Deutschland auf und positioniert sich damit im Bereich der Reiseprosa als eine Autorin, der es gerade durch ihre doppelte ostdeutsche und

32 Ebd., S. 108. 33 Rosenlöcher, Die Wiederentdeckung des Gehens beim Wandern. Harzreise, S. 90. 34 Irina Liebmann, Letzten Sommer in Deutschland. Eine romantische Reise, Köln 1997.

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Westberliner Perspektive bei der Betrachtung der Verhältnisse in Ost- und Westdeutschland gelingt, ein relativ direktes, emotionales, historisch bedingtes und dabei alltägliches Bild der Lebensbedingungen in der deutschen Gesellschaft nach der Wende zu gestalten. 1943 in Moskau geboren, seit 1945 in der DDR aufgewachsen, lebte Irina Liebmann seit 1975 als freie Schriftstellerin in Ostberlin. Im Jahre 1982 erschien ihr erstes Buch Berliner Mietshaus. Es folgten Reportagen, Hörspiele und Theaterstücke.35 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, siedelte Liebmann nach Westberlin über und begann damit eine Art Transitexistenz,36 da sie sich weder im Westteil noch im Ostteil der Stadt heimisch fühlte und daher ständig zwischen Ost und West hin und her pendelte. Dieses Erlebnis verarbeitete sie in ihrem 1994 erschienenen Roman In Berlin. Bereits in diesem Text reflektiert Liebmann über die Problematik der Identitätssuche und der individuellen Orientierung in der Gesellschaft. Damit bereitete sie gewissermaßen die Thematik ihres Romans aus dem Jahre 1997 Letzten Sommer in Deutschland vor. Noch weiter distanziert von fiktionaler Beschreibung und in dokumentationsähnlicher Annäherung an ihre Stätten der Begegnungen setzt die Autorin diese Suche nach persönlicher Zugehörigkeit in Deutschland, nach Identität und Bestandsaufnahmen fort. Das Ergebnis ist ein ganz anderer Roman als In Berlin, der in seinem harmlos erscheinenden Untertitel Eine romantische Reise seine Absicht der exakten Widerspiegelung ost-, west- und gesamtdeutscher Gesellschaftsbedingungen, Situationen und Meinungen verschleiert. Liebmann wählt ganz bewusst das Genre der Reiseprosa, um in ihrem Unterwegssein in Deutschland symbolisch auch das Unterwegssein in ihrer Selbstsuche zu gestalten. In dem bedeutsamen Satz „Es ist alles ganz anders, aber das war meine Reise“,37 den sie ihrem Roman voranstellt, bewahrt sie von Anfang an ihren Anspruch auf Subjektivität des Dargestellten. Wolfgang Werth bezeichnet den Roman als „ein Buch, dessen Verfasserin ihre starke Persönlichkeit keinesfalls verleugnen will. Sich sachlich, objektiv zu geben, liegt ihr so fern wie

35 Zu ihren Veröffentlichungen zählen unter anderem: Berliner Mietshaus, Halle/Leipzig 1982, Mitten im Krieg, Frankfurt am Main 1989, Quatschfresser. Theaterstücke, Frankfurt am Main 1990, In Berlin, Köln 1994. Daneben erschienen zahlreiche Hörspiele, Reportagen und Kinderbücher. Zu Liebmanns Auszeichnungen gehören unter anderem der Hörspielpreis der DDR (1980), der Ernst Willner-Preis (1987), der Aspekte Literaturpreis (1989), der Förderpreis zum Bremer Literaturpreis (1990), ein Stipendium des Deutschen Literaturfonds (1990), eine Ehrengabe der Deutschen Schillergesellschaft (1996) sowie der Berliner Literaturpreis (1998). 36 Der Begriff Transitexistenz wurde zuerst von Wilfried F. Schoeller in der Sendung „Bücher Bücher“ des Hessischen Rundfunks im Zusammenhang mit Liebmann benutzt. Siehe: http:// 195.4.128.78/fs/buecherbuecher/buch/liebmann.html (Stand 2002). 37 Liebmann, Letzten Sommer in Deutschland. Eine romantische Reise, S. 7.

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‚romantisch‘ vom schönen Deutschland zu schwärmen.“38 Was sie anstrebt und auch realisiert ist ein Reisebuch, das in gewisser Weise dadurch, dass es trotz seiner reportagenahen Beschreibungen auch Literatur, sogar Lyrik ist, eine Vermischung der Genrekategorisierungen vornimmt und sich somit in die Tradition der offenen Form, wie sie in der deutschen Frühromantik entwickelt wurde, einreiht. Nicht nur die Form und der Hinweis im Untertitel führen in die Romantik, auch der Bezug zu Heinrich Heine – Liebmann verwendet bewusst die Worte „Sommer“ als Gegenstück zu Winter(märchen) und „romantische Reise“ – ordnet den Roman in eine Traditionslinie der deutschen Literatur ein, die die wiederkehrende Frage nach der deutschen Nation und deutscher Identität aufgreift und nach der Vereinigung beider deutscher Staaten fortsetzt. Liebmanns Sprache ist oft lyrisch, sie gebraucht freie Rhythmen, wobei das Zeilenbild selbst oft nur durch ein Wort, sogar nur eine Silbe pro Zeile bis hin zu Gedankenstrichen gestaltet ist. An anderen Stellen des Romans verwendet sie dichte Prosa; oftmals findet man einzelne Abschnitte innerhalb eines Kapitels durch Leerstellen abgesetzt. Zusätzlich benutzt sie persönliche Fotoaufnahmen, die den Text ergänzen. Durch insgesamt dreizehn Schwarz-Weiß-Aufnahmen supplementiert sie ihre Textaussagen. Neben Fluss- und Gebäudeaufnahmen wählt sie Objekte von historischer und gegenwärtiger Symbolkraft. Ihr erstes Foto zeigt die Oder mit Blick auf die deutsch-polnische Grenze. Ihre letzte Fotografie stellt den Rhein in der Nähe der Schweizer Grenze dar. Beide Fotos stellen nicht nur Anfang und Ende ihrer Reise dar, sie markieren auch geographische und politische Begrenzungen. Ebenso bedeuten diese Flüsse aber auch immerwährende Bewegung und Veränderung, also genau das Gegenteil von feststehenden Grenzmarkierungen. Andere Fotos sind geprägt von Objekten, die in ihrem Vergangenheitsbezug eine zeitliche Positionierung der deutschen Gesellschaft versuchen. So fotografiert die Autorin zum Beispiel einen alten Flakscheinwerfer an der polnischen Grenze in Seelow, der an die Schlacht vom 16. April 1945, bei der unzählige russische und deutsche Soldaten fielen, erinnert. Korrespondierend im Text hinterfragt die Erzählerin die offizielle Geschichtsdarstellung, die immer nur von Opfern redet. Somit bilden Foto und Text bei Liebmann mitunter eine gegensätzliche Einheit. Sie wählt ihre Bilder gezielt aus und ergänzt ihre ebenso subjektiv gewählten, scharfen Beobachtungen durch Kommentare, die sich direkt auf das Gesehene beziehen und dieses in Frage stellen. Das Resultat ist ein angedeuteter Dialog mit dem Leser, den die Autorin in den Gesprächen mit Menschen, denen sie auf ihrer Reise begegnet, geradezu provoziert und somit den Leser

38 Wolfgang Werth, „Im Rösselsprung durch Deutschland. Irina Liebmanns Sommerreise 96“, in: Süddeutsche Zeitung vom 25.10.1997.

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inspiriert, am Diskurs teilzunehmen. Was sich anfangs als schlichtes Reisetagebuch darstellt, wird im Laufe der Lektüre zu einem geschickt konstruierten Diskussionsangebot über nationale und individuelle Befindlichkeiten. Was den Text ebenso in die Tradition der Romantik platziert, ist der dominierende ironisch gewählte Unterton in den Beschreibungen ihrer Erlebnisse. Dabei kommentiert die Erzählerin gerade dann ironisch, wenn das Beobachtete auf subtile Weise hinterfragt werden soll. Sie spart nicht an Selbstkritik, ja hinterfragt auch ihre eigene Person. Ihre Reiseroute beginnt in Westberlin, führt zunächst in den Osten nach Lebus, Seelow, Frankfurt/Oder, Lübben, Hoyerswerda, dann in südwestlicher Richtung nach Bautzen, Dresden, ins Erzgebirge, nach Zschopau, Chemnitz über Münchberg in die alten Bundesländer nach Bayreuth, Nürnberg, Regensburg, Ingolstadt, Augsburg, München und endet schließlich am Rhein bei Schaffhausen. Diese geographischen Ortsbestimmungen stellen nur die äußerlichen Reisestationen dar; meist sind sie bewusst gewählt, doch oft lässt sich die Protagonistin von der geplanten Reiseroute abbringen und entdeckt durch angebliches Verpassen der Autobahnausfahrt oder durch verlockende Hinweisschilder neue, unbekannte und doch, wie sich herausstellt, für sie bedeutsame Stätten. Was sie in diesen Orten und Landschaften sucht und zu finden hofft, ist meist von persönlichen Vorlieben geprägt. Was sie tatsächlich auffindet, ist nicht immer das Erwartete, sondern relativiert ihre Betrachtungen der deutschen Gesellschaft und deren Umgang mit Geschichte und Gegenwart. Durch die fehlende Nummerierung der Kapitel erscheint die Reise selbst bezüglich der Dauer und des Verlaufs spontan und weniger kalkuliert. Was jedoch auffällt, ist die scheinbare Eile, das angedeutete Getriebensein von einer undefinierbaren Kraft, mit der dieses Reisevorhaben angegangen wird. Der erste Satz des ersten Kapitels lautet dementsprechend: „Es war ja fast zu spät, es war Juli.“39 Dieses Gefühl der Eile, der Zwang, irgendwo anzukommen, spitzt sich im Verlauf des Romans zu. Das letzte Kapitel beginnt somit mit der empfundenen Erkenntnis: „die Zeit vergeht“ und „ich schaff es nicht“.40 Auf den ersten Blick scheint dieses Getriebensein Ausdruck ihres Bestrebens zu sein, wie ein Tourist möglichst viel in kürzester Zeit zu erleben. Doch was sich hinter dieser Eile verbirgt, ist vielmehr die Erkenntnis, dass die Erzählerin sich durch das Ankommen, Erleben und Abschiednehmen von Orten einer gravierenden Selbsterkenntnis annähert, die ihren Höhepunkt im letzten Kapitel findet und die Reise und den Roman abrupt beendet.

39 Liebmann, Letzten Sommer in Deutschland. Eine romantische Reise, S. 11. 40 Ebd., S. 275.

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Somit dienen die einzelnen Reisestationen als Mittel zur Selbstfindung und Selbstdefinition. Im Verlauf der Reise vollzieht die Erzählerin nicht nur eine Analyse ihrer eigenen Befindlichkeiten, sie analysiert durch die Fremdbegegnungen mit Menschen und Ortschaften die Gesellschaft, der sie angehört und durch die sie selbst definiert wird. Wie Rosenlöcher beschränkt Liebmann ihre Reise auf das geographische Gebiet Deutschlands, wobei nun westdeutsche Reiseetappen stärker in der Gegenüberstellung von Ost und West in den Vordergrund treten. Liebmanns Reiseroman nimmt gerade in der dualen Gegenüberstellung von ost- und westdeutscher Gesellschaft, durch eine sowohl mit dem Osten als auch mit dem Westen vertraute Erzählerin eine Analyse der Frage nach Identität im vereinten Deutschland vor. Dabei strebt sie eine weitaus kritischere Gesellschaftsanalyse an, indem sie Deutschlands Umgang mit Geschichte, vor allem mit der Epoche des Nationalsozialismus, kritisiert. Ausgehend davon erweckt ihre Geschichtskritik erhöhte Sensibilität beim Umgang mit Deutschlands jüngster Geschichte, nämlich der deutschen Teilung und Vereinigung. Stärker als zuvor setzt dieser Roman die Diskussion um die deutsche Nation in der Literaturgeschichte fort und greift dabei aktuelle Themen wie Immigranten in Deutschland in den neunziger Jahren auf, um davon ausgehend die Thematik und Diskussionen um einen deutschen Nationalstaat zu erweitern. Liebmanns Gesellschaftsanalyse ist ein Ergebnis ihrer Dokumentation von persönlichen Erlebnissen, die auf Begegnungen mit alltäglichen Menschen beruhen. Deren Meinungen und Erfahrungen nehmen im Text ebenso viel Raum ein wie die persönlichen Kommentare und Meinungen der Erzählerin. Angereichert wird die Unmittelbarkeit der Thematik durch Liebmanns Sprachgestaltung und Textbild. Sich selbst als Nachgeborene bezeichnend analysiert sie höchst kritisch Deutschlands Umgang mit Vergangenheit. Neben dieser Thematik geht es ihr hauptsächlich um die Beschreibung der ost- und westdeutschen Gesellschaft. Im Osten konzentriert sie sich dabei in erster Linie auf die veränderten Arbeitsmarktbedingungen sowie die veränderten Stadtbilder. Dabei herrschen negative Beschreibungen vor, doch versucht sie zugleich, die Stimmung im Osten durch ökonomische Analysen zu erklären. Zusätzlich geht es ihr um die Frage, inwieweit Immigranten in Deutschland in die Gesellschaft integriert sind. Kommunikationsprobleme zwischen Ost und West, doch auch zwischen Deutschen und Ausländern bestimmen Liebmanns Reisebuch. Sie selbst wird im Osten oftmals als Westdeutsche angesehen und dementsprechend negativ behandelt. In Dresden macht sie zudem die Erfahrung, dass sie durch ihr Weggehen nach Westberlin im Jahre vor dem Mauerfall die wichtigsten Monate der DDR verpasst hat. Daher artikuliert sie das Gefühl, zu spät gekommen zu sein, was wiederum zu einem Identitätskonflikt führt. Während ihrer Deutschlandreise kommen nicht nur Befragte zu Wort, Liebmann benutzt auch Zeitungsmeldun-

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gen, um ihre Beobachtungen in einen Kontrast zur offiziellen Berichterstattung zu stellen, wobei deutlich wird, dass die Titelseiten deutscher Zeitungen gerade das nicht melden, was ihr auf ihrer Reise begegnet, nämlich Menschen, die in Ost und West ihr Unverständnis über die andere Gesellschaft, Mentalität und Geschichte ausdrücken und alles andere als vereint erscheinen. An einer Station ihrer Reise kommentiert die Erzählerin dementsprechend: „Das Schwierige der Ankunft fiel mir langsam auf.“41 Sie kontrastiert Geschichte und Gegenwart, Theorie und Praxis, hält sich oft mit ihrer Meinung zurück, aber kommentiert auch zornig die erlebten Missstände. Sie registriert und artikuliert Probleme und Meinungen, notiert Kommunikationsschwierigkeiten und -lücken. Gefühlsmäßig beschreibt sie Landschaften, Städte und Personen. Ihre Bilder leben von Direktheit und Hinterfragung. Wo sie selbst nicht kommentiert, erwartet sie dies vom Leser. Am Ende ihrer Reise angekommen, nach ihrer wiederholten Positionierung in Relation zu Vergangenheit und Gegenwart, meint sie nun beim Anblick des Rheins, sich selbst näher gekommen zu sein, indem sie ihre eigene Identität als Resultat unterschiedlichster kultureller und historischer Einflüsse begreift: Floß nicht das Hunnenblut in meinen Adern? Wollt ich nicht längst in ein sehr fremdes Land, wo die Dämonen hausten mit dem blauen Band? Und war nicht meine Rahmenordnung und Erotik germanisch durch und durch bis in die Gotik? Kam nicht ein slawisches Gefühl aus meinem Bauch? Und von dem Stamme David, diesem Königshause, da war ich auch!42

Diese Erkenntnis reflektiert das Ende einer Selbstsuche. Die Erzählerin erkennt ihre eigene Identität als Resultat vieler unterschiedlicher Identitäten. Sie sieht sich selbst als Nachfahrin der Germanen, Slawen und Juden. Es geht nicht um Ost- oder Westdeutsche. Diese Kennzeichnung ist zu eingeschränkt. So wie Deutschland selbst auf ihrer Reise als Resultat unterschiedlicher historischer Epochen erschien, wie das Land in seiner Bevölkerung die verschiedensten Traditionen, Rassen, Religionen, Ideologien widerspiegelt, so erfährt sich die Erzählerin am Ende ihrer Reise ganz vielfältig und als Teil eines Ganzen. Mit ihrer letzten Tat – dem Sprung in den Fluss, einer entschlossenen Handlung – macht sie sich symbolisch unverwundbar. Über die Beschreibung so vieler Flüsse im Verlauf der Reise ist sie nun am Vater der Flüsse angekommen, ist sie zum

41 Ebd., S. 212. 42 Ebd., S. 284.

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Ursprung gelangt und damit am Ziel ihrer Reise angekommen. Sie ist fähig, sich in dieser deutschen Gesellschaft selbst zu positionieren und sich selbst als Teil aller Erlebnisse und Beobachtungen, als Teil der Geschichte zu erfahren. Thomas Rosenlöcher und Irina Liebmann sind zwei Vertreter jener ostdeutschen Autorengeneration, deren Protagonisten sich in der deutschen Gesellschaft der neunziger Jahre zu positionieren versuchen. Dabei wird über die Methode des Reisens eine Selbsteinordnung innerhalb der Gesellschaft erprobt, wobei die Ergebnisse der Fremd- und Selbstentdeckung unabgeschlossen bleiben. In beiden Fällen erfolgt eine vorläufige Identitätsbestimmung, die eng an das Erforschen der eigenen Vergangenheit gebunden ist. Identität erweist sich als ein Konzept, das im Werden begriffen ist. Ostdeutsches Identitätsbewusstsein setzt sich auch nach dem Ende der DDR fort, wenn auch variiert, verändert und neu konzipiert. Eine gesamtdeutsche Identität bleibt fraglich, stattdessen werden Aspekte einer multikulturellen Gesellschaft untersucht. Vor allem Irina Liebmanns Werk thematisiert solche Aspekte einer multikulturellen Gesellschaft in ihrer Untersuchung einer deutschen Nation. In gewisser Weise kann der Osten Deutschlands sogar als einer der multikulturellen Einflüsse angesehen werden, denn, so beweisen die Meinungen der zu Wort kommenden Menschen in diesen Texten, eine Einheit als Ausdruck gemeinsamer Denkhaltungen, Handlungen und Einstellungen ist in den 1990er Jahren keinesfalls erreicht. Ging es in der deutschen Romantik auch darum, einen deutschen Nationalstaat als Ausdruck der Gemeinsamkeiten aller Deutschen zu begründen, indem Deutschland politisch und kulturell vereint werden sollte, so ist in der Gegenwart beim Versuch, Deutschland erneut politisch zu einigen, eine Tendenz feststellbar, dass es weniger um eine Kultur geht, sondern dass stattdessen ein modernes Deutschland die multikulturellen und individuellen Prägungen seiner Einwohner akzeptieren und fördern muss. Zwar, so könnte argumentiert werden, gibt es Unterschiede zwischen Ostdeutschen und beispielsweise Ausländern in Deutschland. Nichtsdestotrotz stellen die neuen Bundesländer eine von der etablierten westdeutschen Gesellschaft abweichende Kultur dar, die ihren Ursprung stärker in der politischen Vergangenheit des DDR-Staates hat als in den regionalen Besonderheiten. Das Reisen durch Deutschland ist daher auch Ausdruck des Versuchs, diese neue Identität in der Beziehung zu anderen Menschen und Orten zu erkennen oder zu entdecken. Dabei sind Vergangenheitsreisen ebenso notwendig wie geographische Reisen im engeren Sinne. Eine Identitätsbestimmung ist daher nur in Verbindung mit der eigenen Geschichte und der erlebten Gegenwart möglich. Notwendigerweise wird die angetretene Reise zum Ausgangspunkt für das Ausbrechen aus Stagnation und Begrenzung. Gleichzeitig ist die Auseinandersetzung mit der Gegenwart nur in Bezug auf die Vergangenheit, hier besonders der eigenen, möglich. Daher müssen sich die Protagonisten immer wieder mit Fragen

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nach ihrem bisherigen Leben auseinandersetzen. Dabei geht es keinesfalls darum, die vergangene Identität auszulöschen, stattdessen geht es um eine Einbeziehung vergangener Prägungen in eine Neudefinition innerhalb der Gegenwart. Die Texte der ostdeutschen Autoren nach der Wende artikulieren vor allem die Auseinandersetzung mit ihrer Identität in der veränderten Gesellschaft. Sie zeugen von einer andauernden Beschäftigung mit der DDR-Vergangenheit als notwendige Voraussetzung für eine Verortung in der Gegenwart. Dabei treten auch solche Autoren in einen Dialog mit der Vergangenheit des DDR-Staates, die diesen bereits vor seinem Ende verließen und sich so von ihm zu lösen glaubten wie Irina Liebmann. Diese Auseinandersetzung ist nicht nur auf den literarischen Bereich beschränkt. Daher verarbeiten diese Texte auf künstlerische Weise zentrale gesellschaftliche Probleme und Themen der Nachwendezeit. Wie zahlreiche Veröffentlichungen in den Medien beweisen, handelte es sich bei der Beschäftigung mit Fragen nach der Identität in den neunziger Jahren um ein aktuelles gesellschaftliches Problem, das in der breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde. Die literarische Auseinandersetzung mit der veränderten Situation der ostdeutschen Menschen stellt somit eine Fortsetzung der öffentlichen Debatten in individuell subjektiver und künstlerischer Weise dar.

Stephanie Schaefers, Bremen

Die Posttouristen reisen weiter. Christian Krachts Faserland, Thomas Klupps Paradiso und Wolfgang Herrndorfs Tschick als literarische Deutschlandreisen im globalen Reisezeitalter Der Begriff des Posttourismus stammt aus der sozial- und kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung, in der der gegenwärtige Tourismus seit geraumer Zeit als ‚postmodern‘ definiert wird.1 Der Posttourismus ist eine Folge der Globalisierung, Homogenisierung, Vernetzung und des Mobilitätspostulats im modernen Reisezeitalter, ein Reisen, das geprägt ist durch Entortung und einen Tourismus ohne topographisch gebundenen Raum. Die posttouristische Reisegeneration hat schon alles gesehen – leider zum größten Teil nur in virtuellen, digitalen Räumen – und hat erkannt, dass die global zivilisierte Welt, was das Reisen angeht, nichts Abenteuerliches oder Exotisches mehr zu bieten hat. Einen authentischen Ort zu finden, den legendären weißen Flecken auf der Landkarte, erweist sich als aussichtslos. Im Posttourismus endet die romantische bisweilen verzweifelte Suche nach dem Unverfälschten und Echten. Alles ist eine Kopie oder ein Text über einen Text, um bei postmoderner Auslegung zu bleiben. Die Figur des Posttouristen leidet allerdings nicht an den äußeren Bedingungen, sondern flaniert spielerisch, geradezu selbstverständlich durch diese mobile, dynamische Weltordnung. Dem Posttouristen liegt nicht an anti-touristischen Abgrenzungsmechanismen, wie sie zuvor vor allem literarische Reisende zur Unterscheidung von ‚normalen‘ Touristen vornahmen, sondern er reist bewusst und lässig, will sich unterhalten und treiben lassen.2 Der Tourismussoziologe Hasso Spode fasst die Figur des neuen Reisenden markant zusammen: „Der ‚Post-Tourist‘ sei nicht länger auf der Suche nach Authentizität, sondern nehme das Konstruierte und Dekontextualisierte touristifizierter Räume freudig an,

1 Vgl. Hasso Spode, „Der Blick des Post-Touristen. Torheiten und Trugschlüsse in der Tourismusforschung“, in: Ders./Irene Ziehe (Hrsg.), Gebuchte Gefühle. Tourismus zwischen Verortung und Entgrenzung, München/Wien 2005, S. 135–161. 2 Vgl. Christoph Henning, Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur, Frankfurt am Main/ Leipzig 1997, S. 180 f.  

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verschaffen ihm doch diese ortlosen Simulationen berechenbare ‚Erlebniswerte‘.“3 Auch in der Reiseliteratur ist der Posttourismus längst angekommen.4 Der 1995 erschienene Roman Faserland von Christian Kracht ist eine der ersten Deutschlandreisen, die den spezifischen Lebensstil einer nomadischen Reisegeneration beschreibt. Faserland bietet ein gutes Beispiel für die Auseinandersetzung mit dem posttouristischer Reisen auf literarischer Ebene. Auch die Romane Paradiso (2009) von Thomas Klupp und Tschick (2010) von Wolfgang Herrndorf lassen sich, als Beispiele für die Fortsetzung der Thematik in die Gegenwart, als Reisetexte im globalen Reisezeitalter einordnen. Wie wird in diesen Werken gereist und wie wird darüber erzählt? Obwohl die drei Autoren ihre Texte im heutigen Reisezeitalter anlegen, wählen sie für ihre Ich-Erzähler eine Reise in die Nähe, durch Deutschland. Im Folgenden soll der Frage nachgegangen werden, welche Bedeutung einer literarischen Deutschlandreise im globalen Reisezeitalter zukommt und ob sich die Reisenden der Gegenwartsromane tatsächlich als Posttouristen beschreiben lassen.

I. Christian Kracht Faserland In Faserland befindet sich ein namenloser Ich-Erzähler nach einem fluchtartigen Aufbruch von Sylt auf einer ziellosen Reise Richtung Süden. In der zufälligen Reisebewegung werden Zwischenstopps in den Städten Hamburg, Frankfurt, Heidelberg, München und Meersburg am Bodensee eingelegt, wo der Erzähler alte Bekannte und vermeintliche Freunde aufsucht. Jedes Zusammentreffen scheitert an der Kommunikationslosigkeit der Figuren, eskaliert zumeist in Drogen- oder Sexexzessen und treibt den Protagonisten zur nächsten Station. Die wenige Tage umfassende Deutschlandreise befindet sich durch ihre Handlung, Figuren und auch durch den Sprachstil, der einer unverbindlichen, mündlichen Erzählsituation nachempfunden ist, in ständiger Bewegung. Faserland liest sich heute wie ein verfrühtes Porträt der Posttouristen, die schon alles gesehen haben und via Facebook oder Google Earth überall mit der Welt vernetzt sind. Wenn der Ich-Erzähler von seinem Freund Alexander berich-

3 Spode, „Der Blick des Post-Touristen“, S. 172. Spode betont jedoch, dass diese Definition sehr einseitig ausfalle und einer umfassenden, kritischen Beschreibung des gegenwärtigen Tourismus und seiner Reisenden nicht ausschließlich entspreche. 4 Vgl. Kapitel „Reisen als Anachronismus: Zur Beziehung von erlebtem Raum und erinnerter Vergangenheit in den Reisetexten der neunziger Jahre“, in: Ulla Biernat, Ich bin nicht der erste Fremde hier. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945, Wiesbaden 2004, S. 174–208.

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tet, der „in der ganzen Welt“ auf der Suche nach der „Verbreitung des Pop“ herumreist und selbst „hinter der pakistanisch-indischen Grenze in einem kleinen Wüstendorf“5 noch auf Einwohner trifft, die ihn mit einem Modern-Talking-Song empfangen, ist das einstige Reiseerlebnis untergegangen. In dieser nomadischen Generation fungiert Reisen nicht mehr als Abgrenzung von anderen, als Ausdruck größtmöglicher Freiheit oder zur Erlangung einer besonderen Erfahrungserweiterung, sondern um kulturellen bzw. generationsspezifischen Normen zu genügen. Nach geschmacksästhetischen Kriterien und Marken etikettiert der Ich-Erzähler daher auch seine gesamte Umwelt und schafft eine verbindende Referenzebene mit einer bestimmten Generation. Eine stilbewusste, luxusverwöhnte ‚In-Group‘, die der Ich-Erzähler sowohl über den Sprachhabitus als auch über milieuspezifisches Vokabular sowie ausgewählte Lokalitäten und Markennamen kennzeichnet: Also, ich stehe da bei Gosch und trinke ein Jever. Weil es ein bißchen kalt ist und Westwind weht, trage ich eine Barbourjacke mit Innenfutter. […] Vorhin hab ich Karin wiedergetroffen. Wir kennen uns noch aus Salem, […] und ich hab sie ein paar Mal im Traxx in Hamburg gesehen und im P1 in München. (F 9)

Die Wahrnehmung des bereisten Raumes und der Menschen scheint dadurch von großer Oberflächlichkeit und kühlem Desinteresse gekennzeichnet. Hinter dieser posttouristischen Kulisse beschreibt Kracht allerdings eine problematische Wirklichkeit von Einzelgängern, die unter der Fragmentierung ihrer Identität durch die Überzahl der Möglichkeiten leiden. So ergeht es auch dem Ich-Erzähler: „Es gibt Momente, in denen ich alles genau verstehe, […] und dann plötzlich entgleitet mir wieder alles.“ (F 66) Die ziellose Reisebewegung reflektiert den Zustand seiner Einsamkeit. Die Reise entspricht einer orientierungssuchenden Bewegung durch den Raum, stets wird der nächste Ort aufgesucht, an dem alles gut werden soll und der dem Ich-Erzähler Eindeutigkeit und Zuflucht bringen könnte: Ich […] fliege, so in die Mitte von Deutschland rein, als ob ich gar nicht anders kann. Das passiert alles so, als ob es gar nicht zu verhindern wäre, obwohl ich mich ja weiß Gott treiben lasse und nun wirklich nicht nach Frankfurt hätte fliegen müssen, sondern genausogut hätte nach Berlin fliegen können oder nach Nizza oder nach London. (F 59)

Die Vorstellung einer Heimat- und Zugehörigkeitsidee wird bei Kracht stark an einem negativ bewerteten Deutschlandbild und somit an ein Nicht-Deutschland

5 Christian Kracht, Faserland. Roman, Köln 1997 [1995], S. 65. Im Folgenden zitiert mit der Sigle F.

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gebunden.6 Gehetzt von seinem misanthropischen Deutschlandekel, der zu einer wahllosen Abwertung jeglicher Umwelt führt: „Ab einem bestimmten Alter sehen alle Deutschen aus wie komplette Nazis“ (F 89), reist der Suchende umher, ohne Neues oder Erhellendes zu entdecken. Geprägt durch seine neokonservative, selbstbespiegelnde Sichtweise sieht er nur das, was er sehen möchte und schon vorher kannte. Der Ich-Erzähler lässt dabei eine unterschwellige Faszination für den tabuisierten Nationalsozialismus und eine bedenkliche Verklärung historisch nicht vorbelasteter germanischer Wurzeln aufblitzen, allein schon dadurch, dass er diese konstant thematisiert: Neckarauen. Das macht einen ganz kirre im Kopf, das Wort. So könnte Deutschland sein, wenn es keinen Krieg gegeben hätte und wenn die Juden nicht vergast worden wären. Dann wäre Deutschland so wie das Wort Neckarauen. (F 81)

Die Reise endet in Zürich mit der Aussage „Vielleicht ist die Schweiz ja eine Lösung für alles.“ (F 147) Doch der Ich-Erzähler kann das im Titel evozierte ‚Vaterland‘ weder in der deutschen noch in der schweizerischen Gegenwart finden. Seine Sehnsucht nach Überschaubarkeit und Geborgenheit erschafft lediglich einen utopischen Sehnsuchtsort jenseits der realen Konsum- und Medienwelt. Er erträumt sich eine irreale Bergwelt fernab von der „große[n] Maschine, jenseits der Grenze“ (F 145) Deutschlands. Langfristig ergeben sich für den Ich-Erzähler Wiedererkennen oder Vertrautheit weder mit den inneren Räumen seiner Gefühlswelt noch mit den durchreisten äußeren Räumen. So bleibt dem gescheiterten Protagonisten nur noch eine Selbstauflösung, denn ein Ankommen ist unmöglich. Er verschwindet geradezu spurlos auf dem Zürichsee.

II. Thomas Klupp Paradiso In Thomas Klupps Paradiso wird die etwa 30 Stunden dauernde Reise des IchErzählers Alex Böhm geschildert, der aus Potsdam aufbricht, um zum Münchener Flughafen zu gelangen, wo ihn seine Freundin erwartet. Beide wollen in einen gemeinsamen Urlaub nach Portugal aufbrechen. Anders als Krachts Reisender, der sich mit Massentransportmitteln wie Lufthansa-Flügen oder ICE-Zügen auf recht komfortable Art und Weise fortbewegt, bleibt Klupps Erzähler nur die

6 Vgl. Johannes Birgfeld, „Christian Kracht als Modellfall einer Reiseliteratur des globalisierten Zeitalters“, in: Jean-Marie Valentin (Hrsg.), Germanistik im Konflikt der Kultur, Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005, Bd. 9, Bern 2007, S. 405–411, hier S. 408.

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Mitfahrgelegenheit – und die taucht nicht einmal auf. Die Notlösung einer Weiterreise durch Trampen bietet vielseitige reiseliterarische Darstellungsmöglichkeiten, um die äußere Reise mit dem inneren Zustand des Protagonisten zu verbinden: Verbitterte Fernfahrer, trostlose Autobahnraststätten, heruntergekommene Porno-Videoläden, alles korrespondiert mit der Verkommenheit, Leere und Unbehaustheit des Protagonisten.7 Ungeplant muss Alex Böhm nach seiner glücklosen Autobahnodyssee einen Zwischenstopp in seinem Heimatort Weiden in der nördlichen Oberpfalz einlegen. Die Reise in die eigene Provinz-Vergangenheit – erinnungstechnisch wie topographisch – wird endgültig zur ungewollten Konfrontation des Ich-Erzählers mit seinem desolaten Selbstbild: „[Ich] sehe wieder das flache, trockene Land, das vor dem Fenster vorbeifliegt, und fühle mich schäbig und leer und gemein. […] [so] bin ich ja nicht, zumindest möchte ich so nicht sein.“8 Der Protagonist zeigt in der materiellen Absicherung durch ein wohlhabendes, aber zerrüttetes Elternhaus, in den respektlosen und eitlen Charakterzügen und in seinem unsteten Reiseverhalten Parallelen zu Krachts Reisendem. Auch der umgangssprachliche Plauderton eines unzuverlässigen Erzählers erinnert an Faserland. Allerdings offenbaren Böhms krankhafte Verlogenheit und moralische Verachtung gegenüber jeglichem sozialen Umfeld einen desorientieren Hochstapler, der – abgesehen von seiner Schuppenflechte – nicht so offensichtlich an seinem Leben leidet wie Krachts Erzähler: „Und das ist wirklich eine meiner Stärken, dass ich immer wieder das Gute sehe und das Schlechte so konsequent ausblenden kann. Schnitt und weg“ (P 86). Nur in kurzen Zwischentönen wird durch die Rückkehr in die Provinzstadt, an den Ort, an dem alles gut sein könnte, wenn Böhm es nicht selbst zerstört hätte, die Sehnsucht des Reisenden nach einem Heimatraum, der Geborgenheit bietet, deutlich. Auch das Zusammentreffen mit ehemaligen Freunden, die Böhm schamlos ausgenutzt, hintergangen und verraten hat, offenbart den uneingestandenen Wunsch des Protagonisten nach festen Strukturen und Überschaubarkeit: Ich weiß genau, was wir tun würden. Wir würden an einen der zahllosen Baggerseen hinausfahren und ein Feuer machen, und dann würden wir dort im Schein der Flammen am Ufer liegen, ein paar Sixpacks leeren und uns über Gott und die Welt unterhalten. Ich kann das alles vor mir sehen […]. Ich möchte ja insgesamt mit etwas mehr Liebe an die Welt und an die Menschen denken, jedenfalls an die Menschen, von denen ich glaube, dass sie mir etwas bedeuten. Mein kleiner Bruder zum Beispiel und eben auch Simon und Johanna und Leni sowieso. (P 60)

7 Vgl. Verena Meyer, „Thomas Klupp: ‚Paradiso‘ Filmriss“, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.03. 2009. 8 Thomas Klupp, Paradiso. Roman, Berlin 2009, S. 18. Im Folgenden zitiert mit der Sigle P.

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Dies alles kann in seiner brüchigen Lügenwelt aber nicht mehr bestehen, und Böhm vernichtet letzte Bindungen zu Familie und Freunden nachhaltig beim erneuten Zusammentreffen. Um beim Wortlaut des Protagonisten zu bleiben, existiert für ihn „keine Schnittmenge“ (P 124) mehr. Anders als Krachts gescheiterter Held, der durch die Unvereinbarkeit mit der Realität zum Schluss ‚untergeht‘, wählt Klupp für seinen Antihelden die gehetzte Weiterreise und lässt ihn in seinem Fortkommen vorerst über seine Umwelt triumphieren: „Und wenn ich die Dinge noch entspannter angehe, wird in Zukunft sogar alles noch viel besser für uns“ (P 199), resümiert Alex Böhm für sich. Doch eine ungute Vorahnung bleibt: [O]bwohl ich überhaupt nicht an Zeichen oder sonst irgendetwas glaube, habe ich plötzlich ein ganz komisches Gefühl: dass jemand aus meiner Umgebung bald stirbt oder dass es mich selbst erwischt vielleicht. (P 79)

Er weiß, dass er „aufpassen muss, dass die Dinge nicht aus den Fugen geraten“ (P 166), denn „irgendein System arbeitet da auf jeden Fall gegen mich oder ich stecke ganz tief in ihm und komme nicht davon los“ (P 172). Ein beständiger Rückhalt, Vergebung oder sinnbringende Orientierung sind Böhm verwehrt. Einer Road-Novel entsprechend bleibt er ein heimatloser Außenseiter und zielloser Getriebener, der bis zum Schluss nicht weiß, ob er tatsächlich die Verbindlichkeit eingeht, mit seiner Freundin ins Flugzeug zu steigen: Ob ich es will oder nicht, ich weiß ein paar Sekunden lang ganz genau, dass ich überhaupt keine Lust habe, mit ihr nach Portugal zu fliegen. […] keine wahre oder innere Lust oder wie man das auch immer nennen will. (P 121 f.)  

III. Wolfgang Herrndorf Tschick Die Deutschlandreise in Tschick unterscheidet sich gleich in mehreren reiseliterarischen Komponenten von Faserland und Paradiso. Zunächst einmal reist der IchErzähler Maik Klingenberg, ein 14-jähriger Berliner Wohlstandszögling mit zerrütteter Familie, nicht alleine. Sein deutsch-russischer Klassenkamerad Andrej Tschiatschow, kurz Tschick, begleitet ihn. Doch vielmehr initiiert Tschick die Reise als er Maik mit einem geklauten, klapprigen Lada abholt. Der Ich-Erzähler ist Mitreisender. Das eigentliche Ziel, die Walachei, wo Tschick Verwandte hat, werden sie nie erreichen. Anders als bei den West-Reisenden von Kracht und Klupp wird eine Reise durch ein „irgendwo in der tiefsten Provinz“9 Branden-

9 Wolfgang Herrndorf, Tschick. Roman, Berlin 2010, S. 217. Im Folgenden zitiert mit der Sigle T.

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burgs und somit durch Ostdeutschland beschrieben. Obwohl die beiden Protagonisten wie Krachts und Klupps Reisende ebenfalls Außenseiter sind, werden sie durchweg positiver und sympathischer beschrieben, was nicht zuletzt durch die jugendlich-naive Perspektive der Reiseerzählung begründet ist: „[Da] sah man nicht gleich auf den ersten Blick, dass ich das genaue Gegenteil eines Assis war: reich, feige, wehrlos.“ (T 62) Doch auch diese Odyssee ist von Beginn an eine Flucht. Zunächst ist es eine Flucht vor den äußeren Begebenheiten: Zwei Minderjährige fahren in einem gestohlenen Auto durch die Gegend, was nicht ohne Folgen bleibt. Darüber hinaus geht es ebenso wie bei den anderen beiden Reisenden um eine Flucht vor sich selbst und vor dem Leiden an der direkten Umwelt, an verschmähter Liebe, elterlicher Vernachlässigung und mangelnder Anerkennung („Ich interessierte niemanden.“ [T 40]). Für Maik ist die Reise auch eine erste tatsächliche Kontaktaufnahme mit einem Reiseraum fern von touristischen Ferienanlagen in fremden Ländern oder von künstlichen Playstation-Welten, die ihn zu Hause bisher unterhalten haben. Die Tour folgt nun dem simplen, wenn auch offenen Prinzip „Machen wir einfach Urlaub wie normale Leute.“ (T 95) Maik wurde stets beigebracht, dass die Menschen überall schlecht seien und er niemandem trauen dürfe: „Die Welt ist schlecht, und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden und so weiter.“ (T 209) Jetzt lernt er auf der Reise lauter zwar skurrile und oft am Rande der Gesellschaft stehende Gestalten kennen, die jedoch durchweg freundlich sind, „[…] tolle, spinnerte Leute. Die nett waren und ein bisschen durchgeknallt“ (T 134). Die Orientierungslosigkeit der Jugendlichen ihre Reiseroute und den bereisten Raum betreffend – sie reisen ohne Landkarte oder Navigationssystem – ermöglicht die Beschreibung märchenhaft-absonderlicher Landschaften: Die Fahrt querfeldein bringt die Jungen zu gebirgsartigen Mülldeponien, zu Mondlandschaften der Braunkohlenutzung, mitten in verwilderte Weizenfelder, zu entlegenen Bergen und einsamen Seen, alles namenlose Landstriche Ostdeutschlands,10 die mit einem romantisierenden Unterton beschrieben werden: „Minutenlang schauten wir einfach nur. Kleinere, hellere Wolken flogen unter den schwarzen hindurch. Blaugraue Schleier liefen über die entfernten Hügelketten über die näheren Hügelketten. Die Wolken hoben sich und kamen wie ein Walze auf uns zu.“ (T 111) Diese farbintensiven Deskriptionen lassen eine anschauliche Wahrnehmung des heimatlichen Raumes deutlicher werden als die beschreibungsarmen, unterkühlten und oberflächlichen Kurzcharakterisierungen der konkreten Städte und Orte in Faserland oder Paradiso. Die malerischen, oft von Sinneseindrücken ausgehenden Beschreibungen unterstreichen die neue Weltwahrneh-

10 Vgl. Gustav Seibt, „Zauberisch und superporno“, in: Süddeutsche Zeitung vom 12.10.2010.

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mung der Jugendlichen auf der Reise: „[E]s war ein ganz anderes Fahren, eine andere Welt. Alles war größer, die Farben satter, die Geräusche Dolby Surround“ (T 104). Im Unterschied zu den anderen beiden Romanen steht von Beginn an fest, dass die Reise ein jähes Ende finden wird, da die Geschichte von ihrem Ende her erzählt wird. Der Protagonist Maik wird zu Beginn der Romanhandlung auf einer Polizeiwache nach den Gegebenheiten der Reise befragt und stellt lakonisch fest: „War doch die ganze Zeit klar, dass es so endet“ (T 7). Erzähltechnisch wird so für den Leser eine größere reflexive Distanz zu den Erlebnissen aufgebaut. Doch für Maik und Tschick bleibt ihre eigene Deutschlanderfahrung „der beste Sommer von allen […] in einer anderen Welt“ (T 252), fern eines posttouristischen Reisetreibens, auf der Suche nach sich selbst.

IV. Der Umweg ist das Ziel Obwohl die drei Werke durchaus unterschiedliche Reisebewegungen darstellen, zeigen sie Gemeinsamkeiten, die für die literarischen Deutschlandreisen von Bedeutung sind und die zum Abschluss hervorgehoben werden sollen. Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei der Verbindung zwischen der Reise durch das eigene Land und dem globalen Reisezeitalter, nach welcher einleitend gefragt wurde. Eskapismus und persönliche Konflikte sind stets das Grundmotiv für den Aufbruch. Daher stehen auch durchgängig die Ich-Form und eine subjektive Weltwahrnehmung im Mittelpunkt der Reise. Das Partikulare und alltägliche Private tritt gegenüber großen gesellschaftlichen Fragestellungen oder einer umfassenden Deutschlanderfahrung in den Vordergrund. In Bezug auf die Reisedynamik ist bei den Werken von Klupp und Herrndorf auffällig, dass trotz der fortschreitenden räumlichen Reisebewegung – es handelt sich zeitlich und räumlich um relativ kurze Reisen – an einer Tendenz der Verlangsamung des Reisens festgehalten wird. Die Protagonisten reisen – unfreiwillig in Paradiso und geplant in Tschick – mitten im Reisezeitalter des komfortablen Massentransports mit vergleichsweise mühsamen Fortbewegungsmitteln. Ob per Anhalter in Paradiso („Mensch, Böhm, ist ja derb, dass du immer noch trampst“ [P 10]) oder mit einem klapprigen Lada in Tschick („Von innen sah der Lada noch kaputter aus als von außen. Unter dem Lenkrad hingen Kabel raus, ein Schraubenzieher steckte unterm Armaturenbrett“ [T 82]), das Prinzip der Langsamkeit ist als Versuch zu verstehen, der konträren und unübersichtlichen Lebensbeschleunigung der heutigen Zeit zu entkommen. Reisende waren früher Wochen und Monate unterwegs, in der Generation Global wird lediglich Tage und Stunden

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gereist. Einzig die Fortbewegungsmittel können verlangsamend gewählt werden, um sich den einstigen Beschwerlichkeiten und durchdringendem Empfinden anzunähern. Dies ist auch der Grund dafür, dass in vielen weiteren Deutschlandreisen die Reise zu Fuß Konjunktur hat.11 Auch in den drei hier dargestellten Reisewerken wird in Momenten intensiver Selbstwahrnehmung und innerer Wendepunkte eine Wanderung, ein Spaziergang oder bewusstes Gehen vorgenommen (z.B. F 143–148, P 162–173, T 119–125). Im bewussten Gehen wird insbesondere eine Nähe zur Natur und der eigenen Körperwahrnehmung betont, die die von Selbstzweifeln geplagten Protagonisten weiter zu sich selbst führen. Die ausgesuchten Fortbewegungsmittel sind nicht die Transportmittel des Pauschalurlaubs, sie liegen jenseits eines touristischen Reisens. Die Autoren nehmen durch die dialektische Verbindung von rastloser Dynamik und absichtlicher Entschleunigung die Problematik des ‚erschwerten Reisens‘ in Zeiten des Posttourismus auf. Auch das Reisen alleine oder zu zweit ist ein gezieltes Abwenden von dem touristischen Kollektiv und eine Hinwendung zum bewussten Reisen. Ebenso auffällig ist das Ausklinken aus dem virtuellen Netz und der Dominanz der digitalen Welt. Bei Kracht zeigt die virtuelle Welt noch keine auffallende Präsenz. Klupps Protagonist hingegen steht mit seiner Freundin am Münchener Flughafen in konstantem SMS-Kontakt, doch in der Provinz versagt das Handy bald. Tschick und Maik Klingenberg lassen ihre Handys sogar vorsätzlich zu Hause („Was wir jedenfalls nicht mitnahmen, waren Handys“ [T 102]), um sich aus einer Verortung in der digitalen Welt zu befreien. Den Reisenden ist es nur so möglich, sich auf sich selbst und ihre sinn- und körperorientierte Wahrnehmung zu besinnen. Sie wählen das analoge Reisen, das in die erfahrbare Welt hinausführt, in einen begeh- oder befahrbaren, offenen Raum, der tatsächlich erkundet werden kann.12 Die Ich-Erzähler sind zwar Posttouristen, die anscheinend mit Leichtigkeit und hedonistischem Verlangen durch die Gegenwart ‚jetten‘, sich jedoch dabei nicht überall zu Hause fühlen. Das Gegenteil ist der Fall, in ihrem unsteten Transitleben fühlen sie sich heimatlos und verloren und versuchen sich daher auch von dem posttouristischen Mobilitätsdiktat abzuwenden, ohne allerdings komplett dem globalen Zeitalter entsagen zu wollen. Sie wirken dem empirischen Raumverlust entgegen und gehen im eigenen Land auf neue Entdeckungsreisen. Diese literarischen Deutschlandreisen verbinden auf besondere Weise die Diskurse über das posttouristische Reisen und

11 Vgl. Kapitel „Gegen den Westen ‚angehen‘“, in: Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010, S. 217– 222, sowie den Beitrag von Peter J. Brenner im vorliegenden Band. 12 Vgl. Martina Zschocke, Mobilität in der Postmoderne. Psychische Komponenten von Reisen und Leben im Ausland, Würzburg 2005, S. 46.

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die damit einhergehende Problematik der heutigen Eigen- und Fremdwahrnehmung. Alle drei Reisen sind in Deutschland angelegt, das eigene Land dient als direkter, empirischer Bezugspunkt, reale Orte stehen im Fokus. Diese Deutschlandreisen zeigen, dass im Zeitalter des Posttourismus keineswegs die Suche nach dem Unverfälschten endet, wie von einigen eingangs zitierten Autoren kulturwissenschaftlicher Studien behauptet. Die Suche gestaltet sich nur schwieriger. Die räumlich geographische Reisebewegung und die subjektive Bestandsaufnahme vom eigenen Land dienen dieser inneren Suchbewegung nach Authentizität, Zugehörigkeit und Identität. Deutschland wird dabei niemals als Sehnsuchtsort erkundet, sondern es geht stets um das Aufzeigen eines Nebeneinanders von Identifikation und Ablehnung sowie Kritik am heimatlichen Raum bei den Protagonisten. Durch die Heimatreise verortet man sich in Deutschland und gewinnt wieder Nähe zum Authentischen und Selbstverständlichen. Das Verorten gilt hier nicht als statische Fixierung oder territoriale Festlegung, sondern lediglich als Annäherung an ein Gefühl der Zugehörigkeit. Deutschland, sei es als geographische, emotionale oder historisch gedachte Heimat, bleibt eine problematisierte Thematik, die keine eindimensionale Selbstverortung zulässt. Die drei Texte sind im posttouristischen Zeitalter und seiner Kritik verwurzelt, versuchen jedoch durch ihre Stimmung und Reisebewegung durch das eigene Land dieser Ära entgegen zu treten. Da die Fremde und die Nähe durch die Einheitlichkeit touristischer Strukturen verschwunden sind, „gerät das Reisen in den Zusammenfall des Nicht-Aufbrechens und des Nicht-Ankommens“.13 Während das Fremde vertraut geworden ist, ist das Vertraute fremd geworden und muss neu oder erstmals erfahren werden. Das endlose Unterwegssein reflektiert die innere Stimme der Verlorenheit und Orientierungslosigkeit im heutigen Zeitalter.14 Für alle drei Reisenden ist ein Ankommen oder Erreichen eines Zielortes nicht möglich oder auch nicht erwünscht. In dem Maße, in dem es keine Verortung mehr gibt, ist der Weg, das Unterwegssein als solches von Wichtigkeit. In der Bewegung durch das eigene Land ist noch eine unmittelbare Erfahrung und somit Selbstwahrnehmung möglich. Die Ich-Erzähler wählen – ob gewollt oder ungewollt – den Umweg, die Detour.15 Der Umweg ist die letzte

13 Rolf-Joachim Heger, „Bild-Welten und Welt-Bilder. Über versuchte Nähe zur fremden Wirklichkeit“, in: Ortfried Schäffter (Hrsg.), Das Fremde. Erfahrungsmöglichkeiten zwischen Faszination und Bedrohung, Opladen 1991, S. 173–184, hier S. 174. 14 Vgl. Sahbi Thabet, Das Reisemotiv im neueren deutschsprachigen Roman, Marburg 2002, S. 10. 15 Der Begriff der ‚Detour‘ ist einem Konzept des Schweizer Reisekonzerns Kuoni entnommen, vorgestellt in: Georg Diez, „Als Thomas Cook die Welt erfand“, in: Der Spiegel 34/2011, S. 118–124,

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Reisestrapaze, die die Reisenden wählen können, um zu einem ursprünglichen Reiseerlebnis zu gelangen. Somit sind sie weniger Posttouristen als Detouristen im globalen Reisezeitalter, die auf Umwegen ihr eigenes Land wiederentdecken.

hier S. 123, oder auch The Detourist 100, 2010, http://www.kuoni.com/EN/Explore/TheDetou rist100/Pages/default.aspx (Stand: 28.03.2012).

Bernd Maubach, Kassel

Benjamin von Stuckrad-Barres Reisebilder Obgleich zu Benjamin von Stuckrad-Barre mittlerweile einige Forschungsarbeiten vorliegen, ist er bislang nicht als Autor im Kontext der Reiseliteraturforschung diskutiert worden. Dies ist umso überraschender, als die Bedeutung der Reise im Werk Stuckrad-Barres durchaus wahrgenommen wurde, etwa wenn Ute Paulokat – Autorin der bislang einzigen Monographie zu Stuckrad-Barre – ein gesamtes Kapitel zu „Der Lesereisende“ ausführt, ohne dabei jedoch der Frage nach möglichen Anknüpfungspunkten zur Tradition der Reiseliteratur nachzugehen.1 Dabei ist das strukturbildende Element der 1999 erschienenen Erzählung Livealbum eine Reise, genauer gesagt: eine literarische Verarbeitung der Eindrücke von Stuckrad-Barres erster großen Lesereise mit dem Roman Soloalbum zu einer Art ‚Lesereiseliteratur‘. Einzig Stephanie Schaefers führt in ihrer Untersuchung zu „Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur“ punktuell Livealbum an, das sie in das Subgenre „literarische Dienstreise durch Deutschland“2 einordnet. Weitere Anknüpfungspunkte für eine Verortung Stuckrad-Barres im Feld der Reiseliteratur sind die zahlreichen Beiträge für Zeitungen, die einen hohen Anteil an Reportagen und reportageartigen Texten aufweisen, jener Textsorte, die sich bekanntlich aus der Tradition der Reiseliteratur heraus entwickelt hat. Dadurch dass Stuckrad-Barre diese Zeitungstexte in regelmäßigen Abständen zusammengefasst in Buchform publiziert, entstehen darüber hinaus Sammlungen, in denen heterogene Textsorten – neben Reportagen stehen Kolumnen und Portraits – montageartig miteinander kombiniert werden und die zusammengenommen mehr ergeben als die Summe ihrer Teile. Nicht nur, dass der ephemere Charakter, der Zeitungstexten grundsätzlich anhaftet, mit dem Übergang in die Buchform getilgt und ihnen dadurch ein durativer Wert zugesprochen wird; durch die Textneuanordnung, die keiner strengen Chronologie der Erstpublikation folgt, entsteht zugleich eine Dramaturgie, bei der textübergreifende Bedeutungen erst entstehen können. Die größere Einheit des Mediums Buch erzeugt überdies den Eindruck einer dauerhaften Mobilität des Autors, wenn von Kapitel zu Kapitel die Orte von Berlin zu Hamburg, Göttingen, München usw. wechseln.

1 Ute Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre. Literatur und Medien in der Popmoderne, Frankfurt am Main u.a. 2006, S. 163–176. 2 Stephanie Schaefers, Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010, S. 192.

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Zumindest angeführt sei einleitend noch die 2005 für das Schweizer Fernsehen entstandene neunteilige Reise-Dokumentation Stuckrad bei den Schweizern, mit der Stuckrad-Barre den Reisebericht von den Printmedien in das Fernsehen überführt. Die Bedeutung der Reise in den multimedialen Arbeiten StuckradBarres kann schon nach dieser ersten knappen Durchsicht nicht mehr als Randphänomen abgetan werden. Anders aber als beispielsweise Roger Willemsen, der sich mit seiner Deutschlandreise (2002) dezidiert in der Tradition der politischen Reiseliteratur verortet und dabei namentlich u.a. Heine als Vorbild anführt,3 verweigert sich Stuckrad-Barre solcher Selbstklassifizierungen und Selbstverortungen seiner Texte, obgleich er in Interviews eine bewusst gewählte Nähe zum Reisebericht immer wieder andeutet: „Ich laufe durchs Land und versuche, festzuhalten, was der Fall ist, was aktuell los ist in Deutschland, wie gesprochen, regiert und überlebt wird. Ich sitze gern in einem Regionalexpress und hüpfe so durchs Land. Wie man das nun nennen soll? Keine Ahnung.“4 Dem Gattungsproblem hat sich bislang einzig der Filmregisseur Helmut Dietl gestellt, der für die 2010 erschienene Sammlung von Zeitungstexten StuckradBarres Auch Deutsche unter den Opfern das Vorwort verfasste. Dietl gelangt dabei über die Textsorte Reportage auf deren Vorläufer, die Reiseliteratur, und erwähnt explizit u.a. Goethes Italienische Reise und Heines Reisebilder.5 Damit sind jene zwei Texte der Reiseliteratur benannt, die in der deutschen Literaturgeschichte Zäsuren markieren, Goethe hinsichtlich der Kunstschwärmerei in der Reiseliteratur, Heine im Hinblick auf eine politische Reiseliteratur, die eng verbunden war mit dem Freiheitsenthusiasmus der Französischen Revolution. Die Verbindung zu Heines Reisebildern ist sicherlich die stärkere, denn mit Ausnahme der bereits erwähnten Reise-Dokumentation Stuckrad bei den Schweizern ist Stuckrad-Barres Bezugspunkt nicht die Fremde, sondern das eigene Land. Arbeitete sich Heine dabei an der Restaurationsphase ab, ist Stuckrad-Barres Schreibanlass demgegenüber das wiedervereinigte Deutschland. Die zweite wichtige Sammlungen von Zeitungstexten Stuckrad-Barres neben Auch Deutsche unter den Opfern führt Deutschland als umfassenden Bezugspunkt

3 „Ich habe die Vorläufer [der Reiseliteratur; Anm. B.M.] bis auf Heine und Hebbel […] eigentlich nicht studiert“, formuliert Willemsen anlässlich eines Radiofeatures für den SWR. „Schöne Fremde, ganz nah. Mit Reiseschriftstellern unterwegs in Deutschland“, Feature von Jochen Rack, SWR2 2011. 4 Benjamin von Stuckrad-Barre, „‚Ich zahle gerne Steuern.‘ Benjamin von Stuckrad-Barre über Westerwelles Hautproblem, Popliteratur und seine Kindheit als Pastorensohn“, in: Der Tagesspiegel, 16.03.2010, S. 23. 5 Vgl. Helmut Dietl, „Vorwort“, in: Benjamin von Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern, 4. Aufl., Köln 2010, S. 11.

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ebenfalls prominent im Titel an: Deutsches Theater erschien zuerst 2001, 2008 dann in einer erweiterten Neuauflage. Das Grundprinzip der beiden Textsammlungen ist identisch und zeigt damit zugleich die Kontinuität dieser Arbeitsweise als Großprojekt und work in progress an: Stuckrad-Barre „unternahm […] eine ‚Deutschlandreise‘ und besuchte die unterschiedlichsten Menschen und Veranstaltungen im kulturellen, politischen, medialen oder auch ganz profanen Bereich.“6 Damit ist innerhalb des abgesteckten Rahmens deutscher Gegenwart keine weitere Grenze vorgegeben. Im Gegenteil: Vielfalt der Themen und Heterogenität der Textsorten sind erklärtes Ziel, wie bereits eine Fotografie auf der Widmungsseite von Deutsches Theater andeutet, mit der Stuckrad-Barre in einer hochironischen Zitierpraxis die Adressatenoffenheit und thematische Vielfalt seiner Textsammlung anpreist. Anstelle einer traditionellen Dedikation findet sich hier eine Fotografie des Reichstagskunstwerks „Der Bevölkerung“ von Hans Haacke. Der Widmungscharakter des Kunstwerks wird dabei ironisch gebrochen auf Deutsches Theater übertragen. Die Erde aus den Wahlkreisen der Bundestagsabgeordneten signalisiert im Kontext von Deutsches Theater die Reisewut Stuckrad-Barres, der gewissermaßen aus allen Regionen Deutschlands Anekdoten, Erlebnisse und Eindrücke zusammengetragen hat und darüber eine Sammlung erstellen konnte, die er nun der deutschen Bevölkerung übergibt. Dass diese Aneignungspraxis des umstrittenen Reichstagskunstwerks über eine entsprechend im Buch platzierte Fotografie bei Missachtung des hochironischen Gestus als Anmaßung ausgelegt werden kann, darf als wohlkalkuliert angenommen werden, findet sich dieser spielerische Umgang mit kulturell und politisch bedeutungsgeladenen Elementen doch immer wieder in Stuckrad-Barres Arbeiten. Gleichermaßen vielfältig in seinem Anspielungsreichtum und seiner ironischen Gebrochenheit, aber auch in seiner exakt kalkulierten Platzierung, ist das über eine Doppelseite gehende letzte Foto aus Auch Deutsche unter den Opfern,7 das zum Lektüreabschluss dezidiert das Motiv der Reise aufgreift: Zu sehen ist der Autor selbst als Reisender auf einem Motorroller, der auf einer Straße nahe einer Küste angehalten hat, wo ein riesiges Kreuzfahrtschiff namens „Deutschland“ ankert. Stuckrad-Barres Gesicht ist nicht zu erkennen, sein Blick aber ist vom Schiff abgewandt. Das Schiff als Metapher für Staat und Gesellschaft ist seit der Antike so vielfältig aufgegriffen worden, dass die Fotografie darüber in ein immenses Beziehungsgeflecht gestellt wird, so dass eine eindeutige Interpretation der Fotografie daraus nicht mehr abzuleiten ist, obgleich allein schon die prominente Platzierung dieses Fotos am Ende des Buchs eine unmissverständli-

6 Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre, S. 146. 7 Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern, S. 334 f.  

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che Deutungsaufforderung an den Leser darstellt. Hinsichtlich des Anspielungsreichtums sei nur im eingeschränkten Kontext deutscher Geschichte an Bismarck als Steuermann und später als Lotse, der das Schiff verlässt, erinnert oder jüngeren Datums an das vieldiskutierte Spiegel-Cover zur Ausländer-Debatte der frühen 1990er Jahre, auf dem unter dem Titel „Ansturm der Armen“ das sprichwörtliche volle Boot dargestellt war.8 Gerade im Zusammenhang mit der deutschen Einheit, deren Jubiläum im Erscheinungsjahr von Auch Deutsche unter den Opfern gefeiert wurde, hatten sich Staatsschiff-Karikaturen noch einmal gehäuft, denn die Wiedervereinigung kann als „der Idealfall für die vollendete Verwendung des Bildes [gelten]: Ein Staat zerbrach, ging unter oder ging in der Bundesrepublik auf. So finden sich seit 1989 eine ganze Reihe Karikaturen mit Schiffsbild.“9 Die MS Deutschland in ‚Konfrontation‘ mit dem Autor Stuckrad-Barre bringt die Fotografie vor diesem Hintergrund in ein weitläufiges Bezugssystem, das es ermöglicht, die Fotografie für vielfältige Lesarten offen zu halten. Damit setzt Stuckrad-Barre mit den Mitteln der Fotografie, die seit Deutsches Theater seine Texte intermedial erweitert, das Grundprinzip seiner Zeitungstexte fort, die sich einer Darstellung verpflichten, ohne dabei eindeutige Bewertungen und Schlussfolgerungen mitzuliefern. Stuckrad-Barre spricht sich dezidiert gegen „Meinungstexte“10 aus, sein Arbeitsprinzip besteht darin, Gegenwart zu beschreiben, statt sie zu kommentieren und unmittelbar zu kritisieren. Die fehlende „politische Einordnung“ erklärt Stuckrad-Barre damit, er sei „ja kein Journalist. Mich interessieren die Vorgänge im Sozialen, die Gesten, der Sprachmüll. Ich finde es nicht spannend, wie sich das nun mit der Gesundheitsreform verhält. Ich schaue mir an: Wie guckt Pofalla, wenn die Kanzlerin guckt?“11 Noch prägnanter formuliert: „Ich beschreibe lieber, was ich sehe, und lasse das dann für sich sprechen. Meine Aufgabe als Autor ist eigentlich nicht das Schreiben, sondern vielmehr das Sammeln.“12 Es gilt zu prüfen, ob mit dieser Verweigerung einer direkten Kritik die zuvor angeführten Analogien zu den Reisebildern Heines an diesem Punkt desavouiert werden. Mit dem Rückbezug auf Heine und dessen Reisebilder müssten sich Stuckrad-Barres Reiseberichte an einem der politischsten Autoren des 19. Jahrhunderts messen lassen. Stuckrad-Barres Reportagen thematisieren zwar bevorzugt Politiker, Parteitage, Wahlveranstaltungen usw., nur ist Stuckrad-Barres deskriptive Herangehensweise trotz ironischer Pointierungen und einer Tendenz zur sprunghaften Assoziation allenfalls dann als kritisch zu apostrophieren,

8 Der Spiegel 37/1991. 9 Stephan Leibfried, „Das Staatsschiff und seine Lotsen“, in: Sonntag, 10.10.2010, S. 27. 10 Benjamin von Stuckrad-Barre, zit. nach Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre, S. 114. 11 Stuckrad-Barre, „‚Ich zahle gerne Steuern‘“, S. 23. 12 Stuckrad-Barre zit. nach Paulokat, Benjamin von Stuckrad-Barre, S. 114.

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wenn man bereit ist, die Meinungsbildung durch den Leser als Vervollständigung dieser Reiseliteratur hin zu einer politischen Thematik zu akzeptieren. Selbst in direkten Gesprächen mit Politikern rückt Stuckrad-Barre von kritischen Fragen ab und setzt stattdessen auf Unkonventionalität, wodurch zwar ebenso unkonventionelle Antworten provoziert werden, diese allein aber noch nicht als politisch einzustufen wären, etwa wenn er Angela Merkel im Rheingold-Express fragt: „Was ist Ihre persönliche Sehnsuchtslandschaft?“13, oder im Gespräch mit Westerwelle: Da wir nun schon mal in so schöner Beckmann-Stimmung sind: Wie war das eigentlich, sich mit Anfang 20 ins grelle Bühnenlicht zu stellen und selbstbewusste Reden zu halten, mit so aknevernarbter Haut – da will man doch weder ausgeleuchtet noch fotografiert werden.14

Insgesamt nehmen unmittelbare Gespräche mit Politikern oder Prominenten aus dem Kulturbereich jedoch einen eher geringen Anteil ein, vielfach bleibt Stuckrad-Barre in der Beobachterrolle. Anders als Heine liefert Stuckrad-Barre so lediglich das Rohmaterial, das vom Leser selbst einer Einschätzung unterzogen werden muss. Diese Verweigerung ist Programm: Nicht mehr der Autor ist die Instanz der kritischen Reflexion, wie es noch für Heine und in dessen Nachfolge für die Reiseliteratur von Heinrich Laube, Theodor Mundt oder Ludolf Wienbarg galt, sondern der Rezipient. Diese Verweigerungshaltung lässt sich mit einem pauschalen Blick auf wesentliche Entwicklungen in den rund zweihundert Jahren, seit Heine seine Reisebilder schrieb, erklären. Denn Heines Reiseliteratur, die an der Schwelle vom Feudalismus zum Kapitalismus entstand, konnte noch an der Sichtbarkeit von Machtverhältnissen, die zugleich anzuprangernde Missverhältnisse bedeuteten, ansetzen, wovon beispielsweise auch Georg Büchners Rückgriff auf die bildhafte Losung „Friede den Hütten, Krieg den Palästen“ zeugt, mit der eine soziale und politische Struktur, die ganz offenkundig bereits eine „abgelebte“ war,15 wie Büchner in einem Brief an Gutzkow formulierte, auf den Punkt gebracht werden konnte. Der Beginn der Moderne, den Heine dokumentierte, zeichnete sich noch nicht durch jenes Maß an Komplexität aus, über welches sie im Laufe des 20. Jahrhunderts dann zunehmend verfügen sollte, obgleich sich in der Fragmentarität der Reisebilder Heines bereits grundlegende gesellschaftliche Veränderungen ikonisch niederschlagen. Die Zunahme gesellschaftlicher Komplexität führt im 20. Jahrhundert zugleich zu einem Verlust der Sichtbarkeit von Machtstrukturen, der das Programm einer politischen Reiseliteratur in Frage 13 Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern, S. 24. 14 Ebd., S. 232. 15 „Brief an Karl Gutzkow“ (Anfang Juni 1836), in: Georg Büchner, Werke und Briefe, Karl Pörnbacher/Gerhard Schaub/Hans-Joachim Simm/Edda Ziegler (Hrsg.), München 1980, S. 282.

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stellt. Schon Brecht lehnte eine einfache Wiedergabe der Wirklichkeit mit der Begründung ab, dass darüber nichts mehr über die Realität ausgesagt werde, eine Fotografie der Krupp-Werke die Ausbeutungsverhältnisse des kapitalistischen Systems verschleiere, statt diese zu dokumentieren.16 Brechts Konzept des epischen Theaters, aber beispielsweise auch die Fotomontagen John Heartfields, entstanden als Reaktionen auf diese veränderten Verhältnisse und widersprechen einer auf Widerspiegelung angelegten Kunst. Besonders entschieden hat Adorno auf den Verlust der Sichtbarkeit von Unterdrückungsmechanismen im Kapitalismus bzw. in der Kulturindustrie hingewiesen und diese Tendenz mit der Metapher vom „Verblendungszusammenhang“ versehen.17 Etwas gemäßigter im Urteil prägte der Adorno-Schüler Jürgen Habermas in den 1980er Jahren das Stichwort von der „neuen Unübersichtlichkeit“18, das seither von Soziologen vielfach zur Kennzeichnung moderner Gesellschaften herangezogen wurde. Auch wenn kapitalistische Verhältnisse weiterhin bestehen mögen, so hat sich doch „ihre ökonomische und soziale Form gewandelt“, so dass „sie deswegen für die Menschen nicht mehr sichtbar sind“19. Besonders rasante gesellschaftliche Entwicklungen werden vor allem seit den 1960er Jahren verzeichnet. In dieser Zeit wurde ein bis heute andauernder Prozeß der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt.20

Zentrale Stichworte der aktuellen soziologischen und politologischen Debatten zu modernen Gesellschaften akzentuieren nur zu deutlich den Verlust von Sichtbarkeit und Übersichtlichkeit, von Eindeutigkeit und der Personenbezogenheit von Machtstrukturen. Angeführt seien exemplarisch nur einige Stichworte wie Ver-

16 Bertolt Brecht, „Der Dreigroschenprozeß. Ein soziologisches Experiment“, in B. Brecht, Schriften zur Literatur und Kunst I, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt am Main 1967, S. 139–209, hier S. 161 f. Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 21. Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus-Detlef Müller (Hrsg.), Frankfurt am Main/ Berlin 1992, S. 469. 17 Siehe hierzu u.a. das Kapitel „Kulturindustrie. Aufklärung als Massenbetrug“, in: Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt am Main 1992. 18 Jürgen Habermas, Die neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt am Main 1985. 19 Lothar Böhnisch/Wolfgang Schröer, Die soziale Bürgergesellschaft. Zur Einbindung des Sozialpolitischen in den zivilgesellschaftlichen Diskurs, München/Weinheim 2002, S. 207. 20 Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt am Main 1986, S. 122.  

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gesellschaftung und Omipräsenz von Macht, Wohlstandsgesellschaft, Auflösung des sozialen Schichtgefüges, Risikogesellschaft, Partikularität und Fragmentarität, Dezentralisierung, Postmoderne und Postpostmoderne usw. Vor allem mit Foucault lässt sich verdeutlichen, wie Macht als gesellschaftliches Phänomen von konkreten Personen übergeht in einen personenübergreifenden Diskurs.21 Eine Auseinandersetzung mit dem Diskurs aber erfolgt über das Archiv, kaum mehr über eine Reise. Ganz im Gegenteil: Das Angewiesen-Sein auf mediale Vermittlung moderner Gesellschaften lässt das Projekt einer politische Reiseliteratur prima vista durchaus fragwürdig werden. Dieser grundlegende gesellschaftliche Wandel, der sich in den rund zwei Jahrhunderten seit Heines Reisebildern vollzogen hat, muss in einer Reiseliteratur, deren Anspruch es weiterhin sein soll, politisch sein zu wollen, reflektiert werden und daraus müssen Konsequenzen für die Konzeption einer aktuellen politischen Reiseliteratur gezogen werden. Und dies schon allein deshalb, weil auch der Begriff des Politischen nicht mehr klar konturiert ist, so dass Baudrillard beispielsweise vom Transpolitischen spricht, da sich das Politische von einem fest umrissenen gesellschaftlichen Teilbereich zu einem alle Bereiche infiltrierenden Phänomen entwickelt habe.22 Vor diesem Hintergrund müsste ein Anknüpfen an den ‚Zeitschriftsteller‘, den Autorentypus des engagierten Intellektuellen, wie Börne ihn ausformuliert und Heine ihn mustergültig verkörpert hatte, anmaßend erscheinen, ginge damit doch zugleich der Anspruch einher, der Unübersichtlichkeit der Verhältnisse Herr zu sein. Über das „Ende der Reflexion“ hatte bereits Heiner Müller, dessen Interviews Stuckrad-Barre akribisch rezipiert hat, formuliert: „[U]m produktiv zu denken, um Neues zu entwerfen, braucht man verbindliche Bezüge, und die sind verlorengegangen. Die Fähigkeit zu denken existiert weiter, aber die Realität ist dermaßen komplex geworden, daß sich das Denken nicht mehr zurechtfindet.“23 Gerade darüber erklärt sich Stuckrad-Barres Modifizierung einer politischen Reiseliteratur, die zwar noch Reiseeindrücke wiedergibt, diese aber nicht mehr durch den Autor beurteilt oder in einen größeren Sinnzusammenhang eingeordnet werden. Vielmehr wird betont Abstand genommen von dem Versuch, der unmittelbaren Gegenwart einer hochkomplexen modernen Gesellschaft durch Erklärungsversuche und umfassende Deutungen beizukommen. Stuckrad-Barre bricht dadurch mit jeglicher Überhöhung des Autors sowie mit jeglicher Form des Dichterkults. Im Gegenteil: Der Autor, so Stuckrad-Barre, werde „maßlos überschätzt als allumfassend kompetenter State21 Siehe hierzu u.a.: Michel Foucault, Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I, 18. Aufl., Frankfurt am Main 1987. 22 Vgl. Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, Berlin 1992. 23 Heiner Müller, Werke, Bd. 12. Gespräche 3, Frankfurt am Main 2008, S. 11.

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mentautomat“24, obgleich dieser ebenso wie seine Zeitgenossen dem Problem unterworfen sei, dass „man nie die Gegenwart analysieren“25 kann, da sich erst mit zeitlichem Abstand Deutungsmuster herausbilden. In einem Gespräch mit Alexander Kluge zum 20. Jahrestag des Mauerfalls, das den letzten Beitrag von Auch Deutsche unter den Opfern bildet, reflektiert Stuckrad-Barre genau dieses Verhältnis von aktuellem Erleben und späterem Erinnern und bringt dabei einige grundlegende Aspekte seines literarisch-journalistischen Programms zumindest implizit zum Ausdruck: Stuckrad-Barre: Wenn man tatsächlich dabei ist, erinnert man sich später möglicherweise gar nicht so gut, weil man natürlich das Entscheidende zumeist doch nicht selbst sieht, also das eine Bild, das dann um die Welt geht und das in den Köpfen bleibt. Man steht irgendwo am Rand und sieht es gar nicht, weil im entscheidenden Moment ein Bus vorbeifährt, zum Beispiel. Kluge: Man hat ja furchtbar viele, ganz diffizile Eindrücke. Ich muss noch eine Wurst essen. Um ich muss noch den und den besuchen. Stuckrad-Barre: Ja, oder: mein Schuh ist offen. Bischof Huber fragt in seinem Brief, welche „Hoffnungen und Ängste“ man am 9. November 1989 hatte. Da kippt die Sache schon, das ist ja das Gegenteil von Erinnern. „Schon damals war mir klar“ – so kann man es nicht machen. Die Angst kam vielleicht später, und die Hoffnung von 1988 ist ergiebiger als die vom 9.11.1989. Kluge: Absolut! Man hat nicht schlagartig eine Hoffnung. Stuckrad-Barre: Deshalb darf ein Roman oder eine Erzählung über den 9.11.89 eben nicht beginnen am 9.11.89.26

Der Anspruch, der sich mit der epischen Großform des Romans oder auch der Kurzform Erzählung einstellt, besteht darin, Zusammenhänge aufzuzeigen, die sich jedoch erst aus der zeitlichen Distanz heraus im Diskurs formieren. Als Autor, der sich der Bestandsaufnahme der Gegenwart verpflichtet fühlt, nimmt StuckradBarre daher Abstand von diesen epischen Formen und setzt stattdessen auf das journalistische Tagesgeschäft, mit dem er das Ausschnitthafte und Unabgeschlossene zum literarischen Grundprinzip erheben kann, um so sukzessiv „alle Schichten in diesem deutschen Panoptikum“27 auszuleuchten. Die große Reise wird dabei ersetzt durch das Reihungsprinzip kleiner Trips, die große Gesellschaftsdiagnose durch blitzlichthaftes Ausleuchten immer neuer Situationen in unterschiedlichsten gesellschaftlichen Bereichen und Milieus. Entscheidend ist somit weniger die einzelne Reportage als vielmehr die kontinuierliche mosaikartige Erweiterung

24 Benjamin von Stuckrad-Barre „‚Eine dumme Schlagfertigkeit angewöhnt.‘ Benjamin von Stuckrad-Barre im Interview mit Dirk Knipphals“, in: taz, 06.09.2000, S. 13. 25 Ebd. 26 Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern, S. 331 f. 27 o.V., „Warum Tom Cruise nicht friert“, in: Der Spiegel 7/2010, S. 127.  

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durch immer neue Reportagen. Darin besteht die Funktion der Textsammlungen Deutsches Theater und Auch Deutsche unter den Opfern. Nicht die Zweitverwertung von Texten steht hier im Vordergrund, sondern die Zusammenfassung zu größeren Textsammlungen, die sich wiederum zusammengenommen einer vollständigen Erfassung wichtiger Teilbereiche des wiedervereinigten Deutschlands annähern, ohne dass freilich diese Vollständigkeit als tatsächliches Ziel vorgesehen wäre. Je mehr Bereiche gesellschaftlicher Wirklichkeit registriert und zu den vorangegangenen Reportagen addiert werden können, desto umfassender wird das gesellschaftliche Kaleidoskop. Schon über Deutsches Theater schrieb der Autor: Die hier versammelten Texte sind Stichproben. Zwischenergebnisse eines Großprojekts, das mir in guten Momenten kühn als Lebensaufgabe, als hilfreiche Arbeitshypothese für unterschiedliche Textformen und als unerschöpfliche Themenfundgrube erschien und mich in schlechten Momenten erschlug mit seiner Vielteiligkeit. Je mehr ich zusammentrug, desto mehr erschien mir darüber hinaus noch machbar, noch dies, noch der, noch von dort aus, noch jener Termin und so weiter. […] So geriet die Arbeit außer Kontrolle. Alles sollte (musste unbedingt!) hinein, ich plante elftausend Seiten. Als erste Ladung.28

Gerade ein solches Großprojekt, das sich der Fragmentarität verpflichtet und dabei unterschiedliche Textsorten aufgreift, kann den Anspruch, in diesem Vorhaben sukzessiv Teile der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu einem größeren Ganzen zusammenzufügen (oder vom Leser zusammenfügen zu lassen), aufrecht erhalten, ohne dabei dem Autor den kaum mehr haltbaren Status eines Intellektuellen, der dazu in der Lage wäre, die gesellschaftliche Komplexität gewissermaßen von einem übergeordneten Standpunkt aus zu erfassen, zuzugestehen. Von dem Reisebilder-Projekt Heines entfernt sich Stuckrad-Barre mit diesem Arbeitsansatz nicht gänzlich. Die Heterogenität der Textsorten und des thematischen Spektrums bei Stuckrad-Barre findet sich bereits bei Heine angelegt, der seine Reisebilder als „im Grunde ein zusammengewürfeltes Lappenwerk“29 apostrophiert hatte, von dem er wünschte, „Alles einzuweben, was ich will“.30 Mit der Übernahme dieses Prinzips loser Verknüpfung und montageartigen Reihens kann Stuckrad-Barre ebenso ein Dramolett über einen Hosenkauf mit Claus Peymann in dieses Großprojekt einbringen wie auch einen Bericht über die Berliner Scientology-Zentrale oder eine Reportage über den Straßenwahlkampf der CDU.

28 Benjamin von Stuckrad-Barre, Deutsches Theater, 2. Aufl., Köln 2004, S. 2. 29 Brief an Moses Moser vom 11.01.1825, in: Heinrich Heine, Werke, Briefwechsel, Lebenszeugnisse. Säkularausgabe, Bd. 20. Nationale Forschungs- und Gedenkstätten der klassischen deutschen Literatur in Weimar/Centre National de la Recherche Scientifique in Paris (Hrsg.), Berlin/ Paris 1970, S. 184. 30 Ebd., S. 271.

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Vergleicht man die Sammlungen Deutsches Theater und Auch Deutsche unter den Opfern mit früheren Sammlungen von Zeitungstexten Stuckrad-Barres, zeichnet sich eine deutliche Verschiebung ab. Remix beispielsweise umfasst Texte aus den Jahren 1996 bis 1999, den Jahren bis zu Stuckrad-Barres Roman Soloalbum (1998), der ihn als Autor bekannt machte. Im Vergleich dieser Sammlung mit der rund zehn Jahre später erschienenen Sammlung Auch Deutsche unter den Opfern fällt auf, dass die Bedeutung der Reise in den Texten Stuckrad-Barres quantitativ und qualitativ zugenommen hat. Seit Soloalbum nutzt Stuckrad-Barre seinen umstrittenen Status als Erfolgsautor zunehmend, um Zugang zu Bereichen zu bekommen, die ihm zuvor versperrt geblieben waren. Remix ist in wesentlich geringerem Maße Ergebnis von Reisen des Autors, als dies für spätere Sammlungen gilt. In einem Beitrag aus dem Jahr 1997 berichtet er zwar über seine Teilnahme an der Talkshow von Ilona Christen, darüber hinaus aber analysiert er vorwiegend das, was er als Zuschauer vom Fernsehen geliefert bekommt, rezensiert Bücher, schreibt über Modelabels oder CDs, d.h. er analysiert hier gewissermaßen von außen, etwa wenn er in einer Kolumne aus dem Jahr 1996 unter dem Titel „Westernhagen“ über dessen Film zur Tournee „Affentheater“ schreibt.31 Eine persönliche Begegnung geht diesem Text nicht voraus. Anders dagegen die Texte aus Auch Deutsche unter den Opfern. Auch in dieser Sammlung schreibt Stuckrad-Barre wieder über Marius Müller-Westernhagen, er kann nun jedoch anekdotisch formulieren: Frühjahr 2004, Hamburg: auf einem Sofa zuhause bei Westernhagen. Er arbeitet gerade an einer neuen Platte, die ein Jahr später erscheinen, „Nahaufnahme“ heißen und kein großer Erfolg werden wird. Was ich immer mit diesen Uraltsachen wolle, fragt er nett über den Rand der Espressotasse, es ehre ihn ja, dass ich die so im Kopf habe, aber die neuen Sachen hätten doch eine ganz andere Qualität und so weiter. Mag alles sein, aber ich möchte doch so gern ein bisschen mit ihm genau dieses alte Zeug singen oder zumindest die Texte aufsagen und mir die Geschichten dazu anhören.32

Deutsches Theater, noch mehr jedoch Auch Deutsche unter den Opfern schildert Stuckrad-Barres Begegnungen mit Politikern und Kulturschaffenden aus der Innenperspektive, d.h. aus der Perspektive eines Autors, der diesen Personen nicht als Interviewer begegnet, sondern sie immer wieder deshalb trifft, weil er persönlich mit ihnen bekannt und vertraut ist, so dass nun Reportagen entstehen, denen oft bereits an den Überschriften ein veränderter Status des Autors anzusehen ist, etwa „Mit Til Schweiger im Kino“, „Mit Hans Magnus Enzensberger unterwegs“, „Fernsehen mit Dieter Hildebrandt“ oder „Zugfahrt mit der JusoVorsitzenden“. Gerade hierüber legitimiert sich die Reiseliteratur Stuckrad-Bar-

31 Benjamin von Stuckrad-Barre, Remix. Texte 1996–1999, 9. Aufl., Köln 2000, S. 292–298. 32 Stuckrad-Barre, Auch Deutsche unter den Opfern, S. 286.

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res. Die Auswertung der einzelnen Texte bleibt zwar dem Leser überlassen, dafür aber kann der Autor Berichte von Reiseeindrücken zur Auswertung vorlegen, die vom Durchschnittsleser nicht selbst gemacht werden können. Vielmehr haben zahlreiche Reiseberichte Stuckrad-Barres den Charakter einer Reise in eine ‚andere Welt‘, zumindest jedoch in Bereiche gesellschaftlichen Lebens, zu denen die Zugänge exklusiv sind. Als mittlerweile feste Größe im kulturellen Bereich und seit einigen Jahren sogar akzeptierter Gesprächsteilnehmer in politischen Talkrunden gelingt es Stuckrad-Barre, diese Bereiche zu erschließen, beispielsweise wenn er Eindrücke zu der Sendung „Sabine Christiansen – Mein 2008“ schildert und dabei registriert, was passiert, bevor die Kameras laufen: Sabine Christiansen lutscht ein Pfefferminzbonbon und erklärt kurz, was sie heute vorhat: Ein positiver Ausblick auf das just begonnene Jahr soll es werden, mit Stars und ganz normalen Menschen. […] „Sabine Christiansen – Mein 2008“ heißt die Sendung, und deshalb sagt die Moderatorin auch schnell noch was ganz Persönliches: Für sie gehe es in diesem Jahr vor allem um „Entschleunigung“. Etwas atemlos schluckt sie den Bonbonrest runter, gleich beginnt die Sendung. Im Studio verhindert währenddessen der umsichtige Jörg Kachelmann möglicherweise einen Eklat, auf dem Platzschild seines Sitznachbarn Henning Mankell fehlt nämlich ein „l“, „Mankel“ steht da.33

Eine Art Initiationstext, der die Entwicklung hin zum Reisenden und Beobachtenden – hier aber auch noch zum Analysierenden und Bewertenden – markiert, ist die eingangs bereits erwähnte Erzählung Livealbum. Mit ihr beginnt eindrücklich das literarische Experiment, den mit Soloalbum zuvor erhaltenen umstrittenen Prominentenstatus zur Beschreibung der deutschen Kultur- und Medienlandschaft von innen heraus zu nutzen. Stuckrad-Barre schreibt hier eine Lesereiseliteratur, die es ihm ermöglicht, verschiedene Aspekte des deutschen Kultur- und Unterhaltungsbetriebs zu durchleuchten. Die FAZ urteilte hierüber: In keinem anderen Buch wird man eine so präzise Ethnographie des Literatur- und Medienbetriebs finden, die Umgangssprache in Funkhäusern, Buchhandlungen und Fernsehsendern, kurz den Sound der Öffentlichkeit Ende der Neunziger erkennen.34

Angefangen bei der eigenen Managerin, über die Erfahrung mit Groupies, über Zeitungs- und Radiointerviews bis hin zu Fernsehtalkshows, Fotoshootings und Drogenexzessen bildet Livealbum ein Sammelsurium an Eindrücken, das über die Stationen der Lesereise des namenlosen Protagonisten, der autobiographisch eingefärbt und doch nicht mit dem Autor völlig identisch ist, zusammengehalten

33 Ebd., S. 15. 34 Nils Minkmar, „Rezension. Benjamin von Stuckrad-Barre: Livealbum“, in: FAZ, 17.03.2002, S. 31.

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wird. Dass hierbei nicht primär die Reise durch Deutschland (sowie die Schweiz und zuletzt Thailand), sondern vor allem die Reise durch die deutsche Kulturund Medienlandschaft im Vordergrund steht, signalisiert der Text schon dadurch, dass kaum Städtenamen angegeben werden, die die Reise geographisch nachvollziehbar werden ließen. Sind die Zeitungstexte dem Genre Reportage entsprechend meist im Präsens gehalten, um die Qualität des Augenzeugenberichts hervorzuheben, ist Livealbum noch im Präteritum verfasst, was den literarischen Charakter des Textes unterstreicht. Livealbum wurde von großen Teilen des Feuilletons ebenso verrissen wie zuvor schon Soloalbum. Begründung hierbei war häufig, dass der Text „bar jeder Entwicklung, Handlung oder Dramaturgie“ sei, was freilich erkennen lässt, dass die (Lese-)Reise als strukturbildendes Motiv nicht genügend Beachtung fand. Wie Stuckrad-Barre seinerzeit selbst, so steht auch der namenlose Protagonist der Erzählung mit dem großen Erfolg seines ersten Romans an der Schwelle zum Prominenten. Er erkundet gewissermaßen als Neuling zusammen mit dem Leser, der an der Entdeckung dieses Neulands teilhat, unterschiedliche Bereiche des kulturellen Lebens. Zugleich stellt der Text aber auch eine akribische Selbstbeobachtung zur Schau, die Stuckrad-Barre vielfach den Vorwurf einer permanenten Selbstinszenierung eingebracht hat. Abgesehen davon, dass zwischen Autor und Erzähler keine völlige Übereinstimmung besteht, hat die oftmals ironisch gebrochene Selbstbeobachtung in Livealbum jedoch eine fundamentale Funktion für den Text, dokumentiert sie doch exemplarisch, wie sich ein Mensch an der Schwelle zum Prominenten verändert, wie er sich bemüht, seiner neuen Rolle als (in diesem Fall) umstrittener Popliterat, der unter öffentlicher Beobachtung steht, gerecht zu werden, und dabei jeglichen Rest authentischen Verhaltens einbüßt. In schonungsloser Offenheit führt der Erzähler in zahlreichen Selbstdemontagen vor, wie er sich unversehens in die von ihm kritisierte und oft mit Spott überzogene Medienwelt einzufügen bereit ist und dafür sogar eine Essstörung in Kauf nimmt: Ich kniete vor dem Klo der Konditorei. In mir vier Mohrenköpfe, die da nicht sein sollten, die da jetzt raus sollten. Ich mußte schließlich ins Fernsehen. Da nahm man keine Rücksicht. Alle würden mich sehen. Der Buchverkauf sollte anziehen, und zwar so richtig.35

Der ständige Zwang zur Inszenierung innerhalb dieser Medienwelt wird von Stuckrad-Barre in Livealbum einer massiven (Selbst-)Kritik unterzogen, insofern der Erzähler sich immer weiter in einen Zustand pausenloser Selbstinszenierungen begibt:

35 Benjamin von Stuckrad-Barre, Livealbum, München 2002, S. 102.

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Für mich war es egal: Als Mitarbeiter der Unterhaltungsindustrie war ich selbstverständlich bereit, ihnen einige Sätze mitzugeben, von allem was, je nach Bedarf, die wollten es eher provokant oder lustig, so schien mir, kein Problem, ich hätte aber auch den nachdenklichen Zauderer auf Lager gehabt, den verzweifelt Suchenden, und wenn das alles nicht zog, zur Not auch den pöbelnden Defätisten. […] Der Übertritt in die Welt der Verstellung, Manipulation und Täuschung wird ja symbolisch vollzogen, indem der Fernsehgast vor dem Auftritt in die Maske geht. Dann ist er ein anderer und nichts gilt mehr, bis zum Abschminken.36

Hinsichtlich der Beschreibung ‚verborgener‘ Bereiche der deutschen Gesellschaft steht Livealbum in enger Verbindung zu den seither entstandenen Zeitungstexten Stuckrad-Barres. Allein die Selbstbeobachtung und Selbstthematisierung findet sich in dieser Weise nur in Livealbum, da es hierbei gerade um die zu verzeichnende Schwellensituation im Übergang zum gefeierten Autor geht. Die exzessive Selbstbeobachtung war in Livealbum gerade nicht Selbstzweck, sondern Dokumentation der Persönlichkeitsveränderung unter dem Druck eines einsetzenden öffentlichen Interesses an der eigenen Person. Hier war Stuckrad-Barre gewissermaßen Beobachter der Unterhaltungskultur, aber zugleich auch Beobachter seiner selbst unter dem Einfluss dieser Unterhaltungskultur. Diese Subjektivität, die Livealbum prägt, ist kaum noch Bestandteil der Zeitungstexte Stuckrad-Barres, vielmehr nimmt sich Stuckrad-Barre hier deutlich zurück, sowohl hinsichtlich möglicher Selbstinszenierungen als auch hinsichtlich der subjektiven Stellungnahme zum Geschilderten. Diese Zurücknahme des Autors könnte durchaus dazu führen, trotz der aufgezeigten Parallelen zu Heines Reisebildern, Stuckrad-Barres Reiseliteratur den Status ‚politisch‘ abzusprechen. Zu berücksichtigen ist dabei jedoch, dass Heine gerade als neuer Autorentypus, als Zeitschriftsteller, ein Produkt einer ganz bestimmten Epoche war und somit nicht unabhängig von sozialen, politischen, kulturellen, aber beispielsweise auch drucktechnischen Bedingungen gedacht werden kann, so dass ein Festhalten an diesem Autortypus noch rund zweihundert Jahre später gerade das Gegenteil von dem bedeuten könnte, was Heine auszeichnete, nämlich die Historisierung von Autorkonzeptionen, literarischen Formen und Funktionen von Literatur. Gerade indem Stuckrad-Barre das Autorkonzept des deutenden und Entwicklungen antreibenden Zeitschriftstellers wieder zurücknimmt, lässt er sich zu Heine in Bezug setzen, der ebenfalls bereit war, sich von nicht mehr zeitgemäßen Konzeptionen (wenn auch bisweilen wehmütig, wie im Falle der Romantik) zu verabschieden.

36 Ebd., S. 182 f.  

Stefan Hermes, Freiburg i.Br.

Apokalypse in Schwarz-Rot-Gold. Der Untergang des Heimatlandes in Feridun Zaimoglus Roman German Amok (2002) I wear this crown of shit Upon my liar’s chair Full of broken thoughts I cannot repair Nine Inch Nails, Hurt (1994)1

I. Die Angstlust am Apokalyptischen in der (späten) Moderne Die Geschichte der modernen europäischen Gesellschaften ist zugleich die Geschichte jener unheilvollen Prophezeiungen, die von ihrem mittel- oder unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch künden. Eines der zumindest dem Titel nach bekanntesten deutschsprachigen Beispiele dafür ist Oswald Spenglers Hauptwerk Der Untergang des Abendlandes, dessen Erstausgabe 1918 erschien, ehe der Autor fünf Jahre später eine substantiell erweiterte Neufassung vorlegte. Darin unternimmt er den – vorsichtig ausgedrückt – recht ambitionierten Versuch, die Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte (so der Untertitel) zu skizzieren, und zu diesem Zweck greift Spengler einigermaßen weit aus: Seine Darstellung behandelt sowohl die vergangenen Kulturen Ägyptens, Babylons, Indiens, Chinas, der griechisch-römischen Antike, Arabiens und Mexikos als auch die noch existierende, aber angeblich bereits in ihrem Endstadium befindliche Kultur der Christenheit. Laut Spengler unterliegen sie alle dem gleichen Gesetz des Werdens und Vergehens, das Georg Bollenbeck folgendermaßen zusammengefasst hat: Sie entstehen aus dem Chaos einer Vorzeit, erwachen zu einer eigenen Religion, haben eine Frühzeit (Dorik, Gotik), eine Reifungskrise (Dionysik, Renaissance), Spätzeit (Ionik, Barock), Alterungskrise (Sophistik, Aufklärung).2

1 Der Titel findet sich auf dem Album The Downward Spiral; zusätzliche Popularität erlangte er durch die 2002 veröffentlichte Coverversion von Johnny Cash. 2 Georg Bollenbeck, Eine Geschichte der Kulturkritik. Von J.J. Rousseau bis G. Anders, München 2007, S. 218. Vgl. aus der Vielzahl der Arbeiten zu Spengler auch die Monographien von Klaus

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Zu dieser „fatalistische[n] Zyklentheorie“3 meint Spengler gelangt zu sein, indem er den Weltenlauf nicht „mit den Augen des Parteimannes, des Ideologen, des zeitgemäßen Moralisten“ betrachtet habe, „sondern aus zeitloser Höhe“.4 Doch sein demonstrativ ungerührter Tonfall vermag nur unzureichend zu kaschieren, dass Der Untergang des Abendlandes sehr wohl von spezifischen Zeiterfahrungen geprägt ist. Vor allem die umwälzenden Ereignisse des Ersten Weltkriegs haben auf Spenglers Studie unübersehbar eingewirkt,5 und darüber hinaus artikuliert sie in nostalgisch-aggressiver Weise „die Angst vor der kulturellen Enteignung durch die Moderne […] und die Vorbehalte […] gegen die Aufklärung, die westliche Zivilisation, den Liberalismus und die Massen.“6 Aus heutiger Perspektive ist man rasch geneigt, Spenglers auf kruden Analogieschlüssen fußende „Gesamtschau des geschichtlichen Universums“7 als abstruse Spökenkiekerei abzutun,8 doch machte man es sich damit zu einfach. Denn ungemein erfolgreich sind ähnlich gelagerte Endzeitvisionen noch immer; zu denken wäre etwa an Samuel P. Huntingtons Werk über den Clash of Civilizations (1996), das ja nicht allein den rasanten Machtverlust ,des Westens‘ im ausgehenden 20. Jahrhundert beschreibt: Vielmehr schildert das letzte Kapitel einen möglichen Dritten Weltkrieg, in dem die USA, Europa und Indien auf der einen, China, Japan sowie die Mehrzahl der arabischen Staaten auf der anderen Seite stehen und schließlich Atomwaffen zum Einsatz kom-

P. Fischer, History and Prophecy. Oswald Spengler and the Decline of the West, New York u.a. 1989, Frits Boterman, Oswald Spengler und sein „Untergang des Abendlandes“, aus dem Niederländischen von Christoph Strupp, Köln 2000, und Samir Osmancevic, Oswald Spengler und das Ende der Geschichte, Wien 2007. 3 Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 219. 4 Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der Weltgeschichte [1923], 16. Aufl., München 2003, S. 47. 5 „Auch wenn ein großer Teil des Werks in einer ersten Niederschrift bereits vor 1914 vorliegt, so ist es doch, während des Krieges nochmals überarbeitet, vom Krieg geprägt.“ (Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 216) 6 Ebd., S. 217. 7 Ebd. 8 Brillant parodiert wird sie schon in der bekannten Rezension Robert Musils: „Es gibt zitronengelbe Falter, es gibt zitronengelbe Chinesen; in gewissem Sinne kann man also sagen: Falter ist der mitteleuropäische geflügelte Zwergchinese. Falter wie Chinesen sind bekannt als Sinnbilder der Wollust. Zum erstenmal wird hier der Gedanke gefaßt an die noch nie beachtete Übereinstimmung des großen Alters der Lepidopterenfauna und der chinesischen Kultur. Daß der Falter Flügel hat und der Chinese keine, ist nur ein Oberflächenphänomen.“ Robert Musil, „Geist und Erfahrung. Anmerkungen für Leser, welche dem Untergang des Abendlandes entronnen sind [1921]“, in: Gesammelte Werke in Einzelausgaben, Bd. Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden, Adolf Frisé (Hrsg.), Hamburg 1955, S. 651–667, hier S. 652.

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men.9 Doch nicht um Huntingtons heftig befehdete Arbeit soll es nun zunächst gehen, sondern um eine in der deutschen Öffentlichkeit ebenso breit wie kontrovers diskutierte Publikation des Jahres 2010, die eine vergleichsweise moderate Reichweite beansprucht. Anstatt nämlich, wie Spengler, die (säkulare) Apokalypse eines gesamten Kulturkreises zu beschwören oder gar, wie Huntington, ein nukleares Armageddon in Aussicht zu stellen, thematisiert sie ,nur‘ den drohenden Zerfall der deutschen Gesellschaft. Die Rede ist von Thilo Sarrazins Bestseller Deutschland schafft sich ab, der in den Medien meist als ein – sei es demagogischer oder aber längst überfälliger – Beitrag zu aktuellen Fragen der Migrations- und Sozialpolitik wahrgenommen wurde.10 Diese naheliegende und keineswegs unplausible Lesart lässt sich jedoch um einen anderen, eher an textuellen Praktiken interessierten Zugang ergänzen. So setzt Sarrazin über weite Strecken auf einen ins Extrem gesteigerten Positivismus, greift er doch in inflationärer Manier auf statistische Werte zurück, um die von ihm getroffenen Aus- und Voraussagen zu erhärten. Speziell mit demographischen Zahlen hantiert er allenthalben, und dass diese oftmals anfechtbar sind,11 mindert die Suggestionskraft des Verfahrens nur geringfügig. Bemerkenswert ist allerdings, dass Sarrazins Buch, wie schon dasjenige Huntingtons, mit einem dezidiert fiktionalen, gleichsam konjunktivisch zu verstehenden Schlusskapitel aufwartet. Unter der Überschrift „Ein Traum und ein Alptraum. Deutschland in 100 Jahren“12 wird darin eingangs eine dystopische Bundesrepublik entworfen, die es während des 21. Jahrhunderts versäumt hat, einer „weitere[n] Massenimmigration von bildungs- und kulturfernen Gruppen aus Afrika, aus Nah- und Mittelost“13 Einhalt zu gebieten. In der Folge ist es zu einer nachhaltigen Islamisierung der Gesellschaft gekommen, Bildungs- und Wirtschaftssystem liegen danieder, und der allgemeine Lebensstandard ist dramatisch gesunken. Im Kontrast zu diesem grellen Szenario nimmt sich die im Wortsinne konservative Utopie, die Sarrazin sodann als „Alternative“14 anbietet, ausgespro-

9 Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York 1996, S. 312–316. 10 Diese öffentliche Kontroverse kann hier nicht einmal ansatzweise rekonstruiert werden; vgl. aber die Beiträge in Deutschlandstiftung Integration (Hrsg.), Sarrazin. Eine deutsche Debatte, München/Zürich 2010. 11 Vgl. Naika Foroutan (Hrsg.), Sarrazins Thesen auf dem Prüfstand. Ein empirischer Gegenentwurf zu Thilo Sarrazins Thesen zu Muslimen in Deutschland, 2010, http://www.heymat.hu-berlin. de (Stand: 04.06.2011). 12 Thilo Sarrazin, Deutschland schafft sich ab. Wie wir unser Land aufs Spiel setzen, 8. Aufl., München 2010, S. 391. 13 Ebd., S. 393. 14 Ebd., S. 404.

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chen blass aus: Dort ächzt das zukünftige Deutschland eben nicht unter derlei massiven Problemen – und das ist im Grunde schon alles. Entscheidend ist jedoch, dass das Ende von Deutschland schafft sich ab jenen Anspruch auf Faktualität unterminiert, den das Pamphlet zuvor transportiert. Denn plötzlich bricht sich eine starke Faszination für das Imaginäre Bahn, und spätestens dadurch geraten auch die vorherigen Ausführungen in den Verdacht, nicht nur der Plausibilisierung von Sarrazins politischen Forderungen zu dienen,15 sondern gleichermaßen der Erzeugung einer Angstlust im Sinne Michael Balints – eines mehr oder minder wohligen Schauers also, dem man sich in der Annahme, „die Furcht werde durchgestanden und beherrscht werden können“,16 aus freien Stücken aussetzt. Indes hat die Moderne auch eine Vielzahl von Endzeitschilderungen hervorgebracht, die von vornherein kaum jemand direkt (!) auf die außerliterarische Realität beziehen dürfte. Mit Blick auf den deutschen Sprachraum, in dem Klaus Vondung einen überdurchschnittlichen Hang zum Apokalyptischen ausgemacht hat,17 wären – neben etlichen Werken des Expressionismus18 – Karl Kraus’ Monumentaldrama Die letzten Tage der Menschheit (1922), Hans Magnus Enzensbergers Gedichtzyklus Der Untergang der Titanic (1978), Günter Grass’ Kopfgeburten oder Die Deutschen sterben aus (1980) und Die Rättin (1986) sowie Friedrich Dürrenmatts Der Winterkrieg in Tibet (1981) zu nennen. Darüber hinaus lassen sich neuere Romane wie Christoph Ransmayrs Morbus Kitahara (1995) oder Christian Krachts Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten (2008) anführen, doch wäre eine solche Aufzählung fast nach Belieben zu erweitern.19 Ins Kalkül zu ziehen ist allerdings, dass es für Autoren genuin literarischer Werke eine gewisse Herausforderung darstellt, ein ähnliches Maß an bestürzter Aufmerksamkeit – und an Angstlust – zu erregen wie die Verfasser von Sachbüchern. Die Eindringlichkeit ihrer Texte vermögen sie primär dadurch zu steigern, dass sie die ihnen zugestandene ,poetische Lizenz‘ – also die „Freiheit dichterischer Rede, sich sprachlich, sachlich, logisch oder formal Fehlerhaftes oder inhaltlich Anstö-

15 Angemahnt werden unter anderem die Verpflichtung sämtlicher Empfänger von Transferleistungen zu gemeinnütziger Arbeit, eine strengere Kontrolle des Schulwesens, rigidere Zuwanderungsgesetze und (steuerpolitische) Maßnahmen zur Familienförderung; vgl. ebd., S. 182–185, S. 251–254, S. 327–329 und S. 378–390. 16 Michael Balint, Angstlust und Regression, übersetzt von Konrad Wolff unter Mitarbeit von Alexander Mitscherlich und Michael Balint, Stuttgart 1960, S. 20. 17 Vgl. Klaus Vondung, Die Apokalypse in Deutschland, München 1988, etwa S. 13 f. 18 Vgl. Angela Jurkat, Apokalypse – Endzeitstimmung in Kunst und Literatur des Expressionismus, Alfter 1993. 19 Vgl. in diesem Zusammenhang Heinz-Peter Preußer, Letzte Welten. Deutschsprachige Gegenwartsliteratur diesseits und jenseits der Apokalypse, Heidelberg 2003.  

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ßiges zu erlauben“20 – möglichst umfassend in Anspruch nehmen: Im Modus der Fiktion können historische und soziale Phänomene in besonderer Drastik zur Anschauung gebracht werden, wobei Verfahren des Satirischen und des Grotesken einen herausgehobenen Stellenwert besitzen. Dementsprechend soll nun eruiert werden, inwieweit auch Feridun Zaimoglu mit seinem 2002 publizierten Roman German Amok einen solchen Weg einschlägt. Es wird zu zeigen sein, dass sich der schwer verdauliche Text zum Teil ganz ähnlicher Sachverhalte annimmt wie die acht Jahre später erschienene Streitschrift Sarrazins – vor allem der Migrationsproblematik – und dabei ein desolates, ja apokalyptisches Bild des vereinigten Deutschland entwirft. Bereits der den Begriff der German Angst variierende Romantitel weist aber implizit darauf hin, dass dies auf eine ironisch-persiflierende Art und Weise geschieht: Den Ausführungen des namenlosen Ich-Erzählers ist unter keinen Umständen zu trauen; vielmehr sind sie als verbaler Amoklauf eines weitgehend unzurechnungsfähigen Soziopathen zu verstehen. Demnach partizipiert Zaimoglus Roman zwar an einem kulturpessimistischen Diskurs um die irreversible Degeneration der deutschen Gesellschaft, zugleich aber subvertiert er ihn äußerst effektvoll. Eine nicht zu vernachlässigende Relevanz besitzt in diesem Zusammenhang das Moment des Reisens, denn obwohl sich Zaimoglus Protagonist lediglich von Berlin aus in das (fiktive) brandenburgische Dorf Treptin begibt, wird diese Ortsveränderung als Aufbruch in ein „andere[s] Land“21 inszeniert – ein Land allerdings, in dem es ihm keinen Deut besser (er)geht als in der Metropole. Denn sich selbst und seinem fanatischen Universalhass vermag er nirgends zu entrinnen.

II. Contra omnes: Misogynie, Homophobie und Urbanitätskritik in German Amok Das Leben in der deutschen Hauptstadt bekommt dem Erzähler von German Amok, einem erfolglosen und finanziell ruinierten Maler, offenbar nicht sonderlich gut, verfällt er doch fortwährend in hemmungslose Tiraden, die sich durch

20 Lutz-Henning Pietsch, Art. „Poetische Lizenz“, in: Jan-Dirk Müller u.a. (Hrsg.), Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, Bd. 3, Berlin/New York 2003, S. 109–111, hier S. 109. Vgl. ausführlich Harald Fricke, Norm und Abweichung. Eine Philosophie der Literatur, München 1981, besonders S. 239–244. 21 Feridun Zaimoglu, German Amok, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2009, S. 110 u.ö. Fortan werden Zitate aus dem Roman durch Angabe der Seitenzahl im Haupttext nachgewiesen.

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eine derbe Obszönität auszeichnen. So heißt es zu Beginn über eine stadtbekannte Performancekünstlerin: Die Kunstfotze ist nicht zu übersehen: ein ennuyantes Warzenmädchen, mittelgroß und mittelmäßig, in diesem Moment bis auf eine Perücke in Hauchrosa völlig nackt und deshalb für die älteren Herrschaften im Publikum eine Augenweide. Es ist ihr Abend und ihre Vorstellung, sie reißt ihr blödes Mäulchen auf, um vor versammelter Mannschaft (die Männer sind natürlich in der Mehrzahl) eine Ansprache zu halten, an der sie wochenlang gefeilt haben muß. […] Also bin auch ich still, wünsche ihr nur den Schamlippenkrebs. Ich werde es ihr angelegentlich wieder besorgen müssen, es kostet mich zwar immer einige Überwindung, aber ich bringe es schnell hinter mich. Ein wohlgehütetes Geheimnis. Ich hoffe, daß die Kunstfotze sich bald von einem anderen Loverboy verwöhnen läßt (S. 9).

Wenngleich sich die beschriebene Frau den absonderlichen Namen „Kunstfotze“ selbst zugelegt hat (vgl. S. 47), wird die obsessive Misogynie von Zaimoglus Hauptfigur schon in dieser Passage ersichtlich. Interessanter sind jedoch die sprachlichen Strategien, die darin zur Anwendung gelangen. Denn einerseits haben die vulgären Verwünschungen, die der Autor seinem Erzähler in den Mund legt, mit einem bildungsbürgerlichen Duktus, wie ihn – trotz manch schriller Polemik – Spengler und auch Sarrazin kultivieren, nicht das Geringste gemein. Andererseits werden derlei frenetische Invektiven beständig mit einem elaborierten Vokabular kontrastiert,22 das eine archaisierende und ironisierende Wirkung entfaltet: In der zitierten Sequenz betrifft dies etwa „ennuyant[]“, „ältere[] Herrschaften“ und „angelegentlich“; im gesamten Roman lassen sich unzählige weitere Beispiele ermitteln. Der rasche Wechsel der sprachlichen Register deutet darauf hin, dass Zaimoglus Protagonist als ein im höchsten Maße ambivalenter Charakter konzipiert ist, und auf der Handlungsebene scheint dies der überraschend fürsorgliche, ja liebevolle Umgang zu bestätigen, den der erklärte „Misanthrop“ (S. 12) mit seiner psychisch kranken Nachbarin pflegt (vgl. S. 108 f.). Aber wie dem auch sei: Bisweilen äußert sich Zaimoglus Erzähler in einer regelrecht genozidalen Diktion über seine Mitmenschen, denen er etwa bescheinigt, „lebensunwert[]“ (S. 138 u.ö.) oder schlicht „Abschaum“ (S. 20) zu sein. In Analogie dazu stellt er sich vor, „sie einen nach dem anderen abzuknallen, vom Hochsitz meines Fensterplatzes aus den augenfälligen Menschenüberschuß zu liquidieren“ (S. 37). Es verwundert daher nicht, dass der „Kunstmaler“ (S. 120) – der auch von „arische[m] Aussehen“ (S. 157) und ähnlichem faselt – einmal für jemanden gehalten wird, der die „Fassade“ mit einem „Anstrich“ (S. 115) ver 

22 Ein mögliches Vorbild für dieses Verfahren lässt sich in Louis-Ferdinand Célines Skandalroman Voyage au bout de la nuit (1932) erkennen; vgl. dazu Yves de La Quérière, Céline et les mots. Étude stylistique des effets de mots dans le ,Voyage au bout de la nuit‘, Lexington 1973.

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sehen soll: Hier kommt man schwerlich umhin, die Formel vom ,Anstreicher Hitler‘ zu assoziieren, wie sie sich etwa in mehreren Texten Brechts findet.23 Zugleich ergibt sich eine gewisse Nähe zwischen Zaimoglus Erzähler und der Figur des Malers Strauch aus Thomas Bernhards Debütroman Frost (1963), die ganz ähnliche Vernichtungsphantasien hegt, mit einiger Selbstverständlichkeit von „Untermenschen“24 fabuliert und sich selbst einen „Anstreicher“25 nennt. Dass der Protagonist von German Amok gegen Ende des Romans vehement gegen gedankenlose Ästhetisierungen der Shoa wettert – „Nach Auschwitz ist das Gas als Metapher tabu!“ (S. 217) –, mutet vor diesem Hintergrund einigermaßen inkonsequent an, zumal er den „gnädigen Genickschuß“ (S. 102) durchaus als ein probates und opportunes Mittel zur Konfliktlösung betrachtet. Signifikant ist darüber hinaus, in welcher Form sich Zaimoglus Erzähler mit dem Thema der Homosexualität auseinandersetzt. In dieser erkennt er ein untrügliches Symptom für den rapiden Verfall der Sitten in Deutschland; Schwule gelten ihm als „Tunte[n]“ (S. 17) und „[p]erverses Pack“ (S. 144), während er gleichgeschlechtlich orientierte Frauen als „breiige Frontlesben“ (S. 115) diffamiert. Schließlich aber nötigt er selbst einen Mann zum Analverkehr (vgl. S. 234–236) und handelt folglich seiner rückhaltlos nach außen gekehrten Homophobie radikal zuwider – sodass sich der Begriff des unzuverlässigen Erzählers auf ihn applizieren lässt. Denn zu den von Ansgar Nünning genannten textinternen Signalen dafür, dass man es mit diesem Erzählertypus zu tun hat, zählen neben „explizite[n] Widersprüche[n]“ innerhalb des Geschilderten auch „Diskrepanzen“, die zwischen seinen „Aussagen“ und seinen „Handlungen“ bestehen.26 Dagegen ist es weniger einleuchtend, einen Erzähler schon deshalb als unzuverlässig kennzeichnen zu wollen, weil seine Verlautbarungen mit den „moralische[n] und ethische[n] Maßstäbe[n]“ unvereinbar sind, „die in ihrer Gesamtheit

23 So lautet die letzte Strophe von Brechts Lied vom Anstreicher Hitler (1933): „Der Anstreicher Hitler / Hatte bis auf Farbe nichts studiert / Und als man ihn nun eben ran ließ / Da hat er alles angeschmiert. / Ganz Deutschland hat er angeschmiert.“ Bertolt Brecht, „Das Lied vom Anstreicher Hitler“, in: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 11, Werner Hecht u.a. (Hrsg.), Berlin u.a. 1988, S. 215. Zahlreiche weitere Belegstellen nennt der Aufsatz von Günther Scholdt, „,Anstreicher Hitler‘. Zur Problematik politischer Polemik in der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, 10/1985, S. 135–153. 24 Thomas Bernhard, Frost, Frankfurt am Main 1972, S. 162. 25 Ebd., S. 16. 26 Ansgar Nünning, „,Unreliable Narration‘ zur Einführung. Grundzüge einer kognitiv-narratologischen Theorie und Analyse unglaubwürdigen Erzählens“, in: Ders. (Hrsg.), ,Unreliable Narration‘. Studien zur Theorie und Praxis unglaubwürdigen Erzählens in der englischsprachigen Erzählliteratur, Trier 1998, S. 3–39, hier S. 27.

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das in einer Gesellschaft vorherrschende Werte- und Normensystem konstituieren“:27 Es dürfte nämlich kaum je möglich sein, derartige Maßstäbe verbindlich zu benennen.28 Daher ist es verständlich, dass Nünnings Modell nicht nur Beifall hervorgerufen hat;29 zu konzedieren ist allerdings, dass sein Ansatz – den er später leicht revidiert hat30 – mit Blick auf den Protagonisten von German Amok nicht gar so prekär erscheint. Denn erstens weist dieser ja auch philologisch beschreibbare Merkmale eines unzuverlässigen Erzählers auf, und zweitens darf man sich angesichts seiner schier grenzenlosen Menschenverachtung wohl doch die Annahme gestatten, dass die übergroße Mehrheit der Rezipienten andere Überzeugungen hegt. Zu den Hassobjekten von Zaimoglus zynischem „Apokalyptiker“ (S. 11) gehört auch die alternative Berliner Kunstszene, in der er sich zu Beginn des Romans noch tummelt. Seine diesbezügliche Aversion sitzt derart tief, dass er die Angehörigen dieses Milieus selbst dann mit hyperbolischen Pejorationen wie „Pisser“ und „Müllfresser“ (S. 10) bedenkt, wenn sie weder weiblichen Geschlechts noch homosexuell sind.31 Entscheidend ist jedoch, dass sich seine gnadenlosen Rundumschläge anfänglich stets gegen Phänomene richten, die vorwiegend im urbanen Kontext zu beobachten sind; die Großstadt nimmt er als ein Terrain wahr, auf dem sich der Zusammenbruch des Althergebrachten zuallererst ereignet. Berlin gilt ihm daher als „für immer verfluchte[] und vergammelnde[] Metropole“ (S. 51), als ein ,Sündenpfuhl‘, in dem „Unsitten und Verfallserscheinungen“ (S. 37) ubiquitär sind. Damit aktualisiert der Erzähler von German Amok klischeeträchtige Positionen, wie sie schon in Der Untergang des Abendlandes auszumachen sind: Für Spengler stellt der Antagonismus von „Weltstadt und 27 Ebd., S. 30. 28 Dieser Umstand wird von Nünning durchaus reflektiert; vgl. etwa ebd., S. 22. 29 Eine eingehende Auseinandersetzung mit der Fachdiskussion um das unzuverlässige Erzählen kann hier nicht erfolgen; zumindest hingewiesen sei aber auf den Aufsatz von Monika Fludernik, „,Unreliability‘ vs. ,Discordance‘. Kritische Betrachtungen zum literaturwissenschaftlichen Konzept der erzählerischen Unzuverlässigkeit“, in: Fabienne Liptay/Yvonne Wolf (Hrsg.), Was stimmt denn jetzt? Unzuverlässiges Erzählen in Literatur und Film, München 2005, S. 39–59, sowie auf die Monographie von Tom Kindt, Unzuverlässiges Erzählen und literarische Moderne. Eine Untersuchung der Romane von Ernst Weiß, Tübingen 2008, besonders S. 28–67. 30 Vgl. etwa Ansgar Nünning, „Reconceptualizing the Theory, History and Generic Scope of Unreliable Narration: Towards a Synthesis of Cognitive and Rhetorical Approaches“, in: Elke D’hoker/Gunther Martens (Hrsg.), Narrative Unreliability in the Twentieth-Century First-Person Novel, Berlin 2008, S. 29–76. 31 Ein vergleichbares Ressentiment gegen das Künstlertum verspürte schon Spengler; vgl. dazu Boterman, Oswald Spengler, S. 68–76, sowie Bollenbeck, Geschichte der Kulturkritik, S. 220 f. Auch Bernhards Figur des Malers Strauch bekundet unumwunden: „Ich habe immer alle Kunstmenschen gehaßt.“ (Bernhard, Frost, S. 181)  

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Provinz“32 das Grundproblem seiner Zeit dar, und der „Großstadtbewohner“ ist für ihn nichts als „ein Parasit […], der reine, traditionslose, in formlos fluktuierender Masse auftretende Tatsachenmensch […], also ein ungeheurer Schritt zum Anorganischen, zum Ende“.33

III. Der Einfall der barbarischen Horden: Zum Migrationsdiskurs in Zaimoglus Roman Gesonderte Beachtung verdient nun ein weiteres Charakteristikum des urbanen Raums, das schon Spengler als Beleg für den allgemeinen Kulturverfall anführt: „Die Weltstadt bedeutet den Kosmopolitismus an Stelle der ,Heimat‘“,34 heißt es bei ihm, wimmele es in ihr doch von Heerscharen „neuer Nomade[n]“.35 Fast ein Jahrhundert später reagiert auch Sarrazin mit größter Besorgnis auf den hohen Anteil von (muslimischen) Migranten, den die Bevölkerung vieler deutscher Großstädte aufweist; der Berliner Bezirk Neukölln fungiert dabei als Beispiel für die alarmierenden Entwicklungen, die durch eine zu liberale Einwanderungspolitik hervorgerufen worden seien.36 Dass der Erzähler von German Amok ebenfalls außerstande ist, in der Migration nach Deutschland etwas anderes als eine fundamentale Bedrohung zu erblicken, sollte inzwischen nicht mehr verblüffen. Einer gesteigerten Aufmerksamkeit bedürfen seine Klagen über die vermeintliche ,Überfremdung‘ insofern, als derlei – das belegt der Erfolg von Sarrazins Buch – in der medialen Öffentlichkeit des 21. Jahrhunderts noch immer breite Zustimmung erntet. Für den Tonfall aber, in dem Zaimoglus Antiheld seiner Sehnsucht nach einer ethnisch homogenen Gesellschaft Ausdruck verleiht, gilt dies wohl kaum. Die Angehörigen jener Bevölkerungsgruppen, die der Protagonist von German Amok in essentialisierender Weise als kulturell fremd kategorisiert, werden von ihm meist besonders rigoros abgewertet, und etliche seiner Aussagen wären wohl, sofern sie außerhalb des Mediums der Literatur getätigt würden, gemäß

32 Spengler, Der Untergang des Abendlandes, S. 44. 33 Ebd., S. 45. Das weite Feld der literarischen Großstadtdarstellungen sei hier gar nicht erst betreten; vgl. aus der Fülle der Forschungsarbeiten etwa Klaus R. Scherpe (Hrsg.), Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne, Reinbek bei Hamburg 1988, Manfred Smuda (Hrsg.), Die Großstadt als „Text“, München 1992, Sabina Becker, Urbanität und Moderne. Studien zur Großstadtwahrnehmung in der deutschen Literatur 1900–1930, St. Ingbert 1993, und Angelika Corbineau-Hoffmann, Kleine Literaturgeschichte der Großstadt, Darmstadt 2003. 34 Spengler, Untergang des Abendlandes, S. 46. 35 Ebd., S. 45. 36 Vgl. Sarrazin, Deutschland schafft sich ab, S. 299–307.

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§ 130 Abs. 1 StGB zu bestrafen.37 Denn nicht nur auf „Neger[]“ (S. 23 u.ö.), „ausländische[] Drogendealer[]“ (S. 54) oder „Zigeunerjungs“ (S. 58) schimpft er exzessiv, sondern auch auf einen „dicken Türken“, den „die Regeln der Moderne“ verwirren und der sich daher als „ein Tier“ gebärdet, „das seinen Stall verdreckt“ (S. 83). Überdies werden mehrfach „anbrandende[] Horden“ (S. 89) von überdurchschnittlich fertilen „Barbaren“ (S. 33 u.ö.) herbeihalluziniert, die über die dekadent-verweichlichte Bundesrepublik hereinbrechen und ihr endgültig den Garaus machen.38 Krass ausgeprägt ist zudem der Ekel des Erzählers vor der körperlichen Vereinigung von deutschen Frauen und nicht-deutschen Männern, sodass er eine Bekannte entrüstet bezichtigt, sich nach dem Motto „Ausländer rein in meine Jungfrauenmöse“ mit „schmierige[n] Itaker[n]“ und „Drogenneger[n]“ (S. 15) ,einzulassen‘. Andernorts denunziert er einen Bekannten als „schlechte Mischung dreier Rassen“ (S. 176) oder bramarbasiert von der Zersetzung des „Volkskörper[s]“ (S. 218) – all dies dürfe „[e]in aufrechter Deutscher“ (S. 123) nicht dulden, doch habe „die Toleranz […] die Menschen verblendet.“ (S. 232 f.) Ganz offensichtlich werden hier rassistische Purifizierungsphantasien fortgeschrieben, wie sie im Verlauf des 20. Jahrhunderts immer wieder artikuliert worden sind: Zu erinnern ist etwa an die wütenden Proteste gegen die französische Okkupation des Rheinlands in den Jahren 1919 bis 1930, bei der auch afrikanische Truppen zum Einsatz kamen,39 vor allem aber an die Bestrebungen des Hitler-Regimes, die ,Reinheit der arischen Rasse‘ um jeden Preis zu wahren.40 Doch auch nach dem Zweiten Weltkrieg waren Frauen, die Beziehungen mit  

37 Wörtlich lautet der erste Absatz des ,Volksverhetzungsparagraphen‘: „Wer in einer Weise, die geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen seiner Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren bestraft.“ 38 Dieser Topos findet sich auch in Christian Krachts Debütroman Faserland (1995), dessen IchErzähler konstatiert: „[D]ie großen ungewaschenen Massen aus dem Osten, aus Moldawien, aus der Ukraine, aus Weißrußland, sie werden kommen. Soviel ist sicher.“ (Christian Kracht, Faserland, Köln 1995, S. 112). 39 Vgl. zum Beispiel Sandra Maß, Weiße Helden, schwarze Krieger. Zur Geschichte kolonialer Männlichkeit in Deutschland 1918–1964, Köln u.a. 1996, und Fatima El-Tayeb, Schwarze Deutsche. Der Diskurs um ‚Rasse‘ und nationale Identität 1890–1933, Frankfurt am Main/New York 2001. 40 Vgl. aus der breiten Forschungsliteratur Gisela Bock (Hrsg.), Rassenpolitik und Geschlechterpolitik im Nationalsozialismus, Göttingen 1993, und Cornelia Essner, Die „Nürnberger Gesetze“ oder Die Verwaltung des Rassenwahns 1933–1945, Paderborn u.a. 2002.

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(,schwarzen‘) Besatzungssoldaten eingingen, noch strikten Exklusionsmechanismen unterworfen.41 Evident ist somit, dass Zaimoglus Protagonist kulturelle Hybridisierungstendenzen beileibe nicht mit dem „Bild eines bunten Völkerfestes“42 assoziiert. Stattdessen verzweifelt er daran, dass jedes ,unverfälschte Deutschtum‘ unwiederbringlich verloren ist, und sein Defätismus paart sich mit einer unbändigen Aggression gegen all jene, die er als deviant definiert. Indes zeigt sich die Unzuverlässigkeit von Zaimoglus Erzähler in diesem Zusammenhang besonders deutlich, unterhält er doch enge Kontakte zu einer Frau namens Songül, die angeblich das „Kind von anatolischen Analphabeten“ (S. 17) ist, sowie zu einem türkischen Hodscha. Mehr noch: Schon bald verdichten sich die Indizien, dass der Protagonist von German Amok selbst einen Migrationshintergrund hat! So bezeichnet er sich als ein „fast abtrünniges Mitglied“ der Gemeinde des Hodschas, für den er auch „dolmetsch[t]“ (S. 37), und ferner gibt er zu verstehen, dass er zu den „beschnittenen Männern“ (S. 65) zählt. Außerdem nennt ihn eine andere Figur explizit einen „Moslem“ (S. 132), sodass unweigerlich der Eindruck entsteht, dass seine wüsten Injurien auf ihn selbst zurückfallen: Obwohl er Deutschland als sein Heimatland betrachtet, dem er in glühender Hassliebe verbunden ist, handelt es sich augenscheinlich nicht um das ,Land seiner Väter‘. Mithin weist die Narration erneut „interne Unstimmigkeiten“43 auf, die zur „Selbstentlarvung“44 des Erzählers führen und ihn geradezu schizophren wirken lassen. Abermals wird klar, dass es sich bei ihm um eine Instanz handelt, „deren Perspektive im Widerspruch zum Werte- und Normensystem des Gesamttextes steht.“45 Zusätzlich bestätigt wird dieser Befund dadurch, dass für den von Zaimoglus Erzähler angeschlagenen Ton nicht allein die Mischung unterschiedlicher Stilebenen charakteristisch ist, sondern auch die Kreolisierung des Deutschen und anderer (National-)Sprachen. So verwendet er neben bildungssprachlichen Lati-

41 Vgl. Tamara Domentat, „Hallo Fräulein“. Deutsche Frauen und amerikanische Soldaten, Berlin 1998. 42 Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Differenzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätkapitalismus, Bielefeld 2005, S. 65. 43 Nünning, „,Unreliable Narration‘“, S. 6. 44 Ebd., S. 27. 45 Ebd., S. 17. Welche Folgen es haben kann, wenn dies nicht erkannt wird, veranschaulicht die Rezension von Jens Jessen, „Ein Hass, der zum Kummer wird. In Feridun Zaimoglus neuem Roman sind die Menschen erbarmenswürdige Kreaturen“, in: Die Zeit vom 03.12.2002. Dort gelangt Jessen zu der abenteuerlichen Fehldeutung, bei German Amok handle es sich um „ein zutiefst reaktionäres Buch, fortschrittsfeindlich und kulturkonservativ“ – was Jessen übrigens als Kompliment verstanden wissen will.

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nismen vielfältige Anglizismen – schon der Romantitel deutet ja in diese Richtung –, etwa wenn er vom „Mama Africa Feeling“ (S. 49), einer „Papierpussy“ (S. 56) oder einem zum „Lover[] erhobene[n] Latinoboy“ (S. 67) spricht. Dem eigenen Homogenitätsideal wird er, der die Vorliebe deutscher Muttersprachler für englische Formulierungen zuweilen mit ätzendem Spott überhäuft (vgl. S. 116, S. 127), wiederum nicht gerecht; sein ostentativer Antiamerikanismus – „die deutschen Museen“ will er von der „lächerliche[n] Plastikmoderne der Amerikaner“ kurzerhand „reinigen“ (S. 194) – läuft vollkommen ins Leere. Kurzum: Das „lächerliche[] Harlekinskostüm“ (S. 253), das er am Schluss des Romans trägt, ist ihm sicherlich angemessen.

IV. Die Barbaren von nebenan: Zaimoglus Ostdeutschland Eine eindrucksvolle, zwischen Faktualität und Fiktionalität oszillierende Auseinandersetzung mit der brandenburgischen Provinz und ihren Bewohnern hat zuletzt Moritz von Uslar vorgelegt. Sein literarisch überformter Erlebnisbericht Deutschboden (2010), der im Untertitel als [e]ine teilnehmende Beobachtung ausgewiesen ist, steht im Dienst einer ,Ethnologie des Eigenen‘ und zeichnet ein recht differenziertes Bild des ländlich-kleinstädtischen Milieus, in dem der Autor rund drei Monate zugebracht hat. Ohne die vorhandenen Probleme zu ignorieren, wird dieses Milieu also nicht auf die Klischees von epidemischer Arbeits- und Perspektivlosigkeit, allgegenwärtigem Alkoholismus und dumpfem Rechtsradikalismus reduziert, sondern in seinem Facettenreichtum erschlossen und mit großer Sympathie bedacht. Die Bilanz, die Uslar zieht, lautet folgendermaßen: Die Menschen, die mir bei meinen Recherchen begegnet sind, habe ich als gute Menschen kennengelernt. So merkwürdig das klingen mag: Ich bin als Fremder gekommen und als Einheimischer gegangen. Die Zeit in der Kleinstadt war eine der besten meines Lebens.46

Demgegenüber ist es mehr als erwartbar, dass der Protagonist von German Amok mitnichten per Anhalter ins Berliner Umland reist, weil er sich neuen Erfahrungen aussetzen will und eine wie auch immer geartete Erweiterung seiner Persönlichkeit anstrebt: Mit den identitätsstiftenden Wanderungen der Helden kanonisierter Bildungsromane hat sein Kurztrip keinerlei Ähnlichkeit. Allerdings erscheint es prinzipiell denkbar, dass er in Brandenburg eine Lebenswelt vorzufinden glaubt, die seinen chauvinistischen Überzeugungen entgegenkommt – eine Lebenswelt, die noch von einer heteronormative Ordnung beherrscht wird und von nicht-

46 Moritz von Uslar, Deutschboden. Eine teilnehmende Beobachtung, 5. Aufl., Köln 2010, S. 9.

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deutschen Einflüssen weniger stark als der ,Moloch‘ Berlin betroffen ist. Doch weit gefehlt: Zaimoglus Erzähler begibt sich einzig wegen des Geldes, das er dort als Bühnenbildner einer Berliner Tanztheatertruppe verdienen kann, für drei Wochen nach Treptin. Als einen Zufluchtsort begreift er das Dorf demnach keineswegs; auf eine Erholung von den Zumutungen der Großstadt wagt er von Beginn an nicht zu hoffen.47 Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Subjekt und bereister Gegend gestaltet sich äußerst feindselig, und dabei wird abermals ersichtlich, dass die persönliche Identitätskonstruktion von Zaimoglus Erzähler zwar eng an Abstrakta wie Nation und Heimat geknüpft ist, er in der Realität aber nichts mehr auszumachen vermag, das ihnen entspricht. Zum ultimativen Fremderlebnis wird seine Reise in die Provinz freilich nicht, hat seine Borniertheit doch zwangsläufig zur Folge, dass er dort vor allem das bestätigt sieht, was er schon zuvor über das „andere[] Land“ (S. 110 u.ö.) zu wissen meinte. Konkret bedeutet dies, dass Zaimoglus Protagonist selbst der Natur, die ihn in Brandenburg umgibt, mit unversöhnlicher Ablehnung begegnet. Sogar die „Drecksstadt“ (S. 244 u.ö.) Berlin zieht er ihr vor, hat er doch keine Augen für irgendwelche Schönheiten der Natur. Es ist mir lieber, daß ich in einer unbeleuchteten Überführung abgestochen werde, als durch Wiesen und Felder zu streichen oder durch jahrhundertelangen Inzest verdummsauten Bauernrüpeln bei der Ernte zur Hand zu gehen. Das Land ist die trostlose Strecke zwischen zwei Städten, mehr nicht. (S. 90)

In Analogie dazu bedenkt er die „Eingeborene[n]“ (S. 110 u.ö.) permanent mit grotesk übersteigerten Schmähungen. Das „Ostpack“ (S. 160) wird von ihm konsequent animalisiert; die Treptiner sind für ihn nichts als „Last- und Nutztiere“ (S. 112), die in ihren „Koben“ (S. 110) dahinvegetieren. Insofern tritt der Erzähler von German Amok weniger wie ein Reisender als im Stile eines Kolonisators auf, der es auf die rücksichtslose Unterwerfung der fremden Bevölkerung abgesehen hat: Sie haben es verdient, erledigt zu werden. Man muß die Einöde […] gnadenlos durchkapitalisieren, die dumpfen Werktätigen massenentlassen, den jungen Müttern ihre Kinderkrippenromantik um die Ohren schlagen und die Horden und Haufen der Untertanen […] wieder auf die Straße treiben: hier gehören sie schließlich hin, das ist ihre Bestimmung. (S. 110)48

47 Zu narrativen Entwürfen des ländlichen Raums, in denen dieser sehr wohl als idyllisiertes Gegenbild zur modernen Metropole erscheint, vgl. nach wie vor Norbert Mecklenburg, Erzählte Provinz. Regionalismus und Moderne im Roman, Königstein 1982. 48 Zu einem kapitalistischen Kolonisationsprojekt wird der deutsche Einigungsprozess in etlichen Romanen stilisiert, darunter Ingo Schulzes Simple Storys (1998) und Jürgen Beckers Aus der Geschichte der Trennungen (1999). Vgl. in Bezug auf German Amok Stuart Taberner, „Literature and Unification. Günter Grass’s ,Im Krebsgang‘, Feridun Zaimoglu’s ,German Amok‘, and Daniel Kehlmann’s ,Die Vermessung der Welt‘“, in: Literatur für Leser, 33/2010, 2, S. 67–77, hier S. 73–75.

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Tatsächlich kommt es denn auch zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen den Berliner Theaterleuten und den Treptiner „Dorfjugendlichen“, die vermeintlich darauf aus sind, die „Westtouristen am nächstbesten Baum auf[zu]knüpfen“ (S. 137). Daher stellen diese ihr bizarr-esoterisches Kunstgewerbe und ihre internen Konflikte vorübergehend hintan; sie formieren sich zu einer „Wehrsporttruppe West“ und gehen mit Fäusten, Reizgas und Eisenstangen gegen die „Ostbrut“ (S. 160) vor. Da diese Vorgänge in einem ausgesprochen martialischen Jargon geschildert werden, ergibt sich phasenweise der Eindruck, Zaimoglus Protagonist nehme an einer militärischen Kommandoaktion teil – und nicht an einer chaotischen Landpartie von „Berliner Bohemelinken“ (S. 137). Angesichts all dessen ist festzuhalten, dass Zaimoglus Erzähler keineswegs als lupenreiner Rassist oder Nationalist rubriziert werden kann – und zwar nicht allein deshalb, weil sich seine ordinären Hasstiraden letztlich gegen ihn selbst kehren. Ausschlaggebend ist eher, dass er keine strikte Hierarchie menschlicher Kollektive verficht, sondern alle erdenklichen Gruppen gleichermaßen abwertet: Da er beinahe wahllos gegen Frauen, Homosexuelle, Muslime, Afrikaner, US-Amerikaner und Ostdeutsche hetzt und zudem weder Linke noch Rechte, weder Künstler noch Kapitalisten verschont, ist ihm eine politische Einstellung kaum mehr zu attestieren. Was seine wirren Statements dominiert, ist vielmehr ein allgemeiner Weltekel, und dazu fügt es sich, dass er sich schließlich einer nicht mehr profanen, sondern wahnhaft religiösen Sprache bedient. Dabei aber synkretisiert er eine Vielzahl christlicher und islamischer Topoi, wodurch seine eigenen Reinheitspostulate erneut ad absurdum geführt werden. So lässt seine Beschwörung des „Tage[s], da in die Posaunen der Atem der Vernichtungsengel fährt“, an die Offenbarung des Johannes denken,49 während die darauf folgende Erwähnung des „Scheitan[]“ (S. 246) auf den Koran verweist.50 Jedenfalls sei das „Endgericht[]“ selbst dann nicht mehr aufzuhalten, wenn sich die Menschen fortan „rosenkranzfromm“ (S. 249) zeigen oder auf die Gebote des Islam besinnen sollten: „[D]as Feuer [wird] heute durch eure Nabel einfahren, denn der Herr des Thrones hat es befohlen.“ (S. 249) Somit gewinnen die apokalyptischen Visionen des Erzählers am Schluss des Romans eine planetarische Dimension; nicht bloß Deutschland scheint nun der Jüngste Tag bevorzustehen, sondern der gesamten Menschheit.

49 Allerdings heißt es – gemäß der Übersetzung von Thomas Schweer, 14. Aufl., München 1992 – auch in den Versen 9 bis 11 der 74. Sure des Koran: „Denn, wenn in die Posaune gestoßen wird, / Der Tag wird ein schwerer Tag sein / Für die Ungläubigen alles eher als leicht.“ 50 Wenigstens ein weiterer Koranbezug sei hier angeführt. So spricht Zaimoglus Protagonist von einem strafenden Gott, der „schwangere Frauen dazu bringen [wird], ihre Last fallen zu lassen, die Last des Mutterleibes“ (S. 246), während es in Vers 3 der 22. Sure heißt: „An dem Tage […] wird […] jede Schwangere sich ihrer Last entledigen“.

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V. „Ich bin ein deutscher Autor“: German Amok als Werk der Migrationsliteratur? In der Forschung wie auch im Feuilleton wird Zaimoglu meist als ein Autor der sogenannten Migrations-51 oder interkulturellen Literatur52 klassifiziert und dadurch mit einem Sonderstatus versehen, nach dem er selbst nie verlangt hat. Vielmehr hat er ihn wiederholt energisch zurückgewiesen, etwa mit den Worten: „Ich lasse mich nicht von Identitätsfragen aufhalten, das ist […] Ethnoblödsinn. Für mich ist klar, ich bin Deutscher, ein deutscher Autor – und Punkt.“53 Allerdings ist Zaimoglu mit derartigen Stellungnahmen regelmäßig auf taube Ohren gestoßen, und insofern nutzt er in German Amok – wie schon in Kanak Sprak (1995), Abschaum (1997) und einigen anderen Veröffentlichungen – auf geradezu trotzige Weise jenen Freiraum, der sich aus dem von ihm kritisierten Labeling ergibt: Es steht nämlich durchaus zu vermuten, dass ein deutschsprachiger Autor, der keinen türkischen Nachnamen trägt, für einen solchen Text weit härter als Zaimoglu attackiert worden wäre.54 Denn prinzipiell vermögen drastische Schilderungen von Sexualität und Gewalt noch immer eine erhebliche mediale Aufregung auszulösen – vor allem wenn sie thematisch mit den Verbrechen des Dritten Reichs verbunden werden.55 Jedoch macht Zaimoglus sarkastischer Ro-

51 Vgl. Klaus Schenk/Almut Todorow/Milan Tvrdík (Hrsg.), Migrationsliteratur. Schreibweisen einer interkulturellen Moderne, Tübingen/Basel 2004. 52 Vgl. Carmine Chiellino (Hrsg.), Interkulturelle Literatur in Deutschland. Ein Handbuch, Stuttgart 2000. 53 Bettina Göcmener, „Ich bin ein deutscher Autor – und Punkt [Interview mit Feridun Zaimoglu]“, in: Berliner Morgenpost vom 11.09.2002. Vgl. erläuternd Anil Kaputanoğlu, „Zur Rhetorik und Dialektik in der Festschreibung der Kategorie ,Migrantenautor‘. Feridun Zaimoğlus Essay , Gastarbeiterliteratur. Ali macht Männchen. Zur Konstruktion des Ausländers‘“, in: Maja Razbojnikova-Frateva/Hans-Gerd Winter (Hrsg.), Interkulturalität und Nationalkultur in der deutschsprachigen Literatur, Dresden 2006, S. 373–383, sowie Jochen Neubauer, Türkische Deutsche, Kanakster und Deutschländer. Identität und Fremdwahrnehmung in Film und Literatur: Fatih Akın, Thomas Arslan, Emine Sevgi Özdamar, Zafer Şenocak und Feridun Zaimoğlu, Würzburg 2011, S. 453–477. 54 Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass Zaimoglus Name auf den Umschlägen seiner eigenen Bücher stets mit ,g‘ geschrieben wird, während er in der Forschungsliteratur – und zwar auch in ansonsten sehr reflektierten Arbeiten – meist eine zusätzliche ,Turkifizierung‘ erfährt, indem das im Türkischen gebräuchliche ,ğ‘ Verwendung findet. 55 Als Beleg dafür lassen sich die empörten Reaktionen auf Thor Kunkels zwei Jahre nach German Amok publizierten Roman Endstufe anführen, in dem es um die Produktion pornographischer Filme während der Ära des Nationalsozialismus geht. So wurde Kunkel häufig mit seinem Erzähler identifiziert und daher nicht allein mit ästhetischen, sondern auch mit massiven moralischen Einwänden konfrontiert; vgl. etwa Robin Detje, „Sieg geil. Leider doch ein Skandal: Thor Kunkels Roman ,Endstufe‘“, in: Süddeutsche Zeitung vom 01.04.2004, und Richard Kämmerlings,

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man zugleich deutlich, wie problematisch es ist, gewissen Äußerungen nur deshalb mit Konzilianz zu begegnen, weil man sich auf die Genealogie ihres Urhebers fixiert. Denn der Migrationshintergrund des Protagonisten wird ja keineswegs zum Anlass genommen, ihm gleichsam mildernde Umstände zu gewähren; stattdessen führt der Text ihn unabhängig von seiner Herkunft als verblendete und bigotte Knallcharge vor. Des Weiteren hat sich erwiesen, dass German Amok zwar nicht als direkte Parodie oder Travestie von Spenglers Der Untergang des Abendlandes und schon gar nicht von Sarrazins – ja erst nach Zaimoglus Roman erschienenem – Deutschland schafft sich ab zu verstehen ist,56 der Text aber sehr wohl etliche Versatzstücke apokalyptischen Schreibens dekonstruiert. Speziell das Lamento über die Auflösung der nationalen ,Blutsgemeinschaft‘ und den Niedergang der ,alten Werte‘ des Patriarchats wird mittels der Strategie des unzuverlässigen Erzählens der Lächerlichkeit preisgegeben, ohne dass ihm das Ideal eines alternativen, nicht-biologistischen Vergesellschaftungsmodus entgegengesetzt würde. Eine ,politisch korrekte‘ Botschaft transportiert German Amok demnach nicht, und just der Verzicht auf jegliches Pädagogisieren macht eine wesentliche Qualität von Zaimoglus infernalisch-verstörendem Sittengemälde aus. Denn die Hoffnung darauf, dass sich die in vielerlei Hinsicht gespaltene Gesellschaft der Bundesrepublik schon bald in ein multikulturelles Idyll verwandelt, mutet ja kaum weniger absurd an als die Forderung, ihre ethnische Homogenität zu restituieren. Es ist sicher nicht das geringste Verdienst Zaimoglus, darauf mit einer – zugegebenermaßen etwas hooliganesken – literarischen Ästhetik reagiert zu haben, die es eher auf einen produktiven Dissens anlegt denn auf allseitiges Kopfnicken und verlogene Harmonie.

„Ein Ekelreigen. Keine Geschmackssache: Thor Kunkels Roman ,Endstufe‘“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 03.04.2004. Die überwiegend unaufgeregte Rezeption von Zaimoglus German Amok bezeugen hingegen die exemplarischen Besprechungen von Christoph Bartmann, „Ich bin der Hass. Ölgemälde gegen Simsalabim: Feridun Zaimoglus ,German Amok‘“, in: Süddeutsche Zeitung vom 30.12.2002, und Steffen Richter, „Am Ende der Provokationen. Feridun Zaimoglu: ,German Amok‘“, in: Neue Zürcher Zeitung vom 03.03.2003. 56 Vgl. zu den oft sehr unterschiedlich gehandhabten Begriffen ‚Parodie‘ und ‚Travestie‘ Theodor Verweyen/Gunther Witting, Art. „Parodie“, in: Müller u.a. (Hrsg.), Reallexikon, Bd. 3, S. 23–27, sowie Theodor Verweyen/Gunther Witting, Art. „Travestie“, in: Ebd., S. 682–684. Vgl. außerdem Wolfgang Karrer, Parodie, Travestie, Pastiche, München 1977, Winfried Freund, Die literarische Parodie, Stuttgart 1981, und das Standardwerk von Gérard Genette, Palimpseste. Die Literatur auf zweiter Stufe, aus dem Französischen von Wolfram Bayer und Dieter Hornig, Frankfurt am Main 1993.

Magdalena Skalska, Poznań

Eine literarische „Gastarbeit“: Andrzej Stasiuk auf Lesereise durch Dojczland Literarische Berichte über Deutschlandreisen, die von polnischen Autoren nach 1989 unternommen wurden, sind eine Seltenheit. Der von Andrzej Stasiuk 2007 publizierte Reisebericht Dojczland stellt immer noch die einzige Veröffentlichung dieser Art auf dem polnischen Literaturmarkt dar. Angesichts der Tatsache, dass Polens westliches Nachbarland seit vielen Jahren als ein beliebtes Reiseziel vieler Polen fungiert, ist diese Situation nur schwer nachvollziehbar. Andererseits kann man sie als Bestätigung für die Umfrageergebnisse lesen, die besagen, dass nur neun Prozent der 2010 von Polen nach Deutschland unternommenen Reisen einen rein touristischen Charakter hatten.1 In dieser Hinsicht wundert es nicht, was Stasiuk schon auf den ersten Seiten seines Reiseberichts offen gesteht: Statt in Stuttgart wäre er nämlich doch lieber in Bukarest angekommen. Auf eine Erklärung dieser Worte lässt uns der Autor nicht lange warten, denn – wie er im Folgenden deklariert – „man kann nicht einfach locker nach Deutschland fahren. So wie zum Beispiel nach Monaco, Portugal oder nach Ungarn. Nach Deutschland fahren, das ist Psychoanalyse“.2 Trotz der allgemeinen Tendenzen und der Meinung, dass es angeblich in Polen „als mangelnder Schliff“3 gelte, Deutschland zu bewundern, entscheidet sich Stasiuk für diese Reise. Seine Motivation und Bewunderung haben aber einen spezifischen Charakter, welchen ich im Folgenden veranschaulichen werde.

I. Andrzej Stasiuk und sein Prosawerk: „Und damals überlegte ich, vielleicht doch wegzufahren.“ Andrzej Stasiuk, Erzähler, Dichter und Literaturkritiker, wurde 1960 in Warschau geboren. Sein literarisches Debüt erfolgte im Jahr 1992, als die Generation der nach 1960 geborenen Schriftsteller die literarische Bühne in Polen betrat.

1 Jerzy Łaciak, Krajowe i zagraniczne wyjazdy Polaków w 2010 roku, 2011, http://msport.gov.pl/ badania-rynku-turystycznego/1594-Podroze-Polakow-w-2-1-roku-wyniki-badan?retpag=/bada nia-rynku-turystycznego/ (Stand: 24.10.2011) 2 Andrzej Stasiuk, Dojczland, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Frankfurt am Main 2008, S. 25. 3 Ebd., S. 60.

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Schnell erwies er sich als „die schillerndste Persönlichkeit der jungen polnischen Literatur“.4 Da er sich vor Armut, Ekel und Ausgrenzung nicht scheut, wird die Beschaffenheit seines Prosawerks häufig mit Adjektiven wie unangepasst und aufrührerisch beschrieben. Eine wichtige Inspirationsquelle stellt für Stasiuk die Straße dar sowie die Menschen, auf die er dort stößt. Vieles greift er auch aus seiner außergewöhnlichen Biographie auf.5 Von seinen Arbeitsmethoden erzählt der Autor Folgendes: Außerdem ist es gut, den Leuten zuzuhören. Vor allem fremden und solchen, mit denen man nicht viel gemein hat, also Pennern, Säufern, Händlern, Kraftfahrern, Hinterwäldern, Männern, die von der Frühschicht heimkommen, Kindern, Betrügern, Spinnern – ganz einfach Staatsbürgern. […] Für einen Schriftsteller ist es immer besser, aus dem Fenster zu schauen als Bücher zu lesen oder sich mit anderen Schriftstellern zu unterhalten.6

Man muss zugeben, dass Stasiuk in seiner literarischen Arbeit konsequent bei diesen Vorsätzen bleibt. Viele Belege dafür finden wir auch in seinem Reisebericht über Deutschland. Außerdem ist in Stasiuks Prosawerk die Neigung auffällig, die teilweise geradezu naturalistischen, drastischen Schilderungen mit poetischen Bildern und Worten wiederzugeben. Daher wird die Form, der sich Stasiuk zu bedienen pflegt, als lyrische Prosa bezeichnet. Einer der bedeutendsten polnischen Literaturkritiker, Stanisław Burkot, hat einmal über den Autor von Dojczland Folgendes gesagt: Stasiuks größte Leistung als Schriftsteller ist die Fähigkeit, wie ein Soziologe und Psychologe zu beobachten. Er ist nicht nur Erzähler, sondern auch Poet. Das beweist er durch seine Art der bildlichen Darstellung, durch die Fähigkeit, Aussagen zu konzentrieren und durch die Sensibilität für Landschaft und Natur.7

Die Reise gehört zu den Motiven, die in Stasiuks Romanen beständig wiederkehren. Auch der Reisebericht als literarische Gattung stellt für ihn kein Novum dar. Der Ortswechsel scheint aber noch in einem anderen Sinne für den Literaten von grundlegender Bedeutung zu sein. Die Reise hat ihn als einen Autor konstituiert, wovon Stasiuk in seiner Autobiographie berichtet. Stasiuk, der lange Jahre eher an Musik interessiert war und Rockmusiker mehr als jegliche Schrift-

4 Agnieszka Kosińska, Andrzej Stasiuk, aus dem Polnischen von Michael Steinhilper und Renate Schmidgall, Kraków 2000, S. 3. 5 Wegen Desertion aus der Armee saß er anderthalb Jahre im Gefängnis, hat auch keine Abitur gemacht. 6 Zit. nach Kosińska, Andrzej Stasiuk, S. 21. 7 Zit. nach ebd., S. 19.

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steller geschätzt hat, stellt eines Tages, von dem höchsten Gebäude der polnischen Hauptstadt auf das Hauptbahnhofsgebäude hinschauend, fest: Der Hauptbahnhof sah aus wie eine Schachtel Zigaretten. Ich sah mir meine Stadt von oben an und wusste, höher komme ich nicht mehr. Und damals überlegte ich, vielleicht doch wegzufahren und endlich Schriftsteller zu werden. Einen Monat später habe ich das getan.8

1986 entschied sich Stasiuk, Warschau, die Stadt, in der er aufgewachsen war und seine Jugend verbracht hatte, zu verlassen. Gezogen ist er in ein abgeschiedenes Dorf in den Westbeskiden in Südpolen, wo er bis heute lebt. Seit diesem Moment bildet das polnisch-ukrainische Grenzgebiet mit seiner tragischen Geschichte und mythischen Atmosphäre vergessener Städte, Dörfer und Bauernhöfe die Kulisse für Stasiuks Werk. Die Suche nach ähnlichen Eindrücken treibt ihn noch weiter auf diesem Weg. Zu den von ihm bevorzugten Zielorten gehören Rumänien, Serbien, Moldawien und Mazedonien. Hier glaubt er, die letzten Erinnerungsorte zu finden, die von der Globalisierung und dem Kapitalismus verschont geblieben sind. Voller Melancholie erzählt er von diesen Orten in seinen Reisebüchern wie Unterwegs nach Babadag (2004) und Fado. Reiseskizzen (2006), die ihm in Polen große Popularität eingebracht haben. Der Erfolg dieser Bücher ist u.a. auf Stasiuks Reisephilosophie zurückzuführen. Für ihn bedeutet eine Reise mehr als nur den Ortswechsel, das Besichtigen und das Kennenlernen. Das Reisen ist für ihn ein Lebensstil. Was darunter zu verstehen ist, versucht er selbst folgendermaßen zu erklären: Gibt es eine bessere Metapher für die Reise als eine brüchige Landkarte? Gibt es eine noblere Art der Reise als die auf den Spuren eines Schriftstellers, dessen Bücher man bewundert? Ja, so eine Reise ist eine Pilgerfahrt. Und die Pilgerfahrt ist schließlich nichts anderes als die älteste Schwester der Reise an sich. Reisen heißt leben. Jedenfalls doppelt, dreifach, mehrfach leben.9

8 Andrzej Stasiuk, Wie ich Schriftsteller wurde. Versuch einer intellektuellen Autobiographie, aus dem Polnischen von Olaf Kühl, Frankfurt am Main 2001, S. 134. 9 Ders., Fado. Reiseskizzen, aus dem Polnischen von Renate Schmidgall, Frankfurt am Main 2008, S. 39.

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II. Stasiuks Reise nach Dojczland: „Ich bin ein wandernder Gastarbeiter.“ Was sucht dann der sich prinzipiell von der westlichen Welt abwendende Autor, der schon „siebenmal in Bukarest war und noch kein einziges Mal in Paris“,10 in Deutschland? Die Antwort kann für manche allzu prosaisch klingen. Im Herbst 2000 wurde auf der Frankfurter Buchmesse das Programm „Polnische Literatur 2000“ vorgestellt, das zahlreiche Publikationen von Büchern auch weniger bekannter polnischer Autoren zur Folge hatte. Zur lebhaften Rezeption der lange Zeit mit Skepsis wahrgenommenen polnischen Erzählliteratur der 1990er Jahre trugen auch die Stimmen renommierter deutscher Literaturkritiker wie Marcel Reich-Ranicki und Adam Krzemiński bei.11 Mit der Zeit wurde auch Stasiuks Werk in Deutschland bekannt. Geholfen haben dabei u.a. die Lesereisen kreuz und quer durch die Bundesrepublik, die der Autor nicht selten mit gemischten Gefühlen unternommen hat. Von Anfang an macht Stasiuk kein Geheimnis daraus, dass seine Reisen durch Deutschland hauptsächlich finanziell motiviert wurden. Ohne Bedenken stellt er sich auch mit vielen seiner Landesleute gleich, die als Handwerker oder Haushaltshilfe ihren Unterhalt in Deutschland verdienen. Seiner Meinung nach gibt es in diesem Falle keinen Unterschied zwischen einem Schriftsteller und einem „Spargelzuchtspezialisten“.12 Von sich selbst sagt er: „Ich bin ein wandernder Gastarbeiter. Ich unterhalte das Publikum und schleppe mich am nächsten Morgen zum Bahnhof. Ich bin ein Handelsreisender. […] Ich mache das alles fürs Geld.“13 Mit den in Deutschland arbeitenden polnischen Gastarbeitern verbindet ihn aber noch etwas mehr als nur die die Existenz sichernde Erwerbsarbeit. Gemeinsam ist ihnen auch das Gefühl der Einsamkeit: Wenn du wirklich Einsamkeit erleben willst, musst du nach Deutschland fahren. Du musst fünfzehnmal mit der Bahn die Strecke zwischen Frankfurt und Köln zurücklegen und mitten in der Nacht in Hamm im siebten Stock eines Hotels mit goldbeschlagenen Theken und Geländerstangen aufwachen. Und mitten in der Nacht in die Dunkelheit hinausschauen und dort, in ihrer Tiefe, die Lichter von zwei großen Kirchtürmen ausmachen, die sich am Morgen als Industriebauwerke herausstellen.14

10 Ders., Dojczland, S. 52. 11 Vgl. Wolfgang Schlott, Polnische Prosa nach 1990. Nostalgische Rückblicke und Suche nach neuen Identifikationen, Münster 2004, S. 19. 12 Stasiuk, Dojczland, S. 25. 13 Ebd., S. 26. 14 Ebd., S. 19 f.  

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Das Entfremdungsgefühl wird zusätzlich noch durch Ergebnisse einer Umfrage intensiviert. Laut einer Untersuchung, die Stasiuk in seinem Reisebericht erwähnt, möge jeder vierte Deutsche Polen nicht. Auf dem zweiten Platz liege sein geliebtes Rumänien, doch das mögen nur elf Prozent der Bundesbürger nicht. „Wir halten also den absoluten Rekord“15 – setzt der Autor stolz hinzu. Abgesehen davon nimmt Stasiuk die Herausforderung an, als ein slawischer Autor der „deutsche[n] Einsamkeit“ die Stirn zu bieten. Im Laufe der Zeit hat er auch bestimmte Abwehrreaktionen erlernt: Wenn mir die Einsamkeit sehr zusetzt, setze ich mich einfach auf das Hotelbett, hole mein Bargeld raus und zähle es. […] Die Zweihundertscheine extra, die Hunderter extra, die Fünfziger extra und so weiter. Nur auf diese Weise lässt sich die deutsche Einsamkeit lindern, nur mit Hilfe der Arithmetik […].16

Als ein wichtiges Hilfsmittel gegen die Einsamkeit dienen ihm Bilder aus seiner Heimat. Die Landschaft von Weimar verbindet er z.B. mit der Gegend von Gorlice und Przemyśl. Beruhigende Wirkung haben auch Erfahrungen, die Stasiuk während seiner Reisen durch Südosteuropa gesammelt hat. Mann muss in Tulcea [ein Bahnhof in Ostrumänien, der nur aus zwei Gleisen besteht; M.S.] gewesen sein, um den Anblick von Frankfurt am Main bewältigen zu können, wenn der Zug von Norden einfährt und man fünf, sechs Sekunden lang von der Brücke das Flechtwerk der Gleise, die Hochhäuser und das Elektrizitätswerk sieht, und das ist groß, bedrohlich und schön wie eine babylonische Allegorie. Man muss einen Abdruck der rumänischen Steppe im Herzen tragen, um da heil rauszukommen.17

Auf dem Bahnhof in Stuttgart erinnert er sich hingegen an den Gara de Nord, den Hauptbahnhof in Bukarest, der zugleich der größte Bahnhof in ganz Rumänien ist. So bleibt der Autor ständig in Bewegung zwischen einzelnen Bahnstationen und die Leser begleiten ihn: „Nirgendwo länger als zwei Tage. Meistens nur einen Tag und weiter, einen Nachmittag mit Duschen, Rasieren, einen Schluck Jim Beam, alles in Eile, dann ein kurzes Nickerchen, die Lesung, Abendessen beim Italiener, Schlaf, Frühstück und Bahnhof.“18 Die in den Zügen verbrachte Zeit geht aber nicht verloren, wie wir an einer anderen Stelle des Werkes lesen können: „Ich fuhr mit dem silbernen ICE von Dortmund nach Berlin, schlückelte meinen Jim Beam, kritzelte etwas in mein Notizbuch, sah die grünen Ebenen,

15 16 17 18

Ebd., S. 72. Ebd., S. 54. Ebd., S. 10 f. Ebd., S. 25 f.  



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die waldigen Höhen des Harz und konnte nach Belieben über das Deutsche sinnieren.“19

III. Stasiuks Deutschlandbild: „Ich mag es normal.“ Auf diesem Wege ist aus dem Gastarbeiter ein Psychologe geworden, der in die deutsche Seele eindringen möchte. Um die Aufgabe gründlich erfüllen zu können, sucht Stasiuk auf seiner Reise durch Deutschland nach möglichst authentischen Orten. Es lässt sich leicht bemerken, dass sich die meisten Beschreibungen in Stasiuks Dojczland auf Bahnhöfe und ihre Umgebung beziehen: die riesigen Bahnhöfe im Westen und die verlassenen, leeren, heruntergekommenen Kleinbahnhöfe im Osten, wo auf grasbewachsenen Bahnsteigen einsame Neger in weißen Sportschuhen stehen. So, als wären sie von den Feldern gekommen, aus den schläfrigen, entvölkerten Dörfern. Sie stehen da und warten auf die langsamen D-Züge.20

In Frankfurt am Main grenzt der Hauptbahnhof, das „Emigranten-Babylon“, direkt an ein elegantes und stilles Stadtviertel an und diese Nachbarschaft beeindruckt den Autor besonders tief. In dem Reisebericht erinnert er sich an einen dort verbrachten Sonntagnachmittag: [B]lutbeflecktes Klopapier auf dem Bürgersteig und Typen, die in den Kneipen um acht Uhr morgens auf den an der Decke hängenden Fernsehbildschirm starren. […] Sie sitzen und rauchen in Scharen, in ihren Stammesverbänden, sie sitzen und warten. Auf der Straße stehen blasse, verkaterte Kleinkriminelle mit den Frisuren der siebziger Jahre: vorne kurz, hinten wallt es schulterlang. Das sieht man nirgends mehr, nur am Frankfurter Hauptbahnhof. Sie stehen und warten. Blass blond. Die vom Balkan, aus der Levante, sind schwarz und tragen normale Frisuren. Ich mag diese Gegend.21

Neben den Bahnhöfen und Zügen sind es u.a. Straßen, Flughäfen, Hotels, Literaturhäuser, Buchhandlungen und Kneipen, wo Stasiuk erhofft, den deutschen Charakter zu entdecken: „Ich mag es, wenn alte, dicke Leute kommen, verfressene Ehepaare, und gucke gern zu, wie sie essen. Besonders im Süden, in Bayern und in Schwaben. Ich mag es normal. Ein italienisches Restaurant in Deutschland ist Theater.“22 19 20 21 22

Ebd., S. 75. Ebd., S. 19. Ebd., S. 13. Ebd., S. 24.

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Derartige Beschreibungen könnte man in einem von Stasiuk verfassten Pascal-Reiseführer finden. Obwohl in dem Ortsregister neben Stuttgart, Hamburg, Frankfurt am Main und Köln auch Bonn, Berlin, Leipzig, Dresden und Kiel aufgelistet wären, hätte man hier umsonst nach Informationen zu den allgemein bekannten Sehenswürdigkeiten suchen können. Das Interesse des Autors gilt hauptsächlich Absonderlichkeiten, wie z.B. einer imposanten Ratte, die ihm vor dem Kölner Dom „gemütlich zwischen den Beinen durchtrippelte“.23 Nach dem Besuch des Brecht-Hauses in Augsburg beschreibt er nur einen roten Sportwagen, der vor dem berühmten Gebäude stand. In seinem Reisebericht pointiert Stasiuk die Tatsache mit diesen Worten: „Eine sarkastische Geste des Kapitalismus gegenüber diesem Sohn des Proletariats, der elegante und teure Automobile über alles liebte. Der arme Kerl. […] Künstler sterben immer zu früh.“24 Das Einzige, was er von der traditionellen Version eines Reiseführers übernehmen könnte, wäre der Loreley-Felsen: „Ich mag den Loreley-Felsen“ – schreibt er – „diesen Ort mag ich wirklich. Zweimal bin ich dort auf dem Schiff vorbeigefahren, zehnmal mit dem Zug, und er macht noch immer Eindruck auf mich.“25 Auch wenn Stasiuk über Berlin spricht, sind es keine konventionellen Aussagen. Ähnlich wie in Hamburg weiß er einfach die ungezwungene Atmosphäre der deutschen Hauptstadt zu genießen. Seiner Meinung nach ist sie den Orten gemeinsam, die früher „ziemlich gründlich zerstört und wieder aufgebaut“ wurden.26 Nach Berlin kann man ganz ohne Grund fahren – so Stasiuk, der es vorzieht, Fahrgäste in der Ringbahn zu beobachten statt die Museumsinsel zu besichtigen. In die S41 oder S42 steigt er am liebsten am Ostkreuz ein: Ich mag Ostkreuz und hoffe, dass es nie renoviert werden wird, dass es in alle Ewigkeit schwarzes Eisen, roter Ziegel, tropfende Dächer und diese Verkaufsbuden auf den Bahnsteigen bleiben wird.27

In der Berliner S-Bahn verfolgt Stasiuk vermutlich eine Strategie, die er den alten Bauern in Polen, Ungarn oder Rumänien entlehnt hat: Wenn sie aufhören zu arbeiten, wenn sie im Leben endlich ausruhen können, setzen sie sich auf die Bank vor ihrem Haus und gucken. Sie gucken sich die Welt an wie einen Film. Sitzen reglos mit den Händen auf den Knien und bewegen nur ab und zu die Lider, greifen nach einer Zigarette. Bis die Dämmerung einbricht.28

23 24 25 26 27 28

Ebd., S. 28. Ebd., S. 43 f. Ebd., S. 13. Ebd., S. 25. Ebd., S. 51. Ebd., S. 21.  

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Während seines Streifzugs durch die Stadt erspäht er Kuriositäten, wie das Denkmal des Sowjetsoldaten im Tiergarten, die für den Zauber des Ortes sorgen: Hier lag alles auf der Hand. Sado wie Maso. Aktion und Reaktion. Im Rücken des Soldaten, der angeblich gesiegt haben sollte, lag die Stadt, die eigentlich eher davon zeugte, dass am Ende er verloren hatte.29

Auch in diesem Fall findet der Literat den östlichen Teil der Stadt viel interessanter als die Gegend westlich von Mitte, wo es – seiner Meinung nach – keine großen Veränderungen gegeben habe30.

IV. Die Deutschen: „Erst Fan und dann Zugreisender“ Auf seiner Lesereise durch Deutschland trifft Stasiuk tausende Bürger des Landes, von denen er den Blick nicht lassen kann. Die meisten von ihnen sind anonym, haben keine Namen. Das Einzige, was sie identifiziert und voneinander unterscheidet, ist der Ort der Begegnung. Auf dem Stuttgarter Bahnhof fällt ihm ein merkwürdiger „Verteiler von Handzetteln“ auf,31 „wie ein Rufer in der Wüste“,32 dem alle ausweichen. In einem Hotel in Bonn bewundert er ein altes Paar, das sich an der Hand hält. Sein Interesse wecken auch drei Fahrgäste, die in den überfüllten Sonntagszug in Karlsruhe steigen, „bärtig, langhaarig und fast so wie unsere Landsleute“ stinkend,33 sowie ein Typ in Lederjacke, ausgelatschten Mokassins und Nylonstrümpfen mit neuen Kennzeichenschildern unter dem Arm, den er in dem Regionalexpress nach Tübingen trifft. Es bereitet dem polnischen Literaten keine großen Schwierigkeiten, in der anonymen Menschenmenge die Bewohner der beiden ehemaligen deutschen Staaten zu unterscheiden, denn obwohl seit der Wiedervereinigung Deutschlands mehrere Jahre vergangen sind, bleibt für den Schriftsteller die Aufteilung des Landes in West und Ost immer noch lebendig. Für Leute „aus dem richtigen Osten“34 seien Schüchternheit und befangene Blicke charakteristisch. Stasiuk glaubt sogar, sie an Gesichtern erkennen zu können. Behilflich dabei sind auch die typischen Accessoires: „Adidassis, unechte Ketten, sauerstoffblonde Weiber

29 30 31 32 33 34

Ebd., S. 86. Vgl. ebd., S. 52. Ebd., S. 9. Ebd., S. 10. Ebd., S. 31 f. Ebd., S. 23.  

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mit schwarzen Ansätzen, Goldzähne, Pickel auf Stiernacken“35 – so beschreibt Stasiuk die Einwohner der Berliner Vororte. Trotz schwerer falscher Juwelen, blonder Dauerwellen mit Ansätzen und beringter kleiner Finger, die beim Kaffeetrinken abgespreizt werden, scheint Stasiuk die Vertreter der Ostdeutschen denen aus dem Westen vorzuziehen. Er begründet es folgendermaßen: Wenn Leute aus dem richtigen Westen zu uns kommen, dann kontrollieren sie die ganze Zeit unauffällig, ob sie sich an irgendetwas schmutzig gemacht haben. Die aus der DDR nicht. Sie benehmen sich so ein bisschen wie gehemmte Slawen.36

Während eines Aufenthaltes in Zinnowitz stellt er letztendlich fest: Ich mochte die DDR. In der DDR passte mir außer Skinheads alles. […] Denn die DDR ist das fehlende Bindeglied zwischen Germanen und Slawen. […] Die DDR ist dieser Moment, wo die Deutschen ein bisschen von ihrem Sockel runterkommen.37

An einer anderen Stelle seines Berichtes konkretisiert Stasiuk den Unterschied zwischen Slawen und Germanen: Wir unterscheiden uns in unserem Verhältnis zur Form. Die Germanen wollen sie vervollkommnen, die Slawen wollen sie ständig nur loswerden, eine durch die andere ersetzten, die jetzige in der Hoffnung abwerfen, die nächste werde bequemer sein. […] Die Germanen perfektionieren jeweils ihre Rollen und Verkörperungen, die Slawen geben auf aus einer Laune heraus, aus Enttäuschung oder ganz ohne Grund.38

Zu diesem Schluss bringt ihn das Beobachten alltäglicher Rituale der Deutschen, wie z.B. das Frühstück in den frühen Morgenstunden: Sie stehen einfach auf und beginnen den Tag so wie gestern, vorgestern, wie vor hundert und vor zweihundert Jahren. […] Auf dem Weg zum Bahnhof in einem Kaff in Bayern, Württemberg, im Rheinland oder Brandenburg sah ich zu, wie sie ihrem Leben Form verleihen, wie sie Ordnung ins Chaos bringen, den Aberwitz menschlicher Existenz zu zügeln versuchen. Tassen und Salzstreuer, Tischdecken und Blumen, Möbel, die den Eindruck erwecken, sie stünden schon seit Ewigkeit an ihrem Platz.39

Auf ähnliche Gedanken bringen ihn Fans, denen er auf dem Bahnhof in Frankfurt begegnet. Nachdem sie ihre üblichen Rituale veranstaltet und Bier aus Plastikbe-

35 36 37 38 39

Ebd., S. 51. Ebd., S. 49. Ebd., S. 48. Ebd., S. 70. Ebd., S. 66 f.  

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chern getrunken haben, steigen sie in den Zug. In diesem Moment passierte etwas, was Stasiuk völlig überrascht: Plötzlich waren sie keine Fans mehr, sondern Zugreisende mit leicht debilem Gesichtsausdruck. Die Erschöpfteren nahmen neben Müttern mit Kindern und Beamten in Anzügen Platz. Sie dösten vor sich hin und ließen ihre Ketten klingen. So fuhr ich nach Mainz und dachte über das deutsche Gespür für Form nach. Darüber, dass man erst Fan und dann Zugreisender sein kann.40

In solchen Situationen amüsiert Stasiuk der Gedanke an Deutschland im Regen: Ich weiß nicht, wie ich darauf kam. Vielleicht war es die Ahnung, dass der Regen die scharfen Konturen dieses Landes verwaschen und verwischen und ihm ein bisschen von seiner Seife nehmen und es schlabbriger machen, ihm Schlamm, Wasserflecken und Pfützen beibringen würde.41

V. „Nach Deutschland fährt man nicht ungestraft.“ Im Vergleich mit dem zwei Jahre zuvor publizierten Reisebericht Unterwegs nach Babadag, der mit dem Nike-Literaturpreis, dem bedeutendsten literarischen Preis Polens, ausgezeichnet wurde, erscheint Dojczland auf den ersten Blick eher oberflächlich und grundsätzlich von marktwirtschaftlichen Interessen diktiert zu sein. Enttäuschung dominiert auch in den Aussagen der Literaturkritiker, die von Stasiuks Werk eine komplexe Analyse der in Deutschland gemachten Erfahrungen erhofft haben.42 Gleichzeitig wird meistens übersehen, dass Stasiuk schon mit dem Titel des Werkes ein gewisses Vereinfachungsverfahren signalisiert, das sich sowohl auf die Form als auch den Inhalt des Werkes bezieht. Dojczland kann nämlich als Ausgangspunkt zur Diskussion über die Gattung des Reiseberichtes betrachtet werden. Man kann es als eine Art Parodie auf Reiseberichte lesen, deren Autoren, getrieben von philosophischen und soziologischen Ambitionen, ihre Interpretation der Welt darzustellen versuchen. Stasiuk distanziert sich von dergleichen Vorsätzen. Seine Aussage, Dojczland sei von treffenden Beobachtungen, scharfsinnigen Reflexionen und trockenem Humor

40 Ebd., S. 69. 41 Ebd., S. 81. 42 Vgl. Adam Tyszka, „Nieudana książka“, in: Twórczość, 3/2008, S. 117 f.; Aleksander Wójtowicz, „Niemieckie Babadag“, in: Kresy, 1–2/2008, S. 158–161.  

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erfüllt,43 ist eher selbstironisch zu verstehen. Genauso lassen sich auch sowohl die Selbststilisierung des Autors als auch die Form des Berichtes erklären. Man findet hier keine Kommentare, auffällig sind jedoch Skizzenhaftigkeit und Kürze der Aufzeichnungen, die den Eindruck erwecken, in aller Eile notiert worden zu sein. Stasiuk scheint die Meinung zu vertreten, die Wirklichkeit, zumal die neue Welt, die man gerade entdeckt, lasse sich nicht systematisch und logisch beschreiben. An mehreren Stellen zweifelt der Autor, ob seine Erzählung der Wahrheit gemäß ist. Seine Bemühungen fasst er mit einem Satz zusammen: „Zehntausende Kilometer auf der Suche nach einem verständlichen Bild, auf der Suche nach einer Fata Morgana.“44 Andererseits entlarvt Stasiuk mit seinem Werk das vereinfachte Bild von Deutschland, das in Polen von Vertretern bestimmter Generationen weiterhin kultiviert wird. In diesem Sinne wird oft nicht zu Unrecht darauf hingewiesen, dass Dojczland eigentlich viel mehr von den Polen selbst als von den Deutschen erzählt. Diese Feststellung steht mit dem Spezifikum der Gattung in Einklang, deren Wert weniger von der objektiven Welt, vom Charakter und dem Reichtum der durchreisten Länder abhängt als vielmehr von den „inneren Reserven“45 des Reisenden. In diesem Falle bleibt die Frage offen, inwieweit die „inneren Reserven“ eines durch Deutschland reisenden Gastarbeiters mit den von Stasiuk übereinstimmen. Man kann aber vermuten, dass sie im Großen und Ganzen der Generation gemeinsam sind, deren Vorstellungen von Deutschland in bestimmten Lebensstationen auf folgende Art und Weise geformt wurden: So einen Ulrich von Jungingen zum Beispiel kannte jedes polnische Kind. In jeder polnischen Schule und jedem Kindergarten hing eine Kopie von Matejkos Schlacht von Tannenberg, und das war der erste Deutsche im Leben jedes kleinen Polen. Hitler kam ein bisschen später und setzte schon ein wenig Wissen voraus.46

Später kamen sowjetische und polnische Kriegsfilme und die ersten Reisen in die DDR dazu: „Einsamkeit, DDR, Skins, Suff, Literatur und Holocaust.“47 Diese Erfahrungen lassen ihn letztendlich feststellen: „Nach Deutschland fährt man

43 Vgl. Stasiuk, Dojczland, S. 1. 44 Ebd., S. 76. 45 Zlatko Klátik, „Über die Poetik der Reisebeschreibung“, in: Zagadnienia Rodzajów Literackich, 11/1969, S. 137. 46 Stasiuk, Dojczland, S. 54. 47 Ebd., S. 17.

Eine literarische „Gastarbeit“: Andrzej Stasiuk auf Lesereise durch Dojczland

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nicht ungestraft.“48 Es lässt sich dem nicht widersprechen, worauf Stasiuk mit diesen Beispielen aufmerksam macht, dass unsere Perzeption und Offenheit einem anderen Land gegenüber in großem Ausmaß durch unsere Nationalgeschichte bestimmt wird. Das Reisen als ein Zusammentreffen eines menschlichen Subjekts mit einer neuen objektiven Wirklichkeit ist auch als ein Emotions- und Erkenntnisprozess zu verstehen.49 Wie Stasiuk einmal erwähnt, ist es ihm gelungen, diesen Prozess erfolgreich zu überstehen. Nicht ohne Stolz und auf ihm eigene Art berichtet er davon mit folgenden Worten: Soweit musste ich erst mal kommen, um das heil zu überstehen. Ich musste Distanz zu den sowjetischen und polnischen Kriegsfilmen gewinnen. Musste meine Kindheit aufgeben. Musste auf all diese schönen Flüche verzichten: ‚Hände hoch, raus, polnische Schweine!‘, die wir als Siebenjährige auf dem Hof benutzten und uns damit die Grundlagen der deutschen Sprache aneigneten. Aber ich war tapfer, es gelang. Ich legte gewisse Reflexe ab. Wenn ich einen Deutschen fortgeschrittenen Alters sehe, sehe ich einfach nur einen alten Menschen, kein Mitglied dieser oder jener militärischen Formation.50

Auch die deutschen Flughäfen findet er nicht mehr so schauerlich wie am Anfang seiner Entdeckungsreise durch Deutschland. Eine der grässlichsten Situationen, die ihm auf dem Flughafen in Frankfurt am Main zugestoßen ist, beschreibt er mit diesen Worten: Ich muss vor Angst gestorben sein. Ungefähr so, wie der Durchschnittsdeutsche stirbt, wenn er mit seinem teuren Auto nach Polen reist. Gegenüber dem Durchschnittsdeutschen hatte ich den Vorteil, dass ich mir in Polen eine Flasche Jim Beam gekauft hatte. Ich muss sogar den führerlosen Zug überstanden haben, der zwischen den Terminals verkehrt, obwohl mir so war, als sähe ich einen Reiter ohne Kopf. Aber ich gewöhne mich daran, und eigentlich mag ich die Flughäfen inzwischen.51

Obwohl dem 2007 in Polen erschienenen Reisebericht von Andrzej Stasiuk in vieler Hinsicht Oberflächigkeit vorgeworfen wird, können ihm auch manche positive Aspekte nicht abgesprochen werden. Indem sich der Autor in die Rolle eines Gastarbeiters versetzt, distanziert er sich erfolgreich sowohl von der manchmal etwas pathetisch verstandenen Aufgabe eines Schriftstellers als auch von den Erwartungen, die man dem Reisebericht als literarische Gattung stellt. Demnach 48 49 50 51

Ebd. Vgl. Klátik, „Über die Poetik der Reisebeschreibung“, S. 126. Ebd., S. 27 f. Ebd., S. 33 f.  



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ist der aus mancherorts bitteren Bemerkungen über Deutschland und die Bürger des Staates herauszuhörende Zynismus auf den Autor selbst oder die kritiklose Einstellung zu den gegenseitig immer noch gepflegten Stereotypen über Polen und Deutschland zu beziehen.

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Autorinnen und Autoren

Franz Fromholzer, Dr. phil., geb. 1978, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Neuere deutsche Literaturwissenschaft der Universität Augsburg. Forschungsschwerpunkte: deutsche Theatergeschichte, Interkulturelle Germanistik, Klassische Moderne, Gegenwartsliteratur. Ausgewählte Publikationen: Gefangen im Gewissen. Evidenz und Polyphonie der Gewissensentscheidung auf dem deutschsprachigen Theater der Frühen Neuzeit, München 2013; (Hrsg. mit Renata Cieślak, Friedmann Harzer u. Karolina Sidowska), Polnisch-deutsche Duette. Schreiben von Europas Mitte, Dresden 2013; (Hrsg. mit Michael Preis u. Bettina Wisiorek), Noch nie war das Böse so gut. Die Aktualität einer alten Differenz, Heidelberg 2011. Jan Gerstner, Dr. phil., geb. 1977, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich neuere und neueste deutsche Literaturgeschichte und Literaturtheorie an der Universität Bremen. Forschungsschwerpunkte: Arbeit und Muße/Müßiggang in der Literatur, Literatur und Gedächtnis, Intermedialität, Postkolonialismus und Interkulturalität. Ausgewählte Publikationen: Das andere Gedächtnis. Fotografie als Gedächtnismedium in der Literatur des 20. Jahrhunderts, Bielefeld 2013; „Die absolute Negerei“. Kolonialdiskurse und Rassismus in der Avantgarde, Marburg 2007. Stefan Hermes, Dr. phil, geb. 1980, ist akademischer Mitarbeiter am Deutschen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: (Interkulturelle) Literatur vom 18. bis zum 21. Jahrhundert, Theorien des Kolonialismus und Postkolonialismus, Reiseliteratur, literarische Anthropologie. Ausgewählte Publikationen: ‚Fahrten nach Südwest ‛. Die Kolonialkriege gegen die Herero und Nama in der deutschen Literatur (1904–2004), Würzburg 2009; „Tristesse globale. Intra- und interkulturelle Fremdheit in den Romanen Christian Krachts“, in: Olaf Grabienski/Till Huber/Jan-Noël Thon (Hrsg.), Poetik der Oberfläche. Die deutschsprachige Popliteratur der 1990er Jahre, Berlin 2011, S. 187–205; „Riskante Reisen. Zur Konstruktion kultureller Grenzen in Waldemar Bonsels’ ‚Die Biene Maja‛ (1912) und ‚Indienfahrt‛ (1916)“, in: Zeitschrift für interkulturelle Germanistik, 3/2012, 1, S. 77–98.  

Monika Hohbein-Deegen, Ph.D., ist Associate Professor of German & International Studies an der University of Wisconsin Oshkosh, USA. Forschungsschwerpunkte: Deutsche Literatur der Gegenwart, Reiseliteratur der Nachwendejahre, Ostdeutsche Literatur und Geschichte. Ausgewählte Publikationen: Reisen zum Ich: Ostdeutsche Identitätssuche in Texten der neunziger Jahre, Oxford 2010; „Finding Identity through Travelling the New World: „Angela Krauß’s Publications Die Überfliegerin (1995) & Milliarden neuer Sterne (1999).“, in: Michelle James/

Autorinnen und Autoren

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Robert McFarland (Hrsg.), Sophie Discovers America: German-Speaking Women Write the New World, erscheint voraussichtlich 2014; „Neue Augen schenkt dir ein Land: Writing about the East German Past through Discovery of the United States – Gabriele Eckart’s Der gute fremde Blick. Eine Ostdeutsche entdeckt Amerika (1992).“, in: Michelle James/Robert McFarland (Hrsg.), Sophie Journal, erscheint voraussichtlich 2014. Aniela Knoblich, M.A., ist Leiterin der Stabsstelle Gender and Diversity an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg. Forschungsschwerpunkte: Gegenwartsliteratur, Intertextualität, literaturwissenschaftliche Gender-Forschung. Ausgewählte Publikationen: Antikenkonfigurationen in der deutschsprachigen Lyrik nach 1990 (erscheint 2014); „‚bibliotheken sind meine abgezognen häute‘. Identität und Intertextualität in Barbara Köhlers Gesängen ‚Niemands Frau‘“, in: Stefan Elit/Kai Bremer/Friederike Reents (Hrsg.), Antike – Lyrik – Heute. Griechisch-römisches Altertum in Gedichten von der Moderne bis zur Gegenwart, Remscheid 2010 (Die Antike und ihr Weiterleben, 7), S. 241–260; „Rupture, Tradition, and Achievement in Thomas Kling’s Poetics and Poetry“, in: Gert Hofmann/Marko Pajevic/Rachel MagShamhráin/Michael Shields (Hrsg.), German and European Poetics after 1945. Crisis and Creativity, Rochester, NY 2011, S. 200–215; „Wenn Frauen sich anziehen. Der Schrecken im Bade als Versuchsanordnung“, in: Hans Richard Brittnacher/ Irmela von der Lühe (Hrsg.), Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, Göttingen 2013, S. 210–228. Bernd Maubach, Dr. phil., geb. 1978, ist Dozent für Literatur- und Mediendidaktik an der Universität Kassel. Forschungsschwerpunkte: Literatur und Medien, Hörästhetik, Mediendidaktik. Ausgewählte Publikationen: Auskältung. Zur Hörspielästhetik Heiner Müllers, Frankfurt a. M. 2012; „Blackbox Fernsehen. Benjamin von Stuckrad-Barres TV-Formate“, in: Peter Seibert (Hrsg.), Fernsehen als Medium der Literatur, Kassel 2013, S. 213–242. Christopher Meid, Dr. phil., geb. 1982, ist Feodor Lynen-Stipendiat am Queen’s College (University of Oxford). Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur, Antikerezeption, Literatur und Politik, Romangeschichte des 18. Jahrhunderts, Klassische Moderne, Literatur und Kultur der Weimarer Republik. Ausgewählte Publikationen: Griechenland-Imaginationen. Reiseberichte im 20. Jahrhundert von Gerhart Hauptmann bis Wolfgang Koeppen, Berlin/Boston 2012 (linguae & litterae, 15); Die griechische Tragödie im Drama der Aufklärung: „Bei den Alten in die Schule gehen“, Tübingen 2008 (DRAMA, Neue Serie, 6); „Pathologischer Heroismus im Drama der Jahrhundertwende – Hugo von Hofmannsthals ‚Elektra‘ und Gerhart Hauptmanns ‚Bogen des Odysseus‘“, in: Nikolas Immer/Mareen van Marwyck

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Autorinnen und Autoren

(Hrsg.), Ästhetischer Heroismus. Konzeptionelle und figurative Paradigmen des Helden, Bielefeld 2013, S. 83–106. Christine Rühling, M.A., geb. 1981, ist Referendarin an der Landesbibliothek Oldenburg. Forschungsschwerpunkte: Weimarer Klassik, Frühromantik, philosophische Ästhetik um 1800, Reiseliteratur. Ausgewählte Publikationen: „Ideen in der Erscheinung“. Ästhetische Reflexion und literarische Darstellung bei Schiller und Hölderlin (erscheint 2014); „Ins ‚Herz‘ des Denkens. Über Schillers Gebrauch einer Metapher“, in: Cordula Burtscher/Markus Hien (Hrsg.): Schiller im philosophischen Kontext, Würzburg 2011, S. 121–133. Stephanie Schaefers, Dr. phil., geb. 1978, ist Literaturwissenschaftlerin und freie Journalistin, Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur, deutschsprachige Literatur nach 1989. Ausgewählte Publikation: Unterwegs in der eigenen Fremde. Deutschlandreisen in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur, Münster 2010 (Wissenschaftliche Schriften der WWU Münster, Reihe XII, 2). Magdalena Skalska, M.A., geb. 1982, ist Doktorandin am Institut für Germanische Philologie der Adam-Mickiewicz-Universität Poznań/Polen. Forschungsschwerpunkte: Reiseliteratur, Kalenderschrifttum des 19. Jahrhunderts, Literatur der Provinz Posen. Ausgewählte Publikationen: „Zwischen Bewunderung und Kritik – Theodor Fontanes Reisebericht Ein Sommer in London als ‚Dokument einer Gesellschaft und eines Zeitalters‘“, in: Studia Germanica Posnaniensia XXXII/2011, S. 93–109; „Evangelischer Volkskalender. Ewangelicki Kalendarz Ludowy w Poznaniu (1861–1941)“, in: Feliks Lenort (Hrsg.), Ecclesia. Studia z Dziejów Wielkopolski IV/2009, S. 189–202.